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MaxPlanckForschung MaxPlanck Forschung Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft B20396F 4/2002 SCHWERPUNKT Materialwissenschaften SCHWERPUNKT Materialwissenschaften ESSAY Der Klimawandel kommt in Fluss ASTRONOMIE Das Massemonster im Herzen der Milchstraße ESSAY Der Klimawandel kommt in Fluss ASTRONOMIE Das Massemonster im Herzen der Milchstraße WIRTSCHAFT Menschen im Spiel-Waren- Geschäft WIRTSCHAFT Menschen im Spiel-Waren- Geschäft

MPF_2002_4 Max Planck Forschung

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Magazin des Max Planck Instituts

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Page 1: MPF_2002_4  Max Planck Forschung

MaxPlanckForschungMaxPlanckForschungDas Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft

B20396F4/2002

SCHWERPUNKT

MaterialwissenschaftenSCHWERPUNKT

Materialwissenschaften

ESSAY

Der Klimawandelkommt in Fluss

ASTRONOMIE

Das Massemonster im Herzen

der Milchstraße

ESSAY

Der Klimawandelkommt in Fluss

ASTRONOMIE

Das Massemonster im Herzen

der Milchstraße

WIRTSCHAFT

Menschen im Spiel-Waren-

Geschäft

WIRTSCHAFT

Menschen im Spiel-Waren-

Geschäft

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4 / 2 0 0 2 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 32 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 4 / 2 0 0 2

INHALT

FORSCHUNG aktuellSmog über dem Mittelmeer . . . . . . . . 4

Eine Maschine, die Proteine transportiert . . . . . . . . . . 6

Schutzschalter gegen Erbschäden . . . . 7

Elektronik aus dem Nanozylinder . . . 8

Wenn Knochen nicht mehr wachsen . . . . . . . . . . . . . 10

Wie Kohlmotten die Senföl-Bombe entschärfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

Hackordnung auf dem Schulhof . . . 13

Puzzle-Spiel der Sinne . . . . . . . . . . . 14

Scheinverwandtschaft in der Asteroidenfamilie . . . . . . . . . . . . 16

ESSAY

Der Klimawandel kommt in Fluss . . . . . . . . . . . . . . 18

SCHWERpunkt: MATERIALwissenschaften

Bits und Bytes aus Licht . . . . . . . 24

Von spröde keine Rede . . . . . . . . 32

Knochenarbeit mitKristallen und Molekülen . . . . . . 38

Nanozwiebeln würzen die Styrolchemie . . . . . . . . . . . . . 44

FASZINATION ForschungBiophysik: Vom roten Augeder grünen Alge . . . . . . . . . . . . . 52

WISSEN aus erster HandAstronomie: Das Massemonsterim Herzen der Milchstraße . . . . . 56

KONGRESSberichtNeurowissenschaften: „Auch mal riskante Konzepte testen“ . . . . . . 62

FORSCHUNG & GesellschaftWirtschaftswissenschaft: Menschenim Spiel-Waren-Geschäft . . . . . . 64

Zur PERSON

Hartmut Wekerle . . . . . . . . . . . . . 70

NEU erschienenGeheime Botschaften . . . . . . . . . . . . 74

Die Biologie des Denkens . . . . . . . . . 74

Von der Wüste zu den Sternen . . . . . 75

INSTITUTE aktuell Wachsende Kriminalitätbeeinflusst Reformen . . . . . . . . . . . . 76

Die Medizin wird individuell . . . . . . 78

Biomoleküle im Fokus . . . . . . . . . . . 79

Ein Online-Archiv für bedrohte Sprachen . . . . . . . . . . . 80

Verordnete Nullrundegefährdet Abteilungen . . . . . . . . . . . 81

Vertiefte Zusammenarbeit mit Polen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

STANDorteForschungseinrichtungen der Max-Planck-Gesellschaft . . . . . . 83

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83

Im FOKUS

Aus die Maus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

DIE MATERIALFORSCHUNG bestimmt unseren Alltag wie kaum eine andere Wissenschaft. Auch in Instituten der Max-Planck-Gesellschaft arbeiten Wissenschaftler an den Materialien der Zukunft – zum Beispielin Stuttgart und Halle an „Bits und Bytes aus Licht“ (SEITE 24) für neue Informationstechniken. Dass Keramiken nicht nur spröde sind, zeigen Experten am Max-Planck-Institut für Metallforschung, über deren Ergebnisse Sie im Artikel ab SEITE 32 lesen. Quasi „am Menschenentlang“ arbeitet eine Gruppe am Max-Planck-Institut für chemische Physik fester Stoffe: Sie beschäftigt sich mit dem Wachstum von Knochen und Zähnen (SEITE 38). Schließlich gelang es Forschern am Berliner Fritz-Haber-Institut, die Styrol-Synthese mit Hilfe von „Nano-zwiebeln“ deutlich effektiver zu machen – mehr dazu auf SEITE 44.

Schwerpunkt Material wissenschaften

SCHWERKRAFTFALLE: Im Herzen der Milchstraße lauert ein gigantisches

Schwarzes Loch. Astronomen am MPI für extraterrestrische Physik haben dieses kosmische Masse-monster nun dingfest gemacht.

56 AUSTAUSCH: Tagungenund Symposien sind Ortedes wissenschaftlichen

Diskurses. Welchen Nutzen haben sie?Darüber sprechen Prof. Joachim Spiessund Cedomir Todorovic vom MPI fürexperimentelle Medizin.

62 STRATEGIE: Spiele und Wirtschaft haben vieles gemeinsam. Dr. Axel

Ockenfels vom MPI zur Erforschung von Wirtschaftssystemen deckt die Zusammenhänge auf und überprüft seine Theorien an realen Testpersonen.

64 ABWEHR: Prof. Hartmut Wekerle, Direktor am MPI fürNeurobiologie und kürzlich

mit dem renommierten Preis der „Fonda-tion Louis D.“ ausgezeichnet, erforscht die Hintergründe von Autoimmun-Erkran-kungen des zentralen Nervensystems.

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GEOMAX:Warum die Menschen in Europa immer länger leben und immer weniger Kinder bekommen – solche Fragen untersuchen die Wissenschaftleram Max-Planck-Institut für demografische Forschung.

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AUGENMERK: Ein Rhodopsin – verwandt demLichtsensor im menschlichen

Auge – untersuchen Forscher des MPI für Biophysik im Augenfleck einerGrünalge. Es geht um Einblick in die „Photovoltaik“ dieses Einzellers.

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ZUM TITELBILD:Drei Milliarden Poren von je einemMikrometer Durch-messer erzeugen dasFarbspiel auf die-sem Siliziumwafer.

FOTO: MPI FÜR

MIKROSTRUKTURPHYSIK

ÜBERFLUSS: Immer öftermacht sich deranthropogene Klimawandel bemerkbar. Ehe„Jahrhunderter-eignisse“ wie die Elbeflut 2002 zum Normal-fall werden, meint Mojib Latif vom MPI für Meteorologie, sollte man vorbeugend handeln.

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FORSCHUNG aktuell

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FORSCHUNGaktuellaktuell

Wissenschaftler aus achtLändern haben unter Feder-führung des Mainzer Max-Planck-Instituts für Chemieim Sommer 2001 sechs Wo-chen lang die Atmosphäre imMittelmeerraum untersucht.Dort maßen sie vom Bodenund Flugzeug aus die chemi-sche Zusammensetzung unddie Energiebilanz in der Tro-posphäre – dem Teil der At-mosphäre, wo sich das Wet-ter und die Wechselwirkun-gen mit der Erdoberflächeabspielen. Ziel der Messkam-pagne war es, den weiträu-migen, Ländergrenzen undKontinente übergreifendenTransport verschmutzter Luftund ihren Einfluss auf dieLuftqualität und das Klima in der Mittelmeerregion auf-zuklären. Der Befund: Sehr hohe Verschmutzungen ver-schlechtern die Luftqualitätweiträumig und mindern denNiederschlag in dieser Region(SCIENCE, 25. Oktober 2002).

Operationsbasis von MINOS(„Mediterranean Intensive Oxidant Study“) war die InselKreta. Dort gab es eine Mess-

station, um zahlreiche gasför-mige und feste Bestandteileder Luft sowie die Intensitätder Sonneneinstrahlung aufder Erdoberfläche zu untersu-chen. Gastgeber der Messkam-pagne war die Universität Kretain Heraklion. Zwei Forschungs-flugzeuge, ein Düsenflugzeugvom Typ Falcon des DeutschenZentrums für Luft- und Raum-fahrt (DLR) und eine King Airder Universität Tel Aviv, kamenüber dem Mittelmeer mehr als20 Mal zum Einsatz. Zusätzlichbestimmte eine Forschergruppeder Universität Kalifornien inSan Diego die Energiebilanz für die Troposphäre.Die Messungen zeigen einenbemerkenswert hohen Ver-schmutzungsgrad der Luft, dervon der Erdoberfläche bis in dieSpitze der Troposphäre in 11 bis15 Kilometer Höhe reicht. Diestärkste Verschmutzung wurdein den unteren 4 Kilometernbeobachtet: Sie stammt sowohlaus West- als auch aus Ost-europa. Verursacher sind Indus-trie, Verkehr, Waldbrände sowielandwirtschaftliche und häus-liche Kleinfeuer. Da es in derMittelmeerregion während

des Sommers nur wenige Wolken gibt, ist die Sonnen-einstrahlung hoch – im photo-chemischen Smog bilden sichschädliche Reaktionsprodukte.Die daraus folgende Luftver-schmutzung besteht aus Ozonund mikroskopisch kleinen Teilchen, den Aerosolen.In Höhen über 4 Kilometer tragen weiträumige Lufttrans-porte aus Nordamerika undAsien stark zur Luftverschmut-zung bei. Diese Transporte fol-gen den vorherrschenden west-lichen Winden, wie sie für Regionen außerhalb der Tropentypisch sind. Die Wissenschaft-ler entdeckten aber noch eineweitere Schmutzschicht: Diese

befindet sich in der oberen Troposphäre – in Höhen über 8 Kilometer – und konzentriertsich vor allem über dem öst-lichen Mittelmeer. Diese Ver-schmutzung hat ihren Ur-sprung in Südasien, wo Gewit-ter sie während des indischenMonsuns in die obere Tropos-phäre verfrachten. Dort gerätdie Verschmutzung in den ost-

wärts gerichteten tropischenJetstream und wendet sichüber dem östlichen Mittelmeernach Norden. Von da aus kannsie sogar bis in die untere Stra-tosphäre vordringen; dadurchwerden Verschmutzungen ausAsien bis in den unteren Teilder Ozonschicht befördert.Welche Auswirkungen dieseVerschmutzungen haben, istnoch unbekannt.Nahe der Erdoberfläche hat die Luftverschmutzung meh-rere unerwünschte Folgen: Zum einen wird der in der Europäischen Union geltendeAcht-Stunden-Standard fürOzon (110 Mikrogramm pro Kubikmeter) während des Som-mers in den meisten Teilen desMittelmeerraums überschritten.Übersteigt die Ozonkonzen-tration diesen Grenzwert, sindSchäden für die menschlicheGesundheit und die Ökosys-teme zu erwarten – ebenso Ernteverluste in der Landwirt-schaft. Zum anderen ist auch die Kon-zentration an Aerosolen, diezumeist aus Sulfat und Ruß be-stehen, sehr hoch. Diese Aero-sole beeinflussen ebenfalls diemenschliche Gesundheit, da siegiftige Produkte aus Verbren-nungsvorgängen in die Lungetransportieren. Sie streuen undabsorbieren aber auch das Son-nenlicht und beeinflussen sodie Energiebilanz der Atmo-sphäre im Mittelmeerraum. Die mikroskopisch kleinen Teil-chen verringern die Absorptionder Sonnenstrahlung durch das Meer um etwa 10 Prozentund verändern das Wärme-

profil der unteren Troposphäre.Als Folge werden Verdunstungund Feuchtigkeitstransport –insbesondere nach Nordafrikaund dem Mittleren Osten – unterdrückt. Diese Wirkung derAerosole ist heute beträchtlich,obwohl der aus Europa stam-mende Sulfatanteil währendder vergangenen beiden Jahr-zehnte deutlich zurückgegan-gen ist.Die Wissenschaftler glauben,dass Aerosole das Klima in derVergangenheit noch viel stär-ker beeinflusst haben als heute.Am höchsten waren die Aero-solkonzentrationen über demMittelmeer um das Jahr 1980,was zu der tödlichen Trocken-periode in der östlichen Sahel-zone beitrug. So zeigen die Ergebnisse der MINOS-Kam-pagne, dass Aerosole wesent-lich an den Veränderungen von Klima und Wasserkreislaufin der Mittelmeerregion be-teiligt sind. ●

Weitere Informationen erhalten Sie von:

PROF. JOS LELIEVELD

Max-Planck-Institut für Chemie, MainzTel.: 06131/305-438Fax: 06131/305-436 E-Mail: [email protected]

Das Satellitenbilddes Mittelmeer-

raums vom 12. Juli2001 zeigt über

weite Gebiete ver-teilt Dunst infolge

von Verschmutzungdurch Aerosole.

Nur über dem Golfvon Lion lässt sich

die tiefblaue Farbedes Mittelmeers

aus dem Weltraumbeobachten. Für

die schwarzen Flä-chen gibt es keine

Satellitendaten. Die weißen Flecken

sind Wolken.

Die aus meteo-rologischen Daten berech-neten Bahnen zeigen, wie ver-schmutzte Luft-massen aus Euro-pa in einer Höhevon 2 bis 4 Kilo-metern in denMittelmeerraumtransportiert werden.

Regionale „Ozon-Hot-Spots“ in der nördlichenHemisphäre alsErgebnis von Mo-dellrechnungen.Diese Modellewurden währendder MINOS-Kam-pagne getestetund zeigen, dassder geltende EU-Luftverschmut-zungsstandardvon 110 Mikro-gramm Ozon proKubikmeter wäh-rend des Sommersin den meistenTeilen des Mittel-meerraums über-schritten wird.

Modellrechnungen der Transportwege verschmutzterLuft aus Asien: Gewitter, die in der Zeit des Sommer-monsuns in Asien toben, befördern Verschmutzungen bis in eine Höhe von 8 bis 10 Kilometern (obere Tro-posphäre), in der sie dannbis in den Mittelmeer-raum gelangen. DieVerschmutzung kannteilweise sogar bisin die Stratosphä-re vordringen.

FOTO

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CHEM

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KLIMAFORSCHUNG

Smog über dem Mittelmeer

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Der Transport von Proteinenist für alle Lebewesen vongrundlegender Bedeutung.Proteine müssen an bestimm-te Orte in der Zelle oder nach außen gebracht werden.Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Biophysikhaben jetzt die Struktur einer weit verbreiteten Pro-tein-Transportmaschine auf-geklärt. Sie erlaubt neue Ein-blicke in den Weg der Prote-ine durch die Zellmembranen(NATURE, 8. August 2002).

Das Überleben jeder Zelle hängtdavon ab, ob alle in ihr erzeug-ten Genprodukte – die Proteine– jederzeit an der richtigenStelle ankommen. So produzie-ren bestimmte Zellen wichtigeProteine, die für die Sekretionbestimmt sind, wie Insulin. AllenZellen gemeinsam ist ihre Be-grenzung durch eine dünne Lipidschicht (Zellmembran), dieProteine prinzipiell nicht passie-ren können. Zellen höherer Or-ganismen sind zusätzlich in ver-schiedene Bereiche unterteilt,die ebenfalls durch solche Lipid-membranen voneinander ge-trennt sind. Alle Organismenbenötigen daher spezielle Trans-

portmaschinen, um neue Gen-produkte durch die Membranenihrer Zellen zu schleusen. DieserTransport muss fehlerfrei ver-laufen und unterliegt deshalbeiner genauen Kontrolle.Bakterienzellen sind relativ ein-fach aufgebaut und haben nureinen oder zwei Unterbereiche.Das wichtigste Protein-Trans-portsystem in bakteriellen Zellen ist das so genannte Sec-System (von Sekretion). DerVergleich der Gensequenzenhat gezeigt, dass das Sec-Sys-tem einem weit verbreitetenTransportnetz ähnelt, das inhöheren Organismen und auchin menschlichen Zellen für denintrazellulären Proteintransportsorgt. Das Sec-System des Bakteriums Escherichia colibeispielsweise besteht aus dreiProteinen: „SecY“, „SecE“ und„SecG“. Dieses System über-nimmt die meisten Aufgabendes Proteintransports im Bak-terium sowie den Einbau be-stimmter Proteine in die Mem-bran selbst. Die transportiertenProteine enthalten eine Signal-sequenz, die – ähnlich wie einePostleitzahl – vom System er-kannt wird. Die neuen Genpro-dukte werden dann durch einen Kanal geschleust, den die Sec-Maschine in der Membran bildet.Eine Arbeitsgruppe um Dr. Ian Collinson am Max-Planck-Institut für Biophysik in Frank-furt am Main hat jetzt ersteBilder vom räumlichen Auf-bau dieser Protein-Transport-maschine in der Zellmembran gewonnen.

FORSCHUNG aktuell

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BIOPHYSIK

Eine Maschine, die Proteine transportiert

FORSCHUNG aktuell

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S: M

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BIO

PHYS

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Seitenansicht des SecYEG-Komplexes: Die Vertiefung ist vermutlich der geschlossene Transportkanal.

Ultraviolettes Licht oder an-dere Umwelteinflüsse könnendie DNA schädigen und zuÄnderungen der Erbinforma-tion (Mutationen) führen. Sie sind eine Ursache für dieEntstehung von Krebs, aberauch für den Alterungspro-zess. Die Art der Schädenkann sehr unterschiedlichsein, und die Zelle hat ver-schiedene Möglichkeiten,diese Defekte – das heißt dieDNA – zu reparieren. Wissen-schaftlern am Max-Planck-Institut für Biochemie inMartinsried bei München ist jetzt ein wichtiger Schrittgelungen zur Aufklärung eines bislang noch unzurei-chend verstandenen Wegs bei der DNA-Reparatur. Inder Zeitschrift NATURE (12.September 2002) berichtendie Forscher aus der Abtei-lung Molekulare Zellbiologievon Prof. Stefan Jentsch über ihre Entdeckung.

Grundlegende Prozesse inner-halb einer menschlichen Zellelaufen in sehr ähnlicher Weiseauch in Zellen weniger komple-xer Organismen ab. Da einzel-lige Organismen experimentellleichter zugänglich sind, erfor-schen Wissenschaftler die Hin-tergründe der DNA-Reparaturzunächst bei der Bäckerhefe.Dem Zellbiologen StefanJentsch und seinen Mitarbei-tern ist es nun gelungen, andiesem Modellsystem wichtigeDetails der Reparaturmechanis-men bei geschädigter DNA auf-zuklären. Im Mittelpunkt ihresInteresses steht dabei ein Pro-tein mit dem Kürzel PCNA. Es spielt bei der Verdopplungdes genetischen Materials(DNA-Replikation) und bei derDNA-Reparatur eine wesent-liche Rolle. Das Protein bildeteinen Ring, der die DNA um-schließt (siehe Abbildung).Während der Replikation fährtes quasi im Geleit mit dem für

die Verdopplung zuständigenEnzym, der Polymerase, denDNA-Strang ab. Trifft das Duoauf eine Stelle, an der die DNAbeschädigt ist, hält es an, umeine Reparatur des Schadens zu ermöglichen.Vier Mitarbeiter der Arbeits-gruppe – Carsten Hoege, BorisPfander, George-Lucian Moldo-van und George Pyrowolakis –haben jetzt erstmals gezeigt,dass das PCNA-Protein durchVerknüpfung mit weiteren Proteinen verändert wird. Diesesind Ubiquitin und das dazuverwandte Protein SUMO. Wird PCNA mit SUMO ver-knüpft, so übernimmt es Auf-gaben während der DNA-Repli-kation. Die Verknüpfung mitUbiquitin schaltet dagegen dieDNA-Reparatur-Funktion vonPCNA an.Darüber hinaus haben die Wissenschaftler die für den Reparaturmechanismus not-wendigen Enzyme aufgespürtund deren Funktion beschrie-ben. Dass dieser neu entdeckteMechanismus große Bedeutungfür die Überlebensfähigkeit der Zellen hat, ergaben weitereExperimente: Kann Ubiquitin

BIOCHEMIE

Schutzschalter gegen ErbschädenDarstellung des ringförmigen PCNA-Moleküls(gelb), an das dreiUbiquitin-Proteine(rot) geknüpftsind. Diese Modifi-kation aktiviert dieDNA-Reparatur.

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CHEM

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nicht mehr mit dem PCNA-Protein verknüpft werden, so zeigten sich die Zellen derBäckerhefe äußerst empfind-lich gegenüber UV-Strahlung. Damit hat die Forschergruppeum Stefan Jentsch einen wichtigen molekularen Um-schaltmechanismus aufge-deckt: PCNA ist quasi ein zel-lulärer Schutzschalter. Je nach-dem mit welchem Molekül er verknüpft wird, schaltet er zwischen verschiedenen Funk-tionen in der Zelle hin und her.Da der von den MartinsriederWissenschaftlern gefundeneReparaturmechanismus beimMenschen identisch ist, hofftdas Team um Jentsch, mit sei-ner Arbeit einen Grundstein für neue Therapie- und Dia-gnoseformen bei Krebs gelegtzu haben. ●

Weitere Informationen erhalten Sie von:

PROF. STEFAN JENTSCH

Max-Planck-Institut für Biochemie, MartinsriedTel.: 089/8578-3009Fax: 089/8578-3011E-Mail: [email protected]

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Den Forschern gelang es, kleine, zweidimensionale Kris-talle des Sec-Komplexes zu er-zeugen und dessen räumlicheStruktur mithilfe der Kryo-Elektronenmikroskopie aufzu-klären. Die ganze Transportma-schine misst lediglich 12 mal 6 Nanometer (ein Nanometerist ein Millionstel Millimeter). Die Bilder zeigen, dass derKomplex aus zwei gleichenSec-Einheiten besteht. DieFrankfurter Forscher gehen davon aus, dass diese Anord-nung der aktiven Form desSec-Komplexes in der lebendenZelle entspricht. In jeder derbeiden Einheiten haben dieWissenschaftler 15 Struktur-elemente entdeckt, welche dieMembran durchspannen. Ander Grenzfläche zwischen denbeiden Sec-Einheiten fandensie eine Vertiefung – wahr-scheinlich der geschlosseneTransportkanal. Vermutlichwird dieser Kanal durch ein-fache Umorientierung be-stimmter Strukturelemente imInneren des Sec-Komplexesgeöffnet und geschlossen. DieStruktur der Sec-Transportma-schine zu erkennen, ist einwichtiger Schritt vom System,um den Proteintransport in al-len Lebewesen zu verstehen. ●

Weitere Informationen erhalten Sie von:

DR. IAN COLLINSON

Max-Planck-Institut für Biophysik, Frankfurt am MainTel.: 069/96769-372Fax: 069/96769-359E-Mail: [email protected]

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Aufsicht auf denSecYEG-Komplex in der Membran:

Das Bild wurde auselektronenmikrosko-pischen Aufnahmen

zweidimensionalerKristalle errechnet.

Die blauen Stäbezeigen die 15 Struk-

turelemente in jeder der beiden

Einheiten. Der Bal-ken misst 2 Nano-meter (millionstel

Millimeter).

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FORSCHUNG aktuell

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FORSCHUNG aktuell

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POLYMERFORSCHUNG

Elektronik aus dem Nanozylinder

Optoelektronische Bauele-mente aus Kunststoff könneneine wichtige Alternative zuklassischen Elektroniken ausHalbleiterkristallen werden.Einem deutsch-amerikani-schen Forscherteam ist esnun gelungen, konventionelleorganische Moleküle undleitfähige Polymere zu Mate-rialien aus winzigen Nano-zylindern zu vereinen. Diesehaben neuartige elektroni-sche Eigenschaften. Mit leis-tungsfähigen spektroskopi-schen Methoden haben Wis-senschaftler um Prof. HansJoachim Spiess am MainzerMax-Planck-Institut für Po-

lymerforschung wesentlichzur Aufklärung der atomarenStruktur dieser Nanozylinderbeigetragen (NATURE, 26. Sep-tember 2002).

Die Entdeckung elektrisch leit-fähiger organischer Kristalleund Polymere (Nobelpreis fürChemie 2000) hat das Spek-trum der Materialien erweitert,die für einen Einsatz in derOptoelektronik geeignet sind.Die Optoelektronik ist eine Ver-bindung zwischen Licht undElektronik: Sie wandelt zumBeispiel Licht in elektrischenStrom um – das machen elek-tronische Kameras – oder um-

gekehrt elektrischen Strom in Licht wie zum Beispiel Laser-dioden im CD-Spieler.Für den Einsatz in der Opto-elektronik müssen die neuenMaterialien allerdings zwei Voraussetzungen erfüllen. Erstens müssen sie für denStromfluss genügend freie elek-trische Ladungsträger zur Ver-fügung stellen. In Elektronikensind das entweder negativ gela-dene Elektronen (n-Halbleiter)oder ihr Gegenteil: positiv gela-dene „Löcher“ (p-Halbleiter),die eigentlich aus fehlendenElektronen entstehen. Diese Ladungsträger müssen auchsehr mobil sein, um schnell genug durch die elektronischeSchaltung fließen zu können.Zweitens müssen sich diese Materialien leicht herstellenund verarbeiten lassen.Kristalle – etwa Halbleiter –haben eine präzise räumlicheStruktur und können eine hoheelektronische Leitfähigkeit auf-weisen. Doch in Herstellungund Weiterverarbeitung sindsie schwer zu handhaben. Poly-mere hingegen sind billig zuproduzieren und lassen sich gutverarbeiten. Polymermateria-lien haben jedoch meist eineräumlich sehr ungeordneteStruktur und bieten damit vieleHindernisse, die die Beweglich-keit ihrer Ladungsträger starkreduzieren. In Flüssigkristallenwiederum können die Molekülesich fast so hoch geordnet aus-richten wie in einem echtenKristall. Damit werden ihre Ladungsträger ähnlich frei be-weglich wie die von Kristallen.Sie sind deshalb für Anwen-dungen gut geeignet – aberProduktion und Verarbeitungsind sehr aufwändig. Viele For-schergruppen wollen daher dieVorteile beider Materialtypen –der Kristalle und der Polymere– nutzen und hoch geordnete,leicht zu verarbeitende mole-kulare Systeme erzeugen.

Jetzt ist es Wissenschaftlernam Max-Planck-Institut fürPolymerforschung und ihrenamerikanischen Partnern miteinem einfachen Trick gelun-gen, die gewünschten Eigen-schaften der klassischen Poly-mere und der Kristalle zusam-menzubringen. Die Forschersynthetisierten zusammenhän-gende Strukturen, so genannteCluster, aus konventionellenorganischen Molekülen undPolymeren. Diese Cluster sindfluorhaltig. Die Polymere ver-ästeln sich zunächst wie „Den-driten“, also baumartige Kris-tallstrukturen. Die Expertenhängten dann an die Endendieser Verzweigungen einzelnechemische Gruppen, die ent-weder als „Donatoren“ Elektro-nen freisetzen oder als „Akzep-toren“ freie Elektronen einbin-den können. Die Dendritenbäu-me formen sich dabei zu ku-chenstückartigen Bauteilen.Diese Kuchenstücke organisie-ren sich von selbst zunächst zuaromatischen Molekülringen,die an einen runden Kuchenoder eine Münze erinnern. Die-se molekularen Münzen stapelnsich dann von selbst zu „Geld-rollen“ – winzigen molekularenZylindern. Diese Zylinder sind

etwa 3 Nanometer (millionstelMillimeter) dick und 50 bis 100Nanometer lang.Solche Zylinder haben eine ho-he räumliche Ordnung, die weitüber die Abmessungen einzel-ner Moleküle hinaus reicht –sie sind „supramolekulare“Strukturen. Beide Bestandteile(die organischen Materialienund die Polymere) können alsDonator- oder als Akzeptor-Gruppe genutzt werden. Siegeben also unter Lichteinwir-kung entweder Elektronen füreine n-Leitung ab oder „fres-sen“ Elektronen und sorgen sofür eine p-Leitung. Mit diesem neuen Verfahrenlassen sich durch Selbstorgani-sation aus unterschiedlichenorganischen Materialien be-stimmte supramolekulare Flüs-sigkristalle herstellen: Sie ent-halten in ihrem Zentrum dieDonator-Akzeptor-Komplexeund haben viel versprechendeoptoelektronische Eigenschaf-ten. Selbst ungeordnete Poly-mere verbinden sich auf dieseWeise zu wohl definierten Zy-lindern. Das Fluor sitzt in derPeripherie der Moleküle undschützt so – fast wie eine Tef-lonbeschichtung – das Innereder Zylinder vor äußeren Ein-flüssen wie Feuchtigkeit.Die Forschungsgruppe vonHans Wolfgang Spiess, Direktoram Max-Planck-Institut fürPolymerforschung in Mainz,brachte in das Projekt vor al-lem eine entscheidende Kom-petenz ein: ihre Erfahrung inder kernmagnetischen Reso-nanzspektroskopie (NuclearMagnetic Resonance, NMR) anFestkörpern. Für die optoelek-tronischen Eigenschaften derNanozylinder ist die Stapelungder aromatischen Ringsysteme– der „Münzen“ – entschei-dend. Mit einer besonders raf-finierten neuen NMR-Technikkonnten die Mainzer Forscherdie Anordnung der nur wenigeNanometer großen zylinder-förmigen Strukturen aufklären.Die Genauigkeit reichte dabeibis auf das Abstandsniveauzwischen einzelnen Wasser-

Fotomontage aus Röntgendif-

fraktogramm,elektronenmikro-

skopischer Auf-nahme und NMR-

Spektren einessupramolekularen Molekülverbands.

Selbstorganisierter,zylinderförmiger

supramolekularerMolekülverband

mit optoelektroni-scher Funktion im

Zentrum. Ganzoben fügen sich die

„Kuchenstücke“erst zu einer

Scheibe zusammen,die sich dann auf

den Stapel des Zylinders setzt.

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stoffatomen – entsprechendetwa 3,5 Ångström (zehntelmilliardstel Meter).Solche Informationen sind fürdas Maß der elektronischenLeitfähigkeit entscheidend. Zu-dem fanden die Mainzer NMR-Spezialisten, dass in den sehrregelmäßig gepackten Nanostrukturen sich dieZylinder immer senk-recht zu deren Ober-fläche anordnen. Da-bei sitzen die Zylindersehr dicht: Auf einenQuadratzentimeterkonnten die For-scher eine BillionNanozylinder nach-weisen.Der Erfolg dieses Projektsberuht wesentlich auf der heutigen Leis-tungsfähigkeit derNMR-Spektroskopie.Sie braucht nur ge-ringe Substanz-mengen für zu-verlässige Resulta-te und kann diesedarüber hinaus in kürzesterZeit – im wörtlichen Sinn „überNacht“ – produzieren. Zusam-men mit den Informationenüber Synthese und Funktionder neuen Materialien sind da-durch bereits jetzt wichtigeDetails ihrer molekularenStrukturen bekannt. Sie erlau-ben es, die neuen Materialiensehr bald in elektronischenBauelementen einzusetzen. Be-sonders faszinierend erscheintdie Möglichkeit, jeden einzel-nen Zylinder in diesem Mo-lekülverband separat als supra-molekulares, optoelektroni-sches Bauelement zu nutzen.So könnten diese Bauelementeeine ernst zu nehmende Alter-native zur heutigen Molekular-elektronik werden. ●

Weitere Informationen erhalten Sie von:

PROF. HANS WOLFGANG SPIESS

Max-Planck-Institut für Polymerforschung, MainzTel.: 06131/379-121Fax: 06131/379-320E-Mail: [email protected]

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Die Struktur der zylinderförmigenMolekülverbändeim Blickfeld ver-schiedener Metho-den zur Charakte-risierung.

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Die häufigste Form desKleinwuchses beim Menschenist die Achondroplasie: ImVerhältnis zum Rumpf sindbei Achondroplasie-Patientenbesonders die Arme und Beine stark verkürzt. Grunddafür ist eine genetischeMutation; sie führt zur Akti-vierung eines Signalwegs für eine Gruppe von Wachs-tumsfaktoren, den Fibroblast Growth Factors (FGF). Da-durch wird die Teilung undDifferenzierung von Knorpel-und Knochenzellen der Gliedmaßen stark gestört.Am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlinist es der Arbeitsgruppe vonDr. Andrea Vortkamp jetztgelungen, das für diesen Signalweg zuständige über-geordnete Kontrollsystemaufzudecken und damit einen neuen Ansatz für einegezielte Therapie zu zeigen(DEVELOPMENTAL CELL, 13. Sep-tember 2002).

Die bei Achondroplasie-Betrof-fenen am stärksten verkürztenlangen Röhrenknochen bildensich während der Embryonal-entwicklung in einem kompli-zierten Differenzierungsprozess(der „endochondralen Ossifika-tion“). Bei diesem Prozess wirdaus Knorpelzellen – den Chon-drozyten – zunächst ein Modelldes späteren Knochens ange-legt. Diese knorpelige Skelett-anlage wächst durch Teilungder Knorpelzellen. Gleichzeitigbeginnen die Zellen im Zen-trum der Knochenanlage, sichin so genannte hypertropheChondrozyten zu differenzie-ren: Sie beenden die Zelltei-lung, vergrößern sich und ver-ändern dabei ihre physiologi-schen Eigenschaften – undzwar derart, dass sie in einemweiteren Schritt durch Kno-chen ersetzt werden können.Beide Schritte, die Zellteilungund die hypertrophe Differen-

zierung, tragen zum Wachs-tum der Knochen bei. Doch nur wenn das Gleichgewichtzwischen Zellteilung und hy-pertropher Differenzierungstimmt, ist das Längenwachs-tum der Knochen garantiert.Die Knorpelbereiche der Ske-lettanlage (die Wachstumszo-nen) sind für das Längen-wachstum der Knochen nichtnur vor, sondern auch nach derGeburt verantwortlich. Erst mitAbschluss der Pubertät wirdbeim Menschen der Knorpel inden Wachstumszonen vollstän-dig durch Knochen ersetzt unddamit das Wachstum einge-stellt.Bereits vor einigen Jahren ha-ben Wissenschaftler gezeigt,dass Achondroplasie von Muta-tionen in einem Gen herrührt,das die Bauanleitung für denFibroblast Growth Factor Re-zeptor 3 (FGFR3) trägt. Norma-lerweise wird dieser Rezeptorerst aktiv, wenn ein bestimmterWachstumsfaktor mit dem Kürzel FGF an ihn bindet. Beider zu Achondroplasie führen-den Mutation ist der Rezeptorjedoch kontinuierlich aktiv –

quasi wie ein Ein-Aus-Schalter,der eingeschaltet bleibt. Damitkommt es zu einer künstlichenAktivierung der von FGF ge-steuerten Differenzierungspro-zesse. Trotz dieser Erkenntnisseund obgleich Achondroplasieeine der häufigsten Ursachenfür angeborenen Kleinwuchsist, konnten bisher keine wirk-samen Therapien entwickeltwerden. Auch die Einnahmevon Wachstumshormonen zeigtbei Achondroplasie im Gegen-satz zu anderen, hormonell be-dingten Kleinwuchsformen nureine sehr begrenzte therapeuti-sche Wirkung und steigert dieendgültige Körpergröße kaum.Mit der Übertragung der Muta-tion auf Mäuse haben die Wis-senschaftler inzwischen einTiermodell, das die Erforschungder Achondroplasie wesentlicherleichtert. Ähnlich wie beimMenschen treten bei diesenMäusen verkürzte Gliedmaßenund eine für diesen geneti-schen Defekt charakteristischeKopfform auf. Die dauerhafteAktivierung des FGFR3-Signal-wegs führt bei Mäusen zu einerdramatischen Veränderung der

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MOLEKULARE GENETIK

Wenn Knochen nicht mehr wachsen

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ETIK

Knochendifferenzierung. Er-gebnis: Die Wachstumszonenmit den sich teilenden und dif-ferenzierenden Knorpelzellensind stark verkleinert.Die Arbeitsgruppe von AndreaVortkamp will ein Netzwerkentschlüsseln, das die Zelltei-lung (Proliferation) und Diffe-renzierung der Knorpel- undKnochenentwicklung steuert.Dabei haben die Max-Planck-Forscher zunächst bestätigt,dass FGF-Signale in diesemProzess eine bedeutende Rollespielen – sie hemmen nämlichdie Proliferation. Darüber hin-aus verzögern sie nicht, wie ur-sprünglich angenommen, denDifferenzierungsprozess derKnorpelzellen, sondern be-schleunigen ihn. Dadurch wer-den der Wachstumszone ver-mehrt Knorpelzellen entzogen.Neben der verminderten Proli-feration trägt somit eine be-schleunigte Differenzierung zurreduzierten Länge der Skelett-anlagen bei Achondroplasie-Trägern bei.Um die molekulare Basis vonDifferenzierungsstörungen zuverstehen, muss man zunächstden Signalweg korrekt inter-pretieren. Darüber hinaus ist esfür gezielte Therapien unver-zichtbar, das einem Signalwegübergeordnete Kontrollsystemzu identifizieren. Die BerlinerWissenschaftler haben deshalbdie Funktion einer weiteren Fa-milie von Wachstumsfaktoren,der Bone Morphogenetic Pro-teins (BMPs), analysiert. Da-

nach gelang es, den FGF- undden BMP-Signalweg erstmals ineinem gemeinsamen Kontroll-netzwerk zusammenzuführen.Tatsächlich regulieren die BMP-Signale dieselben Schritte derKnorpeldifferenzierung wie dieFGF-Signale – allerdings in ent-gegengesetzter Richtung: An-ders als die für die Achondro-plasie verantwortlichen FGF-Signale erhöhen die BMP-Signale die Zahl der Zellteilun-gen und verzögern die hyper-trophe Differenzierung.Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse behandelten dieForscher die für die Ausbildungder Gliedmaßen verantwort-lichen genetischen Anlagen ei-ner Achondroplasie-Maus mitBMPs. Diese Behandlung wirkteder Ausprägung von Achondro-plasie-Merkmalen eindeutigentgegen und führte zu mehrZellteilungen und einer verzö-gerten Differenzierung derKnorpelzellen. Auch wenn wei-tere Studien nötig sein werden,weisen diese Ergebnisse bereitsauf neue Ansatzpunkte für einegezielte Therapie von Achon-droplasie hin. „Unsere Unter-suchungen zeigen, dass dieIdentifizierung des für Fehlbil-dungen verantwortlichenGens nur ein erster Schritt ist.Erst das Verständnis, wie diesesGen in das komplette moleku-lare Regulationsnetzwerk ein-gebettet ist, eröffnet die Chan-ce, eine gezielte Behandlungs-strategie zu entwickeln“, sagtAndrea Vortkamp. ●

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Weitere Informationen erhalten Sie von:

DR. ANDREA VORTKAMP

Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, BerlinTel.: 030/8413-1302Fax: 030/8413-1130E-Mail: [email protected]

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Mäuse mitAchondroplasiesind im Vergleichzu Wildtyp-Mäusen durchKleinwuchs, verkürzte Glied-maßen und eineflache Kopfformgekennzeichnet.

FGF- und BMP-Signale haben ent-gegengesetzte Wirkungen auf die Entwicklung der Knorpelzellen und damit auf dasWachstum der Kno-chen (Bilder unten).

Knorpel- und Knochenzellen in

der Wachstumszone.Die beiden Bilder rechts zeigen die

Wachstumszone beiWildtyp-Mäusen

und bei Mäusen mitAchondroplasie.

proliferierendeChondrozyten

differenzierendeChondrozyten

Knochen

Wildtyp Achondroplasie

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Pflanzen verteidigen sich sehrwirksam gegen viele Insek-ten, Krankheitserreger undandere Schädlinge. WennSchädlinge diese Pflanzendennoch als Nahrungsquellenutzen wollen, müssen siederen Abwehr überwinden.Eine besonders raffinierteWaffe ist hierbei die „Senföl-Bombe“ der Kreuzblüten-Gewächse: Beschädigt ein In-sekt deren Pflanzengewebe,werden giftige Stoffwechsel-produkte freigesetzt. Bei derKohlmotte Plutella xylostella,die weltweit große Schädenan Nutzpflanzen wie Kohl,Raps oder Senf anrichtet, haben Wissenschaftler derAbteilung Genetik und Evolu-tion des Max-Planck-Insti-tuts für chemische Ökologiein Jena jetzt ein Enzym ent-deckt, mit dem diese Raupendie ausgeklügelte chemischeAbwehr ihrer Wirtspflanzenumgehen: Eine so genannteSulfatase „entschärft“ dieSenföl-Bombe der Pflanzen –bei ihrem Fressangriff kön-nen die giftigen Abbaupro-dukte gar nicht erst entste-hen (PNAS ONLINE, 10.1073/pnas.172112899, 2. August2002).

che keine giftige Wirkung aufSchädlinge haben. Insgesamtkennen die Forscher etwa 120verschiedene Glucosinolate, dieim Prinzip die gleiche chemi-sche Grundstruktur haben undsich vor allem durch ihre Sei-tenketten unterscheiden. Myro-sinasen wiederum sind pflanzli-che Enzyme, die Glucoserestevon Glucosinolaten abspaltenkönnen. Dabei entsteht eineReihe toxischer Substanzen.Im intakten Pflanzengewebewerden Myrosinasen getrenntvon Glucosinolaten aufbewahrtund können nicht wirken. Be-ginnen jedoch Schädlinge ander Pflanze zu fressen, erhaltendie Myrosinasen Zugang zu den Glucosinolaten: Glucosewird von den Glucosinolatenabgespalten. Ein instabiles Zwischenprodukt entsteht, das spontan in eine Reihe von Abbauprodukten mit giftiger Wirkung zerfällt – die Senföl-Bombe explodiert!Laborversuche haben gezeigt,dass die Abbauprodukte derSenföl-Bombe für viele Schäd-linge giftig sind. Dies gilt auchfür ein auf Kreuzblütler spezia-lisiertes Insekt, die KohlmottePlutella xylostella. Dennochrichten die Raupen der Kohl-motte weltweit großen Scha-den an Blumenkohl, Brokkoli,Senf oder Raps an, die zur Fa-

milie der Kreuzblütler gehören.Diesen Widerspruch haben dieWissenschaftler der AbteilungGenetik und Evolution vomMax-Planck-Institut für che-mische Ökologie in Jena aufge-löst: Was ermöglicht es derKohlmotte, das Verteidigungs-system der Kreuzblütler – dieSenföl-Bombe – zu umgehenund sie als Wirtspflanzen zunutzen?Den Schlüssel zur Erklärungdieser paradoxen Situationentdeckten die Forscher im Kotder Raupen. Darin fanden siemodifizierte Glucosinolate, de-nen die in der Grundstrukturansonsten übliche Sulfatgrup-pe fehlte. Diese so genanntenDesulfo-Glucosinolate reagie-ren mit Myrosinase nicht mehr;folglich entstehen keine gifti-gen Abbauprodukte, und dieSenföl-Bombe ist entschärft. Esgelang den Forschern, im Darmder Raupen eine Glucosinolat-Sulfatase (GSS) nachzuweisen.Dieses Enzym spaltet sehr ef-fektiv die Sulfatgruppe vonGlucosinolaten ab. Auch dasdem Enzym zugrunde liegendeGen wurde identifiziert undisoliert – es ist nur im Darm derRaupen aktiv. Nicht abgelesenwird das Gen im Ei, in derPuppe und im voll entwickeltenInsekt.Diese entwicklungs- und ge-websspezifische Regulation derGenexpression stellt sicher, dassdie Glucosinolat-Sulfatase ge-

nau in jenem Entwicklungs-stadium und an jenem Ort zurVerfügung steht, an dem siegebraucht wird: im Darm derRaupen. Denn nur die Raupenfressen an Kreuzblütlern. Dabeiist die Enzymaktivität im Darmextrem hoch. Berechnungenhaben ergeben, dass sie ausrei-chen würde, hundert Mal mehrGlucosinolate umzusetzen alstypischerweise in den Blätternder Ackerschmalwand und an-deren Kreuzblütlern vorkom-men. Die Raupen der Kohlmot-te sind also bestens vor derSenföl-Bombe geschützt.Dr. Heiko Vogel, einer der Auto-ren der in PNAS veröffentlich-ten Studie, sagt dazu: „DenSchädlingen genügt ein einzi-ges Enzym, um ein sehr trick-reich angelegtes pflanzlichesVerteidigungssystem auszu-schalten. Doch gerade deshalbbieten sich jetzt Möglichkeiten,den gefürchteten Kohlmottenwirklich auf den Leib zu rücken.Gelänge es, die Bildung diesesEnzyms im Magen der Kohl-motte zu blockieren, könnte dieSenföl-Bombe der Kreuzblütlerdoch noch wirksam werden.“ ●

Weitere Informationen erhalten Sie von:

DR. HEIKO VOGEL

Max-Planck-Institut für chemische Ökologie, JenaTel.: 03641/57-1413Fax: 03641/57-1402E-Mail: [email protected]

CHEMISCHE ÖKOLOGIE

Wie Kohlmotten die Senföl-Bombe entschärfen

Larve und Mottevon Plutella xylo-stella (Kohlmotte)

auf Arabidopsisthaliana (Acker-

schmalwand).

Entwicklungs- und gewebsspezifische Transkriptionsmuster der Plutella-xylostella-Sulfatase (GSS), ermittelt mit Reverser Transcriptase PCR (RT-PCR). Teilbild A: GSS (untere Banden) wird während der Insektenentwicklung nur inLarvenstadien exprimiert (2 bis 4), nicht aber in Eiern (1), Puppen (6 bis 7) undMotten (8). Teilbild B: In Larven ist die Expression auf den Darm beschränkt (4 bis 9). Im Kopf (1), im Restkörper (2), den Spinndrüsen (3) und den Malpighi-schen Gefäßen (10) sind GSS-Transkripte nicht nachweisbar. Als Kontrolle diente ein so genanntes Housekeeping Gene (GAPDH, jeweils obere Banden).

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Lange Zeit glaubte man, der so-ziale Status der Eltern entscheidedarüber, welches Kind auf demSchulhof das Sagen hat. DochMarkenjeans und Hightech-Spiel-zeug garantieren noch keine Beliebtheit. Ein Team des Max-Planck-Instituts für Bildungs-forschung (MPIB) in Berlin undder Universität Potsdam betrach-tet soziale Ungleichheit unter Kindern nun aus einem neuenBlickwinkel – als Merkmal derKinderwelt selbst.

Lukas ist der „Bestimmer“, weil er die schlimmsten Schimpfwörterkennt. Frida hat jeder gern alsFreundin, weil sie die teuerste Hoseträgt. Und Hans? Mit dem spielt sowieso niemand. Kaum jemandglaubt noch an das Ideal, in Kinder-gruppen gebe es keine Rangordnun-gen. Doch was den Rang bestimmt,darüber wissen Erwachsene nochnichts Genaues. Deshalb untersuch-ten die Diplom-Psychologinnen Ju-dith Schrenk und Christine Gürtlerunter der Leitung von Prof. LotharKrappmann (MPIB) und Prof. HansOswald (Universität Potsdam) vonMai bis Juli 2001 Berliner Grund-schulklassen. Sie wollten herausfin-den, welche Strukturen sozialer Ungleichheit vorherrschen, und wasKindern dazu verhilft, ihre Absich-ten auch gegen den Willen ihrerMitschüler durchzusetzen. Gibt esalso neben dem Elternhaus weitereFaktoren, welche die soziale Stel-lung eines Kindes beeinflussen?Um diesem Problem auf den Grundzu gehen, befragten die Wissen-schaftlerinnen 234 Dritt- undFünftklässler aus zehn Grundschul-klassen. „Die Besonderheit war, dasswir die Studie auf vier verschiedenePerspektiven ausrichteten“, sagt Judith Schrenk. Zuerst fragten dieForscherinnen jedes Kind, wie essich verhalte, um seine Interessengegen die anderer durchzusetzen.Die Kinder konnten beispielsweise„Ich halte mich an Spielregeln“ oder„Ich schubse andere weg“ ankreuzen

BILDUNGSFORSCHUNG

Hackordnung auf dem Schulhof

In Kreuzblütlernkommen das pflanz-liche Enzym (Myro-sinase) und Gluco-sinolate (Senföl-Glykoside) erst beieiner Schädigungdes Gewebes – zumBeispiel durch Insek-tenfraß – zusam-men. Die Myrosinasespaltet den Glucose-rest von den Gluco-sinolaten ab, unddiese zerfallen in toxische Abbaupro-dukte (links). DieLarven des Kreuz-blütlerspezialistenPlutella xylostellabesitzen jedoch einbesonderes Enzym(Glucosinolat-Sulfa-tase, GSS), mit demsie die pflanzlichenGlucosinolate soschnell modifizierenkönnen, dass keinetoxischen Abbaupro-dukte mehr entste-hen (rechts): Diepflanzliche Abwehrläuft ins Leere.

Pflanzen sind Schädlingen nichtimmer wehrlos ausgeliefert. ImGegensatz zu vielen Tieren, dievor ihren Feinden einfach da-vonlaufen, verteidigen sichPflanzen nicht nur mit mecha-nischen Barrieren – wie rutschi-gen Wachsen oder stachligenDornen –, sondern auch mit ab-schreckenden und giftigen Sub-stanzen. Pflanzen sind geradezuSpezialisten in der chemischenKriegsführung. Zu den beson-ders schlagkräftigen Erfindun-gen auf diesem Gebiet gehörtdas Glucosinolat-Myrosinase-System der Kreuzblütler. Gluco-sinolate (auch bekannt unterdem Namen Senföl-Glycoside)sind Pflanzenstoffe, die als sol-

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Wenn unser Gehirn verschiedene Sinnesreize miteinander verrechnet,verliert es unter Umständen die Information über die einzelnen Komponenten der Sinnesreize, ausdenen sich die Wahrnehmung zu-sammensetzt. Wissenschaftler desMax-Planck-Instituts für biologische Kybernetik in Tübingen, der Uni-versity of California Berkeley, derUniversity of Pennsylvenia in Phila-delphia und der New York Universityhaben herausgefunden, dass dieserVerlust eintritt, wenn verschiedenevisuelle Signale kombiniert werden.Dagegen lassen sich Informationen,die von unterschiedlichen Sinnenkommen, wie dem Tast- und demSehsinn, nach wie vor wieder in ihre Einzelkomponenten zerlegen(SCIENCE, 22. November 2002).

Um sich ein Bild von der Welt zu ma-chen, verarbeitet unser Gehirn alle In-formationen, die ihm über die Sinnes-organe zur Verfügung gestellt werden.Wie in einem Puzzle-Spiel setzt es dieeinzelnen Teilinformationen, die wirdabei von einem Objekt erhalten, zu einem Gesamtbild zusammen. DiesemZusammensetzen liegt ein komplexerVerrechnungsprozess zu Grunde: Schoninnerhalb einer Sinnesmodalität, alsoetwa dem Sehen, stehen mehrere Ein-zelsignale zur Verrechnung an. So ge-ben zum Beispiel perspektivische Ver-zerrungen, stereoskopische Signale,Schattierungen und auch Verdeckun-gen Aufschluss über die räumlicheStruktur eines Objekts. Hinzu kommenweitere Informationen – wie sie Hör-oder Tastsinn liefern –, die das Gehirnebenfalls einbezieht. Dadurch entstehtschließlich in unserem Bewusstsein ei-ne komplexe Objektwahrnehmung.Dass das Gehirn bei diesen Verknüp-fungen die Sinnesdaten nicht blind zu-sammenwürfelt, sondern statistischoptimal verrechnet, hatten Max-Planck-Forscher Marc Ernst aus Tübin-gen und Martin Banks von der Univer-sity of California in Berkeley bereitsAnfang dieses Jahres nachgewiesen(vgl. MAXPLANCKFORSCHUNG 1/2002, S. 7).In ihrer neuesten Studie versuchen die

beiden Forscher zusammen mitJames Hillis von der Universityof Pennsylvania und MichaelLandy von der New York Uni-versity herauszufinden, welcheFolgen dieses statistisch opti-mierte Verhalten des Gehirnsaußerdem hat.Überblendet man rotes mitgrünem Scheinwerferlicht, sonimmt der Betrachter lediglichgelbes Licht wahr. Er kann aufdieser Ebene nicht mehr zwi-schen zusammengesetztemGelb und monochromatischemGelb unterscheiden. Die For-scher bezeichnen solche physi-kalisch unterschiedlichen Reize,die zur selben Wahrnehmungführen, als Metamere. Farb-Metamere sind also ein Beispielfür einen Verarbeitungsme-chanismus, dessen Wahrneh-mungsergebnis vom Betrachternicht mehr in seine ursprüng-lichen Komponenten zerlegtwerden kann – unser Gehirnerlaubt uns keinen Zugriffmehr auf die ursprünglicherot-grüne Information. Eine interessante Frage für dieWissenschaftler lautet nun, obdas Gehirn nach Zusammen-führen räumlicher Informatio-nen noch in der Lage ist, aufdie einzelnen Sinnesinforma-tionen zuzugreifen oder obdiese Informationen ebenfalls –wie im Fall des gelben Lichts –beim Verrechnungsvorgangverloren gehen. Verkürzt lautetdie Frage also: Gibt es nebenden Farb-Metameren auch soetwas wie Metamere der räum-lichen Wahrnehmung?Um diese Frage zu beantwor-ten, machten die Forscher zweiExperimente zur räumlichenWahrnehmung. Im ersten Ex-periment mussten die Ver-

suchspersonen die Größe einesBalkens schätzen und durftenhierfür sowohl ihren Seh- alsauch ihren Tastsinn einsetzen.Auf der Verrechnungsebenelaufen also „gesehene“ und„gefühlte“ Größeninformatio-nen ein. Im zweiten Experimentsollten die Versuchspersonendie Neigung einer Fläche ab-schätzen; diese Aufgabe warjedoch ausschließlich visuell zulösen. Auch die Neigung derFläche wurde über zwei Kom-ponenten erfasst – hier aberüber zwei ausschließlich visuel-le Komponenten: dem perspek-tivischen und dem stereosko-pischen Sehen. In jeweils bei-den Experimenten konnten dieWissenschaftler die einzelnenKomponenten getrennt von-einander manipulieren. Die Versuchspersonen solltennun zwischen Objekten unter-scheiden (Balken oder geneigteFlächen), die aus diesen Kom-ponenten mit jeweils unter-schiedlichem Betrag zusam-mengesetzt waren. Dabeiwandten die Forscher einenTrick an: Sie wählten den Be-trag, mit dem die einzelnenKomponenten quasi in die Ver-rechnung eingehen, so, dass die Objekte im Ergebnis desVerrechnungsprozesses jeweilsdie gleiche Größe (Balken) oderdie gleiche Neigung (Flächen)hatten. Sollte es den Versuchs-personen trotzdem möglichsein, die Objekte zu unter-scheiden, wäre das der Beweisdafür, dass das Gehirn nach wie vor auf die Einzelinforma-tionen zugreifen, die Objektealso quasi wieder in seine Kom-ponenten zerlegen kann. (Gäbe es keine Farb-Metamere, sokönnten wir also tatsächlich

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(Ich-Perspektive). Dann ging esdarum, welches Vorgehen undwelche Merkmale es den Kin-dern leichter oder schwerermachen, sich bei anderendurchzusetzen (Klassenperspek-tive) und darum, was dieSchüler eigentlich für richtighalten (normative Perspektive).Die vierte Perspektive erhobenGürtler und Schrenk mithilfedes Klassenspiels – einer ausden USA stammenden Art derBefragung. Die Kinder musstenihren Kameraden bestimmteRollen zuschreiben, wie „Timspielt den, der immer nachgibt“.Dadurch wurden Aussagen derKinder übereinander erfasst.Die Psychologinnen sammeltenvon den Lehrern und Elternauch Informationen zur wirt-schaftlichen Lage und zu denSchulleistungen.

zen können. Kinder, die schla-gen oder andere auslachen, ha-ben weniger Einfluss. Erstaun-lich ist, dass ihnen dabei per-sönliche Leistungen wie guteSchulnoten und Sportlichkeitzugute kommen, während gutes Aussehen oder die Höhedes Taschengelds fast keinenEinfluss auf den Status in derKlasse haben.Doch welchen Stand haben eigentlich aggressive Kinder beiihren Mitschülern? Dieser Fragewidmet sich Christine Gürtler.Denn die meisten dieser Jun-gen und Mädchen schaffen estrotz ihres negativen Auftre-tens, Freunde an sich zu bin-den. „Ich hatte mir vorgestellt,dass Freunde von aggressivenKindern sich weniger als ande-re daran stören, dass diese an-dere ärgern oder schlagen.Sonst wären sie ja kaum be-freundet“, so Gürtler. Doch ge-nau das Gegenteil sei der Fall:„Die Kinder sind nicht blind fürdas aggressive Verhalten ihrerFreunde. Sie nehmen es sogarviel stärker wahr als nicht be-freundete Klassenkameraden.“Dafür erkennen diese Kinderandererseits auch deren positi-ve Eigenschaften wie gute Lau-ne oder Humor viel eher an.In Langzeitstudien fanden Lothar Krappmann und HansOswald heraus, dass manchedieser Freundschaften nach einiger Zeit zerbrechen. Anderehalten sich jedoch und sindden aggressiven Kindern eineBrücke in eine Sozialwelt, inder man Konflikte aushandelt.Krappmann dazu: „Von Freun-dinnen und Freunden erwartenKinder, dass sie ihre Problemevon gleich zu gleich und ohneSchlagen und Anschreien re-geln. Aber das muss man erstmiteinander lernen.“ ●

Weitere Informationen erhalten Sie von:

PROF. LOTHAR KRAPPMANN

Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, BerlinTel.: 030/82406-357Fax: 030/8249939E-Mail: [email protected]

@ Weitere Informationen erhalten Sie von:

DR. MARC O. ERNST

Max-Planck-Institut für biologische KybernetikTel.: 07071/601-644 Fax: 07071/601-616E-Mail: marc.ernst@ tuebingen.mpg.de

BIOLOGISCHE KYBERNETIK

Puzzle-Spiel der Sinne

Rotes plus grünesLicht führt zur

Wahrnehmung vonGelb. Dieses zusam-

mengesetzte Gelb istnicht zu unterschei-den von einem mo-

nochromatischenGelb (Abbildung

links). Die Wissen-schaftler haben ver-

sucht zu klären, obes solche Metamereauch bei der räum-

lichen Wahrneh-mung gibt. In der

vorgestellten Studiekonnten Größen-

Metamere experi-mentell nicht nach-

gewiesen werden(Abbildung rechts):

„Gefühlte“ und „ge-sehene“ Größen-information ver-schmelzen nicht

miteinander. Dage-gen werden ver-

schiedene visuelleSignale – wie per-spektivisches undstereoskopisches

Sehen – miteinanderverrechnet.

GRA

FIKE

N: M

AX-P

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die rot-grüne Information wieder herausfiltern.)Die beiden Experimente liefer-ten unterschiedliche Ergeb-nisse: Durften die Versuchsper-sonen sowohl ihren Seh- alsauch ihren Tastsinn zu Hilfenehmen, so waren sie problem-los in der Lage, eine Unter-scheidung zwischen den Objek-ten zu treffen. Das heißt: Esgibt keine Größen-Metamere.Visuelle und haptische Sinnes-reize verschmelzen nicht mit-einander – die Signale werden(anders als die Rot-Grün-Infor-mation) einzeln wahrgenom-men. Das beobachten wir auchim Alltagsleben, wenn Sehenund Fühlen verschiedene Infor-mationen an das Gehirn wei-terleiten – etwa, wenn man einObjekt betastet und gleichzei-tig ein anderes anschaut. Im zweiten Experiment dage-gen ging die Unterscheidungs-fähigkeit verloren. Für stereos-kopisches und perspektivischesSehen, so die Schlussfolgerungder Wissenschaftler, existierenoffensichtlich Metamere. Undauch das ist bei näherer Be-trachtung durchaus sinnvoll,denn für das visuelle Systemkann es keine zwei Objekte anderselben Stelle geben. Ob sichdieser Effekt auch bei anderenSinnen und Sinnesreizen nach-weisen lässt, wollen die For-scher in weiteren Experimentennun prüfen. ●

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Aggressive Kinder haben auf andere wenig Einfluss.

Obwohl es noch eine Weiledauern wird, das umfangreicheMaterial komplett auszuwer-ten, stellten die Wissenschaft-lerinnen nun erste Ergebnissevor. Judith Schrenk hat genau-er untersucht, welche MittelKinder anwenden, um sichdurchzusetzen: „Wenn Kinder,egal ob Junge oder Mädchen,bei anderen etwas erreichenwollen, sind sie freundlich.“Anderen Schaden zufügen,schlagen oder auslachen, sei„out“. Weiterhin ermittelteSchrenk, ob diese Methodeauch wirklich Erfolg bringt. Sie fand heraus, dass Kinder,die laut Fragebogen „vieleIdeen haben“ und „ihre Absich-ten erklären“, sich tatsächlichbesser in der Klasse durchset-

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mit rund 75 Prozent aller Fälledie häufigste Meteoritenklassebilden. „Neuschwanstein“ stell-te sich jedoch als Enstatit-Chondrit heraus. „Damit gibt es keine Verwandtschaft zwi-schen beiden Steinen“, sagt Jutta Zipfel. Die Enstatit-Chon-driten sind vergleichsweise seltene Exemplare in der Weltder Himmelssteine: Lediglich1,5 Prozent aller Fälle gehörenzu dieser Klasse.Nach der Untersuchung derchemischen Zusammensetzungund insbesondere des Gehaltsan Spurenelementen konntedie Geochemikerin „Neu-schwanstein“ genauer klassi-fizieren: „Er gehört zur KlasseEL6. Das sind Chondrite, dieverglichen mit anderen Meteo-riten geringe Anteile an mäßigvolatilen Elementen wie etwaZink haben.“ Der so genannteRekristallisationsgrad wirddurch die angehängte Zifferbeschrieben. Er ist ein Maß fürdie Erwärmung, die der Steineinst in seinem Mutterkörpererfuhr. „Die Zahl 6 bedeutet,dass er mit etwa 800 Grad Cel-sius eine starke Metamorphosedurchmachte. Nur im Zentrumeines Kleinplaneten konntendiese Temperaturen durch denZerfall radioaktiver Isotope er-reicht werden“, erklärt die For-scherin. Der Gehalt des Steinsan Eisen-Nickel-Legierungen istvergleichsweise hoch: Fast 30Gewichtsprozent sorgen dafür,dass er vom Magneten angezo-gen wird.Auch die Untersuchungen derkosmogenen Edelgase weist„Neuschwanstein“ eine andereAbstammung als dem tsche-chischen Bahnkollegen nach: „Jeder Meteorit enthält stabile,also nicht radioaktive Edelgas-Isotope, die aus unterschied-lichen Quellen stammen“, erläutert Ludolf Schultz, eme-ritierter Professor am Max-Plank-Institut für Chemie: „DieAnalyse dieser Edelgase ermög-licht uns, das Bestrahlungsalterabzuschätzen.“ Das ist die Zeit, die der Stein den kosmi-schen Strahlen ausgesetzt war.

Als Teil eines größeren Ur-asteroiden war „Neuschwan-stein“ von der vorwiegend ausProtonen bestehenden Strah-lung abgeschirmt, denn ihreEindringtiefe beträgt lediglichrund einen Meter.Nach der kollisionsbedingten„Abnabelung“ wurden durchdie Strahlen in seinem InnernEdelgase synthetisiert. Ausihren Konzentrationen kanndas Bestrahlungsalter abgelei-tet werden. „Wir haben eineProbe von 100 Milligramm ineinem Ofen bei 1700 Grad Cel-sius verdampft und die enthal-tenen Edelgase herausgefil-tert“, sagt Schultz, der bereitsin der Antarktis auf Meteori-tenjagd war. Mit einem Mas-senspektrometer wurden da-raufhin die Isotopenhäufigkei-ten von Helium, Neon, Krypton,Argon und Xenon gemessen.Nach den Mainzer Resultatenhat „Neuschwanstein“ einenlangen Weg hinter sich: „Wirerhielten eine Bestrahlungs-dauer von rund 50 MillionenJahren“, sagt Schultz – für denPribram-Stein war seinerzeitein Wert von etwa 15 MillionenJahren ermittelt worden. DasResümee des Wissenschaftlersfällt deshalb eindeutig aus:„Ich bin überzeugt, dass beideSteine nicht verwandt sind, ihre Bahnähnlichkeit ist reinerZufall.“Der Fund des Meteoriten„Neuschwanstein“ in den Alpenist das Resultat der langjähri-gen Arbeit des EuropäischenFeuerkugelnetzes. Mit demAufbau des Netzes war in denfünfziger Jahren in der dama-ligen Tschechoslowakei begon-nen worden. Zehn Jahre späterschloss sich Deutschland an, alsauch hier zu Lande Beobach-tungsstationen von Prof. JosefZaehringer vom HeidelbergerMax-Planck-Institut für Kern-physik initiiert wurden; heutewird das Netz vom DeutschenZentrum für Luft und Raum-fahrt (DLR) betreut. Zusätzlichsind mittlerweile Stationen inÖsterreich, Belgien und Luxem-burg beteiligt – weltweit ist es

das einzige großflächige Beob-achtungsnetz für Meteore. JedeNacht fotografieren 25 auto-matische Kameras mit dauer-haft geöffnetem Verschluss denHimmel. Auf den Langzeitbe-lichtungen können die Spurender Sternschnuppen leicht vondenen der Sterne unterschie-den werden, denn als kurzzeiti-ge Ereignisse nehmen sie nichtan der langsamen Himmelsro-tation teil, sondern erzeugengeradlinige statt kreisförmigeSpuren. Gelingen an mehrerenOrten simultan Fotos derselbenSternschnuppe, so können dieursprüngliche Sonnenumlauf-bahn, die Flugbahn in der Erd-atmosphäre und – falls vor-handen – der Aufschlagort desMeteoriten berechnet werden.Zwei Berliner Hobbyforschernahmen sich im Sommer eineWoche Urlaub und durchfors-teten das vorhergesagte Ein-schlaggebiet des April-Meteo-riten westlich von Garmisch-Partenkirchen. Bereits am ersten Tag ging ihnen der Steinins Netz. Doch solche Fundeam berechneten Einschlagortsind sehr selten: In Europa ge-lang 1959 erstmals die Bergungdes so genannten Pribram-Steins; weltweit gibt es ledig-lich eine Hand voll weiterer„Fälle“. Nur für diese wenigenMeteorite kennen die Astro-nomen die einstigen heliozen-trischen Umlaufbahnen –„Neuschwanstein“ gehört alsjüngstes Mitglied diesem exklusiven Club an. ●

Weitere Informationen erhalten Sie vonDR. GERD HEUSSER

Max-Planck-Institut für Kernphysik, HeidelbergTel.: 06221/516-238Fax: 06221/516-607E-Mail: [email protected]

DR. JUTTA ZIPFEL

Max-Planck-Institut für Chemie,MainzTel.: 06131/305-297Fax: 06131/371290E-Mail: [email protected]

In den Laboratorien derMax-Planck-Institute für Chemie in Mainz und für Kernphysik in Heidelbergfand sich kürzlich Besuch ausdem Asteroidengürtel ein:Der „Neuschwanstein-Me-teorit“, im vergangenen Juliaufgespürt von zwei BerlinerAmateurastronomen wenigeKilometer von dem SchlossKönig Ludwigs II. entfernt,sollte in den Labors seine Ge-heimnisse preisgeben.

Anfang April 2002 hatte der Meteorit als spektakuläreFeuerkugel mit anhaltendemDonnergrollen ein Himmels-spektakel veranstaltet und damit ein großes Medienechohervorgerufen. Jetzt sollte akribische wissenschaftlicheArbeit Einblicke in die Naturdes Steins gewähren. Am Max-Planck-Institut für Kernphysikuntersuchte Dr. Gerd Heusserden knapp zwei Kilogrammschweren, granatapfelgroßenAnkömmling aus dem All. „Wirhaben den Stein fast 13 Tageauf den Detektor eines Germa-nium-Gamma-Spektrometersgelegt, um auch die schwacheGammastrahlung einzufangen“,erklärt der Astrophysiker dieseLangzeitmessung. „Dabei inter-essierten wir uns vor allem fürdie Strahlung der kosmogenenIsotope.“ Diese entstanden,nachdem der Stein von seinem

„Mutterkörper“ nach einer Kollision abgebrochen wurde.Auf seinem Irrflug durchs Pla-netensystem drang die kosmi-sche Strahlung in den Stein ein und setzte permanentKernreaktionen in Gang, die radioaktive Isotope erzeugten.Nachdem der Stein als Meteo-rit auf der Erde gelandet war,endete diese Produktion – die kurzlebigen Isotope ver-schwanden als Erste. „Nach derAuswertung der Daten für diebesonders kurzlebigen Isotopeist klar, dass „Neuschwanstein“tatsächlich erst vor kurzem gefallen ist“, sagt Heusser. Innerhalb der Fehlergrenzenpassen die Isotopen-Konzen-trationen zu dem Ereignis, dasam 7. April in Süddeutschlandfür Furore sorgte. Die zerstö-rungsfreie Heidelberger Mes-sung erbrachte aber auch Resultate für eine Reihe lang-lebigerer Isotope.Vor allem aus der Konzentrati-on des Isotops Kobalt 60 lässtsich nach den Worten des Wis-senschaftlers die Größe desSteins vor dem Eintauchen indie Erdatmosphäre abschätzen:„Das Kobalt entsteht aus Kern-reaktionen mit abgebremsten,so genannten thermalisiertenNeutronen. Zur hinreichendenAbbremsung ist eine Mindest-größe des Steins erforderlich.“Aus der gemessenen geringenKobaltkonzentration schließt

Gerd Heusser, dass „Neu-schwanstein“ als „präatmos-phärischer Körper“ einenDurchmesser unter 40 Zenti-meter hatte. Aus den fotogra-fischen Auswertungen der Feuerkugel hatte man bislangeinen größeren Eintrittskörpermit 70 Zentimeter Durch-messer vermutet.Bereits Wochen vor der Ber-gung konnten tschechischeForscher zeigen, dass die Feuer-kugel vom 7. April und der En-de der fünfziger Jahre gefalle-ne „Pribram-Stein“ auf ihrenWegen durchs All annäherndder gleichen Sonnenumlauf-bahn gefolgt waren. Eine „ver-wandtschaftliche Beziehung“schien nahe liegend: Beidekönnten einst vom selben Mut-terkörper abgebrochen sein.Doch die chemischen Untersu-chungen sollten ein anderesBild ergeben. Am Max-Planck-Institut fürChemie in Mainz nahm Dr. Jutta Zipfel Proben von demStein und untersuchte seinechemische Zusammensetzung.Zuvor hatten bereits Forscherder Universität Münster auf-grund des Vorkommens vonEnstatit – ein eisenarmes Sili-katmineral – die Theorie derVerwandtschaft zwischen„Neuschwanstein“ und Pribramins Wanken gebracht. Pribram,ein gewöhnlicher Chondrit,zählt zu den Meteoriten, die

KOSMOCHEMIE

Scheinverwandtschaft in der Asteroidenfamilie

Unter die Sägekam der Meteorit„Neuschwanstein“am Max-Planck-Institut für Che-

mie. Das Studiumder Proben ergab,dass der Stein zu

den Enstatit-Chondriten zählt

und daher mitdem so genannten

Pribram-Meteo-riten nicht

verwandt ist.

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ESSAY

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METEOROLOGIE

Der Mensch greift über seine vielfältigen Aktivitä-ten in den Spurengas-Haushalt der Atmosphäre

ein und beeinflusst damit die globale Strahlungsbilanz.Das hat langfristig Folgen für das Klima, da sich die un-teren Luftschichten und die Erdoberfläche erwärmen –was zum „anthropogenen“, vom Menschen angestoße-nen Treibhaus-Effekt führt. Von größter Bedeutung istdabei das Kohlendioxid (CO2). Dieses Spurengas wirdvor allem durch die Nutzung fossiler Brennstoffe wieErdöl, Kohle oder Erdgas freigesetzt, und deshalb ist seinAusstoß eng an den weltweiten Energieverbrauch ge-koppelt. Weitere wichtige Spurengase sind Methan(CH4), Distickstoffoxid (N2O) sowie die Fluor-Chlor-Koh-lenwasserstoffe (FCKW). Auf das Kohlendioxid entfälltetwa die Hälfte des anthropogenen Treibhauseffekts –und die Tatsache, dass seine typische Lebenszeit in derAtmosphäre etwa ein Jahrhundert beträgt, erklärt dieLangfristigkeit des Klimaproblems. Wie Messungen be-legen, ist der CO2-Pegel der Atmosphäre seit Beginn derindustriellen Revolution rasant gestiegen. Lag er um1800 noch bei etwa 280 ppm – also bei 280 CO2-Mo-lekülen unter einer Million Luftteilchen –, so misst manheute bereits 370 ppm.

Dass der Mensch für diesen Anstieg verantwortlichzeichnet, ist unstrittig. Ein Blick in die Vergangenheitzeigt, dass der CO2-Gehalt heute so hoch ist wie seit et-wa 400 000 Jahren nicht mehr. Dabei unterlag er durch-aus natürlichen Schwankungen. Doch Eisbohrkerne, al-so im Eis eingeschlossene Luftbläschen, zeigen, dass dieCO2-Konzentration stets zwischen 200 und 300 ppmblieb. Während der letzten Eiszeit vor etwa 20 000 Jah-ren lag sie bei etwa 200 ppm, während der letztenWarmzeit vor 120 000 Jahren hingegen bei 300 ppm.Wir befinden uns also derzeit deutlich oberhalb dernatürlichen Schwankungsbreite.

Hätte die Erde keine Atmosphäre, würde ihre Ober-flächentemperatur allein von der Bilanz zwischen einge-strahlter Sonnenenergie und der vom Boden abgestrahl-ten infraroten Wärmestrahlung bestimmt und im globa-len Mittel etwa minus 18 Grad Celsius betragen. Selbsteine Lufthülle aus reinem Sauerstoff und Stickstoff –den beiden Hauptbestandteilen der Atmosphäre – würdedaran nicht viel ändern. Doch bestimmte Spurengase,

Der Klimawandelkommt in Fluss

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Die Jahrhundertflut in Deutschland im Sommer 2002 hat die Klimaproblematik

in den Blickpunkt der Öffentlichkeit „gespült“. DR. MOJIB LATIF, bis vor kurzem

Wissenschaftler am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR METEOROLOGIE in Hamburg,

mahnt, nicht mit unserem Planeten zu experimentieren. Vielmehr sollte

die Menschheit endlich die Weichen für eine nachhaltige Klimapolitik stellen.

Die Erde – eine Tiefkühltruhe

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der vergangenen Jahrzehnte mit sehr hoher Wahr-scheinlichkeit auf den Menschen zurückgeht. Zwar tra-ten in der Vergangenheit immer wieder Klimaschwan-kungen auf, die nicht dem Menschen zuzuschreiben wa-ren – so die mittelalterliche Warmzeit und die kleineEiszeit. Doch diese Abweichungen waren, verglichen mitdem Anstieg der Temperatur in den letzten Jahrzehnten,zumindest im globalen Maßstab deutlich schwächer.

Immer wieder wird nach der Rolle der Sonne bei derErderwärmung gefragt. Tatsächlich schwankt die Son-neneinstrahlung – unter anderem mit der Sonnen-flecken-Aktivität. So steigt mit der Zahl der Flecken dieEinstrahlung, und gleichzeitig verschiebt sich das Son-nenspektrum in den kurzwelligen, ultravioletten Be-reich. Dabei beobachtet man zwei Zyklen: Zum einenden so genannten Schwalbe-Zyklus mit einer Periodevon elf Jahren und einer gemessenen Amplitude von et-wa 0,1 Prozent; zum anderen den Gleissberg-Zyklus miteiner Periode von rund 80 Jahren und einer geschätztenAmplitude von 0,2 bis 0,3 Prozent der gesamten Ein-strahlung. Die Sonnenstrahlung kann bis zu 0,6 Wattpro Quadratmeter schwanken. Zum Vergleich: Der zu-sätzliche Treibhauseffekt durch erhöhte Konzentrationvon Kohlendioxid, Methan, Fluor-Chlor-Kohlenwasser-stoffe und Distickstoffoxid macht derzeit um 2,4 Wattpro Quadratmeter aus.

Gemittelt über die letzten 100 Jahre stieg die Solar-konstante: Die Forscher schätzen sie heute um 0,25 Pro-zent höher als vor 100 Jahren. Modellsimulationen zei-gen, dass nur 0,2 Grad Celsius – und damit ein Drittel –der seit 1900 beobachteten Erderwärmung auf die Son-ne zurückgehen. Also kann die Sonnenvariabilität alleinnicht den beobachteten Temperaturanstieg von etwa 0,7 Grad Celsius erklären: Der überwiegende Anteil derErderwärmung ist vom Menschen verursacht. Dies istKonsens in der internationalen Klimaforschung und imBericht des Intergovernmental Panel on Climate Changedokumentiert.1 Angesichts dieser Tatsache kann es heu-te nicht mehr darum gehen, ob der Mensch das Klimabeeinflusst, sondern nur noch darum, inwieweit sich dieKlimaveränderung eindämmen lässt.

gional fallen diese Änderungen je-doch sehr unterschiedlich aus. Ge-nerell mehr Niederschlag verzeich-net man in hohen Breiten und inTeilen der Tropen, während die re-

genärmeren Subtropen weiter austrocknen. Damit ver-schärfen sich die Diskrepanzen zwischen den feuchtenund den trockenen Klimaten auf der Erde. Das gilt auchfür Europa, hier allerdings mit jahreszeitlichen Unter-schieden: Während der Sommerniederschlag fast überallin Europa abnimmt, wird im Winter ein ausgeprägtesNord-Süd-Gefälle mit einer Abnahme im niederschlags-armen Südeuropa sowie einer Zunahme im nieder-schlagsreichen Mittel- und Nordeuropa vorhergesagt.

Diese Zunahme geht mit einer intensivierten winter-lichen Sturmaktivität über dem Nordostatlantik undverstärkten Westwinden einher, die feuchte Luft vomAtlantik heranführen. Auffällig ist eine Häufung vonStarkniederschlägen sowohl im Winter als auch imSommer und damit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit vonÜberschwemmungen. Dies gilt zum Teil sogar für denMittelmeerraum, in dem die mittlere Niederschlagsmen-ge abnimmt. Ursache ist vermutlich der infolge der Er-wärmung höhere Wasserdampfgehalt der Atmosphäre,der bei extremen Wetterlagen zu höheren Nieder-schlagsmengen führt. Deshalb ist in der Zukunft häufi-ger mit extremen Überschwemmungen zu rechnen.

METEOROLOGIE

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und so auch Kohlendioxid, absorbieren die von der Erd-oberfläche ausgehende Wärmestrahlung und emittierenlangwellige Strahlung zurück in Richtung Erdboden.Das führt zu einer zusätzlichen Erwärmung; deshalb beträgt die Temperatur der Erdoberfläche im globalenMittel rund plus 15 Grad Celsius: Diesem natürlichen„Treibhauseffekt“ ist es zu verdanken, dass es auf unse-rem Planeten überhaupt Leben gibt.

Die Konzentration der langlebigen Treibhausgasesteigt systematisch an: seit Beginn der Industrialisierungbis heute bei Kohlendioxid um etwa 30 Prozent, beiMethan um 120 Prozent und bei Distickstoffoxid umrund 10 Prozent. Das treibt langfristig die Temperaturder unteren Atmosphäre und der Erdoberfläche hoch.Diese Erwärmung nimmt mit der Konzentration zu, wirdaber auch stark von der Reaktion des Wasserkreislaufsbestimmt – der sowohl verstärkend als auch dämpfendwirkt, da viele seiner Zweige von der Temperatur ab-hängen. Ein verstärkter Treibhauseffekt führt daher zuVeränderungen des Niederschlags, der Bewölkung, derMeereis-Ausdehnung, der Schneebedeckung, des Mee-resspiegels sowie der Wetterextreme – und verändert das

ESSAY

Computersimulationen erlaubenVorhersagen über die Entwicklungdes globalen Klimas. Diese Modellebeschreiben quantitativ die physi-kalischen Wechselwirkungen zwi-schen Atmosphäre, Ozean, Meereis und Landober-flächen. Als Parameter benötigen solche Modelle unteranderem die Konzentrationen der wichtigsten langlebi-gen Treibhausgase, während die Konzentration kurzlebi-ger Aerosole – die eng mit Wolken- und Niederschlags-bildung verbunden ist – innerhalb der Simulation be-rechnet wird.

Mit einem am Hamburger Max-Planck-Institut fürMeteorologie entwickelten Modell wurde das Klima von1860 bis zum Ende des 21. Jahrhunderts durchgespielt.Für die Zeit von 1860 bis heute wurden die beobachte-ten Konzentrationen oder Emissionen der einschlägigenSpurengase vorgeschrieben; für die Zukunft wurde an-genommen, dass sich die heutigen Trends unvermindertfortsetzen. Diese Simulation lieferte eine globale Erwär-mung von etwa 0,7 Grad Celsius seit Ende des 19. Jahr-hunderts bis zur Gegenwart, was gut mit den Beobach-tungen übereinstimmt. Die globale Erwärmung bis zurMitte des 21. Jahrhunderts – die Differenz der Dekaden-mittel von 2040 bis 2049 sowie von 1990 bis 1999 –liegt bei etwa 0,9 Grad Celsius. Die Kontinente erwär-men sich um 1,4 Grad Celsius und damit etwa doppeltso stark wie die Ozeane. Bis zum Jahr 2100 beträgt dieglobale Erwärmung je nach Szenarium bis zu 3 GradCelsius. Zusammen mit der heute bereits messbaren glo-balen Erwärmung von rund 0,7 Grad Celsius entsprächedies fast dem Temperaturunterschied von der letztenEiszeit bis heute. Dies würde eine rasante globale Kli-maänderung bedeuten, für die es in der letzten MillionJahre kein Analogon gäbe.

Aber selbst in einem Szenarium, in dem der Ausstoßder Treibhausgase bis zum Ende dieses Jahrhunderts aufeinen Bruchteil des heutigen Ausstoßes zurückgefahrenwird, steigt die globale Mitteltemperatur der Erde immernoch um ein knappes Grad. Dies liegt einerseits an derTrägheit des Klimasystems – vor allem der Weltmeere –,andererseits aber daran, dass sich in der Atmosphäre be-reits große Mengen von Treibhausgasen befinden, derenPegel nur langsam im Verlauf von vielen Jahrzehntensinken.

Die globale Erwärmung führt zu vermehrtem atmos-phärischem Wasserdampf sowie zu einem verstärktenWasserdampftransport von den Ozeanen auf die Konti-nente – und damit dort zu erhöhten Niederschlägen. Re-

Reaktion mit Verzögerungseffekt

Modelle mit grober Maschenweite

globale Klima. Dabei bekommt die Menschheit, und dashat die Elbeflut deutlich gemacht, vor allem die Ände-rung der Extremwerte zu spüren.

Der starke Zuwachs der Treibhausgase – besondersdes Kohlendioxids – in der Atmosphäre verstärkt denTreibhauseffekt und bedeutet eine globale Erwärmungan der Erdoberfläche. So drängt sich die Frage auf, wasman schon heute an Klimaänderungen beobachtenkann. Dabei gilt, dass das Klima auf äußere Anstöße miteiner Verzögerung von einigen Jahrzehnten anspricht.Man darf also nicht davon ausgehen, heute schon dieganze zu erwartende Erwärmung zu beobachten. DochRekonstruktionen der Temperatur auf der Nordhalbkugelder vergangenen 1000 Jahre enthüllen einen deutlichenErwärmungstrend in den vergangenen 100 Jahren. Al-lerdings wurden die Temperaturen bis 1900 vor allemaus indirekten Verfahren wie etwa aus der Analyse vonWachstumsringen an Bäumen abgeleitet, was erheblicheUngenauigkeiten mit sich bringt. Doch selbst dann,wenn man von der maximalen Unsicherheit ausgeht,bleibt das Jahrzehnt von 1990 bis 1999 das bisherwärmste in den letzten 1000 Jahren.

Weitere statistische sowie auf Modellen basierende In-dizien zeigen, dass der beobachtete Temperaturanstieg

Die Ergebnisse hängen zunächst entscheidend vom ge-wählten Szenarium ab, also von den Annahmen über diezukünftige Entwicklung der Weltbevölkerung, der Indus-trialisierung sowie des Verbrauchs fossiler Brennstoffe.Außerdem bieten Modelle immer nur eine angenäherteSimulation des komplexen realen Klimasystems. Generellwird die Aussagekraft der Modelle umso schwächer, jekleiner das betrachtete Gebiet ist. So können beispiels-weise regionale Details innerhalb Deutschlands wenigergenau erfasst werden als Unterschiede zwischen Nord-und Südeuropa. Das liegt vor allem an der noch relativgroben „Maschenweite“ der globalen Klimamodelle voneinigen hundert Kilometern; sie erlaubt es nicht, Gebirge– wie die Alpen – gut aufzulösen oder auch kleinräumigeProzesse – wie die Wolken- und Niederschlagsbildung –adäquat darzustellen. Hinzu kommt, dass die Modellederzeit noch unvollständig sind. So bleiben möglicheÄnderungen sowohl in der Vegetation als auch in derMasse des Inlandeises unberücksichtigt.

1 Das IPCC wurde 1988 von der Weltorganisation für Meteorologie(World Meteorological Organization, WMO) und dem Umwelt-programm der Vereinten Nationen (United Nations Environment Programme, UNEP) gegründet. Die Ergebnisse der Arbeiten des IPCCsind die Basis für die internationalen Klimaverhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen. Der IPCC-Bericht des Jahres 2001 ist im Internet unter www.ipcc.ch oder im Buchhandel erhältlich.

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Als Folge des skizzierten Klimawandels könnte sichdie Vegetation ändern, und dies wiederum würde auf dieTemperatur der Landoberfläche zurückwirken. Solchevegetationsdynamischen Rückkopplungen werden ver-mutlich in der nächsten Generation der Klimamodelleebenso berücksichtigt wie die Wechselwirkung mit che-mischen Prozessen in der Atmosphäre. Es bleibt aberfestzuhalten, dass die Simulationen die großskaligenund langfristigen Veränderungen des Klimas trotz allerbeschriebenen Unsicherheiten relativ zuverlässig wie-dergeben. Das belegen Simulationen vergangener Kli-mazustände.

Die Klimaproblematik steht inzwischen auch an obers-ter Stelle auf der Agenda der Weltpolitik. Am 10. De-zember 1997 haben 159 Vertragsstaaten der Rahmen-konvention der Vereinten Nationen zu Klimaänderun-gen einstimmig das so genannte Kyoto-Protokoll ange-nommen. Wie von der ersten Vertragsstaatenkonferenzim April 1995 im Berliner Mandat gefordert, war damitdie erste Ausführungsbestimmung zur Klimakonventionwenigstens formuliert. Sie zwingt die Industrieländer –zurzeit 39 –, ihre Treibhausgas-Emissionen bis zur Peri-

ode 2008/2012 um durchschnittlich 5,2 Prozent (bezo-gen auf die Emission im Jahr 1990) zu senken, wenn dieParlamente das Protokoll ratifizieren oder die Regierun-gen dem Protokoll beitreten.

Völkerrechtlich verbindlich wird das Kyoto-Protokoll,wenn mindestens 55 der momentan 175 Vertragsstaa-ten, auf die mindestens 55 Prozent aller CO2-Emissionendes Jahres 1990 entfallen, ratifiziert haben. Neben demKohlendioxid kann auch die Minderung der Emissionenanderer Treibhausgase durch Umrechnung in CO2-Äqui-valente angerechnet werden.

Die Europäische Union muss die Emissionen im Schnittum 8 Prozent reduzieren, stärker als die USA mit 7 oderJapan mit 6 Prozent. Allerdings ist fraglich, ob die USAdas Protokoll ratifizieren werden. Russland soll nur stabi-lisieren, und Norwegen darf sogar zulegen. Diese unter-schiedlichen Minderungssätze sind Resultat nachweislichunterschiedlicher Bedingungen, aber auch teilweise Folgedes Verhandlungsgeschicks einzelner Länder.

Mit dem Kyoto-Protokoll beginnt die Menschheit miteiner Art Erdsystem-Management. Die Verfahrensregelnmüssen aber noch eindeutig festgelegt werden. Bei-spielsweise muss klar sein, wie viel Prozent der Co2-Re-duktion ein Land begleichen darf mit dem Kauf von

Emissionsrechten von einem anderen Land, das überseine Verpflichtung hinaus gemindert hat. Weiterhinmuss geklärt werden, wie viel Kohlendioxid von einemneu aufgeforsteten Waldgebiet gebunden wird und so-mit von den Emissionen durch Nutzung fossiler Brenn-stoffe abgezogen werden darf. Den aus Sicht der Klima-forscher notwendigen Klimaschutz liefert das Kyoto-Protokoll in der gegenwärtigen Form keineswegs. Umgravierenden Klimaänderungen in den nächsten 100Jahren vorzubeugen, müsste der Ausstoß von Treib-hausgasen bis 2100 auf einen Bruchteil des heutigenWerts reduziert werden. Die jährlichen Konferenzen derVertragsstaaten bieten allerdings die Chance für Nach-besserungen – das war auch beim Montrealer Protokollder Fall, der Ausführungsbestimmung zur Wiener Kon-vention zum Schutz der Ozonschicht.

In Zukunft muss aber der Einführung regenerativerEnergien mehr Gewicht beigemessen werden, denn nurdiese (insbesondere Sonnenenergie) stehen unbegrenztzur Verfügung. Es ist ein Irrglaube, die notwendigenEmissionsreduzierungen bei den Treibhausgasen wärenallein durch Effizienzsteigerungen zu erreichen. Es gilt,die Energiewirtschaft langfristig in Richtung regenerati-ver Energien umzubauen – und das auch deshalb, weildie fossilen Energieträger begrenzt sind und der Ener-giebedarf der Menschheit steigen wird.

Da das Klima immer nur auf langfristige Strategienreagiert, kann der Umbau der Wirtschaft allmählich in-nerhalb der nächsten 100 Jahre erfolgen. Wichtig wäre,bereits heute alle Potenziale zum Energiesparen auszu-schöpfen und den Weg zu weniger Treibhausemissionenzu beschreiten. Insofern markiert das Kyoto-Protokolleinen ersten und sehr wichtigen Schritt in die richtigeRichtung.

Schon heute die Weichen für eine nachhaltige Ent-wicklung zu stellen ist auch ökonomisch sinnvoll: Eskommt insgesamt billiger, Vorsorge zu treffen alszukünftig immer mehr klimabedingte Schäden zu be-gleichen. Das hat die Elbeflut deutlich vor Augen ge-führt. Darüber hinaus sollten wir grundsätzlich nichtmit unserem Planeten experimentieren. Die Vergangen-heit zeigt, dass vielerlei Überraschungen drohen. Sowurde etwa das Ozonloch über der Antarktis von kei-nem Wissenschaftler vorhergesagt, obwohl die ozon-schädigende Wirkung der Fluor-Chlor-Kohlenwasser-stoffe bekannt war. Das Klima als ein nichtlineares Sys-tem kann bei starken Auslenkungen unerwartete Reak-tionen zeigen: Es darauf ankommen zu lassen, wäre un-klug – und unverantwortlich. ●

ESSAY

Handeln und Verhandeln

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SCHWERpunkt

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MATERIALwissenschaften

zeigen. Diese Magnetisierungsrich-tung wurde ihnen beim Schreibender Information aufgeprägt. DigitaleSpeicher benutzen dabei für die bei-den binären Buchstaben Null undEins zwei einander entgegengerich-tete Magnetisierungen.

SPEICHER MIT

LANGZEITGEDÄCHTNIS

Solche Speicher haben nur dannein langes Gedächtnis, wenn sie diemagnetisch geschriebene Informati-on stabil behalten können. Umwelt-einflüsse wie Temperaturschwankun-gen oder das Auslesen der Informati-on darf die Kompassnadeln alsonicht verdrehen. Die fortschreitendeMiniaturisierung verschärft diese An-forderungen, denn sie hat den Platz-bedarf eines magnetischen Bits ex-trem verkleinert: Heute muss sichauf einer Festplatte ein Bit mit einemTausendstel des Platzes begnügen,der ihm noch vor gut zehn Jahrenzugebilligt wurde. Das treibt die ver-wendeten Materialien an ihre Gren-zen und wirft Fragen auf, die nurGrundlagenforscher beantworten kön-nen – zum Beispiel: Wie klein kön-nen die magnetischen Domänenschrumpfen, ohne instabil zu wer-den? Oder: Wären alternative Kon-struktionen besser, die andere For-men des Magnetismus oder ganz an-dere physikalische Effekte nutzen?

„Wir untersuchen das ultimativeLimit“, charakterisiert Klaus Kern dieForschung seiner Gruppe: „Wie vieleAtome braucht man mindestens, umeinen stabilen Magneten aufzubau-en?“ Die Antwort darauf ist nicht tri-

vial: Magnetismus in Materialien istein komplexes Phänomen, das vieleAtome gemeinsam hervorbringen.Diese Atome verhalten sich wie mik-roskopische Stabmagnete mit einemNord- und einem Südpol, die sichgegenseitig beeinflussen. Sie richtensich aus und erzeugen in der Summeein kollektives magnetisches Feld,dessen Stärke die Physiker „magneti-sches Moment“ nennen.

Die Verursacher solcher magneti-scher Effekte sind vor allem die Elek-tronen der Atome. Nur bei bestimm-ten Konstellationen der Elektronenund ihrer Bahnen um den Atomkerntragen die Atome ein magnetischesMoment, das von außen messbar ist.Und nur solche Atome können über-haupt einen magnetischen Festkör-per aufbauen. Dabei bilden die Elek-tronen auf den äußersten Bahnendurch Überlagerung den „Kitt“, derdie benachbarten Atome zum Fest-körperkristall „zusammenklebt“.

Auch nach dieser Überlagerungmüssen die Atome noch als kleineStabmagnete zu einer kollektivenMagnetisierung beitragen können.Das schaffen nur wenige Elementedes Periodensystems: Eisen, Nickel,Kobalt und einige seltene Erden kön-nen Materialien permanent magne-tisch machen. Nach dem lateinischenWort für Eisen (ferrum) bezeichnenPhysiker dieses Phänomen als Ferro-magnetismus.

Solche Elemente müssen also alsmikroskopische Stabmagnete imSpeichermaterial vorhanden sein.Das garantiert allerdings noch nicht,dass sie auch stabile, ferromagneti-

In der Informationstechnik führt eine Entdeckung von Grund-

lagenforschern oft schon nach wenigen Jahren zum Technologie-

sprung. Eine Schlüsselrolle spielen dabei neue Materialien.

An ihnen arbeiten Wissenschaftler am MAX-PLANCK-INSTITUT

FÜR MIKROSTRUKTURPHYSIK in Halle und am MAX-PLANCK-

INSTITUT FÜR FESTKÖRPERFORSCHUNG in Stuttgart.

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Als die Physiker John Bardeen,Walter Brattain und William

Shockley 1947 an den Bell Labs denersten Transistor bauten, sah nie-mand die Folgen dieser Erfindungvoraus. Fünf Jahrzehnte später be-herbergt ein alltägliches Haushalts-gerät – der PC – viele Millionen solcher Transistoren. Sie verleihen ihm eine Rechenleistung, die damals reine Utopie war. Neue Entdeckun-gen der Grundlagenforschung lösenin der Informations- und Kommuni-kationstechnik Entwicklungsschübeaus, die unsere Kultur enorm verän-dern können. Auch Max-Planck-Wissenschaftler machen Forschungmit solchem Potenzial, zum Beispieldie Physiker aus der Abteilung vonProf. Ulrich Gösele, Direktor amMax-Planck-Institut für Mikrostruk-turphysik in Halle. Auch Prof. KlausKern, Direktor am Max-Planck-Insti-tut für Festkörperforschung in Stutt-gart, und seine Mitarbeiter tauchenmit ähnlichem Ziel tief in die Nano-welt ein.

In Computern spielen Datenspei-cher eine Schlüsselrolle: Sie sollendie Datenflut dauerhaft speichernund trotzdem möglichst schnell les-bar und neu beschreibbar sein. SeitJahrzehnten übernehmen das vor al-lem magnetische Materialien. „Ferro-magnetische“ Metallschichten ma-chen Datenbänder, Disketten undFestplatten zu den flexibelsten Spei-chern. Kleine magnetische Domänen„merken“ sich dabei die Buchstabender digitalen Schrift, die Bits. Sie er-innern an winzige Kompassnadeln,deren Nordpole fest in eine Richtung

Bits und Bytes aus Licht

Zweidimensionaler, photonischer Kristall auf einem Siliziumwafer. Er trägt ein periodisches Gitter mit drei Milliarden Poren von je einem Mikrometer Durchmesser. Das kleine Bild zeigt ein vergrößertes Detail der Struktur.

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MATERIALwissenschaften

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SCHWERpunkt

sche Domänen ausbilden. Solangedie Stabmagnete im dreidimensiona-len Kristallgitter nämlich zufällig inalle Richtungen zeigen, heben sichihre magnetischen Momente gegen-seitig auf. Erst wenn eine weit rei-chende Kraft sie in eine Richtungorientiert, produzieren sie gemein-sam ein gerichtetes, magnetischesFeld – wie Ruderer in einem Boot,die im Takt rudern. Diese Kraft heißtAustauschwechselwirkung. Sie istein kollektiver Effekt, den die Quan-tenmechanik sehr genau beschreibt.

Um die Frage nach der Mindest-zahl von Atomen beantworten zukönnen, stellen die Stuttgarter Max-Planck-Forscher Systeme aus immerweniger magnetischen Atomen herund erforschen deren Eigenschaften.Weil die dazu nötige Experimentier-technik aufwändig ist, arbeiten siemit Kollegen aus Deutschland,Frankreich, Italien und der Schweizzusammen. Ihre Systeme sind winzi-ge Strukturen – gebildet etwa vonKobaltatomen auf Oberflächen vonunmagnetischem Platin oder Kupferdurch selbstorganisiertes Wachstum.Dieses Wachstum von Strukturenund dünnen Schichten an der Ober-fläche eines Kristalls folgt ganz bestimmten Bauplänen. Selbst ausstatistischen Zufallsbewegungen kön-nen sich im Endeffekt von selbst regelmäßige Muster ausbilden. So

gelang den Forschern zum Beispieldie Herstellung von Ketten aus ein-zelnen, aneinander gereihten Kobalt-atomen. Zur Verblüffung der Fach-welt zeigen diese eindimensionalenSysteme noch Magnetismus, was den gängigen Modellverstellungenwiderspricht (MAXPLANCKFORSCHUNG

2/2002, S. 8).

EINE FESTPLATTE

IN DER ATOMWELT

Die internationale Forschergruppeuntersucht auch zwei- und dreidi-mensionale „Haufen“ aus Kobaltato-men auf Oberflächen – so genannteCluster. Solche Cluster sind noch zuklein, um das räumliche Gitter vonkristallinem Kobalt auszubilden, wiees im reinen Metall entsteht. DieClusterstrukturen liegen zwischender dreidimensionalen Welt des Kris-talls und dem nahezu punktförmigenEinzelatom. Um sie genau zu unter-suchen, reduzieren die Wissenschaft-ler die Clustergrößen bis hinunter zuwenigen Atomen. Dabei fanden siekürzlich starke Hinweise darauf, dassschon wenige hundert KobaltatomeStrukturen mit stabiler Magnetisie-rung bilden könnten. Zum Vergleich:Die Festplatte eines PC benötigt nocheinige Millionen Atome für ein Bit,was tausend Mal mehr ist. Die Phy-sik zeigt also, dass die Speicherkapa-zität heutiger Magnetfestplatten im

Prinzip um den Faktor Tausend stei-gen kann.

Einen anderen Weg der Miniaturi-sierung verfolgen Ulrich Gösele undeine seiner Arbeitsgruppen, die vonRalf Wehrspohn geleitet wird. DieseGruppe arbeitet mit ihrer Nachbarab-teilung, geleitet von Jürgen Kirsch-ner, und mit der Abteilung von Hel-mut Kronmüller vom Max-Planck-Institut für Metallforschung in Stutt-gart zusammen. Gemeinsam setzensie eine Stärke des Max-Planck-Instituts für Mikrostrukturphysik in Halle ein: die Fähigkeit, perfek-te mikroskopische Strukturen zu er-zeugen.

In heutigen Speichermaterialienliegen die kleinen „Stabmagnete“,welche die Information tragen, flachin der dünnen magnetischen Schicht.Die weitere Miniaturisierung dieserSchichtstruktur wird bald an physi-kalische Grenzen stoßen. Das brachtedie Hallenser Forscher auf die Idee,die Stabmagnete nicht nur zuschrumpfen, sondern auch anders an-zuordnen – und zwar senkrecht ne-beneinander: Auf diese Weise passenviel mehr Bits auf dieselbe Fläche.

Um dieses Material herstellen zukönnen, entwickelten die Wissen-schaftler ein mehrstufiges Verfahren.Zuerst sorgt ein elektrochemischerProzess dafür, dass sich auf einerAluminiumscheibe eine wabenförmi-

Das Miniaturisierungsspiel kannaus Sicht der Grundlagenforschernoch viel weiter gehen. An eineprinzipielle, physikalisch bedingteGrenze geraten Speichertechnolo-gien erst bei einem einzigen Atom,das ein Bit Information trägt. Einsolcher magnetischer Speicher würdenicht mehr den Magnetismus als kol-lektive Materialeigenschaft nutzen,sondern einzelne Atome als „Mag-netnadeln“ in der Größe wenigerzehntel Nanometer (also zehn milli-ardstel Meter). Der Schreib- und Lese-„Kopf“ einer solchen Nanofest-platte würde für jedes Bit Informa-tion also nur noch ein einziges Atommanipulieren.

MUSTER

AUF DEM KUPFER

„Ob das technologisch jemals rea-lisiert werden kann, ist sehr fraglich– aber Träumen ist ja erlaubt“, sagtKlaus Kern. Trotz dieser vorsichtigenEinschätzung tasten sich die Grund-lagenforscher an diese Vision heran.Den Stuttgarter Wissenschaftlern ge-lang es, mithilfe von organischenMolekülen einzelne magnetischeAtome auf einer hochreinen Kupfer-oberfläche zu regelmäßigen Musternanzuordnen: Die Eisenatome sind inmetallorganische Komplexe einge-bunden – in chemische Verbindun-gen also, bei denen ein Metallatommit mehreren organischen Mole-külen einen stabilen Verbund bildet.Um ihre magnetischen „Speicher-

strukturen“ herzustellen, bringen dieStuttgarter Festkörperforscher imUltrahochvakuum die Eisenatomeund eine organische Säure – dieTrimesinsäure (englisch abgekürztTMA) – auf die Kupferoberfläche.Dort bilden die Eisenatome mit demTMA Komplexe, die sich von selbstzu regelmäßigen, zweidimensionalenStrukturen organisieren. Die Formdieser Muster können die Forschersteuern, indem sie die experimentel-len Bedingungen variieren.

Die Abbildung auf Seite 28 (links)zeigt ein solches Muster. Jedes Eisen-atom enthält eine digitale „Infor-mation“: Sie ist in der Orientierung seiner Magnetisierung gespeichert.Noch schaffen es die Wissenschaftlernicht, die Magnetisierungen dieserAtome einzeln umzuschalten, umechte Bits zu speichern. Aber das istihr langfristiges Ziel, wie Kernschmunzelnd zugibt.

In heutigen PCs arbeiten zwei in-terne Datenspeicher zusammen: DerHalbleiter-Arbeitsspeicher und diemagnetische Festplatte. Diese künst-liche Trennung ist nötig, weil derviel schnellere Arbeitsspeicher leiderein flüchtiges Gedächtnis hat. OhneStrom vergisst er alle Daten. Deshalbmuss der PC bei jedem Start diewichtigsten Programme und Datenvon der Festplatte neu in den Ar-beitsspeicher laden. Ein weiteresHemmnis ist das permanente Ver-schieben von Daten zwischen Ar-beitsspeicher und Festplatte während

ge Schicht aus Aluminiumoxid vonselbst organisiert. Jede Wabe enthälteine Pore, deren Größe die Forschernach ihren Wünschen einstellenkönnen. Der kleinste Durchmes-ser liegt bei zehn Nanometern (mil-liardstel Meter), der größte im Mik-rometerbereich (millionstel Meter).Dabei gelingt den Experten das tech-nische Kunststück, diese Poren imVerhältnis zum Durchmesser sehr tiefzu machen. Das funktioniert nur mitÄtzprozessen, die sehr selektiv in ei-ne Richtung wirken – eine der größ-ten Hürden in der Mikro- und Nano-strukturierung.

Mit ihrem Verfahren können dieHallenser Forscher Poren wachsenlassen, die einige hundert bis tau-send Mal tiefer sind als ihr Durch-messer. Am Schluss füllen sie diesePoren mit einem ferromagnetischenMaterial – in diesem Fall ist esNickel. Wie die Abbildung untenzeigt, stehen nun tatsächlich mikro-skopische Stabmagnete wie Säulennebeneinander, wobei einige denSüdpol nach oben strecken, andereden Nordpol. Würde nun ein Lese-kopf in ein solches Material Informa-tionen schreiben, dann würde er fürjedes Bit die Nord- und Südpole ei-ner Säule umklappen. Der Abstandzwischen zwei Säulen beträgt nurhundert Nanometer, also ein zehntelMikrometer. Ein solches Material er-möglicht also Speicherdichten, diefür zukünftige technologische An-wendungen attraktiv sind.

Magne-tische Bits durch

selbstorganisiertes Wachstum:Das Rastertunnelmikroskop zeigt Kobalt-

inseln mit einer Kantenlänge von zehn Nanometern(milliardstel Meter) auf einer Kupferoberfläche. Die Inseln enthalten einige hundert Atome.

Rastertunnelmikroskop-Aufnahme vonKetten aus einzelnen Kobaltatomen, die auf den Stufen einer Platinoberflächesitzen. Der Abstand zwischen den Kobalt-ketten beträgt nur zwei Nanometer.

Das linke Bild zeigt schematisch, wie die magnetischen Nanostäbe auf dem Siliziumwafer sitzen (nm: Nanometer, Al2O3: Aluminiumoxid). Rechts: Die elektronen-mikroskopische Aufnahme enthüllt die wabenartige Struktur (Aufsicht).

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sehr gleichmäßigen, dünnen Schichtauf. Sobald die Schicht trocken ist,schreibt ein Elektronenstrahl in siedie gewünschten Strukturen. Danachwird sie fast wie ein fotografischerFilm entwickelt. Nur die belichtetenStellen bleiben als Inseln stehen.Zum Schluss müssen diese Inseln er-hitzt werden, damit in ihrem Innerenaus der Mixtur richtige ferroelektri-sche Kristalle wachsen.

Die Abbildung unten zeigt solcheTeststrukturen – Inseln aus Bleizirko-nat-Titanat (englisch abgekürzt PZT);die kleineren bedecken dabei nurnoch eine Fläche von 100 mal 100Nanometern. Sogar diese Mini-Inselnkönnen noch zwischen einer digitalenNull oder Eins umschalten und dasBit stabil speichern. Die Abbildungauf Seite 30 verdeutlicht, dass dabeikein „Übersprechen“ auftritt, was fürSpeicheranwendungen wichtig ist:Die einzelne Zelle schaltet um, ohneihre Nachbarzellen zu beeinflussen.Damit konnten die Max-Planck-For-scher beweisen, dass die Physik nochviel Spielraum für eine Miniaturisie-rung der FRAMs bietet. Ein Speicher-baustein heutiger Halbleiter-Arbeits-speicher, der Transistor und Konden-sator beherbergen muss, braucht hun-dert Mal mehr Platz, nämlich mindes-tens einen Quadratmikrometer.

Aus Sicht der Grundlagenforscherhat dieses Herstellungsverfahren al-lerdings noch einen Schönheitsfeh-ler: Die Inseln sind „polykristalline“Strukturen, sie bestehen also aus einem Konglomerat vieler kleinerKristalle. Da diese Konglomerate un-geordnet sind, können sie im Ver-gleich zum denkbaren Optimum nureine relativ schwache remanente Po-larisierung aufbauen. Das Optimumerreicht nur ein „Einkristall“ – eindurchgängig gewachsenes StückKristall ohne Brüche und Fehler. Dietrich Hesse und seinen Mitarbei-tern gelang nun eine Sensation: Sie konnten erstmals eine fast per-fekt einkristalline, ferroelektrischeSchicht auf einen Siliziumwafer auf-bringen. Das ferroelektrische Mate-rial ist Lanthan-Wismut-Titanoxid,das eine besonders starke remanentePolarisierung verspricht.

In der Vergangenheit waren Be-schichtungsversuche mit diesem Ma-terial gescheitert, denn bei den per-fekten Einkristallen verschärft sichder Konflikt mit dem unpassendenSiliziumkristallgitter. Mit einemTrick schafften die Max-Planck-For-scher den Durchbruch: Zwei dünneSchichten puffern die Spannungenzwischen den unterschiedlichen Kris-tallgittern der beiden unfreiwilligen

Partner ab (Abb. Seite 31 links). Eine der beiden Schichten dient da-bei als Messelektrode für die Versu-che. Das Ergebnis ist ein Material mitbisher weltweit unerreichten Eigen-schaften. Die remanente Polarisationliegt wesentlich höher als bei allenbisher gebauten Teststrukturen. Dasverspricht eine sehr stabile Lang-zeitspeicherung der Daten.

EINE SCHICHT – GEWOBEN

AUS NANORÖHRCHEN

Speicherelemente von zukünftigenComputern müssen keinesfalls auskomplizierten Festkörperstrukturenerschaffen sein. Die Alternative heißt„Kohlenstoff-Nanoröhrchen“. Solchemolekulare Materialien mit verblüf-fenden Eigenschafen erforschenMarko Burghard und seine Kollegenaus der Gruppe von Klaus Kern.Kohlenstoff-Nanoröhren bestehenaus einer ein Atom dicken Schicht,die zu einem Zylinder aufgerollt ist.Gewoben ist diese „Graphenschicht“aus einem absolut regelmäßigenNetzwerk sechseckiger Ringe, diesechs Kohlenstoffatome bilden. DerDurchmesser dieser Röhrchen beträgtnur ein bis zwei Nanometer, was denAbmessungen eines kleineren Mo-leküls entspricht; im Verhältnis dazusind sie mit einigen Mikrometern

MATERIALwissenschaften

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des Betriebs. Das ist ein entscheiden-der Faktor, der die Geschwindigkeitvon Computern erheblich bremst.

Ideal wäre also ein „nichtflüchti-ger“ Arbeitsspeicher, der nach Ab-schalten des Rechners die Datennicht vergisst. Nichtflüchtige Spei-cher gibt es schon in kommerziellerForm. Sie erreichen aber noch nichtdie Datendichte, die Computer be-nötigen. Um einen solchen Speicherzu konstruieren, müssen Forscher diebewährte Siliziumtechnologie mit ei-nem Material zusammenbringen, dasInformationen langfristig speichernkann. Geeignete Kandidaten sindnatürlich wieder magnetische Mate-rialien. Weltweit arbeiten viele For-schergruppen an solchen Arbeits-speichern; englisch heißen sie „Mag-netic Random Access Memory“(MRAM), auf Deutsch „MagnetischerFestkörperspeicher“. Ein zweiter,ebenbürtiger Kandidat ist die Materi-alklasse der „Ferroelektrika“. Aus ih-nen werden schon heute „FRAMs“hergestellt, deren Speicherdichte je-doch noch zu gering für PC-Anwen-dungen ist. Für diese Materialklasseinteressiert sich am Max-Planck-Ins-titut für Mikrostrukturphysik einevon Dietrich Hesse geleitete Gruppein der Abteilung von Ulrich Gösele.

Ferroelektrika sind quasi das elek-trische Spiegelbild der Ferromagne-tika. In ihnen produzieren Kollektiveaus Atomen kein gemeinsames Mag-netfeld, sondern ein elektrischesFeld: die „remanente Polarisation“.Man kann sich diese Dipole als mikroskopische Antennen vorstellen,die am Kopf elektrisch positiv, amFuß negativ geladen sind – oder umgekehrt. Solche Dipole könnenihre Ladungstrennung über langeZeit stabil aufrechterhalten. Einferroelektrisches Material enthältviele dieser Dipole, deren positiveund negative Enden auch umschalt-bar sind. Das besorgt hier ein elektri-sches Feld. Ferroelektrika können also wie Ferromagnete digitale Infor-mationen über einen langen Zeit-raum speichern.

SILIZIUM ALS

WIDERSPENSTIGER PARTNER

Um funktionierende Bausteine mithoher Speicherdichte herstellen zukönnen, müssen die FRAM- und dieMRAM-Forscher dasselbe, grundle-gende Problem lösen: Die bestenspeicherfähigen Materialien lassensich nicht gerne mit dem Siliziumder Elektronikchips „verheiraten“.Das liegt am unterschiedlichen Kris-

tallaufbau beider Partner. Soll dasSpeichermaterial in einer dünnenSchicht auf dem Siliziumwaferwachsen, dann droht Ungemach. Dasdominierende Siliziumkristallgitterzwingt den Atomen der dünnenSchicht eine „verzogene“ kristallineOrdnung auf. Damit verliert dieseSchicht ihre ferroelektrischen oderferromagnetischen Eigenschaften.Dieses Problem müssen die Chipent-wickler lösen.

Die FRAM-Forscher interessiertnatürlich auch brennend die Frage,wie klein sie ihre Strukturen über-haupt machen können, ohne dass dieinformationstragenden Dipole insta-bil werden. Reicht diese Grenze aus,um dem Miniaturisierungsdruck derZukunft zu genügen? Die HallenserForscher suchen nach einer Antwortauf diese entscheidende Frage. Dazuentwickelten sie ein Verfahren, mitdem sie immer kleinere Teststruktu-ren auf Silizium herstellen und un-tersuchen können.

Am Anfang steht ein hoch präzisesKochrezept: Die Forscher mixen dieZutaten, also die Atome des zukünf-tigen Ferroelektrikums, im richtigenMengenverhältnis in einer „Precur-sor-Lösung“. Diese Lösung bringensie auf den Siliziumwafer in einer

SCHWERpunkt

Rasterelektronenmikroskopische Aufnahme von ferroelektrischen Teststrukturenaus Strontium-Wismut-Tantalat (µm: Mikrometer, millionstel Meter).

Die ultimative Grenze der Miniaturisierung. Links: „Speicher“ aus einzelnenmagnetischen Eisenatomen (rot) in einem Gitter, zu dem sich organischeKomplexe (grün) auf einer Kupferoberfläche selbst organisieren. Rechts: Rastertunnelmikroskop-Bild von vier einzelnen magnetischen Kobaltatomen,die mit einem anderen Verfahren auf eine Goldoberfläche „gesetzt“ wurden.

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Computer. Allerdings fehlen bis heu-te optische „Transistoren“ und ande-re Lichtbauelemente, die in Mikro-chips integrierbar sind. Nur so aberwerden sie mit der herkömmlichenElektronik konkurrieren können. Die„Photonik“, wie die Lichttechnologienach dem Photon getauft wurde,steht heute ungefähr auf einer Ent-wicklungsstufe, auf der sich dieElektronik vor fünfzig Jahren be-fand. Noch mangelt es an geeignetenMaterialien für den technologischenDurchbruch.

In den achtziger Jahren hattenamerikanische Physiker eine Idee,die den Weg zu solchen Bauelemen-ten ebnen könnte. Sie dachten sich„dielektrische“ Materialien mit regel-mäßigen, mikroskopischen Struktu-ren aus, die Licht stark beeinflussenkönnen. Diese Materialien heißenheute photonische Kristalle. An ihrerEntwicklung arbeitet eine Gruppeum Ralf Wehrspohn in der Abteilungvon Ulrich Gösele sehr erfolgreich.

Wie viele künstlich erdachte Mate-rialien haben auch photonische Kris-talle Geschwister in der Natur. Bei-spiele sind einige bunt schillerndeSchmetterlingsflügel. Ihre Schuppenbesitzen Mikrostrukturen, die dasLicht je nach seiner Wellenlänge ver-schieden stark brechen. Diese Fähig-keit treiben die photonischen Kris-talle auf die Spitze und produzierendabei ganz neue physikalische Phä-nomene. Ihren Namen haben sieübrigens von einer Gemeinsamkeitmit „echten“ Kristallen aus Atomen.Beide bestehen aus Elementarzellen,die ein regelmäßiges, räumlichesKristallgitter aufbauen. Damit photo-nische Kristalle das Infrarot-Laser-licht der Informationstechnologiemanipulieren können, müssen ihreElementarzellen allerdings etwa ei-nen Mikrometer (millionstel Meter)groß sein – tausend Mal größer alsdie Zellen echter Kristalle.

AUF DEM WEG IN

DIE DRITTE DIMENSION

Photonische Kristalle zeigen vieleBesonderheiten: Ihre Elementarzellenbestehen beispielsweise aus kugelför-migen Luftblasen, die eine Art ma-thematisch perfekten Hartschaum bil-den. Den Raum zwischen den Bläs-chen füllt ein Material, das für Infra-rotlicht transparent ist und es zu-gleich sehr stark bricht wie Silizium.Passen die Durchmesser und die Ab-stände der Luftbläschen zur Wellen-länge des Laserlichts, dann wirken sie auf das Licht wie viele kleine Re-sonanzkörper: Sie könnenes sogar „schlucken“.Das Aufregende fürPhysiker ist dabei,dass das „einge-

fangene“ Licht nicht einfach verlorengeht. Die Atome des Füllmaterialsspeichern es, bis die Resonanzbedin-gungen verändert werden. Diese Ei-genschaften könnten in optischenSchaltelementen genutzt werden. Der„Bau“ von Nano- und Mikrostruk-turen in drei Dimensionen ist techno-logisch extrem schwierig. Deshalbhaben die Max-Planck-Forscher ge-meinsam mit Physikern der Univer-sität Kiel und der Firma Infineonzunächst zweidimensionale photoni-sche Kristalle entwickelt (Abb. Seite24). Sie bestehen aus Silizium, indem sich eine sehr große Zahl vonregelmäßig angeordneten Poren be-findet, also Säulen aus Luft. DieseKristalle können das Licht in einerAusbreitungsebene beeinflussen, diesenkrecht zu den Luftsäulen liegt.Der Forschungsgruppe gelangen per-fekte photonische Kristalle, die inter-national Aufsehen erregten. Nachdieser erfolgreichen Demonstrationwollen Ulrich Gösele, Ralf Wehr-spohn und ihre Kollegen nun auchdreidimensionale Kristalle herstellen.

In den vergangenen fünfzig Jah-ren hat die Kommunikations- undInformationstechnik unsere Weltvöllig verändert. Diese Entwicklunghaben Forscher ausgelöst, die ent-deckten, welches Potenzial in Halb-leitermaterialien steckt. Wohin wirddie Reise gehen? Niemand kann prä-zise voraussagen, wie unsere techni-sche Kultur im Jahr 2050 aussehenwird. Eines scheint jedoch sicher zusein: Neue Materialien, also dieFrüchte der wissenschaftlichen Neu-

gier von heute, werden diese Zu-kunft mindestens so stark prä-gen wie unsere gegenwärtigeWelt. ROLAND WENGENMAYR

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extrem lang. Es gibt auch mehrscha-lige Röhren aus konzentrisch ange-ordneten Graphenschichten.

Besondere Bedeutung hat die Rich-tung, in der die Graphenschicht auf-gerollt ist: Je nach „Rollrichtung“verhält sich das Röhrchen wie einMetall oder wie ein Halbleiter. Genaudeshalb sind Kohlenstoff-Nanoröh-ren für Komponenten elektronischerBauelemente interessant, die mög-lichst klein sein sollen. Im Jahr 1998gelang es erstmals, einen Feldeffekt-Transistor (FET) zu bauen, der aus ei-ner einzigen, halbleitenden Nanoröh-re besteht. Mittlerweile sind dieseFET so optimiert, dass sie manche Ei-genschaften herkömmlicher Silizium-Transistoren sogar übertreffen.

Leider verhindern die bisher be-kannten Verfahren eine kontrollierteProduktion solcher Transistoren: Kei-ne der eingesetzten Synthesemetho-den liefert ausschließlich metallischeoder halbleitende Röhren. Sie erzeu-gen immer nur eine Mischung beiderSorten im Verhältnis von etwa einDrittel zu zwei Drittel. Bei einschali-gen Röhren verschlimmert sich dieSituation noch. Sie entstehen meistals Bündel, das beide Röhrensortenenthält. Gegenwärtig gibt es keinphysikalisches oder chemisches Ver-fahren zur Sortentrennung. Um ei-nen einzigen Transistor herzustellen,mussten die Forscher bislang einen„Haufen“ von Nanoröhren mit Kon-

takten versehen – danach suchten siemühsam nach der entscheidenden„Stecknadel“. Das ist eine zufällig iso-lierte Röhre mit Halbleitercharak-teristik (Abb. Seite 31 rechts). Die me-tallisch leitenden Röhren in den Bün-deln überbrücken nämlich die poten-ziellen Nanotransistoren und schlie-ßen sie elektrisch kurz.

Die Stuttgarter Max-Planck-Wis-senschaftler haben diesen gordischenKnoten mit einer einfachen Methodedurchschlagen. Durch „kontrollierteOxidation“ können sie die elektri-sche Leitfähigkeit der metallischenRöhren bevorzugt zerstören. Damitschalten sie die Kurzschlüsse einfachaus und machen die Röhrenbündelzu funktionierenden Transistoren.

DAS PHOTON ERSETZT

DAS ELEKTRON

Ein hoher Prozentsatz dieser Na-no-FET hat eine besondere Eigen-schaft: Nach Abschalten der elektri-schen Energieversorgung „erinnern“sie sich noch daran, welchen elektri-schen Spannungen und Strömen siezuvor ausgesetzt waren. Dieses „Ge-dächtnis“ ist also fähig, auch ohneStromversorgung eine binäre Nulloder Eins zu speichern. Bei Raum-temperatur funktioniert das immer-hin schon ein bis zwei Wochen. DieStuttgarter Forscher sind zuversicht-lich, dass sie das Gedächtnis ihrerNanotransistoren durch Materialver-

besserungen noch deutlich verlän-gern können.

Ulrich Gösele schaut derweil in die Zukunft: „Was das Elektron fürdie Kommunikationstechnik des 20.Jahrhunderts war, wird das Photonfür das 21. Jahrhundert sein.“ Schonlange haben Grundlagenforscher undIngenieure einen Traum. Sie möch-ten den elektrischen Strom als Infor-mationsträger durch Licht ersetzen.Licht hat zwei attraktive Eigenschaf-ten: Zum einen ist es fast immer vielschneller als Elektronen, zum ande-ren können sich zwei Lichtstrahlengegenseitig durchdringen, ohne sichzu stören. Elektrischer Strom erlaubtdas nicht, weil die Ladungsträgereinander beeinflussen und Kurz-schlüsse produzieren können.

Die Störunempfindlichkeit vonLicht ermöglicht eine extrem dichtePackung der transportierten Infor-mationen. Heutige Glasfaserkabelhaben eine Übertragungskapazität(„Bandbreite“), die jede herkömmli-che Telefonleitung bei weitem über-trifft. Auch ihre Reichweite ist inzwi-schen konkurrenzfähig: Sie könneninfrarotes Laserlicht ohne Zwischen-verstärker über 100 Kilometer weittransportieren.

Der Ersatz elektrischer Leitungenist aber nur ein Teil des Traums. Derandere Teil sind optische Systeme,die elektronische Schaltungen erset-zen, also zum Beispiel der optische

SCHWERpunkt

Ferroelektrische Zellen aus Bleizirkonat-Titanat mit 250 Nanometer Kanten-länge. Das linke Bild zeigt sie vor und das rechte nach dem Umschalten einerausgewählten Zelle mit einem Spannungspuls von 20 Volt.

Kohlenstoff-Nano-röhren (blau) könnenmolekulare Feld-effekt-Transistorenbilden, wenn sie

mit metallischen Kon-takten versehen sind.

Querschnitt durch den Siliziumwafer, der mit einer nahezu perfekten ferroelektrischen Lanthan-Wismut-Titanoxid-Schicht bedeckt ist. Das hell-dunkle Muster ist eine elektronenmikroskopische Abbildung der regelmäßig angeordneten Schicht-atome. Die beiden Zwischenschichten (Puffer undElektrode) sind zusammen nur 70 Nanometer dick.

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MATERIALwissenschaften

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SCHWERpunkt

Von spröde keine RedeAlle Keramiken sind spröde. Dieser Behauptung würde DR. DIETER

BRUNNER vom MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR METALLFORSCHUNG

in Stuttgart vehement widersprechen: Seine Versuche zeigten, dass

sich einkristallines Strontiumtitanat bei Zimmertemperatur ebenso

verformen lässt wie weiches Metall. Was diese erstaunliche Entdeckung

für die Materialwissenschaften bedeutet, ist noch gar nicht abzusehen.

Manchmal steht die Welt Kopf,und es geschehen Dinge, die

eigentlich ganz unmöglich sind. Werseinen Keramikbecher mit einer un-vorsichtigen Armbewegung verse-hentlich vom Tisch fegt, staunt nichtschlecht, wenn das Gefäß vom har-ten Küchenboden abprallt und unbe-schadet über die Fliesen kullert. Dasist freilich ein seltenes Glück, undbeim zweiten Mal wird das guteStück mit Sicherheit in tausendScherben zerspringen. Doch wie wäre es, wenn der Becher auch beinächster Gelegenheit nicht zerplatztund sogar den übernächsten Versuchübersteht – wenn er immer wiederunbeschadet über den Boden hüpft.Vermutlich würde sich der Tassenbe-sitzer ungläubig die Augen reibenund an der Qualität seiner Keramikoder der Küchenfliesen zweifeln.

Ganz ähnlich ging es Dieter Brunner und seinem Doktoranden Sharam Taeri, als sie eine Spezial-keramik unter mechanischen Drucksetzten. Sie verhielt sich völlig an-ders als erwartet und zersprangnicht. Brunner arbeitet in der Ab-teilung von Prof. Manfred Rühle am Stuttgarter Max-Planck-Institutfür Metallforschung. Zu seinemHandwerkszeug gehören Verfor-mungsmaschinen, mit denen er dieEigenschaften verschiedener Werk-stoffe untersucht – unter anderemdie von Keramiken. Für derartigeVerformungsexperimente werden dieMaterialproben zwischen die Backeneines hochpräzisen Schraubstocksgespannt und anschließend zusam-mengepresst. Bei Raumtemperaturverhalten sich dabei verschiedeneKeramiken in der Regel gleich: DerG

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Eine Keramik aber zeigte im Stutt-garter Labor ein ganz anderes Ver-halten: ein nur etwa sechs Millimeterhoher Quader aus einkristallinemStrontiumtitanat. Er bescherte DieterBrunner und Sharam Taeri eine wis-senschaftliche Sensation. „Ich hatteStrontiumtitanat gewählt, um eineVerformungsmaschine zu eichen“,sagt Brunner. „Diese Keramik galttrotz ihrer Sprödigkeit als ausgespro-chen hart und besonders geeignet fürden Einsatz bei hoher mechanischerBelastung.“ So setzten die beidenForscher die Maschine bei Raumtem-peratur in Betrieb. Zunächst verhieltsich die Probe wie erwartet. Wie beiallen anderen Keramiken auch beob-achteten die Wissenschaftler bei zu-nehmendem Druck eine elastischeVerformung des Kristalls.

Zu beider Erstaunen aber zer-sprang der Kristall nicht. Er gabnach, verformte sich, dehnte sich zuden Seiten hin aus. Brunner trauteseinen Augen nicht. Bisher galtStrontiumtitanat bei Raumtempera-tur als ausgesprochen spröde – nunerwies es sich als duktil, also plas-tisch verformbar. „Das war unmög-lich. Ich vermutete zunächst, dassdie Mechanik der Maschine unterdem Druck nachgegeben hatte“, sag-te Brunner. Also spannte er einenanderen Miniquader in eine zweiteMaschine – mit demselben Ergebnis:

Komplexer Wirrwarr: Mit Supercomputern lässt sich zeigen, wie Versetzungen in einem Kristall entstehen. Aus einem kleinen Riss (links oben) wächst ein Muster aus Tausenden von Versetzungen. Die Computersimulation berechnet die Bewegung von einer Milliarde Teilchen.

Druck führt zunächst zu einer elas-tischen Verformung – einer rever-siblen Formänderung, da die Probebei nachlassendem Druck wieder ihre ursprüngliche Gestalt annimmt.Steigt der Druck weiter, zerberstenKeramiken plötzlich in feinste Split-ter. Erst unter großer Hitze von mehrals etwa 1200 Grad Celsius sind sieplastisch verformbar: Sie lassen sichum wenige Prozent irreversibel indie Breite drücken. Experten spre-chen von Duktilität.

Mithilfe von Simulationen erfahren Materialwissen-schaftler, wie sich Versetzungen in hauchdünnen,übereinander liegenden Schichten ausbreiten (Aufsicht oben, Seitenansicht unten). Sie gewinnen daraus unter anderem wichtige Erkenntnisse für dieEntwicklung neuer Werkstoffe oder Mikrobauteile.

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SCHWERpunkt

umtitanat Galliumarsenid auf Silizi-umchips zu fixieren. Bisher verhin-derten zu große Unterschiede derKristallgitterdimensionen die Kombi-nation der beiden Halbleitermateria-lien Silizium und Galliumarsenid.Erst eine Zwischenschicht aus Stron-tiumtitanat, ein so genannter Buffer,der die Unterschiede ausgleicht, er-möglichte eine großflächige undhaltbare Verbindung.

EINZIGARTIGE

EIGENSCHAFTEN

Um dem eigentümlichen Verhaltender Strontiumtitanat-Quader auf denGrund zu gehen, bereiteten Brunnerund Taeri Messreihen vor. Das Zielwar, die Substanz bei verschiedenenTemperaturen zu beobachten. Brun-ner untersuchte die Verbindung beitiefen Temperaturen bis rund minus200 Grad Celsius. Taeri setzte dieVerbindung bei Temperaturen von

etwa 20 bis 1500 Grad Celsius unterDruck. Das Ergebnis der Messungenist einzigartig: Demnach ist Stronti-umtitanat die einzige bekannte Ver-bindung, die bei tiefen Temperaturen(minus 195 bis 770 Grad Celsius)duktil, bei zunehmender Hitze (770bis 1230 Grad Celsius) spröde undbei sehr hohen Temperaturen (1230bis 1530 Grad Celsius) wieder duktilist. Bisher ist kein anderer Stoff be-kannt, der dieses Verhalten unternormalen Umgebungsbedingungen(Atmosphärendruck) zeigt.

„Was das für die Materialfor-schung bedeutet, ist bisher kaum ab-zusehen“, sagt Brunner. Dennoch ister davon überzeugt, dass die er-staunlichen Eigenschaften von Stron-tiumtitanat mittelfristig einen erheb-lichen Nutzen für die Industrie ha-ben können. Nicht zuletzt deshalb,weil in der Halbleiterherstellung aus-gesprochen präzise gearbeitet wer-den muss. Wer hauchdünne Schich-ten übereinander legt, sollte die Ei-genschaften der Substanzen kennen– beispielsweise wissen, bei welcherTemperatur Spannungen auftretenoder ein Material spröde wird.

„Egal welche Materialien ein Un-ternehmen nutzt – das Wissen umden Übergangsbereich vom duktilenzum spröden Zustand ist essenziell“,betont Brunner und erinnert an die„Liberty“-Schiffe des Zweiten Welt-kriegs: Als Reaktion auf die briti-schen Schiffsverluste schlug deramerikanische Präsident Franklin D.Roosevelt im August 1940 ein Bau-programm über mehrere Hundertneue Schiffe vor. Im Eiltempo wur-den die Frachter zusammenge-schweißt. Allerdings war die Füge-technik damals noch wenig aus-gereift. Das Schweißen setzte demStahl zu. Zwar war die Liberty-Ar-mada voll funktionsfähig. Gingendie Schiffe aber auf Kurs durch das eisige Wasser des Nordatlantiks,

Das Strontiumtitanat verformte sichbei Raumtemperatur tatsächlich plas-tisch.

Die Max-Planck-Forscher wurdenneugierig. Gemeinsam mit ihren Kol-legen entschieden sie, Strontiumtita-nat genauer zu untersuchen. Immer-hin ist die chemische Verbindungaus Strontium, Sauerstoff und Titanein bedeutender Werkstoff. Wie Sili-zium auch wird die Substanz inForm von Einkristallen gezüchtet.Sie ist oxidationsbeständig und ver-schleißfest. Strontiumtitanat wird alsTrägersubstanz für Hochtemperatur-Supraleiter-Schichten genutzt undlässt sich mit dem Halbleiter Galli-umarsenid verbinden, der unter an-derem in Solarzellen verwendet wird.

Strontiumtitanat gehört bei denElektrokeramiken zu den innovativs-ten Substanzen. Im Jahr 2001 gelanges Forschern der Motorola Labs inSchaumburg, mithilfe von Stronti-

Es sieht ganz so aus, als sei die Lösung des Strontiumtitanat-Rät-sels irgendwo in der Welt der Atome verborgen. Und so stoßen dieExperten am Max-Planck-Institut für Metallforschung bis in dieNanometer- und °Angström-Skala vor – nicht allein mit Elektronen-mikroskopen, sondern vor allem auch mit leistungsfähigen Super-computern. Markus Buehler und Farid Abraham (IBM Almaden Research Center) aus der Arbeitsgruppe von Prof. Huajian Gao etwaversuchen, sprödes und duktiles Verhalten an Modellmaterialien vonGrund auf zu verstehen. Die meisten der Simulationen werden imSupercomputer-Zentrum der Max-Planck-Gesellschaft in Münchendurchgespielt – an leistungsfähigen IBM-Rechnern (vgl. MAXPLANCK-FORSCHUNG 1/2002, S. 50 f.).Mithilfe so genannter atomistischer Simulationen setzen die Wis-senschaftler bis zu einer Milliarde virtueller Teilchen in Bewegung.Dabei berechnen sie die zeitliche Evolution der Partikel. Ihr Ziel istes – ausgehend von möglichst einfachen Wechselwirkungen, etwazwischen einzelnen Atomen –, komplexe Phänomene zu simulieren.Und dazu zählt die Entstehung und Ausbreitung von Versetzungen in Kristallen. Ebenso fundamental und wichtig für das Verständnisvon Materialeigenschaften ist die Dynamik der Rissausbreitung. Hier entscheidet das Verhalten einzelner Atome an der Rissspitzeüber das Versagen einer gesamten Struktur. Wie sich herausstellte,können sich Risse mit Überschallgeschwindigkeit durch ein Materialbewegen. Die Forscher sind überzeugt, dass ein besserer Einblick in die funda-mentale Ebene der Entstehung und Dynamik von Versetzungen hel-fen wird, Phänomene zu verstehen, die man in Experimenten findetund zunächst nicht erklären kann. Ganz so wie das eigenartige Ver-halten des Strontiumtitanats. So gelang es den Forschern um Gao,mit dem Computer die Bildung von Versetzungen und ihre Ausbrei-tung durch einfache Kristalle zu simulieren. Die Bewegung einereinzelnen Versetzung lässt sich noch relativ leicht als eine Art Welledarstellen, die durch den Kristall gleitet. Wenn sich Versetzungenaber einander annähern, wird es kompliziert. Der Computer ist inder Lage, die komplexen Wechselwirkungen ausgehend von einfa-chen ersten Prinzipien (ab initio) darzustellen. Man weiß, dass sichVersetzungen ähnlich dem elektrischen Strom überlagern, verstär-ken und auslöschen – oder eben verkeilen, wodurch das Materialrissig und spröde wird. Ein ähnlicher Mechanismus tritt auf, wennsich die Versetzung in zwei so genannte partielle Versetzungen teilt,die einander stören – wie etwa im Fall des Strontiumtitanats. Die Experten können mit ihren Berechnungen die Struktur und dasWachstum Hunderter von Versetzungen visualisieren und analysie-ren. Ihre Aufgabe besteht schließlich darin, die Gestalt der chao-tisch anmutenden Versetzungsgewächse zu interpretieren – insbe-sondere mit Blick auf die Randbedingungen. Immerhin bestimmenvor allem Außentemperatur und Umgebungsdruck die Duktilität und die Sprödigkeit.Am Hochleistungsrechner ASCI White des Lawrence Livermore National Laboratory in Kalifornien hat die Forschergruppe im Jahr 2000 eine Simulation mitmehr als einer Milliarde Teilchen berechnet – Weltre-kord. Bei einer derart großen Anzahl von Atomen er-reichen die Wissenschaftler bereits die nächste

Weiche Keramik – harte Nuss für Forscher

Größenskala: den Mikrometerbereich. Sie sind also in der Lage, die Geschehnisse in einem Mikrometer großen Kristall zu modellie-ren, indem sie die Dynamik jedes einzelnen Atoms ermitteln; dieseAufgabe erschien noch vor einigen Jahren undenkbar.Die Simulation wächst über den atomaren Maßstab hinaus. Auf diese Weise lässt sich beobachten, welche Auswirkungen die theo-retischen Annahmen zur Versetzungsentstehung tatsächlich haben.Verschiedene Theorien können miteinander oder sogar direkt mitden Ergebnissen von Experimenten verglichen werden. Die Forscherum Gao sind sich sicher, dass große atomistische Simulationenzukünftig eine bedeutende Rolle spielen werden, um die vielen un-erklärten Phänomene nano-strukturierter Materialien zu erklären.Der „Atomismus im Supercomputer“ könnte also ein wichtigesWerkzeug für die Bauteile von morgen sein. TIM SCHRÖDER

Zusammenspiel von Diffusion, Riss und der Entstehung von Versetzungen in einer

Dünnschicht auf einem Substrat: Durch Diffusion entlang einer Korngrenze (gestri-

chelte Linie oben links) entsteht ein rissähn-liches Spannungsfeld (unten links). Dadurch

werden Versetzungen erzeugt (unten rechts).Die Vergrößerung zeigt, wie das Kristall-

gitter aufgrund der Versetzung verzerrt ist.

Ästhetik einer Katastrophe: Fein verästelt wie ein Flussdelta bewegt sich ein Riss durch einen Kristall – bis das spröde Material platzt (links).

Die Rissspitzen können Startpunkte von Verset-zungen sein (rote Stellen neben der Rissspitze

in Abb. rechts). Während sich der Riss mit hoherGeschwindigkeit durch das Material bewegt, wer-

den fortwährend Versetzungen erzeugt (rechts).

Simulationen sind ein wichtiges Hilfsmittel, umErgebnisse von Experimen-ten oder theoretische Modelle zu überprüfen. So kann sich ein Riss mitÜberschallgeschwindigkeitausbreiten (Abb. oben). Das steht im Widerspruchzum bisherigen Verständ-nis. Demnach ist die

Schallgeschwindigkeit für einen Riss eine undurchdringliche Mauer.Andere Simulationen zeigen, wie sich Kräfte und Spannungen verteilen, wenn ein Riss urplötzlich stoppt (Abb. links).

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sich ionische und kovalente Bindun-gen deutlich leichter voneinander.Die Versetzungen haben freie Fahrt:Die Keramik wird duktil.

DIE TEMPERATUR

MACHT’S

Dennoch bleibt für Dieter Brunnerund seine Kollegen offen, warumStrontiumtitanat anders als die mei-sten anderen Werkstoffe bereits beiausgesprochen tiefen Temperaturenduktil ist, bei höheren aber wiederspröde wird. Peter Gumbsch, einTheoretiker am Stuttgarter Max-Planck-Institut für Metallforschung,schlägt derzeit folgendes Erklärungs-modell vor: Im Strontiumtitanat gibtes zwei Versetzungstypen – einen,der sich leicht und bereits bei tiefenTemperaturen bewegt und einenzweiten, der erst durch hohe Tempe-raturen in Schwung kommt. Übt manDruck auf einen kalten Strontium-titanat-Kristall aus, bewegen sich dieVersetzungen durch das Kristallgitter.Sie überspannen große Flächen und

machen den Kristall ausgesprochenduktil. Plastische Dehnungen von biszu neun Prozent konnte Brunner beitiefen Temperaturen messen.

Die Duktilität im hohen Tempera-turbereich hingegen führen die For-scher auf den zweiten, den schwerbeweglichen Versetzungstyp zurück:Messungen ergaben, dass die plas-tische Dehnung immerhin drei Pro-zent der ursprünglichen Kristallbreiteerreichte. Tatsächlich konnten die Wissenschaftler mit leistungsstarkenElektronenmikroskopen Hinweise aufden schwer beweglichen Versetzungs-typ finden. So gelang es den Mik-roskopikern um Wilfried Sigle, dieVersetzungen mit einer Auflösungabzubilden, die deutlich einzelneAtome und somit die ins Kristallgit-ter eingeschobenen Atomebenenzeigt. Im mittleren, spröden Tempe-raturbereich – so die Idee der Forscher– kommen sich die Versetzungs-typen 1 und 2 ins Gehege. Brunner:„Das spröde Verhalten basiert ver-mutlich auf einer mit steigender

Temperatur zunehmenden Dichteschwer beweglicher Versetzungsele-mente, die die leicht beweglichen be-hindern.“ Die Versetzungen verkeilensich also. An den Hindernissen ent-stehen lokale Spannungsspitzen. Esbilden sich Risse, und der Kristallzerspringt in winzige Stücke. Nochist allerdings nicht sicher, ob das Er-klärungsmodell stimmt.

Strontiumtitanat gehört zu den sogenannten Perowskiten – einerGruppe von Oxidkeramiken, die ingroßen Mengen in der Erdkruste vor-kommen. Zwar ist der Anteil vonStrontiumtitanat dort vergleichswei-se gering. „Aber wenn sich unsereErkenntnisse auf andere Perowskiteübertragen lassen“, sagt Brunner,„dann könnte es spannend werden.“Immerhin weiß bisher niemand, obdas eigenartige Verhalten von Stron-tiumtitanat oder anderer Perowskitevielleicht sogar das Geschehen imInneren der Erdkruste beeinflusst.Aber das ist eine andere Detektiv-geschichte. TIM SCHRÖDER

MATERIALwissenschaften

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wechselte der Stahl an den Nähten inden spröden Zustand. Die Folgenwaren verheerend: Von 1942 bis1952 sanken mehr als 100 Liberty-Schiffe aufgrund von Sprödbrüchen.

Für Strontiumtitanat konnten dieStuttgarter Experten die Übergangs-bereiche zwischen duktil, sprödeund duktil inzwischen exakt bestim-men. Die Suche nach den Ursachenfür das außergewöhnliche Verhaltengleicht einer Detektivarbeit. Immertiefer tauchen die Forscher in dieWelt der Strontiumtitanat-Kristalleein, um Details zu entdecken. Mitt-lerweile sind sie mithilfe vonElektronenmikroskopen bis zur ato-maren Skala vorgedrungen. Beson-ders der abrupte Übergang vonsprödem zu duktilem Verhalten bei1230 Grad Celsius erstaunt die Wis-senschaftler.

Grundsätzlich haben Materialfor-scher klare Vorstellungen davon, waseinen Stoff duktil macht. ZentralesElement der Theorie sind so genann-te Versetzungen. Damit werden Feh-ler in einem Kristallgitter bezeichnet.Auch Strontiumtitanat besteht auseinem regelmäßigen Kristallgitter,das einem Stapel Würfel im atoma-ren Maßstab gleicht. An den Würfel-ecken befinden sich Strontiumatome,in den Flächenmitten Sauerstoffato-me und im Zentrum des Würfels einTitanatom. Zwar ist ein solches Wür-felgitter regelmäßig aufgebaut, anmanchen Stellen aber gerät die prä-zise Struktur durcheinander. Dortsind Atomebenen wie eine Trenn-wand zwischen benachbarte Kubengeschoben und deformieren so dasKristallgitter. Übt man auf den Kris-tall Druck aus, werden Scherkräftefrei, die das Kristallgitter an denstörenden Atomebenen gegeneinan-der verschieben. Wie auf einer schie-fen Ebene gleiten dann große Gitter-blöcke aneinander vorbei – die Ver-setzung bewegt sich. Wie eine Welleüber einen schlecht verlegten Tep-pichboden gleitet sie schließlichdurch das Kristallgitter dahin. DerKristall wird plastisch verformt: Erist duktil – allerdings nur dann,wenn sich die Gitteratome leichtvoneinander lösen lassen. Das ist et-wa bei Metallen der Fall, deren Ato-me über schwache metallische Bin-dungen verknüpft sind – beispiels-weise beim Kupfer, das sich leichtverbiegen lässt.

In Keramiken hingegen sind dieGitteratome über feste ionische oderso genannte kovalente Bindungenmiteinander verzurrt. Versetzungenkönnen sich deshalb kaum ausbrei-ten, wenn auf den Kristall Druckausgeübt wird. Es kommt zu unge-heuren Spannungen, die den sprödenKristall schließlich zerfetzen. Bei ho-hen Temperaturen hingegen lösen

SCHWERpunkt

Versetzungen erkennt man dort, wo das regelmäßige Kristallgitter gestört ist. In diesem elektronenmikro-skopischen Bild von Strontiumtitanat werden solche

Störungen an den rot markierten Stellen sichtbar. Hier enden in das Kristallgitter eingeschobene Atomebenen.

In diesem Modell wird noch deutlicher, wie eine Atom-ebene ein perfekt geordnetes Kristallgitter verzerrt.

Ähnlich einer Falte in einem Teppich kann sich eine Versetzung durch einen Kristall bewegen, wenn Kräfte auf sie ein-wirken (Pfeile). Diese Bewegung führt zur plastischen Verformung des Kristalls.

Der elektronenmikroskopische Blick in den Strontiumtitanat-Kristall liefert eine mögliche Erklärungfür seine eigentümlichen Eigenschaften. Die linke Aufnahme zeigt Versetzungen (dunkle Linien), die bei Raumtemperatur entstanden sind und sich über weite Kristallbereiche erstrecken. Der mittlere Temperaturbereich von 1000 Grad (Abb. Mitte) zeichnet sich durch Versetzungsknäuel aus. Bei sehr hohen Temperaturen (1540 Grad) bilden sich viele parallele Versetzungen (Abb. rechts).

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MATERIALwissenschaften

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SCHWERpunkt

Knochenarbeitmit Kristallen und Molekülen

Knochen und Zähne kommen aus dem „Baukasten“ der Natur: Winzige

Mineralkristalle und organische Makromoleküle bilden in ihnen so genannte

Komposite. Wie aber wachsen zum Beispiel aus dem Calciumphosphat-

Apatit und dem Eiweiß Kollagen feste, aber dennoch elastische Knochen?

Das untersucht eine Gruppe um PROF. RÜDIGER KNIEP, Direktor des MAX-

PLANCK-INSTITUTS FÜR CHEMISCHE PHYSIK FESTER STOFFE in Dresden.

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– sind jedoch vielfach chiral (unter-scheiden sich also in ihrer Strukturwie linke und rechte Hand, die nichtzur Deckung gebracht werden kön-nen); damit sind sie Anwärter fürhochselektive Katalysatoren. Die metallreichen Nitride und Nitrido-verbindungen sind wegen ihres ungewöhnlichen Redox-Verhaltensebenfalls Kandidaten für neue Kata-lysatoren. Während Kniep und seineMitarbeiter hier vor allem wertvolleGrundlagenforschung betreiben, ge-lang es ihnen, Forschungsergebnisseauf dem Gebiet der Biomineralisa-tion zu handfesten Anwendungenvorzuschlagen, die nun über einevom Bundesministerium für Bildungund Forschung unterstützte Firmaentwickelt werden.

60 MINERALIEN

IM ANGEBOT

Das kleine Dresdner Biominerali-sationsteam um Rüdiger Kniep, demauch Susanne Busch, Jana Buder,Oliver Hochrein und Caren Göbelangehören, beschäftigt sich aller-dings weder mit Seeigelstachelnnoch mit Schneckenhäusern. IhreForschungsobjekte sind auf den ers-ten Blick weit weniger dekorativ,dafür aber für den Menschen lebens-wichtig: Sie untersuchen die Entste-hung von Knochen und Zähnen. So-wohl beim Menschen als auch beiWirbeltieren und Fischen bestehendiese aus Apatit, einer Calciumphos-phat-Verbindung. In unbelebter Um-

gebung bildet Apatit – je nachdem,mit welchen Stoffen er „verunrei-nigt“ ist – große, verschiedenfarbigeKristalle, die früher oft mit Berylloder Turmalin verwechselt wurden;daher stammt der Name Apatit, dersich vom griechischen apate (= Täu-schung) ableitet. Ähnlich wie beimCalciumcarbonat stellt sich also auchhier die Frage: Wie verwandelt dieNatur mineralischen Apatit in feste,aber elastische Knochen und Zähne?

Insgesamt kennen Wissenschaftlerinzwischen rund 60 Mineralien, dielebende Organismen für ihre Zweckenutzen – und die Liste der „Einsatz-gebiete“ ist lang. Denn die anorgani-schen Festkörper sind nicht nurHauptbestandteile von Werkzeugen(Zähnen), stützenden Gerüsten (Kno-chen) oder Schutzschilden gegenFeinde (Stacheln oder Schalen). For-scher fanden sie auch in Augenlin-sen von Krebsen, Schwerkraftsenso-ren von Fischen und Quallen sowieals magnetische Rezeptoren in Bak-terien. „In all diesen Fällen hat dieNatur es verstanden, aus relativ ein-fachen chemischen Verbindungen im Lauf der Evolution vielseitigeFunktionsmaterialien herzustellen“,sagt Rüdiger Kniep. Das allgemeinePrinzip, das dahinter steckt: Winzige Mineralkristalle und organischeMakromoleküle bilden so genannteKomposite, die ganz andere Material-eigenschaften haben können als dieAusgangsverbindungen. Knochen be-stehen beispielsweise aus Apatit und

Mancher Architekt, Bauinge-nieur oder Statiker wird ins

Grübeln kommen, wenn er Gebildesieht, die die Natur scheinbar aussimplem Calciumcarbonat fertigt –dem Hauptbestandteil von Kreideund Kalkstein: Die Stacheln einesSeeigels beispielsweise, die nur Milli-meter dick aber Zentimeter lang sindund dennoch so stabil, dass sie denStachelhäuter wirkungsvoll vorFeinden schützen. Oder kunstvoll ge-wundene Schneckenhäuser, die nichtnur relativ fest sind, sondern auch soformvollendet aussehen, dass manannehmen könnte, ein Star-Designerhätte sie entworfen. Aber wie wirdaus dem mitunter stumpfen, bröseli-gen Calciumcarbonat ein spitzer See-igelstachel oder ein mehrfarbiges,glänzendes Schneckenhaus?

Wenn biologische Systeme an derEntstehung von anorganischen Fest-körpern aktiv beteiligt sind, sprechenWissenschaftler von Biomineralisati-on. Wie diese im Detail abläuft, er-forschen sie erst seit wenigen Jahren.Einer der Pioniere auf diesem Gebietin Deutschland ist Rüdiger Kniep,Direktor des Max-Planck-Institutsfür chemische Physik fester Stoffe inDresden. Zwar widmet der Chemikerund Mineraloge den größten Teil sei-ner Zeit der Erforschung von inter-metallischen Verbindungen, metall-reichen Nitriden und mikroporösenBorophosphaten. Letztere haben zumTeil ähnliche Strukturen wie die inWaschmitteln verwendeten Zeolithe

Rüdiger Kniep, Direktor des Max-Planck-Instituts für chemische Physik fester Stoffe in Dresden, erforscht die Wechselwirkungen zwischen organischen Makromolekülen (links) und anorganischen Kristallen (rechts).

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dem Eiweiß Kollagen. Letzteres bil-det etwa 300 Nanometer lange, fadenförmige Moleküle, von denensich jeweils drei zu Helices verdre-hen. In dieser organischen Matrixliegen winzige Apatitkristalle. Eshandelt sich dabei um 2 bis 4 Nano-meter dünne Plättchen, die parallelzu den Kollagenhelices angeordnetsind. So entstehen mineralisierte Fa-sern (Fibrillen), die einige 10 Mikro-meter (Millionstel Meter) lang sind.„Chemiker würden dies als Verbund-werkstoff bezeichnen“, sagt RüdigerKniep. Wie der Körper Knochen undZähne aus mineralischen Kristallenund organischen Makromolekülenproduziert, ist allerdings weitgehendunklar.

WACHSTUM

IM REAGENZGLAS

Genau hier setzen die Arbeiten desDresdner Wissenschaftlers an. DennKniep und seine Mitarbeiter simulie-ren die Bildung von knochen- undzahnähnlichem Material im Rea-genzglas: „Wir untersuchen dabeizunächst, welche Wechselwirkungenzwischen Apatit und Kollagen beimWachstum bestehen und versuchen,diese zu erklären.“ Würden die For-scher dazu schlicht Apatitkristalle aufKollagenfasern wirken lassen, würdewohl kaum etwas geschehen. DennApatit ist in Wasser extrem schwerlöslich und daher reaktionsträge. Dasheißt: Haben sich erst einmal Kristallegebildet, sind sie bei biologischempH-Wert kaum dazu zu bewegen, anLaborversuchen teilzunehmen. DieWissenschaftler greifen deshalb zueinem Trick, den Chemiker generellimmer dann anwenden, wenn sie Kristalle aus schwer löslichen Verbin-dungen kontrolliert züchten wollen:Sie füllen Lösungen mit je einer Kristall bildenden Komponente in diebeiden Schenkel eines U-förmigenRohrs. In dessen Mitte trennt ein Gel-Pfropfen die beiden Flüssigkeiten. Inseinem Inneren fangen Ionen der bei-den Lösungen dann an, aufeinanderzuzuwandern. Sobald sie sich treffen,wachsen Kristalle. Normalerweise istdas Gel an dem Kristallisationspro-

zess nicht beteiligt. Wäre dies auchbei den Dresdner Experimenten derFall, wären diese eindeutig geschei-tert. Denn die Gruppe um Kniep ver-wendet Gelatine – die denaturierteForm des Kollagens. Ziel der For-scher ist es, innerhalb des Gel-Pfrop-fens die Bildung von knochen- oderzahnähnlichem Material nachzuwei-sen. Hier-zu müssen sich dieApatitkomponenten mit der Gelatineverbinden. „Tatsächlich beobachtenwir nach wenigen Stunden bis Tagenhelle Bänder innerhalb des Gels“, be-richtet Rüdiger Kniep. Die Tatsache,dass dies nur mit Gelatine und kei-nem anderen Gel gelingt, ist der er-ste Hinweis darauf, dass die DresdnerWissenschaftler die richtige Spurverfolgen. Chemisch betrachtet muss-ten sie sich aber zunächst einenSchritt weit vom idealen Modellsys-tem entfernen. „Ursprünglich woll-ten wir Verbindungen von Gelatineund dem in menschlichen Knochenund Zähnen vorkommenden Hydro-xy-Apatit untersuchen“, so Kniep:„Die äußere Form der Aggregate, diedabei entstanden, waren jedoch sokompliziert, dass wir erst einmal aufFluorapatit umgestiegen sind.“ Im-merhin ist auch Fluorapatit biolo-gisch nicht ganz unbedeutend. Denner ist Bestandteil von Haifischzäh-nen – den einzigen Zähnen, die nachdem Herausbrechen wieder nach-wachsen.

Als Kniep und seine Mitarbeiterdie in der Gelatine gewachsenenBänder erstmals aufschnitten und imRasterelektronenmikroskop betrach-teten, staunten sie nicht schlecht: sahen sie doch eine Vielzahl unter-schiedlicher Formen, die sich bei genauer Analyse als verschiedeneWachstumsstadien des gleichen Pro-zesses herausstellten. Als „Aus-gangsform“ dient jeweils ein perfektausgebildetes, lang gestrecktes Pris-ma. Sobald dieses eine bestimmteGröße erreicht hat, bilden sich anbeiden Enden Aufwachsungen, dieebenfalls aus kleinen Prismen beste-hen. Diese bilden bald kleine Han-teln. Kniep: „Bemerkenswerterweisesind beide Hantelhälften stets gleich

MATERIALwissenschaften

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SCHWERpunkt

So „reifen“ Fluorapatit-Gelatine-Komposite: Aus einem hexagonal-prismatischen Keim bilden sich erst „Hanteln“, dann eingeschnürte Kugeln. Dieses fraktale Wachstum lässt sich per Computer simulieren.

groß, deshalb scheint es so, als ob eine Struktur dirigierende Spiegel-ebene zwischen ihnen wirksam wä-re.“ Sobald die Hantelhälften großgenug sind, wachsen sie zu einer Ku-gel zusammen, deren Durchmesserbis zu 150 Mikrometer beträgt.

Die Entstehung der Aggregate wirdalso durch einen ungewöhnlichenMusterbildungsprozess gesteuert. DieForscher sprechen von einer selbstorganisierten Entwicklung, die vomPrinzip der „Selbstähnlichkeit“ ge-tragen ist: Die Oberflächen der Ku-geln bestehen aus kleinen Stäbchen,die die gleiche Form haben wie derzentrale, prismenförmige „Keim“ derStruktur. „Für mich ist dies Lebenauf der niedrigsten Stufe“, kommen-

Durch Selbstorganisation wachsen kugelförmige Komposit-Aggregate aus Calcium-phosphat und Gelatine in Gelatinegel. Mit von oben nach unten zunehmendem Fluoridgehalt verändert sich deren Oberflächenstruktur; aus Fluorapatit bilden sich hantelförmige Aggregate. (Oberes Teilbild: Octacalciumphosphat, mittlere Teilbilder: Apatit mit zunehmendem Fluoridgehalt, unten: Fluorapatit).

tiert Kniep. Mathematisch betrachtethandelt es sich um fraktales Wachs-tum. Die Entstehung der Kugeln auseinem Prisma über die verschiedenenHantelstufen lässt sich deshalb leichtper Computer simulieren; genau wiebeim Original besteht die Oberflächeder berechneten Kugel aus kleinennadelförmigen Einheiten. Mathema-tiker kennen das Prinzip der frak-talen Musterbildung seit langem.„Prinzipiell könnte es vielen natür-lichen Phänomenen zugrunde liegen,die wir bisher nur teilweise verste-

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enthält der auf der Außenseite lie-gende Zahnschmelz Apatitkristalle,die wesentlich größer sind als die inKnochen oder Zahnbein. Mit 98 bis99 Gewichtsprozent Apatit ist Zahn-schmelz das mineralreichste undhärteste Material im menschlichenKörper – und genau den gleichen,hohen Mineralanteil finden dieDresdner Forscher in ihrem künstlicherzeugten Komposit.

EINE SCHALE

AUS APATITNADELN

Interessant ist auch, dass sich umdie geschlossenen fraktalen Kugelnbald eine Schale bildet, die aus etwaparallel zueinander ausgerichtetenApatitnadeln besteht. Ihre Strukturgleicht der des Zahnschmelzes.„Auch dieses ,zweite Leben‘ ent-wickelt sich ohne das Zutun von Zel-len“, stellt Kniep fest. Geben die For-scher die Kugel-Schale-Komposite ineine Lösung, in der sich die minerali-sche Komponente langsam auflöst,beobachten sie ebenfalls Ähnlichkei-ten mit natürlichem Zahnmaterial.Denn zuerst löst sich der Kern derStruktur. Dabei entsteht eine Hohl-kugel, die immer dünner wird, bis siein sich zusammenbricht. Auch beiKaries löst sich zunächst das Zahn-bein. Es entsteht ein Hohlraum, bisder Zahnschmelz ebenfalls bricht.

Inzwischen haben die DresdnerWissenschaftler begonnen, auchKomposite aus Gelatine und Hy-droxy-Apatit zu züchten und zu un-tersuchen. Während diese Detailstu-dien vor allem der Grundlagenfor-schung dienen, sind die Forscherlängst dabei, ihre Apatit-Kompositezur Anwendungsreife zu entwickeln.„Unsere Komposite wachsen regel-recht mit dem Zahn zusammen“,schildert Kniep. Damit entsteht einenatürliche Verbindung zwischenZahn und Füllmaterial. Mitarbeiterder von Rüdiger Kniep und anderenForschern gegründeten Firma Sus-Tech arbeiten derzeit an den Details,um die neue Technik marktreif zumachen. Finanziell unterstützt wer-den sie dabei vom Bundesfor-schungsministerium, der Techni-

MATERIALwissenschaften

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ralen häufig vorkomme, und letztlichwohl auch dem „Tuning“ der Mate-rialeigenschaften diene.

Jedes Apatit-Gelatine-Komposit-partikel, das als Keim für die Han-telbildung dient, ist außerdem einpermanenter elektrischer Dipol. Ent-sprechend sind die hexagonal-pris-matischen Stäbchen von einem elek-trischen Feld umgeben. Dies scheintder Schlüssel für eine Erklärung desungewöhnlichen Wachstums zu sein.„Sobald ein Kompositkeim – und da-mit auch das elektrische Feld – großgenug ist, beginnt in der Lösung eineUmorientierung der Gelatinemole-küle, die selbst permanente Dipoledarstellen“, erklärt Kniep. Nach undnach richten sich die langen Gela-tinehelices in Richtung der elektri-schen Feldlinien aus; auf diese Weiseentstehen symmetrische Hanteln, diesich letztlich zu Kugeln schließen.

Eindeutig beweisen können dieDresdner Forscher dies alles zwarnoch nicht. Aber es gibt ein deut-liches Indiz dafür, dass ihre Theoriestimmt: Legen sie während ihrer Ex-perimente ein äußeres elektrischesFeld an, wird die fraktale Musterbil-dung unterdrückt. Außerdem reagiertKnochengewebe auf Zug und Druckmit Ladungstrennung. Und Ärzte ha-ben beobachtet, dass ein gebrochenesBein unter Umständen schneller heilt,wenn eine Manschette am Bein be-festigt wird, an der eine konstanteelektrische Spannung anliegt.

Aber was haben die unter Labor-bedingungen erzeugten Miniaturku-geln tatsächlich mit menschlichenKnochen oder Zähnen zu tun? „Ingesunden Knochen oder Zähnen las-sen sich keine kugelförmigen Apatit-Aggregate nachweisen – auch nichtin Haifischzähnen“, sagt RüdigerKniep. „Die chemische Analyse zeigtjedoch, dass das künstlich erzeugteKomposit genau gleich viel orga-nische Komponenten enthält wiemenschlicher Zahnschmelz.“ Wäh-rend das Zahnbein im Zahninnerenähnlich aufgebaut ist wie Knochen,

SCHWERpunkt

Die rasterelektronenmikroskopischen Aufnahmen zeigen oben links Fluorapatit-Gelatine-Komposit-Kugeln. Auf die geschlossene Kugel wächst eine Schale auf (oben rechts), die aus parallelzueinander orientierten Nadeln besteht (unten links). Unten rechts ist ein Schalenbruchstück zu sehen. Die Schalen sind relativ hart; ihre Struktur gleicht der des menschlichen Zahnschmelzes.

schen Universität Darmstadt unddem Chemiekonzern Henkel.

Ein anderes Konzept zur Erzeu-gung und Nutzung von Biominera-lien wird heute bereits medizinischgenutzt. Chirurgen greifen beispiels-weise schon seit einiger Zeit zu Knochenersatz aus Apatit – vor al-lem, wenn sie größere Knochen-defekte auffüllen müssen. Die Anfor-derungen an ein ideales Implantatsind hoch: Es muss ausreichendporös sein, sodass Knochen und Im-plantat zusammenwachsen können;es muss vom Körper ähnlich schnellakzeptiert werden wie natürlicherKnochen, der ständig auf- und abge-baut wird; und es muss ausreichendstabil sein, damit der behandelteKnochen nicht bei nächster Gelegen-heit bricht. Neben festem Knochen-ersatz gibt es außerdem Knochenze-mente, die Apatit enthalten. Der Chi-rurg verarbeitet sie als Paste, diedann im Körper aushärtet. Schließ-lich werden Implantate aus Metall(wie beispielsweise künstliche Hüft-gelenke) häufig mit Calciumphos-phat beschichtet. Letzteres wirkt wieein Klebstoff zwischen dem Knochenund dem Implantat – zwischen blan-

kem Metall und Knochen würde keine feste Verbindung entstehen. Durch die Erforschung der Biomi-neralisation von Calciumphosphatwollen Wissenschaftler aber nichtnur zur Entwicklung weiterer undbesserer Materialien für Knochen-und Zahnersatz beitragen. Vielmehrgeht es auch darum, die Ursachenhäufiger Zivilisationskrankheiten un-ter die Lupe zu nehmen, die immerdann auftreten, wenn Calciumphos-phat im Körper am „falschen“ Ortkristallisiert. So blockieren Ablage-rungen aus Apatit und Cholesterindie Blutgefäße und führen zu Arte-riosklerose, der häufigsten Todesur-sache bei Menschen in Industrielän-dern. Auch Blasensteine und Zahn-stein bestehen zum größten Teil ausApatit. Schließlich kommt es zurOsteoporose, wenn Knochen im Kör-per vermehrt abgebaut wird, ohnedass sich gleichzeitig neues Materialbildet, wie dies normalerweise derFall ist. Auch hier könnte die Erfor-schung der Biomineralisation vonknochen- und zahnähnlichen Mate-rialien in Zukunft neue Behand-lungsmöglichkeiten eröffnen.

UTE HÄNSLER

In einem 40 Grad Celsius heißen Wasserbad wird das Apatit-Gelatine-Komposit(weißes Produkt) von der über-schüssigen Gelatine getrennt.

Gereinigtes Apatit-Gelatine-Komposit.

Bänder aus Apatit-Gelatine-Komposit werden aus Gelatine-Pfropfenherausgeschnitten (oben und unten).

hen“, meint Kniep, „es ist dahergrundsätzlich nicht verwunderlich,dass wir es bei dem Apatit-Gelatine-System beobachten.“

Gegenwärtig untersuchen die For-scher die Ursachen, die zu dieser ArtWachstum führen. „Bemerkenswertist dabei unter anderem, dass weni-ger als drei Gewichtsprozent Gelati-ne ausreichen, um die ungewöhn-liche Musterbildung zu erreichen“,sagt Rüdiger Kniep. Weiter fandendie Wissenschaftler, dass die Struk-turen, die äußerlich wie Einkristalleaussehen, im klassischen Sinn keinesind. „Es handelt sich dabei vielmehrum eine kollektive Anordnung win-ziger Nanokristalle, die gemeinsamso tun, als wären sie ein Einkristall.“Dies sei ein Prinzip das bei Biomine-

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Das Bild oben zeigt einen Dünnschnitt etwa senkrechtdurch den Kompositkeim, aufgenommen durch ein Trans-missions-Elektronenmikroskop. Das Bruchverhalten lässt erkennen, dass es sich nicht um einen Einkristall handelt.Unten: Ein Ausschnitt der Feinstruktur zeigt eine „dich-test gepackte“ Anordnung von Apatit-Nanopartikeln.

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Styrol ist ein wichtiger Grund-stoff der chemischen Industrie,

der Baustein („Monomer“) des weitverbreiteten Kunststoffs Polystyrol.Daraus werden viele alltägliche Ge-brauchsartikel für den Haushalt ge-fertigt wie Kleiderbügel oder Wä-scheklammern ebenso wie Gehäusefür elektronische Geräte oder für Le-bensmittel geeignete Verpackungen.Weil Oberflächen aus reinem Poly-styrol außergewöhnlich glänzen,sind sie geeignet für Hüllen undScheiben von CDs. Unter dem Mar-kennamen „Styropor“ ist Polystyrolin aufgeschäumter Form außerdemals Material für Wärmedämmungoder wärmeisolierende Verpackun-gen bekannt.

Schätzungsweise 1500 Anlagen inaller Welt produzieren pro Jahr un-gefähr 25 Millionen Tonnen Styrolund erzielen damit rund 66 Milliar-den Euro Umsatz. Das geschiehtnach einem 60 Jahre alten Verfah-ren: durch Dehydrierung von Ethyl-benzol (C8H10) zu Styrol (C8H8) mit-hilfe eines aus Kalium- und Eisen-oxid bestehenden Katalysators. Da-bei werden der aus Erdöl stammen-den, flüssigen AusgangssubstanzEthylbenzol zwei Wasserstoffatomeentzogen.

Die industrielle Produktion vonStyrol – sie zählt zu den zehn wich-tigsten industriellen Chemieprozes-sen – erfordert einen besonders vielEnergie fressenden, „endothermen“und damit sehr teuren Aufwand. Ge-messen an dem eingesetzten Ethyl-benzol ist die neunfache Menge anüberhitztem, zwischen 580 und 650Grad Celsius heißem Wasserdampfnotwendig, damit die Reaktion zum

Laufen kommt. Dabei liefert derWasserdampf nicht nur die Wärme,um das Ethylbenzol auf Reakti-onstemperatur zu bringen. Er unter-drückt außerdem die in der Folgeeinsetzende, unerwünschte Entste-hung von Kohlenstoff (durch Poly-merisation von Styrol). Unerwünschtdeshalb, weil mit steigender Tem-peratur immer mehr Kohlenstoff-Nebenprodukte entstehen – schnellerals die Styrol-Ausbeute steigt. Siekleistern die Oberfläche des Kalium-Eisenoxid-Katalysators schließlich zu– sie „vergiften“ ihn – und machenihn damit unwirksam.

BISHER NUR VERMUTUNGEN

ÜBER ABLAUF DER REAKTION

Der Wasserdampf erfüllt dabei ge-meinsam mit dem Kalium-Bestand-teil (von etwa 10 Prozent) auf derOberfläche des Katalysators die Auf-gabe, die Kohlenstoff-Ablagerungendurch Vergasen wieder zu entfernen.Er sorgt somit für eine Selbstreini-gung des Eisenoxid-Katalysators.Zwar zeigt die Bruttoreaktionsglei-chung, dass der Wasserdampf ei-gentlich gar nicht gebraucht wird.Andererseits ist jedoch ohne Wasser-dampf beim herkömmlichen Prozessoffenbar kein stabiler Betrieb derStyrol-Synthese möglich. Dies warenjedenfalls bisher die Vermutungenüber den Ablauf der Reaktion. „Trotzenormer Entwicklungsanstrengun-gen konnten gravierende Nachteilewie die schwere Beherrschbarkeit derReaktion, das Energiemanagementund die Verringerung des Wasser-dampfzusatzes empirisch – durcheinfaches Probieren mit Versuch andIrrtum – nicht überwunden werden“,

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Dem tatsächlichen Reaktionsablauf der Styrol-Synthese sind Grundlagenforscher um PROF.

ROBERT SCHLÖGL am Berliner FRITZ-HABER-INSTITUT DER MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT

auf die Spur gekommen. Mit zum ersten Mal im Nano-Maßstab (millionstel Millimeter)

strukturierten Kohlenstoffmaterialien als Katalysator gelang es, die Ausbeute an Styrol um

mehr als 15 Prozent zu steigern – bei gleichzeitig um 150 Grad niedrigerer Betriebstemperatur.

sagt Robert Schlögl vom BerlinerFritz-Haber-Institut.

Das gilt nicht nur für die Styrol-Synthese: Zwar steuern Katalysa-toren 90 Prozent aller technischenchemischen Prozesse, und ohne bio-logische Katalysatoren (meistens En-zyme) ist kein Leben möglich. Den-noch hat „die Katalyse – trotz eineretwa hundertjährigen Entwicklungs-geschichte und dem Vorbild der Na-tur – bisher nicht den Stand einerbeherrschten Technologie erreicht“,macht Schlögl deutlich. „Und überdie Funktion des Katalysators aufatomarer Ebene ist in den meistenFällen gar nichts bekannt.“

Doch um die verwickelten Vorgän-ge zu erforschen, die bei der Katalyseablaufen, seien „extrem anspruchs-volle Untersuchungen“ notwendig.Am einfachsten wäre es, könnte mandie einzelnen Atome und Molekülein Echtzeit während der Reaktion se-hen – ein Wunschtraum. Solche Ein-

Nanozwiebeln würzen die Styrolchemie

Schema der herkömmlichen industriellen Styrol-Synthese:Beim Kontakt mit einem Katalysator aus Kalium-Eisenoxid(K2O-Fe2O3) entsteht bei 1 Bar Druck und neunfachemÜberschuss auf 580 bis 650 Grad Celsius Temperatur über-hitztem Wasserdampf (H2O/EB = 9/1) aus Ethylbenzol (EB,links) Styrol (rechts) und Wasserstoff (H2). Die Grundlagen-forscher des Fritz-Haber-Instituts haben jetzt Wege gefun-den, diesen besonders viel Energie fressenden und damitsehr teuren Prozess entscheidend zu verbessern.

Sauerstoff (O2), der mithilfe von einem aus Kohlenstoff-Nanozwiebeln (schematisch als gelbe Struktur dargestellt) bestehenden Katalysator aktiviert wird, eröffnet einen neuen,Ernergie sparenden Weg, um aus Ethylbenzol (links) Styrol (rechts) herzustellen.

DER TECHNISCHE PROZESS

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Durchbruch gelungen ist: Die For-scher schafften „das Puzzle aus denunterschiedlichsten Einzeluntersu-chungen bei der Styrol-Synthese zueinem widerspruchsfreien Ablaufvon Elementarschritten zusammen-zufügen – ein Ablauf, der sich auffunktionales Wissen und nicht nurauf empirische Fakten stützen kann“,wie Schlögl erläutert. Dazu haben alle Abteilungen des Fritz-Haber-Instituts mit ihren Spezialisten fürPhysikalische Chemie, Festkörper-physik, Oberflächenchemie, Festkör-perchemie und Chemische Reakti-onstechnik Beiträge geliefert. „Dievöllig unerwartete Schlussfolgerungdaraus ist, dass die bisherigen Ergeb-nisse zur Aufklärung der Styrol-Syn-these eine total neue Vorstellungüber den Reaktionsverlauf und dieFunktion des Katalysators gebrachthaben. Künftig wird die energiein-tensive Beigabe von Wasserdampfüberflüssig“, sagt Schlögl.

Die wichtigste Erkenntnis aus Ex-perimenten unter anderem in einemModellreaktor mit 0,5 Quadratzenti-

metern Kontaktfläche: Die uner-wünschten Kohlenstoff-Ablagerun-gen auf dem Kalium-Eisenoxid-Kata-lysator – und nur sie allein – erzeu-gen die „katalytisch aktive Phase“,mit der das Ethylbenzol zu Styrolumgesetzt wird. Schlögl: „Dieser Be-fund steht im krassen Widerspruchzur Auffassung der deaktivierendenWirkung von Kohlenstoff. Doch hochauflösende Aufnahmen mit demElektronenmikroskop belegen, dassauch der technische Katalysator imaktiven Zustand von einer dünnenSchicht aus Kohlenstoff umhüllt ist.“

VERWANDLUNG DER

KATALYSATOR-OBERFLÄCHE

Das erklärt auch die Tatsache, wes-halb die industrielle Styrol-Syntheseerst nach einigen Stunden zum Lau-fen kommt: An Modellsystemen wie-sen die Max-Planck-Forscher nach,dass sich die ursprüngliche Ober-fläche des Katalysators aus Kalium-Eisenoxid zunächst strukturell undchemisch massiv umwandelt. Dieatomare Ordnung wird so stark ver-

ändert, dass „die Bezeichnung Bau-fehler unangebracht ist und man vonneuen, unbekannten Strukturen aus-gehen muss“, stellt Schlögl fest. DieOberfläche ist jetzt „enorm aufge-raut“ und von vielen Defekten durch-setzt. Erst damit ist der Boden für dieStyrol-Katalyse bereitet. Zwar findetwährend dieser „Aktivierungsperi-ode“ nur ein minimaler chemischerUmsatz statt. Doch der lenkt den wei-teren Verlauf der nachfolgenden Re-aktionen entscheidend: Das Kaliumpolymerisiert einen Teil des ProduktsStyrol und überzieht so die Ober-fläche des Katalysators mit einemdünnen Film aus Kohlenstoff – aller-dings in einer besonderen, wohlge-ordneten Form: als Graphit. Seine supramolekularen Baueinheiten mitgleichmäßig-sechseckiger Struktursind exakt parallel zur Oberflächeausgerichtet. Diese Graphitschichtähnelt einer hauchdünnen Platte ausBienenwachs mit Wabenmuster.

Jedoch schon nach wenigen Lagenist es mit der Ordnung vorbei: Ohnedie dirigierende Wirkung der Ober-

MATERIALwissenschaften

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sichten lässt die ungestüme Naturder Katalyse nicht zu. Denn sie be-schleunigt wie im Zeitraffer nichtnur die Geschwindigkeit einer che-mischen Reaktion, sondern verändertauch deren Weg.

Grundsätzlich werden bei der hete-rogenen Katalyse – bei der sich dieflüssigen oder gasförmigen Reaktions-teilnehmer an einem festen Katalysa-tor umsetzen – chemische Bindungengelöst und neue geschaffen. Das ge-schieht ausschließlich an der Ober-fläche oder präziser an den Grenz-flächen. Hier endet der regelmäßigeAufbau eines festen Körpers abrupt:Den Atomen an den Rändern stehenkeine Partner mehr gegenüber, vieleBindungen bleiben deshalb offen.

Genau in diesem Bereich findet dieKatalyse statt. Sie beginnt, wenn die äußeren Atome der Grenzschichtversuchen, ihre freien Bindungen zuschließen. Weil die Oberfläche imNahbereich elektronisch immer un-gesättigt ist, werden umherschwir-rende Moleküle – vorausgesetzt, siesind richtig orientiert – in die Nähedes Katalysators gezogen und lo-cker angelagert („adsorbiert“). Dochschon in diesem schwachen Kraftfeldverformen sich die Elektronenhüllender Atome, aus denen die adsorbier-

ten Moleküle zusammengesetzt sind.Bei weiterer Annäherung an dieOberfläche kommt es zu noch ausge-prägteren gegenseitigen Veränderun-gen der elektronischen Ladungsver-teilung. Der Energiefluss zwischenMolekülen und Oberfläche verstärktsich. Dadurch kann sich die Adsorp-tion zur stabileren Chemisorptionverfestigen. Zeitweise wandern jetztElektronen in den Katalysator hineinoder aus ihm heraus.

Dieser Austausch von Elektronenhat häufig dramatische Folgen: Dieinneren Bindungen einzelner, „che-misorbiert“ an der Oberfläche haf-tender Moleküle können nun aufbre-chen. Zweiatomige Gasmoleküle wieWasserstoff oder Sauerstoff werdenso in zwei Einzelatome gespalten(„dissoziiert“) und sind in diesematomaren Zustand besonders „heiß“:Sie starten oft ungewöhnliche Reak-tionen, gelegentlich sogar mit exoti-schen, sonst nicht existenzfähigenVerbindungen.

So entstehen meistens instabile,rasch weiterreagierende Übergangs-produkte – Kaskaden von manchmalgleichzeitig ablaufenden chemischenProzessen oft in extrem schnellen,nur Pikosekunden (billionstel Sekun-den) dauernden Zwischenschritten,ehe am Schluss das fertige Produktsich von der Oberfläche löst („desor-biert“) und danach der nur in gerin-gen Mengen eingesetzte Katalysatorunverändert wieder erscheint. Er hatseine Wirkung getan und die für den Beginn der Reaktion notwendigeAktivierungsenergie entscheidendherabgesetzt: Ein neuer katalytischerZyklus kann beginnen.

ECKEN UND KANTEN

SIND BESONDERS WIRKSAM

Vorgänge an der Oberfläche be-stimmen also die Wirksamkeit einesKatalysators. Deshalb spielt seinegeometrische, mechanische und ther-mische Mikrostruktur, etwa die Ab-stände der Atome im Kristallgitteroder seine Porosität, eine wichtigeRolle. Schon bei der Adsorption und

dann während der Reaktionen wirddie Oberfläche des Katalysators zeit-weilig immer wieder verändert. ImAllgemeinen ist jedoch nicht seinegesamte Fläche, sondern es sind nurwenige, eng begrenzte Bereiche anden chemischen Umsetzungen betei-ligt: Solche „aktiven Zentren“ be-decken oft nur 1 Prozent der Ober-fläche; Kanten, Ecken und Spitzenerweisen sich dabei als katalytischbesonders wirksam.

Den Anstrengungen der Forscher,zumindest einzelne Einblicke in diedynamisch ablaufenden, verwirrendvielfältigen Vorgänge der Katalysezu bekommen, stellen sich von denWissenschaftlern „Lücken“ genannteHindernisse entgegen und zwar beimMaterial, der Temperatur und demDruck. Diese „Lücken“ kennzeichnendabei die gravierenden Unterschiedezwischen modellhaften Experimen-ten und der Realität – den tatsächli-chen Zuständen der Atome und Mo-leküle während der katalytischenUmsetzungen. Beispielsweise versu-chen die Grundlagenforscher, in ein-kristallinen (perfekt mit genau defi-niertem Aufbau geordneten) Materi-alproben einzelne Zwischenproduktebei tiefer Temperatur „einzufrieren“und somit dingfest zu machen. An-dererseits ist die genaue Analyse vonOberflächen nur im Ultrahochvaku-um, bei etwa einem Zehnbillionsteldes Atmosphärendrucks möglich.Unter normalen Bedingungen, beidenen der Katalysator eigentlich ar-beitet, würde sich seine Oberflächeinnerhalb von nur einer MilliardstelSekunde vollständig mit Gasmo-lekülen bedecken und keinen einzi-gen Platz mehr für die Adsorptionfreilassen. Weitere Schwierigkeit:Häufig lässt sich derselbe Vorgangbei der Katalyse auf verschiedeneWeise deuten.

Modernste oberflächenphysikali-sche Analyseverfahren und abertau-sende diffiziler Experimente warendeshalb notwendig, ehe den Max-Planck-Wissenschaftlern nach 15Jahren mühseliger Kleinstarbeit ein

SCHWERpunkt

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Schematische Darstellung der vielfältigen Prozesse, die bei der in-dustriellen Styrol-Synthese auf der Oberfläche des Katalysators ausKalium-Eisenoxid ablaufen („K“ bezeichnet mobiles Kalium, „W“ die Wasserspaltfunktion): Aus dem Katalysatorvorläufer KxFe22O34scheidet sich während der einige Stunden dauernden „Aktivierungs-periode“ der bisher vermutete Katalysator KFeO2 sowie eine Kali-umverbindung ab. Diese dann stark basische Oberfläche ist in derLage, Ethylbenzol (EB) zu Styrol (Sty) durch Dehydrieren – Abspal-ten von zwei Wasserstoffatomen – zu synthetisieren.Auf der basischen Oxidoberfläche wird allerdings auch ein Teil desStyrols polymerisiert und weiter dehydriert, sodass schließlich gra-phitische Strukturen entstehen (in der Grafik durch kurze schwarzeStriche gekennzeichnet). Die Forscher des Fritz-Haber-Instituts haben jetzt nachgewiesen, dass diese geordneten, graphitischen Ab-lagerungen des Kohlenstoffs auf der Oberfläche als die eigentlichkatalytisch aktive Zone bei der Sty-rol-Synthese wirksam sind. Schlech-ter kristallisierter Kohlenstoff, sogenannter Soft Coke oder Ruß, derkatalytisch inaktiv ist und den Kata-lysator schnell „vergiften“ würde, wird von Wasserdampf zersetzt (H2O➞CO2 + H2). Dadurch wird diekatalytisch aktive Graphitoberflächestets gereinigt und – weil der Was-serdampf auch immer einen Teil der KFeO2-Oberfläche „freiputzt“ –können sich kontinuierlich neueGraphitschichten bilden. Diese

Selbstreinigungsprozesse schützen den Katalysator demnach nichtnur vor dem „Vergiften“, sondern schaffen auch die Flächen, aufdenen der tatsächlich wirksame Katalysator (exakt geordneter Koh-lenstoff) ständig neu entstehen kann. Aus diesen Gründen bleibt der bei der kommerziellen Styrol-Synthese verwendete Katalysatorjahrelang aktiv.Die Wissenschaftler um Prof. Robert Schlögl haben außerdem denweiteren Ablauf des Geschehens enträtselt. An den geordneten,graphitischen Kohlenstoffoberflächen spaltet sich molekularer Sau-erstoff (O2) zu Sauerstoff-Atomen (O). Diese extrem reaktive Formdes Gases wandert zu den Stufenkanten der Kohlenstoffoberfläche:Das sind offenbar die eigentlich aktiven Zentren des Katalysators,an denen sich die Moleküle des Ethylbenzols anlagern und zu Styrolumgesetzt werden.Weil der Sauerstoff entweder aus dem Wasserdampf stammt

(H2O➞H2 + O über „W“) oder aber –auf einem neuen Weg der Reaktion –auch aus der Luft aktiviert werdenkann, ist die Styrol-Synthese künftigohne den energieintensiven Zusatz vonWasserdampf möglich. Die aus der Aus-gangssubstanz Ethylbenzol zu entfer-nenden zwei Wasserstoffatome könnenbei dieser Oxidehydrierung in Form vonWasser abgeschieden werden. Da dieserProzess exotherm verläuft, also Wärmefreigesetzt wird, kann so die Styrol-Synthese entscheidend verbessert werden. EUGEN HINTSCHES

Die neue Styrol-Synthese

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Erkannt haben die Wissenschaftler am Fritz-Haber-Institutdie bei der Styrol-Synthese tatsächlich wirksame „katalyti-sche Phase“. Es ist der bisher als „unerwünscht“ geltendeKohlenstoff (C), wie die mit einem Transmissions-Elektronen-mikroskop (TEM) gemachte mikrografische Aufnahme im Na-nometer-Maßstab (millionstel Millimeter) zeigt: Ein Eisen-teilchen (Fe2O3) an der Oberfläche des Katalysators ist voll-ständig von einem dünnen Film aus Kohlenstoff eingehüllt.

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fläche bildet sich dort aus dem Sty-rol-Polymer amorpher, ungeordneter,in alle Richtungen zufällig verteilterRuß. Der aber, auch das haben dieUntersuchungen der Grundlagenfor-scher des Fritz-Haber-Instituts be-stätigt, „vergiftet“ den Katalysatorund macht ihn unwirksam. „Hierzeigt sich die Ambivalenz des Ele-ments Kohlenstoff besonders deut-lich“, erklärt Schlögl. „Wenn derKohlenstoff hoch geordnet ist, trägter einerseits die katalytische Akti-vität, bewirkt aber andererseits auchals ungeordneter Ruß deren Vernich-tung, weil er den Zugang zu den ka-talytisch aktiven Zentren verhindert.“

Bei ihren Reihenuntersuchungenerlebten die Max-Planck-Wissen-schaftler eine weitere Überraschung:Der geordnete, graphitische Kohlen-stoff bleibt unter den harten Bedin-gungen der Styrol-Synthese bei im-merhin 650 Grad Hitze stabil undaktiv, sogar auch dann noch, wennman dem Reaktionsgemisch Sauer-stoff oder einen Überschuss an Was-ser zusetzt. An der mangelnden ther-mischen Stabilität waren in der Ver-gangenheit alle Versuche immer wie-der gescheitert, herkömmliche, alskatalytisch aktiv bekannte Formatio-nen des Kohlenstoffs zu nutzen.Überhaupt hat es der Katalysatordieser „korrekten“ Mikrostruktur derKohlenstoffschicht zu verdanken,dass er bei Reaktionstemperaturüberleben kann: Ohne den Graphit-Schutzfilm würde das Kalium-Eisen-oxid in Sekundenschnelle durch Ver-gasen zersetzt – genau wie das mitdem schlecht geordneten Ruß ge-schieht.

Aus diesen in Katalyse-Experi-menten unter industriellen Bedin-gungen nachgewiesenen Ergebnissenfolgern die Forscher: Der bisher beider kommerziellen Styrol-Syntheseeingesetzte Kalium-Eisenoxid-Kata-lysator wirkt lediglich als Vorläufer,als „Ko-Katalysator“. Er wird offen-bar nur dazu gebraucht, um die„richtige“ Form des Kohlenstoffsherzustellen. Wobei die katalytisch

wirksame Oberfläche aus graphiti-schem Kohlenstoff erst während derUmsetzung aus den Reaktionsteil-nehmern entsteht – und deshalbauch auf anderem Weg erzeugt wer-den kann: beispielsweise durch ge-krümmt geordneten Kohlenstoff.

GROSSE FAMILIE NEUER

KOHLENSTOFFMOLEKÜLE

Der steht den Forschern seit derEntdeckung der so genannten Fulle-rene im Jahr 1985 zur Verfügung.1990 gelang es Prof. WolfgangKrätschmer am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik, sol-che ultrakleinen Kohlenstoffkäfigeauch in größeren Mengen herzustel-len. Neben Graphit und Diamant,den klassischen Erscheinungsformendes reinen Kohlenstoffs, gibt es mitden Fullerenen inzwischen einegroße Familie dieser neuartigen Koh-lenstoffmoleküle. Ihr gemeinsamesMerkmal: Sie sind aus einer jeweilsgeraden Anzahl von Kohlenstoffato-men aufgebaut, die sich zu fünf-oder sechsgliedrigen Ringen zusam-menschließen (wobei jedes Atom mitdrei weiteren Kohlenstoffatomen ab-wechselnd über eine Doppel- undzwei Einfachbindungen miteinanderverknüpft ist). Diese dreidimensiona-len, festen, in sich geschlossenenNetzwerke sind nur millionstel Milli-meter (Nanometer) klein und damit10 000fach dünner als der Durch-messer eines menschlichen Haares.

Mittlerweile lassen sich solchewinzigen Gebilde aus Kohlenstoff alsNanoröhren, Nanokugeln, Nanobün-del, aber auch in Form von Nano-zwiebeln synthetisieren. GleichenNanoröhrchen mit ihrer einheitli-chen, graphitischen Sechseckstrukturaufgerollten „Tunneln“ aus Bienen-waben, ähneln Nanozwiebeln eherrussischen Babuschka-Puppen: ImKern sitzt ein Kohlenstoff-Fulleren,um das sich – wie die Schalen einerZwiebel – weitere Kohlenstoffkugelngruppieren.

Diese ineinander verschachteltenNanostrukturen haben faszinierende

MATERIALwissenschaften

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SCHWERpunkt

Es war ein Oberfranke, der als Erster das Phänomen der Katalyse technisch nutzbar gemacht hat – in Form eines Feuerzeugs, das keinen Zündfunken braucht. Der in Hof an derSaale geborene Johann Wolfgang Döbereiner (1780 bis 1849)entdeckte, dass sich das Gas Wasserstoff mit dem Sauerstoffder Luft „von selbst“ entzündet, wenn es über fein verteiltes,metallisches Platin strömt.Zwar war damals schon bekannt, dass Wasserstoff bei Zim-mertemperatur ein reaktionsträges Gas ist. Erst bei kräftigerZufuhr von Energie, etwa durch einen Zündfunken, verbindetsich Wasserstoff mit dem Luftsauerstoff zu Wasser, dann allerdings besonders lebhaft in der Knallgasreaktion.War Döbereiner in jener Zeit auf den schon im Mittelalter ge-suchten „Stein der Weisen“ gestoßen, jenen geheimnisvollendritten Stoff, der zwar kein unedles Metall in Gold umwan-delte, jedoch allein schon durch seine Anwesenheit Wasser-stoff sanft entflammte, ohne dabei – auch das erkannte Döbereiner – selbst verbraucht oder verändert zu werden?Diese „Feuer erregende Tätigkeit des mit Knallgas in Berüh-rung gesetzten Platins brachte mich auf den Gedanken, dieselbe zur Darstellung einer neuen Art von Feuerzeugen,Nachtlampen u.s.w. zu benutzen". Das berichtet Döbereiner im Jahr 1823 in seiner Arbeit „Über neu entdeckte höchstmerkwürdige Eigenschaften des Platins". Ende 1810 war der oberfränkische Autodidakt als außeror-dentlicher Professor für Chemie an die Universität Jena beru-fen worden. Ein Exemplar des von ihm erfundenen Feuerzeugsschenkt er seinem Mentor Johann Wolfgang von Goethe. Dieser, Minister für Kulturangelegenheiten am großherzog-lichen Hof in Sachsen-Weimar, bedankt sich in einem Briefvom 7. Oktober 1826 dafür: „... da Ihr so glücklich erfunde-nes Feuerzeug mir täglich zur Hand steht und mir der ent-deckte so wichtige Versuch von so tatkräftiger Verbindungzweierlei Elemente ... immerfort auf eine wundersame Weisenützlich wird ...“ Döbereiner antwortet darauf: „Meine Platinfeuerzeuge wer-den immer beliebter. Gegen 20 000 derselben sind bereitsteils in Deutschland teils in England im Gebrauch.“ Zwar hielten diese – wegen des Platins – recht teuren Gerätemeistens nicht lange, weil das Metall durch Verunrei-nigungen im Wasserstoff schnell verschmutzte, ge-legentlich explodierten sie sogar. Dennoch war dasals „fortschrittlich“ geltende „DöbereinerscheFeuerzeug“ besonders bei der adeligen Gesell-schaft sehr beliebt und verschaffte seinem Erfindereinen Platz in der Weltgeschichte der Naturwissen-schaften. Insgesamt mehr als eine Million Exemplarein den unterschiedlichen Versionen wurden in denzwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts davon ver-kauft.Erklären konnte Döbereiner den Mechanismus„seines“ Tischfeuerzeugs allerdings nicht. Er ver-mutete „Berührungswirkungen“ dahinter. DenProzess aufzuklären gelang dem schwedischenChemiker Jöns Jacob Berzelius (1779 bis 1848).Für solche Vorgänge führte er 1835/36 nicht nurden Begriff „Katalysis“ ein (griechisch katalyein:auslösen, losbinden), sondern lieferte auch dieerste Definition: „Die katalytische Kraft scheinteigentlich darin zu bestehen, dass Körper durchihre bloße Gegenwart – und nicht durch ihre

Verwandtschaft – die bei dieser Temperatur sonst nur schlum-mernden Reaktionseigenschaften zu erwecken vermögen ..."Die bis heute noch gültige, „moderne“ Erklärung stammt vondem deutschen Chemiker Wilhelm Ostwald (1853 bis 1932) –für diese Definition und seine Arbeiten zur Katalyse erhielt er1909 den Nobelpreis: „Ein Katalysator ist ein Stoff, der dieGeschwindigkeit einer chemischen Reaktion erhöht, ohneselbst dabei verbraucht zu werden und ohne die endgültigeLage des thermodynamischen Gleichgewichts dieser Reaktionzu verändern."Katalysatoren schaffen es, die Aktivierungsenergie – also jenen Energiebetrag, der notwendig ist, um eine chemischeReaktion einzuleiten – auf ein Minimum zu verringern. Dasführt dazu, dass bereits bei geringer Energiezufuhr die Reakti-on starten kann. Dazu müssen Katalysatoren allerdings massivin das Reaktionsgeschehen eingreifen. (Das steht im Wider-spruch zur „Berzeliusschen Definition": Sie besagt, dass Kata-lysatoren allein „durch ihre bloße Gegenwart“ wirken und le-diglich die Energie, die „katalytische Kraft", liefern, damit dieReaktion ablaufen kann – jedoch selbst an der Umsetzungder Stoffe nicht teilnehmen.) „Nicht Stoffe katalysieren, son-dern Reaktionen katalysieren", stellte der amerikanische Bio-chemiker John Jacob Abel (1857 bis 1938) im Jahr 1913 fest.Der Katalysator sorgt nämlich dafür, dass die chemische Reaktion einen alternativen Weg einschlägt – einen Weg, der aus mehreren Teilschritten besteht. Dabei werden zu-nächst die chemischen Bindungen in den jeweiligen Systemen„gelockert“ oder teilweise sogar aufgehoben und in einenÜbergangszustand, so genannte aktivierte Zwischenstufen,versetzt. Für jeden dieser Teilschritte ist eine geringere Akti-vierungsenergie erforderlich als wenn die Reaktion in einemeinzigen Schritt erfolgt. Das ist der Grund, weshalb die chemi-sche Reaktion energetisch günstiger und somit schneller ab-laufen kann.Die höhere Geschwindigkeit beim Umsetzen der Stoffe wie-derum führt dazu, dass sich das Gleichgewicht der Reaktionrascher einstellt. Die endgültige Lage des thermodynamischenGleichgewichts hingegen können auch Katalysatoren nicht

verändern, das bedeutet: Eine chemische Reaktion mussprinzipiell energetisch – „thermodynamisch“ – möglich sein.

Ein Katalysator kann also keine chemischen Gleichgewichteverschieben, er stellt sie nur schneller ein.

Hinsichtlich ihrer Arbeitsweise, nicht aber ihrer Wir-kung werden grundsätzlich drei Typen von Katalysatoren

unterschieden: Bei der homogenen Katalyse arbeiten alle beteiligten Stoffe im selben, beispielsweise flüssigenAggregatszustand. Bei der heterogenen Katalyse, etwa in den Katalysatoren von Kraftfahrzeugen, finden die Re-aktionen zur Entgiftung der gasförmigen Schadstoffe anfesten Oberflächen statt. Die wohl wichtigste Klasse sind die Biokatalysatoren. Sie steuern vor allem mithilfe

von Enzymen alle Vorgänge in unserem Körper, ohne siewäre kein Leben möglich. Alle drei Arten von Katalysatoren haben eine Gemeinsamkeit: Kleine Dosierungen erzielen – im Vergleich zu den umgesetzten Stoffmengen –große Wirkungen. Deshalb gilt die Katalyse, so Prof. Wolfgang A. Herrmann von der TechnischenUniversität München, „als intelligentestes Werkzeugfür die Gestaltung der stofflichen Welt".

EUGEN HINTSCHES

Katalytische Kraft

Eigenschaften: Wegen ihrer Krüm-mung stehen sie unter mechanischerSpannung und sind deshalb che-misch besonders reaktiv. Außerdembieten sie im Vergleich zum ebenen(planaren) Graphit eine wesentlichgrößere Zahl von Plätzen zum „An-docken“ anderer Atome oder Mo-lekülfragmente an die Kohlenstoff-atome und damit viele Möglichkei-ten, chemische Bindungen zu knüp-fen. Zudem können die Kohlenstoff-kugeln in einem umkehrbaren Pro-zess sowohl Elektronen aufnehmenund so elektrisch negative Kohlen-stoffionen erzeugen, ebenso aberauch Elektronen abgeben. Schon allein durch das Einstrahlen vonLicht sind Kohlenstoffzwiebeln inder Lage, beispielsweise so genann-ten Singlett-Sauerstoff zu produzie-ren: eine energetisch angeregte und

Stufenkanten auf der Oberfläche von Kohlenstoff-Nanoröhrchen: Solche Ober-flächendefekte sind als katalytische Sauerstoff-Zentren bei der Styrol-Synthesebesonders wirksam.

Nanozwiebel, aufgenommen mit einemTransmissions-Elektronenmikroskop (TEM):Die ineinander geschachtelten, graphi-tischen Kohlenstoff-Schichten zeichnensich deutlich als dunkle Linien ab.

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extrem reaktive Form dieses Gases.Genau das sind die „heißen Antrei-ber“, die katalytische Umsetzungenin Schwung bringen.

Bei ihren Untersuchungen fandendie Grundlagenforscher des Fritz-Haber-Instituts heraus: „Die Kohlen-stoff-Nanozwiebeln oder Nanoröhr-chen erzielen mit Styrol-Ausbeutenvon mehr als 60 Prozent nicht nurdeutlich bessere Ergebnisse als dieheute angewendeten Kalium-Eisen-oxid-Katalysatoren, sie sind auch allen anderen Kohlenstoff-Modifi-kationen überlegen“, sagt Schlögl.Und: „Dieser völlig neue Katalysatorerlaubt die Führung der Reaktionunter Zusatz von Luft anstelle vonWasser.“ Damit eröffnen die Nano-zwiebeln oder Nanoröhrchen einenvöllig neuen Reaktionsweg für die

Styrol-Synthese. Die zwei aus derAusgangssubstanz Ethylbenzol zuentfernenden Wasserstoff-Atomekönnen jetzt mithilfe des Sauerstoffsaus der Luft in Form von Wasser ab-geschieden werden. Diese „Oxide-hydrierung“ verläuft exotherm, eswird also Wärme freigesetzt. „Da-durch kann der wegen thermodyna-mischer Gesetzmäßigkeiten begrenz-te Umsatz bei der herkömmlichenStyrol-Synthese ebenso überwundenwerden wie die energieintensive Bei-gabe von Wasserdampf überflüssigwird“, versichert Schlögl. „Es konntegezeigt werden, dass etwa 60 Pro-zent Ausbeute an Styrol auf einemTemperaturniveau von 150 Grad un-terhalb der gegenwärtigen Praxisohne Einbußen an Selektivität – et-wa aufgrund von Verlusten durch die

Verbrennung von Ethylbenzol zuKohlendioxid – über eine Laufzeitvon 800 Stunden erzielbar ist.“

Das ist vor allem der thermischenStabilität der Nanozwiebeln oderNanoröhrchen zu verdanken, wie dieMax-Planck-Forscher bei ihren Mo-dell-Experimenten nachgewiesen ha-ben. Beim Katalyseprozess reagiertaktiver Sauerstoff offenbar zeitweisean der Oberfläche des Nano-Kohlen-stoffs und löst damit nichtgraphiti-sche, nichtkatalytische Kohlenstoff-strukturen allmählich auf. Schlöglerläutert: „Sauerstoffzentren an denStufenkanten der stabilen, graphiti-schen Schichten scheinen jedoch dieeigentlich aktiven Zentren des Kata-lysators zu sein.“

Eine weitere Hürde haben die Wis-senschaftler mittlerweile überwun-

SCHWERpunkt

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den. Die Herstellung von Kohlenstoff-Nanostrukturen, wie zum Beispiel Nano-zwiebeln, war bisher nur in kleinstenMengen aus feinstverteiltem Diamant-pulver möglich und dementsprechendkostspielig. Inzwischen sind laut Schlöglzumindest „die Grundzüge eines preis-günstigen Verfahrens bekannt, das denWeg zu großen Mengen von Nano-Koh-lenstoffen mit hervorragenden katalyti-schen Eigenschaften ebnet.“ Damit seiendie Grundlagen gelegt, einen neuen Pro-zess für die Styrol-Synthese zu ent-wickeln. Dieser soll einfachere und klei-nere Reaktoren ermöglichen sowie einevereinfachte Lösung der Probleme desEnergietransports liefern: „Jetzt beginntder Übergang von der Grundlagenfor-schung zur technischen Anwendung.“

FIRMA FORSCHT

AN NEUEN VERFAHREN

Die noch ausstehenden „erheblichenAufgaben“ soll die Münchner Entwick-lungsfirma NanoScape AG lösen, die vonProf. Thomas Bein vom Center for Na-noscience der Ludwig-Maximilians-Uni-versität (LMU) im Winter 2001 gegründetwurde. Ihr wird das Fritz-Haber-Institutder Max-Planck-Gesellschaft sein ge-samtes Know-how zur Verfügung stellensowie die Patentrechte für den Katalysa-tor und ein weiteres Schutzrecht zur Herstellung von besonderen nanostruk-turierten Kohlenstoffen. Außerdem wirddas Fritz-Haber-Institut die Entwick-lungsfirma mit oberflächenphysikali-schen Messungen bei der Optimierungder neuen nanostrukturierten Kohlen-stoff-Katalysatoren unterstützen. DasZiel: eine neue technische Styrol-Synthe-se zu entwickeln und weitere, von Nano-Kohlenstoffen gesteuerte Katalyseverfah-ren zu erforschen. Die insgesamt sechsMitarbeiter der Firma mit langjährigeninternationalen Erfahrungen bei der Ent-wicklung, Charakterisierung und Erpro-bung von Katalysatoren haben inzwi-schen eigene Büro- und Laborräume inMünchen bezogen. Der Vertrag der Gar-ching Innovation GmbH, der Patentver-wertungsstelle der Max-Planck-Gesell-schaft, mit der NanoScape AG ist jetztunterschriftsreif. EUGEN HINTSCHES

Ein Katalysator ist ein Heiratsvermittler – jedenfalls ver-wenden die Chinesen das gleiche Schriftzeichen für die aufden ersten Blick so unterschiedlichen Begriffe. Tatsächlichkommt einem Katalysator die Rolle eines Vermittlers zwi-schen zwei Partnern zu, die ohne dessen Anwesenheit sichnur langsam oder auch gar nicht miteinander verbinden würden. Bei einer chemischen Reaktion werden nämlich in der Regel zweiAusgangsverbindungen in ein Produkt umgewandelt. Hierfür musseine Barriere überwunden werden, vergleichbar mit einem Berg, der zwischen Start (Ausgangsverbindungen) und Ziel (Produkt) liegt und auf verschiedenen, unterschiedlich beschwerlichen Wegenüberschritten werden kann. Durch einen Katalysator wird ein Reaktionspfad eröffnet, der be-sonders leicht zu begehen ist. Es kommt so zu einer Beschleunigungder Reaktion, oder die Reaktion kommt dadurch überhaupt erst inGang. Keinesfalls kann jedoch ein Katalysator die Lage des Start-und Zielpunkts und damit die Triebkraft Energiegewinn einer Reak-tion verändern. Moleküle sind konsequenter als Menschen: EineVerbindung zwischen zwei Partnern, die aus energetischen Gründenungünstig ist, kann auch durch den besten Katalysator nicht ange-trieben werden. Auch wenn das Konzept der Katalyse erst im vorigen Jahrhundertdurch den Menschen erkannt worden ist (siehe auchKasten „Katalytische Kraft“), nutzt die Natur seit Urzeiten – über Jahrmillionendurch geduldiges Ausprobieren imRahmen der Evolution herausge-fundene – Katalysatoren in Form vonEnzymen meisterhaft: Leben ohneKatalyse wäre nicht denkbar! Be-sonders beeindruckend sind die Re-aktionsgeschwindigkeiten von Enzymen,die mit bis zu 10 Millionen Zyklen pro Sekunde die durch den Menschen geschaffenen Kataly-satoren wie lahme Enten erscheinen lassen.Behalten wir das Bild des Heiratsvermittlers im Gedächtnis: Ein Katalysator nimmt an einerchemischen Reaktion zwar teil, wird aber dabei

nicht verbraucht. Somit sollte ein Katalysator einunverwüstliches Arbeitsvehikel sein, das seine Auf-gaben ohne Verschleiß und Entstehung von Abfäl-len erfüllt – leider ist dies nur theoretisch der Fall. Ein Katalysator leistet Schwerstarbeit, um eine

erfolgreiche Reaktion zu ermöglichen: Er aktiviert und arrangiertdie Partner in einem geeigneten Abstand zueinander, sodass sie sichverbinden können. Nach erfolgreicher Arbeit – wenn ein Reaktions-zyklus abgeschlossen ist – ist er wieder frei und beginnt sofort aufsNeue, an einer Liaison zwischen zwei neuen Partnern zu arbeiten. Wie viele Reaktionszyklen absolut (man spricht von Wechsel- oderTurnover-Zahlen) und wie viele Reaktionszyklen pro Zeit (manspricht von Wechsel- oder Turnover-Frequenzen) ein Katalysatorleisten kann, bestimmt seine Wirksamkeit. Mit der Zeit ermüdet einKatalysator, insbesondere dadurch, dass er seinerseits dem Charmeeines Reaktionspartners nicht widerstehen kann und sich mit Letzte-rem verbindet: Von nun steht er nicht mehr als Vermittler zur Ver-fügung. Anders als in Literatur und Film fasst der Chemiker diesenVorgang keineswegs als Happy End auf: Man sagt, der Katalysator sei vergiftet! Trotzdem ist der Einsatz von Katalysatoren aus ökologischen undökonomischen Gründen prinzipiell außerordentlich attraktiv. Redu-zierung von Abfall und Energieverbrauch sowie Schonung der Res-sourcen bei chemischen Prozessen sind die wesentlichen Vorteile,

die das Streben nach Verbesserung und Neu-entwicklung von Katalysatoren verständlichmachen. Die Forschung auf diesem Gebiet

dürfte damit noch lange Zeit zu den aktu-ellsten und am intensivsten betriebenenThemen in der Chemie gehören.

DR. PETER KREITMEIER UND PROF. OLIVER REISER,INSTITUT FÜR ORGANISCHE CHEMIE

DER UNIVERSITÄT REGENSBURG

(Leicht veränderte Auszüge eines in „Blick der Wissenschaft“,

Forschungsmagazin der Universität Regensburg,

veröffentlichten Beitrags der beiden Autoren)

Heiratsvermittlung für Moleküle

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Der Professor forderte Caroline auf, in das Mikroskop zu sehen. Sie wusste,dass solch ein Apparat die Dinge ver-

größert, hundert Mal mehr als eineGlasscherbe oder ein Brennglas. Dochwozu sollte man Wasser vergrößern?

Caroline kam das merkwürdig vor. Siekniff ein Auge zu und schaute mit demanderen in das schwarze Rohr. „Das istja wie auf dem Meeresgrund!“, rief sie,

denn sie sah ein Gewimmel seltsamerGestalten. Eine hellgrüne Kugel mit be-

weglichen Stacheln erschien, eineblaue Schlange zog vorüber, ein ge-schwänztes flinkes Ungeheuerchen

folgte, zwei zugeklappte Schachtelnschaukelten hin und her ...

Mit zwei Umdrehungen pro Se-kunde schraubt sich die etwa

10 Mikrometer (millionstel Meter)große einzellige Grünalge Chlamydo-monas reinhardii durch das Wasser.Dabei ist ihre Schwimmbahn nichtgeradlinig, sondern helikal; denn zurRotation um die eigene Längsachsekommt noch ein weiteres Drehmo-ment hinzu, das von einer Asymme-trie im Schlag ihrer beiden Flagellen(auch Geißeln genannt) herrührt.Chlamydomonas bewegt sich wie einBrustschwimmer vorwärts und er-reicht dabei eine Geschwindigkeit

von 100 bis 200 Mikrometer pro Se-kunde. Im Tempo bleibt der kleineFlagellat damit jedoch weit hinterdem Pantoffeltierchen Parameciumzurück – das gehört mit Spitzen-geschwindigkeiten von 3 Millimeterpro Sekunde gleichsam zu denSprintern unter den einzelligen Süß-wasserbewohnern. Wenn Chlamydo-monas einen Millimeter weit ge-schwommen ist, dürfte das Pantof-feltierchen bereits einen Zentimeterdavongeeilt und damit außer Reich-weite sein.

Um diese Geschwindigkeiten zuerreichen, musste sich die Natur et-was einfallen lassen. Denn wer an-nimmt, dass den Kleinen dank ihrergeringen Größe die Fortbewegung –also das Schwimmen – keineSchwierigkeiten bereitet, der irrt: Ihrspezifisches Gewicht liegt zwar nurwenig über dem des Wassers, dafürtreten hier aber verstärkt Reibungs-kräfte auf. Für die lebenden Mini-U-Boote ist das Wasser deshalb sozäh wie Honig. Die Evolution hatdieses technische Problem mit derErfindung des „flexiblen Ruders“gelöst: So werden beim Rückhol-schlag die Abertausenden von Wim-pern des Pantoffeltierchens haarna-delförmig umgebogen und damit der

Wasserwiderstand stark verringert.Hinzu kommt eine sehr hohe Schlag-frequenz von durchschnittlich 1000Schlägen pro Minute; bei Chlamydo-monas kann die Zahl der Flagellen-schläge sogar auf das Dreifache die-ses Werts ansteigen.

Darüber hinaus können ihre imVergleich zu den Wimpern des Pan-toffeltierchens wesentlich längerenFlagellen (10 Mikrometer) auch dieSchlagebene verändern und ermög-lichen der Alge ein gerichtetesSchwimmen. Die Ausholbewegungder beiden Flagellen wird dabei je-weils gegenläufig verstärkt oder re-duziert. Das führt, wie die Analysevon Hochgeschwindigkeitsfilmen ge-zeigt hat, zu einer Änderung derSchwimmrichtung. Diese Fähigkeitist für die kleine Grünalge vongroßem Vorteil, kann sie doch nunals Photosynthese treibender Orga-nismus Areale aufsuchen, an denendie Lichtverhältnisse für die Photo-synthese besonders günstig sind. Der Photosynthese-Apparat der Mik-roalge muss somit nicht ständig anwechselnde Lichtbedingungen ange-passt werden. Die Wissenschaftlerbezeichnen derart lichtgesteuerteOrientierungsbewegungen als Photo-taxis.

BIOPHYSIK

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FASZINATION Forschung

Im Rahmen einer Kooperation untersuchen PD DR. GEORG NAGEL vom Frank-

furter MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR BIOPHYSIK und PROF. PETER HEGEMANN

von der UNIVERSITÄT REGENSBURG die kleine einzellige Grünalge Chlamydomonas.

Was sie so interessant macht? Sie verfügt über einen Lichtsensor, der uns nur allzu

gut bekannt sein dürfte – und über den wir noch längst nicht alles wissen:

Rhodopsin, ein Protein, das auch die Lichtaufnahme im menschlichen Auge vermittelt.

Vom roten Augeder grünen Alge

Caroline kniff sich ins Ohrläppchen.Ach, die Dinge wuchsen ja gar nicht,sie selbst wurde kleiner! ... „Das ist un-ser Glasplättchen mit dem Wassertrop-fen“, erklärte der Professor. Er fordertedie Kinder auf, schnell diese Stufe zuersteigen, denn gleich könne sie zuhoch dafür sein ... Sie gingen zu einersilbernen Kugel mit runden Fenstern.Es konnte sich nur um das Stecknadel-köpfchen handeln, dass der Professorauf die Glasplatte gelegt hatte. DieKugel stand auf Kufen und trug einenGürtel aus Scheinwerfern. „Kann mansolch ein kleines Tauchboot bauen?“,fragte Caroline verwundert.

Um das Leben in einem Wasser-tropfen zu erkunden, müssen sich dieForscher schon etwas Besondereseinfallen lassen. Aus Glasröhrchen,die einen Außendurchmesser vonweniger als zwei Millimeter und eineWandstärke von einem halben Mil-limeter haben, lassen sich feinsteSaugpipetten herstellen. Bei Anlegeneines Unterdrucks wird die kleine Al-ge angesaugt und kann jetzt mithilfevon Mikromanipulatoren so positio-niert werden, dass ihre Flagellen bei-spielsweise durch eine Lichtschrankeschlagen, die in der Objektebene desMikroskops als Punkt abgebildet ist.Jedes Mal, wenn eine der Flagellendurch die Lichtschranke schlägt, re-duziert sie das von einer Photodiode

ROTE TEXTE UND

ILLUSTRATIONEN AUS: CAROLINE IM WASSERTROPFEN,SARAH KIRSCH, ERDMUT

OELSCHLAEGER, ©1975 VERLAG JUNGE WELT, BERLIN

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Was hat es mit diesem „roten Au-ge“ auf sich? Es handelt sich hierbeium einen eintausendstel Millimetergroßen, orangeroten Einschluss, derder Alge ein primitives Richtungs-sehen ermöglicht. Die Farbe rührtvon den schichtförmig angeordnetenCarotinoidvesikeln her; die einzelnenSchichten unterscheiden sich inihrem Lichtbrechungsvermögen undwirken deshalb wie ein technisch er-zeugter, vielschichtiger Spiegel. Lichterreicht den eigentlichen Photorezep-tor in der Zellmembran des Einzellers– ein Rhodopsin – entweder direktoder indirekt über Reflexion an denCarotinoidvesikeln. Der Augenfleckwirkt in jedem Fall kontrastverstär-kend: Einerseits schattet er Licht ab,das von der vom Augenfleck abge-wandten Seite kommt; andererseitsverstärkt er durch Interferenz Licht,das direkt auf den Augenfleck fällt.Ohne den Augenfleck wäre dieserKontrast nur ein Achtel so groß.

Die Wissenschaftler interessierensich vor allem für das Rhodopsin –eines der im Tierreich am weitestenverbreiteten Signal verarbeitendenProteine: Rhodopsin steuert dieLichtwahrnehmung im menschlichenAuge ebenso wie in den Augen vielerWirbeltiere und Wirbellosen. Undnicht nur dort: Proteine, die ver-wandt mit „unserem“ Rhodopsinsind, finden sich sogar in Bakterien,wo sie quasi als Photovoltaik betrei-bende Nano-Maschinen eingesetztwerden: Nach Aufnahme von Lichtpumpt das Bakteriorhodopsin positivgeladene Wasserstoffionen, also Pro-tonen, über die Zellmembran und er-möglicht den Mikroben damit die Energiegewinnung für ihr Wachstum.

Wie das Rhodopsin der Alge imDetail arbeitet, wussten die Wissen-schaftler bisher nicht. Denn nach wievor ist es ihnen nicht gelungen, dasProtein in ausreichendem Umfangund hinreichender Reinheit für pro-teinchemische Untersuchungen zugewinnen. Anhand von elektrischen

Messungen konnten die Regensbur-ger Forscher jedoch zeigen, dassnach Belichtung im Bereich des Au-genflecks innerhalb von 30 Mikro-sekunden (Millionstel Sekunden) Ionenkanäle aktiviert werden und eszu einem Einstrom von Calzium-ionen und – wie die Wissenschaftlermittlerweile wissen – auch von Was-serstoffionen kommt. Aufgrund dergeringen Verzögerung vermutetendie Fachleute, dass das Algenrho-dopsin gleichzeitig ein Ionenkanalist oder zumindest sehr eng an einenIonenkanal koppelt.

Die Forscher suchten nach Wegen,um die lichtgeschalteten Signalket-ten dieses kleinen Einzellers besserzu verstehen. In einer Genomdaten-bank von Chlamydomonas stießenPeter Hegemann und seine Mitarbei-ter auf Sequenzabschnitte, die Ähn-lichkeiten mit der Sequenz von Bak-teriorhodopsin aufwiesen. Seit Jah-ren schon untersucht die Abteilungvon Ernst Bamberg am Max-Planck-Institut für Biophysik Rhodopsinevom mikrobiellen Typ. Georg Nagelund seine Kollegen stellten aus dervon den Regensburgern entdecktencopy-DNA-Sequenz eine analogeBoten-RNA (mRNA) her und injizier-ten diese in die Oozyten, also die Ei-zellen des Krallenfrosches Xenopuslaevis. Die Gensequenz wurde vonder ribosomalen Maschinerie abgele-sen, das entsprechende Protein her-gestellt und in die Eizellmembraneingebaut. Jetzt konnten die Frank-furter Wissenschaftler die elektri-schen Eigenschaften der Eizellen un-ter Belichtung testen.

Die Ergebnisse sorgten für Aufse-hen und brachten dem Team um Ge-org Nagel und Peter Hegemann sogar eine Publikation in der renommiertenUS-Zeitschrift SCIENCE ein: Bei demAlgenrhodopsin handelt es sich näm-

lich um ein völlig neuartiges Mem-branprotein – und um das erste Bei-spiel für einen direkt lichtgesteuer-ten Ionenkanal. Channelrhodopsin-1oder kurz Chop-1, wie die Wissen-schaftler ihr „Kind“ getauft haben,leitet nach Aufnahme von Licht pas-siv Protonen über die Membran; esbenötigt also im Gegensatz zu einerIonenpumpe für den Ionentransportkeine Energie. Wegen der Überein-stimmungen in der Gensequenz mussder Konstruktion von Channelrho-dopsin-1 und Bakteriorhodopsin eingemeinsamer Bauplan zu Grunde lie-gen. Das wiederum bedeutet, dass auseiner Pumpe durch entsprechendeMutation offensichtlich ein Kanalentstehen kann (oder umgekehrt). EinVergleich von Kanal und Pumpe wirddaher mit Spannung erwartet.

Ein Teil der elektrischen Messun-gen an der kleinen Alge lässt sichmit dem neu entdeckten „Kanal-rhodopsin“ recht gut erklären; auchgibt es Belege dafür, dass Chop-1tatsächlich an den phototaktischenOrientierungsreaktionen von Chla-mydomonas beteiligt ist. Die Weiter-leitung des Signals vom Augenfleckzu den Flagellen und schließlich dieFrage, wie es zu den feinen Ände-rungen im Schlagmuster kommt, ist aber nach wie vor nicht geklärt. Die Wissenschaftler spekulieren, dass Chop-1 möglicherweise indirekt(durch Membrandepolarisation) ei-nen spannungsgeschalteten Calzi-umkanal aktiviert – den müssen sieallerdings erst noch finden.

CHRISTINA BECK

BIOPHYSIK

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aufgenommene Messsignal. DurchAnordnung mehrerer solcher Licht-schranken können die Wissenschaft-ler die Schlagmuster beider Flagellenund ihre räumliche Ausdehnung er-fassen. Außerdem können sie dieelektrischen Ströme registrieren, wel-che die Änderungen im Flagellen-schlag auslösen (Abb. S. 31). Seit En-de der achtziger Jahre untersuchenPeter Hegemann und seine Mitarbei-ter (damals noch am Max-Planck-In-stitut für Biochemie) diese „Photo-ströme“.

Zuvor hatten Wissenschaftler mitradioaktivem Calzium gezeigt, dassbei Belichtung extrazelluläres Calzi-um in die Mikroalge einströmt. Die-ser Einstrom wird – ebenso wie die

phototaktische Orientierungsreaktion– durch Calziumkanal-Hemmstoffeblockiert. Beobachtungen an isolier-ten Flagellenmodellen legten dieVermutung nahe, dass ein durchLicht ausgelöster Calziumanstieg inden Flagellen für die Abwandlungenim Schlagmuster verantwortlich ist.Dabei reagiert das System äußerstsensibel: Schon geringfügige Ände-rungen im Calziumlevel der Flagel-len reichen aus. Der bei der Photo-taxis in den Flagellen wirksame Cal-ziumsensor sowie sein Ort sind nachwie vor unbekannt. Weit mehr wis-sen die Forscher über den an derPhototaxis beteiligten Lichtsensor. Ersitzt im Bereich des roten Augen-flecks.

„Es hat nur ein Auge, und das ist rot!“, sagte Caroline verwundert. Der Professor erklärte ihr, dass man das Auge „Lichtfleck“ nennt und dass die Scheinwerfer das Tierchen herbei-gelockt hätten ... „Das soll eine Algesein? Sie sieht wie ein Tier aus undheißt ja auch Augentierchen.“ ... „Die wunderbare, behäbige Alge heißt lateinisch Euglena ... Der Fühler hat ihr und ihren Verwandten den Namen gegeben, man nennt sie Geißelalgen ...Bei solch ähnlichen Ungetümen fingvor undenklichen Zeiten die Differen-zierung von Pflanzen und Tieren an.“

FASZINATION Forschung

Im Gegensatz zu Euglena besitzt Chlamydomonas zwei Flagellen (Fl), die dem kleinen Einzeller ein gerichtetesSchwimmen ermöglichen. Bei den durch Belichtung aus-gelösten Bewegungsreaktionen treten elektrische Strömeauf, die die Wissenschaftler mithilfe der so genanntenSaugpipettentechnik (links) registrieren können. Ein im Bereich des roten Augenflecks (Ey) lokalisiertes Rhodopsindient bei beiden Grünalgen als Photorezeptor.FO

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ASTRONOMIE

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WISSEN aus erster Hand

Das Masse monster im Herzen der MilchstraßeSchon lange vermuten die Astronomen, dass im Zentrum unseres Milchstraßensystems ein

supermassives Schwarzes Loch lauert. Einem internationalen Team unter der Leitung von PROF.

REINHARD GENZEL, Direktor am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EXTRATERRESTRISCHE PHYSIK

in Garching, ist kürzlich ein überzeugender Beweis für diese Hypothese gelungen: Die Forscher

beobachteten einen Stern, der mit einer Geschwindigkeit von 18 Millionen Kilometern pro Stunde

das galaktische Schwerkraftzentrum innerhalb von etwa 15 Jahren umläuft. Der Stern nähert sich

ihm dabei bis zu 17 Lichtstunden – das entspricht lediglich der dreifachen Distanz zwischen Sonne

und Pluto. In seinem Beitrag beschreibt Reinhard Genzel die Hintergründe dieser Beobachtung.

Seit der Entdeckung der Quasare(„quasi-stellar radio sources“)

vor etwa 40 Jahren haben Astrophy-siker versucht, eine schlüssige Er-klärung für die Energieproduktiondieser spektakulären Objekte zu fin-den. In den weit entfernten Quasa-ren wird in einem Gebiet von nurwenigen Lichtjahren tausend bis ei-nige hunderttausend Mal mehr elek-tromagnetische Strahlung erzeugt alssonst in ganzen Galaxien. Man weißinzwischen, dass Quasare in den Zen-tren von großen Galaxien lie-gen.Hochgebündelte „Jets“ aus relativis-tischen Elektronen, die aus dem Kernherausströmen sowie zeitlich schnellvariierende Röntgen- und Gamma-strahlung sind weitere charakteristi-sche Merkmale von Quasaren undanderen aktiven Galaxienkernen.

All diese Phänomene sind nichtdurch die sonst in Galaxien dominie-renden Kernverschmelzungen inSternen zu erklären – dagegen aberrecht plausibel durch die Umwand-lung von Gravitations- in Strah-lungsenergie. Dieser Prozess läuft of-fenbar innerhalb der Akkretionsströ-me in der unmittelbaren Umgebungvon massiven Schwarzen Löchern ab.Man weiß seit den theoretischen Ar-beiten von Albert Einstein und KarlSchwarzschild, dass jede konzentrier-te Massenverteilung einen charakteri-stischen Radius besitzt – den so ge-nannten Schwarzschildradius –, in-IL

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nerhalb dessen selbst Lichtquantennicht mehr aus dem Gravitationsfeldentweichen können. Paradoxerweisekann ein solches „schwarzes“ Lochdennoch Strahlung produzieren.Nach dem theoretischen Szenario ge-schieht das immer dann, wenn Mate-rie von außen in das Gravitationsfeldeines Schwarzen Lochs einfällt unddabei außerhalb des Schwarzschildra-dius Gravitationsenergie in Strahlungumgewandelt wird. Dieser physikali-sche Prozess läuft mit größerer Effizi-enz ab als jeder andere uns bekannte.

Auf diese Weise lassen sich Quasa-re durch die Akkretion von Gas undSternen auf massereiche SchwarzeLöcher erklären. Inzwischen ist die-ses Modell unter Astrophysikern ge-nerell akzeptiert. Dennoch ersetztdieser „Indizienbeweis“ natürlichkeinesfalls den direkten Nachweis,der nur über die charakteristischeSchwerkraft und die Existenz einesEreignishorizonts führen kann. Gibtes also solche massiven SchwarzenLöcher wirklich?

Eine Möglichkeit, eine räumlichkonzentrierte Masse direkt nachzu-weisen, besteht darin, die Geschwin-digkeiten von Gas und Sternen inderen Umgebung zu bestimmen. DieTechnik ist eine einfache Umkehrungdessen, was Johannes Kepler bereitsvor 400 Jahren im Sonnensystemgezeigt hat. Wenn man die Bahnenvon Testteilchen (im Fall von Gala-FO

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Blick ins Herz der Milchstraße: Das im Sommer 2002 mit NAOS/CONICA am Very Large Telescope gewonnene Infrarotbild zeigt einen wenige Lichtjahre großen

Ausschnitt des galaktischen Zentrums. Heiße Sterne erscheinen blau, kühle rot; der Schleier stammt von interstellaren Staubwolken. Die beiden kleinen gelben Pfeile

in der Bildmitte markieren den Ort des vermeintlichen Schwarzen Lochs SgrA*.

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WISSEN aus erster Hand

xienkernen sind dies Sterne oder in-dividuelle interstellare Gaswolken)als Funktion des Abstands vom dy-namischen Zentrum misst, lässt sichunter gewissen grundsätzlichen An-nahmen das Gravitationsfeld bestim-men. Damit diese Methode aber zuschlüssigen Ergebnissen bezüglichder Eigenschaften der Zentralmasseführt, müssen die Beobachtungennahe genug an sie herankommen.Dies erlaubt es, verschiedene Formenvon Massenkonzentrationen zu un-terscheiden.

Wegen ihrer großen Entfernunglassen sich solche direkten Messun-gen nicht an Quasaren vornehmen.Für eine Reihe von nahen Galaxien-kernen – einschließlich des Zentrumsunserer eigenen Milchstraße – sinddagegen in den vergangenen zehnJahren große Fortschritte auf der Su-che nach zentralen Massenkonzen-trationen gelungen. Diese teils mitbodengebundenen Teleskopen undteils mit dem Hubble Space Telesco-pe gewonnenen Daten lassen es jetztals wahrscheinlich erscheinen, dassfast alle Galaxienkerne dunkle zen-trale Massenkonzentrationen besit-zen, mit Massen zwischen einigenMillionen und einigen MilliardenSonnenmassen. Dennoch reicht we-gen der großen Entfernung der meis-ten dieser Objekte die räumlicheAuflösung der Messungen nochnicht aus, um andere Erklärungen alsein Schwarzes Loch auszuschließen.

Dem Zentrum unserer Milchstraßekommt bei der Frage eines überzeu-genden Beweises für die Existenzvon massiven Schwarzen Löcherneine besondere Rolle zu. Denn dasgalaktische „Herz“ ist nur 26 000Lichtjahre entfernt – also etwa hun-dert Mal näher als die uns nächstenexternen Galaxien, tausend Malnäher als die nächsten aktiven Gala-xienkerne und hunderttausend Malnäher als der nächste Quasar. Mitden besten Messungen im Optischenund Infraroten kann man daher Re-gionen von wenigen Lichttagen auf-

Für solche Präzisionsbeobachtun-gen ist es entscheidend, die theore-tisch mögliche optische Leistungs-fähigkeit der Teleskope auszuschöp-fen und beispielsweise die durch dieErdatmosphäre verursachte Bildver-schmierung („Seeing“) auszuschal-ten. Mit diesem „adaptive Optik“ ge-nannten Verfahren sowie mit der„Speckleabbildung“ kann man Infra-rotbilder erhalten, die nur nochdurch die fundamentale Begrenzungder Lichtbeugung des Teleskops limi-tiert sind. Mit großen Fernrohren wiedem Keck-Teleskop auf Hawaii, demNew Technology Telescope (NTT)und dem Very Large Teleskop (VLT)der Europäischen Südsternwarte(ESO) lässt sich damit die Bildschärfegegenüber konventionellen Techni-ken um mehr als eine Größenord-nung verbessern.

Aus dem Vergleich von solchenInfrarotaufnahmen über eine Reihevon Jahren konnten wir 1996 dieGeschwindigkeiten von Sternen amHimmel, die so genannten Eigenbe-wegungen, bestimmen. Weiterhinließen sich durch Analyse von Linienin den stellaren InfrarotspektrenDopplerbewegungen ableiten, alsodie Geschwindigkeiten entlang derSichtlinie in Richtung Erde. Aus einer statistischen Analyse der Ge-schwindigkeiten konnten wir dannquantitativ das Gravitationsfeld unddie Massenverteilung bestimmen.Das Ergebnis dieser Messungen zeig-te deutlich, dass es eine kompaktezentrale Masse von etwa drei Millio-nen Sonnenmassen gibt, die in ei-nem Bereich von weniger als 15Lichttagen um SgrA* konzentriertist. Und diese Masse ist „dunkel“, also unsichtbar, und nicht durch dieVerteilung normaler Sterne zu er-klären.

Die wahrscheinlichste Konfigurati-on dieser Massenkonzentration ist dieeines massereichen Schwarzen Lochs.Im Prinzip könnte diese zentrale Mas-senkonzentration im Milchstraßen-zentrum (und in den oben angespro-

chenen externen Galaxien) aber auchein dunkler, extrem kompakter Hau-fen von kleinsten, schwach strahlen-den Sternen, von sehr dicht „gepack-ten“ Neutronensternen oder von sub-stellaren Objekten (wie Felsbrocken)sein – oder gar aus hypothetischenschweren Elementarteilchen ohne La-dung bestehen.

Um eine solche Konfiguration aus-zuschließen, war es nötig, noch we-sentlich näher an das Massenzen-trum heranzukommen. Dieser Durch-bruch gelang im Frühjahr 2002 mitder neuen Kamera CONICA, die un-sere Gruppe zusammen mit Kollegenam Max-Planck-Institut für Astro-

lösen, mit den Methoden der inter-kontinentalen Radiointerferometrie(VLBI) sogar Bereiche von etwa zehnLichtminuten. Seit fast 20 Jahrenglauben die Astronomen, dass esauch im Zentrum unserer Milch-straße eine Massenkonzentrationgibt. Da Gas und interstellarer Staubin der galaktischen Ebene sichtbare,ultraviolette und weiche Röntgen-strahlung fast vollständig absorbie-ren, lässt sich das galaktische Zent-rum aber nur bei langen Wellenlän-gen (im Infrarot- und Radiobereich)und bei ganz kurzen Wellenlängen(im harten Röntgen- und imGammabereich) untersuchen. Des-halb sind die wesentlichen Fort-schritte im Verständnis des galakti-schen Zentrums in den vergangenenzwei Jahrzehnten eine direkte Folgeder verbesserten Empfindlichkeit undWinkelauflösung jener Detektoren,die durch diese neuen „Fenster“ insAll spähen.

DIE RADIOQUELLE SGRA* –SEHR HELL UND SEHR KLEIN

Im Zentrum der Galaxis finden wireinen dichten Sternhaufen. In dessenMittelpunkt wurde schon vor 20Jahren eine sehr kompakte, helle Ra-dioquelle (SgrA*, sprich: „SagittariusA Stern“) entdeckt. Deren Durchmes-ser ist kleiner als der Durchmesserder Erdbahn um die Sonne. Deshalblag es nahe, im Milchstraßenzentrum– analog zu den Quasaren – ein zen-trales massives Schwarzes Loch zuvermuten. In den vergangenen zehnJahren ist es unserer Forschergruppe(Reinhard Genzel, Andreas Eckart,Rainer Schödel, Reiner Hofmann,Matthew Lehnert und Thomas Ott)am Garchinger Max-Planck-Institutfür extraterrestrische Physik gelun-gen, die Geschwindigkeiten von tau-send Sternen bis auf einen Abstandvon unter einer Lichtwoche vonSgrA* zu vermessen. Auch wenn diesungefähr 180 Milliarden Kilometernentspricht, ist das aus astronomi-scher Sicht sehr wenig.

Quasare gehören zu den leuchtkräftigsten Objekten im Universum. Auf einem Gebiet von nur wenigen Lichtjahren erzeugen sie tausend bis einige hunderttausend Mal mehr elektromagnetische Strahlung als ganze Sternsysteme. Quasare liegen in den Zentren großerGalaxien und werden offenbar von supermassiven Schwarzen Löchern „angetrieben“.

nomie in Heidelberg unter der Ge-samtleitung von Rainer Lenzen inden vergangenen acht Jahren ent-wickelt hatte (vgl. MAXPLANCKFOR-SCHUNG 1/2002, S. 5 f.). Diese neuar-tige Kamera, gekoppelt mit einemvon französischen Wissenschaftlernentwickelten adaptiven Optiksystem(NAOS), wurde Ende 2001 amYepun-Teleskop, einem der vierAcht-Meter-Spiegel des Very LargeTelescope der Europäischen Süd-sternwarte installiert. Erste Testmes-sungen des galaktischen Zentrumswenige Monate später waren sofortein voller Erfolg: Es entstanden diebisher schärfsten und empfindlichs-

ten Aufnahmen vom Zentrum unse-rer Milchstraße. Auf den neuen VLT-Infrarotbildern gelang es, SgrA* miteiner Genauigkeit von zehn Milli-bogensekunden (tausendstel Bogen-sekunden) zu lokalisieren. Dabei stell-te sich bei den Messungen im Früh-jahr 2002 heraus, dass sich der SternS2 bis auf etwa 12 Millibogensekun-den – entsprechend etwa 17 Licht-stunden – der Radioquelle genäherthatte und sich mit bislang nie beob-achteter Geschwindigkeit von mehrals 5 000 Kilometern pro Sekunde (18Millionen Kilometer pro Stunde) be-wegt. Damit eröffnete sich die Mög-lichkeit, die Massenverteilung auf

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WISSEN aus erster Hand

Prof. DR. REINHARD GENZEL ist seit 1986Direktor und wissenschaftliches Mit-glied am Max-Planck-Institut fürextraterrestrische Physik in Garching. Stationen seiner wissenschaftlichenLaufbahn waren das Max-Planck-Insti-tut für Radioastronomie in Bonn, dieUniversity of California in Berkeley so-wie die Ludwig-Maximilians-Universität

in München. Seine Arbeitsschwerpunkte sind vor allem dieAstrophysik von Galaxienkernen, die Sternentstehung unddas interstellare Medium sowie Schwarze Löcher. ReinhardGenzel erhielt 1990 den Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis derDeutschen Forschungsgemeinschaft. Er ist Auswärtiges Mit-glied der französischen Académie des Sciences, der amerika-nischen National Academy of Sciences sowie der Leopoldinain Halle. Seit 1999 hat Genzel ein „joint appointment“ als Full Professor for Physics an der University of California.

Massenverteilung im galaktischen Zent-rum. Bestimmungen der eingeschlossenenMasse bei verschiedenen Abständen vonSgrA* sind durch die verschiedenen Sym-bole und ihre Felder dargestellt; ein Parsec (pc) entspricht 3,26 Lichtjahren. Die aus der Bahn von S2 sich ergebendeMasse (kleiner schwarzer Kreis) ist inner-halb der Fehler identisch mit Messungender Masse bei größeren Abständen; esmuss sich also mit hoher Genauigkeit umeine Punktmasse handeln, die in dieser Abbildung eine horizontale Gerade ist. Nuraußerhalb von etwa 0,5 pc steigt durch die Präsenz des sichtbaren Sternhaufensdie eingeschlossene Masse an (gepunktet-gestrichelte Modellkurve). Eine Kombina-tion einer Punktmasse von 2,6 MillionenSonnenmassen und des sichtbaren Stern-haufens passt am besten zum Modell undzu allen Daten (durchgezogene Modellkur-ve). Eine hypothetische ausgedehnte Massemuss eine Mindestdichte von 1017 M0pc-3

haben (gestrichelte Modellkurve).

Starke Leistung im Doppelpack: Die Kamera CONICA, gekoppelt mit demadaptiven Optiksystem NAOS und an einemder vier Acht-Meter-Spiegel des Very Large Telescope der Europäischen Süd-sternwarte montiert, lieferte die bisherschärfsten und empfindlichsten Auf-nahmen des galaktischen Zentrums.

Hoch auflösendes Infrarotbild und stellare Eigenbewegungen im Zentrum unsererMilchstraße. Das linke Bild zeigt eine Infrarotaufnahme (Ks-Band: 2,1µm Wellen-länge) der zentralen 20 Bogensekunden (etwa 2,6 Lichtjahre), die im August 2002mit dem neuen NAOS/CONICA-System auf dem Very Large Telescope der ESO auf-genommen wurde. Dieses Bild mit adaptiver Optik hat eine Auflösung von 60 Milli-bogensekunden und eine Grenzgröße von Ks = 20. Damit ist das Bild drei Mal schärfer und zwanzig Mal tiefer als es noch vor wenigen Jahren möglich war. Dieverschieden Flecke sind Sterne im dichten zentralen Sternhaufen. Das kleine Kreuzmarkiert die Position der kompakten Radioquelle SgrA*. Die Position der Radioquellekonnte mithilfe von Sternen, die sowohl im Infrarot- wie im Radiobereich strahlen(hellblaue Kreise) mit einer Genauigkeit von 10 Millibogensekunden im Infrarotbildlokalisiert werden. Das rechte Bild zeigt einen Ausschnitt des linken Bildes (markiertlinks durch das zentrale Rechteck) in der unmittelbaren Umgebung von SgrA*. Mitvielen solchen Aufnahmen zwischen 1992 und 2002 konnten Eigenbewegungen vonmehr als tausend Sternen bis zu einem Abstand von wenigen Lichttagen von SgrA*nachgewiesen werden. Einige dieser Eigenbewegungen sind als Pfeile dargestellt. Der schnellste Stern (S2), der im Frühjahr 2002 nur 12 Millibogensekunden vonSgrA* entfernt war, bewegte sich zu diesem Zeitpunkt mit einer Geschwindigkeit von mehr als 5000 Kilometern pro Sekunde – und damit etwa 200 Mal schneller als die Erde um die Sonne. Dies deutet auf eine konzentrierte Masse von etwa dreiMillionen Sonnenmassen hin, die mit SgrA* verbunden ist.

Bahn des Sterns S2 (kleineKreise und Rechtecke mitFehlerbalken) um die Posi-tion der kompakten Radio-quelle SgrA* (großer Kreismit Kreuz). Die Daten wer-den perfekt durch eine hochelliptische Bahn miteiner Exzentrizität von0,87, einer Umlaufperiodevon 15,2 Jahren und einerkleinen Halbachse von 0,12Bogensekunden beschrie-ben, in deren einem Fokusdie Radioquelle sitzt.

Skalen unseres Sonnensystems zumessen. Eine genauere astrometri-sche Analyse der Position von S2 inden vergangenen zehn Jahren zeigtedann zweifelsfrei, dass sich dieserStern auf einer hochelliptischen Kep-lerbahn um die Radioquelle bewegt. S2 kreist also um das vermuteteSchwarze Loch wie ein Planet um dieSonne – und zwar mit einer Umlauf-periode von nur 15 Jahren.

Aus den neuen Messungen lässtsich durch Anwendung der Kepler-schen Gesetze sehr einfach die Massebestimmen, die innerhalb des Peri-radius’ von 17 Lichtstunden (etwa2 000 Mal der Schwarzschildradius

eines Schwarzen Lochs von drei Mil-lionen Sonnenmassen) liegen muss:3,7 plus/minus 1,5 Millionen Sonnen-massen (M0). Dies ist innerhalb derFehler genau dieselbe Masse, die ausden oben diskutierten statistischenMethoden bei viel größeren Abstän-den von SgrA* abgeschätzt wurde.Das bedeutet, dass das Gravitations-potenzial mit hoher Präzision demeiner Punktmasse entspricht. Wennman statt einer Punktmasse eineausgedehnte Massenverteilung an-nimmt, muss der charakteristischeRadius einer solchen Verteilung klei-ner als zehn Lichtstunden sein, unddamit deren Dichte mindestens

1017 M0pc-3 (oder etwa 10-5 g cm-3).Dies ist etwa elf Größenordnungengrößer als die dichtesten bekann-ten astrophysikalischen Sternhaufen,einschließlich des Sternhaufens imgalaktischen Zentrum selbst.

DUNKLER HAUFEN

LEBT NUR KURZ

Ein solcher dunkler Haufen hataber nur eine sehr begrenzte Lebens-dauer, bevor er einerseits teilweisekollabiert (zum Beispiel zu einemSchwarzen Loch) und andererseits„verdampft“. Diese Lebensdauer kannaus Masse und Dichte recht genauabgeschätzt werden und würde im

galaktischen Zentrum weniger als ei-nige hunderttausend Jahre betragen.Dieser Wert ist aber wesentlich klei-ner als das Alter aller im linken Bildauf Seite 56 sichtbaren Sterne. Es istalso mit großer Sicherheit auszusch-ließen, dass man ein solch kurzlebi-ges Objekt beobachten könnte.

Die Daten schließen auch ganzklar eine weitere Konfiguration aus,die in den vergangenen Jahren dis-kutiert wurde, nämlich die eines„Balls“ entarteter Fermionen ohneLadung, die in verschiedenen Model-len jenseits des heutigen Standard-modells der Teilchenphysik möglichsind. Ein solcher Ball wäre einfach

zu groß und die damit verbundeneMassendichte zu klein, um mit denMessungen von S2 vereinbar zu sein.Die einzige noch verbleibende Konfi-guration, die kein Schwarzes Lochwäre, ist ein Ball von hypothetischenschweren Bosonen, da diese im Prin-zip auf ein Volumen von weniggrößer als des eines SchwarzenLochs kondensieren könnten. In die-sem Fall würde aber die unvermeid-bare Akkretion von baryonischerMaterie auf den Bosonenball zu ei-nem „finalen“ Kollaps und damit zueinem Schwarzen Loch führen, so-dass auch eine solche Konfigurationnicht stabil ist. Die neuen Messun-gen lassen also als einzig möglicheInterpretation nur ein massereichesSchwarzes Loch zu.

Wie verläuft das weitere Schicksaldes Sterns S2? Schätzungen zeigen,dass trotz seiner geringen Entfernungzum Schwarzen Loch die Gezeiten-kräfte des Lochs bei weitem nichtausreichen, um den Stern selbst zuverzerren oder gar zu zerreißen.Demnach solle S2 also weiterhin aufseiner Umlaufbahn alle 15 Jahre beiSgrA* vorbeikommen, bis er entwe-der selbst „stirbt“ oder möglicherwei-se in der extrem dichten Umgebungum das Loch mit einem anderenStern zusammenstößt.

Die neuen Beobachtungen läuteneine neue Phase von Präzisionsmes-sungen ein, in der mit immer höhererräumlicher Auflösung die unmittel-bare Umgebung eines SchwarzenLochs und die dort ablaufenden phy-sikalischen Prozesse untersucht wer-den können. In den nächsten Jahrenwird es mit interferometrischen Ver-fahren gelingen, durch die Zusam-menkoppelung der vier Acht-Meter-Spiegel des VLT Auflösungen vonweniger als zehn Millibogensekun-den zu erreichen und damit den rela-tivistischen Bereich starker Gravitati-on um das Loch zu untersuchen. Undmit interkontinentaler Submillimeter-Interferometrie wird es vielleichtmöglich werden, den Ereignishori-zont selbst zu detektieren. Das galak-tische Zentrum bleibt ein spannendesLabor der Gravitationsphysik. ●

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MPF: Die Organisation einer wissenschaftlichen Tagung macht Arbeit und kostet Zeit. Wer so etwasplant, organisiert und umsetzt, lässt eigene Publikatio-nen liegen und verschiebt seine Forschung. Warum tun Sie sich das an?

PROF. JOACHIM SPIESS: Mit dem Symposium „Mole-kulare Mechanismen von Lernen und Gedächtnis“ habenStephen Heinemann, Richard Thompson, Jeanne Wehnerund ich eine wissenschaftliche Plattform geschaffen, dieNeurowissenschaftler zusammenbringt, die zur Auf-klärung der zellulären und molekularen Basis von Lernenund Gedächtnis beitragen wollen. Die drei Symposien,die wir seit 1998 in Berlin organisiert haben, haben sichdurch intensive und produktive Diskussionen ausge-zeichnet, durch die Initiierung zahlreicher Kollaboratio-nen und durch einen ungewöhnlich großen Studenten-anteil. Einige Wissenschaftler haben die diskussionsbe-reite Umgebung genutzt, um auch mal riskante Konzeptezu testen.

MPF: Als Veranstaltungsort bieten sichunterschiedliche Orte an: das Institut – da hat man dann auch das „Lokalkolorit“ –oder aber ein Tagungshotel, was vermutlichden organisatorischen Ablauf erleichtert.Die Max-Planck-Gesellschaft unterhält ei-gene Tagungsstätten. Was sind aus IhrerSicht die Vorzüge des Harnack-Hauses?

SPIESS: Das Harnack-Haus mit seinen tech-nischen Möglichkeiten, seinen historischen

Bezügen, seinem professionellen Management und sei-nem hilfsbereiten Personal hat erheblich zum Erfolg derbisherigen Symposien beigetragen.

MPF: Es gibt wissenschaftliche Mega-Kongresse und,sagen wir mal, kleine aber feine Tagungen. Wenn dieEuropäische Gesellschaft für Kardiologie 2003 in Wien 30 000 Herzspezialisten aus aller Welt zu einemKongress erwartet, dann muss man sich doch fragen,welchen Mehrwert – abgesehen von dem wirtschaftli-chen Gewinn für die Stadt – eine solche Veranstaltungfür die wissenschaftlichen Teilnehmer noch erzielenkann. Funktionieren große Kongresse vor allem nachdem Motto „Sehen und gesehen werden“?

SPIESS: Mega-Kongresse haben ihren Stellenwert. Siebieten die Möglichkeit, gezielt Informationen über kon-kurrierende Gruppen und neue Methoden einzuholen undeine Zusammenarbeit zu verabreden. Offene und pro-duktive Diskussionen finden hier selten statt. Das wich-tigste Kommunikationswerkzeug ist das Poster geworden,

weil es als Treffpunkt dient und direkte Kon-takte herstellt.

MPF: Nun gilt die Teilnahme an bestimmten Kongressen auch als Auszeichnung. Der „geladene Vortrag“ bekommt den Stellenwert eines publizierten Artikels, den man als Wissenschaftler in seinem Lebenslauf auflistet. Welche Kongresse haben auf Ihrem Fachgebiet diesen Nimbus?

CEDOMIR TODOROVIC: Soweit ich weiß, eine Presi-dential Lecture beim jährlichen Neuroscience-Meeting.Aber solche Überlegungen sind beim jetzigen Standmeiner wissenschaftlichen Entwicklung für mich nochnicht relevant.

MPF: Kleinere Veranstaltungen bietenmehr Raum für Diskussionen und Ge-spräche und geben auch dem Nachwuchsein Chance, wahrgenommen zu werden.Wer ist von Ihnen nach welchen Kriterienzu Ihrer Tagung eingeladen worden?

SPIESS: Wir haben vor allem Wissenschaft-ler eingeladen, die molekulare Strategien auf demGebiet der Neurowissenschaften – insbesondere inVerhaltensstudien – einsetzen und die ihre Ergebnisse of-fen diskutieren möchten. Darüber hinaus waren Forschervon „angrenzenden“ wissenschaftlichen Feldern wie zumBeispiel der Gentherapie, der CHIP-Technologie oder demNeuro-Imaging dabei, sodass man auch über zukünftigeEntwicklungen sprechen konnte. Gerade deshalb sindSymposien wie dieses eine wichtige Ergänzung zu denMega-Kongressen.

MPF: Wie bewerten Sie im Nachhinein den Tagungsablauf? Waren Sie mit der Qualität der Beiträge zufrieden?

SPIESS: Die Beiträge waren von hoher Qualität und dieDiskussionen offen, schonungslos und stimulierend.

MPF: Und was nehmen Sie von der Tagung imHarnack-Haus für sich mit? Wie wertvoll waren fürSie die Diskussionen mit den Kollegen? Wie häufigsollten Ihrer Ansicht nach solche Veranstaltungenstattfinden?

TODOROVIC: Der Wert solcher Tagungen wie das Berlin-Symposium ist für junge Wissenschaftler nicht hoch ge-nug einzuschätzen. Sie bieten die einzigartige Möglich-keit, etwas über die aktuellen Fragen in den Neurowissen-schaften zu hören und mit den auf diesem Gebiet nam-haften Wissenschaftlern zu diskutieren. SolcheGespräche haben in den letzten Jahren zu er-folgreichen Kollaborationen mit anderen an-gesehenen Laboratorien geführt. Ich selbst binPsychologe. Mir hat das Symposium vor allemdie Gelegenheit gegeben, etwas über dieGrenzbereiche in den Neurowissenschaften zulernen, die für meine Arbeit von Bedeutungsind. Es war quasi ein „Blick über den Zaun“,um Verbindungen zwischen meiner aktuellenVerhaltensforschung an Tieren und den huma-

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KONGRESSbericht

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Seit 1998 treffen sich in einem zweijährigen Turnus Neurowissenschaftler aus Europa

und den USA zu einem Symposium im Harnack-Haus in Berlin. Drei Tage lang diskutieren

sie über die neuesten Ergebnisse auf dem Gebiet der molekularen Neurowissenschaften.

MAXPLANCKFORSCHUNG sprach mit dem Organisator des Symposiums, PROF. JOACHIM SPIESS

vom MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EXPERIMENTELLE MEDIZIN in Göttingen sowie

mit einem der Teilnehmer, dem PHD-STUDENTEN CEDOMIR TODOROVIC.

„Auch mal riskanteKonzepte testen“

nen Neurowissenschaften, inklusive ihrer klinischen An-wendung, herzustellen.

MPF: Joachim Spiess hat es schon angedeutet: Neben dem Vortrag hat sich seit geraumer Zeit auchdas Poster als typisches Präsentationsmedium etabliert.Welche Möglichkeiten sehen Sie in dieser Präsentati-onsform? Ist es wirklich sinnvoll, auf den großen wis-senschaftlichen Kongressen mit einem Poster vertretenzu sein, oder geht man dort nicht eher unter?

TODOROVIC: Das Poster ist tatsächlich ein direkter Wegder Datenpräsentation, denn es bietet die Möglichkeit offener, ununterbrochener und ausführlicher Diskussio-nen mit Kollegen. Diese Diskussionen liefern wertvolleRückmeldungen für die künftige Arbeit.

MPF: Im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts hat sich das Wissenschaftssystem sehr stark differenziert und ist zunehmend arbeitsteilig geworden. Darüber hinaus ist auch die Zahl der Forscher um ein Vielfaches gestiegen. Es ist also schwieriger, Räume für den wissenschaft-lichen Dialog zu finden. Wird deshalb das Inter-net auch mit Blick auf das Online-Publizieren

künftig mehr Gewicht bekommen?

TODOROVIC: Computer werden natürlich inder Zukunft den Austausch von Informationenzwischen Wissenschaftlern beschleunigen. Indieser Hinsicht kann ihr Stellenwert nicht ig-noriert werden. Aber sie werden niemals in derLage sein, die direkte wissenschaftliche Kom-munikation zu ersetzen, bei der einfach mehrDetails der Arbeit offen gelegt werden.

DAS INTERVIEW FÜHRTE CHRISTINA BECKProf. Joachim Spiesss Cedomir Todorovic

NEUROWISSENSCHAFTEN

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Ungewöhnlich sind Experimente in derWirtschaftswissenschaft heute nicht

mehr. Der 33-jährige Axel Ockenfels ist eingefragter Mann. Der Projektleiter am JenaerMax-Planck-Institut zur Erforschung vonWirtschaftssystemen kann die vielen Einla-dungen gar nicht mehr alle annehmen. Ob inHarvard, Berlin, Utrecht oder Oxford – in un-zähligen Hörsälen in den USA und in Europahat Ockenfels seine Thesen bereits vorgestellt.Universitäten, Verbände und Unternehmensind aufmerksam geworden auf den jungenMann, der unter der Leitung von Prof. WernerGüth in der Strategic Interaction Group mitar-beitet. Erst im Juli 2001 wurde diese neue For-schungsgruppe in Jena ins Leben gerufen.

Ockenfels zählt zu den innovativsten Kräf-ten einer Teildisziplin, die in der Wirtschafts-wissenschaft immer mehr an Einfluss ge-winnt. Wer ist dieser ungewöhnliche Öko-nom, dem nach einem akademischen Blitz-start bereits Professuren aus dem In- undAusland angeboten werden? Ockenfels ziel-strebig zu nennen, wäre eine Untertreibung:mit 25 Jahren preisgekröntes Diplom an derUniversität Bonn, mit 29 dann Promotion beiseinem Doktorvater Joachim Weimann, die

von der Economic Science Association alsbeste Doktorarbeit des Jahres ausgezeichnetwurde, mit 33 Jahren an der Universität Mag-deburg habilitiert, wiederum ausgezeichnetmit einem Forschungspreis. An der Penn Sta-te University im US-Bundesstaat Pennsylva-nia sammelte er Erfahrungen in der Abtei-lung für Management und Informationssyste-me und an der Harvard Business School ar-beitete er 1999 für ein Jahr als PostdoctoralResearch Fellow, bevor er zurück in Deutsch-

FORSCHUNG & Gesellschaft

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WIRTSCHAFTSwissenschaft

land als Forschungsgruppenleiter im Emmy-Noether-Programm der Deutschen For-schungsgemeinschaft (DFG) aufgenommenwurde. Seine gute Ausbildung verdanktOckenfels vor allem Reinhard Selten: „Er warmein akademischer Lehrer, mein Mentor undein Glücksfall für meine Karriere.“

Gerade als Ockenfels mit seiner Diplom-arbeit beschäftigt war, wurden seinem Pro-fessor die höchsten Ehren zuteil: Selten, derseit fast 50 Jahren die Spieltheorie erforscht,erhielt 1994 als erster und bisher einzigerDeutscher den Nobelpreis für Ökonomie.Doch während die schwedische Akademieseine Leistungen in der Spieltheorie würdigte,konnte niemand übersehen, dass Selten zu-gleich auch einer der vehementesten Kritikervon vielen Leitsätzen der klassischen Wirt-schaftswissenschaft war. Selten hatte früh er-kannt, dass die meisten ökonomischen Mo-delle auf einer Fehleinschätzung beruhen: aufder Annahme, der Mensch sei ein vernunft-beherrschtes Wesen und nur auf seinen Ei-gennutz bedacht. Abweichungen von diesenAnnahmen wurden zwar vereinzelt zugestan-den, um menschlichen Fehlern und morali-schen Bedenken Rechnung zu tragen. In der

Theorie spielte die Abweichung von der Normaber eine untergeordnete Rolle.

Wie aber verhalten sich Menschen beiihren täglichen Entscheidungen im Wirt-schaftsleben tatsächlich? Sind wir so voraus-schauend, rational und eigennützig, wie dieWissenschaft uns lange Zeit glauben machenwollte? Reinhard Seltens Pionierarbeiten inder experimentellen Wirtschaftsforschungbrachte das Gedankengebäude der Ökonomennachhaltig ins Wanken. Dies zeigt auch dieVergabe des Wirtschafts-Nobelpreises 2002:Mit den beiden Amerikanern Daniel Kahne-man und Vernon Smith zeichnete die Schwe-dische Akademie für Wissenschaften zweiForscher aus, die wie Selten den Homo oeco-nomicus durch ihre Forschungen mit Ver-suchspersonen im Labor radikal in Frage stel-len. Kahneman, der an der Princeton Univer-sity Psychologie lehrt, entwickelte gemein-sam mit seinem 1996 verstorbenen KollegenAmos Tversky die „Prospect Theory“. DieseTheorie postuliert auf der Basis experimentel-ler Ergebnisse, dass Menschen ihre Entschei-dungen oft spontan treffen – weniger ratio-nal, sondern vielmehr situationsbedingt.Menschen neigen dazu, neue Informationen

Menschen im Spiel-Waren-

GeschäftVor zehn Jahren hätten manche Fachkollegen vielleicht noch den Kopf geschüttelt über

Forscher wie DR. AXEL OCKENFELS vom MAX-PLANCK-INSTITUT ZUR ERFORSCHUNG

VON WIRTSCHAFTSSYSTEMEN in Jena. Oder ihn als Außenseiter abgetan, weil er

seine Theorien mit realen Testpersonen überprüft – etwa indem er seine Studenten dem

„Gefangenendilemma“ aussetzt. Ein Ökonom, der wie ein Chemiker ins Labor geht und

obendrein Probanden dabei filmt, wie sie sich in bestimmten Spielsituationen entscheiden?

Das wäre den meisten Wirtschaftswissenschaftlern doch etwas zu weit gegangen. Nicht nur Schach

ist ein strategischesSpiel – auch die Züge im ökono-

mischen Verhaltenlassen sich als Strategiespiel

beschreiben. Wanngibt ein Bieter

welches Gebot beieinem Online-

Auktionshaus ab?

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Innovative Kraft: der 33-jährige Axel Ockenfels vomJenaer Max-Planck-Institut zur Erfor-schung von Wirt-schaftssystemen.

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WIRTSCHAFTSwissenschaft

ton von der Penn State University hat Ocken-fels in der Zeitschrift AMERICAN ECONOMIC RE-VIEW den Aufsatz „ERC – A Theory of Equity,Reciprocity and Competition“ veröffentlicht.ERC steht für die drei Begriffe Fairness,wechselseitige Kooperation und Wettbewerb.Der Kern der Arbeit ist die mathematischeFormulierung eines einfachen Verhaltens-prinzips, das eine große Zahl von Verhaltens-phänomenen organisiert, die scheinbar nichtsmiteinander zu tun haben. „Wir glauben,dass sich die Menschen viel mehr als bisherangenommen auch am Gewinn der anderenorientieren: Sie fühlen sich schlecht, wenn sie weniger vom Kuchen bekommen.“ An-ders ausgedrückt: Die Spieler motiviert nebendem Eigennutz auch ihre relative Auszah-lung.

Zwei Fragen sind für die Entscheidungsfin-dung wichtig. Erstens: Wie viel Geld bekom-me ich? Und zweitens: Wie stehe ich im Ver-gleich zum Gegenspieler da? Ockenfels undBolton glauben nicht, dass Altruismus inökonomischen Entscheidungssituationen einebedeutende Rolle spielt. Es geht nicht darum,anderen etwas Gutes zu tun, sondern sich re-ziprok zu verhalten: Wie du mir, so ich dir(vgl. MAXPLANCKFORSCHUNG 1/2002, S. 10 f.).

Auch komplexe Marktbeziehungen lassensich im ERC-Modell simulieren. Das Aukti-onsspiel, bei dem mehrere Wettbewerber teil-nehmen, zielt besonders auf die Konkurrenz-situation in einem anonymen Markt ab. Undhier zeigt sich, dass Fairness-Überlegungendem Marktergebnis nichts anhaben können,weil die Teilnehmer die Verteilung durch ihreigenes Verhalten nicht mehr beeinflussen

können. Unter extremen Wettbewerbsbedin-gungen – so das Ergebnis der Studie – funk-tioniert die klassische Eigennutzhypothesesehr gut, selbst wenn die Spieler prinzipiell ei-ne gerechtere Verteilung bevorzugen würden.

Die Spieltheorie hat durchaus ihren pädago-gischen Reiz, glaubt Ockenfels. Auktionsspielesetzt der junge Wissenschaftler manchmalein, um seinen Studenten deren eingeschränk-te Rationalität eindrucksvoll zu demonstrie-ren. Der Selbstversuch funktioniert denkbareinfach: Die Spieler sollen den Inhalt einesGlases voller Euromünzen schätzen und dannein Gebot abgeben. „Regelmäßig erlebe ich,dass der Student, der das Glas ersteigert, einschlechtes Geschäft macht, weil längst nichtso viele Münzen darin sind, wie er erwartethat.“ Im Mittel seien die Schätzungen der Stu-denten ziemlich realistisch. Aber da der Auk-tionsgewinner typischerweise derjenige ist,der den Wert der Euromünzen im Glas höherals alle anderen einschätzt, überschätzt derGewinner allzu oft den wahren Wert.

Dieser statistische Effekt ist laut Ockenfelsauch in der realen Wirtschaft zu beobachten:„Das ist der Fluch des Gewinnens.“ Ein Bei-spiel sei die Versteigerung der UMTS-Lizen-zen, die in Deutschland in einer aufwändiggestalteten Auktion an sechs Mobilfunkan-bieter gingen, von denen nun einige wegender enormen Investitionen straucheln. EineSituation, die bei besserer Vorbereitung undetwas mehr strategischem Geschick der Bietervermeidbar gewesen wäre.

Letztlich, so glaubt Axel Ockenfels, wirdder Erfolg der Spieltheorie und der experi-mentellen Wirtschaftsforschung daran ge-messen werden, inwieweit es gelingen wird,das Wissen auch in die Praxis umzusetzen.Der Wissenschaftler ist hier optimistisch: DieMethoden seien mittlerweile so weit ausge-reift, dass es oft gelingen kann, die Lückezwischen Theorie und Praxis zu schließen.Selbst die strategische Interaktion vielerMenschen mit unterschiedlichsten Zielen undErfahrungen auf hoch komplexen Märktenkönnte durch die enge Verknüpfung vonTheorie und Experiment detailliert untersuchtwerden. Die Herausforderung ist, die Metho-den so einzusetzen, dass die ökonomisch re-levanten Komplexitäten des Verhaltens undder Marktinstitutionen beherrschbar werden.

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FORSCHUNG & Gesellschaft

zu überschätzen und zu stark zu gewichten,wie Kahneman mit seiner „Theorie der nervö-sen Frösche“ am Beispiel der Dollarschwan-kungen belegte. Vernon Smith, der etwa zurselben Zeit wie Selten die ersten Laborversu-che ausführte, gilt als Pionier der experimen-tellen Methode in den USA.

Die Forschung von Axel Ockenfels ist in-spiriert durch die theoretischen und experi-mentellen Arbeiten, mit denen sein LehrerReinhard Selten die Forschung gleicher-maßen revolutioniert hat. „Sehr einfach, aberenorm aufschlussreich“, beschreibt Ockenfelsdas Ultimatum-Spiel, das er und seine Kolle-gen am Jenaer Max-Planck-Institut in unter-schiedlichen Variationen im Labor wiederho-len. Im Grunde bildet das „Ultimatum“ eineganz alltägliche Handelsbeziehung ab: Spie-ler A erhält zum Beispiel 100 Euro, die er mitdem unbekannten Spieler B teilen muss.Wenn Spieler B das Angebot ablehnt, gehenbeide leer aus; wenn er akzeptiert, darf jederseinen Teil behalten. Nach der Theorie desHomo oeconomicus ziehen beide Teilnehmermehr Geld vor. Als Konsequenz behält SpielerA 99 Euro und überlässt Spieler B den Rest-betrag von einem Euro. Spieler B akzeptiertauch diesen geringen Betrag, weil es immernoch besser ist als nichts zu bekommen. Spie-ler A kann demnach fast den gesamten Ku-chen für sich fordern.

Das Ultimatum-Spiel wurde erstmals vonWerner Güth untersucht und gehört heute invielen Varianten zu den am meisten studier-ten Phänomenen der experimentellen Wirt-schaftsforschung. Der Grund ist, dass dieVorhersage im Experimentallabor dramatischversagt, wie Ockenfels feststellt: „Die Men-schen verhalten sich anders als in der Theorieund lehnen eine Aufteilung oft ab, wenn sieihnen ungerecht erscheint.“ Bei einer Auftei-lung von 90 zu 10 Euro sei es sehr wahr-scheinlich, dass Spieler B das Angebot aus-schlägt. Weil Spieler A dies ahnt, vermeideter unfaire Angebote von vornherein. Interes-sant sei, dass Wirtschaftswissenschaftler häu-figer das Labor mit leeren Händen verlassen.„Die denken dann, sie sind besonders schlauund bieten kaltschnäuzig das absolute Mini-mum an“, so Ockenfels.

Das Ultimatum-Spiel ist verwandt mit demDiktator-Spiel: Hier kann Spieler A einen be-

Menschen denken nicht nur an ihren Eigennutz – sie sind auch kooperativ

Der Gewinner überschätzt den Wert – und strauchelt

liebigen Geldbetrag willkürlich aufteilen,Spieler B jedoch kein Veto einlegen. Viele„Diktatoren“ geben ihrem Partner einen ausihrer Sicht fairen Anteil ab – im Durchschnittungefähr ein Viertel des Gewinns. Ein ähnli-ches Phänomen ist beim vielfach erprobtenund auch von Soziologen und Politologen un-tersuchtem Gefangenendilemma zu beobach-ten. Hier macht jener der beiden Partner einenhohen Gewinn, der nicht kooperiert. Daherdürfte eine Kooperation zwischen zwei Spie-lern theoretisch nie zustande kommen. DerGrund: Der Anreiz ist groß, die Kooperationauf Kosten des Spielpartners zu verweigern,um damit einen höheren Gewinn einzustrei-chen. Dies gilt ganz unabhängig davon, obder Spielpartner kooperiert oder nicht. „Wennwir das Experiment häufig wiederholen, beob-achten wir jedoch ein konditionales Verhaltender Teilnehmer. Die Spieler sind bereit zu ko-operieren, wenn der andere dies auch tut. Esgibt viele Menschen, die sich reziprok verhal-ten und sich dadurch finanziell besser stellenals dies der Homo oeconomicus jemals könnte.Angesichts solcher Ergebnisse muss man fra-gen, wer schlauer ist: unsere Versuchsperso-nen im Experimentallabor oder Homo oecono-micus?“, sagt Ockenfels.

Wird das Gefangenendilemma mehrfachmit wechselnden Rollen wiederholt, dannsinkt die Kooperationsbereitschaft allerdingsin der letzten Runde auf ein Mindestmaß. DieSpieler scheinen genau zu wissen, dass einfaires Angebot keinen Nutzen mehr bringt. Indem Moment kurz vor Spielende sucht jedernur noch seinen persönlichen Vorteil – esgibt keine Aussicht mehr auf ein quid proquo, ein Tauschgeschäft.

Axel Ockenfels hat eine Fülle von Arbeitenpubliziert, in denen er komplexe Verhand-lungs- und Kooperationsmuster untersucht.Eines seiner jüngsten Beiträge hat nicht nurbei Ökonomen große Beachtung gefunden.Gemeinsam mit seinem Kollegen Gary E. Bol-

Der Webauftritt von eBay, einem

der bekanntesten Online-Auktions-

häuser: Hier bietenviele Teilnehmer

noch in den letzten Sekundenvor Auktionsende.

Die Evolution desMenschen – bis hin zum Homo ERCim theoretischen Spannungsfeld vonFairness, wechsel-seitiger Kooperationund Wettbewerb.

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Was können die Wirtschaftswissenschaftlernun von solchen Studien lernen? Für AxelOckenfels ist es faszinierend, wie stark sichdie Feinheiten der Marktregeln auf dieMarktergebnisse auswirken. „Es kommt ebenalles auf die Details an. Und hier müssen wirganz genau hinschauen“, sagt der Forscher.Schon kleine Veränderungen in der Strukturkönnen erhebliche Folgen für das Markt-ergebnis haben, weil sich das Verhalten derMarktteilnehmer sofort anpasst. Im Markt-design liegt ein neues Arbeitsfeld für die ex-perimentelle Wirtschaftswissenschaft, glaubtOckenfels – noch dazu, weil die Ökonomenneue Märkte „erfinden“ und sofort testenkönnen: „Online-Märkte können im Laboreins zu eins nachgebildet oder beliebig vari-iert werden. Sie können aber auch direkt alsSchaufenster ökonomischen Verhaltens die-nen. Der Übergang von der Theorie über dasLaborexperiment bis zur Realität ist fließend.Alles ist letztlich kontrollierbar.“

Allerdings sei es vergleichsweise einfach,Interaktionen zwischen anonymen Teilneh-mern zu simulieren, die sich wie bei einerAuktion im Internet nur einmal begegnen.„Eine interessante Herausforderung für Markt-design ist es, komplexere Strukturen – zumBeispiel Energie- oder Telekommunikations-märkte – zu gestalten, deren technologischeund ökonomische Nebenbedingungen be-sonders innovative Regeln erfordern. Erste Studien zeigen jedoch sehr eindrucksvoll,dass auch hier mithilfe der Spieltheorie Re-gelwerke entwickelt werden können, die sichex ante experimentell und ex post empirischals Erfolg erweisen“, sagt Ockenfels.

Gerade die Anonymität der Marktteilneh-mer im Internet birgt aber auch Gefahren. Intraditionellen Märkten existieren häufig viel-

fältige persönliche Beziehungen, die Vertrau-en stiften. Anders im Internet. Dort fehlen dieInstitutionen, um Betrug und Missbrauch aus-zuschließen. Wie lässt sich verhindern, dassein Verkäufer über eBay eine defekte Wareliefert und die Spielregeln bricht? Wie kannman Betrug ausschließen, der besonders beiOnline-Märkten immer mehr um sich greift?Ockenfels glaubt, dass Wirtschaftswissen-schaftler dazu beitragen können, die virtuelle„Vertrauenslücke“ zu schließen. Er selbst be-schäftigt sich zurzeit mit der Entwicklung vonelektronischen Reputationssystemen, die dasbisherige Verhalten der Marktteilnehmertransparent machen. „Bisher haben Program-mierer die Arbeit gemacht, aber allmählichmüssen auch wir Ökonomen unseren Sach-verstand einbringen.“

Die Schwierigkeit besteht darin, dass Repu-tationssysteme, wie sie bereits bei Amazonoder eBay bestehen, immer von der Bereit-schaft der Teilnehmer abhängen, Informatio-nen zu liefern. Die Käufer können die Qua-lität und Lieferung eines bestellten Produktsbewerten; umgekehrt dürfen die Verkäuferdie Zahlungsmoral und Kooperation der Käu-fer benoten. Derartige Reputationssystemescheitern aber oft in der Praxis, weil die Teil-nehmer ihre Internet-Identitäten ändern –selbst für Laien kein Problem. Es fehlt außer-dem die Bereitschaft zur freiwilligen, fairenBewertung. Ohne einen finanziellen Anreizwird das System nicht effektiv funktionieren,glauben die Wissenschaftler.

Der Jenaer Forscher ist sich bewusst, dassdie Ökonomen hier erst am Anfang stehen.„Es gibt da einen enormen Nachholbedarf.Was wir brauchen, sind theoretische und em-pirische Forschungen. Wir müssen lernen,wie man intelligente Reputationssystemekonstruiert.“ Ohne wechselseitiges Vertrauenzwischen Käufer und Verkäufer, ohne klar de-finierte Regeln und Sanktionen funktionierteben auch die New Economy nicht. Eine Er-kenntnis, die vielleicht ein wenig spätkommt, die sich aber immer mehr durchsetzt:Auf Marktarchitekten wie Axel Ockenfelswartet da noch eine Menge Arbeit.

CHRISTIAN MAYER

WIRTSCHAFTSwissenschaft

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FORSCHUNG & Gesellschaft

Für Ockenfels ist das Internet ein besondersviel versprechendes Anwendungsfeld – er-laubt es doch erstmals, reale Märkte und rea-les Verhalten nahezu beliebig zu sezieren undzu kontrollieren. Ockenfels untersucht daherinsbesondere das „Marktdesign“ von Online-Auktionen: Sein Forschungsschwerpunktliegt auf Versteigerungen im Internet. Ge-meinsam mit seinem Kollegen Alvin E. Rothvon der Harvard University hat Ockenfels diePlattformen von eBay und Amazon vergli-chen – zwei Internetfirmen mit einem enor-men Wachstumspotenzial und einem giganti-schen Warenangebot. Neben der Spieltheorieund Laborversuchen greifen die Forscher da-bei auch auf Felddaten zurück: Bei eBay sinddie Kaufgebote aller Auktionen der vergange-nen vier Wochen öffentlich zugänglich, beiAmazon sogar acht Wochen gespeichert. Mitdiesem Datenpool lässt sich der Ablauf einerAuktion genau nachvollziehen: Wer bietet zuwelchem Zeitpunkt welchen Preis für ein be-stimmtes Produkt?

Ockenfels und Roth haben einige interes-sante Beobachtungen gemacht. Der entschei-dende Unterschied zwischen beiden Systemenliegt in der Schlussphase der Auktionen, diemeist mehrere Tage lang dauern. Währendbei eBay die Auktionen zeitlich genau be-grenzt sind („Hard Close“), verlängert sich beiAmazon das Ende automatisch um weiterezehn Minuten, wenn in der Schlussphase einBieter noch ein höheres Angebot macht. Damit will Amazon „Sniping“ (das Bieten inletzter Minute) verhindern. Bei eBay ist Sni-ping dagegen an der Tagesordnung: VieleBieter geben erst ganz am Schluss ihr Ange-bot ab, wie die Daten zeigen. Bei 240 eBay-Auktionen gab es etwa 89 Gebote in der letz-ten Minute und immerhin noch 29 Gebote inden letzten zehn Sekunden. Bei Amazonführt jedes Gebot in der Schlussphase auto-matisch zu einer zeitlichen Verlängerung derAuktion. Die strategischen Anreize des „Sni-pings“ werden so durch ein besonderesMarktdesign verhindert. Von 240 Gebotenwurde bei Amazon nur eins in der letzten Minute platziert.

Ganz anders bei e-Bay: Die Kunden neigenzum „Last-Minute-Bieten“, obwohl dann dieGefahr besteht, dass die Gebote in der Hektikkurz vor Ende einer Auktion im Datennetz

verloren gehen. Um dies zu verhindern, bie-ten die Internet-Auktionshäuser den Teilneh-mern die Hilfe eines automatischen „Stellver-treters“ an, der ihre Interessen wahrnimmt.Sie können zu Beginn einer Auktion einPreisgebot („Proxy Bid“) abgeben, das imSystem gespeichert wird. Auch ohne aktivmitzusteigern, haben die Bieter eine Chance,das Versteigerungsobjekt zu erhalten, sofernim Verlauf der Auktion kein höheres Geboteingeht – der Kaufpreis liegt dann nur mini-mal über dem zweithöchsten Angebot undnicht in Höhe des gespeicherten Gebots.

Ockenfels und sein Kollege Roth haben auchherausgefunden, warum bei eBay sehr vielweniger Kunden auf „Stellvertreter“ zurück-greifen, sondern lieber kurz vor Auktionsendeein Gebot platzieren. Besonders erfahrene Bie-ter, die zum Beispiel auf Antiquitäten speziali-siert sind, handeln strategisch und lassen sichnicht nur vom Rausch der letzten Minutenmitreißen. Sie nutzen das Chaos, um wenigertrickreiche Konkurrenten auszuschalten. Sni-ping führt oft dazu, dass Auktionsteilnehmerdas Produkt zu einem relativ geringen Preiskaufen, weil es erst gar nicht zu einemSchlagabtausch mit anderen Bietern kommt.Eine Strategie, mit der erfahrene Kunden zweiGefahren abwenden: Zum einen gehen sie soPreiskriegen mit anderen Bietern aus demWeg; zum anderen lassen sie raffinierten Ver-käufern keine Chance, die den Preis für ihreWare durch Scheinangebote künstlich in dieHöhe treiben. Die Gefahr ist dann allerdingsgrößer, dass der Zufall in der Hektik derSchlussphase entscheidet: Wer im richtigenMoment die Maus drückt, hat gewonnen.

Ein besonderes Marktdesign verhindert „Sniping“ – und damit Hektik

Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser – auch online

Im Spiellabor über-prüft Axel Ockenfels

seine Theorien anTestpersonen – und

bringt Studentenzum Beispiel ins Ge-

fangenendilemma.

Amazon, vor allemals digitaler Buch-händler bekannt,unterbindet Last-Minute-Bietendurch automatischeVerlängerung der Auktion.

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Hartmut Wekerle

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NEURObiologieZur PERSON

Hartmut Wekerleturen erkennen, die also auf „Auto“-Antigene geprägt sind.

Das bedeutete den Abschied vomschönen und überzeugenden Bild ei-ner präformierten, rein auf körper-fremde Strukturen geeichten Im-munabwehr. „Dieser Abschied“, soWekerle, „fiel manchen Immunolo-gen recht schwer. Und weil ein do-minantes Dogma auch entschlosseneVerfechter hat, mussten wir um 1980herum allerhand Konflikte durchste-hen. Dabei war es nicht von vorn-herein unser Ziel, ein Dogma zustürzen. Eher wollten wir es mit un-seren Befunden in Einklang bringen– was sich am Ende als unmöglicherwies.“

Diesem ersten folgte bald einzweiter, nicht weniger folgenschwe-rer „Streich“. Auch er betraf einedogmatisch verhärtete Ansicht – denLehrsatz, wonach das zentrale Ner-vensystem von jeglicher Immunre-aktion ausgenommen sei: Gehirnund Rückenmark sollten durch die sogenannte Blut-Hirn-Schranke gegendie ansonsten überall im Organismusgegenwärtigen T-Lymphozyten ab-geschottet sein.

Dass dies nicht zutrifft, zumindestnicht in dieser allgemeinen Form,wies Wekerle im Rahmen einer mul-tinationalen Zusammenarbeit nach.Dabei wurde offenbar, dass das zen-trale Nervensystem zwar von der„routinemäßigen“ Immunüberwa-chung ausgenommen ist, dass aberaktivierte T-Lymphozyten, die an ei-ner laufenden Abwehrreaktionaußerhalb des Nervensystems betei-ligt sind, selektiv Zugang zu Gehirnund Rückenmark erhalten. Und manfand weiter, dass Gehirnzellen fall-weise eng mit den eingewandertenLymphozyten kooperieren und sichan Immunreaktionen im Nervensys-tem beteiligen.

Gehirn und Rückenmark sind alsokeineswegs „immunologisches Nie-

Im Oktober 2002 wurde PROF. HARTMUT WEKERLE, Direktor am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR

NEUROBIOLOGIE in Martinsried, mit dem Wissenschaftspreis der „Fondation Louis D.“ des Institut

de France ausgezeichnet. Der Preis, dotiert mit 750 000 Euro, galt Wekerles grundlegenden For-

schungen über Autoimmun-Erkrankungen des zentralen Nervensystems, insbesondere die Multiple

Sklerose. Solche Leiden galten noch vor drei Jahrzehnten, einem Dogma gemäß, als eigentlich

„unmöglich“. Wekerle trug entscheidend zum Fall dieses Dogmas bei und half damit die Neuro-

immunologie zu begründen – ein Forschungsfeld, auf dem Grundlagenforscher mit Medizinern da-

ran arbeiten, gezielt in „selbst“-zerstörerische Attacken des Immunsystems eingreifen zu können. FOTO

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Hartmut Wekerle wurde 1944 inWaldshut geboren, studierte Medizinan der Universität Freiburg und be-gann seine wissenschaftliche Lauf-bahn 1967 am Freiburger Max-Planck-Institut für Immunbiologie.

„Das geschah rein zufällig“, be-richtet Wekerle. „Ich habe damals inder ZEIT einen Artikel über die Max-Planck-Gesellschaft gelesen unddann im Vorlesungsverzeichnis dasMPI für Immunbiologie gefunden.Und weil ich in Immunologie meinenDoktor machen wollte, habe ich mei-ne Ehrfurcht vor dem elitären Präfix,Max-Planck‘ überwunden und dortangeklopft ...“

Das Klopfen wurde erhört – und sokam Wekerle als Doktorand unter dieFittiche von Herbert Fischer, der ihnfür die Immunologie begeisterte. ImJahr 1971 legte Wekerle seine Disser-tation vor. Danach arbeitete er bis1973 als Postdoc am Weizman-Insti-tut in Rehovot – wo er über MichaelFeldman an die Themen geriet, dieihn seit nunmehr 30 Jahren beschäf-tigen: das Problem der Selbsttole-ranz des Immunsystems und dasPhänomen der Autoimmunität, derImmun-Aggression gegen körperei-gene Strukturen.

Als Wekerle 1973 von Rehovotwieder ans Freiburger Max-Planck-Institut für Immunbiologie zurück-kehrte, hatte er bereits einiges imGepäck, das in den folgenden Jahrenwissenschaftliche Sprengkraft ent-falten sollte: Befunde, die ernsteZweifel am damals gültigen Konzeptder Selbsttoleranz des Immunsy-stems nahe legten – an einem Kern-stück der so genannten Klon-Selekti-ons-Theorie des australischen Immu-nologen und Nobelpreisträgers SirMacfarlane Burnet.

Diese Theorie betrifft die grundle-gende Organisation der T-Lympho-zyten, jener weißen Blutzellen, dieeine zentrale Rolle innerhalb der Im-

munabwehr spielen: Ihnen obliegtdie Erkennung von „Antigenen“, vonkörperfremden molekularen Struktu-ren. Diese Immun-Erkennung erfolgthoch spezifisch. Denn jeder T-Lym-phozyt ist jeweils nur auf ein einzi-ges, ganz bestimmtes „Feindbild“ ge-prägt: Er trägt an seiner OberflächeRezeptoren, eine Art Fühler, die aufsein „persönliches“ Antigen zuge-schnitten sind wie ein Schlüssel aufein Schloss. Deshalb sprechen aufden Kontakt mit körperfremden Mo-lekülen von allen Lymphozyten im-mer nur diejenigen an, die den pas-senden Rezeptor tragen: SolcheLymphozyten gleicher Spezifitätnennt man Klon.

GEWAPPNET GEGEN

ALLES FREMDE

Burnet zufolge sollte das Immun-system Millionen von Lymphozyten-Klonen unterschiedlicher Spezifitätbereithalten und so gewährleisten,dass jedes denkbare Antigen auchtatsächlich erkannt wird. Im Fall ei-nes Antigen-Kontakts sollten sichdie Lymphozyten des „zuständigen“Klons vermehren und die Immunre-aktion einleiten.

Das Spezifitäten-Arsenal der Im-munabwehr erfasst gewissermaßendie gesamte antigene Außenwelt, istalso auf jeden denkbaren Verteidi-gungsfall vorbereitet. Zugleich abermuss es körpereigene Strukturen to-lerieren – und das erklärte Burnetmit einem vorgeburtlichen Auslese-Prozess: Während der Embryonal-phase sollten alle Lymphozyten mit„selbst“-erkennenden Rezeptorenausgemerzt, sollte die Immunabwehrgezielt entwaffnet werden. Und dieses Dogma galt bis Ende der sieb-ziger Jahre – bis Wekerle und seineKollegen zu einem anderen Bild ka-men: Danach umfasst das gesundeImmunsystem sehr wohl auch T-Lym-phozyten, die körpereigene Struk-

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Zur PERSON

mandsland“. Dass dieses Fazit damalsin Fachkreisen viel Aufsehen erregte,mutet Wekerle in der Rückschau fastmerkwürdig an: „Zu jener Zeit wareigentlich schon unübersehbar, dasses Erkrankungen des zentralen Ner-vensystems gibt, an denen das Im-munsystem entscheidend mitspielt.“

Auf eine dieser Erkrankungen ver-lagerte sich 1982 der Schwerpunktvon Wekerles Forschungen: In demJahr wurde er zum Leiter der Klini-schen Forschungsgruppe für Multi-ple Sklerose bestellt, die von derMax-Planck-Gesellschaft mit Gel-dern der „Hermann und Lilly Schil-ling Stiftung“ an der NeurologischenKlinik der Universität Würzburg ein-gerichtet wurde.

Diese Gruppe vereinte Grundla-genforscher mit Klinikern, und ihrZiel war, die immunologischen Pro-zesse aufzuklären, die an der Multi-plen Sklerose mitwirken – nämlichAutoimmun-Reaktionen gegen einenBestandteil des Myelins, eine ausFett- und Eiweißstoffen gebildeteSubstanz, die als Isolierschicht dieeinzelnen Nervenfasern im Gehirnumhüllt.

Vieles von dem, was man vordemnur in Experimenten mit „tieri-schen“ Immunzellen aufgedeckt hat-te, ließ sich in Würzburg mit Materi-al aus dem Blut von Patienten mitMultipler Sklerose bestätigen undvertiefen. So gelang es, T-Lympho-zyten aus dem Blut von Erkrankten,aber auch von gesunden Menschen

zu isolieren, die gegen Myelin alsAuto-Antigen reagieren. Und nichtnur das: Man fand, dass praktischjede Hirnsubstanz von potenziellselbsterkennenden T-Lymphozytenals Antigen wahrgenommen undattackiert werden kann – ein Sach-verhalt, den Wekerle inzwischenverallgemeinert: „Ich wage zu extra-polieren, dass nicht nur Bestandteiledes Nervengewebes, sondern jegli-ches organ-spezifische Protein desKörpers prinzipiell von selbstreakti-ven T-Lymphozyten erkannt undunter unglücklichen Umständenzum Ziel einer Autoimmunreaktionwerden kann.“

DURCH FEHLER

ZUM BÜRGERKRIEG

Diese Prognose kennzeichnet dengrundlegenden Wandel, den Weker-les Forschungen herbeigeführt ha-ben. Galt das Abwehrsystem einst als„blind“ für körpereigene Strukturen,so erscheint es nun als ein Organ,das aktiv zwischen „Selbst“ oder„Nicht-Selbst“ unterscheidet – dasdabei aber Fehler machen und einen„Bürgerkrieg“ anzetteln kann. SolcheFehlgriffe gegen das Selbst erklärteman früher mit der zufälligen Neu-bildung „verbotener“ Lymphozyten-Klone; inzwischen weiß man, dassdahinter eine Fehlsteuerung oder dasVersagen von Kontrollen steckt, dieImmunreaktionen gegen körpereige-ne Strukturen unterbinden.

„Leider“, so Wekerle, „wissen wirnoch wenig darüber,wie selbstreaktive T-Lymphozyten norma-lerweise an der Ausü-bung ihres Handwerksgehindert werden. Dochwäre es falsch, sie alsZeitbomben im Körperzu betrachten. Denn eshat sich auch gezeigt,dass sie nur über be-sondere Prozesse akti-viert und pathogen ge-schärft werden.“

Seit 1988 forscht Wekerle als Di-rektor am Max-Planck-Institut fürNeurobiologie in Martinsried beiMünchen und leitet dort die Abtei-lung Neuroimmunologie. DerSchwerpunkt der Arbeiten gilt nachwie vor den Wechselwirkungen zwi-schen Nerven- und Immunsystem.Und wie in Würzburg, so bestehtauch in Martinsried eine enge An-bindung an klinische Forschung –im Rahmen einer modellhaften Ko-operation mit Prof. Reinhard Hohl-feld, dem Leiter des Instituts fürNeuroimmunologie am Klinikum derLudwig-Maximilians-UniversitätMünchen.

Wekerle bezeichnet dieses „inte-grative Labor“, in das Max-Planck-Gesellschaft und Universität pa-ritätisch investieren, als Glücksfall:„Es erlaubt uns, experimentelle For-schung unmittelbar mit klinischerHuman-Immunologie zu verbindenund Neuroimmunologie vom Kran-kenbett bis zum Molekül zu betrei-ben – ein einzigartiges Modell, aufdas wir stolz sind.“

Derzeit wird im Detail untersucht,was im Zug einer Autoimmun-Attacke gegen Hirngewebe abläuft,und zwar mit einer im Grunde sim-plen, doch sehr effektiven, „ziel-führenden“ Methode: Mittels be-stimmter Retroviren, die man gene-tisch so manipuliert, dass sie eingrün fluoreszierendes Protein bilden.Mit diesen Retroviren werden dannautoimmune T-Lymphozyten infi-ziert, die das Myelin in den Mark-scheiden der Nervenzellen angreifen.

Diese manipulierten Retroviren in-tegrieren in das Genom der infizier-ten T-Zellen – und liefern damit, soWekerle, ideale Sonden: „Die T-Zel-len bleiben funktionell intakt undtun genau das, was man von au-toimmunen, Myelin-spezifischenLymphozyten erwartet. Zugleichaber erzeugen sie den grünen Farb-stoff – und können deshalb beiihrem Treiben verfolgt werden.“

Injiziert man gegen Myelin akti-

bild. Vielleicht finden wir ein Struk-turmerkmal, das diese Lymphozyteneindeutig kennzeichnet und damitdie Möglichkeit bietet, sie vor demEinfall ins Gehirn abzufangen.“

Außerdem sei denkbar, die Retro-viren, die das Gen für das grün-flu-oreszierende Protein tragen, mit Ge-nen für therapeutisch wirksame Pro-teine auszurüsten. Man kennt eineReihe von Proteinen, die eine Rege-neration geschädigter Nervenzellenbewirken – und die sich über mani-pulierte Retroviren und T-Lympho-zyten gezielt an ihren Wirkort steu-ern ließen.

Doch dieser Weg vom Labor in dieKlinik wird noch lang und mühsamsein. Denn das Immunsystem hatsich als überaus komplexes Organerwiesen, in dem zahlreiche unter-schiedliche Zellen über ebenso zahl-reiche Signalstoffe in einem nochunüberschaubaren Geflecht zusam-menwirken. Dieses Wirkungsgefügezu durchschauen, so Wekerle, erfor-dert Geduld: „Früher glaubte man,mit der Antwort auf eine scheinbarentscheidende Frage schon ,fast al-les‘ zu wissen. Wir haben erfahren,dass jede Antwort immer neue, meistnoch schwierigere Fragen aufwirft.Und wir haben gelernt, dass es nichtgenügt, isolierte Zellen oder auchzwei Zellen in ihrer Wechselwirkungzu studieren, sondern dass wir ganz-heitlich vorgehen müssen: Es gehtjetzt in der Immunologie darum,ganze ,Milieus‘ zu charakterisieren,also Wirkungsgefüge anstelle vonEinzelwirkungen zu erfassen. Daranarbeiten wir – und da ist noch aller-hand zu tun.“ WALTER FRESE

vierte T-Lymphozytenin die Blutbahn einerRatte, dringen einige –weil aktiviert – auchdurch die Blut-Hirn-Schranke. „Doch solcheVersuche brachtenfrüher wenig“, berichtetWekerle, „weil wir dieseLymphozyten bald ausden Augen verloren: Wir wusstendann einige Tage lang nicht, wo siesteckten.“

Inzwischen hat der grüne FarbstoffLicht in dieses Rätsel gebracht: Manfand, dass die aktivierten T-Lympho-zyten durch das periphere Immunge-webe der Ratten wandern und sichschließlich in der Milz sammeln.Dort werden sie genetisch vollstän-dig umprogrammiert und bilden ei-nen neuen Phänotyp aus; so ver-schwinden etwa die Aktivierungszei-chen an ihren Oberflächen, und sieentwickeln Rezeptoren für chemischeSignalstoffe, die ihnen als eine ArtWegweiser dienen.

NEUE HOFFNUNG

DURCH NEUES WISSEN

Nach drei Tagen wandern dieseumgebauten Lymphozyten dann inMassen aus der Milz aus und strö-men ins Hirn, wo sie eine akute, ent-zündliche Autoimmun-Erkrankungder Myelin-Scheiden hervorrufen.Zum Erstaunen der Immunologenleuchten gut 90 Prozent aller Lym-phozyten, die an dieser Entzündungmitwirken, grün auf und agierendemnach als „Effektoren“, als An-greifer – im Gegensatz zur früherenMeinung, dass jeweils nur wenigeaktivierte Zellen ins Gehirn dringenund die Immunreaktion vor allemvon passiv rekrutierten „Hilfstrup-pen“ übernommen wird.

Aus dieser Erkenntnis lässt sichvielleicht Nutzen ziehen, meint We-kerle: „Wir wissen jetzt, dass die T-Lymphozyten vor ihrem Angriff ei-nen neuen Phänotyp annehmen, alsoein anderes äußeres Erscheinungs-

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NEU erschienen

Geheime Botschaften Rudolf Kippenhahn: STRENG GEHEIM! Wie man Botschaften verschlüsselt undZahlencodes knackt, 112 Seiten, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek2002, 12,90 Euro.

An einem heißen Sommertag desJahres 1953 findet der New

Yorker Zeitungsjunge James Bron-zart in einem Fünf-Cent-Stück einekleine Filmrolle. Das FBI identifi-ziert darauf Reihen von achtstelligen Zahlen – offenbar ein Geheimcode.Schließlich stellt sich heraus, dassdie verschlüsselte Nachricht in derMünze einem russischen Spion galt,

der später zu den Ameri-kanern überlief.

Geheime Botschaftenhaben eine lange Ge-schichte. Schon vor mehrals zweieinhalb Jahrtau-senden erhielt der Perser-könig Kyros eine Nach-richt – versteckt imBauch eines erlegten Ha-sen. Und nach Julius Cä-sar ist sogar eine Ver-

schlüsselungstechnik benannt, nachder jeder Buchstabe systematischdurch einen anderen ersetzt wird.

Rudolf Kippenhahn, früher Direk-tor am Max-Planck-Institut fürAstrophysik und seit seiner Emeritie-rung im Jahr 1991 erfolgreicherSachbuchautor, bringt solche Anek-doten in gewohnt lockerem – unddieses Mal vor allem für Kinder undJugendliche – verständlichem Stil. Inder fiktiven Rahmenhandlung er-zählt der „Großvater“ während der

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NEU erschienen

Die Biologiedes Denkens Michael Tomasello: DIE KULTURELLE ENTWICKLUNG DES MENSCHLICHEN DENKENS, Zur Evolution der Kognition,285 Seiten, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2002, 26,90 Euro.

Was unterscheidet Mensch undTier? Dieser Jahrtausende al-

ten Frage widmet Michael Tomasello,Direktor am Max-Planck-Institut fürevolutionäre Anthropologie, seineForschung – und hat eine Antwortvorgelegt, die nun auf Deutsch er-schienen ist. Tomasellos Theorierichtet sich gegen zwei Ansätze:Zum einen argumentiert er dage-gen, das Kognitivedes Menschen aus-schließlich auf dieGene zurückzufüh-ren – ein Ansatz,der die Geschichteaußer Acht lässt:Dieses Konzeptwürde „von der ers-ten Seite der Ge-schichte, nämlichder Genetik, zurletzten Seite, der gegenwärtigenmenschlichen Kognition, springen,ohne einen Blick auf die dazwischenliegenden Seiten zu werfen.“ Zumanderen hält Tomasello die Suchenach den Wurzeln des Menschseinsim Tierreich – etwa bei Werkzeug-gebrauch oder sozialem Verhalten –für eine „Vermenschlichung oder Romantisierung“ von Tieren.

Immerhin aber sind die Gene vonAffe und Mensch zu etwa 95 Prozentidentisch. Wie ist es möglich, dassder Mensch und seine nächsten Verwandten sich entwicklungsge-schichtlich erst vor sechs MillionenJahren voneinander trennten underst vor 250 000 Jahren der moderneHomo sapiens entstand? Das ist zwarhistorisch eine lange Zeit – evolu-tionär aber nur ein Augenblick. NachTomasello ist es undenkbar, dass eineReihe von Mutationen in dieser kur-

zen Spanne das menschliche Gehirnzum Hochleistungsrechner gemachthat. Vielmehr sei eine einzige Mutation mit „kulturellem Wagen-hebereffekt“ die Ursache für die ra-sante Entwicklung des Menschenund seiner „kumulativen kulturellenEvolution“. Sie begründe die Fähig-keit des Menschen, andere als inten-tionale Akteure wie sich selbst zubegreifen.

Damit erst werden Tradition undmithin Geschichte möglich: JedesKind wird in eine kollektive Weltvon Wissen und Fertigkeiten ge-boren, die es sich durch Imitationund Schulung aneignet und schöpfe-risch weiterentwickelt. Deshalb seienalle Produkte menschlichen Geistes –auch scheinbar Objektives wie Ma-thematik – eben kulturelle Erzeug-nisse. So versucht Michael Toma-sello einen Brückenschlag von Na-tur- zu Geisteswissenschaft. Das ehemals klassische Thema der Geis-teswissenschaften, die menschlicheKognition, haben die Naturwissen-schaften freilich schon länger fürsich entdeckt, und auch Tomasellosexperimentelle Methode ist dort an-zusiedeln. Doch obwohl die Fähig-keit, Intentionen zu verstehen, gene-tisch verankert ist, lassen sich Kon-ventionen und Symbole nur histo-risch erklären.

Und was ist mit den nächsten Ver-wandten der Menschen, den Affen?Tomasello studiert seit Jahren dasVerhalten von Kleinkindern undSchimpansen – daher hat er reichesMaterial, um seine Theorie zu stüt-zen. Der entscheidende Unterschiedsei, dass Affen durch Emulation,nicht Imitation lernten, durch Ritua-lisierung, nicht Anleitung. Damit istim strengen Sinn keine Konservie-rung und Weiterentwicklung vonKultur möglich. Das aber ist umstrit-ten in der Fachwelt. Tomasellos Bei-trag bereichert die Diskussion – unddürfte die Forschung antreiben:Denn die Fähigkeit des Menschen,Intentionen zu verstehen, ist selbstnoch ein Rätsel. KERRIN HINTZ

Von der Wüstezu den SternenDirk H. Lorenzen: GEHEIMNISVOLLES UNI-VERSUM, Europas Astronomen entschleierndas Weltall, 208 Seiten, Kosmos Verlag,Stuttgart 2002, 49,90 Euro.

Die Zeiten romantischer Ster-nennächte sind längst vorbei.

Mit ausgefeilten Techniken suchenAstronomen heute nach Antwortenauf kosmische Rätsel. Wo stecken 95Prozent der unsichtbaren, der „dunk-len“ Materie? Was treibt das Univer-sum auseinander? Wie entstandendie Galaxien? Welche Rolle spielendie Schwarzen Löcher? Bei ihremBemühen, das All zu entschlüsseln,bedienen sich die Forscher optischerund elektronischer Hightech-Ma-schinen, die an den entlegensten Orten der Erde stehen.

Für die meisten europäischenAstronomen – auch für jene an denInstituten der Max-Planck-Gesell-schaft – führt der Weg zu den Ster-nen in die Wüste. Auf dem 2635 Me-ter hohen Cerro Paranal in den chile-nischen Anden betreibt das vor 40Jahren gegründete European Sou-thern Observatory (ESO) das mäch-tigste Fernrohr der Welt: das VeryLarge Telescope, eine Anlage ausvier Spiegeln mit jeweils acht MeterDurchmesser. Die „adaptive Optik“der Fernrohre gleicht Turbulenzeninnerhalb der Erdatmosphäre ausund liefert tiefe Einblicke in die Kin-derstube von fernen Sonnen oderGalaxien am Rand des Universums.Bald wollen die Astronomen dieGeräte mit einer speziellen Technikzu einem einzigen gigantischenHimmelsauge kombinieren.

Der Journalist Dirk H. Lorenzenhat den Wissenschaftlern auf demParanal über die Schulter geschaut.Im Reportagestil erzählt er vom All-tag der Menschen im „Wissen-schaftskloster“. Dabei lässt der AutorAstronomen wie Günther Hasinger,Direktor am Max-Planck-Institut fürextraterrestrische Physik, selbst zu

Sommerferien sechs Kindern eineMenge Wissenswertes über ver-schlüsselte Botschaften und führtdabei auf vergnügliche Weise durchdie Welt der Codes und Zahlenrätsel,der Spione und Detektive.

Bei der Theorie bleibt es abernicht: Die Nachwuchsagenten lernenspielerisch den Umgang mit Zahlen-codes und Schlüsselschablonen. Undda gibt es viel mehr als nur mitMilch, Zitronensaft oder Spucke aufein Blatt Papier zu schreiben und dieverborgenen Lettern durch Erwär-men sichtbar zu machen. Das Morse-Alphabet. Und die Flaggen-Sprache.Und die Braille-Schrift. Kippenhahnhat viele Tricks auf Lager und be-schreibt auch schwierige Codes. ImKapitel „Die Geheimschrift aus demHut“ zeigt der Autor, wie man ausden 26 Buchstaben des Alphabets eine Schlüsseltabelle herstellt – mitinsgesamt 403 291 461126 605 635584 000 000 Möglichkeiten. Auf dieBedeutung von „klwlri“ zum Beispielwird kaum jemand kommen. Selbstwenn man weiß, dass dieses Wort mitdem beschriebenen Zufallsgenerator– dafür reicht ein Hut, aus dem man26 kleine Zettel mit den Buchstabenzieht – erzeugt wurde: Dem Alphabeta, b, c, d ... entsprach bei meinemVersuch die Buchstabenfolge u, l, r,e ... Und g wurde zu k, l zu e, w zu h,r zu i und i zu m. Alles klar?

Natürlich ist es auch spannend,harte Nüsse zu knacken und auf denersten Blick unlösbar erscheinendenBuchstaben- und Zahlensalat zu dechiffrieren, zum Beispiel eine sogenannte Vigenère-Verschlüsselung.Das „Superpraktische und streng geheime Verschlüsselungsset“ – alsSchnippel-Gimmick dem Buch bei-geheftet – leistet professionelle Hilfe.Wer nach der Lektüre wissen will, ober als Topagent geeignet ist, kanndas Gelernte an fast zwei DutzendRätselübungen mit Lösungen über-prüfen. „Streng geheim!“ ist ein Le-se- und Mitmachbuch für Neugieri-ge, das man so schnell nicht aus derHand legen mag. HELMUT HORNUNG

Wort kommen und über Forschun-gen und Projekte berichten. Zudementführen großformatige Ansichtenaus dem All den Leser in höhereSphären und eröffnen ihm damitneue Horizonte.

Das Observatorium auf dem Para-nal ist nicht das einzige: Etwa 600Kilometer nördlich von Santiago deChile steht auf La Silla die „Keimzel-le“ der ESO. Ziel des am 5. Oktober1962 unterzeichneten Gründungsab-kommens war der Bau einer großenSternwarte auf der Südhalbkugel,um die Zusammenarbeit der europäi-schen Astronomen zu stärken. DieGründungsländer waren Deutsch-land, Frankreich, Belgien, die Nie-derlande und Schweden.Nach dem Beitritt vonDänemark, der Schweiz,Italien, Portugal undGroßbritannien zählt dieESO heute zehn Mit-glieder. Die EuropäischeSüdsternwarte beschäftigtknapp 500 Mitarbeiterund hat einen Jahresetatvon rund 100 MillionenEuro. Seit 1980 hat dasHauptquartier seinen Sitz in Gar-ching bei München.

Es war ein weiter und buchstäblichsteiniger Weg auf den Olymp astro-nomischer Forschung. Am Anfangstand die Suche nach einem geeigne-ten Platz für die Sternwarte. DiesesThema nimmt in dem Jubiläumsbandbreiten Raum ein – für den einenoder anderen Leser vielleicht zu viel.Doch Lorenzen hat mit dieser Doku-mentation ein kaum bekanntes StückWissenschaftsgeschichte vor demVergessen bewahrt. HELMUT HORNUNG

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rungen. Selbst dort, wo bereitsneue Strafgesetzbücher vorlie-gen – wie in Russland, Polenund Slowenien – stehen schonwieder Novellierungen an. Des-halb erschien den Symposiums-teilnehmern die Gegenüberstel-lung von abgeschlossenen undlaufenden Strafrechtsreformenwenig aussagekräftig. Der herr-schende Gesetzesaktivismusund -populismus berge zudemdie Gefahr der Rekriminalisie-rung. Teilweise als befremdlich,zumindest jedoch als unprak-tikabel, werteten deutsche Juristen das Bestreben vielerosteuropäischer Länder, bei derEinführung neuer Straftatbe-stände diese nicht in spezifi-schen Nebengesetzen zu kodi-fizieren – wie das in Deutsch-land zum Beispiel mit demBetäubungsmittel- oder demWaffengesetz der Fall ist, son-dern im Strafgesetzbuch zuverankern. Diese Ansicht teil-ten viele der osteuropäischenWissenschaftler nicht.Doch was ist überhaupt eineStraftat? Der Straftatbegriffsowjetisch-sozialistischer Prä-gung machte die Strafbarkeiteines Handelns von einer „Ge-sellschaftsgefährlichkeit“ ab-hängig. Diese Auffassung fin-det sich im polnischen und slo-wenischen Strafrecht nur nochansatzweise als „geringfügigeSozialschädlichkeit“ bezie-hungsweise materiell-recht-liche Bagatellkriminalität wie-der, während zum Beispiel dergeorgische Gesetzgeber diesenBegriff aufgibt. Das Bestrebenosteuropäischer Länder, mög-lichst viel Strafrechtsdogmatikin Form von Legaldefinitionenin den Strafgesetzbüchern zuverankern, führte zur Diskussi-on über das Verhältnis vonStraftatsystematik, Gesetzge-bung und Richterrecht. EinSymposiumsteilnehmer merktean, dass es wichtig sei, denRichtern keinen zu weiten Be-urteilungsspielraum durch

Generalklauseln zu geben.Auch das Strafprozessrecht hatsich in Osteuropa massiv ver-ändert – sowohl durch Refor-men bestehender als auchdurch Schaffung ganz neuerStrafprozessordnungen. In allenLändern werden verschiedeneGrundsätze des Strafverfahrensneu diskutiert, beispielsweisedie Rolle des Beschuldigten imStrafverfahren: Wie lange dür-fen Vernehmungen dauern?Welche Anforderungen sind andie Untersuchungshaft zu stel-len? In welchem Maß solltenBeschuldigtem und VerteidigerAkteneinsicht gewährt werden?Im Mittelpunkt der Diskussionstand die Frage nach der Ab-grenzung der Kompetenzenvon Staatsanwaltschaft, Ge-richt und Polizei – oder zuge-spitzt formuliert: Wer hat nachdem gesellschaftspolitischenUmbruch Macht verloren, werMacht gewonnen? Es stelltesich heraus, dass die in den so-zialistischen Rechtsordnungenübliche starke Stellung derStaatsanwaltschaft bei der An-ordnung der Untersuchungs-haft und der Hausdurchsu-chung nicht mehr gegeben ist;diese Kompetenz liegt in denmeisten Ländern nun beimRichter. Doch auf diese Änderungenfolgt jetzt offenbar eine zweiteReformwelle: Die Öffentlichkeitrufe nach einer härteren Straf-praxis – nicht zuletzt aufgrundeiner durch die Medien geför-derten Wahrnehmung gestie-gener Kriminalität. So distan-zierten sich einige Länder imNamen einer effektiven Krimi-nalitätsbekämpfung von denzunächst eingeleiteten Refor-men. Auch die Sanktionen werden in manchen Ländernschon wieder deutlich ver-schärft. Denn das Empfindender Öffentlichkeit trügt nicht:Die meisten Referenten be-stätigten eine steigende Zahlvon Straftaten. Dabei war die

erste Hälfte der neunziger Jah-re zunächst davon geprägt, die Sanktionssysteme einemrechtsstaatlichen Standard an-zupassen. Mit Ausnahme vonWeißrussland wurde in allenLändern die Todesstrafe abge-schafft. Einige Länder drängtensogar die Freiheitsstrafe zu-gunsten der Geldstrafe zurück– obwohl die Vollstreckung von Geldstrafen einigen Staa-ten Probleme bereitet.In manchen Ländern wurdenauch nicht-punitive Maßnah-men wie der Täter-Opfer-Aus-gleich eingeführt. Doch es gabwarnende Stimmen, die Ver-schärfung der Kriminalpolitiknicht bloß als Problem derTransformationsstaaten zu sehen. Auch in Westeuropawerde der Schutz von Men-schen- und Bürgerrechten eingeschränkt zu Gunsten einesstarken Staats mit weit rei-chenden Eingriffsbefugnissen.In den osteuropäischen Län-dern wird vor allem die in denvergangenen zehn Jahren ge-wachsene organisierte Krimi-nalität als Bedrohung empfun-den. Man hat darauf reagiertund Ämter zu deren Bekämp-fung eingerichtet sowie ge-setzliche Voraussetzungen füreine effektivere Ermittlung,Verfolgung und Bestrafung ge-schaffen. Außerdem wurdendie osteuropäischen Staatenzumindest teilweise in die in-ternationalen Strukturen zurBekämpfung grenzüberschrei-tender Straftaten eingebunden. Doch um die dabei auftreten-den Probleme abzubauen, müssten die Rechtsordnungeneuropaweit harmonisiert unddarüber hinaus ein einheit-liches Straf- und Strafprozess-recht geschaffen werden,mahnten einige Referenten.Langfristig sei die Kriminalitätnur zu reduzieren, wenn sämt-liche europäischen Staaten derEU beitreten und Europol ein-gebunden werde. ●

INSTITUTE aktuell

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Die Reformen des Straf- undStrafprozessrechts in Osteu-ropa sind noch nicht abge-schlossen. Die steigende Zahlvon Straftaten und eine ver-änderte Wahrnehmung derKriminalität beeinflussen je-doch die Reformen. So könn-te man das Fazit eines Sym-posiums umschreiben, zu demim vergangenen Sommer 60 Strafrechtswissenschaftleraus 15 osteuropäischen Staa-ten sowie aus Deutschlandauf Schloss Ringberg am Te-gernsee zusammenkamen.Auf Einladung des FreiburgerMax-Planck-Instituts fürausländisches und internatio-nales Strafrecht diskutiertendie Teilnehmer unter dem

Titel „Strafrechtsentwicklungin Osteuropa zwischen be-wältigten und neuen Heraus-forderungen“.

Das Symposium leistete vor allem eine Bestandsaufnahme,bei der in fünf Arbeitssitzun-gen Gemeinsamkeiten und Un-terschiede in der Entwicklungder Rechtssysteme herausgear-beitet wurden. Dabei zeigtesich, dass sich die osteuropäi-schen Länder jeweils mit ähn-lichen Fragen – auch mit vielenGrundsatzfragen des Straf-rechts – auseinander setzen, es aber noch zu früh ist, ab-schließend über die Reformenzu urteilen. Denn in allen Län-dern wird kontinuierlich weiter

SYMPOSIUM ZU STRAFRECHT IN OSTEUROPA

Wachsende Kriminalität beeinflusst Reformen

an den Gesetzen gearbeitet.Dass darüber hinaus in den Dis-kussionen auch hinter schein-bare Selbstverständlichkeitendes deutschen Systems geblicktwurde, wertete Prof. Albin Eser,Direktor am Max-Planck-Insti-tut für ausländisches und in-ternationales Strafrecht, als zu-sätzlichen Gewinn der Tagung.Der Anfang des Symposiumswidmete sich den Entwicklun-gen des materiellen Strafrechts,die in vielen Ländern nochnicht abgeschlossen sind. InUngarn, Litauen und Jugoslawi-en hat man zunächst das altematerielle Strafrecht durch Än-derungsgesetze sukzessive er-neuert; parallel dazu entstehennun komplette Neukodifizie-

Nur wenn alle europäischenStaaten der EUbeitreten undEuropol einge-bunden wird, lässt sich die Kri-minalität verrin-gern – so lautetein Ergebnis des Symposiums.

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INSTITUTE aktuell

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Die Max-Planck-Institute fürPsychiatrie und für Bioche-mie haben gemeinsam mitdem PharmaunternehmenGlaxoSmithKline das GeneticsResearch Centre (GRC) eröff-net – eine neue und in dieserForm in Deutschland bislangeinzigartige Forschungsein-richtung. Das GRC auf demGelände des Münchner Max-Planck-Instituts für Psychia-trie verfügt über neuesteTechniken für Genomanaly-sen, die es ermöglichen, dengenetischen Ursachen vonVolkskrankheiten wie Krebs,Diabetes, Asthma oder De-pressionen auf die Spur zukommen. Langfristig sollenneue Ansätze für die Arznei-mitteltherapie entwickeltwerden. Weitere Projekte desGRC beschäftigen sich mitder so genannten Pharmako-genetik – der Erforschungder genetischen Ursachen fürdie Wirkungsweise und damitauch der Nebenwirkungenvon Arzneimitteln.

Nach neueren Erkenntnissender modernen Genetik stehtfest: Über das Auftreten vonbestimmten Volks- oder Zivili-sationskrankheiten entscheidennicht nur die Lebensumständewie Ernährung und körperlicheAktivität sowie bestimmte Um-weltfaktoren, sondern es spieltauch die Vererbung eine wich-tige Rolle. Dies belegt das Vor-kommen bestimmter geneti-scher Varianten. Genau hiersetzt die Forschung im GRC an:Mit neuesten massenspektro-

metrischen Hochdurchsatz-Ver-fahren können täglich mehrere10 000 Genotypisierungen lau-fen; damit werden Unterschiedeim Baumuster von Genab-schnitten bei bestimmtenPatientengruppen identifiziert.Im Vergleich zu früheren Zu-fallsbefunden in der Forschungermöglichen die neuen Techno-logien zukünftig ein deutlichsystematischeres Vorgehen –davon sind Prof. Florian Hols-boer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in Mün-chen, und Prof. Axel Ullrich, Direktor am Max-Planck-Insti-tut für Biochemie in Martins-ried, überzeugt (vgl. MAXPLANCK-FORSCHUNG 3/2001, S. 21 f.). Ein zweiter Schwerpunkt desGRC sind pharmakogenetischeUntersuchungen. Durch die Er-stellung von individuellen Gen-profilen wird es in Zukunftmöglich sein, Unverträglichkei-ten oder Nebenwirkungenschon vor der Einnahme vonArzneien vorauszusagen. „Dennzwischen dem genetischen Pro-fil einer Person und der Wir-kung eines Arzneimittels be-steht eine enge Verknüpfung“,so Holsboer. „Dieses Wissen sollgezielt für die Therapie zumBeispiel mit Psychopharmakagenutzt werden.“ Dem pflichtetauch Dr. Thomas Lander, Leiterder Forschung und Medizin beiGlaxoSmithKline Deutschland,bei: „Unsere Vision ist die Ent-wicklung neuer, maßgeschnei-derter Medikamente, die einoptimales Nutzen-Risiko-Ver-hältnis für verschiedene Pati-entengruppen aufweisen.“ Lan-der hatte die Idee zu dem ge-meinsamen Projekt. Und auchUllrich freut sich auf die Arbeitdes GRC: „Durch die Bündelungder akademischen und indus-triellen Forschung erreichenwir unsere Ziele in der Grund-lagenforschung schneller, unddie Ergebnisse werden zügigerin die Anwendung umgesetzt.“Erste Resultate werden jedoch

nicht vor dem Jahr2004 erwartet. Gla-xoSmithKline erhofftsich vom GRC einenwesentlichen Beitragzur Arzneimittelent-wicklung des Unter-nehmens. Gleichzeitigbietet es den beteilig-ten Max-Planck-Insti-tuten die Möglichkeit, neueAnsätze für die Erforschungder Ursachen bei verschiedenenErkrankungen zu entwickelnund so langfristig zu einer ver-besserten Therapie beizutragen.Für das wissenschaftlicheManagement des Genetics Re-search Centre sind – neben denMax-Planck-Direktoren Hols-boer und Ullrich – Thomas Lander sowie Dr. Ian Purvis von GlaxoSmithKline verant-wortlich. Der Molekularbiologe Dr. Andreas Ruppert, der an derEntwicklung der von der FirmaSequenom stammenden Tech-nologie wesentlich beteiligtwar, leitet das GRC. Derzeit vierMitarbeiter sollen täglich fast30 000 Genotypisierungen vor-nehmen. Etwa 15 Prozent derMesskapazität stehen den bei-den am Joint Venture beteilig-ten Max-Planck-Instituten füreigenständige Forschungen zurVerfügung. Darüber hinaus be-steht die Möglichkeit für Pro-jekte mit externen Partnern.München wurde als Standortgewählt, weil es neben den bereits hier arbeitenden Part-nern nicht zuletzt „ein indus-trie- und forschungsfreundli-ches politisches Klima bietet,wie sich an der Unterstützungdurch das Bayerische Staatsmi-nisterium für Wirtschaft, Ver-kehr und Technik gezeigt hat“,so Lander. Die bayerische Re-gierung unterstützte die Ver-handlungen der beiden For-schungspartner und wird nachden Worten von Wirtschafts-minister Otto Wiesheu für Projekte des GRC 4 MillionenEuro zur Verfügung stellen. ●

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KOOPERATION MIT DER INDUSTRIE

Die Medizin wird individuell

Das Forscher-team des Genetics

Research Centrein München:

Andreas Ruppert,Michaela Ertl,

Dirk Bauer undGundula Geyer

(von links).

Auf der Suchenach dem kleinenUnterschied: Genomanalyse mit dem Massen-spektrometer imGenetics ResearchCentre.

Das Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemiein Göttingen hat Anfang November offiziell das neueGebäude für die von Prof.Christian Griesinger geleiteteAbteilung „NMR-basierteStrukturbiologie“ gefeiert.Kernstück des Gebäudes istein 5 Millionen Euro teuresNMR-Spektrometer, mit demsich die Feinstrukturen vonMolekülen in Lösung unter-suchen lassen. Der Präsidentder Max-Planck-Gesellschaft,Prof. Peter Gruss, sowie derGeschäftsführende Direktordes Instituts, Prof. ReinhardJahn, begrüßten bei derEröffnung Gäste aus dem In- und Ausland, darunterBundesforschungsministerinEdelgard Bulmahn.

Das Forscherteam um ChristianGriesinger hat sich zum Ziel gesetzt, das Verfahren der kern-magnetischen Resonanz (NMR-Spektroskopie) weiterzuent-wickeln. Es soll strukturbiologi-sche Fragen klären helfen, unteranderem bei Signaltransduktionund bei Umfaltungsreaktionen(Prionen). Die Biomoleküle werden dabei in ihrer physiolo-gischen Umgebung – also in wässriger Phase oder Membran-umgebung – untersucht. Hiervon versprechen sich dieForscher eine zuverlässigere Beschreibung der Struktur undDynamik von Proteinen undRibonukleinsäuren – eine wich-tige Basis auch für die Ent-wicklung neuer Medikamente.Die Wissenschaftler wollen dieMöglichkeiten der NMR-Spek-

troskopie, die derzeit durch dasMolekulargewicht der unter-suchbaren Moleküle begrenztwird, mit neuen Anregungs-schemata und verbessertenMarkierungsstrategien mitNMR-aktiven Kernen erweitern.Zugleich sollen neue NMR-Me-thoden für so genannte Struc-tural-Genomics-Projekte zurVerfügung gestellt werden. Da-zu korrelieren die Forscher In-formationen über die Dynamikder Moleküle im Picosekunden-bis Sekundenbereich mit derKinetik und Funktion der Mo-leküle. Mit der „Magischer-Winkel-Rotations-Spektrosko-pie“ entwickelt die Abteilungzudem NMR-spektroskopischeMethoden zur Bestimmung derStruktur von Membranprotei-nen – das sind außerordentlichwichtige Zielmoleküle für dieEntwicklung von Heilmitteln.Die technischen Voraussetzun-gen für Experimente in diesemArbeitsgebiet sind sehr auf-wändig. So stehen in dem neu-en Zentrum sieben NMR-Spek-trometer bereit. Wegen ihrerstarken Magnete – der größtehat eine Stärke von 21,1 Tesla,was etwa dem 420 000fachendes Erdmagnetfelds entspricht– sind die Geräte in einer eige-nen Halle montiert, in der sichweder in Decken noch Wändenmagnetisierbares Material be-findet. Deshalb war es erfor-derlich, für die neue Abteilungein eigenes, freistehendes Ge-bäude zu errichten. Der 7,5 Millionen Euro teureBau umfasst 21 550 Kubikme-ter umbauten Raum mit vierStockwerken auf der Hangseite

und einer großen Halle zum Tal hin, in der die Magnete ste-hen. Die Auflage, beim Bau der Halle keine ferromagneti-schen Materialien zu verwen-den, führte zur Konstruktioneiner 14 Meter hohen, frei ste-henden Wand aus Mauerwerk.Die Bodenplatte wurde aus Beton (ohne Bewehrungseisen)gegossen. Das Dach der Halleist aus Aluminiumblech undruht auf einer „Holzbinder-Unterkonstruktion“ ohne ferromagnetische Nägel oderSchrauben. Neben der Halleverteilen sich auf drei Stock-werken die Labor- und Tech-nikräume und – auf einer Etage – auch die Büros derWissenschaftler.Festvorträge bei der offiziellenEröffnung hielten der Chemie-Nobelpreisträger Prof. RichardErnst, ETH Zürich, („Our Re-sponsibilities Beyond Basic Research“), Prof. ChristopherDobson, Universität Cambridge,(„Protein Folding, Evolutionand Disease: Bringing TogetherExperiment and Theory“) undProf. Alexander Pines ausBerkeley („NMR and MRI at aDistance”). Bereits am Vormit-tag hatte am Institut ein wis-senschaftliches Symposium mithochrangigen internationalenGästen stattgefunden. ●

NEUES NMR-ZENTRUM IN GÖTTINGEN

Biomoleküle im Fokus

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Neubau der Abteilung „NMR-

basierte Struk-turbiologie“ am

Max-Planck-Institut für

biophysikalischeChemie in Göttingen.

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Auch Bundesfor-schungsministerinEdelgard Bulmahnwar zur Eröffnungdes NMR-Zent-rums gekommen.

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Wegen der angespanntenHaushaltslage ist der Fort-bestand von mindestens 20 Abteilungen an den Max-Planck-Instituten gefährdet.Das hat der Präsident derMax-Planck-Gesellschaft,Prof. Peter Gruss, anlässlichder Senatssitzung am 22. No-vember in München erklärt.Gruss reagierte damit auf dieAnkündigung der Bundesre-gierung, ihre Zuwendungen andie deutschen Forschungsor-ganisationen im kommendenJahr nicht zu erhöhen, son-dern auf dem Stand von 2002einzufrieren: Das verschärftmittelfristige Finanzprobleme.

Am 20. November hatte Bun-desforschungsministerin Edel-gard Bulmahn den versammel-ten Präsidenten der deutschenWissenschaftsorganisationeneröffnet, dass die Bundesregie-rung ihre bereits für die For-schungseinrichtungen verbind-lich zugesagten Haushaltszu-wächse für 2003 komplettstreichen wolle. Diese Ankündi-gung steht im Widerspruch zueinem Beschluss der Bundes-regierung und der Bundeslän-der vom 17. Juni 2002: DieBund-Länder-Kommission fürBildungsplanung und For-schungsförderung hatte damalseinstimmig beschlossen, derMax-Planck-Gesellschaft fürdas Haushaltsjahr 2003 eineSteigerungsrate von 3 Prozentzu gewähren. „Sollte der Bunddiese Zusage widerrufen, drohtder Max-Planck-Gesellschaftein Einnahmeausfall von 28Millionen Euro. Gegenüber dem ursprünglichvorgelegten Haushaltsentwurf2003, in dem die Max-Planck-Gesellschaft eine Steigerungs-rate von 5,4 Prozent als dendringend notwendigen Finanz-bedarf begründet hatte, beträgtder Verlust an Einnahmen be-

reits über 50 Millionen Euro“,erläuterte Gruss. Mittelfristigsei daher der Fortbestand vonmindestens 20 Abteilungen anden Max-Planck-Instituten ge-fährdet. Aufgrund der neuenInformationen aus Berlin konn-te der Senat den – auf einemdreiprozentigen Zuwachs be-gründeten – Haushaltsplan2003 nicht verabschieden. Diessoll nun erst in der nächstenSenatssitzung am 13. März2003 geschehen, nachdemBund und Länder die finanziel-len Rahmenbedingungen ab-schließend gesetzt haben. Überdas weitere Vorgehen und übermögliche Einzelmaßnahmenwird nun in der Max-Planck-Gesellschaft intensiv beraten. Dabei geht es um die Fort-führung der bereits mit Bundund Ländern beschlossenen„Neuen Programme“ der Max-Planck-Gesellschaft. Hierzuzählen Kooperationsprojektemit den Universitäten zurNachwuchsförderung („Interna-tional Max Planck ResearchSchools“), zur Stärkung der Kli-nischen Forschung („Tandem-Projekte“), um „Max-Planck-Forschungsgruppen an Uni-versitäten“ oder um „Instituts-übergreifende Forschungs-initiativen“. Vom Ergebnis derBeratungen wird auch abhän-gen, inwieweit neue For-schungsgebiete in die beste-henden Strukturen aufgenom-men werden können, etwa in-dem die Max-Planck-Gesell-schaft Institute bedarfsgerechtum zusätzliche Abteilungen erweitert oder neue Institutegründet. So plant die For-schungsorganisation die Ein-richtung eines weiteren Insti-tuts auf dem Gebiet der Infor-matik, ein „Max-Planck-Institutfür Softwaresysteme“. Außer-dem ist an die Gründung eines„Max-Planck-Instituts für Gerontologie“ gedacht. ●

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MPG-HAUSHALT 2003

Verordnete Nullrundegefährdet AbteilungenFür die Entwicklung einer

weltweit einmaligen Soft-ware-Umgebung, die es er-möglicht, eine der größtenim Internet verfügbaren Datenbanken für multime-diale Sprachressourcen auf-zubauen, haben Daan Broe-der, Hennie Brugman undReiner Dirksmeyer vom Max-Planck-Institut für Psycho-linguistik in Nimwegen (Nie-derlande) den mit 3 000 Euro dotierten Heinz-Billing-Preis2002 erhalten. In die End-runde kamen auch FrankJenko vom Max-Planck-Insti-tut für Plasmaphysik in Gar-ching sowie Thomas Fisch-bacher vom Max-Planck-Institut für Gravitationsphy-sik in Golm bei Potsdam.

Weltweit werden noch etwa6 500 Sprachen gesprochen.Vorsichtige Schätzungen gehenjedoch davon aus, dass bis Endedes 21. Jahrhunderts zwischen60 und 70 Prozent dieser Spra-chen verschwinden werden. Jede dieser Sprachen ist engmit der Kultur ihrer Sprecherverbunden – und mit jederaussterbenden Sprache verliertdie Menschheit ein Stück ihresgeistigen Reichtums. Eine dergrößten Herausforderungen istdeshalb, die vom Aussterbenbedrohten Sprachen in ihremsozialen Kontext systematischaufzuzeichnen, um zumindesteinige davon für künftige Ge-nerationen zu bewahren.Besonders engagiert ist hierbeidas Max-Planck-Institut fürPsycholinguistik im niederlän-dischen Nimwegen. Gegenwär-tig umfasst der Bestand derdortigen Datenbank mehr als15 000 so genannte Sessions –also linguistisch bedeutsameEinheiten wie Interviews oderMitschnitte eines Gesangs ineiner Minderheitensprache.Von besonderem Wert sindAufnahmen von Sprachen, dievom Aussterben bedroht sind.

Sie werden in der Datenbankgleichsam konserviert und blei-ben damit einer wissenschaft-lichen Analyse zugänglich. Vie-le dieser digitalen Ressourcensind nach linguistischen Krite-rien analysiert und entspre-chend kommentiert; erst dieseAnnotationen erlauben es den Max-Planck-Wissenschaft-lern, ihre psycholinguistischen Theorien zu überprüfen.Auf diese Ressourcen ist ein direkter und schneller Zugriffnotwendig: So können Wissen-schaftler das Material und dieeingegebenen Annotationenimmer wieder überprüfen unddamit Fehler vermeiden sowieweiter gehende psycholinguis-tische Analysen anstellen. Voraussetzungen dafür sind erstens die konsequente Digi-talisierung aller in den Feldstu-dien erzeugten Audio- und Videoaufnahmen, zweitens dieEntwicklung einer „Korpus-Management-Umgebung“ mit-tels einer benutzerfreundlichenMetadaten-Infrastruktur sowiedrittens das Verfügbarmachenvon effizienten und in ihrer Artbisher einmaligen Programmenfür Annotationen und Analyse.Auf diesen Grundpfeilern be-ruht das am Max-Planck-Insti-tut für Psycholinguistik ent-wickelte NILE-Konzept. NILE(Nijmegen Language ResourceEnvironment) erlaubt, so dieLaudatio zur Preisverleihung,„eine substanzielle Verände-rung in den Möglichkeiten deswissenschaftlichen Umgangsmit Sprache durch den Einsatzder modernen Informations-technologie“. In dem weltweit einmaligenProjekt werden auf hohemtechnischen Niveau viele As-pekte berücksichtigt, die einenverantwortlichen Umgang mitsprachlichen Ressourcen aufComputern auszeichnen. Die„Väter“ von NILE haben vielWert darauf gelegt, neuestetechnische Standards wie XML,

Unicode, MPEG und Java zuverwenden.Darüber hinaus haben sie aberauch neue „Standards“ ausge-arbeitet und einem breiten Publikum vorgestellt: So ent-stand beispielsweise im Rah-men des von der EU geförder-ten ISLE-Projekts (InternationalStandards of Language En-gineering) eine vollständigeMetadaten-Infrastruktur.Schließlich wurde für das mul-timediale Softwarepaket einauf XML basierendes, flexiblesDateiformat ausgearbeitet, dasin der Lage ist, die komplexstrukturierten, verschiedenarti-gen Typen von Annotationenzu speichern. Beide Komponenten haben inzwischen weltweite Beach-tung gefunden und werden bei der Entwicklung von ISO-Standards berücksichtigt. DieArbeiten zu NILE werden ge-genwärtig im Rahmen von zweigroßen europäischen Projektenweiter vorangetrieben.Die Arbeiten der beiden ande-ren Finalisten für den Billing-Preis kommen im Jahr 2002 aus der physikalischen For-schung. Frank Jenko vom Max-Planck-Institut für Plasma-physik in Garching beschäftigtsich in seinem Beitrag GENE(Gyrokinetic ElectromagneticNumerical Experiment) mitTurbulenzen im Plasma einesFusionsreaktors – eines derKernprobleme bei der Entwick-

HEINZ-BILLING-PREIS 2002

Ein Online-Archiv für bedrohte Sprachenlung solcher Reaktoren. Expe-rimentelle Untersuchungendeuten darauf hin, dass Plas-ma-Instabilitäten, die letztlichzu Turbulenzen führen können,in ganz unterschiedlichen Größenordnungen entstehen. Derzeit lassen sich diese Phä-nomene nur durch extensiveModellierungen für sehr großeBereiche des Plasmas unter-suchen.Jenko hat sich insbesonderemit solchen Instabilitäten be-schäftigt, die durch die extre-men Unterschiede in der Elek-tronentemperatur des Plasmasentstehen. Hier hat er durchFortentwicklung bekannter numerischer Verfahren undOptimierung für den Garchin-ger Rechner Cray T3E eine bisher nicht erreichte numeri-sche Auflösung erzielt und dabei die volle Leistung diesesParallelrechners eingesetzt (vgl. MAXPLANCKFORSCHUNG

1/2002, S. 36 f.). Thomas Fischbacher vom Max-Planck-Institut für Gravita-tionsphysik (Albert-Einstein-Institut) in Potsdam hat mit„Introducing Lambda Tensor1.0“ ein Softwarepaket für sehrgroße Rechnungen mit alge-braischen Strukturen (Lie-Al-gebren und Lie-Gruppen) ent-wickelt, wie sie in der Quan-tengravitation und anderenTheorien in der Hochenergie-physik auftreten. Bei den Ver-suchen, die Gravitationstheoriemit der relativistischen Quan-

Im 21. Jahrhun-dert werden 60bis 70 Prozent aller gegenwärtiggesprochenenSprachen ver-schwinden – undsollen zuvor imInternet doku-mentiert werden.

Hennie Brugman,Reiner Dirksmeyerund Daan Broedervom Max-Planck-Institut für Psycho-linguistik haben denHeinz-Billing-Preis2002 gewonnen.

tenphysik zu vereinheitlichen,spielen diese komplexen ma-thematischen Verfahren eineentscheidende Rolle. Die dafürtypischen Rechnungen sind vielzu umfangreich, um sie mitStandardsoftware bearbeitenzu können. Die Software vonThomas Fischbach wird imFachgebiet der Supergravita-tion sicher breite Anwendungfinden.Der „Heinz-Billing-Preis zurFörderung des wissenschaftli-chen Rechnens“ wurde im Jahr1993 zum ersten Mal verlie-hen. Mit dieser Ehrung werdenherausragende Leistungen von Wissenschaftlern undComputerspezialisten gewür-digt, welche in zeitintensiverund sehr kreativer Arbeit dienotwendigen Hard- und Soft-ware-Voraussetzungen ent-wickeln, die für neue Vorstößein der Forschung heute unver-zichtbar sind. Der Preis ist be-nannt nach Prof. Heinz Billing,Emeritiertes WissenschaftlichesMitglied des Max-Planck-Instituts für Astrophysik undlangjähriger Vorsitzender des Beratenden Ausschusses für Rechenanlagen in der Max-Planck-Gesellschaft (vgl. MAX-PLANCKFORSCHUNG

1/2002, S. 28 f.). ●

Weitere Informationen finden Sie im Internet unter

den Adressen: www.mpi.nl/ISLE/und www.mpi.nl/DOBES/

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STANDorte

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NIEDERLANDE

● NimwegenITALIEN

● Rom● FlorenzSPANIEN

● AlmeriaFRANKREICH

● GrenobleBRASILIEN

● Manaus

Forschungseinrichtungen derMax-Planck-Gesellschaft

● Institut/Forschungsstelle● Teilinstitut/Außenstelle❍ Sonstige Forschungs-einrichtungen

MAXPLANCKFORSCHUNG

wird herausgegeben vom Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeitder Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. Vereinsrechtlicher Sitz: Berlin.ISSN 1616-4172

Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 MünchenTel. 089/ 2108-1232 Fax 089/ 2108-1405E-Mail: [email protected]: http://www.mpg.de.

MAXPLANCKFORSCHUNG will Mitarbeiter und Freunde der Max-Planck-Gesell-schaft aktuell informieren. Das Heft erscheint in deutscher und englischer Sprache (MAXPLANCKRESEARCH) jeweils in vier Ausgaben pro Jahr. Die Auflage der MAXPLANCKFORSCHUNG beträgt zurzeit 35 000 Exemplare (MAXPLANCKRESEARCH: 8 000 Exemplare). Der Bezug des Wissenschaftsmagazins ist kostenlos. MAXPLANCKFORSCHUNG wird auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Nachdruck der Texte unter Quellenangabe gestattet. Bildrechte können nachRücksprache mit der Redaktion erteilt werden.Alle in MAXPLANCKFORSCHUNG vertretenen Auffassungen und Meinungen können nicht als offizielle Stellungnahme der Max-Planck-Gesellschaft und ihrer Organe interpretiert werden.

Die Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften unterhält 80 Forschungsinstitute, in denen rund 11200 Mitarbeiter tätig sind, davon etwa 3100 Wissenschaftler. Hinzu kamen im Jahr 2001 rund 7900 Stipendiaten, Gastwissenschaftler und Doktoranden. Der Jahresetat umfasste insgesamt 1245 Millionen Euro; davon stammten 1186 Millionen Euro aus öffentlichenMitteln. Die Forschungsaktivität erstreckt sich überwiegend auf Grundlagen-forschung in den Natur- und Geisteswissenschaften. Die Max-Planck-Gesell-schaft sieht ihre Aufgabe vor allem darin, Schrittmacher der Forschung zu sein. Die Max-Planck-Gesellschaft ist eine gemeinnützige Organisation des privaten Rechts in der Form eines eingetragenen Vereins. Ihr zentrales Entscheidungsgremium ist der Senat, in dem eine gleichwertige Partnerschaft von Staat, Wissenschaft und sachverständiger Öffentlichkeit besteht.

Verantwortlich für den Inhalt:Dr. Bernd Wirsing (-1276)

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Eine engere Kooperation ha-ben Prof. Peter Gruss, Präsi-dent der Max-Planck-Gesell-schaft, und der polnischeWissenschaftsminister MichalKleiber bei einem Treffen inWarschau vereinbart. Vor allem in den Bereichen Bio-informatik, Molekularbiolo-gie, Materialwissenschaften,Astrophysik und Mathematiksowie in den Geistes- undHumanwissenschaften soll die Zusammenarbeit weiterverstärkt werden. Bei seinemersten Besuch in Polen alsneuer Präsident der Max-Planck-Gesellschaft AnfangNovember 2002 zog Gruss im Gespräch mit Vertreternder polnischen Wissen-schaftsorganisationen einepositive Bilanz der bisherigengemeinsamen Arbeit.

Peter Gruss unterstrich die Be-reitschaft der Max-Planck-Ge-sellschaft, die zahlreichen Wis-senschaftsbeziehungen mit pol-nischen Partnern vor dem Hin-tergrund wachsender Vernet-zung im europäischen For-schungsraum neu zu beleben.Im gemeinsamen Interesse liegees, so Gruss nach dem Gesprächmit dem polnischen Wissen-schaftsminister, eine stärkereVerantwortung für den Bil-dungsweg und die Karriere jun-ger Wissenschaftler durch ge-meinsame Nachwuchsförde-rung und langfristige Betreu-ung von Nachwuchswissen-schaftlern zu übernehmen. DieMax-Planck-Gesellschaft seibereit und in der Lage, ausge-wählten Doktoranden und Post-

docs eine anspruchsvolle Wei-terbildung in Max-Planck-Insti-tuten zu ermöglichen. Mit demMinister wurde eine besondereFörderung jener Postdocs ver-einbart, die sich an einem Max-Planck-Institut aufhalten unddanach an eine polnische For-schungseinrichtung zurückkeh-ren. Vorraussetzung dazu sei diegemeinsame Begutachtung derStipendiaten nach ihrer Arbeitan einem Max-Planck-Institut.Gleichzeitig müsse Polen denzurückkehrenden Nachwuchs-wissenschaftlern ebenfalls at-traktive Arbeitsbedingungen inAussicht stellen.Dieses aufeinander abge-stimmte Vorgehen soll dazudienen, hervorragende jungeWissenschaftler zur Forschungin internationaler Zusammen-arbeit zu motivieren und ihreErfahrungen in das Wissen-schaftsumfeld ihres eigenenLandes einzubringen. PeterGruss betonte, dass die Max-Planck-Gesellschaft den Insti-tuten die Wahl der Themen und Partner selbst überlässt:„Kooperation zwischen Wissen-schaftlern ist nur dann frucht-bar, wenn durch einen ge-meinsamen Forschungsansatzgleichwertiger Partner Syner-gien erzeugt und für beide Seiten Ergebnisse erzielt wer-den, die sonst nicht zu Standekommen würden.“ Gruss forderte interessierte polnische Wissenschaftler auf,bei Interesse den direkten Kon-takt mit Fachkollegen in denInstituten der Max-Planck-Gesellschaft aufzunehmen.Im November gab es in War-schau, Krakau und Posen ge-meinsame Workshops zu The-men wie „Mannigfaltigkeiten in der Mathematik“, „Molekula-re Zellbiologie“, „Planetensys-teme“, „Biodiversität“ oder „Na-nostrukturen“. Für den Bereichdes neuen europäischen Ver-fassungsrechts war ein solcherWorkshop junger deutscher und

polnischer Nachwuchsjuristenbereits im September in Krakauorganisiert worden. Aus dieserArt von Veranstaltungen sollensich neue Kooperationen zwi-schen deutschen und polni-schen Forschern entwickeln.Um eine breitere Öffentlichkeitzu erreichen, wurden die No-vember-Workshops von Aus-stellungen und Konzerten unterdem Motto „Wissenschaft undKunst in Europa“ begleitet.Die Max-Planck-Gesellschaftengagierte sich bereits zuvor inPolen: Seit Januar 2001 arbeitetin Warschau eine Nachwuchs-gruppe unter der Leitung vonDr. Mathias Bochtler. DieseNachwuchsgruppe mit wissen-schaftlichen Mitarbeitern ausPolen, der Ukraine und Weiß-russland ist am InternationalenInstitut für Molekular- und Zell-biologie der Polnischen Akade-mie der Wissenschaften ange-siedelt und arbeitet auf demGebiet der molekularen Medi-zin. Bochtler kommt aus demMünchner Max-Planck-Institutfür Biochemie. Die Max-Planck-Gesellschaft hat die aufwändigeLaborausrüstung in Warschaubereitgestellt und finanziert dieGruppe.Bisher sind in etwa 50 Projek-ten der Max-Planck-Institutepolnische Partner eingebunden.Einige der Vorhaben werdenbereits im Rahmen der Pro-gramme der Europäischen Union finanziert. Mehr als 150Stipendiaten und Gastforscheraus Polen arbeiten zurzeit inmehreren der insgesamt 80 Institute der Max-Planck-Ge-sellschaft. In Zukunft sollenweitere Kooperationspotenzialemit polnischen Partnern er-schlossen werden. Dazu diskutierte die Max-Planck-Gesellschaft mit dempolnischen Wissenschaftsminis-ter sowie interessierten For-schungsorganisationen gemein-sam neue Formen der Nach-wuchsbildung. ●

MAX-PLANCK-GESELLSCHAFT

Vertiefte Zusammenarbeit mit Polen

Fruchtbarer Dialog: Wissen-schaftsreferentKonrad Busch-

beck, Max-Planck-PräsidentPeter Gruss undPolens Wissen-schaftsministerMichal Kleiber

(von links).

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Im FOKUS

Aus die Maus: Endlich haben es die Forscher geschafft – im Dezember 2002 veröffentlichte das internationale Mouse Genom SequencingConsortium in der Zeitschrift NATURE das Genom der Hausmaus: Es umfasst rund 2,5 Milliarden Bausteine und damit nur geringfügig weniger als dasmenschliche Genom. Die Zahl der Gene ist mit etwa 30 000 etwa gleich – da beißt auch die Maus keinen DNA-Faden ab. Die meisten dieser Gene fin-den sich tatsächlich bei beiden Säugern, und diesen Vorteil nutzen die Wissenschaftler an den Max-Planck-Instituten für molekulare Genetik, für ex-perimentelle Endokrinologie sowie für Immunbiologie. So finden sich auf den Maus-Chromosomen 10, 16 und 17 äußerst homologe Sequenzab-schnitte zum menschlichen Chromosom 21, das in direktem Zusammenhang mit einer der häufigsten genetischen Erkrankungen beim Menschensteht: der Trisomie 21 („Down-Syndrom“). Die Forscher analysierten die entsprechenden Genaktivitäten am Mausmodell und identifizierten schließ-lich mehrere Gene, die am Down-Syndrom mitwirken könnten. FOTO: WOLFGANG FILSER