54
7/18/2019 MPF_2001_3 Max Planck Forschung http://slidepdf.com/reader/full/mpf20013-max-planck-forschung 1/54 MaxPlanckForschung MaxPlanck Forschung Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck- Gesellschaft S C H W E R P U N K T Im Reich der Sinne S C H W E R P U N K T Im Reich der Sinne B 2 0 3 9 6 F 3 /2 0 0 1 FR EM D EN FEIN D LIC H K EI T Die Opfer brauchen eine Stimme FR EM D EN FEIN D LIC H K EI T Die Opfer brauchen eine Stimme S TA M M Z ELLEN Herausforderung für Ethik und Gesetz S TA M M Z ELLEN Herausforderung für Ethik und Gesetz S O FT M A TTER Harte Arbeit an weicher Materie S OFT M A TTER Harte Arbeit an weicher Materie

MPF_2001_3 Max Planck Forschung

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Magazin des Max Planck Instituts

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Page 1: MPF_2001_3  Max Planck Forschung

7/18/2019 MPF_2001_3 Max Planck Forschung

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MaxPlanckForschungMaxPlanck ForschungDas Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesel lschaft 

S C H W E R P U N K T

Im Reich der Sinne

S C H W E R P U N K T

Im Reich der Sinne

B 2 0 3 9 6 F3 /2 0 0 1

FR EM D EN FE I N D LI C H K EI T

Die Opfer bra uchen

eine Stimme

FR EM D EN FE IN D LI C H K EI T

Die Opfer bra uchen

eine Stimme

S TA M M Z ELLEN

Herausforderung für

Ethik und Gesetz

S TA M M Z ELLEN

Herausforderung für

Ethik und Gesetz

S O F T M A T T E R

Harte Arbeit an

weicher Materie

S O F T M A T T E R

Harte Arbeit an

weicher Materie

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7/18/2019 MPF_2001_3 Max Planck Forschung

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SymposiuminB erlin

Biowissenschaften undMenschenversuchean Kaiser-Wilhelm-Instituten– Die Verbindung nach Auschwitz

 Ansprachender Eröffnungsveranstaltung

3 / 2 0 0 1 M A X  P  L A N C K F O R S C H U N G   32   M A X  P  L A N C K F  O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

INHALT

FORSCHUNG aktuell 

Farbensehen am Rand

des Gesichtsfelds . . . . . . . . . . . . . . . . .  4

Das erhellte Gehirn . . . . . . . . . . . . . . .  5

Elektronische Fußfessel

nimmt erste Hürde . . . . . . . . . . . . . . . 7

Starke Laser

leuchten Elektronen heim . . . . . . . . . .  8

Eine harmonische Ménage à trois . . .10

Chemiker bändigen den Hurrikan . . .  12

Gene gezielt abschalten . . . . . . . . . .  13

Digitale Keilschrift steht im Internet .  14

Metalle gut in Form . . . . . . . . . . . . . 16

 Wie Insekten auf Nektar fliegen . . . . 18

ESSAY

❿Medikamente nach Maß . . . . . . . .  20

SCHWER punkt

IM  REICH

der Sinne ❿ Wie die Evolution

die Ohren aufsperrt . . . . . . . . . . . .  24

❿ Wenn Töne ihren Reiz verlieren . .  32

❿Das Fotolabor in der Netzhaut . . .  38

❿ Erkennen ist mehr als Sehen . . . .  44

FASZINATION Forschung

❿ Soft Matter:

Harte Arbeit an weicher Materie . .  52

❿ Biologie:

Chemisches Signal mobilisiert

Hilfstruppen . . . . . . . . . . . . . . . . .  62

WISSEN aus erster Hand 

❿ Recht: Stammzellen – Heraus-

forderung für Ethik und Gesetz . . 64

WISSENSCHAFTSgeschichte 

❿ 100 Jahre Vogelwarte:

 Von der Preußischen Wüste

ans Schwäbische Meer . . . . . . . . .  68

FORSCHUNG & Gesellschaft 

❿ Fremdenfeindlichkeit:

Die Opfer brauchen

eine Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . .  74

❿ Bibliotheca Hertziana:

Die Bibliothek

auf der Hutschachtel . . . . . . . . . . 80

Interview: „Die Bibliothek

ist das Labor der Forscher“ . . . . . .  82

zur  P ERSON

❿ Tina Romeis . . . . . . . . . . . . . . . . .  84

NEU erschienen

Experten der Unsicherheit . . . . . . . . .  91

Regeln für gute Wissenschaft . . . . . . 92

LESERbriefe 

Die dritte Entität . . . . . . . . . . . . . . . .  93

 Alles über einen Leisten . . . . . . . . . . 93

INSTITUTE aktuell

Richtfest für das

größte „Fernglas” der Welt . . . . . . . . 94

Der Breitenbach als Wissensquell . . . 96

Günter Stock

ist neuer Vizepräsident . . . . . . . . . . .  97

Europäisches Zentrum für

Neurowissenschaften eröffnet . . . .. . 98

Bruno-H.-Bürgel-Preis

für Jakob Staude . . . . . . . . . . . . . . . .  99

„Stotternde” Gene töten den Nerv . . 100

Die Renaissance im Blickpunkt . . . . 102

STANDorte 

Forschungseinrichtungen

der Max-Planck-Gesellschaft . . . . . 103

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103

Im FOKUS

❿ „Neuro-Elektronik“ . . . . . . . . . .  104

HÖREN, SEHEN, FÜHLEN – das sind Wege, auf denen wir unsere Umwelt wahr-

nehmen. Viele von den verschiedenen Sinnesorganen kommende Einzeleindrücke addieren

sich dabei zu einer komplexen Gesamtschau. In dem Artikel „Wie die Evolution die Ohren

aufsperrt“ (SEITE 24) erläutert der Neurobiologe Benedikt Grothe, wie sich der Hörsinn im

Lauf von Jahrmillionen entwickelt hat und welche komplizierten Rechenmechanismen

das Richtungshören ermöglichen. Dass Schwerhörigkeit und vor allem Taubheit eine extreme

Einschränkung für die Betroffenen bedeuten, wusste schon Beethoven. Tobias Moser und seine Kollegen vom Max-Planck-

Institut für biophysikalische Chemie haben sich auf die Suche nach den Ursachen dieses Leidens gemacht (SEITE 32).

Ein Fenster zum Gehirn öffnen Heinz Wässle und seine Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung – sie

beschreiben die Komplexität der allerersten Kontaktstelle in der Netzhaut, von den Fotorezeptoren zu den nachgeschal-

teten Nervenzellen (SEITE 38). Dass Sehen und Erkennen jedoch nicht ein und dasselbe sind, zeigen die Mitarbeiter

aus der Abteilung von Heinrich H. Bülthoff vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik anhand psychophysischer 

Untersuchungsmethoden (SEITE 44).

ZUM TITELBILD: Netzwerk von

Horizontalzellen in der Retina.

FOTO: MPI FÜR BIOLOGISCHE KYBERNETIK

Schwerpunkt Im Reich der Sinne

44

38

322444

38

GEBURTSTAG: Die Gründung

der Vogelwarte Rossitten vor

100 Jahren verlieh der Ornithologie

in Deutschland Flügel. Prof. Peter Berthold

schildert die wechselvolle Geschichte.

68NATURNAH: Die MPIs

für Polymerforschung

und für Kolloid- und

Grenzflächenforschung beschäftigen

sich mit „Soft Matter“.

52HASS: Für einen differenzier-

ten Umgang der Rechtspolitik

mit der Fremdenfeindlichkeit

plädiert Didem Aydin vom MPI für aus-

ländisches und internationales Strafrecht.

74PALAST: In der Bibliotheca

Hertziana in Rom regieren zurzeit

die Baumaschinen. Nach Abschluss

der Renovierungsarbeiten soll dann mit der

Errichtung eines Neubaus begonnen werden.

80PFLANZENSTRESS: Die 36-jäh-

rige Biochemikerin Tina Romeis,

Trägerin des Sofja Kovalevskaja-

Preises, verstärkt demnächst als Gruppen-

leiterin das MPI für Züchtungsforschung.

84STAMMZELLEN: Die Auswirkun-

gen der Forschung auf Ethik und

Gesetzgebung beschreibt Prof.

Rüdiger Wolfrum vom MPI für ausländisches

öffentliches Recht und Völkerrecht.

64

DOKUMENTATION:

Diesem Heft liegt der Son-

derdruck „Biowissenschaf-

ten und Menschenversuche

an Kaiser-Wilhelm-Institu-

ten – Die Verbindung nach

Auschwitz“ bei.

BIOMAX:

Die aktuelle Ausgabe be-

richtet unter anderem über

Stammzell-Forschung und

richtet sich vorwiegend

an Lehrer und Schüler.

Page 3: MPF_2001_3  Max Planck Forschung

7/18/2019 MPF_2001_3 Max Planck Forschung

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SymposiuminBerlin

Biowissenschaften undMenschenversuchean Kaiser-Wilhelm-Instituten– Die Verbindung nach Auschwitz

 AnsprachenderEröffnungsveranstaltung

3 / 2 0 0 1 M A X  P  L A N C K F O R S C H U N G   32   M A X  P  L A N C K F  O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

INHALT

FORSCHUNG aktuell 

Farbensehen am Rand

des Gesichtsfelds . . . . . . . . . . . . . . . . .  4

Das erhellte Gehirn . . . . . . . . . . . . . . .  5

Elektronische Fußfessel

nimmt erste Hürde . . . . . . . . . . . . . . . 7

Starke Laser

leuchten Elektronen heim . . . . . . . . . .  8

Eine harmonische Ménage à trois . . .10

Chemiker bändigen den Hurrikan . . .  12

Gene gezielt abschalten . . . . . . . . . .  13

Digitale Keilschrift steht im Internet .  14

Metalle gut in Form . . . . . . . . . . . . . 16

 Wie Insekten auf Nektar fliegen . . . . 18

ESSAY

❿Medikamente nach Maß . . . . . . . .  20

SCHWER punkt

IM  REICH

der Sinne ❿ Wie die Evolution

die Ohren aufsperrt . . . . . . . . . . . .  24

❿ Wenn Töne ihren Reiz verlieren . .  32

❿Das Fotolabor in der Netzhaut . . .  38

❿ Erkennen ist mehr als Sehen . . . .  44

FASZINATION Forschung

❿ Soft Matter:

Harte Arbeit an weicher Materie . .  52

❿ Biologie:

Chemisches Signal mobilisiert

Hilfstruppen . . . . . . . . . . . . . . . . .  62

WISSEN aus erster Hand 

❿ Recht: Stammzellen – Heraus-

forderung für Ethik und Gesetz . . 64

WISSENSCHAFTSgeschichte 

❿ 100 Jahre Vogelwarte:

 Von der Preußischen Wüste

ans Schwäbische Meer . . . . . . . . .  68

FORSCHUNG & Gesellschaft 

❿ Fremdenfeindlichkeit:

Die Opfer brauchen

eine Stimme . . . . . . . . . . . . . . . . .  74

❿ Bibliotheca Hertziana:

Die Bibliothek

auf der Hutschachtel . . . . . . . . . . 80

Interview: „Die Bibliothek

ist das Labor der Forscher“ . . . . . .  82

zur  P ERSON

❿ Tina Romeis . . . . . . . . . . . . . . . . .  84

NEU erschienen

Experten der Unsicherheit . . . . . . . . .  91

Regeln für gute Wissenschaft . . . . . . 92

LESERbriefe 

Die dritte Entität . . . . . . . . . . . . . . . .  93

 Alles über einen Leisten . . . . . . . . . . 93

INSTITUTE aktuell

Richtfest für das

größte „Fernglas” der Welt . . . . . . . . 94

Der Breitenbach als Wissensquell . . . 96

Günter Stock

ist neuer Vizepräsident . . . . . . . . . . .  97

Europäisches Zentrum für

Neurowissenschaften eröffnet . . . .. . 98

Bruno-H.-Bürgel-Preis

für Jakob Staude . . . . . . . . . . . . . . . .  99

„Stotternde” Gene töten den Nerv . . 100

Die Renaissance im Blickpunkt . . . . 102

STANDorte 

Forschungseinrichtungen

der Max-Planck-Gesellschaft . . . . . 103

Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  103

Im FOKUS

❿ „Neuro-Elektronik“ . . . . . . . . . .  104

HÖREN, SEHEN, FÜHLEN – das sind Wege, auf denen wir unsere Umwelt wahr-

nehmen. Viele von den verschiedenen Sinnesorganen kommende Einzeleindrücke addieren

sich dabei zu einer komplexen Gesamtschau. In dem Artikel „Wie die Evolution die Ohren

aufsperrt“ (SEITE 24) erläutert der Neurobiologe Benedikt Grothe, wie sich der Hörsinn im

Lauf von Jahrmillionen entwickelt hat und welche komplizierten Rechenmechanismen

das Richtungshören ermöglichen. Dass Schwerhörigkeit und vor allem Taubheit eine extreme

Einschränkung für die Betroffenen bedeuten, wusste schon Beethoven. Tobias Moser und seine Kollegen vom Max-Planck-

Institut für biophysikalische Chemie haben sich auf die Suche nach den Ursachen dieses Leidens gemacht (SEITE 32).

Ein Fenster zum Gehirn öffnen Heinz Wässle und seine Mitarbeiter vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung – sie

beschreiben die Komplexität der allerersten Kontaktstelle in der Netzhaut, von den Fotorezeptoren zu den nachgeschal-

teten Nervenzellen (SEITE 38). Dass Sehen und Erkennen jedoch nicht ein und dasselbe sind, zeigen die Mitarbeiter

aus der Abteilung von Heinrich H. Bülthoff vom Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik anhand psychophysischer 

Untersuchungsmethoden (SEITE 44).

ZUM TITELBILD: Netzwerk von

Horizontalzellen in der Retina.

FOTO: MPI FÜR BIOLOGISCHE KYBERNETIK

Schwerpunkt Im Reich der Sinne

44

38

322444

38

GEBURTSTAG: Die Gründung

der Vogelwarte Rossitten vor

100 Jahren verlieh der Ornithologie

in Deutschland Flügel. Prof. Peter Berthold

schildert die wechselvolle Geschichte.

68NATURNAH: Die MPIs

für Polymerforschung

und für Kolloid- und

Grenzflächenforschung beschäftigen

sich mit „Soft Matter“.

52HASS: Für einen differenzier-

ten Umgang der Rechtspolitik

mit der Fremdenfeindlichkeit

plädiert Didem Aydin vom MPI für aus-

ländisches und internationales Strafrecht.

74PALAST: In der Bibliotheca

Hertziana in Rom regieren zurzeit

die Baumaschinen. Nach Abschluss

der Renovierungsarbeiten soll dann mit der

Errichtung eines Neubaus begonnen werden.

80PFLANZENSTRESS: Die 36-jäh-

rige Biochemikerin Tina Romeis,

Trägerin des Sofja Kovalevskaja-

Preises, verstärkt demnächst als Gruppen-

leiterin das MPI für Züchtungsforschung.

84STAMMZELLEN: Die Auswirkun-

gen der Forschung auf Ethik und

Gesetzgebung beschreibt Prof.

Rüdiger Wolfrum vom MPI für ausländisches

öffentliches Recht und Völkerrecht.

64

DOKUMENTATION:

Diesem Heft liegt der Son-

derdruck „Biowissenschaf-

ten und Menschenversuche

an Kaiser-Wilhelm-Institu-

ten – Die Verbindung nach

Auschwitz“ bei.

BIOMAX:

Die aktuelle Ausgabe be-

richtet unter anderem über

Stammzell-Forschung und

richtet sich vorwiegend

an Lehrer und Schüler.

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7/18/2019 MPF_2001_3 Max Planck Forschung

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FORSCHUNG

4   M A X  P L A N C K  F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

eine einzelne bipolare Zelle desMidget-cell-Systems verschal-tet und dann weiter auf eineeinzelne Ganglionzelle, die ihreSignale zum Gehirn sendet.Entweder reicht diese spezifi-sche Verschaltung aus, dassRot-Grün-Farbsignale dieHirnrinde erreichen, oder esmuss weitere Verschaltungsme-chanismen im Auge geben, diedas rot-grüne Farbsignal spezi-fisch herausfiltern. Nach sol-chen Mechanismen haben dieForscher anatomisch gesucht,sie aber nicht gefunden.Ein kritischer Test, um diesebeiden Hypothesen zu unter-scheiden, ist das Farbensehenin Randbereichen der Retina,

in Gesichtsfeldbereichen von20 bis 30 Grad von der Mitteentfernt. Hier sieht es so aus,als ob die spezifische Verbin-dung des Midget-cell-Systemszusammengebrochen ist; jedeGanglionzelle hat Kontakt mitetwa 20 bis 30 verschiedenenRezeptoren. Ohne die spezi-fische Verbindung einzelnerRezeptorentypen auf dieselbeZelle sollten diese peripherenZellen daher nicht rot-grün-farbempfindlich sein. Bei Affenund Menschen ist die Farb-empfindlichkeit im äußerenGesichtsfeldbereich tatsächlichdeutlich verringert: Offenbarist die zelluläre Grundlage füreine Rot-Grün-Unterscheidungbereits auf retinaler Ebeneverloren gegangen. Nur durchspezifische Verschaltungsme-chanismen könnten diese Zel-len ihre Rot-Grün-Empfind-lichkeit beibehalten.Wissenschaftler des Max-

Planck-Instituts für biophysi-kalische Chemie in Göttingen,der Universität in Sydney unddem State College für Opto-metrie in New York haben jetzt mit quantitativenMethoden die Rot-Grün-Farb-empfindlichkeit von Gang-lionzellen in Randbereichender Augennetzhaut untersucht.Die Ergebnisse sind eindeutig:Die Eigenschaften von periphe-ren Rot-Grün-Zellen warendenen von zentralen Rot-Grün-

Zellen sehr ähnlich. Der Verlustder Farbempfindlichkeit im pe-ripheren Gesichtsfeld muss alsocortikalen Ursprung haben,also durch die weitere Verar-beitung im Gehirn zu Standekommen.Der jetzt in NATURE veröffent-lichte Befund wirft die Frageauf, wie diese Zellen in derRetina anatomisch verschaltetsind. Die Dendritenbäume peri-pherer Zwerg-Ganglionzellenhaben oft sehr unregelmäßigeForm; in Modellrechnungenkonnten die Autoren zeigen,dass diese Unregelmäßigkeiteneiner spezifischen Auswahl vonausschließlich M- oder L-Re-zeptoren entsprechen könnten

– bisher dachte man, dass dieverschiedenen Rezeptoren zu-fällig auf eine Ganglionzellekonvergieren. Zwei Mechanis-men sind denkbar, wie sich sol-che spezifischen Verbindungenentwickeln könnten: entwederdurch so genanntes Hebb’schesLernen während der frühenEntwicklung des visuellen Sys-tems, zum Beispiel wenn Säug-linge Farbreize sehen, oderdurch biochemische Marker,die helfen, spezifische Verbin-dungen aufzubauen. Die letz-tere Möglichkeit erscheint zwarplausibler, aber die Gensequen-zen der M- und L-Rezeptorenunterscheiden sich nur in we-nigen Aminosäuren, so dass esschwer vorstellbar ist, wie einsolcher Marker generiert wer-den könnte. Dies herauszufin-den ist eine Herausforderungfür weitere Untersuchungen.

Weitere Informationenerhalten Sie von:

PROF. DR. BARRY B. LEE

Max-Planck-Institut fürbiophysikalische Chemie,Göttingenderzeit erreichbar am:SUNY, State Collegeof Optometry, New YorkTel.: +1/212/780-5149Fax: +1/212/780-5137E-Mail: [email protected]

3 / 2 0 0 1 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   5

FORSCHUNG aktuell 

BIOCHEMIE

Farbensehen am Rand

des Gesichtsfelds

Wissenschaftler aus Göttin-gen, Sydney und New Yorkhaben herausgefunden, wieFarbreize im äußeren Ge-sichtsfeldbereich verarbeitetwerden (NATURE, 19. April2001). Während die meistenMenschen Farben bei direk-tem Hinsehen gut unter-scheiden können, nimmt dieFarbwahrnehmung zur Peri-

pherie des Auges hin deutlichab. Liegt das an einer unge-nauen Verschaltung derFarbrezeptoren in der Netz-haut des Auges oder an derweiteren Verarbeitung vonFarbsignalen im Gehirn? Daswar lange eine offene Frage.

Ein Team um Prof. Barry Leeam Max-Planck-Institut fürbiophysikalische Chemie inGöttingen hat nun nachgewie-sen, dass auch in Randberei-

chen des Gesichtsfelds dieAugen noch farbspezifisch rea-gieren. Der Verlust der Farb-wahrnehmung im äußerenGesichtsfeld muss also im Ge-hirn passieren.Das menschliche Sehsystementhält zwei unterschiedliche, jeweils kontrastierende Farb-kanäle (rot-grün und blau-gelb), in denen unsere gesamte

Farbwahrnehmung repräsen-tiert ist. Das blau-gelbe Systemist bei den Säugetieren ent-wicklungsgeschichtlich alt, dasrot-grüne System kommt da-gegen nur bei Affen und Men-schen vor – andere Säugetieresind rot-grün-farbenblind. DieFarbkanäle kommen durch diedrei Gruppen von Fotorezepto-ren zu Stande, die nur beiTageslicht reagieren (Zäpfchen)und vorwiegend Licht kurzerWellenlänge (S, blau), mittel-

(M, grün-gelb) oder langwelli-ges Licht (L, rot) absorbieren;andere Säugetiere als Affenund Menschen besitzen nur M-Rezeptoren. Durch Kombinati-on dieser Signale entstehen diebeiden Farbkanäle: +S-(M+L)ergibt den blau-gelben Farb-kanal, +M-L (und +L-M) denrot-grünen. Diese Verrechnungerfolgt schon bald hinter den

Rezeptoren in der Augennetz-haut (Retina).Die anatomischen Grundlagendieser Verschaltung sind fürden blau-gelben Farbkanal ver-standen, aber die Grundlagedes Rot-Grün-Kanals ist nochunsicher. Man weiß, dass dasverantwortliche Zellsystemin der Augennetzhaut aus denso genannten Midget cells(Zwergzellen) besteht. Im zent-ralen Gesichtsfeld ist ein ein-zelner M- oder L-Rezeptor auf 

Die Dendritenbäume vonGanglienzellen in der Augen-netzhaut sind gewöhnlichrund und empfangen Signalevon allen Rezeptoren inihrem Einzugsgebiet; zurPeripherie hin sind die Den-dritenbäume von „midgetcells" aber oft unregelmäßig.Das Bild zeigt eine Zellemit einem extrem unregel-mäßigen Dendritenbaum.Das anatomische Bild

wurde einer (absichtlich ver-schwommenen) Abbildungder Rezeptorenverteilungüberlagert; die blauen Feldermarkieren S-Rezeptoren (dieregelmäßig angeordnet sind),die roten und grünen Felderentsprechen den Orten vonL- und M-Rezeptoren (mitunregelmäßiger Anordnung).

@

   F   O   T   O  :   N   A   T   U   R   E    (   4   1   0  :   9   3   3  -   9   3   6    ) ,   C   O   P   Y   R   I   G   H   T    (   2   0   0   1    )   M   A   C   M   I   L   L   A   N   M   A   G   A   Z   I   N   E   S   L   T   D .

aktuell aktuell 

MEDIZINISCHE  FORSCHUNG

Das erhellte

Gehirn

Wissenschaftlern am Heidelber-ger Max-Planck-Institut fürmedizinische Forschung ist esgelungen, die neuronalen Ver-schaltungen zwischen Gehirnzel-len im Hippocampus von Mäu-sen nicht nur sichtbar zu ma-chen, sondern durch die Gabevon Antibiotika auch zu regulie-ren (SCIENCE, 29. Juni 2001).Mit diesem experimentellen An-satz könnte es möglich werden,die Kluft zwischen unserenKenntnissen über die molekula-

ren Vorgänge in einzelnen Ner-venzellen und unserem Ver-ständnis von Lern- und Ge-dächtnisleistungen des ganzenGehirns zu überbrücken.

Die moderne Neurobiologie fragtheute nach den molekularen undzellulären Mechanismen, die unse-rem Gehirn die so genannte Plasti-zität (griech.: plastokos = zumFormen geeignet) geben und esauf diese Weise anpassungsfähigmachen. Diese Mechanismen be-stimmen – entwicklungsabhängig– die Verknüpfung der Nervenzel-len zu spezialisierten neuronalenNetzen wie dem sensorischen oderdem visuellen System. Sie sinddie Grundlage von Lern- und Ge-dächtnisvorgängen im Gehirn.Darüber hinaus ermöglichen sie,motorische, sensorische oder kog-nitive Störungen zu korrigieren,wie sie zum Beispiel nach einemSchlaganfall eintreten.Die plastischen Veränderungen

finden vorrangig an den Synapsenstatt. Das sind die Schnittstellenfür die Kommunikation zwischenNervenzellen. Bis zu 50.000 Synap-sen kann eine Nervenzelle ausbil-den. Jede Synapse hat eine prä-synaptische Komponente, ver-gleichbar einem Sender, sowie einepostsynaptische (entsprechend ei-nem Empfänger). Die Informatio-nen werden als chemischer Boten-stoff weitergegeben. Dabei werdenan der präsynaptischen Sender-Seite Neurotransmitter ausge-

Page 5: MPF_2001_3  Max Planck Forschung

7/18/2019 MPF_2001_3 Max Planck Forschung

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Weitere Informationenerhalten Sie von:

DR. ROLF SPRENGEL

Max-Planck-Institutfür medizinische Forschung,HeidelbergTel.: 06221/486-101Fax: 06221/486-110E-Mail: [email protected]

war, dass auch mit dem einge-bauten grün fluoreszierendenProtein (GFP) der Ionenkanalim zentralen Nervensystem derMäuse einwandfrei arbeitete.Zudem fanden die HeidelbergerWissenschaftler mit der Zugabedes Antibiotikums Doxyzyclinzum Trinkwasser der Versuchs-tiere einen einfachen Weg,um auch die Funktion diesesIonenkanals zu regulieren.Die Forscher können jetzt denIonenkanal direkt beobachten– seine Lokalisation, seineFunktion und seine Interaktio-nen mit anderen Strukturen.Eine der wichtigsten Eigen-schaften der neuronalen Ver-schaltungen im Hippocampusist die aktivitätsabhängige Op-timierung der Reizweitergabe.

Genau diese Eigenschaft kannüber das Doxyzyclin reguliertwerden. Mit vergleichendenUntersuchungen von Mäusen,die mit oder ohne das Anti-biotikum aufgewachsen sind,wollen die Wissenschaftler inder nächsten Zeit herausfinden,bei welchen Lernvorgängendiese Form der synaptischenPlastizität in den verschiedenenBereichen des Hi ppocampuseine Rolle spielt.

@

FORSCHUNG aktue

3 / 2 0 0 1 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   7

RSCHUNG aktuell 

6   M A X  P L A N C K  F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

schüttet und gelangen perDiffusion zur postsynaptischenEmpfänger-Seite. An vielenSynapsen ist diese Signalüber-tragung nicht statisch, sondernkann – abhängig von ihremEinsatz – optimiert werden. DieForscher sprechen von synapti-scher Plastizität. Die chemischeNeurotransmission kann auf unterschiedliche Weise ver-stärkt werden: Entweder schüt-tet die sendende Nervenzelleeine größere Menge an Boten-stoff-Molekülen aus; oder eswird eine größere Zahl vonEmpfangsstrukturen, wie zumBeispiel Rezeptorkanäle auf dernachgeschalteten Nervenzellebereitgestellt.Bei den molekularen Mechanis-men, die der Erinnerung und

dem Lernen zu Grunde liegen,spielen durch den Neurotrans-mitter Glutamat gesteuerte Io-nenkanäle eine zentrale Rolle.Den Wissenschaftlern um Rolf Sprengel und Volker Mack vomMax-Planck-Institut für medi-zinische Forschung in Heidel-berg ist es gelungen, in Mäuseneinen wichtigen glutamat-gesteuerten Ionenkanal gegenseine grün fluoreszierende Variante auszutauschen. Einewesentliche Feststellung dabei

In Nervenzellen des Vorderhirnseiner Maus wird die Bildungdes fluoreszierenden Glutamat-Rezeptorproteins (GFP-GluR-A)durch einen Transkriptionsfaktor(tTA) ausgelöst (A). Das Rezep-torprotein lagert sich mit ande-ren Untereinheiten zusammen(B) und bildet einen Glutamat-rezeptorkanal (AMPA-Typ) in derMembran der Nervenzellen (C).Der durch das grün fluoreszie-rende Protein markierte Rezep-torkanal (D) befindet sich in denSynapsen neben anderen Gluta-matrezeptoren (NMDA-Typ).Der Hippocampus der Mäuseerscheint nach Bestrahlung mitblauem Licht grün (E). Dank derfluoreszierenden Grünfärbungsind im Schnittpräparat Zellkör-per und Zellfortsätze (Dendriten-bäume) gut zu erkennen (F).Bei hoher Auflösung (G) sindsogar die Spitzen der Dornfort-

sätze (Synapsen) und der Schafteines Dendriten (H) zu sehen.

   I   L   L   U   S   T   R   A   T   I   O   N  :   M   P   I   F    Ü   R   M   E   D   I   Z   I   N   I   S   C   H   E   F   O   R   S   C   H   U   N   G    /   S   P   R   E   N   G   E   L

STRAFRECHT

Elektronische Fußfessel nimmt erste Hürde

Weitere Informationenerhalten Sie von:

RITA HAVERKAMP und MARKUS MAYER

Max-Planck-Institut für ausländischeund internationales Strafrecht, FreibuTel.: 0761/7081-274Fax: 0761/7081-294E-Mail: [email protected]

Seit Mai 2000 wird im Rah-men eines Modellprojekts desHessischen Justizministeriumserstmals in Deutschland dieelektronische Fußfessel ein-gesetzt (MAXPLANCKFORSCHUNG

2/2000, S. 42f.). Das Max-Planck-Institut für auslän-disches und internationalesStrafrecht in Freiburg be-gleitet dieses Modellprojekt.Nach Ablauf des ersten Jah-res lassen sich nun anhandder bislang erhobenen Datenerste – allerdings noch vor-läufige – empirische Infor-

mationen zum Experimentmit der elektronischen Über-wachung vorstellen. Fazit:Sowohl die überwachten Per-sonen als auch die Projekt-mitarbeiter zeigen sich über-wiegend zufrieden mit denMöglichkeiten, welche dieelektronische Überwachungbietet.

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Im Rahmen des Forschungs-projekts führt Markus Mayer,Soziologe und Doktorand amMax-Planck-Institut für aus-ländisches und i nternationalesStrafrecht, mit den überwach-ten Personen zu Beginn undnach Abschluss der Maßnahmeein Leitfadeninterview. Auf derBasis der bislang erhobenenDaten lassen sich bereits ersteEindrücke zusammenfassen.Als Einschränkung oder Kon-trolle wird vor allem die stän-dige Erinnerung an die Über-wachung empfunden, die

durch das Fühlen des Fußban-des entsteht. Die überwachtenPersonen sehen sich gezwun-gen, ihren Tagesablauf stärkerals bisher zu strukturieren, wasder Mehrzahl mit fortschrei-tender Überwachungsdauerauch gelingt. Die vertraute Art

der Freizeitge-staltung ist nichtmehr möglich,da die Überwach-ten in aller Regeldie Abende unddas Wochenende– von einigenStunden „Aus-

Elektronische Überwachung im Rahmen vonStrafaussetzung zur Bewährung 15 Vermeidung von Untersuchungshaft 10 Vermeidung des Widerrufs der Bewährung 7Gnadenentscheid 2Summe 34davon noch an der Fußfessel 14davon Maßnahme beendet 20

Die elektronische Fußfesselbesteht aus einem Sender, dendie überwachten Personenam Fußgelenk tragen und derbeständig Signale abgibt.Die Signale werden von einemEmpfangsgerät registriert, dasin der Wohnung der überwach-

festzustellen und zu melden.Das vom Hessischen Justiz-ministerium unter der Leitungvon Dr. Wolfram Schädler ent-wickelte Modellprojekt siehtvor, die elektronische Überwa-chung als Bewährungsweisungbeziehungsweise als Auflagebei U-Haft-Verschonung ein-zusetzen. Außerdem kanndie Fußfessel im Rahmen vonFührungsaufsicht oder bei Be-gnadigungen angewandt wer-den. Bis Juli 2001 wurden denProjektmitarbeitern 75 Perso-nen vorgeschlagen, bei denen

die Voraussetzungen zur Teil-nahme am Modellprojekt ge-prüft werden sollten; 34 vonihnen wurden für die Maßnah-me ausgewählt. Verteilt auf dievorgesehenen Zugangsmög-lichkeiten ergibt sich folgendesBild:

ten Person steht und übereinen Telefonanschluss miteinem Rechner der HessischenZentrale für Datenverarbeitungverbunden ist. So lässt sichfeststellen, ob sich die Personin ihrer Wohnung aufhält odernicht. Verstößt der Überwachtegegen den festgelegten Wo-chenplan, wird dies unmittelbarper SMS an die Projektmitar-beiter gemeldet. Ebenso ist dasGerät in der Lage, Manipulatio-nen am Sender oder Empfänger

Grund für die Nichtteilnahmewar vor allem, dass viele Perso-nen nicht gefunden werdenkonnten. Andere erfüllten dieTeilnahmekriterien nicht – zumBeispiel wegen akuten Drogen-missbrauchs – oder warengrundsätzlich nicht zur Teil-nahme bereit. In einigen Fällenmachten die Gerichte keinenGebrauch von der elektroni-schen Überwachung, obwohldie Angeklagten die Vorausset-zungen erfüllten.

gang“ abgesehen – zu Hauseverbringen müssen. Viele be-schreiben ein Schrumpfen desFreundeskreises, da sie nichtwie bisher gewohnt an dessenAktivitäten teilnehmen können– oder nicht jedem von derFußfessel erzählen wollen.Alle überwachten Personensollen mindestens 20 Stundenpro Woche einer regelmäßigenTätigkeit nachgehen, wobei essich um normale Arbeitstätig-keit, gemeinnützige Arbeit

oder eine Ausbildung handelnkann. Hierbei ergaben sich we-niger Einschränkungen als imFreizeitbereich, da der Tages-und Wochenplan den Arbeits-zeiten der Probanden, beson-ders bei Schichtarbeit oderÜberstunden, flexibel angepasstwird. Allerdings befürchtendie Probanden negative Folgen,sollte der Arbeitgeber von derFußfessel erfahren. Leben dieÜberwachten in dörflichen oderkleinstädtischen Milieus, sorgensie sich auch um das Gerededer Nachbarn. Weiter befürch-

ten einige, die Fußfessel könnevon Dritten entdeckt werden.Diesen Ängsten steht allerdingsdie Tatsache gegenüber, dassdie Träger der Fußfessel bishernur äußerst selten von Fremdenals solche erkannt wurden.Die Betreuung und Förderungdurch die Mitarbeiter desModellprojekts wird von denÜberwachten positiv bewertet.Hervorgehoben wird, dass dieMitarbeiter neben ihren Kon-trollaufgaben den ÜberwachtenUnterstützung beim Umgangmit Behörden, bei der Suchenach einem Arbeitsplatz oder

der Schulden-regulierung bieten.In verschiedenenFällen hat sich da-durch die Zukunfts-perspektive für dieBetroffenen ausihrer eigenen Sichtdeutlich verbessert.Dies macht klar,

dass eine Kombination voneffizienter Kontrolle und Re-sozialisierungsbemühungen beieinem entsprechenden Konzeptgrundsätzlich möglich undErfolg versprechend ist.

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griffen. Sie ist mathematischidentisch zur Heisenberg’schenoder Schrödinger’schen Ver-sion, aber anders als in diesenspielen die Bahnen, auf denensich die Elektronen bewegenkönnen, eine Schlüsselrolle.Sämtliche denkbaren Bahnen,auch die „verrücktesten“, wer-den mit dem Feynman’schenPfadintegral aufaddiert, sofernsie nur bestimmte Bedingun-gen erfüllen. Zuvor wird denBahnen nach gewissen Regelneine Phase zugeordnet, damitsie sich gegenseitig verstärkenoder auch auslöschen können.Für ein klassisches Teilchenwürden sich alle Bahnen bisauf die von der klassischen

Physik vorhergesagten aus-löschen.Wie Herbert Walther und seineKollegen nach dieser Theorieherausgefunden haben, kom-men die Interferenzeffekte zu-stande, weil das durch starkesLaserlicht herausgelöste Elek-tron mehrere Bahnen zur Ver-fügung hat, auf denen es sichunter Einwirkung des Laser-felds bewegen kann. In demPhotoionisationsexperimentsind besonders die Bahnen in-teressant, auf denen die Elek-tronen während des Ionisa-tionsprozesses zum Ionenrumpf zurückkehren, bevor sie ihnendgültig verlassen. Je nach-dem, ob das Elektron mit demAtom rekombiniert, streut oderdurch Stoß weiter ionisiert, er-geben sich weitere Phänomene.Beispielsweise können Ober-töne erzeugt werden. Die ent-stehen, wenn einige Elektronenvom Ionenrumpf wieder einge-

fangen werden. Dabei kommtes zu Strahlungen, die ein Viel-faches der eingestrahlten Fre-quenz besitzen. Diese Obertönewerden auch als hohe „Harmo-nische“ bezeichnet (Abb. 2).Mit dem neuen Modell sinddie Garchinger Wissenschaftlerin der Lage, die Erzeugung derObertöne zu berechnen. Dievon Feynman vor 50 Jahrenentwickelte Theorie hat damiterstmals eine erfolgreicheAnwendung gefunden. Bisher

Abb. 1:WinkelaufgelöstesPhotoelektronenspek-trum bei elliptischerLaserpolarisation. DiehöhenlinienartigenKonturen deuten dieAbsorption einer ent-sprechenden Anzahlvon Photonen ober-halb der Ionisations-energie an. Die cha-rakteristische Auf-spaltung des hoch-energetischen Teilsdes Spektrums ist einInterferenzeffekt.Dieser Interferenzef-

fekt kommt dadurchzustande, dass bei derIonisation jeweils zweiverschiedene Elektro-nenbahnen möglichsind, die nach demMuster eines Doppel-spaltexperimentsmiteinander inter-ferieren.

Abb. 2:Spektrumder höheren Viel-fachen der Laser-frequenz. Die Abbildungzeigt die ungeraden Harmo-nischen von der 19. bis zur 33. Ordnung, die ineinem Vakuum-UV-Spektrometer analysiert und mit einerpn-CCD Detektoranordnung aufgenommen wurden.

Mit neuen Laser-Experimen-ten haben vier Wissenschaft-lergruppen aus Deutschlandund Frankreich detailliertdie Prozesse beschrieben,die bei der Ablösung einesElektrons aus dem atomaren Verbund sowie bei verwand-ten Phänomenen auftreten.Um die Phänomene zu er-klären, haben sie ein Modellentwickelt, das auf demFeynman’schen Pfadintegral,eine von dem amerikanischenPhysiker Richard Feynmaneingeführte Version der

Quantenmechanik, beruht.Die Gruppe am Max-Planck-Institut für Quantenoptikunter Leitung von Prof.Herbert Walther hat dabeidie Photoionisation unter-sucht (SCIENCE, 4. Mai 2001).Sie ist das Basisexperiment,wenn man die Wechsel-wirkung zwischen intensivemLaserlicht mit Materieverstehen will.

Die Photoionisation war dasExperiment, das am Beginnder Quantenmechanik stand.Indem Licht mit Materie wech-selwirkt und Elektronen ausdem Atomverbund heraus-gelöst werden, erfahren Wis-senschaftler viel über den ato-maren Aufbau der Materie.Mit Einzug der modernenLasertechnik wird dieses Ver-ständnis weiter präzisiert.Beispielsweise verwenden dieForscher heute Laser, deren

Felder so stark sind, dass siedie Felder im Inneren der Ato-me übertreffen. Dadurch kön-nen molekulare Prozesse beo-bachtet werden, und es werdenEffekte sichtbar, die bei derPhotoionisation mit schwä-cherem Licht verborgen bleiben.Die Phänomene, die bei derBestrahlung mit intensivemLaserlicht (0,7 mal 1014 W/cm2)auftreten, haben Physikerschon vor zehn Jahren regis-triert, doch konnten sie sie

QUANTENOPTIK

Starke Laser leuchten Elektronen heim

haben die mathematischenSchwierigkeiten dies verhin-dert. Und die Erzeugung vonHarmonischen ist zudem einviel versprechender Ansatz,um kurzwelliges Laserlicht im Vakuum-UV-Bereich und sogarim weichen Röntgenbereichzu erzeugen.Im Labor des Max-Planck-Instituts für Quantenoptikkönnen die Wissenschaftlererstmals alle Phänomenegleichzeitig mit ein und dem-selben Lasersystem untersu-chen. Durch eine speziellePolarisation des Laserlichtskonnten die Photoelektronenso präpariert werden, dass zueiner bestimmten kinetischenEnergie eines Photoelektronsein bestimmter Typ von Bahnengehört. Dabei hat sich heraus-gestellt, dass das Feynman’sche

Pfadintegral die natürliche Be-schreibung für das Problem ist.Man kann es so vereinfachen,dass man am Ende nur nocheine Handvoll Elektronenbah-nen hat, die man skizzierenund sogar anschaulich deutenkann (Abb. 3). Relevant sind dieErkenntnisse für die Plasma-physik, die Teilchenbeschleuni-gung, aber auch um Hologra-phien von Zellen zu erzeugenoder chemische Reaktionenkohärent zu steuern.

Abb. 3:Das Spektrum der Photoionenzeigt die unterschiedlicheDynamik im Ionisationsprozess.Mit zunehmender Energie derPhotoelektronen ändern sich dieBahnen, auf denen die Elektro-nen den Atomverband verlassen.Zuerst kehren sie auf einfachemWeg zum Ionenrumpf zurück,um ihn dann endgültig zu ver-lassen (rot). Danach werden dieBahnen immer komplexer (grünund blau). Die doppelten Linienverdeutlichen, dass es jeweilszwei verschiedene Wege gibt,die zum selben Ergebnis führen.Solche Bahnen ergeben in derQuantenphysik Interferenzer-scheinungen, wie sie in derPhotoionisation (siehe Abb. 1)beobachtet wurden.

Weitere Informationenerhalten Sie von:

PROF. DR. HERBERT WALTHER

Max-Planck-Institutfür Quantenoptik, GarchingTel.: 089/32905-704Fax: 089/32905-710E-Mail:[email protected]

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bisher theoretisch nicht er-klären. Bekannt war zum Bei-spiel, dass mit starken Lasernmehrere Elektronen gleichzeitig

herausgelöst werden. Außer-dem nehmen die Elektronenmehr Energie auf, als sie fürden eigentlichen Ablösungs-prozess (die Ionisation) benö-tigen. Im Energiespektrumbildet sich deshalb aus denMaxima, die jeweils einemherausgelösten Elektron ent-sprechen, ein Plateau. Um dieszu erklären, haben Wissen-schaftler des Max-Planck-In-stituts für Quantenoptik eineneue Theorie entwickelt. Sie

beruht auf dem Feynman’schenPfadintegral der Quantenme-chanik und ist trotzdem eng andie klassische Physik angelehnt.

Das klassische Modell be-schreibt den Laser als oszillie-rendes elektrisches Feld, in wel-chem das Elektron beschleunigtwird. Mit diesem Modell lässtsich zwar das Plateau sehr gutberechnen. Es erklärt jedochnicht die Interferenzeffekte,die bei der Photoionisation mitintensivem Laserlicht entstehen(Abb. 1). Die Garchinger For-scher haben deshalb auf dieFeynman’sche Version derQuantenmechanik zurückge-

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Schwefelkreislauf, der auf denersten Blick wie ein Perpetuummobile wirkt. Tatsächlich abermüssen die sulfatreduzieren-den Bakterien zuerst Energievon außen – in Form von orga-nischen Kohlenstoffverbindun-gen – aufnehmen, damit derWurm wachsen kann.Durch den zyklischen Aus-tausch von Stoffwechselpro-dukten zwischen beiden Bak-terienarten können diese ge-meinsam mehr Energie produ-zieren als ohne ihren Partner.Diese zusätzliche Energiekommt dem Wirt zugute. Fürihn ist zudem von Vorteil, dassihm die sulfatreduzierendenBakterien lästige Stoffwechsel-

produkte abnehmen, die ersonst ausscheiden müsste.So aber kann der Wurm seineStoffwechselprodukte durch„symbiontisches Recycling"intern weiter verwerten undspart dabei sogar Energie. DiesePartnerschaft hat noch einenweiteren Vorteil: Dank dersulfatreduzierenden Bakterienverfügen die Würmer und ihreprimären sulfidoxidierendenMitbewohner stets über eineinnere Schwefelwasserstoff-quelle. Auf diese Weise sindsie in der Lage, auch Habitateohne hohe Sulfidvorkommenzu besiedeln und ihren Lebens-raum auszuweiten.

Weitere Informationenerhalten Sie von:

DR. NICOLE DUBILIER

Max-Planck-Institut fürmarine Mikrobiologie, BremenTel.: 0421/2028-932Fax: 0421/2028-580E-Mail:[email protected]

DR. MANFRED SCHLÖSSER

Max-Planck-Institut fürmarine Mikrobiologie, BremenTel.: 0421/2028-704Fax: 0421/2028-790E-Mail:[email protected]

terien, um CO2 in organische Verbindungen zu fixieren. Diesewiederum werden von denWürmern aufgenommen undverdaut. Den beschriebenenStoffwechselweg nennt manChemosynthese, vergleichbarder Photosynthese, bei derebenfalls CO2 in organische Verbindungen fixiert wird –allerdings mit Licht statt mitSulfid als Energiequelle.Chemosynthetische Bakterien,die auch in Muscheln und

Schnecken vorkommen, wur-den erst vor etwa zwanzigJahren an heißen Quellen inder Tiefsee entdeckt.Eine unabdingbare Vorausset-zung für alle chemosyntheti-

schen Symbiosen ist, dass redu-zierte Schwefelverbindungenwie Sulfid in der Umgebungvorhanden sind, denn ohnediese Energiequelle können dieBakterien ihre Wirte nicht ver-sorgen und diese würden ver-hungern. „Wir waren deshalbsehr überrascht, als wir vor derKüste Elbas diesen Wurm mitchemosynthetischen Symbi-onten entdeckten. Denn in sei-ner Umgebung konnten wirkeinen Schwefelwasserstoff 

nachweisen", sagt Nicole Dubi-lier, die für das Projekt verant-wortliche Wissenschaftlerin.„Diese Würmer leben in derNähe von Seegrasfeldern ingrobem Sand in einer Wasser-tiefe von acht bis zehn Meternzwischen fünf und fünfzehnZentimeter tief im Meeres-boden. Direkt unter der Hautdieser Würmer haben wirneben den bereits bekanntensulfidoxidierenden Symbiontendie neuartigen sulfidprodu-

zierenden Bakterien alsZweitpartner entdeckt."Wie funktioniert diese unge-wöhnliche Partnerschaft ge-nau? Die sulfatreduzierendenBakterien produzieren Schwe-

felwasserstoff, der von den engbenachbarten sulfidoxidieren-den Bakterien aufgenommenwird. Diese verwandeln denSchwefelwasserstoff in oxidier-te Schwefelverbindungen wiezum Beispiel Sulfat. Die Verbin-dungen wiederum werden vonden sulfatreduzierenden Sym-bionten aufgenommen und inreduzierte Schwefelverbindun-gen wie zum Beispiel Sulfidumgewandelt. So entsteht einzyklischer oder syntropher

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schen Bakterien und Eukaryon-ten; so gibt es heute kaum einePflanzen- oder Tiergruppe, dienicht von bakteriellen Symbi-onten profitiert. Diese unge-heure Vielfalt von bakteriellenSymbiosen im Pflanzen- undTierreich entdeckten die For-scher erst vor etwa zehn Jahrenmit der Einführung kultivie-rungsunabhängiger molekular-biologischer Methoden in derMikrobiologie. Da sich diemeisten symbiontischen Bakte-rien nicht kultivieren lassen,wusste man zuvor wenig über

ihre Identität und Funktion.Seit mehreren Jahren arbeitetDr. Nicole Dubilier am Max-Planck-Institut für marineMikrobiologie gemeinsam mitDr. Olav Giere (UniversitätHamburg) und Dr. Christer Er-séus (Naturhistorisches Muse-um Schweden) an Symbiosenin so genannten oligochaetenWürmern. Diese marinen Vet-tern der Regenwürmer ohneMund und Darm sind für ihreErnährung auf ihre Symbiontenangewiesen. Alle darmlosenOligochaeten beherbergen inihrem Inneren sulfidoxidieren-de Mikroorganismen als pri-märe Symbionten und wurdenbislang nur in schwefelwasser-stoffhaltigen Meeresbödengefunden. In den marinenSedimenten entsteht Sulfid(Schwefelwasserstoff) haupt-sächlich durch die Aktivität vonsulfatreduzierenden Bakterien.Diese Bakterien wiederum be-

nutzen für ihren Stoffwechselorganische Kohlenstoffverbin-dungen als Energiequelle undSulfat als Oxidationsmittel(Elektronenakzeptor), das da-bei zu Sulfid reduziert wird.Sulfid ist für die meisten Tieregiftig. Die symbiontischenSchwefelbakterien in dendarmlosen Oligochaeten da-gegen leben vom Sulfid undoxidieren es zu unschädlichenProdukten. Die dabei gewonne-ne Energie benutzen die Bak-

MARINE  MIKROBIOLOGIE

Eine harmonische Ménage à trois

Bislang glaubte man, dassSymbiosen mit mehr als zweiPartnern für den Wirt nach-teilig wären. Konkurrenz-kämpfe um Raum und Nah-rung würden zu Lasten desWirts gehen. Wissenschaftlerdes Bremer Max-Planck-Instituts für marine Mikro-biologie und ihre Kollegenberichten jetzt über einenFall von Symbiose (NATURE,17. Mai 2001), in dem zweiverschiedene Symbiontennicht nur in Frieden in einemWirt logieren, sondern alle

drei Partner auch nochvoneinander profitieren.

Diese harmonische Ménage àtrois wurde in einem in Küsten-sedimenten vor der Insel Elbalebenden Wurm entdeckt. Dermarine Vetter des Regenwurmsbesitzt weder Mund noch Darmund beherbergt als primärenSymbiose-Partner ein Schwe-felbakterium, das Energie ausder Oxidation von Schwefel-wasserstoff (H2S) gewinnt. DaH2S nicht in ausreichenderKonzentration innerhalb seinesLebensraums vorkommt, hatsich der Wurm als Zweitpartnereine eigene Quelle „ins Haus

geholt" – ein sulfatreduzieren-des Bakterium, das Schwefel-wasserstoff produziert. Inihrem internen Schwefelzyklustauschen beide Bakterienartenihre Stoffwechselprodukte un-tereinander aus und tragen da-mit gleichzeitig zur Ernährungihres Wirts bei. Den BremerWissenschaftlern gelang es, mitmodernen molekulargeneti-schen und biochemischen Me-thoden nachzuweisen, wie die-se Symbiose im Einzelnenfunktioniert.Ohne Symbiosen hätte sich dasLeben auf der Erde nicht ent-wickeln können. Symbiosen

zwischen Bakterien und primi-tiven Einzellern waren ent-scheidend für die Ausbreitungund Evolution von vielzelligeneukaryontischen Organismen.Noch heute beherbergt jedemenschliche Zelle mit den Mi-tochondrien die Nachfahrenfrüherer bakterieller Symbi-onten. Ohne Mitochondrienkönnte der Mensch nicht at-men. Auch in der jüngerenEvolutionsgeschichte entstan-den viele Partnerschaften zwi-

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Mikroskopische Aufnahme eines

darmlosen oligochaeten Wurms.Diese Würmer sind sehr dünn(0,2 Millimeter Durchmesser), im

 Verhältnis dazu aber sehr lang(1 bis 2 Zentimeter). Die Tieresind durch Schwefelkügelchenweiß gefärbt, die in den sym-biontischen Bakterien sitzen.

om Innern eines darmlosen Wurms, aufgenom-m Fluoreszenz-Mikroskop. Die symbiontischenrien sind mit speziellen Gensonden farbig markiert.ulfatreduzierer sind rot, die Schwefelbakteriengefärbt. Der Maßstab wird durch den Balken,02 Millimetern entspricht, angegeben.

Schematischer Ablauf der Symbiose: Die beiden Bakterien tauschenihre Stoffwechselprodukte in einem Schwefelzyklus miteinander aus(Sulfat = Sox und Schwefelwasserstoff = Sred). Der Sulfidoxidiererfixiert CO2 in organische Verbindungen und gibt diese an den Wirtweiter. Stoffwechselprodukte vom Wirt (wie Succinat) können in einerArt „internem Recycling" vom Sulfatreduzierer wiederverwertet werden.Das scheinbare „Perpetuum mobile" funktioniert jedoch nur, wennorganische Kohlenstoffverbindungen als Energiequelle aus der Umge-bung aufgenommen werden, damit der Wurm wachsen kann. Solltendie sulfatreduzierenden Bakterien autotroph sein, also Kohlenstoffaus CO2 gewinnen, kann auch Wasserstoff als Energiequelle dienen.

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CHAOSFORSCHUNG

Chemiker bändigen den Hurrikan

Spontane Strukturbildungund komplexes Chaosgehören zu den faszinie-rendsten Phänomen in derNatur. Zum ersten Mal ist es jetzt Wissenschaftlern desBerliner Fritz-Haber-Institutsder Max-Planck-Gesellschaftunter Leitung von Prof.Gerhard Ertl gelungen, chao-tische Strukturen in einerchemischen Reaktion nichtnur zu beobachten, sondernauch zu steuern. Sie habenes geschafft, ein chaotischesSystem in ein geordnetes um-

zuwandeln. Die neuen Struk-turen hatten die Forscher zu-vor durch mathematischeModellierung vorhergesagt(SCIENCE, 18. Mai 2001).

Wenn kleinste Veränderungenam Ausgangszustand riesigeAuswirkungen auf das Produkthaben, sprechen Wissenschaft-ler vom Chaos. Das Klimagehört dazu, die Turbulenzbil-dung in Flüssigkeitsströmungenoder die Aggregation von Bak-terien in biologischen Syste-men. Aber auch chemische Re-aktionen können chaotischverlaufen. Die Wissenschaftlerdes Fritz-Haber-Instituts habensich für ihre Untersuchungendie katalytisch gesteuerte Um-wandlung von Kohlenmonoxidin Kohlendioxid ausgesucht.Die Reaktion findet an einemPlatin(110)-Katalysator stattund ist eine Art Modellreakti-on. Die aus gasförmigem Sau-

erstoff gebildeten Atome sindan der Platinoberfläche festgebunden und erwarten dortihren Reaktionspartner: dasKohlenmonoxid-Molekül. Die-ses ist leicht beweglich und

springt gewissermaßen überdie Oberfläche. Wenn es einSauerstoffatom findet, könnensich die beiden zu Kohlendioxidverbinden, das die Oberflächesogleich wieder verlässt.Unter bestimmten Bedingun-gen ist der Produktfluss nichtkonstant, und auf der Ober-fläche bilden sich selbstorgani-sierte Muster. Ertl und seineKollegen haben sich deshalbgenauer angesehen, was dapassiert. Mit einem speziellenMikroskop, der so genanntenPhotoelektronen-Emissions-

mikroskopie, die ebenfalls amFritz-Haber-Institut entwickeltwurde, können sie den Prozesssichtbar machen. Dabei fälltauf, dass die räumlichen Be-deckungsmuster von zeitlichenSchwankungen (Oszillationen)im Takt von wenigen Sekundenbegleitet werden. Die Sauer-stoff- und Kohlenmonoxid-Fronten erscheinen im Video-bild unterschiedlich farbig.Man sieht, dass sie spiralförmi-ge Turbulenzen bilden, ähnlicheinem Hurrikan. Diesen Hurri-kan haben die Wissenschaftlerin geordnete Bedeckungsmu-ster umgewandelt.Theoretiker um AlexanderMikhailov haben anhand ma-thematischer Modellrechnun-gen vorhergesagt, dass sich diechaotischen Strukturen mithil-fe einer Rückkopplungsschleifeunterdrücken lassen. Neue,vorher im Chaos verborgeneMuster würden dadurch her-

vortreten. Die Experimente da-zu leitete Harm-Hinrich Roter-mund. Er hat aus den Turbu-lenzen nach und nach schach-brettartige Muster, Streifenoder gleichförmig schwingende

Wellen gemacht. Dies gelingt,indem die Information, die vondem Mikroskop kommt, mitdem Reaktionsgefäß rückge-koppelt wird. Ein Computer er-hält das aktuelle Bild und be-

rechnet immer wieder neu, obdas Kohlenmonoxid-Ventil wei-ter geöffnet oder geschlossenwerden soll. Das geschieht miteiner gewissen Zeitverzöge-rung, wobei diese ebenso wiedie Intensität des Rückkopp-lungs-Signals variiert wird.Unter den so verändertenRahmenbedingungen konntensich die neuen Muster selbst-organisiert ausbilden. Die Max-Planck-Forscher erbrachtendamit den experimentellen Be-weis, dass hoch dimensionalesChaos mit einfachen Mittelnbeherrscht werden kann.„Die Prinzipien, die wir fürdieses einfache System gefun-den haben, können auf andereProbleme angewendet werden“,sagt Gerhard Ertl. Die Wissen-schaftler sind jetzt dabei,komplexere Rückkopplungs-systeme zu entwickeln. Damitwollen sie Systeme synchroni-sieren, die aus mehr als zwei

Beteiligten bestehen. „Mögli-cherweise kann so bei einerchemischen Reaktion dieAusbeute eines gewünschtenProduktes erhöht und die Bil-dung von Nebenprodukten un-terdrückt werden“, nennt Ertleine weitere Anwendung.

hiedeneer in der Oxi-nsreaktionohlenmono-

uf eineroberfläche,nommen mitspeziellen

oskopietech-laue Bereicheorwiegendauerstoff,Bereiche mitnmonoxid

ckt. Von linksrechts:tische Spiral-n und künst-urch Rück-ung erzeugtetrukturen,äre Domänentreifen-

er.

Ergebnisse vonExperimenten ander CO-Oxidation(links) und derenmathematischeModellierung(rechts). Für jeweilszwei verschiedene

Muster sind Raum-Zeit-Diagrammeentlang einesSchnittes durchdie Oberflächegezeigt – obenchaotische Ring-strukturen, untenreguläre Domänen.

   F   O   T   O   S  :   F   R   I   T   Z  -   H   A   B   E   R  -   I   N   S   T   I   T   U   T   D   E   R   M   A   X  -   P   L   A   N   C   K  -   G   E   S   E   L   L   S   C   H   A   F   T

WeitereInformationen

erhalten Sie von:DR. HARM-HINRICH

ROTERMUND

Fritz-Haber-Institutder Max-Planck-Gesellschaft, BerlinTel.: 030/8413-5129Fax: 030/8413-5106E-Mail:[email protected]

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von einem Enzym in genau21 Nukleotide lange Doppelstrang-RNA gespalten. Die einzelnen Stu-fen des Abschaltprozesses in derZelle sind noch nicht bekannt. DieForscher vermuten allerdings, dasses eine „anti-sense-Maschine“ in jeder Zelle gibt, um damit mögli-cherweise Viren abzuwehren. Einnoch unbekannter Proteinkomplexüberprüft offensichtlich allemRNA-Moleküle der Zelle, die auf ihn treffen. RNA-Stücke, die diegleiche Sequenz haben wie der vonaußen eingeschleuste RNA-Dop-pelstrang, werden gespalten. RNA-Stücke mit einer anderen Sequenzbleiben unverändert. Durch dieSynthese sequenzspezifischer RNA-Doppelstränge können die Forscher

festlegen, welche Ziel-mRNAzerlegt werden soll.Das Verfahren ist sehr viel emp-findlicher als andere, die zumBlockieren eines einzelnen Gensdie tausendfache Menge von anti-sense-RNA bereitstellen müssen.Die Forscher sehen darin einenDurchbruch für die funktionelleGenomanalyse. Um die Funktionender etwa 30.000 Gene des mensch-lichen Genoms herauszufinden,

 Varianten, die gerade die Komple-xität des menschlichen Genomsausmachen, wird man mit der neu-en Methode spezifisch und selektivausschalten können. Möglicher-weise lassen sich mit dem Verfah-ren langfristig ebenfalls genspezifi-sche Defekte eliminieren. Letzteresmacht es besonders für therapeuti-sche Ansätze interessant.Wie funktioniert das Verfahren der„RNA-Interferenz“? Gene sind eineAneinanderreihung von Nukleotid-bausteinen (DNA). Diese Nukleotid-ketten werden in so genannte Bo-

ten-RNAs (mRNA) umgeschrieben,die der Zelle die Bauvorschrift fürdie jeweiligen Proteine liefern.Werden siRNA genannte Molekülein die Zelle eingeschleust, so führtdas zur Zerstörung der Ziel-mRNA –sie wird in kleine Bruchstücke zer-schnitten und verliert damit ihreFunktion als Bauanleitung für einspezifisches Protein. Die neue Me-thode eliminiert nicht das Gen, son-dern nur sein funktionelles Produkt– die Boten-RNA wird quasi „abge-fangen“. Die passend konstruiertensiRNA-Moleküle sind so spezifisch,dass sie jeweils nur die Boten eineseinzigen Gens zerstören. „Die RNA-Interferenz ist im Prinzip so etwasähnliches wie die anti-sense-Me-thode“, sagt Thomas Tuschl. „Auchdabei verwendet man eine RNA-Sequenz, die komplementär zurBoten-RNA ist. Wir geben die anti-sense-RNA jedoch in Form einerDoppelstrang-RNA hinzu.“Entscheidend für den Durchbruchwar die Entdeckung, dass die ein-

geschleusten Nukleotidketten ge-nau 21 Nukleotidbausteine umfas-sen müssen. RNA-Moleküle dieserLänge können offensichtlich bishernoch unbekannte Proteine in derZelle rekrutieren; diese Proteinebilden dann einen Komplex, der diepassenden mRNA-Moleküle er-kennt und spaltet. Beobachtungenan der Fruchtfliege Drosophila ha-ben den Forschern hierbei weiter-geholfen: Wenn sie sehr langeDoppelstrang-RNA-Sequenzen indie Zellen einführten, wurden diese

Um ein Gen in einer Humanzelle abzuschalten, wuein spezifischer RNA-Doppelstrang synthetisiert, dgegen eine Komponente der inneren Zellkernmemgerichtet war (a). Der Effekt wurde durch Immun-fluoreszenzmikroskopie nachgewiesen: In den meiZellen wurde das entsprechende Protein nicht mehneu gebildet. In einem Kontrollexperiment, in demRNA-Doppelstrang gegen eine Sequenz verwendetwurde, die in der Humanzelle nicht vorkommt, siehman keinen Effekt (b). In der unteren Reihe (c + dwurde der Einfluss der beiden RNA-Doppelstränge

 jeweils auf ein anderes Gen mit einer anderen Sequntersucht. Hier war keine Reduktion zu beobacht

Der Effekt ist also spezifisch.

BIOCHEMIE

Gene gezielt abschalten

Wissenschaftler aus dem Max-Planck-Institut für biophysikali-sche Chemie in Göttingen habeneine vergleichsweise einfacheund universelle Methode ent-wickelt, um einzelne Gene ab-zuschalten. Jetzt wurde dieMethode erstmals mit Erfolgin Kulturen menschlicher Zellengetestet. Die Methode der„RNA-Interferenz" ist konzep-tionell einfach und kann prinzi-piell auf jede RNA-Sequenz an-gewandt werden. Sie stellt einideales Werkzeug für die funk-

tionelle Genomanalyse dar undkönnte langfristig neue Perspek-tiven in der Therapie eröffnen.(NATURE, 24. Mai 2001)

Seit der Entdeckung der Gene sindWissenschaftler daran interessiert,einzelne Gene abzuschalten, umderen Funktion zu verstehen odergenetische Fehlentwicklungen undKrankheiten zu verhindern. Oft war jedoch jahrelange Arbeit notwen-dig, um nur ein einziges Gen ge-zielt zu blockieren. Mit einem neu-en Verfahren scheint das nun insehr viel kürzerer Zeit und für be-liebige Gene möglich zu sein. Tho-mas Tuschl hat das Verfahren inBoston (USA) am MassachusettsInstitute of Technology ausgeklü-gelt und im vergangenen Jahr zu-sammen mit Sayda Elbashir in sei-ner Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für biophysikalische Che-mie in Göttingen in die Praxis um-gesetzt. In Zusammenarbeit mitJens Harborth und Klaus Weber ge-

lang es den beiden Wissenschaft-lern, gezielt einzelne Gene in Hu-manzellen abzuschalten. Damitbietet diese Methode einen neuenund sehr effektiven Weg, um dieFunktion menschlicher Gene zuuntersuchen.Das ist vor allem deshalb so inte-ressant, weil durch die Entzifferungdes Humangenoms inzwischenzwar die Sequenz der meisten Genebekannt, ihre Funktion aber in denmeisten Fällen nach wie vor unbe-kannt ist. Auch verschiedene RNA-

   A   B   B .  :   M   P   I   F    Ü   R   B   I   O   P   H   Y   S   I   K   A   L   I   S   C   H   E   C   H   E   M   I   E

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WeitereInformationen

erhalten Sie voDR. PETER DAME

Max-Planck-Infür Wissenschageschichte, BerTel.: 030/2266Fax: 030/2266

E-Mail:[email protected]:http://cdli.mpiwberlin.mpg.de/ http://www.smberlin.de/ http://cdli.ucla

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Foundation (NSF) sowie von derNational Endowment for theHumanities (NEH), beide USA,gefördert.Auch Robert K. Englund, Pro-fessor an der University of Cali-fornia at Los Angeles und Leitervon CDLI, freut sich über denBerliner Durchbruch. Die Berli-ner Sammlung dokumentieredie Schriftentstehung besser als jede andere auf der Welt. DieTafeln gäben Aufschluss überden Alltag einer vor Jahrtau-senden versunkenen Welt; an-gefangen bei den Stadtkulturendes 4. Jahrtausends v.Chr. biszum Großreich der 3. Dynastievon Ur am Ende des 3. Jahrtau-sends v.Chr., das zeitweise ganz

Mesopotamien zu einer Verwal-tungseinheit zusammenschloss.„Wir gewinnen Einsichten in dieKulturgeschichte, die weit überspezialisierte Fragestellungenhinausgehen. Gerade das moti-viert uns, neue Bedingungenfür die interdisziplinäre For-schung zu schaffen“, sagt Eng-lund. Für Prof. Klaus-DieterLehmann, den Präsidenten derStiftung Preußischer Kulturbe-sitz, war die Bereitstellung desMaterials für eine derart zu-kunftsweisende Forschung Eh-rensache. So könne man der Verantwortung als „Schatzkam-mer des Wissens der Mensch-heit“ noch besser gerecht wer-den.Die digitale Aufbereitung derTexte von den Keilschrifttafelnist sehr aufwändig. In der digi-

talen Keilschriftbibliothek sol-len Inhalt und Form aller Tafelnveröffentlicht werden, die vonder Entstehung der Schrift et-wa 3200 v.Chr. bis zum Endedes dritten Jahrtausends ent-standen sind. Für die Er-schließung des Inhalts der mehrals 120.000 Texte müssen spezi-elle Such- und Darstellungs-techniken entwickelt werden.Zudem werden weit leistungs-fähigere Übersetzungsprogram-me als bisher benötigt. Dennobwohl die Entschlüsselung derKeilschrift bereits mehr als 150Jahre zurückliegt, fehlt es selbstSpezialisten, ganz zu schweigenvon Wissenschaftlern andererDisziplinen, noch immer an ge-

eigneten Hilfsmitteln zur Aus-wertung der Keilschriftliteratur.Dringend gebraucht werden le-xikalische und grammatikali-sche Glossare, aber auch einehistorische Rekonstruktion dergrafischen Entwicklung derKeilschrift.Angesichts dieser Herausforde-rungen setzte das CDLI-Projektvon Anfang an auf eine neuar-tige Zusammenarbeit zwischenForschungs- und Kulturinstitu-tionen: Assyriologen, Museums-kuratoren, Wissenschaftshisto-riker sowie Informatiker arbei-ten heute gemeinsam an derAufbereitung für das Internet.Die Stiftung Preußischer Kul-turbesitz und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsge-schichte erwarten deshalb, dassmit der Digitalbibliothek nichtnur neue Hilfsmittel zum Ver-ständnis der Texte entstehen,sondern auch bisher eher ge-trennt betriebene Forschungen

zusammengeführt werden. Sowollen die MPI-WissenschaftlerTypologien der Rechnungsle-gung, der grafischen Darstel-lung formaler Abläufe derBuchhaltung und umfangreicheGlossare mit technischen Termi-ni sowie zusätzliche Hilfsmittelfür die Übersetzung entwickeln.„Wir erwarten von dieser heutenoch unüblichen Form derüberfachlichen Zusammenar-beit einen entscheidenden Im-puls für die Weiterentwicklung

   F   O   T   O   S  :   M   P   I   F    Ü   R   W   I   S   S   E   N   S   C   H   A   F   T   S   G   E   S   C   H   I   C   H   T   E

der Keilschriftforschung unddie Verbreitung ihrer Ergebnis-

se. Bislang waren diese nur we-nigen spezialisierten Expertenzugänglich", sagt Dr. JoachimMarzahn, Kustos der Keil-schriftsammlung am BerlinerMuseum.Am Ende sollen in der digitalenKeilschriftbibliothek nicht nuralle Keilschrifttafeln in Wortund Bild stehen; vielfältigeWerkzeuge sollen es auch Wis-senschaftlern anderer Diszipli-nen erlauben, mit dem Materialzu arbeiten. Profitieren werdenalso nicht nur Assyriologen undSumerologen, sondern auchLinguisten, Semiotiker, Kog-nitionshistoriker oder auchSozialwissenschaftler, die sichmit der Entstehung der ers-ten Stadtstaaten und ihrer Verwaltung beschäftigen. DerEinzug der Digitalisierung istnun also auch in den Geistes-wissenschaften auf dem Vor-marsch. Jürgen Renn siehtdiese Entwicklung positiv: „Als

Konsequenz neuer Informati-ons- und Kommunikations-technologien erleben wir heuteden Übergang vom internatio-nalen Wissensaustausch hin zurinternational arbeitsteiligen Er-zeugung und Verwendung vonWissen. Zwar drohen einerseitsInformationsexplosion und zu-nehmende Fragmentierung vonWissen, doch andererseits er-geben sich neue Chancen füreine themenorientierte inter-disziplinäre Kooperation."

Die Rückseiteder Tafel untelinks: Sie ist m

Ritzzeichnungversehen, dereAbbilder jedockeinen Bezugzum Inhalt deListe aufweiseSie sind mög-licherweise Teeiner weiterennicht mehrerklärbarenSchreibübung

WISSENSCHAFTSGESCHICHTE

Digitale Keilschrift

steht im Internet

Mehr als 3200 Keilschrift-tafeln aus dem Vorderasia-tischen Museum Berlinsind seit kurzem für Wissen-schaftler und Museumsbe-sucher frei zugänglich. Dazumuss man nicht in die nor-malerweise verschlossenenDepots des Museums vordrin-gen, sondern lediglich einenComputer besitzen: Die Texteder Tafeln sind im Internetzu bewundern. Die Pionier-leistung der digitalen Aufbe-

reitung ist gemeinsamenAnstrengungen des Vorder-asiatischen Museums derStiftung Preußischer Kultur-besitz und dem BerlinerMax-Planck-Institut fürWissenschaftsgeschichte(MPIWG) sowie der Univer-sity of California in LosAngeles (UCLA) zu verdan-ken. Die Erfassung ist einwichtiger Meilenstein auf dem Weg zu einer internatio-nalen digitalen Keilschrift-bibliothek, an der sich welt-weit noch sechs weitere Mu-seen mit bedeutenden Keil-schriftsammlungenbeteiligen.

Menschliches Denken ent-wickelt sich in enger Wechsel-wirkung mit den Formen seinerschriftlichen Darstellung. Vondaher sind Überlieferungen inKeilschrift nicht nur aus derPerspektive der Sprachwissen-

schaft, sondern auch für Diszi-plinen wie die Wissenschafts-geschichte von großer Bedeu-tung. Will man heute die Ent-stehung menschlichen Wissensbis hin zu den Ursprüngen derSchrift zurückverfolgen underforschen, braucht man einesehr breite Basis. „Dazugehören neue Quellen, neueTechniken des Umgangs mitdiesen Quellen und neue For-men der Kooperation über In-stituts- und Ländergrenzen

hinaus“, sagt Prof. JürgenRenn, Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsge-schichte. „Ich bin deshalb fürdiese Kooperation zwischenunserem Institut und der Stif-tung Preußischer Kulturbesitzextrem dankbar, denn es istnicht selbstverständlich, dassMuseen auf diese Weise ihreTüren öffnen."Die Digitalisierung der BerlinerKeilschriftsammlung – eine derbesten ihrer Art auf der Welt –ist Teil eines internationalenProjekts, die 4000 Jahre langvergessenen Verwaltungsarchi-ve der Stadtstaaten undGroßreiche Mesopotamiens,deren Reste nach ihrer Ausgra-bung in verschiedenste Museender Welt gelangten, im Internetals komplette Bibliothek virtu-

ell zusammenzuführen (Cunei-form Digital Library Initiative,kurz CDLI). An dem CDLI-Pro- jekt, das vom Max-Planck-In-stitut für Wissenschaftsge-schichte und der University of California gegründet wurde,beteiligen sich bislang siebenweltweit bedeutende Museenwie der Pariser Louvre, die Ere-mitage in St. Petersburg oderdie Yale Babylonian Collectionin New Haven (USA). Die CDLIwird von der National Science

Dieser Text ist eine Verwaltungsnotizüber verschiedenePosten Ausgaben vondrei verschiedenenBiersorten an unter-schiedliche Empfän-ger (Palast, Tempelzum Opferverbrauch)unter Nennungdes jeweiligen Ma-terialverbrauchs anGetreide und Bier-grundstoffen. DieEntnahme erfolgteaus dem Verantwor-tungsbestand desTempelbrauers Amar-Giri, der ein bekann-ter Beamter des„Hauses der Frau“(= Ehefrau des Für-sten), eines agrari-schen Großbetriebsdes Staates vonLagasch war. Der

Text stammt ausdem 6. Jahr derRegierungszeit desFürsten Lugalanda,um etwa 2370 v.Chr.in Südmesopotamien.

@

te man im Idealfall nur 30.000 Doppel-g-RNA-Stücke synthetisieren, um danneihe nach einzelne Gene abzuschaltenu prüfen, welche Fehlentwicklungen oder

ungen auftreten. „Das wird in der Realitätganz einfach und schon gar nicht schnell

n. Aber es gibt dabei kein grundsätzlichesem“, sagt Thomas Tuschl.rtige Untersuchungen werden nicht anyonen, sondern an Zellkulturen durchge-. Das Modellsystem für menschliche Zellen

so genannte HeLa-Zellen. Hierbei handelth um transformierte Zellen, die von einem

or abstammen. Sie werden weltweit in dertischen Forschung eingesetzt. Tuschl undMitarbeiter haben gezeigt, dass man mitMethode auch in HeLa-Zellen verschiede-

ene spezifisch blockieren kann. Wenn esdabei um ein für das Überleben der Zellezielles Gen handelt, sollten die Zellen

der Blockade absterben. Und genau dasten die Forscher beobachten. Wenn es sichin nicht-essenzielles Gen handelt, überlebteilt sich die Zelle weiter. Man kann dieirkungen der Blockade des Gens dann überZell-Generationen hinweg verfolgen –sgesetzt, es liegt genügend RNA-Materialterferenz vor.ben gibt es Gene, die das Wachstumelle oder die Zellteilung kontrollieren. BeiBlockade dieser Funktionen würden die

n zwar weiterleben, aber sich nicht mehrn. Auch in Zellkulturen kann man also einee von funktionellen Aspekten untersuchen.fristig möchten die Forscher natürlich dietion von Genen in der Entwicklung vonen Organismen untersuchen. Dabei gibt esdings ein Problem: Die RNA-Stränge drin-nicht von alleine in die Zellen ein, sonderntigen für ihren Transfer ins Zellinnere eineähre, also andere Molekülkomplexe wieBeispiel Liposomen.e Hürden müssen zunächstbeseitigt wer-

Wenn das Verfahren aber erst einmal opti-t ist, sollte es möglich sein, auch im leben-Organismus einzelne Gene gezielt abzu-ten, vielleicht sogar irgendwann einmal

orgene im erwachsenen Menschen. Das istdings noch eine Vision. Das nächste, wirk-reifbare Ziel wird der Einsatz des Verfah-

der „RNA-Interferenz“ im Rahmen derktionellen Genomanalyse sein.

Weitere Informationen erhalten Sie von:. THOMAS TUSCHL, Max-Planck-Institut fürysikalische Chemie, Göttingen551/201-1650, Fax: 0551/201-1197il: [email protected]

AYDA ELBASHIR, Tel.: 0551/201-16190551/201-1197, E-Mail: s [email protected] HARBORTH, Tel.: 0551/201-1347

0551/201-1578, E-Mail: [email protected]

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Dieser Keilschrift-text aus der Zeitum 2600 v.Chr.

stammt aus demBereich der

Schreiberschuledes Stadtstaates

Schuruppak(modern: Fara)

in Südmesopota-mien und enthälteine umfangrei-che Liste sume-rischer Homo-

phone (gleichlau-tender Begriffe).

Angefertigt wurdedieser Text sehr

wahrscheinlich imRahmen einerDiktatübung,

in der es auf dieErfassung solcher

homophonerLautverbindungen

ankam.

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Röntgenbeugungsme-thoden zunächst dieOrientierungsverteilungder Kristalle (Textur ge-nannt) etwa in einemAluminium- oder Stahl-blech. Kristalle, die zumBeispiel beim Walzendes Werkstoffs in ir-gendeiner Weise ausge-richtet wurden, werdenstatistisch in Gruppenzusammengefasst. Diese

Gruppen beschreiben also dieAnisotropie des Werkstücksund werden Texturkomponen-ten genannt. Dann berechnenRaabe und Roters mittels derFinite-Elemente-Methode(FEM), wie der Umformvorgang

die Texturkomponenten an je-dem Punkt eines als Gitter an-genäherten Blechmodells be-einflusst: Letztlich beschreibtdas Verfahren also Schritt fürSchritt, wie die orientiertenKristalle an jedem Gitterpunktunter Einwirkung einer gerich-teten Kraft im Mittel gedrehtwerden.Der Erfolg ist verblüffend: Die„gefürchteten“ Aluminiumzip-fel vorherzusagen ist für dasModell eine leichte Übung. „Fürdieses neue Verfahren musstenwir drei zwar schon bekannte,aber bislang getrennt vonein-ander erarbeitete Konzepte ausder Kristallographie (Textur-komponenten), der Metallphy-sik (Kristallplastizität) und der Variationsmathematik (FEM)zusammenführen“, sagt Raabe.Der Clou: Weil nun nicht mehrdie Wechselwirkung einzelnerKristalle im Detail berechnetwird, sondern lediglich die Än-

derung der sehr viel einfacherzu beschreibenden, abstraktenGröße „Texturkomponente“,spart das auf den Namen„Texturkomponenten-Kristall-plastizitäts-Finite-Elemente-Methode“ getaufte Modell vielRechenzeit. Im Vergleich zuden aufwändigen „Kristall-für-Kristall-Berechnungen“ ist dieDüsseldorfer Methode etwaum den Faktor 100 bis 1000schneller; die genaue Simula-tion eines komplexen Umform-

Die Aufgabe istseit Jahrtausen-den die gleiche,aber die Mitteländern sich: An-ders als derSchmied vor 4000Jahren bei Schlie-manns vermeint-licher Agamem-non-Maske versu-chen die Ingeni-eure heute das

 Verhalten vonMetallen bei Um-formvorgängenim Computer vor-wegzunehmen.Erst eine kürzlichin Düsseldorfentwickelte Simu-lationsmethodeerlaubt die rea-litätsnahe Model-lierung dieserProzesse in ange-messener Zeit.

ergänzt Raabe, „entsprechendeProzesse und Werkzeuge müs-sen daher vor der eigentlichenProduktionsphase auf demComputer genauestens ausge-legt werden.“Bisher setzt man dagegen zum

Beispiel bei der Festigkeitsaus-legung von Metallbauteilen ausSicherheitsgründen häufigmehr Material ein als nötigwäre, weil die Simulation einesTiefziehprozesses die Wand-dicken des entstehenden Teilsnicht zuverlässig vorhersagt.„Hier wäre es also wünschens-wert, die Physik besser zuberücksichtigen“, sagt Roters.Natürlich hat es auch auf demGebiet der „reinen Lehre“ nichtan intelligenten Lösungsansät-zen gefehlt, die allerdings inder Praxis eine wesentliche Be-schränkung mitbrachten: Re-chenmodelle, die die Mikro-strukturphysik der Metalle imDetail berücksichtigen, bringenzwar sehr gute Ergebnisse –aber erst nach wochenlangenRechenläufen.Das Rechenverfahren, das dieDüsseldorfer Wissenschaftlerum Dierk Raabe nach zwei Jah-ren Forschung nun vorgestellt

haben, überbrückt den Spagatzwischen Genauigkeit und Pra-xisnähe jedoch auf sehr ele-gante Weise: Anstatt in jedemeinzelnen Simulationsschrittdas individuelle Verhaltenabertausender einzelner Kris-talle zu berechnen, setzt eskurzerhand auf statistischeAussagen über das Verhaltengrößerer Kristallansammlungenunter Krafteinwirkung. Dazumessen die Mitarbeiter vonRaabe und Roters mithilfe von   A

   B   B .  :   M   P   I   F    Ü   R   E   I   S   E   N   F   O   R   S   C   H   U   N   G

„Zipfel“ anstelleeines ebenmäßigenRandes: Erst, wennman die mikro-kristalline Strukturder Metalle ange-messen in die Be-rechnung einesUmformvorgangseinbezieht, nimmtdie Simulationdie korrekte Formdes Metallblechsvorweg.

graphische Orientierungund mithin auch die Gesamt-anisotropie des Werkstücks.“Denn anders als zum Beispielein Stück Gummi kann manKristalle nicht ohne weiteres in jede beliebige Richtung verfor-men: Im Kristall sind nur Sche-rungen in bestimmte Richtun-gen erlaubt, dabei verschiebensich letztlich benachbarteAtomlagen gegeneinander. Auf bestimmte Formänderungen,etwa durch Ziehen oder Stau-chen, muss der Kristall zusätz-lich mit Rotationen des Kris-tallgitters reagieren. Da dieseRotationen für jeden Kristallunterschiedlich ausfallen,kommt es obendrein zu kom-

plizierten Wechselwirkungender Kristalle untereinander.Diese mikroskopischen Be-schränkungen haben einenganz erheblichen Einfluss auf die makroskopische Formän-derung, mit der Metalle auf Krafteinwirkungen reagieren;Programme, die dies nichtberücksichtigen, kommen da-her zu falschen, idealisiertenResultaten.Natürlich hat die Anwendungs-technik auf diese Defizitebereits reagiert; so bringenCrashtests im Computer schonlange brauchbare Ergebnisse –aber nur, weil sie stark auf em-pirisch gewonnene Zusammen-hänge bauen. „Dennoch stößtman hier in vielen Bereichen anGrenzen“, sagt Roters. „Alumi-nium oder hochfeste Stählemüssen gerade in der Automo-biltechnik heute mit immer en-geren Toleranzen hinsichtlichihrer Abmessungen und Eigen-

schaften produziert werden“,

Dierk Raabe, Leiter der Abtei-lung für Mikrostrukturphysikund Umformtechnik am Düs-seldorfer Max-Planck-Institut.Tatsächlich sind die nachaußen hin oft glatt wirkendenMetalle in i hrem Innerstenkeineswegs homogen, sondernzusammengesetzt aus einer Vielzahl kleiner Kristalle, derenAchsen im Werkstoff mehroder wenig zufällig ausgerich-tet sind. Je nach Metall, Legie-rung und Herstellungsweisesind sie einige wenige Mikro-meter bis einige Zentimeter

groß; bei verzinktem Stahlkann man diese Kristalle häufigsogar mit bloßem Auge sehen.Grund für die komplexe Struk-tur sind die Erstarrungs- undUmwandlungsprozesse aus derMetallschmelze. Wenn dieseabkühlt, bilden sich in der flüs-sigen Phase eine Vielzahl vonKristallisationskeimen, die inKonkurrenz zueinander wach-sen. Die daraus resultierendeUnordnung währt jedoch nichtlange, denn durch weitereProduktionsschritte wie zumBeispiel durch Walzen könnendie Kristalle in einer bestimm-ten Weise ausgerichtet werden.Und genau die daraus folgende„Anisotropie“ ist die Ursacheder Probleme, die die rechneri-sche Modellierung vermeintlicheinfacher Formgebungsprozes-se – Schmieden, Strecken oderTiefziehen – bislang so schwie-rig macht. Raabe: „Währendder Umformung ändern diese

Kristalle ständig ihre kristallo-

MATERIALFORSCHUNG

Metalle gut in Form

Seit einigen tausend Jahrenbearbeitet die MenschheitMetalle. Doch während Che-miker inzwischen ganze En-zymkomplexe am Bildschirmzusammensetzen können, gabes bisher noch kein Verfah-ren, mit dem sich die Form-änderungen, denen die ver-meintlich einfach struktu-rierten metallischen Werk-stoffe durch Krafteinwirkungunterworfen sind, zuverlässigund in vertretbarer Rechen-zeit im Computer nachbildenließen. Ein neues besonders

effizientes Rechenverfahren,das Wissenschaftler des Düs-seldorfer Max-Planck-Insti-tuts für Eisenforschung ent-wickelt haben, schafft hiermit einem intelligenten Mixaus Kristallographie, Metall-physik und Variationsmathe-matik Abhilfe.

Rätselhafte Metalle: „Wer ver-sucht, ein einfaches Alumini-umblech in die Gestalt einesNäpfchens umzuformen, erhältin der Praxis ein Gebilde, dasam oberen Rand Zipfel und un-terschiedliche Wanddicken auf-weist“, sagt Franz Roters, Leiterder Gruppe für Theorie und Si-mulation am Max-Planck-Insti-tut für Eisenforschung in Düs-seldorf. „Im Computer konnteman dieses einfache Phänomenbisher noch nicht simulieren –es sei denn, man betrieb einenunverhältnismäßig hohen Re-chenaufwand.“ Mit anderen

Worten: Während der Bild-schirm den Materialforschernbisher eine perfekte Schalezeigte, holte der Ingenieur einObjekt aus der Maschine, daseher die Form eines Aschenbe-chers hatte – fast scheint es,als wäre die Eisenzeit i mmernoch nicht ganz in den Work-stations der Industrie ange-kommen.„Die Ursache hierfür liegt inder polykristallinen Strukturder Metalle“, sagt Professor

vorgangs ist mitunter schonin wenigen Stunden abge-schlossen. Damit dürfte das Verfahren geeignet sein, diedringenden Auslegungsfragender Industrie in angemessenerZeit und auf physikalischerBasis zu beantworten.Mehr noch: „Im Prinzip könnenwir nun obendrein auch besserprognostizieren, wo die Aus-fallwahrscheinlichkeit einesMetallteils unter starker Belas-tung am höchsten ist“, ergänztRoters, „denn die erzwungeneOrientierungsänderung derKristallite bei der Umformungführt natürlich zu Spannungenim Material, die sich in derMikroelektronik und im Auto-

mobilbau ebenso wie in meter-langen Bauteilen der Kraft-werkstechnik negativ bemerk-bar machen können – auchdiese Spannungen könnenwir nun am Bildschirm dar-stellen.“

Weitere Informationenerhalten Sie von:

PROF. DR. DIERK RAABE

Max-Planck-Institutfür Eisenforschung, Düsseldorf Tel. 0211/6792-278Fax: 0211/6792-333E-Mail : [email protected] DR. FRANZ ROTERS

Tel.: 0211/6792-393Fax: 0211/6792-333E-Mail: [email protected]

Das Prinzip derneuen „Textur-komponenten-KristallplastizitFinite-ElementMethode“: An dem Gitterpungeben „Textur-komponenten“stellvertretendfür abertausenEinzelkristalleAuskunft über

die Anisotropiedes metallischeWerkstoffs; zuSimulation des

 Verformungsvogangs muss danur noch Schrifür Schritt ber

net werden, widie einwirkendKraft diese Komponenten verädert. Im Verglezur mühsamenBerechnung „Ktall für Kristallspart das vielRechenzeit – dmacht das „phnahe“ Verfahreauch für die Industrie interes

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Andrea Hilpert und MartinHeil zeigten bei Freilandstudienin West-Malaysia, dass diebesonders an Straßenrändernsehr häufig vorkommendeMacaranga tanarius ihre Blatt-nektar-Produktion sowohl nachFraßschäden als auch nach reinmechanischer Beschädigungihrer Blätter auf das Vier- bisSechsfache des normalen Wer-tes anhebt.Ein ähnlicher Effekt lässt sichauch durch das Pflanzenhor-mon Jasmonsäure erzielen. Jas-monsäure spielt als Signalstoff – das wissen die Wissenschaft-ler schon seit längerem – invielen Pflanzen eine zentraleRolle. Um zu prüfen, ob dieses

Pflanzenhormon auch an derSteuerung der Blattnektar-Pro-duktion von Macaranga tana-

rius beteiligt ist, wurden ent-sprechende Untersuchungenin der Arbeitsgruppe vonProf. Wilhelm Boland am Max-Planck-Institut in Jena durch-geführt. Mit einer von ThomasKoch entwickelten Analyse-methode fanden die Forscherheraus, dass die Macaranga -Pflanzen als Reaktion auf Schä-digung tatsächlich verstärktJasmonsäure produzierten.Dabei ergab sich ein sehr engerZusammenhang zwischen derIntensität des Schadens undder Menge der von den Pflan-zen gebildeten Jasmonsäure:Je stärker die Schädigung, des-to mehr Jasmonsäure konntendie Wissenschaftler nach etwadreißig Minuten in den beschä-digten Blättern nachweisen.Diese größeren Mengen anJasmonsäure führten wiederum

zu einer Erhöhung des Nektar-flusses. „Die Pflanzen sind alsoin der Lage, ihre Reaktion inabgestufter Form an die jewei-ligen Erfordernisse anzupassen.Wenn wir die Biosynthese derJasmonsäure durch den Einsatzentsprechender Stoffe hemm-ten, wurde nach Blattschädi-gung deutlich weniger Nektarproduziert als in Kontrollpflan-zen mit voll funktionsfähigemJasmonsäure-Stoffwechsel. DasPflanzenhormon Jasmonsäure

entpuppt sich also als Schlüs-selelement für die Regulationder Blattnektar-Produktion",erläutert Martin Heil.Die Forscher waren über diesenSignalweg hinaus auch an derBedeutung der Blattnektar-Produktion für das Ökosysteminsgesamt interessiert. Deshalbbehandelten sie mehrere Ma-

caranga-tanarius -Pflanzenmit Jasmonsäure und beobach-teten sie während der nächsten24 Stunden im Zweistunden-Rhythmus. Sie registrierten alleauf den Pflanzen auftretendenInsekten und teilten sie nachihrem Verhalten in Gruppenein. Das Ergebnis war beein-druckend: Bereits drei Stunden

nach der Jasmonsäure-Behand-lung hatte die Anzahl der In-sekten auf den Blättern deut-lich zugenommen. Viele dieserInsekten (vor allem Ameisenund Fliegen) verteidigten „ihre"Nektarien gegen Schädlinge.Insgesamt führte die Anregungder Nektarproduktion zu einerdramatischen Erhöhung sowohlder Nektarkonsumenten alsauch der verteidigenden Insek-ten, während umgekehrt dieAnzahl der Fraßschädlingedeutlich abnahm.Um die langfristige Wirkungdieses Effektes auf die Pflanzenzu prüfen, haben die Würzbur-ger Biologen einen weiterenFreilandversuch durchgeführt.Über sechs Wochen hinwegwurden alle vier Tage insge-samt dreißig Pflanzen mit Jas-monsäure behandelt oder ge-zielt mit Nadelstichen traktiert,um die Blattnektar-Produktionpermanent auf hohem Niveau

zu halten. Auch das Ergebnisdieser Untersuchung war be-merkenswert: Die Schädigungunbehandelter Vergleichspflan-zen durch Fraßinsekten warmehr als zehnmal größer alsdie der behandelten Pflanzen.„Wenn sie von Fraßinsektenangegriffen wird, ist Macaran-

ga tanarius also in der Lage,durch eine Erhöhung der Blatt-nektar-Produktion sehr schnellund sehr effektiv bestimmteräuberische Insekten um Hilfe

zu rufen, die dann als biolo-gische Schädlingsbekämpfer

fungieren und die Pflanzen vorweiteren Schäden bewahren",stellt Prof. Wilhelm Boland fest.Blattnektar wird nicht nur vonPflanzenexoten wie Macaran-

ga tanarius produziert. DieseStrategie, um quasi Hilfstrup-pen anzuheuern, findet sich inden Tropen stellenweise bei biszu vierzig Prozent aller Pflan-zenarten. Auch Nutzpflanzenwie Baumwolle, Feigenkaktus,Balsabaum, Cashewnuss oderauch unsere einheimische Kir-sche produzieren Blattnektarund schützen sich so – zumin-dest teilweise – gegen Fraß-schäden. Vielleicht eröffnen diese Er-kenntnisse neue Möglichkeitenfür den biologischen Pflanzen-schutz: Die Forscher wollendeshalb prüfen, ob man sichdie gezielte Stimulation derBlattnektar-Produktion odergar die Zucht von blattnektar-überproduzierenden Pflanzen-

formen als natürliche Formder Schädlingsbekämpfung imPflanzenanbau zu Nutzemachen kann.

Weitere Informationenerhalten Sie von:

PROF. DR. WILHELM BOLAND

Max-Planck-Institutfür chemische Ökologie, JenaTel.: 03641/6436-64Fax: 03641/6436-70E-Mail: [email protected]

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 Viele Pflanzen produzierenauf ihren Blättern so ge-nannten extrafloralen Nektaroder Blattnektar. Im Gegen-satz zum Blütennektar dientBlattnektar jedoch nicht derBestäubung; er bildet viel-mehr eine Nahrungsquellefür Ameisen, Wespen undandere räuberische Insekten.In einer symbiotischen Wech-selbeziehung verteidigen die-se Nektarkonsumenten ihreWirtspflanzen gegen Fraß-schädlinge. Bei Untersuchun-gen an malaysischen „Amei-senpflanzen“ haben Wissen-schaftler vom Lehrstuhl fürTropenökologie der Univer-sität Würzburg und vomMax-Planck-Institut fürchemische Ökologie in Jena jetzt einen chemischen Sig-nalweg entdeckt, über dendie Produktion des Blattnek-tars gezielt geregelt wird

(PNAS, 30. Januar 2001).

Gesteuert durch das Pflanzen-hormon Jasmonsäure steigtdie Nektarproduktion nachFraßschädigung stark an. Be-reits nach wenigen Stundenfinden sich immer mehr Nek-tarfresser auf den geschädigtenBlättern und schützen diePflanzen vor weiteren Fraß-schäden. Blattnektar erlaubt esden Pflanzen also, bei Schäd-lingsbefall Schutzinsekten „um

Hilfe zu rufen" und stellt da-mit eine indirekte Art der Ver-teidigung dar.Biologische Schädlingsbekämp-fung ist keine Erfindung desMenschen. Gerade in den Tro-pen haben zahlreiche PflanzenAllianzen mit den unterschied-lichsten Insekten entwickelt,die sie vor Fraßfeinden schüt-zen. Dr. Brigitte Fiala und Prof.K. Eduard Linsenmair vomLehrstuhl für Tierökologie undTropenbiologie der UniversitätWürzburg untersuchen derarti-ge Symbiosen (Lebensgemein-schaften mit gegenseitigemNutzen) schon seit Jahren amBeispiel der in Südostasien (vorallem in West-Malaysia undauf Borneo) wachsendenBaumgattungMacaranga . Viele Arten dieser Gattung sind„Pionierbäume" – sie be-siedeln Straßenränder undKahlschlag- oder Brandflächen,

also Flächen, auf denen derRegenwald zerstört wurde.Macaranga -Bäume sind hochspezialisierte, so genannteAmeisenpflanzen; in ihrenStämmen und Ästen bilden siebesondere Hohlräume aus, dievon Ameisenkolonien besiedeltwerden. Außerdem produzie-ren sie kleine eiweiß- und fett-reiche Futterkörperchen, diewichtigste Nahrungsquelle derAmeisen. Die Ameisen wieder-um revanchieren sich für diese

RSCHUNG aktuell 

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CHEMISCHE  ÖKOLOGIE

 Wie Insekten auf Nektar fliegen

Insekten-rechts

nicht nähermmte Fliegenem Blatt

Macaranga

ius. Dast zählt zuffektivstenidigernr Pflanze.

Jasmonsäure undmechanischer Scha-den stimulieren dieNektarproduktionvon Macaranga

tanarius: Die Nek-tarproduktion wurdevor und 24 Stunden

nach den verschie-denen Behandlun-gen gemessen undist hier als relativeÄnderung ausge-drückt. Sowohl diemechanische Schä-digung der Blätter(Löcher) als auchdie natürliche Schä-digung durch Fraßhatte eine deutlicheErhöhung der Pro-duktion zur Folge,entsprechende Ef-fekte konnten auchdurch Aufsprüheneiner Lösung desPflanzenhormonsJasmonsäure erzieltwerden. Unbehan-delte Kontrollenund Sprühkontrol-len (Applikationdes verwendetenLösungsmittels ohneJasmonsäure) hattendagegen keinenEffekt.

MechanischeBeschädigungund Jasmonsäure-

Behandlung vonMacaranga tanari-

us reduzieren denFraßschaden durchHerbivore: Diedurch Fraß auf-tretenden Blatt-schäden wurdenvergleichend vonunbehandeltenKontrollpflanzenund solchen Pflan-zen bestimmt,bei denen die Nek-tarproduktionüber sechs Wochenhinweg jedenvierten Tag durchmechanische Schä-digung(Löcher)oder Jasmonsäureinduziert wordenwar. Die einge-fügte Grafik zeigtZahlen der aufinduzierten undKontrollpflanzenauftretenden In-sekten verschiede-ner funktionellerGruppen – aufden induziertenPflanzen warendeutlich mehrverteidigendeInsekten und Nek-tarienbesucher,dafür aber wenigerFraßschädlingezu beobachten.

   F   O   T   O   S  +   G   R   A   F   I   K   E   N  :   M   P   I   F    Ü   R   C   H   E   M   I   S   C   H   E    Ö   K   O   L   O   G   I   E

Gastfreundschaft und schützen„ihren" Wirtsbaum vor Fraß-insekten, aufwachsenden Klet-terpflanzen und bestimmtenKrankheitserregern, wie zumBeispiel Pilzen.Andere Macaranga -Artenhaben weniger spezifischeSymbioseformen mit Insekten:Auch sie produzieren Futter-körperchen und/oder Blattnek-tar und locken damit Ameisen,Wespen und zum Teil auch an-dere Nektarkonsumenten ausder Umgebung an. In der Regelhandelt es sich dabei um räu-

berische Insekten. Einmal auf der Pflanze angekommen, nut-zen sie diese als ihr Jagdgebietund reduzieren so die Zahl derFraßinsekten wie Raupen, Käferoder Heuschrecken. Darüberhinaus besetzen viele der Nek-tarfresser ihre Nahrungsquelleauf Dauer und verteidigen sieaktiv gegen die meisten ande-ren Insekten. Auch hierdurchwird die Pflanze besser ge-schützt.Bereits seit einigen Jahren ver-muten die Wissenschaftler, dassPflanzen beim Auftreten vonFraßschäden verstärkt Blatt-nektar produzieren können.In Zusammenarbeit mit Wis-senschaftlern des Jenaer Max-Planck-Instituts für chemischeÖkologie sind die WürzburgerTropenökologen dieser Fragenachgegangen – und wurdenin der Tat fündig.

@

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SAY

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PSYCHO pharmakolo

Welches Psychopharmakon ist für welchen Patienten das Richtige?

Diese Frage lässt sich heute nur über den persönlichen Erfahrungsschatz des

behandelnden Arztes und statistisch abgesicherte Studien an großen

Patientengruppen beantworten. Nunmehr eröffnet die funktionelle Genomik die 

Chance, eine individuelle Therapie auszuwählen. PROF. FLORIAN HOLSBOER,

Direktor des MAX-PLANCK-INSTITUTS FÜR PSYCHIATRIE in München,

plädiert für die maßgeschneiderten Medikamente in der Medizin von morgen.

 V on den zehn häufigsten Ursachen für krankheitsbe-dingte Beeinträchtigung waren nach einer im Jahr 

1998 durchgeführten Studie der Weltgesundheitsorgani-sation (WHO) und der Harvard Medical School fünf psy-chiatrischer Natur. Allein die Depression wird im Jahr 2020 weltweit die zweithäufigste Krankheit sein. Anerster Stelle in dieser Rangliste steht die koronare Herz-erkrankung, die ihrerseits bei Patienten mit Depressionwesentlich häufiger auftritt. Die mit hoher Dunkelziffer behaftete offizielle Selbstmordrate weist den durch einepsychiatrische Erkrankung induzierten Freitod alszweithäufigste Todesursache bis zum 40. Lebensjahr aus. Weltweit erkranken mehr als 30 Prozent der Bevöl-kerung irgendwann in ihrem Leben an einer Depressionoder einer Angststörung. Die sich hieraus ergebende ge-sundheitsökonomische Belastung für die Gesellschaft istenorm groß - vor allem, wenn die Sekundärfolgen wie

 Abwesenheitszeiten vom Arbeitsplatz, eingeschränkteberufliche Leistungsfähigkeit, Frühberentung und daserhöhte Risiko, andere Erkrankungen zu erleiden, einge-rechnet werden.

Die Therapiemöglichkeiten sind gemessen an den nur ungenauen Vorstellungen über die Entstehung von De-pression und Angsterkrankungen gut. Die pragmatischs-te Therapieform ist die Behandlung mit so genannten

 Antidepressiva. Sie wirken, richtige Anwendung voraus-

gesetzt, bei etwa 70 bis 80 Prozent der Patienten. Diegroße Bedeutung der Antidepressiva in der medizini-schen Versorgung spiegelt sich auch in Marktzahlenwider. So zählen drei der zehn umsatzstärksten Medika-mente zu dieser Kategorie, deren weltweiten Gesamtum-satz die Experten im Jahr 2004 auf 12 Milliarden Euroschätzen.

Die heute verfügbaren Antidepressiva sind wegen der langen Therapiedauer, die bis zum Wirkungseintritt ab-gewartet werden muss, der großen Zahl therapieresis-tenter Patienten, der hohen Rückfallquote und den zumTeil erheblichen Nebenwirkungen dennoch sehr unbe-friedigend. Da psychiatrische Erkrankungen eine gene-

Medikamentenach Maß

Nebenwirkungen mit genetischer Ursac

   F   O   T   O  :   S   T   O   C   K   M   A   R   K   E   T

tische Komponente besitzen und auch eine Reihe vonNebenwirkungen genetisch verursacht werden, setzt diepsychopharmakologische Forschung große Erwartungenin die Möglichkeiten, die sich aus den Fortschritten der Genomforschung ergeben können.

Die psychiatrische Genetik hat bisher noch keineKrankheit verursachenden Gene identifiziert. Dies liegtan der komplexen Natur psychiatrischer Erkrankungen,die polygen und multifaktoriell sind. Das bedeutet, dieErkrankung (zum Beispiel eine Depression) wird von

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mation (Transkription), die Komplexität in der Folge der Ereignisse erheblich zunimmt. So können Vorgänge, dieerst nach der Transkription stattfinden, die ursprünglichin den Genen verankerte Information noch vielfältig ver-ändern. Die eigentlichen Akteure sind die aus Amino-säuren aufgebauten Proteine. Sie steuern alle Lebensvor-gänge entweder selbst oder als Konstrukteure anderer Moleküle, wie zum Beispiel der Neurotransmitter.

Nehmen wir an, die Summe aller Gene des menschli-chen Genoms sei 35.000, dann können daraus etwa500.000 bis 700.000 Proteine entstehen. Das Proteomwird traditionell definiert als die Gesamtheit aller Pro-teine, die im Leben eines Organismus gebildet wird. ImGegensatz zum Genom besitzt das Proteom eine unbe-grenzte Vielfalt. Stellen wir uns vor, es gelänge, dasProteom eines FC-Bayern-Fans vor und nach demChampions-League-Finale komplett zu analysieren,

dann fänden sich bestimmt erhebliche Unterschiede. DasGenom bliebe aber unverändert. Mit anderen Worten:Die Analyse der Akteure biologischen Lebens, also der Proteine, liefert immer nur einen „Schnappschuss“.Natürlich sind einige individualtypische oder krank-heitsspezifische Proteinkonstellationen konstant vor-handen. Die künftige Forschung, die auf die Ausschöp-fung der im Genom enthaltenen Information für medizi-nische Fragestellungen gerichtet ist, muss die Protein-analytik mit einbeziehen. Streng genommen ist das Pro-teom der Grundbaustein des Phänotyps. Der erste Schrittzur funktionellen Genomik ist die Kenntnis der Funk-tion der Proteine.

Medikamente greifen in der Regel an Proteinen an,zum Beispiel blockieren sie die Funktion von Rezepto-ren, die als große Proteine in der Zellmembranwandeingebettet sind und ein von außen ankommendes Sig-nal in das Zellinnere weiterleiten. Auf dieser Grundlagefunktionieren unter anderem die Betablocker gegenBluthochdruck. Auch die meisten Signalketten sowie diefür die Genaktivität zuständigen Molekülkomplexe sindaus Proteinen aufgebaut. Die Analyse des Proteoms wirdes uns erlauben, viele neue Zielproteine für Medikamen-te zu identifizieren, die es uns – so hoffen wir – gestat-ten werden, viel präziser therapeutisch zu intervenieren.

Ich erwähnte, dass das Proteom extrem dynamischund die Analyse jeweils nur ein Schnappschuss ist, der sowohl von der individuellen genetischen Grundaus-stattung als auch von den gerade herrschenden nicht-genetischen Einflussgrößen des Einzelnen abhängt.Hieraus ergeben sich für die molekulare PharmakologieKonsequenzen, die unser therapeutisches Vorgehengrundlegend verändern.

Für die Pharmakologie bedeutet dies nämlich nichtnur, dass wir mithilfe der Genotyp/Phänotyp-Analyseneue Zielmoleküle entdecken können, die für eine großeZahl von Patienten von Nutzen sein werden, sondern

ebenso bedrückende ethische Fragestellung verloren ge-gangen. Diese betrifft die Auswirkungen einer auf denGenotypus maßgeschneiderten Pharmakotherapie für Minderheiten. Aus verständlichen Gründen liegt es imInteresse der pharmazeutischen Industrie, Medikamenteauf den Markt zu bringen, die bei möglichst vielen Pati-enten wirksam sind und bei möglichst wenigen zuNebenwirkungen führen. Mithilfe der Genotypisierungtherapeutisch relevante SNPs zu identifizieren führt zuder Möglichkeit, dass die neue Generation von Medika-menten nur noch für diejenige Bevölkerungsgruppeentwickelt wird, bei der dieser spezifische Genotypusbesonders häufig vorkommt.

PSYCHO pharmakolo

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einer ganzen Serie von Genen verursacht, deren Se-quenz nur geringfügig verändert ist. Es ist auch mög-lich, dass die Gene selbst zwar unverändert sind, aber deren Aktivität durch andere Einflüsse, die zu einem be-stimmten Zeitpunkt wirksam werden, moduliert wird.

 Auch Veränderungen der DNA außerhalb der eigentli-chen Gensequenzen, die nur etwa fünf Prozent der ge-samten auf der DNA enthaltenen Information repräsen-tieren, können zu Krankheitssymptomen führen. DieseEffekte wirken entweder additiv oder multiplikativ zu-sammen, um die Krankheitsdisposition zu verursachen.Oft wird erst durch das Auftreten nichtgenetischer Fak-toren, die sich aus Lebensumständen wie nicht zu be-wältigenden Stresssituationen oder Infektionen ergeben,die Krankheit, für die eine genetische Disposition be-steht, ausgelöst. Daher heißen diese qualitativ oder quantitativ veränderten Gene Suszeptibilitätsgene; ihr 

 Vorhandensein bedeutet für das einzelne Individuumauf keinen Fall, dass es die Erkrankung irgendwann inseinem Leben erleiden muss. Mit anderen Worten: Selbstwenn im Einzelfall sämtliche Suszeptibilitätsgene iden-tifiziert und ihre physiologischen Auswirkungen genaucharakterisiert sind, gestattet dies noch nicht die Vor-hersage eines Krankheitsereignisses.

SAY

auch die Möglichkeit, individuelle „maßgeschneiderte“Medikamente zu entwickeln. Diese neue Forschungs-richtung heißt Pharmakogenomik. Die Grundidee hier-bei ist: Etwa jedes tausendste Nukleotid der 3,2 Milliar-den Basenpaare auf unserem Genom ist verändert. Dasbedeutet: Wir haben rund 3 Millionen Ausprägungen,

 von denen rein rechnerisch fünf Prozent in echten Gen-sequenzen vorkommen. Natürlich bedeutet nicht jeder auf einer Gensequenz vorhandene „single nucleotidepolymorphism“, kurz SNP, dass ein fehlerhaftes Proteinentsteht. Trotzdem ist durch das Vorhandensein einesSNP ein großer Variantenreichtum möglich, dessen Aus-wirkungen für das Ansprechen auf bestimmte Medika-mente ebenso ein neuer Forschungsschwerpunkt ist wiedie Vorhersage von Unverträglichkeit auf eine bestimm-te chemische Stoffklasse.

Beim „Munich-Antidepressant-Response-Signature-

Projekt“ (M.A.R.S.) des Max-Planck-Instituts für Psy-chiatrie versuchen wir, durch Genotypisierung (SNP-

 Analyse), Proteinanalytik und funktionelle Analysen(Hormonregulation, Neuropsychologie, Bildgebung)

 Voraussagen zu treffen, welche Substanzklasse bei demeinzelnen Patienten am besten wirken wird. Eine Ent-scheidung darüber lässt sich im Idealfall allein auf der Grundlage der Genotypisierung eines Patienten treffen.

Diese Möglichkeit einer maßgeschneiderten Therapieist der Beginn eines erheblichen Umdenkens nicht nur in der Psychiatrie, sondern in der gesamten Medizin.

 Während bis heute die Auswahl eines Psychopharma-kons ausschließlich vom klinischen Phänotypus, dempersönlichen Erfahrungsschatz des Arztes und denbiostatistisch abgesicherten Studien an großen Untersu-chungsgruppen abhing, eröffnet sich nunmehr dieChance, aufgrund einer bestimmten SNP-Konfigurationdie individuelle Therapie auszuwählen.

Sollte dies gelingen, wäre das von unschätzbarem Wert. Denn dem Einzelnen nutzt es nichts, wenn er einMedikament bekommt, das in großen Studien bei 70Prozent der behandelten Patienten wirksam war, er aber eine pathogenetische Konstellation besitzt, die ihn jener Patientengruppe zuordnet, bei der das Heilmittel ebennicht wirkt. Nebenwirkungen und Unverträglichkeit be-stimmter Medikamente lassen sich mithilfe der Genoty-pisierung schon jetzt in einigen Teilbereichen vorhersa-gen. Dazu gewinnen wir aus Blutproben DNA, um SNPszu identifizieren. Durch Konstruktion von SNP-Kartenwird es möglich, einen Satz von SNPs in einer kritischenGenregion mit dem Ansprechen auf das Antidepressi-

 vum zu korrelieren. Ein Vergleich der SNPs bei Patien-ten, die ansprechen, mit denen, die nicht ansprechen,zeigt stets einen speziellen Polymorphismus in einemdefinierten Genbereich.

Über der auf Embryonenschutz fokussierten Gentech-nikdebatte ist eine andere, aus meiner Sicht mindestens

Pragmatische Lösung notwen

s „Nature-Nurture-Geheimnis“ 

Erst die Analyse, welche äußeren nichtgenetischenFaktoren in welchem Ausmaß und zu welchem Zeit-punkt auftreten müssen, damit es zur Erkrankungkommt, wird dabei helfen, das „Nature-Nurture-Ge-heimnis“ zu lüften. Darunter verstehen Fachleute die

 Wechselwirkung zwischen angeborenen und durch Le-bensumstände bedingten Faktoren. Am Max-Planck-In-stitut für Psychiatrie wird unter dem Namen „Münchner 

 Vulnerabilitätsstudie“ seit zehn Jahren ein solchesLangzeitprojekt durchgeführt. Trotz einer Reihe interes-santer Zwischenergebnisse sind grundlegende Erkennt-nisse erst nach Vollendung der kompletten Genotypisie-rung zu erwarten. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Ursa-

che polygener multifaktorieller Erkrankungen von sohoher Komplexität wie der Depression nicht allein auf der Grundlage der Genanalytik geklärt werden kann.Dies gilt auch für andere komplexe Erkrankungen wieBluthochdruck, koronare Herzerkrankung oder Diabetes.Es wird in der Zukunft nötig sein, nicht allein auf gene-tische Variation auf der einen Seite und den klinischenPhänotyp auf der anderen Seite zu achten, sondern diesich aus der Genvariation ergebenden molekularbiologi-schen und biochemischen Veränderungen und derenphysiologische Auswirkungen genau zu analysieren.

In der Diskussion wird leicht übersehen, dass nach demersten Schritt, dem Abschreiben der genetischen Infor-

Die Pharmakogenomik wird uns mit großer Wahr-scheinlichkeit wesentlich bessere Medikamente besche-ren als die heute verfügbaren. Wie aber schützen wir uns davor, dass nur noch Medikamente für solche Pati-enten entwickelt werden, die einen häufig vorkommen-den Genotypus besitzen? Nehmen wir weiter an, einpharmakologisch relevanter Genotypus ist mit der Zu-gehörigkeit zu einer ethnischen, überwiegend sozialschwächeren Minderheit verbunden, für die sich der In-

 vestitionsaufwand für die Medikamentenentwicklungaus Kostengründen nicht lohnt; in den USA ist dies eine

 vorhersagbare Auswirkung der dort eingeführten medi-zinischen Kostenerstattungsregelungen.

Es ist ferner vorstellbar, dass bestimmte, wenn auchseltene Genotypen gefunden werden, die auf Pharmako-therapie überhaupt nicht oder nur schlecht ansprechen.

 Was müssen wir tun, um hier der Diskriminierung vor-zubeugen? Und wie verhindern wir, dass die Forschungauf die Entwicklung von Medikamenten für Patientenmit seltenem Genotypus aus Wirtschaftlichkeitsgründen

 verzichtet?Eine andere Thematik berührt die Zeit, die wir so oft

unnötig verstreichen lassen, bis wissenschaftliche Er-kenntnisse in der klinischen Praxis angewandt werden.Die derzeitigen Überlegungen, ob man ein Gen, das ein

 Wissenschaftler entdeckt hat, patentieren kann oder nur seine Funktion, lassen außer Acht, dass aus einem ein-zelnen Gen in seiner Funktion ganz verschiedene Pro-dukte entstehen können. Ich befürchte, die Patentie-rungsmöglichkeit von Genen wird den Transfer in diemedikamentöse Anwendung durch schier endlos langeRechtsstreitigkeiten belasten und hoffe, dass bald einepragmatische Lösung gefunden wird, die vor allemdie Interessen kranker Menschen berücksichtigt. Diese

 Aspekte sind von großer ethischer, gesundheitspoliti-scher und ökonomischer Brisanz. Hierüber muss recht-zeitig eine zielführende Diskussion beginnen.

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Im Reich der  SINN

24   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

HWER punkt 

Lärm ist allgegenwärtig. Dabei kann es sich sowohl um passiv wahrgenommene Geräusche wie 

Musik oder Verkehrslärm handeln als auch um aktiv wahrgenommene Sprache, die ja unser wich-

tigstes Instrument zur Kommunikation ist. Selten machen wir uns bewusst, dass unsere frühen

Vorfahren die Fähigkeit zum Hören zunächst gar nicht besaßen. Der Hörsinn ist erst auf Umwegen

 Wie die Evolution die Ohren aufsperrt

entstanden, und seine einzelnen Komponenten haben im Lauf von mehr als 400 Millionen Jahren

Evolution vielfache Funktionswechsel erfahren. Mit einem vergleichenden Forschungsansatz versu-

chen unser Autor BENEDIKT   GROTHE und seine Mitarbeiter am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR

NEUROBIOLOGIE das Wechselspiel von Neuentwicklung und Funktionsänderung nachzuvollziehen.

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Im Reich der  SINN

der Härchen gegenüber dem Zellkör-per führt. Das erzeugt ein elektri-sches Potenzial in der Haarzelle, dasauf die nachgeschalteten Nervenzel-len übertragen wird.

Haarzellen sind stammesge-schichtlich alt. Schon die ersten kie-ferlosen Fische hatten ein Seitenlini-enorgan, in dem Bündel von Haar-zellen lokale Wasserbewegungenmessen und den Fischen so bei der Orientierung im Wasser wichtige In-formation liefern konnten (Abb. 1).Nach demselben Prinzip funktioniertauch unser Gleichgewichtsorgan:Durch Veränderungen der Körperlagewird die Wassersäule in den Bogen-gängen beschleunigt. Dabei werdendie Härchen ausgelenkt und dieHaarzellen erregt. Beides, Seitenli-

nienorgan und Gleichgewichts-system, sind alt und lassen sich fossilmehr als 440 Millionen Jahrezurückverfolgen (Abb. 2). Haarzellen,die unsere Vorfahren theoretischzum Hören hätten nutzen können,gab es also schon lange – Hörenkonnten unsere Vorfahren deshalbaber noch lange nicht. Voraussetzung ist nämlich, dass

eine Schallwelle die Härchen ge-genüber den Haarzellen auslenkt.Der Fisch und jede seiner Zellensamt Sinnesfortsätzen besteht jedochzu einem hohen Prozentsatz aus

26   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

 A ls Bewohner moderner Städtehaben wir das Gefühl verloren,

was eine natürliche Sommernachtbedeutet: Lärm, oder besser ausge-drückt, lärmende Informationsfülle,die den Fortbestand vieler Arten si-chern hilft und in tropischen Wäl-dern manchmal geradezu ohren-betäubend ist. An der Erzeugung desLärms sind allerdings nur Tiere auszwei Gruppen beteiligt: Insekten und

 Wirbeltiere. In beiden Tiergruppengibt es eine Reihe unabhängig von-einander entstandener akustischer Kommunikationssysteme. Bei In-sekten ist das Hören vermutlich imZusammenhang mit der innerartli-chen Kommunikation entstanden –in der Regel mit der Wahl und räum-lichen Lokalisation eines Partners.

Das so genannte passive Hören stellthier eher die Ausnahme dar. So kön-nen manche Insekten die Echoor-tungsrufe von Fledermäusen hörenund versuchen, ihnen auszuweichen;auch bestimmte parasitische Fliegenerkennen und orten ihre Wirte akus-tisch. Ob das Hören bei Wirbeltierenin erster Linie zum passiven Hören(also um sich zu orientieren oder Fressfeinde zu orten) oder zur akus-tischen Kommunikation entwickelt

HWER punkt 

direkten Übertragung von Luftschallauf eine Flüssigkeit (wie die des In-nenohrs) werden mehr als 98 Prozentder Energie an der Grenzfläche vonLuft und Wasser reflektiert, somitnicht weiter übertragen. Um diesesProblem zu umgehen, muss eine sogenannte Impedanzanpassung erfol-gen. Das heißt: Die vergleichsweisegroße, jedoch schwache Bewegungder Luftmoleküle (beziehungsweiseder Schwimmblase) muss auf einekleine, aber starke Bewegung der Flüssigkeit im Innenohr übertragenwerden.

SCHLAGZEUG

ALS VERSTÄRKER

Bei vielen Fischen dienen hierzudie „Weber’schen Knöchelchen“, die

 Abkömmlinge von Rippen der Hals-wirbel sind. So wurde es Fischen erstüber einen langen Umweg möglichzu hören. Fische, deren Vorfahrennie in sauerstoffarmen Gewässerngelebt haben wie die Knorpelfische(zum Beispiel Haifische) oder Fische,die nie die tropischen, sauerstoff-armen Gewässer verlassen haben wiedie Lungenfische und deshalb jeder-zeit auf Lungen als zusätzliches

 Atemorgan angewiesen waren, konn-ten kein Gehör entwickeln. Auch un-sere Vorfahren, die ja die Lungenbrauchten, um vor zirka 260 Millio-

 Wasser, und die Härchen sind vonFlüssigkeit umgeben. Wasserschallwird das Wasser samt Fisch, Haarzel-len und Härchen gleichermaßen zumSchwingen bringen. Der Fisch ist für den Schall quasi transparent undkann ihn somit nicht hören – zumin-dest nicht ohne einen mechanischenTrick: Der besteht darin, ein Mediumin den Körper einzubringen, in demsich Schall mit einer anderen Ge-schwindigkeit bewegt – ein Gas wiezum Beispiel Luft. Hier ist der Schalletwa fünf Mal langsamer als im

 Wasser. Ein Gehör konnte sich des-halb nur bei Fischen entwickeln, dieeine Schwimmblase besitzen.

Schwimmblasen stammen aller  Wahrscheinlichkeit nach von Lungenab, die die frühen Süßwasserfische

 vor 400 Millionen Jahren benötig-ten, um Perioden starken Sauerstoff-mangels im Wasser durch zusätzli-ches Atmen von Luft zu überleben.In vielen Fällen wurde die Lunge zueinem späteren Zeitpunkt überflüssigund entwickelte sich zur Schwimm-blase, die dem Fisch hilft, seineSchwimmhöhe im Wasser einzustel-len. Mit ihr ist eine Voraussetzungzum Hören geschaffen worden. Esblieb allerdings noch das Problem,die Schwingung der Schwimmblaseauf das Innenohr zu übertragen. Unddas ist keineswegs trivial: Bei der

wurde, wissen wir nicht – nicht zu-letzt deshalb, weil unser Bild von der Evolution des Hörens sich immer noch im Wandel befindet. Obwohlschon seit weit über einem Jahrhun-dert Gegenstand intensiver For-schung, hat es sich gerade in den

 vergangenen Jahren stark verändert.

SCHALLWELLEN

BEWEGEN  HAARZELLEN

Schall wird durch einen vibrieren-den Gegenstand (Sender) verursachtund löst im übertragenden Medium,wie zum Beispiel Luft oder Wasser,die Bewegung von Molekülen aus.Die in die Schallempfänger (Hör-organe) eingebauten Sinneszellenmüssen sich also durch mechanischeBewegung erregen lassen. Die so

genannten Mechanorezeptoren der  Wirbeltiere sind Haarzellen, bei de-nen der Hörreiz zu einer Auslenkung

nen Jahren das Land zu besiedeln,konnten keinen Wasser- oder Luft-schall hören – und entsprechend ga-ben sie wohl keine Laute von sich. Soblieb es vorerst still auf dem Land.

Landbewohner haben zwar nichtdas Problem, dass sie mit dem Luft-schall in Phase schwingen, aber siebenötigen ebenfalls eine wirkungs-

 volle Impedanzwandlung. Der Luft-schall muss ja auf die Flüssigkeit desInnenohrs übertragen werden. Einesolche impedanzwandelnde anato-mische Struktur fehlte jedoch. Erst120 bis 140 Millionen Jahre nachdem Landgang bildeten sich Trom-melfelle und Mittelohre aus, dieanalog den Weberschen Knöchel-chen bei Fischen eine Impedanz-wandlung ermöglichten. Der am

Trommelfell ankommende Schallkonnte nun über die als Hebel wir-kenden Mittelohrknöchelchen auf das so genannte ovale Fenster desInnenohrs übertragen werden.

Frösche, Reptilien und Vögel besit-zen einen Mittelohrknochen, der un-serem Steigbügel entspricht. Säuger 

1: Haarzellen – hier auf der OberflächeZebrafischlarve – nehmen durch BewegungSchall ausgelöste mechanische Reize wahr und

tragen sie als Signal auf das Nervensystem.

   F   O   T   O  :   T .   N   I   C   H   O   L   S   O   N ,

   J .   B   E   R   G   E   R ,

   M   P   I   F    Ü   R   E   N   T   W   I   C   K   L   U   N   G   S   B   I   O   L   O   G   I   E Abb. 2: Vom Strömungsdetektor

zum Schalldetektor. Beim äußerenSeitenlinienorgan (A) liegen dieHaarzellen frei in der Haut undwerden durch lokale Strömungenausgelenkt und damit erregt.Bei den heutigen Fischen liegendie Haarzellbündel in flüssigkeits-

gefüllten Kanälen, die über Porenmit dem umgebenden Wasserkommunizieren (B). Die Bogen-gänge des Gleichgewichtsorganssind vollständig von der Umgebungabgekoppelt, so dass nur noch in-terne, durch die Körperbewegungausgelöste Flüssigkeitsbewegun-gen zur Erregung der Haarzellenführen (C). Beim Hörorgan sind esSchallwellen, die als Schwingungenauf eine Membran übertragenwerden und eine Erregung derHaarzellen auslösen (Corti’schesOrgan links unten).

Abb. 3: Vereinfachte Darstellung der Prinzipienzur Schalllokalisation. Hochfrequente Schalle werdendurch den Kopf reflektiert, es entsteht eine interauraleIntensitätsdifferenz IID (links). Diese interauralenIntensitätsdifferenzen werden in der lateralen OliveLSO verrechnet. Tieffrequente Schalle werden nichtreflektiert. Interaurale Zeitdifferenzen, ITDs, sind dereinzige Parameter zu ihrer Lokalisation. Sie werdenin der medialen oberen Olive MSO verrechnet.

   I   L   L   U   S   T   R   A   T   I   O   N   E   N  :   R   O   H   R   E   R

A

B

C

   A   B   B .  :

   B   E   N   E   D   I   K   T   G   R   O   T   H   E ,

   M   P   I   F    Ü   R   N   E   U   R   O   B   I   O   L   O   G   I   E

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Im Reich der  SINN

groß sein, dass der Schalldruck andem einem Ohr mehr als tausendMal stärker ist als an dem anderen.Man bezeichnet dies als interauraleIntensitätsdifferenz, kurz IID.

WETTLAUF

ZUM TROMMELFELL

Da alle Säuger vergleichsweisehohe Frequenzen hören können, er-fahren sie über einen großen, zumTeil über den gesamten Hörbereicheinen solchen „Kopfschatten“. Ent-sprechend finden wir die Fähigkeit,interaurale Intensitätsdifferenzen zur Lokalisation einer Schallquelle zunutzen, ebenfalls bei allen Säugern.Sie ist unseres Wissens nach alsstammesgeschichtlich alt anzusehen– vermutlich so alt wie die Fähigkeit,

Luftschall zu hören. Alle bisher un-tersuchten Säuger verfügen deshalbin ihrer Hörbahn über einen iden-tischen, vergleichsweise einfachenSubtraktionsmechanismus, durch dender Intensitätsunterschied ermitteltund einer Position im Raum zu-geordnet wird (Abb. 3).

Das Hören von tiefen Frequenzenist für den Großteil der kleinen Säu-ger vergleichsweise unwichtig, mankann gut ohne sie leben. Nach dem

 Aussterben der dominierenden Dino-saurier vor 65 Millionen Jahren wur-den jedoch viele ökologische Ni-schen frei und es entwickelten sichimmer größere Säuger. Für sie ist es– vor allem bei einem zunehmenden

 Aktionsradius – von Vorteil, auchtiefere Frequenzen hören zu können,da diese weiter tragen. Jeder kenntdas Phänomen, bei einem Open-Air-Festival von weitem nur die Bässeund erst bei Annäherung auch diehohen Frequenzen zu hören. So lässtsich über größere Entfernungenakustisch kommunizieren und auchFressfeinde oder Beutetiere werdenfrühzeitiger wahrgenommen. Was immer die treibenden Kräfte

waren: Irgendwann sahen sich vieleSäuger mit dem Problem konfron-tiert, tiefere Schalle lokalisieren zumüssen, die aufgrund ihrer Wellen-länge keinen „Kopfschatten“ undsomit auch keine interauralen In-tensitätsunterschiede erzeugen. Um

die horizontale Position einer Schall-quelle im Raum trotzdem bestimmenzu können, bleibt nur noch die Mög-lichkeit, die Ankunftszeit des Schallsan den beiden Ohren zu vergleichen:Kommt ein Schall von vorne, sotrifft er genau gleichzeitig auf dieTrommelfelle der beiden Ohren. Der Laufzeitunterschied beträgt alsoNull. Kommt er von der Seite, so er-reicht er das eine Ohr wegen der kür-zeren Entfernung früher als das an-dere. Der maximal auftretende Zeit-unterschied (in diesem Fall kommtder Schall genau 90 Grad seitlich),der sich aufgrund der Schallge-schwindigkeit ergibt, liegt beimMenschen in der Größenordnung

 von etwa 600 Mikrosekunden (Milli-onstelsekunden). Im Gegensatz zur 

 Verrechnung der interauralen Inten-sitätsdifferenz IID ist die Verar-beitung dieser interauralen Zeitun-terschiede (interaural time differen-ce, kurz ITD) jenseits der zeitlichenGenauigkeit, die unser Nervensystemnormalerweise hat. Beispielsweisekönnen wir Pausen in einem kon-tinuierlichen Rauschen nur wahr-nehmen, wenn sie mindestens zweibis drei Millisekunden (Tausendstel-sekunden) betragen, also Größenord-nungen länger sind als solche ITDs.

Um interaurale Zeitunterschiededetektieren zu können, bedarf es ei-nes extrem exakt arbeitenden neuro-nalen Mechanismus`. Dieser ist imSchaltkreis und in den zellulären Ei-genschaften der Neurone in der sogenannten medialen oberen Olive(mediale superiore Olive; MSO) ver-ankert, einer der frühen Stationender aufsteigenden Hörbahn auf bei-den Seiten unseres Stammhirns. Diedortigen Neurone zeigen tatsächlichdie notwendige Empfindlichkeit; der zugrunde liegende Mechanismus ist

 jedoch noch nicht vollständig auf-geklärt. Die MSO ist anatomisch be-sonders auffällig: einmal durch ihrebipolaren Neurone, die an ihren zweisich gegenüberliegenden Enden mitSignal empfangenden Strukturen,

den Dendriten, ausgestattet sind;zum anderen durch die Anordnungihrer Zellkörper in einer einzigenEbene (Abb. 4). Sie wurde zuerst nur für große, tieffrequent hörende Säu-

28   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

haben dagegen drei Gehörknöchel-chen: Hammer, Amboss und Steig-bügel. Mehr als hundert Jahre langwar es vorherrschende Lehrmeinung,dass die frühen Amphibien ein Mit-telohr mit einem Gehörknöchelchen„erfunden“ und dies den Reptilien

 vererbt haben. Die Säuger als Ab-kömmlinge der Reptilien bautendann zwei zusätzliche Knochen indas Mittelohr ein. Diese Vorstellung

 von einem nachträglichen Einbauzweier zusätzlicher Gehörknöchel-chen ohne zwischenzeitliche Beein-trächtigung der Funktionsweise –und damit eines erheblichenSelektionsnachteils – hat schon im-mer prinzipielle Probleme aufgewor-fen. Eine große Zahl an gut erhalte-nen fossilen Schädeln erlaubt heute

eine beinahe lückenlose Rekonstruk-tion der Evolution des Mittelohrs.Der aufschlussreiche Befund lautet:Die Mittelohren der Landwirbeltieresind mehrfach und unabhängig von-einander entstanden, das drei-gliedrige Mittelohr der Säuger hatsich direkt und ohne einen Vorläufer mit nur einem Mittelohrknochen ge-bildet. Rätselhaft bleibt, warum Am-phibien, Reptilien (von denen die

 Vögel das Mittelohr geerbt haben)und Säuger beinahe gleichzeitig ein

Mittelohr „erfunden“ haben. Einzweiter interessanter Befund ist, dassdas Gehirn unserer Vorfahren seitdem frühen Devon vor 400 MillionenJahren nicht oder nur unwesentlichan relativem Volumen zugenommenhat, bis zu dem Zeitpunkt, an demdas Mittelohr etabliert war. Damitbegann dann die relative Vergröße-rung des Vorderhirns bei Säugernund mit einiger Verzögerung auchbei Vögeln. Ob dieser Zusammen-hang kausal war oder nicht, muss of-fen bleiben. In jedem Fall öffnetensich Säugern wie Vögeln – ausge-stattet mit höheren Kapazitäten inder neuronalen Verarbeitung undgleichzeitig mit der Fähigkeit zumHören von Luftschall – Türen zuganz neuen Dimensionen der inner-

artlichen Kommunikation. In der Entwicklung der menschlichen Spra-che fand diese ihren bisherigenHöhepunkt.

TONWELTEN

MIT H ÖHEN UND TIEFEN

Die Entwicklung des Hörsinns, zudem ja nicht nur das Ohr, sondernauch ein nachgeschalteter Verarbei-tungsapparat in Form der aufstei-genden Hörbahn gehört, verlief beiSäugern unter anderen Vorzeichenals bei den übrigen Landwirbeltieren.Da das Mittelohr der Reptilien und

 Vögel nur aus einem einzigen Ge-hörknöchelchen besteht, sind seinemechanischen Möglichkeiten be-grenzt und es kann hohe Frequenzennicht übertragen. Die meisten Repti-lien und Vögel nehmen Frequenzenoberhalb von 4 bis 6 kHz nicht wahr.Nur einige Spezialisten, beispiels-weise Schleiereulen, haben das ein-gliedrige Mittelohr optimiert undhören auch noch Frequenzen bis inden Bereich von 10 kHz. Dasdreigliedrige Mittelohr der Säuger dagegen hatte durch die komplexereMechanik von Beginn an deutlichbessere Übertragungseigenschaftenfür hohe Frequenzen. Rekonstruktio-nen des Mittelohrs der frühen nuretwa spitzmausgroßen Säuger legennahe, dass diese Tiere hohe Frequen-zen gut, tiefe Frequenzen unterhalb

 von 4 kHz dagegen kaum wahrneh-

HWER punkt 

men konnten. Auch heute ist es für die Mehrheit der Säuger noch nor-mal, bis 40 oder gar 60 kHz gut,unterhalb von 4 kHz jedoch eher schlecht zu hören.

Unsere Fähigkeit, tiefe Frequenzen(bis etwa 30 kHz) zu hören, stellt imGegensatz zu der von Fröschen,Reptilien und Vögeln, die primärin einer „Tieffrequenzwelt“ lebten,wahrscheinlich eine sekundäre An-passung dar. Säuger haben alsoeine andere Evolutionsgeschichte desHörens hinter sich. Diese spiegeltsich auch in der Art und Weise wi-der, in der unser Gehör bestimmte

 Aufgaben löst oder im Zuge der in-dividuellen Entwicklung, der Onto-genie, zu lösen lernt. Ein Beispielhierfür ist die Fähigkeit, tieffrequen-

te Schalle zu lokalisieren, das heißt,die Richtung, aus der der Schallkommt, zu bestimmen.

Hohe Frequenzen – das sindSchallwellen mit kurzer Wellenlänge– werden auch von kleineren Objek-ten reflektiert. Dabei entsteht hinter dem Objekt ein „Schallschatten“, einBereich mit stark reduzierter Schall-energie. Tiefe Frequenzen – das sindSchallwellen mit langer Wellenlänge– werden dagegen nur von größerenObjekten reflektiert; kleine Objekteerzeugen für sie keinen Schallschat-ten. Als Faustregel gilt, dass der Schall dann reflektiert wird, wenn die

 Wellenlänge kürzer ist als der Durch-messer des Objekts. Für den Men-schen gilt deshalb: Frequenzen ober-halb von 1,3 kHz werden reflektiertund es entsteht ein „Kopfschatten“;Frequenzen unterhalb von 1,3 kHzwerden nicht reflektiert und es gibtkeinen „Kopfschatten“. Für kleinereSäuger liegt diese Grenzfrequenz ent-sprechend höher. Wir nutzen den„Kopfschatten“, um die Position einer Schallquelle in der Horizontalen zuermitteln. Kommt ein Schall von vor-ne, erreicht er unsere beiden Ohrenmit derselben Intensität. Kommt er dagegen von der Seite, so trifft er aufgrund des „Kopfschattens“ auf das

 von ihm abgewandte Ohr mit erheb-lich geringerer Intensität als auf dasihm zugewandte Ohr. Die Intensitäts-unterschiede können zum Teil so

AVCN

EPSP

IPSP

MNTB

4: Immunhistochemisch markierteone in der medialen oberen Olive (MSO).

Abb. 5: Zeitliches Zusammenspielvon Erregung und Hemmung inder MSO. A: Sowohl der erregende(rot) als auch der hemmende Eingang(blau) werden durch einen Ton(grün) aktiviert. Die Hemmungkommt jedoch mit einer Verzögerungan. Damit bleibt der MSO-Zellenur ein kleines Zeitfenster, um auf den Reiz zu antworten (gelb; die

Balken stellen eine Summe vonAktionspotentialen dar). Danachwird sie durch die verzögerteHemmung quasi abgeschaltet.B: Wird eine sinusförmig amplituden-modulierter Ton (SAM) präsentiert,antwortet die MSO-Zelle bei langenPeriodendauern (z.B. 100 Hz Modula-tionsfrequenz) auf jede Modulations-periode. Bei hohen Modulationsfre-quenzen (z.B. 300 Hz), kommt es zueiner Überlappung der verzögertenHemmung mit der nächsten Erre-gung. Die MSO-Zelle antwortet jetztnur noch auf die erste Periode.

A

B

   A   B   B .  :

   B   E   N   E   D   I   K   T   G   R   O   T   H   E ,

   M   P   I   F    Ü   R   N   E   U   R   O   B   I   O   L   O   G   I   E

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In diesem Fall sind die hemmendenEingänge relativ zu den erregendenum 1 bis 5 Millisekunden verzögert.Das führt dazu, dass die MSO-Zellebei Beginn des Stimulus (Ton an)kurz erregt wird und Aktionspoten-ziale ausbildet, um dann durchdie einsetzende Hemmung wieder „abgeschaltet“ zu werden. Die zeitli-che Verzögerung, mit der die Hem-mung einsetzt, bewirkt darüber hin-aus, dass die Zelle nach Abschaltendes Stimulus (Ton aus) nicht sofortauf einen zweiten Stimulus antwor-ten kann. Erst wenn die Hemmungabgeklungen ist, kann die MSO-Zellewieder erregt werden. Daraus folgt,dass eine MSO-Zelle zum Beispielnur auf Modulations-Perioden mitniedriger Frequenz antworten kann.

Bei hohen Frequenzen kommt es zueiner Überlappung der verzögertenHemmung mit der nächsten Erre-gung. Die Zelle antwortet dann nur noch auf die erste Stimulus-Periode.Bei der Analyse komplexer Signale,wie zum Beispiel der Spracher-kennung, spielen neuronale Filter-eigenschaften wie die der MSO-Zel-len eine entscheidende Rolle.

Bislang haben wir nur einen erre-genden und einen hemmenden Ein-gang von einem Ohr kommendbetrachtet. Nimmt man die beiden

 vom gegenüberliegenden Ohr kom-menden Eingänge mit hinzu, wird esauf den ersten Blick recht kompli-ziert. Unsere Modellrechnungen undExperimente zeigen jedoch eindeu-tig, dass die Interaktion aller vier Eingänge letztendlich die notwendi-ge Sensitivität der MSO-Neuroneherstellt, damit diese interauraleZeitunterschiede erfassen und aus-werten können.

Nun zeigen unsere Arbeiten anMSO-Zellen von Säugern, die keine„ITD-User“ sind, dass die hemmen-den Eingänge eine gewisse Trägheitaufweisen. Selbst Reize, die nur eini-ge hundert Mikrosekunden andau-ern, führen zu hemmenden Einflüs-sen im Bereich von Millisekunden.

 Auch die ITD-Auflösung zum Bei-spiel von MSO-Neuronen bei Fle-dermäusen liegt in dieser Größen-ordnung. Dagegen fanden wir in den

MSO-Neuronen von Wüstenrenn-mäusen, die tiefe Frequenzen guthören können und ITDs zu deren Lo-kalisation verwenden, eine sehr vielpräzisere Hemmung im Bereich eini-ger hundert Mikrosekunden (Abb. 6).Unsere Hypothese ist, dass genaudiese Verbesserung der zeitlichen

 Abstimmung der hemmendenEingänge entscheidend gewesen istfür die Evolution der ITD-Verrech-nung. Tatsächlich weisen unsereExperimente zum einen darauf hin,dass die Anwesenheit der Hemmungnotwendig ist, um eine ausreichendeITD-Auflösung zu erhalten, zum an-deren, dass ihr genauer Zeitverlauf die Feinabstimmung der MSO-Zellenauf den biologisch relevanten Be-reich vornimmt.

FEINTUNING BEI

WÜSTENRENNMÄUSEN

 Worin unterscheiden sich aber diehemmenden Eingänge bei Wüsten-rennmäusen (oder bei uns) gegen-über denen bei Fledermäusen oder anderen, nur hochfrequent hörendenSäugern? Die hemmenden MSO-Ein-gänge sind glyzinerg, das heißt: DieHemmung wird durch den chemi-schen Botenstoff Glyzin vermitteltund entsprechend finden sich in der Membran der MSO-Neurone Glyzin-rezeptoren, die dort durch das Mole-kül Gephyrin verankert werden. Der immunhistochemische Nachweis die-ser Rezeptoren beziehungsweise ih-rer Ankermoleküle und damit ihreräumliche Verteilung zeigt interes-sante Korrelationen mit der verbes-serten ITD-Auflösung (Abb. 7): Sosind bei der Wüstenrennmaus dieglyzinergen Rezeptoren auf den Zell-körper der MSO-Zellen beschränkt,auf den Dendriten sitzen sie nur ganz vereinzelt.

Bei MSO-Neuronen von Fleder-mäusen (deren MSO eine zur ITD-

 Verrechnung völlig unzureichendeZeitauflösung hat) oder der Spitz-mausbeutelratte, die wie Ratten oder Fledermäuse tiefe Frequenzenschlecht oder gar nicht hören kann,sitzen diese Rezeptoren dagegengleichermaßen am Zellkörper sowieentlang der Dendriten. Diese weit-

läufigere Verteilung sollte zu einer zeitlichen Ausdehnung der Hem-mung führen, wogegen dieBeschränkung auf den Zellkörper diese verhindern oder zumindest re-duzieren sollte.

In unseren laufenden Experimen-ten wollen wir diese Hypothese über-prüfen. Nun ist die Verteilung der hemmenden, glyzinergen Eingängebei jungen Wüstenrennmäusen be-

 vor sie anfangen zu hören (das istetwa 12 Tage nach der Geburt) eben-so diffus wie bei erwachsenen„Nicht-ITD-Usern“ wie der Fleder-maus. Erst in den Tagen nach Hörbe-ginn kommt es zu einer Entfernungder hemmenden Eingänge an denDendriten. Interessanterweise läuftdiese nicht automatisch ab, sondern

ist erfahrungsabhängig, kann alsomanipuliert oder verhindert werden.Unsere Interpretation ist, dass die er-fahrungsabhängige Feinabstimmungin den ersten Tagen nach Hörbeginnhilft, die MSO-Neurone zu einemwirklichen ITD-Detektor zu machen– und dass diese Entwicklung imPrinzip die Stammesgeschichte der ITD-Verrechnung bei Säugern wider-spiegelt. BENEDIKT  GROTHE

Im Reich der  SINN

30   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

ger beschrieben, die auf die Auswer-tung von ITDs zur Lokalisation an-gewiesen sind. Eine vergleichbareStruktur konnten die Forscher beiSäugern, die tiefe Frequenzen nichtgut hören, zunächst mit rein anato-mischen Methoden nicht finden.

SUCHE NACH DER

RELAISSTATION IM  GEHIRN

Erst durch Kombination moderner anatomischer und physiologischer Methoden ließ sich das Rätsel der scheinbar fehlenden MSO bei denanderen Säugern klären: Auf der Ba-sis der Ein- und Ausgänge neurona-ler Zellen, ihrer Morphologie undZytochemie sowie ihrer physiologi-schen Eigenschaften lässt sich heutezeigen, dass beispielsweise auch

Kleinsäuger, die nur hochfrequenthören, eine MSO besitzen – und da-mit unabhängig davon, ob sie ITDszur Lokalisation tieffrequenter Schalle einsetzen oder nicht. Dieswirft natürlich die Frage auf, ob sichdie Funktion der MSO tatsächlichauf die Verrechnung interauraler Zeitunterschiede beschränkt.

 Allerdings scheint die MSO bei den„ITD-Usern“ in zweierlei Hinsicht

 verändert: Erstens sind nur hier dieZellkörper in einer Ebene angeordnet(weshalb man die MSO bei den übri-gen Säugern zuerst auch nichtgefunden hat), zweitens zeigen sieeine etwa um den Faktor 5 bis 10

 verbesserte Zeitauflösung. Auf der Basis eines vergleichenden For-schungsansatzes – der ja etwas ausder Mode gekommen ist – sollte esgelingen, nicht nur die evolutivenund ontogenetischen Abläufe, diebei der Entwicklung dieses Mecha-nismus` eine Rolle gespielt haben,aufzuklären, sondern auch eingrundlegendes Verständnis für denZusammenhang von Struktur undFunktion zu schaffen. Deshalb unter-suchen wir in unserem Labor sowohlFledermäuse, die keine „ITD-User“

sind, als auch Wüstenrennmäuse, diesehr wohl auf dieses Prinzip zur Schalllokalisation zurückgreifen.

Über Ohrhörer können im Tierex-periment beliebige, auch unnatürli-che Laufzeitunterschiede zwischenden beiden Ohren geboten werden.Mithilfe künstlich gespreizter ITDskonnten wir zeigen, dass MSO-Neurone von Fledermäusen auf dieseinterauralen Zeitunterschiede reagie-

ren. Allerdings mussten wir Laufzeit-unterschiede von vielen hundertMikrosekunden oder sogar mehrerenMillisekunden bieten; solche ITDstreten bei Fledermäusen natürlicher-weise niemals auf. Fledermäuse ha-ben kleine Ohrabstände von nur 8 bis22 Millimeter. Die Zeitdifferenz, mitder der Schall am linken und amrechten Ohr eintrifft, kann daher nur zwischen Null (Vorausrichtung) undmaximal 30 Mikrosekunden (90 Gradseitlich in beide Richtungen) schwan-ken. Die Zeitauflösung der MSO-Neurone der Fledermaus ist also we-der ausreichend, um die für die Fle-dermaus relevanten ITDs zu verrech-nen, noch können diese mit den ITDs,die wir hören, viel anfangen. Ihreneuronale Sensitivität ist offensicht-

lich ein Epiphänomen ihrer Zeit- verarbeitungsmechanismen, die imDienst ganz anderer auditorischer 

 Analysen stehen. Wie funktionieren MSO-Neurone?

Zunächst einmal muss man voraus-schicken, dass es im Nervensystemgenerell zwei Arten von Eingängengibt, nämlich erregende und hem-mende Eingänge. ÜberschwelligeSignale, die über einen erregendenEingang das Empfängerneuron er-reichen, lösen im Empfängerneuronein elektrisches Signal, das Aktions-potenzial aus. Signale, die über ei-nen hemmenden Eingang eingehen,wirken dem erregenden Eingang ent-gegen: Sie können die Entstehungeines Aktionspotenzials unterdrü-cken. Normalerweise erhält ein MSO-Neuron vier Eingänge, von jedemder beiden Ohren einen erregendenund einen hemmenden. Unsere Ar-beiten haben gezeigt, dass das zeitli-che Zusammenspiel der erregendenund hemmenden Eingänge bestimmt,ob und wie ein MSO-Neuron auf ei-nen akustischen Reiz hin antwortet.

Betrachten wir zunächst einmalnur die von einem Ohr kommendenEingänge (Abb. 5): Die erregendenund hemmenden Eingänge habeneinen beinahe identischen Zeitver-lauf. Sie sind beide aktiv, solange einTon anhält. Allerdings treten dieneuronalen Antworten – und das istentscheidend – zeitlich versetzt auf.

HWER punkt 

6: Die Antworten eines MSO-Neurons einer Fledermaus (oben) und einer Wüstenrenn-(unten) auf einen entsprechenden Hörstimulus. Die bei der Fledermaus auftretenden

sind zu kurz, um eine Änderung der Zellantwort zu bewirken. Bei der Wüstenrennmausdie ITD-Empfindlichkeit in den verhaltensrelevanten Bereich (lila Streifen).

Abb. 7: Verteilung der hemmenden und erregendenEingänge auf Zellkörper und Dendriten der MSO-Neurobei „Nicht-ITD-Usern“ wie jungen Wüstenrennmäusen,oder Fledermäusen (oben) sowie zum Vergleich bei „ITD-Usern“ wie erwachsenen Wüstenrennmäusen (unten).

   F   O   T   O  :   O   K   A   P   I   A

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Im Reich der  SINN

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HWER punkt 

Dabei untersuchen sie vor allem Funktion und Fehlfunktion der Haarzellen im Innenohr.

Im Rahmen solcher „Tandemprojekte“ will die Max-Planck-Gesellschaft verstärkt den wissen-

schaftlichen Austausch zwischen Grundlagenforschung und klinischer Forschung fördern.

Seit dem 16. Jahr-hundert wird Wis-

sen mehr über das Auge als über das Ohr aufgenom-men. Dabei war die Bedeutung desOhres ursprünglich sehr hoch ge-schätzt. Dies belegen Mythen undbildliche Darstellungen der altenKulturen. Aus dem Ägypten der Pha-raonen wird überliefert, dass die Oh-ren damals als Eintrittsstellen für den Lebens- und den Todeshauch ge-golten haben. Empfängnis und Ge-burt durch das Ohr sind aus der eu-ropäischen und aus der asiatischenMythologie überliefert und wurdenim Mittelalter zu einem zentralenBestandteil der christlichen Glau-benslehre. Eines der bekannten anti-ken Vorbilder für die Geburt durchdas Ohr ist die Zeustochter Athene,die ihrem Vater aus dem Kopf ge-sprungen ist.

Die christliche Überlieferung,wichtiges Fundament der abendlän-dischen Kultur, beruht über Jahrhun-derte hinweg im Wesentlichen auf Hörensagen – das Wort Gottes er-reicht die Gläubigen über das Ohr.Die heiligen Texte liegen zwar inschriftlicher Form vor, so lange sieaber kaum jemand lesen kann, ist die

 Vermittlung durch liturgische Gesän-ge und Predigten erforderlich. ImZentrum steht also nicht das Bild,sondern das Wort.

Das hat sich heute vollkommenumgekehrt. Und so ist Blindheit inunserer Gesellschaft eher mit Tragik,Taubheit dagegen eher mit Minder-wertigkeit verknüpft; es sei denn, esbetrifft einen Beethoven. Den meis-ten Menschen ist Schwerhörigkeitpeinlicher als Fehlsichtigkeit. Fürdas Image wird eine Brille schon ein-mal als Attrappe getragen – ein Hör-gerät dagegen kaum.

Dabei ist Schwerhörigkeit die häu-figste sensorische Behinderung desMenschen: Etwa ein Viertel der Be-

 völkerung Europas und der Verei-nigten Staaten leidet unter Hör-problemen. Vier Prozent der Mitte-leuropäer entwickeln vom 45. Le-bensjahr an eine Schwerhörigkeitoder Taubheit, bei 15 bis 20 Prozenttritt im Lauf des Lebens eine Hör-minderung ein. Nach Schätzungendes Deutschen Grünen Kreuzes lebenallein in der Bundesrepublik etwa 12bis 16 Millionen Menschen mit gra-

 vierenden Höreinbußen, alsoSchwerhörige. Für die Patienten be-deutet dies trotz moderner Hilfsmit-tel eine erhebliche Benachteiligung.

DIE  I DENTIFIZIERUNG

VON TAUBHEITSGENEN

Besonders gravierend sind die Auswirkungen einer Schwerhörig-keit, wenn sie schon vor dem Beginndes kindlichen Spracherwerbs be-

„WelcheDemütigung,

wenn jemand neben mir stand und von weitemeine Flöte hörte und ichnichts hörte. Solche Ereignis-se brachten mich nahe an denRand der Verzweiflung: Es fehltewenig und ich endigte mein Lebenselbst. Nur sie, die Kunst, sie hieltmich zurück.“ Diese Zeilen schriebLudwig van Beethoven 1802 in ei-nem Brief, dem so genannten Heili-genstädter Testament, an seine Brü-der. Der Brief wurde nie abgeschicktund erst nach Beethovens Tod imJahr 1827 gefunden.

Bereits 1798 treten erste An-zeichen für eine Schwerhörigkeit beidem Komponisten auf: Er bekommtOhrgeräusche (Tinnitus) und hört be-stimmte Töne schlecht, dann immer mehr Töne überhaupt nicht mehr.Lautes Sprechen und Geräusche er-lebt er als Schmerz. Das führt imJahr 1819 zur vollständigen Ertau-bung. Als Beethoven seine große„Durchbruch-Symphonie”, die Ero-ica, schreibt, ist er bereits so schwer-hörig, dass er sich nicht mehr nor-mal unterhalten kann. Seine Ver-zweiflung darüber wird deutlich indem ergebnislosen Versuch, sein Kla-

 vierspiel mit einem langen Holzstabzu spüren: Indem er ein Ende desStabs in den Mund nimmt, während

Die ersten künstlichen Hörhilfen

waren ausgehöhlte Tierhörner.Die später hergestellten

Hörrohre aus Metall oderHolz ahmten ihre Form

nach. Hier sind verschie-

dene Hörrohre Beet-

hovens abgebildet.

das andere Ende auf dem Klangbo-den des Klaviers liegt, hofft er, dassdie Vibrationen des Klaviers durchden Stab auf seinen Schädelknochenübertragen werden, um auf diesemUmweg das Hörorgan zu erreichen.

AM ANFANG

WAR DAS WORT

 Am Beginn des 19. Jahrhundertshat im Empfinden der Westeuropäer das Sehen dem Hören bereits seinenRang abgelaufen. Mit der Erfindungder Buchdruckerpresse Mitte des 15.Jahrhunderts hat sich unsere Sinnes-wahrnehmung zu Lasten der Fähig-keit des „(Zu-)Hörens“ verändert.

steht. Die Sozialisierung des Kindesist dann erheblich gefährdet. Es istdaher besonders wichtig, solche prä-lingualen Schwerhörigkeiten früh-zeitig zu erkennen, um durch einegeeignete Therapie das korrekte Er-lernen der Sprache zu sichern. Wis-senschaftler schätzen, dass fünfzigProzent der prälingualen Schwer-hörigkeit auf exogene, also vonaußen kommende Ursachen wie prä-natale Rötelinfektion, Mittelohrent-zündung oder Traumata zurück-zuführen sind. Mit derselben Häufig-keit von fünfzig Prozent trittSchwerhörigkeit oder Taub-heit jedoch als genetischbedingte Erkrankung auf.In der Mehrzahl dieser Er-krankungen (siebzig Prozent) liegtdie Schwerhörigkeit isoliert vor;

beiden übrigen

dreißig Prozent ist sieTeil eines Syndroms, also eineskomplexen Krankheitsbildes. Fami-lienuntersuchungen zeigen, dass dieüberwiegende Mehrheit von sieb-zig bis achtzig Prozent der nicht-syndromalen Formen der Innenohr-schwerhörigkeit autosomal rezessiv 

 Wenn  Töne ihren Reiz verlieren

Auf der Basis zellphysiologischer Untersuchungen wollen Tobias Moser von der HNO-

UNIVERSITÄTSKLINIK   GÖTTINGEN und Forscher vom MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR

BIOPHYSIKALISCHE  CHEMIE den Ursachen von Schwerhörigkeit auf die Spur kommen.

   F   O   T   O   S  :   B   E   E   T   H   O   V   E   N  -   M   U   S   E   U   M ,

   B   O   N   N

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Im Reich der  SINN

34   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

HWER punkt 

-Aufnahme von der Oberfläche des

’schen Organs der Ratte. Normale

nisation mit einer Reihe innerer Haar-

n und drei Reihen äußerer Haarzellen.

Abbildung zeigt eine SEM-Aufnahme

Corti’schen Organs der Ratte nach

ndlung mit einem Aminoglykosid-

biotikum. Sichtbar ist der Verlust

lner äußerer Haarzellen (erkennbaren fehlenden Haarbündeln)

sondere in der ersten Reihe.

e Haarzellen (i) bei der Maus-

nte bv/bv. Nur wenige und dazu

abnormal ausgebildete Haar-

ündel (rote Pfeile) sind vorhanden.

ssen sich keine Aktionspotentiale

ten (die Maus ist taub).

ußeren Haarzellen (o) sind

der Mutation nicht betroffen.

Abb. 5: Ein Querschnitt durch

die Cochlea (A) zeigt deren Aufbau

aus drei flüssigkeitsgefüllten Gängen.Das Corti’sche Organ liegt auf der Basil-

armembran, die den Boden des Ductus

cochlearis bildet. Die Haarzellen sind ein Teildes Corti’schen Organs (B). Es wird von der

Tektorialmembran bedeckt, in welche die

Sinnesfortsätze der Haarzellen hineinragen

(bei den Sinnesfortsätzen handelt es sich um

so genannte Stereocilien). Nach einem Hör-

stimulus entlässt die innere Haarzelle den

Botenstoff Glutamat (blaue Pfeile), der auf

der postsynaptischen Seite Aktionspotentiale

auslöst, die dann zum zentralen Nervensystem

weitergeleitet werden (C).

 vererbt wird, das heißt: Der Gende-fekt ist auf einem der Autosomen(kein Geschlechtschromosom) loka-lisiert, wird aber, wenn eine intakteKopie des Gens auf dem vom ande-ren Geschlechtspartner kommendenChromosom vorliegt, nicht ausge-prägt – daher die Bezeichnung rezes-siv. 10 bis 20 Prozent folgen einemautosomal dominanten und zwei bisdrei Prozent einem X-chromosoma-len Erbgang. Aufgrund solcher Fa-milienuntersuchungen wird die Zahlder Gene, deren Mutation zuSchwerhörigkeit oder Taubheit führt,auf mindestens 100 geschätzt. 25dieser Gene haben die Forscher mitt-

lerweile chromosomal lokalisiert. Siekodieren für sehr unterschiedlicheProteine, so beispielsweise für Be-standteile der „gap junctions“ (Kon-taktzonen zwischen den Zellen) oder des Zytoskeletts, für Komponentender extrazellulären Matrix sowie für 

 verschiedene regulatorische Proteine.Forscher der Universität Hamburg

entdeckten Anfang 1999 zusammenmit ihren Kollegen vom Institut Pas-teur in Paris ein Taubheitsgen, dasdie Bauanleitung für einen Ionenka-nal enthält. Dieser ist in den Haar-zellen im Innenohr lokalisiert – inden Zellen also, die für die Umwand-lung von Geräuschen in elektrischeNervenimpulse notwendig sind. DieImpulse werden anschließend vomGehirn weiterverarbeitet. Der Funkti-onsausfall dieses speziellen Kalium-Kanals scheint somit einen essen-ziellen Mechanismus des Hörens zustören. Patienten mit Veränderungenin diesem Gen erkranken an einer rasch zunehmenden Schwerhörig-keit, die in der Kindheit oder Jugendbeginnt und zur vollständigen Ertau-bung führen kann.

MÄUSE MIT

DEFEKTEN  HAARZELLEN

 Aufgrund der rasanten Entwick-lung bei der Identifizierung vonTaubheitsgenen seit 1995 sind eineReihe neuer Forschungsprojekte ini-tiiert worden – unter anderem im

Juni dieses Jahres das „InnenOhr-Labor“ in der HNO-Abteilung von

 Wolfgang Steiner. Hierbei handeltes sich um ein von der Göttinger Universitätsklinik und der Max-Planck-Gesellschaft gemeinsam ge-fördertes „Tandemprojekt“, dessenZiel es ist, Grundlagenforschungmöglichst rasch auch für den Einsatzim klinischen Bereich zu nutzen –quasi vom Labor direkt ans Kranken-bett. „Ganz so schnell wird es nichtgehen“, sagt Laborleiter Tobias Mo-ser. Mit der so genannten Patch-Clamp-Technik sowie mit optischenMessmethoden wollen seine Mitar-beiter und er zunächst einmal die

grundlegenden Eigenschaften der normalen Funktion der Haarzellenim Innenohr beschreiben. Diese Ar-beiten sollen dann den Ausgangs-punkt für die Untersuchungen amkranken Organ bilden.

Die Forscher profitieren dabei vonden schon beschriebenen molekular-genetischen Erkenntnissen, zumal

 vergleichbare Defekte mittlerweileauch in Genen von Mäusen gefun-den wurden, die aufgrund spontaner oder im genetischen Experiment er-zeugter Mutation schwerhörig sind.„Es gibt in der Tat einige geeig-nete Mausmodelle für angeboreneSchwerhörigkeit beim Menschen, de-ren Entstehungsmechanismen nochweitgehend ungeklärt sind“, sagtMoser. Bei der Zusammenarbeit mitder Arbeitsgruppe von Erwin Neher,Direktor der Abteilung Membranbio-physik am Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie in Göttin-gen, werden sich die Klinikforscher zunächst auf die Untersuchung der Haarzellen von Mäusen mit gene-tisch bedingter Schwerhörigkeit kon-zentrieren.

Die Haarzellen sind extrem emp-findlich und bislang nicht ersetzbar.Etwa 15.000 Haarzellen sitzen imInnenohr auf jeder Seite. Sie empfan-gen sämtliche von den Ohrmuschelnaufgenommene, durch die Gehör-knöchelchen im Mittelohr über-tragene und in die Flüssigkeit des

Paukentreppe( Scala tympani)

äußere Haarzellen

Schneckenkanal(Ductus cochlearis)

 Vorhoftreppe( Scala vestibuli)

Tektorialmembran(Membrana tectoria)

Knochen des Felsenbeins

Basilarmembran(Lamina basilaris)

innere Haarzellen

Hörnerv

Stereocilien der Haarzelle

Haarzelle

zum Zentralnervensystem

Stereocilien der äußeren Haarzelle

äußere Haarzelle

innere Haarzelle

Tektorialmembran(Membrana tectoria)

Stereocilien der inneren Haarzelle

Hörnerven

A

B

C

Innenohrs fortgeleitete Schallwellenund wandeln diese in elektrische Im-pulse um, die dann von zirka 10.000Nervenfasern weitergegeben werden.Für diese komplexen Analyse- undKodierungsvorgänge benötigt dasInnenohr eine zweitausendstel Se-kunde. Jeder auf das Ohr auftreffen-de Schall, jeder Klang wird in seiner Komplexität registriert, analysiertund transformiert. Wohlgemerkt, eshandelt sich hier nicht nur um Spra-che oder Musik, sondern um jedeFrequenz, jede akustische Schall-sensation. Jeder unterschiedlicheSchalldruck wird von den Sinneszel-len in elektrische Energie übersetzt.

Frequenzanalyse und Zeitauflösungwerden in kaum vorstellbar kurzer Zeit vollzogen.

EIN MECHANOELEKTRISCHER

WANDLER IM  OHR

Die Haarzellen sind Teil des so ge-nannten Corti’schen Organs, daswiederum Bestandteil der Cochlea,der Gehörschnecke ist (Abb. rechts).Die Cochlea besteht aus drei mitFlüssigkeit gefüllten Röhren oder Gängen, die wie ein Schneckenhausgewunden sind. Sie ist bereits in der 22. Schwangerschaftswoche voll-ständig ausgebildet und hat zu die-sem Zeitpunkt auch schon ihre end-gültige Größe erreicht. Alles anderean uns wächst bis zum 17./18. Le-bensjahr. Am anderen Ende unseresLebens, so hat die Sterbeforschunggezeigt, ist es wieder der Hörsinn,der am längsten erhalten bleibt – biszu einer Stunde nach dem Tod lassensich im Ohr noch Potenziale ableiten.

 Auch im Schlaf, in Narkose und imKoma ist das Hören möglich. UnsereOhren arbeiten rund um die Uhr. Wie erfolgt die Wandlung mecha-

nischer Signale in elektrische? Wenndas ovale Fenster an der Basis der Cochlea durch die Gehörknöchelchenin Bewegung gesetzt wird, bewegt essich wie ein Kolben hin und her underzeugt hydraulische Druckwellen inder Flüssigkeit. Während diese Wel-len zur Schneckenspitze hin und

   F   O   T   O   S  :   A   U   F   N   A   H   M   E   N   V   O   N

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Im Reich der  SINN

ergeben, dass innerhalb der erstenzehn Millisekunden nach Einstrom

 von Calcium in die Haarzellen desInnenohrs an der präsynaptischenMembran etwa 280 Vesikel ausge-schüttet werden – das entsprichteiner maximalen Sekretionsrate von28.000 Vesikeln pro Sekunde! DieseFlut ebbt jedoch rasch wieder ab –

 vermutlich, weil der Pool an fusions-bereiten Vesikeln dann erschöpft ist.Im weiteren Verlauf beträgt die Aus-schüttung nur noch etwa 9000 Vesi-kel pro Sekunde.

Die Forscher spekulieren, dass nununter anderem jene Vesikel fusionie-ren, die aufgrund ihrer größeren

Distanz zu den Ionenkanälen einschwächeres Calcium-Signal emp-fangen haben. Darüber hinausscheint sich der Vesikel-Pool aller-dings auch vergleichsweise schnellwieder zu regenerieren – schon nach85 Millisekunden sind beinahe 40Prozent der Ausgangspoolgröße wie-der erreicht (pro Sekunde werdendem Pool etwa 1200 fusionsbereite

 Vesikel wieder zugeführt). Es ist eineenorme Transportlogistik, die dieZelle zu bewältigen hat – und die je-den Spediteur in den Schatten stellt.Sie steht, da sind sich die Wissen-schaftler sicher, in unmittelbaremZusammenhang mit den Adapta-tionseigenschaften des peripherenHörsystems. Diese spielen eine wich-tige Rolle bei der Kodierung kom-plexer Hörstimuli und sind vermut-lich Voraussetzung für die Spracher-kennung.

HÄRCHEN SETZEN

HÖRNERV UNTER  STROM

 Während beim Menschen der Hör-sinn bereits im Mutterleib ausge-prägt ist, kommen Mäuse taub auf die Welt. Erst in der zweiten Wochenach der Geburt beginnen sie zuhören. Die Haarzellen des Innenohrserfahren in dieser Zeit dramatische

 Veränderungen sowohl in ihrenelektrischen als auch in ihren mor-phologischen Eigenschaften. So wirdbeispielsweise bei neugeborenen

Mäusen die Exocytose in den Haar-zellen des Innenohrs durch Calcium-

 Aktionspotentiale ausgelöst. Trotzdes sehr viel höheren Calcium-Ein-stroms ist sie jedoch um den Faktor 1,5 niedriger. Die Forscher vermuten,dass Calcium-Einstrom und Vesikel-

 Ausschüttung zu diesem Zeitpunktnoch nicht effizient miteinander ge-koppelt sind. Erst im Zuge des Rei-fungsprozesses werden Zahl und An-ordnung der so genannten präsynap-tischen aktiven Zonen optimiert.

 Auch eine Neuordnung der Calcium-Kanäle in der Membran sowie diemolekulare Zusammensetzung der Fusionsmaschinerie könnten solchen

 Anpassungsprozessen unterliegen.Die spontanen Aktionspotenziale

 verschwinden mit dem Beginn desHörens – Calcium-aktivierte Kalium-

Kanäle sorgen dafür, dass in denausgereiften Haarzellen nur nochgraduierte Änderungen im Mem-branpotenzial auftreten.

Die Forscher um Tobias Moser kön-nen noch nicht nachweisen, ob die

 Aktionspotenziale auch in vivo, alsobei den neugeborenen Mäusen auf-treten (und nicht nur in den isoliertenHaarzellen), und ob der Hörnerv vor dem Beginn des eigentlichen Hörenstatsächlich auf die präsynaptischeFreisetzung des Botenstoffs antwor-tet. Sie wissen allerdings, dass der 

 Ausfall der Aktivität des Hörnervs ei-nen massiven Verlust an Nervenzel-len im auditorischen Hörstamm nach

sich zieht. Die durch die spontanen Aktionspotenziale ausgelösten Calci-um-Oszillationen könnten darüber hinaus eine ganze Reihe zellulärer 

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zurück laufen, versetzen sie die Wände, die die Gänge voneinander trennen, in wellenförmige Bewegun-gen. Auf einer dieser Wände, der Ba-silarmembran, befindet sich das be-reits erwähnte Corti’sche Organ. Eshat den ungarischen WissenschaftlerGeorg von Békésy 25 Jahre gekostet,das Geheimnis dieses winzigen Or-gans zu lüften. Er entdeckte, dassdie hydraulischen Druckwellen, diedurch die Gänge der Schnecke lau-fen, irgendwo einen Höhepunkt er-reichen und auf die Basilarmembranstoßen. Wellen, die von Geräuschenmit hoher Frequenz erzeugt werden,stoßen an der Schneckenbasis auf 

die Membran, Wellen tieffrequenter Geräusche stoßen an der Spitze da-rauf. In jedem Fall werden die dortsitzenden Haarzellen relativ zur da-rüber liegenden Tektorialmembran

 verschoben und ihre Sinnesfortsätzeausgelenkt. Durch diese Bewegungwerden so genannte mechanosensi-tive Ionenkanäle in der Haarzell-membran geöffnet, und positiv gela-dene Ionen (Calcium und Kalium)strömen ein. Dies führt zur Depolari-sation der Haarzelle und zu einer er-höhten Freisetzung eines chemischenBotenstoffs, der wiederum elektri-sche Signale in den Nervenzellenauslöst, die mit der Haarzelle in Ver-bindung stehen.

MINI-TRANSPORTER

IN AKTION

Und genau an dieser Stelle setzendie Untersuchungen von Tobias Mo-ser und seinen Kollegen ein. Dennbis jetzt war wenig bekannt über diepräsynaptischen Eigenschaften der inneren Haarzellen (kurz IHCs, inner hair cells, genannt). Das liegt vorallem daran, dass die sehr geringenDurchmesser der Fasern des Hör-nervs auf der postsynaptischen, alsoder Empfängerseite, keine elektri-schen Ableitungen zulassen. Was dieKlinikforscher zunächst interessierte,waren Informationen über den Um-fang und den zeitlichen Verlauf einesProzesses, der als Exocytose bezeich-

HWER punkt 

net wird. Dabei verschmelzen mem-branumhüllte Bläschen, so genannte

 Vesikel, die als Transporter für denchemischen Botenstoff fungieren,

mit der präsynaptischen Membranauf der Senderseite. In diesem Fallwird Glutamat freigesetzt und löstauf der Empfängerseite so genannte

 Aktionspotenziale aus. Da die Haar-zellen im Innenohr Informationenüber Hörsignale mit Frequenzen biszu zwei Kilohertz (kHz) übermitteln,müssen sie in der Lage sein, diesynaptischen Vesikel vergleichsweiseschnell auszuschütten. Umgekehrtmüssen sie die Botenstoff-Freiset-zung als Antwort auf einen anhal-tenden Hörstimulus auch über Stun-den aufrechterhalten können. Dassetzt voraus, dass sie über sehr effi-ziente Mechanismen verfügen, umden Pool an Vesikeln immer wieder aufzufüllen.

Nun lassen sich solche Vesikelnicht einfach am Mikroskop aus-zählen; denn diese winzigen Trans-porter werden innerhalb kürzester Zeit und in einer ungeheuer großenZahl mobilisiert. Die Forscher bedie-nen sich deshalb eines Tricks: Wenndie Vesikel mit der Membran ver-schmelzen, vergrößert sich derenKapazität, also ihr Fassungsvermö-gen für elektrische Ladungen. DieserEffekt lässt sich – auch wenn er nochso gering ist – elektrisch erfassen.Ein einziges Vesikel erhöht dieMembrankapazität um etwa 37 Atto-Farad (das sind 10-18 Farad). Die Mes-sungen von Tobias Moser und sei-nem Kollegen Dirk Beutner haben

Funktionen, zum Beispiel die Genex-pression, regulieren.

Noch stehen die Forscher des Göt-tinger „InnenOhrLabors“ am Anfangihrer Untersuchungen. „Wir könnennicht unbedingt davon ausgehen,dass Störungen in der synaptischenFunktion der Innenohr-HaarzellenHauptursache bei Schwerhörigkeitsind. Es ist sehr wahrscheinlich, dassauch andere Teilfunktionen der Haarzellen betroffen sind“, sagt To-bias Moser. Deshalb werden er undseine Kollegen ihre Untersuchungenin den kommenden Jahren auch auf die mechanoelektrischen Übertra-gungsmechanismen, die Regulation

der intrazellulären Calcium-Konzen-tration sowie die im unteren Bereichder Stereocilien gelegenen Ionen-kanäle ausdehnen. CHRISTINA  BECK

Patch-Clamp-Messapparatur

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Im Reich der SINN

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HWER punkt 

Die Netzhaut ist mit mehr als 100 Millionen Nervenzellen die erste neuronale Station

in unserem Sehsystem. Hier wird das durch die Augenoptik erzeugte Bild der Umwelt in

ein neuronales Erregungsmuster übersetzt, nach verschiedenen Kriterien gefiltert und 

bearbeitet und dann über die 1,5 Millionen Fasern im Sehnerv an die visuellen Zentren

„Der Gedanke an das Augelässt mich am ganzen Kör-

per erschauern.“ Charles Darwin hatdiesen Satz geschrieben. Eine solcheForm der Ergriffenheit ist heute ausder Mode gekommen. Aber schwin-delig werden kann einem schon,wenn man dieses Meisterwerk der Evolution betrachtet. Das Auge kon-struiert uns die Welt so perfekt, dasswir uns unter fast allen Bedingun-gen mühelos in ihr zurechtfinden.

 Verantwortlich dafür sind rund hun-dert Millionen Nervenzellen in der hauchdünnen Netzhaut, die den

 Augapfel auskleidet. Wie raffiniert,flexibel und ökonomisch diese Zel-len zusammenarbeiten, das sprengtschon beinahe unser Vorstellungs-

 vermögen. „Es ist verrückt“, diesenSatz verwendet Heinz Wässle, Direk-tor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung, wieder und wieder,wenn er über die Netzhaut spricht.Seit nunmehr zwanzig Jahren istsie Gegenstand seiner Forschungsar-beiten in Frankfurt. Gerade ist erdabei, die komplizierteste Kontakt-stelle zu entschlüsseln, die es über-haupt in unserem Nervensystemgibt, die Kontaktstelle zwischenden lichtempfindlichen Zapfen undden nachgeschalteten Nervenzellen.Schon an dieser Kontaktstelle, der allerersten Synapse im Auge, wirdunser Eindruck von der Welt nach

 verschiedenen Merkmalen sortiert. Was das Auge dem Gehirn meldet,

sind viele verschiedene Sinnesein-drücke gleichzeitig: Es informiert ge-trennt über Hell und Dunkel, über grobe Formen und feine Konturen,über Bewegungen und über Farbver-teilungen. Was uns ganz selbstver-ständlich als einheitliche Wahrneh-mung erscheint, ist eine längst nochnicht in allen Details verstandeneLeistung unseres Gehirns. Aus den

 vielen verschiedenen Eindrücken,

Abb. 1: Mosaik der Zapfen und Stäbchen in der Primatennetzhaut.

des Gehirns weitergeleitet. Die Netzhaut bietet eine unglaubliche Vielfalt an Möglichkeiten

zur Bildverarbeitung, die jedes Profi-Fotolabor in den Schatten stellen würde. Für HEINZ  WÄSSLE

und seine Mitarbeiter aus der Abteilung Neuroanatomie am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR  HIRN-

FORSCHUNG ist die Retina deshalb eines der faszinierendsten Forschungsobjekte überhaupt.

Das Fotolabor in der Netzhaut

   A   L   L   E   A   B   B   I   L   D   U   N   G   E   N  :   H   E   I   N   Z   W    Ä   S   S   L   E ,   M   P   I   F    Ü   R   H   I   R   N   F   O   R   S   C   H   U   N   G

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Im Reich der SINN

grünes Gitter zu sehen, das sich vor einem roten Hintergrund bewegt.

 Wenn der Helligkeitsunterschiedzwischen dem grünen Objekt undseinem roten Hintergrund immer kleiner gemacht wird, bis sich Objektund Hintergrund nur noch im Farb-ton unterscheiden, bleibt das Gitter in der Wahrnehmung der Versuchs-personen stehen. Wo und wie die Großhirnrinde aus

den vielen Einzeleindrücken eineeinheitliche Wahrnehmung zusam-mensetzt, ist den Forschern bis heutenicht klar. Wo und wie die Trennungder Einzeleindrücke erfolgt dagegenschon: Es ist die allererste Synapse

in der Netzhaut – ein technisches Wunderwerk. „Einfach verrückt“, Wässles Begeisterung steckt an,wenn er über das Spektrum der Möglichkeiten berichtet, die SilkeHaverkamp, Ulrike Grünert und er andieser Synapse entdeckt haben.

NEUE FARBTÖPFE

FÜR DIE NEUROANATOMEN

In den vergangenen Jahren hatdie moderne Molekularbiologie auchdie Neuroanatomie beflügelt, indemsie ihr eine schier unerschöpfli-che Fundgrube an neuen Methodeneröffnet hat: Die Zaubermittel sind

 Antikörper – Waffen aus dem Arse-nal des Immunsystems, die bestimm-te Strukturen auf der Oberflächeeiner Zelle erkennen und an diesebinden können. An diese Antikörper lassen sich Farbstoffe koppeln. Undso können die Forscher heute nichtnur ganz spezifisch bestimmte Zell-typen anfärben, zum Beispiel alleZapfen oder alle Stäbchen, sie kön-nen sogar noch einen Schritt weiter-gehen, indem sie an den unter-schiedlichen Zelltypen gezielt einzel-ne Strukturen markieren. „Die Ana-tomie hat einen ungeheuren Auf-wind erfahren. Wir können mittler-weile im Grunde jede Struktur selek-tiv mit Antikörpern anfärben“, er-klärt Heinz Wässle. Eine der großenHerausforderungen ist es, die jeweils„richtigen“ Färbemittel für die Zellen

Licht erregt als auch durch Dunkel-heit gehemmt würde, so kämen wir in Schwierigkeiten: Die Nervenzellenkönnen nicht stiller als still sein. Dasheißt, sie müssten viel Energie ineine ständige hohe Spontanaktivitätinvestieren, damit ihr Schweigenüberhaupt bemerkt würde, und trotz-dem würde es noch viel zu langedauern, bis das Gehirn ihr Verstum-men zuverlässig registrieren könnte. Vermutlich sind das aber noch

nicht alle „Filme“, die das Innere un-serer Netzhaut auskleiden: Eher sparsam über die Netzhaut verteiltist ein Typ von Ganglienzellen, der globale Beleuchtungsänderungen er-

fasst und damit unsere innere Uhr steuert. Eine amerikanische Arbeits-gruppe hat bei Ratten gezeigt, dassdiese Ganglienzellen nicht nur dieInformationen von den Fotorezepto-ren des Auges aufnehmen, sie agie-ren gleichzeitig selber als Lichtsen-soren. In ihre feinen Fortsätze sindFotopigmente eingelagert, mit denensie Beleuchtungsänderungen erfas-sen können. „Wahrscheinlich gibt esdiese Zellen auch bei uns“, sagtHeinz Wässle. Viele Fassetten unserer visuellen

 Welt – Bewegung, Kontrast, Farbe –werden also gleichzeitig in der Netz-haut analysiert und an das Gehirnweitergemeldet. Diese parallele Ver-arbeitung macht unsere Wahrneh-mung sehr schnell und sicher. Nahe-zu die Hälfte der Großhirnrinde be-fasst sich mit den Meldungen, die

 von unseren Augen kommen – einIndiz dafür, wie wichtig das Sehenfür uns ist. Bewegung, Form undFarbe werden auch dort zunächst inunterschiedlichen Zentren analysiert.Mindestens dreißig verschiedeneHirnareale bearbeiten die unter-schiedlichen Aspekte der visuellen

 Wahrnehmung. Diese Trennung kön-nen wir auch bewusst wahrnehmen –allerdings sind die Alltagssituationendafür weniger geeignet. Im Sehlabor lassen sich dagegen entsprechendeBedingungen schaffen: Versuchsper-sonen bekommen zum Beispiel ein

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HWER punkt 

Die Dendriten der unterschiedli-chen Zelltypen liegen wie feinsteSchichten übereinander. „Das Augeist eine Fotokamera mit zehn bisfünfzehn verschiedenen Filmen“,sagt Heinz Wässle. Und er zählt auf:Da gibt es also einen Film mit einer sehr hohen zeitlichen Auflösung,damit wir alles mitbekommen, wassich verändert oder was sich bewegt.Dann einen Film, der außerordent-lich empfindlich ist; er entsprächezum Beispiel bei den Fotografeneinem 400-ASA-Film. Ein weiterer Film erfasst kleinste Details, er istsehr feinkörnig, aber auch sehr un-empfindlich, entspräche also etwa

einem 20-ASA-Film. Und schließlichgibt es einen Film für Rot, einen für Grün und einen für Blau. Das sind

 jetzt erst einmal nur sechs verschie-dene Filme. Jeder dieser Filme exis-tiert aber in zwei Varianten: Es gibtGanglienzellen, die durch Licht er-regt, und solche, die durch Licht ge-hemmt werden. „Licht an“, würdealso die eine hoch empfindlicheGanglienzelle melden, während dieandere nur auf „Licht aus“ anspricht.„Empfange Licht mittlerer Wellen-länge“, würde eine Ganglienzelle ausdem „Rot“-Film melden, während ih-re Gegenspielerin „kein Licht mittle-rer Wellenlänge“ meldet.

EINE KAMERA MIT ZEHN

VERSCHIEDENEN FILMEN

Schon vor mehr als hundert Jah-ren hatte der Physiologe EwaldHering aus Wahrnehmungsversu-chen geschlossen, dass „weiß“ und„schwarz“ zwei unabhängige Sinnes-qualitäten sind, ähnlich wie „warm“und „kalt“. Tatsächlich werden dieInformationen „heller“ und „dunk-ler“ von unabhängigen Systemenbearbeitet, und das macht Sinn.Schließlich besteht unsere Sinnes-welt aus einem sich ständig wan-delnden Muster unterschiedlicher Helligkeiten. Und im Notfall müssenwir außerordentlich rasch darauf reagieren können. Gäbe es nur eineinziges System, das sowohl durch

keitsunterschiede aufzuspüren undFarben zu sehen. Denn die drei Zap-fentypen reagieren unterschiedlichempfindlich auf die eintreffendenLichtwellen: Die „Blau“-Zapfen spre-chen vor allem auf kurzwelligesLicht an, die „Grün“-Zapfen auf mit-telwelliges und die „Rot“-Zapfen auf langwelliges. Die Namen sind einwenig irreführend, denn wenn der „Rot“-Zapfen aktiv ist, bedeutet daskeineswegs automatisch, dass wir auch „Rot“ wahrnehmen. Der Ein-druck „Rot“ ist erst das Ergebnis ei-ner sehr komplexen Rechenleistungunseres Gehirns. Wie diese Zapfen bei uns Men-

schen über die Netzhaut verteiltsind, ist erst seit kurzem bekannt:

 Während die „Blau“-Zapfen ein re-gelmäßiges Mosaik bilden, scheinendie beiden anderen Zapfentypen wiezufällig über die Netzhaut verstreut.Bei manchen Menschen kommen die„Rot“- und die „Grün“-Zapfen etwagleich häufig vor, andere hingegenhaben sehr viel mehr „Rot“-Zapfen.Diese Unordnung hängt mit der Evo-lution des Farbensehens zusammen.

 Wir Primaten sind die einzigenSäugetiere, die drei verschiedeneZapfentypen besitzen. Unsere Vor-fahren hatten nur „Blau“-Zapfen so-wie einen weiteren Zapfentyp für langwelliges Licht; durch eine Muta-tion entstanden aus diesem Typ zweiZapfentypen mit ähnlichen lichtemp-findlichen Pigmenten. Wohl geordnet sind dagegen die

 Verschaltungen, über die die Infor-mationen von den Zapfen weiterge-reicht und weiterverarbeitet werden.

 Viele Netzwerke von Nervenzellenüberdecken die Netzhaut. Die letzte

 Verarbeitungsinstanz sind die Gang-lienzellen, die ihre Informationenüber den Sehnerv an das Zwischen-hirn und an die Großhirnrinde leiten.Zehn bis fünfzehn verschiedene Klas-sen von Ganglienzellen kennen dieForscher heute, und jede Klasse vonGanglienzellen tastet mit ihren feinenFortsätzen, den Dendriten, die ge-samte Netzhaut ab (Abb. 2).

Abb. 4: Schematische Darstellung eines Zapfen-End-

füßchens nach elektronenmikroskopischen Schnitten.

Es sind vier von insgesamt vierzig präsynaptischen Bände

zu sehen. Entlang dieser Bänder wandern die Vesikel zur

Membran, wo Glutamat ausgeschüttet wird. Die nachge-

schalteten Bipolar- und Horizontalzellen bilden drei Arte

von Kontakten aus. Horizontalzellfortsätze (rot) dringen

in das Endfüßchen ein und flankieren die Fortsätze von

Bipolarzellen (grün). Weitere Bipolarzellkontakte (blau)

liegen wie Saugnäpfe an der Basis des Endfüßchens.

Abb. 2: Ganglienzellen in der Netzhaut.

Abb. 3: Schnitt durch die Netzhaut

einer Ratte; konfokale Mikrofotografie

nach Doppel-Immunofluoreszenzfärbung

mit Antikörpern gegen Calbinotin (rot)

und Calretinin (grün).

die von der Netzhaut übermitteltwerden, konstruiert das Gehirn einzusammenhängendes, eindeutigesBild von der Welt.

 Am Anfang dieser Informations-kette stehen die lichtempfindlichenZellen der Netzhaut, die Stäbchenund die Zapfen (Abb. 1). Sie fangenLichtquanten ein und wandeln sie inelektrische Signale um. Drei ver-schiedene Arten von Zapfen bestim-men, solange es hell ist, was wir wahrnehmen. Besonders dicht ge-packt sind sie an der zentralen Stelleder Netzhaut, der so genannten Fo-

 vea. Hier erlauben sie es uns, feinsteDetails zu erkennen, kleinste Hellig-

in der hauchdünnen Retina zu fin-den (Abb. 3).

Das Bild unter dem Mikroskopist farbenprächtig: In leuchtendemRot erscheinen die „Zapfen-Endfüß-chen“, der Bereich, an dem die Zap-fen mit den nachgeschalteten Ner-

 venzellen Kontakt aufnehmen. Die-ser Kontakt läuft über einen chemi-schen Botenstoff, das Glutamat. DieZapfen speichern den Botenstoff inkleinen membranumhüllten Bläs-chen, den Vesikeln, die wie Perlen inlangen Bändern hintereinander ge-reiht sind. Aus diesen „präsynapti-schen Bändern“ können sie den Bo-tenstoff an rund vierzig verschie-

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den so genannten On-Bipolarzellendie Kanäle, wenn Glutamat an ihreRezeptormoleküle andockt; die Zelle

 verstummt. Auch die Grundlage für die Farb-

spezifität wird an der ersten Synapsegelegt: Ein Typ von Bipolarzellenimmt ausschließlich Kontakt zu den„Blau“-Zapfen auf. Das ist der Ein-stieg in den „Blau“-Film. Eine ver-gleichbare Spezifität für „Rot“ und„Grün“ konnte Wässles Arbeitsgrup-pe nicht finden. Das freilich gibtihrer Hypothese Auftrieb, dass wir unser trichromatisches (auf drei un-terschiedlichen Fotopigmenten be-ruhendes Farbensehen) letztlich

unserer enormen Sehschärfe verdan-ken. In der Fovea und drumherumgibt es Bipolarzellen, die nur mit ei-nem einzigen Zapfen Kontakt auf-nehmen und diese Information dannauch exklusiv an eine Ganglienzelleweiterleiten. Diese „Zwergbipolarzel-len“ ermöglichen uns ein maximales

 Auflösungsvermögen. So können wir in der Fovea noch zwei Linien von-einander unterscheiden, die geradeeinmal zwei Zapfendurchmesser –das sind dreitausendstel eines Milli-meters – voneinander entfernt abge-bildet werden. Sie erfüllen vermut-lich aber eine doppelte Aufgabe.Zum einen sind sie für das hohe

 Auflösungsvermögen verantwortlich,zum anderen transportieren sie farb-spezifische Informationen, da sie janur von einem „Rot“- oder nur voneinem „Grün“-Zapfen instruiert wer-den. Weiter hinten im Sehsystemwerden diese farbspezifischen Infor-mationen dann zusammengefasstund bearbeitet.

BOTENSTOFFMOLEKÜLE

AM LAUFENDEN BAND

 Aber nicht nur das räumliche Auf-lösungsvermögen unseres Auges istphänomenal, wir registrieren auchfeinste Helligkeitsänderungen vongerade mal einem Prozent. Das istdas Ergebnis der gewaltigen Leis-tungsfähigkeit der molekularen Ma-schinerie am Zapfen-Endfuß: Hier 

wird, wie bereits erwähnt, konti-nuierlich Glutamat aus den präsy-naptischen Bändern ausschüttet. Umdennoch feinste Änderungen in der Glutamat-Konzentration erfassen zukönnen, müssen spezielle Aufnah-mesysteme überschüssiges Glutamatrasch und effektiv wieder entfernen.

Inzwischen sind die Frankfurter Forscher in der Lage, sich die einzel-nen präsynaptischen Bänder, die„Ribbons“, unter dem Lichtmikroskopanzuschauen. Dabei sind die Wissen-schaftler tief in die molekulare Ma-schinerie der ersten Synapse unseresSehsystems vorgedrungen. Gegen-über von diesen präsynaptischen

Stellen, an denen der Zapfen dasGlutamat ausschüttet, reichern Ner-

 venzellen in der so genannten post-synaptischen Membran die Rezepto-ren, also die Andockstellen für denBotenstoff, an. Diese Anreicherungbezeichnen die Forscher als post-synaptische Dichte. Sie gilt derzeit alseines der „heißesten“ Forschungsge-biete in der gesamten Neurobiologie.Die Andockstellen sind zwar im Ske-lett der Zelle verankert, aber die Zellehat viele Möglichkeiten, ihre Anord-nung immer wieder zu verändern.Die zugrunde liegende Maschinerieist demnach außerordentlich flexibel,wandlungs- und anpassungsfähig.Die ungeheure Plastizität unseresNervensystems, unsere Fähigkeit, zulernen, zu erinnern und zu vergessen,liegt hierin begründet. Heinz Wässleist überzeugt: „Im Grunde sitzt dieIntelligenz in der postsynaptischenDichte.“ Vollkommen unerwartete Beobach-

tungen haben Haverkamp, Grünertund er am Zapfen-Endfuß gemacht:Sie haben ganz neue Konstruktions-prinzipien für diesen Parameter ent-deckt. Nicht nur als Pendant zu denentsprechenden Stellen der präsy-naptischen Zelle können sie sich bil-den. Es können sich auch zwei post-synaptische Zellen zusammentun, indiesem Fall zwei Horizontalzellen,und gemeinsam eine postsynaptischeDichte herstellen. Und die Horizon-

talzellen besitzen gleich zwei Schich-ten solcher ungewöhnlicher synap-tischer Dichten. Im Mikroskop er-scheinen sie als grüne Bänder, undzwischen den beiden grünen Bändernliegt ein rotes. „Das rote Band istwie in einem Sandwich zwischenden beiden grünen eingebettet“, be-schreibt Wässle das Bild. Diesesrote Band liegt auf den Bipolarzellen,angefärbt sind hier die Andockstel-len für den chemischen BotenstoffGABA, der die Aktivität der Ner-

 venzellen hemmt. Werden die Hori-zontalzellen von zwei Seiten gleich-zeitig erregt, so schütten sie denhemmenden Botenstoff GABA aus,

der nun wiederum die Bipolarzellenhemmt. „An einer einzigen Synapsekommt es also zu einem Zusammen-spiel von Erregung und Hemmung,das ist ein lokales molekulares Netz-werk. Somit wirkt jede einzelne Hori-zontalzelle lokal auf ihre unmit-telbare Umgebung und gleichzeitigglobal auf ihren gesamten Einfluss-bereich“, sagt Heinz Wässle.

DAS AUGE,EIN FENSTER ZUM GEHIRN

Die Augen sind unser wichtigstesSinnesorgan und gleichzeitig einesunserer wichtigsten Kommunikati-onsorgane. Die Augen sind ein Spie-gel der Seele, hat man früher gesagt.Darüber streiten sich heute dieGelehrten. Auf alle Fälle aber sinddie Augen ein Fenster zum Gehirn.Genau genommen ist die Netzhautselbst ein Teil unseres Denkorgans,schließlich entwickelt sie sich imEmbryo aus einer Ausstülpung desGehirns. Von den Milliarden Nerven-zellen in unserem Gehirn kann jedeNervenzelle Tausende von Synapsenbilden. Schon das sind unvorstell-bare Dimensionen. Wenn diese Kon-taktstellen nur einen Bruchteil der Komplexität besitzen, wie sie dieFrankfurter Neuroanatomen bei der ersten Synapse in unserem Sehsys-tem entdeckt haben, dann beginnenwir vermutlich erst, das Gehirn zu

 verstehen. REGINA  OEHLER

Im Reich der SINN

42   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

HWER punkt 

denen Stellen ihres Endfüßchensfreisetzen (Abb. 4). Je mehr Licht-quanten der Zapfen einfängt, destoweniger Glutamat schüttet er aus.Diese Botschaft findet weite Verbrei-tung; denn jeder einzelne Zapfennimmt an seiner Synapse mit bis zu500 anderen NervenzellfortsätzenKontakt auf. Die Bedeutung dieser einzelnen Kontakte will Heinz Wäss-le entschlüsseln, und seine Arbeits-gruppe ist dabei schon weit voran-gekommen.

 Wäre sie dabei ausschließlich auf die Elektronenmikroskopie angewie-sen, hätte sie eine Sisyphus-Arbeit

 vor sich. „Um zu erfassen, was ein

Zapfen genau macht, müssten wir am Elektronenmikroskop zehn Jahrearbeiten“, schätzt Wässle. Deshalb ister zur Lichtmikroskopie zurückge-kehrt. Er muss seine Präparate jetztnicht mehr in eine Serie von mehre-ren hundert allerfeinsten Schnittenzerlegen, sondern kann sich in vieldickeren Schnitten sukzessive ver-schiedene Ebenen anschauen. Er-möglicht hat dies eine Weiterent-wicklung der Lichtmikroskopie inden vergangenen zehn Jahren – diekonfokale Laser-Scanning-Mikro-skopie: Hierbei tastet ein Laserstrahldas Präparat auf jeder gewünschtenEbene ab.

EIN VIELFACHSTECKER

MIT BUNTEN DRÄHTEN

Soviel war vorher schon klar: Zwi-schen der eigentlichen Lichttrans-duktion in den Fotorezeptoren undder Ausgangsschicht der Netzhaut,den Ganglienzellen, gibt es verschie-dene Verarbeitungsstufen. Die verti-kale Signalübertragung erfolgt über die Bipolarzellen, von denen zehn

 verschiedene Typen bekannt sind.Horizontale Verknüpfungen bestehenauf der Ebene der Horizontalzellenund der Amakrinzellen (Abb. 5).„Wir haben jetzt folgendes Problem:Der einzelne Zapfen gibt ja nur eineLichtantwort. Diese Lichtantwort sollaber in den Bipolarzellen schon ge-filtert und bearbeitet sein. Wir fragenuns natürlich, wie das funktionierenkann“, sagt Heinz Wässle. Die Ant-wort liegt zum einen in der wohl ge-ordneten Struktur und zum anderenin der molekularen Spezifität der Re-zeptoren, der Andockstellen für denchemischen Botenstoff. Die Struktur folgt dem Prinzip eines Vielfach-steckers, bei dem die einzelnen Kon-takte nach einem präzisen Muster angeordnet sind und die vielenDrähte farbige Markierungen tragen.Bipolar- und Horizontalzellen ord-nen ihre Kontakte mit den Zapfennach folgendem Muster: Die Hori-zontalzellen dringen mit ihren Zell-fortsätzen, den Dendriten, in das

Endfüßchen der Zapfen ein und flan-kieren dabei die Fortsätze der Bipo-larzellen. Weitere Bipolarzellkontak-te liegen wie Saugnäpfe an der Basisder Endfüßchen (Abb. 4).

Die farbige Markierung der Drähtewiederum spiegelt sich in einem Sor-timent an hochspezifischen Andock-stellen, die Bipolarzellen und Hori-zontalzellen (Abb. 6) entwickelt ha-ben, um die Informationen, die der Zapfen via Glutamat verschickt, auf-zunehmen. Das Ganze zeugt von ei-ner komplexen Dynamik, die sich dieFrankfurter Forscher nicht hättenträumen lassen. Die Andockstellensind aus vier Untereinheiten in einer 

 Art und Weise aufgebaut, dass der immer gleiche Botenstoff (Glutamat)über sie ganz unterschiedliche Reak-tionen in der Zelle auslösen kann.So werden die Zellen in unterschied-lichen Zeitmustern oder in unter-schiedlicher Intensität erregt oder sogar gehemmt. Verwirrend vieleKombinationen von Glutamat-Re-zeptoren sind schon heute bekannt.Überspitzt ausgedrückt: Wenn jeder dieser 500 Kontakte molekular diffe-renziert ist, kann man das eine Sig-nal, also die eine Lichtantwort, letzt-lich in 500 verschiedene Signale auf-spalten. (Ganz so drastisch ist esdann wohl doch nicht, denn vieleZellen treten mehrfach mit demsel-ben Zapfen in Kontakt, „um mehr Saft aus dem Zapfen zu ziehen“, wieHeinz Wässle es ausdrückt.)

So erfolgt die Aufspaltung in denHell- und in den Dunkelpfad schonan der allerersten Synapse, dem Zap-fen-Endfüßchen. Das Sehsystem ar-beitet da hochgradig ökonomischund gönnt sich keinerlei Redundanz.Erreicht wird die frühe Aufspaltungdurch zwei völlig verschiedeneGlutamat-Rezeptoren. Wenn Gluta-mat an die Off-Bipolarzellen, die Bi-polarzellen, die auf „Licht aus“reagieren, andockt, öffnen sich feineKanäle in der Zellmembran. Durchsie strömen Natrium-Ionen aus denZellzwischenräumen; die Zelle wirderregt. Dagegen schließen sich bei

Horizontalzellen

Sehnerven

Fotorezeptoren(Zapfen und Stäbchen)

Bipolarzellen

Amakrinzellen

Ganglienzellen

G L A S K Ö R P E R

5: Nervenzellen und ihre Verbindungen in der Netz-

Oben sind die Lichtrezeptoren zu sehen, von denen

er Typen gibt – Stäbchen für das Dunkelsehen und drei

entypen mit unterschiedlicher Farbempfindlichkeit.

ezeptoren haben an ihrem unteren Ende jeweils eine

aktstelle (Synapse) mit den beiden nachgeschalteten

enzellen, den Bipolar- und Horizontalzellen (Mitte).

nteren Teil gibt es komplexe Kontaktstellen zwischenar-, Amakrin- und Ganglienzellen. Jede Ganglienzelle

et einen Fortsatz im optischen Nerv zum Gehirn.

6: Netzwerk von Horizontalzellen.

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nesreizen, sondern eine aktive men-tale Rekonstruktion der realen Welt,

die uns umgibt. Unser Gehirn zerlegtdabei das, was auf der Netzhaut er-scheint, in höchst abstrakte Informa-tionen, die letztlich eine Art symbo-lische Repräsentation der Außenweltdarstellen, ein selbst gefertigtes Mo-dell der Welt. Was wir wahrnehmen,hängt nun ganz wesentlich von un-bewussten, kognitiven Entscheidun-gen und Schlussfolgerungen ab. Die-se trifft das Gehirn in der Regel allei-ne, ohne uns weiter damit zu beläs-tigen. Es nutzt dabei bisher gesam-meltes Vorwissen, Erfahrungen, aber auch Erwartungen und Vorurteile. Wenn das Gehirn erst einmal et-

was gelernt hat, so kümmert es sichoft nicht mehr besonders um die ei-gentlichen Realitäten. Wir könnennicht durch die Nerven nach außendringen, um in die wahre Wirklich-keit zu gelangen, zum Kant´schen„Ding an sich“. Alles, was von außenin unser Bewusstsein kommt, wirddurch die Verrechnungsstellen unse-rer Sinnesorgane vermittelt – For-men, Gesichter, Bewegungen. Aber auch scheinbar absolute Dinge wieMaterie, Raum, Zeit und sogar das

 von uns erlebte Ich sind, so wie wir sie im Alltag erleben, etwas Künstli-ches, Selbstgemachtes, von unseremGehirn Konstruiertes.

Soviel ist klar: Unser Gehirn be-nutzt unglaublich viele Detailinfor-mationen, die ihm zur Verfügungstehen, darunter auch solche, die uns

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Im Reich der  SINNHWER punkt 

Wie kommt die Welt in den Kopf? Ist das, was wir wahrnehmen, wirklich wahr? Was passiert in

unserem Gehirn, wenn wir sehen, hören, riechen, schmecken oder tasten? Wie finden wir uns in

der Welt zurecht? Um diese Fragen zu beantworten, bedienen sich Forschergruppen am Tübinger

MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR BIOLOGISCHE KYBERNETIK so genannter „psychophysischer Unter-

Erkennen ist mehr als Sehen

 Wahrnehmungen sind dieGrundlage für unser Ver-

ständnis der Welt. Zum Sehen bei-spielsweise genügt es nicht, die

 Außenwelt auf die Netzhaut und vondort auf eine Art Bildschirm im Ge-hirn zu projizieren. Wahrnehmen istkein passives Aufzeichnen von Sin-

nicht einmal bewusst sind. Wieschafft es das Gehirn, die „richtigen“

Informationen auszuwählen und zu-sammenzubringen? Welche Strate-gien haben sich im Lauf der evolu-tionären Entwicklung im Zusam-menspiel zwischen Gehirn und Sin-nen herausgeschält, damit wir unsin dieser Welt zurechtfinden? In dreiProjekten am Max-Planck-Institutfür biologische Kybernetik in Tübin-gen werden Teilbereiche dieser um-fassenden Fragestellung beleuchtet.Sie sind Schlaglichter auf dem Weg,unserem Gehirn bei der Arbeit über die Schulter zu schauen.

SEHEN UND BEWEGEN –VERBÜNDETE IM WETTSTREIT

Bereits bei der Auffahrt ist unsmulmig. Ein intensives Kribbeln imMagen erleben wir jedoch erst, wenndie Achterbahn ihren höchstenPunkt erreicht hat, um sich nun end-lich mit voller Fahrt in die Tiefe zustürzen, von einem Looping in dennächsten. Wird es zu schlimm, dannhilft oft nur noch eines: Augenschließen. Und wenn es nicht schonzu spät ist, gelingt es dadurch viel-leicht noch, das Mittagessen dortzu lassen, wo wir es beim Verzehr mit Genuss platziert haben. Es istdas Zusammenspiel von visueller und vestibulärer, also von unseremGleichgewichtsorgan stammender In-formation, das unserem Körper zuschaffen macht. Gewöhnlich kannder Körper gut damit umgehen, dass

suchungsmethoden“. Das heißt: Sinneseindrücke von Versuchspersonen werden

manipuliert und deren Wahrnehmungsreaktion studiert. Die Mitarbeiter der Abteilung 

PSYCHOPHYSIK um HEINRICH H. BÜLTHOFF versuchen in erster Linie, den Prinzipien

der Wahrnehmung und Koordination von Bewegung im Raum auf die Spur zu kommen.

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r gesamtes Nervensystem ist darauf angelegt, mit

mwelt zu interagieren. Daher müssen wir die verschie-

n Informationen, die von unseren Sinnen kommen,

mmenfassen. Dies befähigt uns schließlich, motorische

lungen erfolgreich auszuführen. Schon lange wurde

ber spekuliert, auf welchen Wegen diese Integrationensorischer Information erfolgt. René Descartes

ielsweise nahm an, dass das Pinealorgan der „Sitzeele“ ist – hier sollten alle Informationen zusammen-

n und motorische Handlungen initiiert werden.

   A   B   B .  :

   M   P   I   F    Ü   R

   B   I   O   L   O   G   I   S   C   H   E   K   Y   B   E   R   N   E   T   I   K

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Im Reich der  SINN

wir nicht an einem Ort verharren,sondern uns im Raum bewegen. Das

 Auge (besser: das Gehirn) hat ge-lernt, dass eine Bewegung des Bildesauf der Netzhaut nicht zwangsläufigbedeuten muss, dass sich die Umge-bung bewegt. Vielmehr fragt dasZentralorgan bei den Muskeln nach,ob vielleicht eine Eigenbewegung dieUrsache für den „Film“ auf der Reti-na ist, und es ist zufrieden, wenn dieDaten wie gewohnt übereinstimmen.Ist dies allerdings nicht der Fall,schlägt das Gehirn Alarm.

 Wie ist das komplexe visuell-vesti-buläre Zusammenspiel organisiert?

 Welches System, Auge oder Gleich-gewichtsorgan ist das vorherrschen-de? Wie werden diese beiden Sinnes-modalitäten verrechnet? Bisher exis-tieren in der wissenschaftlichen Lite-ratur nur wenige Untersuchungen,die sich auf realitätsnahe, also kom-plexe Situationen beziehen. Die Ver-änderung der empfundenen Eigenbe-wegung im Raum, das „spatial up-dating“, ist Forschungsthema des In-formatikers Markus von der Heydeund des Physikers Bernhard Riecke.Drei kognitive Leistungen sind hier-für von Bedeutung: Zum einen spieltneben der unmittelbaren Wahrneh-

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HWER punkt 

eignen sich für solche Untersuchun-gen, können die Forscher doch nachBelieben, indem sie an den entspre-chenden Parametern drehen, sozusa-gen „die Welt verändern“. Sie könnenbeispielsweise die visuelle und die

 vestibuläre Sinnesinformation ent-koppeln: Während die Augen einstatisches Bild geboten bekommen,das man sehen würde, wenn manohne Bewegung geradeaus blickt,werden die Versuchspersonen imRaum um 90 Grad gedreht. DasGanze soll jetzt in einer optisch ab-wechslungsreicheren Umgebung mitfotorealistischen Versionen des Tü-binger Marktplatzes simuliert und

dann mit dem realen Erlebnis auf dem Marktplatz verglichen werden.

Zur räumlichen Wahrnehmungtragen nicht nur die Augen bei – inZweifelsfällen nutzt das Gehirn auchnoch andere Informationsquellen zur Rekonstruktion der dreidimensiona-len Umwelt. Dass auch die Hände als„Sehhilfen“ dienen können, konnteMarc Ernst aus der Arbeitsgruppe

 von Heinrich H. Bülthoff zusammenmit Kollegen der University of Cali-fornia (Berkeley/USA) bereits vor ei-nem Jahr nachweisen. In ihren Expe-rimenten fanden die Forscher heraus,dass manuelles Abtasten die visuel-le Wahrnehmung gezielt und nach-haltig beeinflussen kann.

WER RICHTIG SEHEN WILL,MUSS FÜHLEN

Um die Welt dreidimensionalwahrzunehmen, nutzt das visuelleSystem verschiedene optische Reize,aus denen sich räumliche Lage undStruktur betrachteter Objekte re-konstruieren lassen. Dazu gehörenSchatten, perspektivische Verzerrun-gen des Objektes sowie die durch dieunterschiedliche Position der Augenbedingten Ungleichheiten zwischenden Netzhautbildern, die so genann-te Disparität. Das Gehirn hat die

 Aufgabe, die verfügbaren Informa-tionen zu einer Gesamtschau zukombinieren und dabei die verschie-denen Sinneseindrücke nach ihrer 

mung auch das Gedächtnis eine Rol-le, und zwar sowohl das Kurzzeit-als auch das Langzeitgedächtnis.Zum anderen ist entscheidend, wiewir handeln, also wie wir uns imRaum bewegen. Von der Heyde hat deshalb eine

Bewegungsplattform aufgebaut, mitderen Hilfe er den Beitrag der beidenSinnesmodalitäten zu unserer Ge-samtwahrnehmung erfassen undquantifizieren will (Abb. 1). Die Ver-suchspersonen nehmen auf dieser beweglichen Apparatur Platz undwerden durch den Raum linear be-wegt oder gedreht. Die empfundeneEigenposition im Raum wird gemes-

sen, indem man die Personen bittet,ihre Position im Raum einzuschät-zen. In den darauf folgenden Versu-chen wird der reale visuelle Reizdurch ein virtuelles Bild ersetzt. Über ein „Head-Mounted-Display“ (HMD),eine Art „Datenhelm“, wird beiden

 Augen ein Bild präsentiert, das mitder Bewegung der Personen gekop-pelt ist. Dieses Bild kann dem ent-sprechen, das eine Person mit demgleichen eingeschränkten Gesichts-feld hätte (in der realen Version desExperiments erreicht man dies durcheine Sichtbegrenzungsbrille); das

 virtuelle Bild kann aber auch vonder eigentlichen Bewegung entkop-pelt werden und völlig andere visu-elle Reize darbieten. Die Versuchs-personen erbringen unter realen wieunter virtuellen Bedingungen diegleichen Leistungen, sofern die Sze-nen übereinstimmen. Damit ist eineGrundbedingung erfüllt, um auchunter veränderten virtuellen Bedin-gungen aussagekräftige Ergebnissezu erhalten. Die aus der Literatur be-reits bekannte Dominanz des visuel-len Systems konnte in diesen erstenExperimenten bestätigt werden.

Die Frage, die sich die beiden Tü-binger Forscher nun stellen, ist, obes auch Bedingungen gibt, unter de-nen wir dem Gleichgewichtssinnmehr Bedeutung einräumen als un-seren optischen Sinneseindrücken.Gerade die Virtual-Reality-Verfahren

1: Versuchsperson auf der Bewegungs-

form. Die Wahrnehmung der Eigen-

gung und das Sehen werden entkoppelt

getrennt voneinander manipuliert. Soten die Forscher Rückschlüsse darauf,

ie Welt im Kopf a bgebildet wird.

 Verlässlichkeit zu gewichten: Einplausibles Signal trägt somit stärker zur Rekonstruktion des räumlichenBildes bei als ein weniger plausibles.Die Kombination der Sinnesein-drücke bestimmt also, wie wir unsereUmwelt sehen. Woher weiß dasGehirn aber, welchem Reiz es ammeisten vertrauen kann?

Um diese Frage zu klären, hat MarcErnst eine Apparatur entworfen, dieden Versuchspersonen das Bild ei-ner geneigten Fläche vorspiegelte.Die Neigung dieser Fläche wurdeüber zwei optische Parameter vermit-telt: Zum einen über einen Textur-Gradienten, erzeugt mittels perspekti-

 visch-konvergierender Fluchtlinien,zum anderen über einen Disparitäts-Unterschied, basierend auf dem Ste-reo-Effekt durch das binokulare Se-hen. Diese beiden Signale konntenunabhängig voneinander und abwei-chend verändert werden, so dass sie

 jeweils unterschiedliche Neigungender Fläche anzeigten – und damit dasGehirn des Betrachters in eine Kon-fliktsituation brachten. Das Gehirn,das zeigen die Ergebnisse, löste den

 Widerspruch zwischen den beidenReizen auf, indem es jedes Signal ge-wichtete und so zu einem Kompro-

miss, zu einem Zwischenwert fand.Die Versuchspersonen nahmen tat-sächlich eine einheitlich geneigteFläche wahr.

Im nächsten Schritt dieses Experi-ments sahen die Versuchsteilnehmer die Neigung der Fläche nicht nur,sondern sie erfühlten sie auch. Da-für wurde in das Bild der geneigtenFläche ein virtueller Würfel einge-spiegelt, den sie mit einem Finger 

 verschieben konnten. Der Wider-stand, den der Würfel beim Verschie-ben in die eine oder andere Richtungdem Finger entgegensetzte, wurdecomputergesteuert simuliert. Dieseertastete Neigung wurde dann imExperiment jeweils so eingestellt,dass sie einem der beiden optischenReize entsprach, also entweder der Neigung, die durch den Disparitäts-unterschied vermittelt oder jener, diedurch den Textur-Gradienten erzeugtwurde. Tatsächlich beeinflusst dieseFühlungnahme die Gewichtung der 

 visuellen Signale: Das ertastete Sig-nal wurde jeweils stärker gewichtet,also vom Gehirn offenbar als zuver-lässiger erachtet. „Ein und dieselbeFläche wird nach dem Abtasten an-ders wahrgenommen als im voran-gegangenen rein optischen Test“,

sagt Marc Ernst. „Für den Betrachter erscheint sie stärker in die Richtungdes optischen Signals geneigt, dasmit der getasteten Neigung überein-stimmt. Dieser Effekt lässt sich nochbis zu einem Tag nach dem Tastver-such nachweisen.“

KLEINE ODER GROSSE KREISE

– ALLES NUR ILLUSION

 Was im Alltag fortwährend unbe-merkt abläuft, wenn wir etwa nachGegenständen greifen oder über Stu-fen steigen, konnten die Forscher so-mit bestätigen: Neben visuellen Infor-mationen nutzt das Gehirn auch tak-tile Rückmeldungen von den Händenund Beinen, um zu einem Raumein-druck zu gelangen. Dabei werden dieInformationen aus dem motorischenSystem mit dem visuellen Systemabgeglichen und können, sozusagenals Lehrmeister, die Gewichtung opti-scher Reize beeinflussen.

Diese Ergebnisse bringen theoreti-sche Überlegungen ins Wanken, die

 vor allem aufgrund von Untersu-chungen mit hirngeschädigten Pati-enten entstanden sind, bei denender eine oder der andere Wahrneh-mungszweig in seiner Funktion ge-stört ist: Im Gehirn soll es nämlich

Abb. 2: Ebbinghaus-Illusion: Die Versuchspersonen sehen eine Tafel

mit einem Zirkel von großen und einem Zirkel von kleinen Kreisen. In der

Mitte befindet sich eine gleich große Aluminiumscheibe. Im Greifexperi-

ment sind die Probanden aufgefordert, die Scheibe zu erfassen. Infrarot-emittierende Dioden an Daumen und Zeigefinger erlauben es, die Griff-

weite zwischen den Fingerspitzen zu messen. Im Wahrnehmungsexperi-

ment sollen die Versuchspersonen einen auf einem Monitor gebotenen

 Vergleichskreis an die Größe der Aluminiumscheibe anpassen. Die Ergeb-

nisse von Volker Franz zeigen, dass die motorische Handlung quantitativ

ebenso stark getäuscht wird wie das Sehsystem – in beiden Experimentenschätzen die Probanden den von großen Kreisen umgebenen Kreis

kleiner ein als den von den kleinen Kreisen umgebenen.

   A   B   B .  :

   M   P   I   F    Ü   R

   B   I   O   L   O   G   I   S   C   H   E   K   Y   B   E   R   N   E   T   I   K

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Im Reich der  SINN

zwei unabhängige Pfade geben, diebei der Wahrnehmung von Objekteneine Rolle spielen – der eine Pfad istfür die bewusste und unmittelbareReizwahrnehmung zuständig („Per-ception“), während der andere dieHandlungsrelevanz des Objekts prüft(„Action“). Wissenschaftlern von der Universität Verona (Italien) sowie der University of Western Ontario (Ka-nada) war es 1995 scheinbar gelun-gen, diese Theorie auf elegante Weisebei gesunden Probanden zu bestäti-gen. Ihre Versuche schienen zu be-stätigen, dass die so genannte Eb-binghaus-Illusion, eine bekannte

 Wahrnehmungstäuschung, uns nur in die Irre führt, wenn wir sie sehen,und nicht, wenn wir danach greifen:Obwohl die beiden Kreise in der Mit-te (Abb. 2) als unterschiedlich großangesehen wurden, öffneten die von

 Aglioti, DeSouza und Goodale aus-gewählten Versuchspersonen ihreHand in beiden Situationen gleich

weit, wenn sie gebeten wurden, dieKreisscheibe anzufassen.

Für Volker Franz aus der MPI-Ar-beitsgruppe Psychophysik blieben je-doch Zweifel, zumal er und die bei-den Professoren, Manfred Fahle vonder Universität Bremen und Karl Ge-genfurtner von der Universität Mag-deburg, methodische Mängel an der oben genannten Studie entdeckt zuhaben glaubten. Sie wiederholtenkurzerhand das Experiment unter modifizierten Bedingungen. Und inder Tat – Franz kam zu dem genaugegenteiligen Ergebnis: Beim Grei-fen der Ebbinghaus-Figuren öffnetendie Tübinger Versuchspersonen ihreHand unterschiedlich weit, so wie esihnen ihr visuelles System (fälsch-licherweise) gemeldet hatte. Die mo-torische Handlung wird also dochgetäuscht, und zwar quantitativ inetwa ebenso stark wie unser Sehen.Die „wiedergefundene“ Illusion führ-te somit zur Desillusionierung: Der 

scheinbar so schöne Beleg für dieHypothese der getrennten Verarbei-tungspfade war zu Fall gebracht.

Die Spielverderberrolle trägt der Tübinger Psychologe jedoch mit Fas-sung: „In der Wissenschaft mussman auf derartige Überraschungengefasst sein, gerade deshalb istdie Wiederholung von grundlegen-den Experimenten so wichtig. DasErgebnis widerlegt zudem nicht not-wendigerweise die Hypothese, son-dern entzieht ihr zunächst einmalnur eine – zugegeben verlockendeinfache – Beweisgrundlage.“ Volker Franz setzt seine Arbeit inzwischenin Kooperation mit der Bielefel-der Arbeitsgruppe um Prof. Odmar Neumann fort. In Maskierungsexpe-rimenten bieten die Forscher ihren

 Versuchspersonen in schneller Ab-folge zwei geringfügig unterschied-liche visuelle Reize. Die beiden Reizebestehen jeweils aus den angedeute-ten Umrissen eines Quadrates und

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HWER punkt 

unterscheiden sich in der Größe so-wie in der dargebotenen Orientie-rung (siehe Abb. Seite 48 unten). DieReize werden – in einer „Metakon-trast“ genannten Technik – soschnell hintereinander gezeigt, dassdie meisten Versuchspersonen be-

richten, sie hätten nur den jeweilszweiten Reiz bemerkt. Bittet man

 jedoch dieselben Versuchspersonen,auf den Reiz hin eine Taste, undzwar je nach Orientierung rechtsoder links, zu drücken, passiert etwasMerkwürdiges: Die Probanden rea-gieren schneller, wenn der erste Reiz(den sie ja gar nicht bewusst wahr-genommen haben) die gleiche Orien-tierung hat wie der zweite. Umge-kehrt brauchen sie länger, wenn vor dem zweiten, jetzt bewusst wahrge-nommenen Reiz ein anders orientier-tes Quadrat geboten wird. Obwohlsie also keine Angaben über denersten Reiz machen konnten, spieltdieser nachweislich bei der Aus-führung einer Handlung eine Rolle –Pfad „Action“ wird beeinflusst, ohnedass Pfad „Perception“ offenbar No-tiz davon nimmt. Sollten sich dieseersten Ergebnisse aus den Maskie-rungsexperimenten in weiteren Ver-suchen bestätigen, so würde diesdie Milner-Goodale’sche Theorie vonden beiden unabhängigen Verarbei-tungswegen unterstützen, und die

 Welt der Wissenschaftler wäre wie-der in Ordnung.

Bilder zum Leben erwecken – dasist nicht nur Ziel der Traumfabrik Hollywood, sondern treibt auch somanchen Max-Planck-Wissenschaft-ler um: Die Wissenschaftler fragensich, wie man anhand eines Bildesoder eines Fotos von einer Person

deren vollständiges, räumlich ausge-prägtes Profil rekonstruieren kann.Das Problem – man nennt das einunterbestimmtes Problem – ist also,aus einer lediglich zweidimensionalen

 Vorlage ein dreidimensionales Objektzu rekonstruieren. Um dies zu errei-chen, muss man auf Erfahrungswis-sen zurückgreifen, auf das Wissen,wie derartige Objekte (zum BeispielGesichter) aussehen, wenn man sieaus anderer Perspektive betrachtet.

MORPHS – KÜNSTLICH

HERGESTELLTE KÖPFE

Unser Gehirn hat damit offenbar keinerlei Schwierigkeiten, es löst sol-che Probleme täglich. Ständig mel-den unsere Augen nichts anderes als

 Abbildungen der äußeren dreidimen-sionalen Welt auf der zweidimen-sionalen Netzhaut – die dritte Di-mension aus diesen Daten zu bestim-men hat unser Gehirn gelernt. Diefreien Parameter bestimmt es dabeiaus der Erfahrung – wir haben be-reits unzählige Gesichter in unseremLeben gesehen und wissen, wie sieauszusehen haben, auch wenn unsnicht jede dafür nötige Detailinfor-mation sofort zur Verfügung steht.

Im Jahr 1999 begann der Physiker  Volker Blanz in der Tübinger Ar-beitsgruppe, es dem Gehirn nachzu-machen: Er entwickelte einen Algo-rithmus, mit dem er am Computer 

aus dem zweidimensionalen Bildeines einzelnen Gesichts den voll-ständigen Kopf rekonstruierte. Dazumusste er allerdings zunächst demComputer das Vorwissen „beibrin-gen“, wie Gesichter in unserer Weltauszusehen haben. Schon vorher hatten Thomas Vetter und Niko Trojein derselben Arbeitsgruppe ein Ver-fahren entwickelt, um Gesichter drei-dimensional modellieren und erfas-sen zu können. Mit einem Spezial-gerät scannten die Wissenschaftler dann möglichst viele Gesichter – undzwar von allen Ansichtsseiten – undspeisten die Daten in einen Compu-ter ein. Inzwischen ist die Tübinger Gesichter-Datenbank auf mehr als200 Köpfe angewachsen, strengaufgeteilt nach jeweils der Hälfteweiblichen und männlichen Gesich-tern. Anhand der spezifischen Merk-male wie Lage der Augen, Nase,Mund, Ohren etc. kann der Computer nun mithilfe einer gemischten Bild-sequenz, Morph genannt, aus denmehr als 200 registrierten Daten-Köpfen ein Durchschnittsgesicht er-mitteln (Abb. 3), den so genann-ten Mittelwertkopf (generisches Ge-sichtsmodell).

Dieser Mittelwertkopf war Aus-gangspunkt für den Algorithmus,den Volker Blanz erstellt hat, um auseiner Bildvorlage ein räumliches Ge-sichtsprofil zu rekonstruieren: Dazu

3: Ein neutrales Mittelwertgesicht wurde aus 100 männlichen und

weiblichen Gesichtern berechnet (obere Reihe). Links in der Abbildung

eint das weibliche Mittelwertsgesicht, rechts das männliche, die Bilder-

zeigt jeweils die Zwischenstufen. Die zweite Reihe zeigt Morphs vonGesichtern zweier Personen unterschiedlichen Geschlechts. Die Gesichter

r dritten Reihe stammen von einer weiblichen Person und wurden ent-

lang der Bilderreihe von links nach rechts maskulinisiert (das Original

steht im „female“-Kasten). Die Gesichter in der vierten Reihe stammen

von einer männlichen Person und wurden entlang der Bilderreihe von

rechts nach links feminisiert (das Original steht im „male“-Kasten).Dargestellt ist jeweils auch ein „super“-weibliches sowie ein „super“-

männliches Gesicht (links bzw. rechts von den drei Punkten).

Abb. 4: Um die relative Bedeutung von Form- und Bewegungsinformation

bei der Gesichtererkennung zu untersuchen, wurde die neueste Computer-technologie eingesetzt. Mit dem Gesichtsanimationssystem von Famous

Technologies kann die Gesichtsmimik aufgezeichnet und auf beliebige

Computermodelle von menschlichen Köpfen übertragen werden. Mit dem

von Tübinger Wissenschaftlern entworfenen „Morphable Model“ kann die

Forminformation in einem Gesicht systematisch verändert werden. Die

Kombination beider Techniken ermöglicht es, Form- und Bewegungsinfor-

mation von Gesichtern beliebig zu kombinieren.

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Die Dokumentation

der 52. Jahresversammlung

ist kostenfrei zu beziehen

über die Generalverwaltung

der Max-Planck-Gesellschaft,

Pressereferat

Hofgartenstraße 8

80539 München

Fax 089/2108-1207

E-Mail: [email protected]

50   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

che Rolle die Mimik bei der Erken-nung und Identifizierung von Ge-sichtern spielt. Jeder kennt das un-

 vergleichliche Lachen des berühmtenSchauspielers Jack Nicholson. Wür-den wir dieses Lachen wiedererken-nen, wenn es nicht Jack Nicholson

wäre, der die Zähne fletscht, sondern– sagen wir – Tom Cruise? In Zu-sammenarbeit mit dem britischenPsychologen Ian Thornton hat Bar-bara Knappmeyer deshalb Bewegungin „ihre“ Gesichter gebracht. Zu-nächst markierte sie charakteristi-sche Stellen im Gesicht von Ver-suchspersonen (Abb. 4) und filmtesie beim Sprechen, Kauen, Lachen,Stirnrunzeln und anderen Grimas-sen. Die Filmsequenzen spielte sie inden Computer ein, der den Rest erle-digte. Jedes Gesicht aus der Daten-bank konnte nun mit jeder charakte-ristischen Bewegung aus einer der Filmsequenzen gekoppelt werden –„Tom“ und „Jack“, beides zufälligausgewählte virtuelle Gesichter ausder Datenbank, können ihr Lachennun nach Belieben austauschen.

BEWEGTE MIENEN –ERKENNUNG IM GEHIRN

In einer ersten Phase des Experi-ments konnten sich die Versuchsper-sonen mit bewegten Gesichtern vonTom und Jack vertraut machen. JedesGesicht bekam dabei seine passendeMimik. Hatten die Probanden nunendlich Freundschaft geschlossen mitihren virtuellen Genossen, so beganndie Testphase: Auf dem Bildschirmerscheint ein kauendes Gesicht, ent-weder Jack oder Tom, oder aber eineMischung aus Jack und Tom, einso genannter Morph. Der Morph kann

auf einer kontinuierlichen Skala nä-her an Jack, näher an Tom oder ir-gendwo in der Mitte liegen (Abb. 5) –das ist der Scheidepunkt auf derSkala von Tom nach Jack, an demdie Versuchspersonen angeben, Jack statt Tom in dem Gesicht zu erken-

nen. Die Forscherin fragte sich nun,ob sich der Scheidepunkt zu Jack hin

 verschiebt, wenn man den Morphgleichzeitig mit Jacks charakteris-tischem Kauen animiert.

Das Ergebnis ist eindeutig: Die inder Trainingsphase gelernte charak-teristische Bewegung der Gesichter beeinflusste nachweislich das Erken-nen des Gesichts. Auf dem Weg vonTom nach Jack kam Jack deutlichfrüher zum Vorschein, wenn der Morph sich wie Jack bewegte, undumgekehrt deutlich später, wenner sich wie Tom bewegte. „Das Ge-sichtserkennungssystem im mensch-lichen Gehirn scheint also nicht nur statische Informationen bezüglichder Gesichtsform zu nutzen, sondernauch die spezifische Bewegung vonGesichtern“, kommentiert BarbaraKnappmeyer die ersten Ergebnisseihrer Untersuchungen. Diese Bewe-gung kann dabei so vielfältig undkomplex sein wie die Grimassen ei-nes Menschen. Das Gehirn hat alsogelernt, mit derart komplexen Fra-gen umzugehen und kann im tägli-chen Leben jederzeit auf ein entspre-chendes Instrumentarium zurück-greifen, um die Welt um uns herumzu erkennen. Das alles geschieht oh-ne unser (bewusstes) Zutun – undwie Alice im Wunderland sehen wir fasziniert zu, wenn die Katze ver-schwindet und nur ihr Grinsenbleibt.   RAINER ROSENZWEIG

HWER punkt 

Abb. 5: Gedankenexperiment: Spielen charakteristische Bewegungen von Gesichtern eine

Rolle bei der Wiedererkennung? Anhand einer „Morphsequenz“, die eine sukzessive Verände-rung der Gesichtszüge von Tom nach Jack widerspiegelt, werden Versuchspersonen befragt,

welche Gesichter dieser Sequenz jeweils eher wie Tom oder eher wie Jack aussehen. Falls die

Gesichtsmimik bei der Wiedererkennung eine Rolle spielt, so würde man mehr „Jack“-Antwor-

ten erwarten, wenn sich das Gesicht wie bei Jack bewegt, und umgekehrt. Der Einfluss der

Information über die Gesichtsmimik sollte im Bereich des „Fünfzig-Prozent-Morphs“ besonders

stark sein, da die Forminformation hier zweideutig ist. Das Diagramm zeigt schematisch den

erwarteten Kurvenverlauf. Tatsächlich bestätigen die experimentellen Befunde diese Erwartung.

muss der Mittelwertkopf unter den-

selben Bedingungen (wie Position,Beleuchtung etc.) wie die Bildvorlagefotografiert werden. Dieses Foto wirdPixel für Pixel mit der Vorlage vergli-chen und nach einem speziellen Ver-fahren eine Art „Mittelwert“ gebildet.Kompliziert ist das Verfahren des-halb, weil man die passende Korres-pondenz beachten muss – man darf natürlich nur Auge mit Auge verglei-chen und nicht etwa mit dem Mutter-mal daneben. Das so gewonnene Bildübertragen die Forscher dann wieder auf den dreidimensionalen Kopf zurück. Dazu kehren sie das Verfah-ren, mit dem sie zu Beginn aus demdreidimensionalen Mittelwertkopf einFoto gemacht haben, einfach um.Das Ergebnis überrascht selbst denFilmprofi: Audrey Hepburn blicktuns an, dreht ihren Kopf und wir können ihr Profil beobachten, ihr Ge-sicht sogar in Bewegung setzen. Unddas alles, obwohl wir nur ein Foto

 von ihr als Vorlage hatten.Inzwischen ist die Gesichterdaten-

bank und das darauf basierende„Morphable Model“ Ausgangspunktfür weitere spannende wissenschaft-liche Fragestellungen: Bisher be-schäftigten sich nur wenige wissen-schaftliche Arbeiten mit der Bewe-gung oder Animation von Gesich-tern und deren Auswirkung auf dieErkennung von Personen. Die Ma-thematikerin und Biologin BarbaraKnappmeyer will herausfinden, wel-

MAX PLANCK GESELLSCHAFT JV 2001 1

52. Jahresversammlung 2001

in Berlin

AUS DEM INHALT

Hubert Markl, Präsident

der Max-Planck-Gesellschaft:

Freiheit, Verantwortung,

Menschenwürde: Warum

Lebenswissenschaften

mehr sind als Biologie

Peter Berthold, Direktor

der Vogelwarte Radolfzell,

Max-Planck-Forschungsstelle

für Ornithologie:

Vogelzug als Modell

der Evolutions- und

Biodiversitätsforschung

Manfred T. Reetz, Direktor

des Max-Planck-Instituts

für Kohlenforschung,

Mülheim/Ruhr:

Evolution im Reagenzglas –

Biokatalysatoren

auf dem Vormarsch

ANZ

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Soft MATT

„Die kulturelle Entwicklungder Menschheit ist untrenn-

bar mit der Entwicklung neuer,hochwertiger Materialien verbun-den“, sagt Prof. Hans WolfgangSpiess, Geschäftsführender Direktor des Max-Planck-Instituts für Poly-merforschung in Mainz: „Nicht um-sonst spricht man von der Steinzeit,der Bronzezeit oder der Eisenzeit.“Nach diesen harten Vorzeiten sindwir heute offenbar in der Ära der weichen Materie angekommen: SeitJahrtausenden sind Leder, Natur-fasern wie Wolle und Seide oder Pa-pier wichtige Wirtschaftsgüter. Undin den vergangenen fünfzig Jahren

52   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

Hans Wolfgang Spiess mit dem Probenhalter eines

NMR-Spektrometers (im Hintergrund).

traten die Kunststoffe einen Sieges-zug ohnegleichen an. Selbst die In-formation, heute gern als einer der wichtigsten Rohstoffe bezeichnet,kann nur durch Kunststoffe massen-haft erzeugt, gespeichert und ver-breitet werden. Ohne lichtempfindli-che Lacke gäbe es keinen Mikrochip– auch Disketten, CD-ROMs und Vi-deobänder bestehen aus beschichte-ten Kunststoffen.

Zur wahren Meisterschaft in der Entwicklung weicher Materialien hates jedoch die Natur gebracht. SeitMilliarden von Jahren, seitdem esLeben auf der Erde gibt, entstehenhoch komplexe Strukturen aus wei-cher Materie. Raffiniert ist oft ihre

Entstehungsweise: Die Moleküle or-ganisieren sich selbst zu komplexenZellmembranen, die wichtige Le-bensfunktionen ausführen. Oder siebilden extrem reißfeste Fasern, diePflanzen Form und Halt geben. Bio-logen, Chemiker, Materialforscher und Physiker versuchen, die erstaun-

lichen Konstruktionen und Herstel-lungsverfahren der Natur zu verste-hen und nachzubilden.

„Der Begriff weiche Materie be-zieht sich auf Aggregatzustände, diezwischen dem geordneten Festkörper und dem ungeordneten Gas liegen.Es handelt sich typischerweise umsupramolekulare Strukturen undKolloide in flüssigen Medien. Beson-ders komplexe Beispiele findet manim Bereich der Biomaterialien“, sagtProf. Reinhard Lipowsky, Direktor der Abteilung „Theorie“ am Max-Planck-Institut für Kolloid- undGrenzflächenforschung (MPIKG) inGolm bei Potsdam. Wolfgang Spiess

meint: „Weiche Materie entfaltet ihrekomplexen Eigenschaftskombinatio-nen durch genau aufeinander abge-stimmte Bereiche von Ordnung undUnordnung der Bausteine.“ Und Pro-fessor Helmuth Möhwald, Direktor der Abteilung „Grenzflächenfor-schung“ am MPIKG, ergänzt: „Etwas

 vereinfacht gesagt, zeichnen sichweiche Materialien dadurch aus, dassihre Struktur durch mehrere schwa-che Kräfte bestimmt wird. Daher hängen ihre Eigenschaften sehr stark 

 von Umgebungs- und Herstellungs-bedingungen ab.“

Die Antworten der drei Wissen-schaftler sind typisch in ihrer unter-schiedlichen Sichtweise. Manche

Forscher bezeichnen mit weicher Materie fast flüssige, andere dagegenauch sehr reißfeste Materialien wieNatur- oder Kunstfasern. Doch obflüssig oder fest – es gibt Eigen-schaften, die alle Formen weicher Materie gemeinsam haben. Was diedrei Forscher mit Fachbegriffen (die

auf S. 60 erklärt sind) skizziert ha-ben, kann in einfachen Worten etwawie folgt beschrieben werden:❿ Erstens bilden in weicher Mate-rie die Moleküle eine viel ungeord-netere Struktur als es die Atomeoder Moleküle im Kristallgitter ei-nes echten Festkörpers tun. Ande-rerseits wirbeln sie nicht so hoch-gradig ungeordnet durcheinander wie in einem Gas. Weiche Materia-lien sind auch keine richtigenFlüssigkeiten, aber Bereiche, dieflüssig sind, können entscheidendzu ihren Eigenschaften beitragen.❿ Zweitens sind die Strukturenweicher Materialien flexibel, aber trotzdem stabil.

❿ Drittens kann weiche Materiespontan supramolekulare Struktu-ren durch Selbstorganisation bil-den. Ohne diese besonders interes-sante Fähigkeit könnte kein natür-licher Organismus entstehen undleben.

 Am Mainzer Max-Planck-Institutfür Polymerforschung beschäftigensich die Wissenschaftler mit einer Sorte weicher Materie, ohne die Le-ben (und unser Alltagsleben heute)nicht denkbar wäre: natürliche und

Was haben Seidenblusen, Disketten und die Membranen lebender Zellen

gemeinsam? Alle drei bestehen aus weicher Materie: Betrachtet man einzelne

Moleküle, scheinen sie ungeordnet zu sein, doch auf einer größeren, supramolekularen

Skala bilden sie geordnete Strukturen. Unordnung und Ordnung spielen zusammen

und beeinflussen die Eigenschaften der weichen Materie. An den MAX-PLANCK-

INSTITUTEN FÜR POLYMERFORSCHUNG in Mainz und für KOLLOID- UND GRENZ-

FLÄCHENFORSCHUNG in Golm widmen sich Wissenschaftler dieser „Soft Matter“.

Harte Arbeitan weicher Materie

Klaus Müllen beherrscht Polymere auch in Form eines Fußballs...

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SZINATION Forschung

künstliche Materialien, die aus Poly-meren bestehen. Polymere sindgroße Moleküle, in denen sich Hun-derte oder Tausende gleicher, einfa-cher Grundbausteine, die Monomere,aneinander reihen. Jeder Kunststoff,

 von der Kontaktlinse bis zur moder-nen Gewebefaser, ist ein Polymer.Eine noch gewaltigere Vielfalt an Po-lymeren birgt die Natur. Die Träger der Erbinformation des Lebens, dieNukleinsäuren, sind Polymere. Pro-teine – also Eiweiße – sind genausoPolymere wie die Stärke aus Kartof-feln oder Getreide. Polymere verlei-hen tierischem Gewebe in Form vonKollagenfasern Elastizität und zu-gleich Stabilität. Dieselbe Funktion

erfüllen andere Polymere, die Zellu-losefasern, in pflanzlichem Gewebe.

In Mainz spielen zwei Arbeits-gruppen bei der Analyse der Eigen-schaften der Polymere eine besonde-re Rolle. Sie entwickeln immer ge-nauere Instrumente, um in die Weltder Moleküle hineinschauen zu kön-nen. Dank dieser Sehhilfen könnendie Forscher in den Labors viel bes-

Abb. 1: Diese dreidimensionale

„Momentaufnahme“ aus einer Mainzer

Computer-Simulation zeigt, wie

die langen Polymer-Kettenmoleküle

im geschmolzenen Polymer fließen.

Abb. 2: Das eingeschobene Reparatur-

rohr, bevor es aufgeblasen wird.

ser verstehen, welche Eigenschaftendie Polymermoleküle haben. Siekönnen viel gezielter als früher Ma-terialien untersuchen und neu ent-wickeln.

Eine dieser Sehhilfen ist die Com-putersimulation. Die Experten hier-für gehören zur Arbeitsgruppe

„Theorie der Polymere“, die von ei-nem der Institutsdirektoren, Prof.Kurt Kremer, geleitet wird. Die For-scher bauen aus einzelnen, virtuellenMolekülen das zu simulierende Poly-mer-Material auf und berechnen sei-ne Eigenschaften. Zwar sind weicheMaterialien immer noch zu komplex,

um sie im Computer exakt in allenDetails nachbilden zu können. Dochdie wesentlichen Eigenschaften kön-nen die Theoretiker verblüffend gutsimulieren (Abb. 1). Dabei lernen sie,wie sich die einzelnen Moleküle imPolymer verhalten. Auch wenn eineSimulation virtuell ist, schafft siedoch wie eine Lupe einen Einblick indie molekularen Prozesse, die in ech-ten Polymeren stattfinden.

Damit die Computersimulationenein realitätsnahes Bild der unter-suchten Materialien zeichnen kön-nen, müssen sie durch handfesteMessdaten gleichsam festen Bodenunter die Füße bekommen. Diese Da-ten liefert die Arbeitsgruppe „Poly-

mer-Spektroskopie“ von Hans Wolf-gang Spiess. Die Spektroskopie istdie zweite Sehhilfe für die Material-entwickler in den Labors. Hier wer-den die Materialproben aus den La-bors mit verschiedenen Verfahrendurchleuchtet. Besonders wichtig istdie NMR-Spektroskopie. NMR steht

für „Nuclear Magnetic Resonance“,zu Deutsch kernmagnetische Reso-nanz. Die NMR nutzt aus, dass viele

 Atomkerne sich wie winzige Magne-te verhalten. Ein NMR-Spektrometer regt in einem starken Magnetfelddiese Kerne dazu an, elektromagneti-sche Signale zu senden. Daraus kön-nen die Wissenschaftler ableiten, wiedas untersuchte Material aufgebautist. Spiess und seine Mitarbeiter ha-ben neue Festkörper-NMR-Verfahrenentwickelt, die speziell für die Auf-klärung der Struktur von Polymer-materialien geeignet sind.

Durch die Zusammenarbeit mitden Theoretikern und den Spektro-

skopikern können die Materialfor-scher in Mainz sehr effektiv experi-mentieren. Im Mainzer Institut istneben der Grundlagenforschungauch die angewandte Forschungwichtig, bei der marktreife Produkteentstehen sollen. Sogar herkömmli-che Massenkunststoffe können dieMainzer so weiterentwickeln, dasssie ganz neue Eigenschaften bekom-men: Zum Beispiel Rohrleitungenaus Polyethylen – dem Kunststoff,aus dem Plastiktüten sind.

Ein Beispiel für eine erfolgreicheIndustriekooperation des Max-Planck-Instituts für Polymerfor-schung ist die Entwicklung einesKunststoffs für Rohrsanierungen ge-

meinsam mit einer Tochter des ehe-maligen Hoechst-Konzerns. Wer hat-te nicht schon einmal massiven Är-ger mit Rohrleitungen? Nicht nur Rohre aus Keramik oder Metall, son-dern auch PVC-Kunststoffrohre kön-nen Risse bekommen oder poröswerden. „Amerikanische Rohrher-

steller haben deswegen bereits eineMilliarde US-Dollar Schadenersatzzahlen müssen, das entspricht demJahresetat der Max-Planck-Gesell-schaft“, erwähnt Hans WolfgangSpiess beiläufig.

HIGH-TECH-

ROHRSANIERER

Seine Gruppe hat entscheidend zur Entwicklung eines Produkts beige-tragen, das die Sanierung von Gas-und Wasserrohren raffiniert verein-facht. Es ist ein flexibles Polyethy-lenrohr. Die Sanierer schieben es zu-erst zusammengefaltet in das alteRohr hinein. Sobald es in Positionist, blasen sie es einfach auf – fertig!

Das neue Rohr schmiegt sich an die Wand des kaputten Rohrs an, über-brückt lecke Dichtungen und Risseund dichtet es auf diese Weise voll-kommen ab (Abb. 2).

So genial einfach diese Idee ist,sie stellt extrem gegensätzliche An-forderungen an den verwendetenKunststoff: Er muss einerseits sehr flexibel sein, zugleich muss er jedochhohem Druck standhalten. Weil er über Jahrzehnte nicht altern darf,schafft die Flexibilität ein Problem.

him O. Rädler ist Chef der Mainzer Polymerphysiker. Seine Gruppe erforscht

Wechselwirkungen zwischen Molekülen, um sie zum Bau von Nanosystemen

tzen. Sie ist den faszinierenden Strategien der Natur auf der Spur, zu

n die Selbstorganisation der Moleküle zu komplexen Strukturen gehört.

Abb. 3 links: Die Langkettenmoleküle

(rot) halten im unbeschädigten Kunst-

stoff die Kristalline (blau) zusammen.

Rechts: Unter Stress reißen die Ketten

und der Riss öffnet sich.

Kurt Kremer leitet die Mainzer Theorie-Abteilung.

   A   B   B .  :

   M   P   I   F    Ü   R   P   O   L   Y   M   E   R   F   O   R   S   C   H   U   N   G

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SZINATION Forschung

Flexibilität basiert nämlich auf einer hohen Fließfähigkeit der Moleküleim Kunststoff. Dadurch neigen dieMoleküle jedoch dazu, einem Stressallmählich nachzugeben. Die Rohrealtern und können an stark belaste-ten Stellen reißen.

Zunächst mussten die Mainzer Forscher verstehen, wie sich im ver-wendeten Material aus Polyethylen(PE) solche Risse ausbilden. Dazuentwickelten sie ein spezielles NMR-

 Verfahren, das ihnen zeigte, waswährend des Alterns mit den Mo-lekülen geschieht. PE ist ein typi-

sches weiches Material, das seine Ei-genschaften dem Zusammenspielzwischen Ordnung und Unordnung

 verdankt. Es besteht aus kristallinenBereichen, in denen die langen Mo-lekülketten des Polymers hoch ge-ordnet wie Spaghetti in einer Tütenebeneinander liegen. Um dieseKristallite wickeln sich lange Ketten-moleküle wie unordentliche Faden-knäuel. Sie halten die Struktur zu-sammen. Unter Stress – etwa durchzu hohen Druck – können diese Ket-tenmoleküle reißen. Geben mehrerebenachbarte Ketten nach, dann ent-steht eine Schwachstelle im Mate-rial. Mit der Zeit wachsen solcheSchwachstellen, bis sich Risse öffnen

(Abb. 3).Nachdem die Max-Planck-Forscher 

den Alterungsmechanismus aufge-klärt hatten, konnten die Indus-trieforscher den Kunststoff gezielt

 verbessern, indem sie die Kettenver-bindungen zwischen den Kristalliten

 verstärkten. Mit dem modifizierten

Abb. 4: Auf einer Grafitoberfläche

organisieren sich hantelförmige

Grafitinseln. Zwei benachbarte Inseln

haben etwa 3 nm Abstand.

Abb. 5: Wie die Mainzer Chemiker

Nanoobjekte herstellen: Aus dem Aus-gangsmaterial links oben entstehen

durch unterschiedlich gesteuerte Quel-

len Blöcke, die verschiedene Nanostruk-

turen (gelb) enthalten. Lösungsmittel

lösen den Polymerblock (blau) auf

und geben die Nanobauklötze frei.

Kunststoff produziert die Industrienun flexible Rohre, die bis zu fünfzigMal länger halten als bisher. Weiche Materialen der Zukunft

könnten auch völlig neue Eigen-schaften haben. Zum Beispiel könn-ten sie Licht in elektrischen Stromumwandeln. Solarzellen haben einenormes Wachstumspotenzial. Heutebestehen sie aus Silizium, also einemharten und spröden Material mit ein-geschränkten Einsatzmöglichkeiten.Könnten Solarzellen auch als leichte,biegsame Folien hergestellt werden,so würden sie ganz neue Anwen-dungsgebiete erschließen.

SOLARZELLEN

AUF FOLIEN

Die Arbeitsgruppe von Prof. KlausMüllen, einem weiteren Direktor amMainzer Institut, entwickelt Folienaus organischen Materialien, dieLicht in elektrischen Strom umwan-deln können. Die Grundbausteine desneuen Materials sind Kohlenstoffato-

elektrischen Strom umwandeln. Obdie Säulen effizient arbeiten, hängtentscheidend von ihrer Gestalt ab.Die Wissenschaftler stießen wieder einmal auf die typische Eigenschaftdes weichen Materials: Eine definier-te „geordnete Unordnung“ in denStapeln macht die Säulen elektrischso gut leitfähig, dass sie sich für So-larzellen eignen. Noch ist diese Ent-wicklung erst am Anfang. Doch viel-leicht tragen wir eines Tages sogar Jacken, die die Akkus von Handysoder Walkmans mit Solarenergieaufladen können.

Kaum etwas fasziniert Forscher heute mehr als Nanoobjekte, die nur einige bis einige Hundert Milliards-

telmeter groß sind. Die Arbeit anNanoobjekten erweitert das Wissenüber die chemischen, biochemischenund physikalischen Prozesse, welchedie Vielfalt unserer Welt hervor-bringen. Dabei dringen die Wissen-schaftler gerade erst richtig in dieNanowelt ein (M AXPLANCK FORSCHUNG

3/2000). Und so verwundert eskaum, dass die heutige Forschungmanchmal an das Spiel kleiner Kin-der erinnert: Kinder hantieren mitBauklötzen und „be-greifen“ da-durch die Welt – Wissenschaftler spielen mit winzigen Nanobauklöt-zen, um die Eigenschaften der Nano-welt kennen und beherrschen zulernen. Allerdings ist schon die Her-stellung der Nanobauklötze selbst

N JUNGES FORSCHUNGSGEBIET

der französische Physiker Pierre-Gilles de Gennes

91 den Nobelpreis für Physik erhielt, wurde ein For-er geehrt, den viele den „Vater der weichen Materie“nen. Er hatte wichtige theoretische Beiträge zu einemgen Forschungsgebiet geliefert, das erst in den achtzi-Jahren Konturen annahm. Neben neuen theoretischendellen trugen dazu auch bessere Messmethoden undwachsende Leistungsfähigkeit von Computern bei.fanden die Forscher, dass die Eigenschaften sehr un-chiedlicher und komplex aufgebauter Materialien ein

bindendes Element aufweisen: das ZusammenspielOrdnung und Unordnung auf der Ebene der Moleküle.

fast flüssig oder sehr reißfest – diese Materialien sindmer flexibel. Deshalb wurden sie „Soft Matter“, alsoche Materie getauft.

Abb. 6 : Eine mehrschichtige Nano-

kapsel entsteht: Der Kern wird schritt-

weise mit jeweils entgegengesetzt

geladenen Polymermolekülen (rotoder blau) beschichtet (A bis D). Da-

nach löst Säure den Kern heraus (E),

übrig bleibt die fertige Hohlkapsel (F).

Wolfang Knoll, Direktor der Mainzer Materialforschung,

muss wie jeder Forscher Papierberge bewältigen.

me in Form von Grafit, der uns im Alltag als Ruß oder auch im Bleistiftbegegnet. Die Kohlenstoffatome bil-den im Grafit wabenförmige Gitter,die leicht gegeneinander zu ver-

schieben sind. Zuerst synthetisierendie Wissenschaftler auf einer Grafit-oberfläche winzige Grafitinseln. Siehaben die Form eine Hantel oder ei-ner Acht. Abb. 4 zeigt, welch regel-mäßiges Muster diese Inseln auf der Oberfläche ausbilden.

Nun entwickeln die Inselstrukturenein erstaunliches Verhalten: Sie sta-peln sich von selbst zu mikrosko-pischen Doppelsäulen. Diese Säulenkönnen das eingefangene Licht in

eine Herausforderung an die heutigeExperimentiertechnik.

Dr. Ulrich Wiesner, heute an der Cornell-Universität in den USA, hatmit Kollegen der Gruppe von Hans

 Wolfgang Spiess solche Nanoobjekteaus organisch-anorganischen Hyb-ridmaterialien erzeugt. Aus solchenMaterialien werden zum BeispielKontaktlinsen, kratzfeste Beschich-tungen und Zahnfüllungen gemacht.Sie basieren auf zwei Phasen, diemiteinander gemischt sind. Die einePhase ist im Sprachgebrauch der Chemiker „organisch“, sie besteht auslangkettigen Polymermolekülen. Der Einfachheit halber nennen wir siehier Phase O. Die andere Phase ist

„anorganisch“, sie wird hier Phase A getauft. A wird aus kleineren Mo-lekülen gebildet, die Metallatome(Aluminium) und eine Verbindungnamens Silan enthalten. Silane beste-hen aus Wasserstoff und dem Grund-element von Sand, dem Silizium. Siesind übrigens die anorganischen Ge-genspieler zu den Kohlenwasserstof-fen der organischen Chemie.

Phase O ist ein weiches Material, A hingegen hart wie Gläser oder Kera-miken. Die ausgeklügelte Mainzer Synthese geht nun vereinfacht infolgenden Schritten vor. Zuerst lösendie Chemiker Phase O in einem orga-nischen Lösungsmittel auf und ge-ben eine bestimmte Menge A hinzu.Dann kondensieren sie das so er-haltene Komposit aus, sodass es festwird. Verblüffenderweise entstehendabei durch Selbstorganisation sehr regelmäßige Nanostrukturen. Noch

 verblüffender: Die Form der Struktu-ren lässt sich über das Mischungs-

 verhältnis der Phasen A und O genausteuern. Solange die Phase A nichtdominiert, bildet sich ein Polymer-block. Er trägt die Nanostrukturen insich, die aus A und O entstanden sind.Je nach Mischungsverhältnis der Phasen während der Synthese sinddas entweder Kugeln, Zylinder oder quaderförmige Schichten (Abb. 5,oben). Um diese Nanoobjekte freizu-legen, müssen die Chemiker nunnur noch den Polymerblock auflösen

A B C

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(Abb. 5, unten). Neben ihrer Winzig-keit haben die Mainzer Nanobau-klötze eine weitere Besonderheit:

 Aus ihren Oberflächen ragen langeKettenmoleküle wie Haare heraus.

 Wer weiß, für welche Überraschungdiese Haare noch gut sind ...

 Auch am Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschungin Golm gibt es eine enge Zusam-menarbeit zwischen Experimentato-ren und Theoretikern aus Chemie,Physik und Materialwissenschaften.Zu den Experimentatoren zählt dasTeam um Helmuth Möhwald. Es er-fand ein modulares System für Na-nokapseln, die als Nanoverpackun-gen eingesetzt werden können. Für 

diese bahnbrechende Arbeit gewanngerade einer der beteiligten Jungfor-scher, Dr. Gleb Sukhorukov, den mit2,25 Millionen Mark dotierten SofjaKovalevskaja-Preis der Alexander 

 von Humboldt-Stiftung (siehe auchS. 88 dieser Ausgabe). Die Golmer Kapselherstellung baut auf einer Idee

auf, die so bestechend einfach wieexperimentell anspruchsvoll ist.Grundbausteine sind mikroskopischkleine Kerne. Das können anorgani-sche Partikel sein, aber auch Poly-merteilchen, Kristalle aus einempharmazeutischen Wirkstoff oder so-gar biologische Zellen. Die Forscher beschichten diese Kerne mit elekt-risch geladenen Polymermolekülen,die sich in einer Lösung anlagern. Istdie erste Schicht fertig, so kommt dieentstehende Nanokapsel in eine zwei-te Lösung mit entgegengesetzt gela-denen Molekülen. Die Moleküle wer-den von der ersten Schicht angezo-gen und bilden auf ihnen eine zweiteSchicht. Mit dieser Methode können

die Forscher viele abwechselnd gela-dene Schichten wie Zwiebelschalenaufbauen und so die Eigenschaftender Kapsel breit variieren. Was passiert nun mit dem Kern im

Inneren der Kapsel? Wenn er nichtaus der Substanz besteht, die dieKapsel auch füllen soll, muss er aus

der Kapsel heraus, ohne dass sie da-bei zerstört wird. Dazu lösen ihn die

 Wissenschaftler in kleine Moleküleauf. Für solche kleinen Moleküle istdie Wand der Polymerkapsel nämlichdurchlässig und die Kapsel leert sich

 von selbst. Übrig bleibt die fertigeNanokapsel (Abb. 6, 7 und 8). DieGolmer Forscher können die Wand-stärke ihrer Hohlkapseln auf Milli-ardstelmeter genau einstellen unddie chemische Zusammensetzung der Kapselwand breit variieren. So ent-stehen Kapselwände, die über Jahrestabil oder – im Gegenteil – gezieltzersetzbar sind. Auch die Durchlässigkeit für ver-

schiedene Wirkstoffe lässt sich ein-

stellen. Variieren die Forscher zumBeispiel die Oberflächen der Schalen,dann können sie bestimmte chemi-sche Substanzen dazu bringen, sichim Kapselinneren anzureichern. DieKapseln befüllen sich sozusagen vonselbst mit dem erwünschten Wirk-stoff. Die Nanokapseln ermöglichen

es den Golmer Wissenschaftlern so-gar, die Eigenschaften biologischer Zellen auf einfache Weise zu imitie-ren. Dabei geht es um die Hüllen der Zellen, die als Membranen das Zell-

innere schützen. Diese Membranekönnen sich für bestimmte Substan-zen durchlässig machen. So steuernsie den Austausch lebenswichtiger Stoffe zwischen dem Zellinneren undder Umgebung. Um das nachzuah-men, statten die Max-Planck-For-scher die Wände ihrer Nanokapselnmit einer Doppelschicht aus Lipid-molekülen aus (Lipide sind Fette).Danach können die Kapselwändeausgewählte Moleküle erkennen und

sich für sie durchlässig machen. Sowerden sie zu einem einfachen Mo-dell für die – natürlich viel komple-xeren – Membranfunktionen einer lebenden Zelle.

VON DER NANOKAPSEL

ZUR VESIKELMEMBRAN

Die Golmer Kapseln sind ein Bei-spiel dafür, wie Grundlagenfor-schung zu einer völlig neuen Basis-technologie führen kann. Sie hat einimmenses Anwendungspotenzial inder Industrie. Möhwald denkt zumBeispiel daran, dass viele Kosmetikaund Pharmazeutika in Wasser schwer löslich sind; deshalb kann sieunser Körper nicht richtig aufneh-

men. Die Kapseln könnten solcheschwer löslichen Stoffe wie mikros-kopische U-Boote in den Körper hin-ein transportieren. Ihre Hülle könnteso gestaltet werden, dass sie gezieltzu dem Ort wandern, an dem ihr In-halt wirken soll und dort den Wirk-stoff kontrolliert freisetzen.

 Auch der Grundlagenforschungeröffnet das Golmer System ganzneue Perspektiven. Helmuth Möh-wald nennt als Beispiel das Studium

 von chemischen Reaktionen oder Kristallisationen unter den speziellenBedingungen, die Nanohohlräumebieten. Abb. 9 zeigt ein solches Bei-spiel aus der Golmer „Trickkiste“. DieGolmer Forscher demonstrierten hier,dass sie die Kapsel nicht nur mitkleineren Molekülen füllen können –sie können aus ihnen sogar in der Kapsel durch chemische Reaktiongrößere Moleküle herstellen.

Im Gespräch mit Reinhard Lipows-ky fällt immer wieder der Begriff Biomimetik. Damit bezeichnen Wis-

senschaftler die Methode, biologischeTeilsysteme in vereinfachter Formnachzubauen und dabei etwas über sie zu lernen. Reinhard Lipowsky undseine Golmer Mitarbeiter sind Spe-zialisten für theoretische Biomime-tik. Sie tauchen in die faszinierende

 Welt der Membranen ein und ahmendie Natur auf ihren Hochleistungs-rechnern nach. Die Computersimula-tion in Abb. 10 zeigt in Schnapp-schüssen, wie Moleküle eine einfa-che Membran bilden. Dazu setzen

Abb. 7: Rasterkraftmikroskopische

Aufnahme einer fertigen Nanokapsel.

Dazu ist ein Vakuum nötig, in dem

die Kapsel in Falten zusammensank.

Abb. 8: Zwei Schnittbilder durch

verschiedene Ebenen einer Kapsel,

die durch Beschichtung eines roten

Blutkörperchens in der „Stechapfel-

form“ (Erythrozyt) entstand.

Abb. 9: Diese ungefähr zehn Mikrometer

(Millionstelmeter) großen Kapseln sind

mit einem Polymer ausgefüllt (rot). Es ent-

stand erst in der Kapsel durch chemische

Reaktion kleinerer Moleküle, die durch

die poröse Kapselwand eindrangen.

hard Lipowsky und seine

rbeiter entwerfen

ge Membranmaschinen. Helmuth Möhwald und seine Abteilung stellen Nanokapseln her.

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indem sie einfach keine Kanten aus-bildet. Sie krümmt sich und schließtsich zu einem flüssigkeitsgefülltenBläschen, einer Vesikel, zusammen.

Eine solche Vesikel kann unter-schiedlichste Formen annehmen. Siesteuert allerdings immer diejenigeForm an, bei der ihre Membran mög-lichst wenig Biege-Energie aufbrin-gen muss. Das Energieminimum –und damit die Vesikelform – hängen

 von der Umgebungstemperatur, dem Volumen und der Art der Füllung der  Vesikel ab. Auch Moleküle, die sichan die zwei Flächen der Membrananheften, können ihr eine andereForm aufzwingen. Was passiert zum Beispiel, wenn

sich in einer Vesikelmembran zwei verschiedene Molekülsorten befin-den, die sich gegenseitig abstoßen?Das können zum Beispiel Lipide undCholesterole sein, die in den Mem-branen roter Blutkörperchen vorkom-men. Abb. 11a zeigt, was nach der Computersimulation geschieht. Dieeinander „unsympathischen“ Mole-küle versammeln sich in getrenntenMembrandomänen, die in der Abbil-dung rot oder blau eingefärbt sind.Diese Zonen werden durch die Mo-lekül-Zuwanderung immer größer.Dabei benehmen sich die roten Zo-nen besonders merkwürdig. Sie stül-pen sich zu Knospen aus. Benachbar-te Knospen finden sich wiederum ge-genseitig so attraktiv, dass sie sich zunoch größeren Knospen zusam-menschließen (Abb. 11b – d). So ent-steht eine etwas gerupft aussehende„Nano-Brombeere“. Das Verhaltendieses einfachen Systems vermittelteine Ahnung davon, wie lebende Zel-

len Ausstülpungen bilden, zum Bei-spiel am Anfang einer Zellteilung.

Lässt sich eine Vesikel gezielt zwi-schen verschiedenen Formen um-schalten? Eine interessante Möglich-keit dazu könnten lichtempfind-liche Polymermoleküle, so genannte

 Azobenzen-Chromophoren, bieten.Ultraviolettes Licht lässt diese Mo-leküle von einer räumlichen Gestalt,das „cis-Isomer“, in eine anderespringen, das „trans-Isomer“. Infra-

rotes Licht schaltet sie wieder zurück. Sitzen solche Moleküle auf der Membranoberfläche, dann än-dern sie deren Krümmung. Dabei

 verbiegt das cis-Isomer die Membrananders als das trans-Isomer. Wäreeine Vesikel mit diesen Molekülenausgerüstet, so könnten die Forscher sie tatsächlich mit Licht von einer Form in eine andere umschalten.

SCHWIMMKURS FÜR

MEMBRANMASCHINEN

Das brachte Reinhard Lipowsky auf eine faszinierende Idee. Er entwarf das Modell einer Vesikel, die aktiv durch eine wässrige Flüssigkeitschwimmen kann. Dafür braucht die

mikroskopisch kleine Membranma-schine allerdings ein speziellesSchwimmtraining: Zwei verschiedeneFormen A und B reichen nicht aus.Die Vesikel würde dann nur im Was-ser hin- und herwackeln, käme aber nicht vom Fleck. Um wirklich Stre-cke zu machen, muss sie einen Zy-klus von mehreren Formänderungendurchlaufen, wie sie Abb. 12 zeigt.Hier kommt wieder die Biomimetik ins Spiel, denn das Prinzip dieser Schwimmtechnik wird seit Milliarden

 von Jahren von Einzellern erfolg-reich eingesetzt. Gelänge eines Ta-ges der Bau einer solchen Mem-branmaschine im Labor, dann hättendie Forscher dem Leben wieder einGeheimnis abgeschaut. Weiche Materie war und ist in al-

len Epochen ein Motor der mensch-lichen Kultur. Vielleicht wird dieNanotechnologie auf Basis weicher Materie der Zivilisation im 21. Jahr-hundert einen ähnlichen Schub ge-

ben wie die Kunststoffe im 20. Jahr-hundert. Von der Natur können dieMaterialforscher noch viel lernen,wie Hans Wolfgang Spiess feststellt:„Die Natur erreicht eine enormeKomplexität mit nur wenigen Bau-steinen. Wir verwenden bei syntheti-schen Materialien eine insgesamt ge-waltige Vielfalt von Bausteinen, er-reichen damit zurzeit aber nur eine

 vergleichsweise geringe Funktiona-lität.“ ROLAND WENGENMAYR

Soft MATTER

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die Forscher virtuelle, amphiphileMoleküle in virtuelles Wasser undlassen den Computer berechnen, waspassiert. Amphiphile Moleküle habenein Wasser anziehendes und ein

 Wasser abweisendes Ende. Das Was-ser abweisende Ende will den Kon-takt mit den Wassermolekülen tun-lichst vermeiden – und genau dastreibt die amphiphilen Moleküle an,sich zu einer zweischichtigen Mem-bran zu organisieren. Beide Mem-branschichten richten sich nämlichso aus, dass die wasserscheuen En-den im Inneren der Membran sitzen.

Die Computersimulation zeigtauch anschaulich das für weicheMaterie charakteristische Wechsel-

spiel zwischen Ordnung und Unord-nung. Die zufällig verteilten Mo-leküle sind in der Membran stärker geordnet als zuvor. In Abb. 10 istschön zu sehen, wie die Ordnung

 von Schnappschuss zu Schnapp-schuss zunimmt. Doch auch in der fertigen Membran bleibt ein RestUnordnung erhalten. Die Molekülesind nämlich nicht starr in derMembranstruktur fixiert, sondernkönnen innerhalb der Membran-fläche wandern und ihre Plätze ver-tauschen. In ihren zwei Dimensionen

 verhält sich also die Membranflächefast, als ob sie flüssig wäre. DiesemMechanismus verdankt die Membranihre hohe Flexibilität.

Eine solche Zweischicht-Membranist nur vier bis fünf Nanometer dick.Ihre Fläche kann dagegen einen er-heblich größeren Durchmesser ha-ben. Er kann sich über einige Mikro-meter, also Millionstelmeter, bis so-gar zu Millimetern erstrecken. Im

letzteren Fall ist die Membran alsoMillionen Mal ausgedehnter als dick!Die Membranen einer Nervenzellekönnen sogar Abmessungen im De-zimeterbereich erreichen. Doch wieweit die Membran sich auch er-strecken mag – sie hat ein Problem,und das sind ihre Kanten. An einer Kante würden die wasserscheuenMolekülenden bloß liegen und so auf das umgebende Wasser stoßen. Daskann die Membran nur vermeiden,

SZINATION Forschung

(II)

(I) (IV)

(III)

GGREGATZUSTÄNDE

ffe können drei Aggregatzustände annehmen:t, flüssig und gasförmig. In festen Körpern sindGrundbausteine der Stoffe, also die Atome odereküle, am stärksten geordnet. Sie bilden räum-e Kristallgitter aus, in denen sie feste Plätzeen. Wird der Feststoff flüssig, dann brechen

se starren Strukturen auf und der Ordnungsgradkt. Die Moleküle sind beweglich und gleiten enginander vorbei. In Gasen gewinnen die Atomer Moleküle genügend Energie, um sich vonein-er zu lösen und (fast) frei durch den Raum zugen. Gase sind deshalb am wenigsten geordnet.

UPRAMOLEKULARE STRUKTUREN

e entstehen supramolekulare Strukturen?len wir uns vor, dass die Moleküle Autos sind.Fahrer dieser Autos haben ganz verschiedenertziele. Könnten die Fahrer einfach geradlinighrem Ziel fahren, gäbe das bei vielen Autos einallträchtiges Durcheinander. Individualverkehr istGrunde sehr ungeordnet. Erst eine ÜberstrukturStraßen, Ampeln und Kreuzungen gibt dem

cheinander eine Ordnung und sichert so dasktionieren des Verkehrs. Supramolekulare Struk-

en tun Ähnliches. In der Natur entstehen dieseramolekularen Strukturen durch Selbstorganisa-n der Moleküle. Die Moleküle verhalten sich so,wüssten sie, wo ihr Platz in einer komplexenuktur ist und wandern dorthin. Zum Beispielanisieren sich große Moleküle in strömendenssigkeiten so, dass sie schneller fließen können.er rote Blutkörperchen ändern ihre Form, umh durch engste Äderchen zu passen. Bei dermänderung bilden die Moleküle ihrer Membrane andere supramolekulare Struktur als zuvor.bstorganisation ist also eine grundlegende Eigen-aft der Natur, ohne die kein Leben existierennte. Selbstorganisation ließ die großen Molekülestehen, die die Bausteine lebender Organismenen. Sie prägt auch die biochemischen Prozesser Lebensfunktionen.

OLLOIDE

Name der Kolloide geht auf das griechischert für „Leimartiges“ zurück. Kolloide bestehenmikroskopisch kleinen Partikeln. Sie können in

em anderen Stoff, dem „Dispersionsmittel“,teilt sein. Beispiele für Kolloide sind die PartikelZigarettenrauchs in der Luft oder auch Lacke,enen feine Farbpigmente in einem Lösungsmittelpergiert“ sind. Ein Kolloid verdankt seine Eigen-

aften der Tatsache, dass die Partikel viel größerAtome oder „normale“ Moleküle sind, jedoch

mer mikroskopisch klein bleiben. Ihre Durchmesserwegen sich zwischen wenigen Nanometernlliardstelmeter) und einigen zehn Mikrometernllionstelmeter). Kolloide haben eine enormetschaftliche und technische Bedeutung. In derur spielen sie zum Beispiel eine wichtige Rolleebenden Zellen.

Abb. 10: Eine Zweischicht-Membran

organisiert sich selbst. Die Computer-

simulation berechnete dazu ein System

von 100 amphiphilen Molekülen (siebestehen hier aus vier grünen Kugeln

mit einem roten Kopf) in 840 Wasser-

partikeln (blaue Kugeln). Zwischen

den Schnappschüssen A, B und C bis F

liegen jeweils etwa eine Femtosekunde

(der millionste Teil einer Millardstel-

sekunde).

Abb. 11: Eine Vesikel bildet Knospen.

Abb. 12: Eine Vesikel, die verschie-

dene Formen einnimmt (schematisch).Durchläuft sie diese Formen zyklisch,

dann schwimmt sie wie ein lebender

Einzeller durch die umgebende

Flüssigkeit.

A B C

D E F

t= 0.5 .

105

t= 1.5.10

5t= 7

 .10

5

t= 10 .

105

t= 8 .

105

t= 7.5 .

105

b

c   d

a

   A   B   B .  :

   M   P   I   F    Ü   R   K   O   L   L   O   I   D  -   U   N   D   G   R   E   N   Z   F   L    Ä   C   H   E   N   F   O   R   S   C   H   U   N   G

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BIOLOG

stimmte flüchtige Inhaltsstoffe wahr-genommen werden, sind bei Räubernund Parasitoiden entweder ange-boren oder aber erlernt. Das heißt:Die Verhaltensmuster entstehen, weilRäuber und Parasitoide das Auftre-ten bestimmter Duftsignale mit der 

 Anwesenheit ihrer Beutetiere in Ver-bindung bringen.

Bisher wurde die „indirekte Ab-wehr“ bei Pflanzen nahezu aus-schließlich im Labor untersucht. DieFrage, ob dieses Phänomen im Frei-land überhaupt eine Rolle spielt,blieb zunächst offen. In zwei zusam-menfassenden Artikeln äußerten sich

 Wissenschaftler kritisch zu den ex-perimentellen Befunden und derenBedeutung in nicht-landwirtschaftli-chen Systemen. Die genetisch sehr homogene Struktur landwirtschaftli-cher Kulturen könnte, so ihr Ein-wand, den Effekt der Abgabe flüchti-ger Duftstoffe als Antwort auf Pflan-zenfresser überbewerten und würdefolglich nicht die Verhältnisse ingenetisch vielfältigen natürlichenSystemen widerspiegeln. Zudem sindlandwirtschaftliche Systeme sehr einfach strukturiert: Eine meist inMonokultur angebaute Kulturpflan-zensorte wird nur von wenigenspezifischen Fraßfeinden attackiert,

 von diesen dann allerdings in gro-ßer Zahl. Und auch die Fraßfeindewiederum werden nur von einigenwenigen Räuberarten gejagt. Die

 Wahrscheinlichkeit, dass ein Räuber die Zahl seiner Beutetiere kontrollie-ren kann, scheint in einem solchen„linearen“ System größer zu sein alsin einem von komplexen Nahrungs-netzen geprägten natürlichen Sys-tem. André Kessler und Ian Baldwin

führten deshalb in der Great Basin

Desert im Südwesten der USA, einemnatürlichen System mit entsprechen-der Biodiversität, eine Studie anwilden Tabakpflanzen ( Nicotiana at-

tenuata) durch. Sie sollte helfen, eini-ge der wissenschaftlichen Kontrover-sen aufzulösen. Die Untersuchungenergaben, dass die Abgabe von flüch-tigen Pflanzeninhaltsstoffen sehr 

wohl auch in natürlichen Systemen vorkommt und weit reichende Kon-sequenzen hat. Die Wissenschaftler konnten diese Duftstoffe erstmals un-ter Feldbedingungen sammeln. DasErgebnis: Wilde Tabakpflanzen rea-gieren auf den Befall von drei ver-schiedenen Arten von Pflanzenfres-sern – wie im Labor – mit der Abgabeeiner Reihe flüchtiger Chemikalien. Auf dieser Grundlage studierten

 André Kessler und Ian Baldwin nundas räuberische Verhalten einer 

 Wanze. Deren bevorzugte Beute sinddie Eier und Larven des Tomaten-schwärmers Manduca quinquema-

culata. Die beiden Forscher befestig-ten die Eier an Tabakpflanzen, dieentweder mit einzelnen syntheti-schen Komponenten aus der zuvor analysierten Duftfahne oder aber mitMethyljasmonat behandelt wordenwaren.

Methyljasmonat ist eine Art Boten-stoff, den die Tabakpflanze als Reak-tion auf Gewebeschäden syntheti-siert. Als Signalgeber kurbelt er dieBiosynthese bestimmter Pflanzenin-haltsstoffe an. Sie ergeben schließlicheinen Mix an Duftmolekülen, der dem durch Raupenfraß ausgelöstenDuftsignal sehr ähnlich ist.

Darüber hinaus beobachteten die Wissenschaftler das Eiablageverhal-ten der weiblichen Tomatenschwär-mer an den vorbehandelten Pflan-zen. Sie stellten fest, dass an den

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Pflanzen sind ihren Schädlingen– Krankheitserregern, pflanzen-

fressenden Insekten oder weidendenSäugern – nicht hilflos ausgeliefert.

 Als direkte Antwort auf eine Schädi-gung produzieren sie eine Reihe vonchemischen Verbindungen. DieseStoffe wirken auf Angreifer giftig,

 verzögern deren Wachstum oder ma-chen die Pflanze ungenießbar. DieReaktion der Pflanze wird als „direk-te Abwehr“ bezeichnet. Viele dieser Substanzen sind hoch wirksam unddienen als Vorbilder bei der Entwick-lung von Schädlingsbekämpfungs-mitteln. Die „direkte Abwehr“ bringtfür die Pflanze jedoch auch Proble-me mit sich. So gelingt es pflanzen-fressenden Insekten teilweise sehr schnell, sich an die chemischen Ab-wehrmechanismen anzupassen, in-dem sie sekundäre Pflanzenstoffe für ihre eigene Abwehr im Körper anrei-chern oder verarbeiten. Die Raupendes Amerikanischen Tabakschwär-mers Manduca sexta haben sich bei-spielsweise biochemisch auf ihre to-xische Wirtspflanze, die wilde Ta-bakart  Nicotiana sylvestris, umge-stellt: Zum einen sind ihre Nerven-zellmembranen undurchlässig für das hochgiftige Nikotin, zum ande-ren wird das Gift extrem rasch ausihrem Körper herausgeschleust. Für die Pflanze ist die Synthese und

Speicherung von Abwehrstoffen einressourcenintensives Geschäft – vielesekundäre Pflanzenstoffe verlangsa-men die Entwicklung oder störenden Stoffwechsel der Pflanze.

Nun haben aber auch Pflanzen-fresser Feinde und müssen sich mitKrankheitserregern, Räubern oder Parasiten auseinander setzen. Pflan-zen haben Mechanismen entwickelt,um diesen Einfluss auf die Pflanzen-fresser deutlich zu erhöhen. Als Ant-wort auf Fraßschäden geben sieflüchtige Pflanzeninhaltsstoffe ab,die vor allem räuberische oder para-sitäre Insekten anlocken. Die Duft-stoffe wirken als eine Art „pflanzli-cher Hilferuf“, indem sie den In-sekten als Wegweiser zu ihrer Nah-rung oder zu ihrem Wirt dienen. ImFreiland stehen die winzigen Parasi-ten und Räuber vor der schwierigen

 Aufgabe, ihre meist versteckte undebenfalls kleine Beute in einem von

 vielen Pflanzen bedeckten und daher unübersichtlichen Terrain erst ein-mal zu finden. Die von den befalle-nen Pflanzen ausgesendete Duftfah-ne markiert den Weg zu ihren Peini-gern und unterstützt somit derenFeinde beim Auffinden ihrer Beute.Die Forscher bezeichnen diesen Me-chanismus als „indirekte Abwehr“.Erstmals beschrieben wurde das Phä-nomen im Jahr 1995 von US-Wis-

senschaftlern. Sie stellten fest, dassdie Duftsignale geschädigter Mais-pflanzen parasitische Wespen anlo-cken, die auf diese Weise zielstrebigihre Wirte, die Maisschädlinge, auf-spüren. Die Wespen legen ihre Eier in den Raupen ab, und die frischgeschlüpften Wespenlarven fressendiese von innen her auf. Die Pflanzeprofitiert davon, wenn die Raupensterben, bevor der von ihnen ange-richtete Fraßschaden zu groß wird.

SPEICHELTEST

FÜR RAUPEN

Die Forscher vermuten die chemi-schen Auslöser für diese oft sehr spezifische Reaktion der Pflanze imSpeichel der Pflanzenfresser. AmMax-Planck-Institut für chemischeÖkologie in Jena wurden entspre-chende Stoffe aus dem Speichel

 von Larven des TomatenschwärmersManduca quinquemaculata isoliert.Es handelt sich dabei um so genann-te Fettsäure-Aminosäure-Konjugate(FAC). Entfernt man sie aus demSpeichel, so reagiert die Pflanzenicht mehr mit der üblichen Abgabebestimmter flüchtiger Pflanzenin-haltsstoffe. Die Wirksamkeit desSpeichels lässt sich jedoch wieder herstellen, indem man die Fettsäure-

 Aminosäure-Konjugate erneut hin-zufügt. Die Strukturen, über die be-

SZINATION Forschung

Werden Pflanzen von Schädlingen heimgesucht, geben sie flüchtige chemische Verbindungen

in die Umwelt ab. In Laborexperimenten haben Wissenschaftler Hinweise dafür gefunden,

dass diese Pflanzeninhaltsstoffe als eine Art „Hilferuf“ fungieren. Die chemische Duftspur lockt

räuberische Insekten oder Parasiten an, die nun ihrerseits die Schädlinge befallen. ANDRÉ

KESSLER und IAN BALDWIN vom MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR CHEMISCHE ÖKOLOGIE in

Jena sind der Frage nachgegangen, ob dieser Notruf tatsächlich auch im Freiland funktioniert.

Chemisches Signalmobilisiert Hilfstruppen

Eine von Larven des Tomatenschwärmers (Manduca quin

quemaculata) angefressene wilde Tabakpflanze (Nicotian

attenuata) entlässt flüchtige chemische Verbindungen

in die Umwelt. Damit lockt sie räuberische Wanzen zu

ihrer Beute, den Schwärmer-Larven, und hält gleichzeiti

weibliche Tomatenschwärmer von der Eiablage auf der

duftenden Pflanze ab. Das Duftsignal hat also sowohl ei

anlockende als auch eine abstoßende Wirkung – je nachdem, ob Freund oder Feind die Signalempfänger sind.

manipulierten Pflanzen nicht nur weniger Eier abgelegt wurden, son-dern auch eine größere Zahl der an-gehefteten Eier den räuberischen

 Wanzen zum Opfer fielen. Das Terpe-noid Linalool sowie Methyljasmonatlösten sogar diese beiden Effekte aus.

Die Studie belegt, dass sich dieDuftsignale befallener Pflanzen aus

 vielerlei Substanzen mischen. Dochreichen einige wenige Stoffe aus, umeine Wirkung zu erzielen. Die Fähig-keit der Pflanze zur indirekten Ab-wehr von Fraßfeinden findet in der modernen intensiven Landwirtschaftnur wenig Beachtung, könnte jedochbei der umweltfreundlichen Bekämp-fung von Schadinsekten in Zukunftan Bedeutung gewinnen. CHRISTINA  BECK

   A   B   B .  :

   M   P   I   F    Ü   R

   C   H   E   M   I   S   C   H   E

    Ö   K   O   L   O   G   I   E

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noch das Transplantationsgesetz an-wendbar. Bei gewebespezifischenStammzellen handelt es sich nicht

um Organe im Sinne des Transplan-tationsgesetzes. Es handelt sich beiihnen auch nicht um Keimbahnzellenim Sinne des Embryonenschutzgeset-zes, sodass ihre genetische Manipula-tion mit anschließender Übertragungauf den Menschen durch das Em-bryonenschutzgesetz nicht untersagtist. Sonderregelungen existieren für die Gewinnung von somatischenStammzellen aus Blut. Bei einemtherapeutischen Einsatz somatischer Stammzellen ist das Arzneimittelge-setz zu berücksichtigen. Zudem gibtes hierzu die Richtlinien der Bundes-ärztekammer zum Gentransfer inmenschliche Körperzellen. Schließlichunterliegen gentechnische Arbeitenim Labor der Anmelde- oder Geneh-

migungspflicht gemäß § 8 Gentechnikgesetz.Besondere Probleme wirft das so genannte therapeuti-

sche Klonen auf. Es erfüllt den Tatbestand des Klonensnach dem Embryonenschutzgesetz, da eine totipotenteZelle entsteht, die nach den Bestimmungen dieses Geset-zes als Embryo anzusehen ist. Nicht relevant ist, dass kei-ne Absicht besteht, hieraus ein menschliches Wesen ent-stehen zu lassen; entscheidend ist allein die theoretischeEntwicklungsfähigkeit. Die Weiterentwicklung einer der-artigen totipotenten Zelle und die Gewinnung von em-bryonalen Stammzellen hieraus sind daher nach diesemGesetz verboten und strafbar. Die vor kurzem verabschie-dete Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemein-schaft (DFG) spricht sich deshalb gegen die Zulässigkeittherapeutischen Klonens aus. Ebenfalls nach dem Em-bryonenschutzgesetz verboten wäre die derzeit wissen-schaftlich offenbar nicht realisierbare Reprogrammierung

 von pluripotenten zu totipotenten Stammzellen. Auch dies

RECH

Rechtsschutzes – der Beginn desSchutzes des Lebens bei der Ver-schmelzung von Ei und Samenzelle

anzusetzen hat. Insgesamt sollte inder Diskussion aber auf keinen Fallausgeklammert bleiben, dass ein Em-bryo nur bei Einpflanzung in die Ge-bärmutter die Chance zur Ganzheits-bildung besitzt. Das Embryonen-schutzgesetz identifiziert den Beginndes individuellen menschlichen Le-bens mit dem Abschluss der Be-fruchtung, also mit der Vereinigungder Chromosomen einer Eizelle undeiner Samenzelle zu einem neuen,individuellen Genom.

Dies gilt auch für den Fall der künstlichen Befruchtung. Es ist aber äußerst fragwürdig, ob der Embryo in

vitro und in vivo wirklich rechtlichgleich zu behandeln ist. Wenn dasBundesverfassungsgericht den Schutz

 von Embryonen im Mutterleib früh ansetzt, so deshalb,weil die Entwicklung des menschlichen Lebens ein konti-nuierlicher natürlicher Prozess ist. Dies ist nicht der Fall beiEmbryonen in vitro. Hier muss noch ein von außen gesteu-erter Eingriff, die Implantation, hinzukommen. Nicht aus-reichend ist die vollständige genetische Information. Sieallein macht noch nicht das menschliche Individuum aus.

Die Entnahme von EG-Zellen aus Feten zu wissenschaft-lichen, therapeutischen und diagnostischen Zwecken istnicht im Embryonenschutzgesetz, sondern in den Richt-linien der Bundesärztekammer geregelt. Danach muss dieEntscheidung zum Schwangerschaftsabbruch unabhängig

 von dem Wunsch nach einer derartigen Verwendung desFetus erfolgen, und die Schwangere muss nach vorheriger 

 Aufklärung ihre Einwilligung hierzu erteilt haben.Für die Gewinnung und Verwendung gewebespezifischer 

(somatischer) humaner Stammzellen gibt es keinerlei ge-setzliche Regelung. Weder ist das Embryonenschutzgesetz

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SSEN aus erster Hand 

Das Thema „Stammzellen“ beschäftigt die Öffentlichkeit seit Monaten. Zuletzt hat im August die

Entscheidung von US-Präsident George W. Bush, die Forschung an embryonalen Stammzellen in den USA

u begrenzen, die Diskussion erneut entfacht. Im folgenden Beitrag beschreibt PROF. RÜDIGER WOLFRUM,

Direktor am Heidelberger MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES ÖFFENTLICHES RECHT

UND VÖLKERRECHT , die gesetzlichen Grundlagen und ethischen Aspekte dieser Forschungen.

Stammzellen: Herausforderungfür Ethik und Gesetz

Die Forschung an Stammzellen hat in jüngster Zeitgroße Fortschritte erzielt. Diese Arbeiten – die in

Deutschland am Tiermodell durchgeführt wurden – erge-

ben eine wissenschaftlich begründete Basis für die An-nahme, dass mithilfe von Stammzellen wesentliche neuetherapeutische Möglichkeiten entwickelt werden können.So erwarten Experten vor allem Fortschritte im Bereichder Transplantationsmedizin. Allerdings setzt die Ver-wirklichung dieser Hoffnungen noch intensive und vor allem langwierige Forschungsanstrengungen voraus.Meldungen, die eine Realisierung therapeutischer Mög-lichkeiten in nächster Zukunft ankündigen, ist mit Skep-sis zu begegnen. Die Forschung mit embryonalen Stamm-zellen hat aber auch eine wesentliche Bedeutung für dieGrundlagenforschung. Die Forscher versprechen sichhieraus ein vertieftes Verständnis zur Entwicklung vonZellen, Geweben und Organen.

Entsprechend ihrer Herkunft unterscheidet man em-bryonale Stammzellen (ES-Zellen), embryonale Keimzel-len (EG-Zellen) sowie somatische Stammzellen aus fetalemoder erwachsenem Körpergewebe. Gemeinsame Merkmaledieser Stammzellen sind ihre Vermehrungsfähigkeit und

 vor allem ihr Potenzial, in einzelne oder mehrere Zelltypenauszureifen. Allerdings ist diese Eigenschaft bei den ein-zelnen Stammzelltypen möglicherweise unterschiedlichausgeprägt. Die Unsicherheit an diesem Punkt hat Auswir-kungen auf die Debatte um die Zulässigkeit der Forschungmit humanen embryonalen Stammzellen, unterschiedliche

 juristische und ethische Probleme treten auf. Im Vorder-grund steht dabei, auf welche Art die Stammzellen ge-wonnen werden, weniger ihr Einsatz. Von Bedeutung istletztlich – aber nicht ausschließlich – dass für die Gewin-nung von ES-Zellen totipotente Zellen als Ausgangsbasisgenommen werden. Das sind Zellen, in denen die Fähig-keit steckt, einen ganzen Organismus zu bilden.

Humane ES-Zellen werden aus undifferenzierten Zellenfrüher Embryonalstadien nach künstlicher Befruchtunggewonnen. Bislang verwendeten die Forscher im Auslanddazu künstlich befruchtete Eizellen, die für die ursprüng-lich geplante Implantation nicht mehr eingesetzt werden

konnten. Seit neuestem sind ES-Zellen auch aus eigensdafür gespendeten Eizellen entwickelt worden. Dieser Herstellung von Embryonen rein zu Forschungszwecken

stehen schwer wiegende ethische Bedenken entgegen.EG-Zellen können aus Vorläuferzellen von Ei- und Sa-menzellen, so genannten primordialen Keimzellen, ge-wonnen werden. Sie können aus mehrere Wochen altenFeten nach einem künstlich herbeigeführten oder natür-lich bedingten Schwangerschaftsabbruch isoliert werden.Somatische Stammzellen werden im erwachsenen Orga-nismus oder aus fetalem Gewebe gewonnen, vor allemaus Organen mit hoher Reproduktionsfähigkeit. Eine wei-tere Möglichkeit für die Herstellung von Stammzellenbietet theoretisch das therapeutische Klonen. Durch denTransfer somatischer Zellkerne in entkernte Eizellen er-zeugte Zellen können wie befruchtete Eizellen weiterent-wickelt und hieraus ES-Zellen gewonnen werden. Es istwichtig, diese Möglichkeiten zu trennen.

Für die Gewinnung von humanen ES-Zellen sowie daswissenschaftliche Arbeiten mit ihnen ist das Embryonen-schutzgesetz maßgeblich. Es ist vor dem Hintergrund von

 Art. 1 Grundgesetz (GG) – Schutz der Menschenwürde –und der Aussage des Bundesverfassungsgerichts zum Be-ginn des Schutzes der Menschenwürde zu lesen. Das Bun-desverfassungsgericht ging in seinen Urteilen von 1993zum Schwangerschaftsabbruch davon aus, dass auch der Embryo von der abgeschlossenen Befruchtung an unter dem Schutz der Menschenwürde stehe. Es formulierte,dass sich das Grundrecht auf Leben auf individuellesmenschliches Leben beziehe und individuelles Leben „imSinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichenIndividuums” spätestens vom 14. Tag nach abgeschlosse-ner Befruchtung vorliege.

Hier sind zwei Gesichtspunkte zu berücksichtigen: DasBundesverfassungsgericht hat von Embryonen im Mut-terleib gesprochen. Inwieweit diese Rechtsprechung auf Embryonen in vitro wirklich zu übertragen ist, erscheintdiskussionswürdig. Zudem hat das Bundesverfassungsge-richt sich nur mit dem Schutz nach Einnistung befasst. Esdeutet sich zwar an, dass – im Interesse eines effektiven

 Vor dem Wissenschaftlichen Rat derMax-Planck-Gesellschaft hielt Prof.Rüdiger Wolfrum am 15. Februar diesesJahres in Berlin ein Referat, das Grundlagedes hier abgedruckten Aufsatzes ist. Erergänzt den Beitrag des Zellbiologen Prof.Peter Gruss, der in MaxPlanckForschung2/2001 (S. 66 f.) einen Überblick überden Stand der Forschungen und den mög-lichen Einsatz von Stammzellen in einerkünftigen „regenerativen Medizin“ gab.

   F   O   T   O  :   W   O   L   F   G   A   N   G   F   I   L   S   E   R

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Forschungsansätze zu verbieten, die möglicherweise ent-scheidende therapeutische Möglichkeiten eröffnen, nur weil die Gefahr des Missbrauchs durch einzelne Wissen-schaftler bestehen könnte. Ethische Bedenken müsstenkonsequent auch gegen den Import von Medikamentenoder Therapien bestehen, die auf der Stammzellenfor-schung beruhen. Übersehen wird dabei, dass auch dasStreben nach Erkenntniserweiterung sowie die Verbesse-rung der medizinischen Leistungen Anliegen sind, die eine

 verfassungsrechtliche Basis haben und deren grundsätzli-che ethische Wertigkeit nicht infrage gestellt werden kann.

RECH

ES-Zellen trifft letztlich der Gesetzgeber. Er muss die Ge-fahren und Möglichkeiten, die in der Forschung mitStammzellen liegen, gegeneinander abwägen. Der Preiseiner eingeschränkten Eröffnung dieser Forschung unter wissenschaftlicher und ethischer Kontrolle kann, gemes-sen an dem Schutz, den der Embryo im deutschen Rechtde facto genießt, gering gehalten werden.

Bedenken gegen eine Freigabe der Herstellung von hu-manen ES-Zellen in Deutschland werden wohl vor allem

 von der Befürchtung gespeist, dass hierdurch ein Einstiegin reproduktives Klonen und die Keimbahnintervention

 vorbereitet werden. Diese Bedenken sind vor allem mitBlick auf die Vorstellungen und Pläne einzelner Wissen-schaftler im Ausland ernst zu nehmen. Dass derartige Zie-le mit dem tradierten Menschenbild nicht zu vereinbarensind, bedarf keiner weiteren Begründung. Es ist aber mög-lich, die Verfolgung derartiger Ziele auszuschließen, auchwenn die Möglichkeit zur Herstellung von humanen ES-Zellen aus überzähligen Embryonen eröffnet würde.Ethisch erscheint es schwer vertretbar, wissenschaftliche

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würde den Tatbestand der Klonierung erfüllen. Die Stel-lungnahme der DFG verweist auf diesen Gesichtspunkt.

Nach der geltenden Rechtslage können sich Wissen-schaftler in Deutschland nur an der Forschung mit huma-nen ES-Zellen beteiligen, wenn sie diese aus dem Auslandimportieren. Der Import von ES-Zellen als solcher unter-liegt nach deutschem Recht keinerlei Einschränkungen,da es sich um pluripotente und nicht um totipotente, un-ter das Embryonenschutzgesetz fallende Zellen handelt.Bislang rechtlich irrelevant ist, in welchem Verfahren dieES-Zellen im Ausland erzeugt wurden. Allerdings ist dieEinfuhr von pluripotenten Stammzellen nach Deutsch-land nur dann rechtlich unproblematisch, wenn die Ein-führenden im strafrechtlichen Sinn weder als Anstifter noch als Gehilfen derjenigen einzustufen sind, die im

 Ausland embryonale Stammzellen herstellen. Ausge-schlossen ist daher eine finanzielle, technische oder per-sonelle Unterstützung der Herstellung embryonaler hu-maner Stammzellen im Ausland sowie die Anregung zu

deren Herstellung. Eine mögliche Strafbarkeit wegen An-stiftung oder Beihilfe ist – um dies auf eine einfache For-mel zu bringen – nur dann nicht gegeben, wenn kein Zu-sammenhang zwischen der Bestellung von humanen ES-Zellen und deren Herstellung besteht. Die bereits zitierteStellungnahme der DFG regt für den Import Einschrän-kungen an. Zulässig soll nur der Import von Stammzellensein, die aus überzähligen Embryonen entwickelt wordensind. Die Forschungsarbeiten sollen zudem genehmi-gungspflichtig werden. Angeregt wird auch die Errich-tung einer unabhängigen Überwachungsbehörde.

 An den Restriktionen für die Embryonenforschung oder – je nach vertretenem Standpunkt – an der Möglichkeitdes Imports von humanen ES-Zellen hat sich ethisch be-gründete Kritik entzündet. Kritisch gesehen wird teilweiseauch die Gewinnung von EG-Zellen. Dagegen sind gegendie Gewinnung somatischer humaner Stammzellen bis-lang kaum ethische Bedenken geltend gemacht worden.Je nach Standpunkt wird eine Verschärfung des Embryo-nenschutzgesetzes, dessen uneingeschränkte Beibehal-tung oder dessen Lockerung befürwortet.

Es gibt mehrere Gründe für die angesprochenen Vorbe-halte. Die Herstellung humaner ES-Zellen, sei es durchEntnahme aus einem Embryo in den ersten Tagen seiner Entwicklung oder über therapeutisches Klonen, setzt stetsden Einsatz einer totipotenten Zelle voraus. Von diesemPunkt an kann aus naturwissenschaftlicher Sicht vom Be-ginn des Lebens gesprochen werden, wobei diese Aussagenoch nicht zwangsläufig bedeutet, dass dieses werdendeLeben unter den vollen Lebensschutz gestellt sein muss.Das Bundesverfassungsgericht hat in der bereits angespro-chenen Entscheidung unter dem Gesichtspunkt der größt-möglichen Effektivität den Lebensschutz früh angesetzt.Diese Argumentation ist aus sich heraus schlüssig – wennman akzeptiert, dass die Fähigkeit zur Ganzheitsbildungden gleichen Lebensschutz verlangt wie der voll ausgebil-dete Mensch. Der Argumentation kann nicht entgegenge-

SSEN aus erster Hand 

halten werden, Anspruch auf Schutz des Lebens und der Menschenwürde stehe nur denjenigen zu, die zur Bildung

 von Bewusstsein fähig seien oder ein Interesse am Lebens-erhalt hätten. Damit würden gerade aus dem Lebensschutzdiejenigen, die auf ihn besonders angewiesen sind (Kran-ke, Behinderte oder sich entwickelndes Leben) ausgeklam-mert und damit die Zielrichtung des Lebensschutzes ver-kannt. Dieser will auch und insbesondere diejenigenschützen, die sich nicht selbst zu schützen vermögen. Allerdings muss aber auch – und darauf verweisen die

Kritiker des vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Ansatzes – der vom Gericht formulierte Lebensschutz desEmbryos im Kontext des Schutzes von Embryonen gese-hen werden, wie er im deutschen Recht verwirklicht ist.Man kann schwerlich einen Wertungswiderspruch zum

 Abtreibungsrecht leugnen, insbesondere nicht zur straf-freien Nidationshemmung. Das Abtreibungsrecht ebensowie die Möglichkeit der Nidationshemmung werden auseiner Abwägung zwischen den Interessen der Mutter und

dem Lebensinteresse des Embryos gerechtfertigt. Ein da-mit vergleichbarer Interessenkonflikt besteht bei Einsatz

 von Embryonen zur Gewinnung von ES-Zellen zwar nicht; aber die angesprochenen Regeln lassen doch zu-mindest erkennen, dass das Lebensrecht von Embryonennach geltender Rechtslage nicht absolut, sondern auf der Basis einer Güterabwägung disponibel sein kann. Dies ist

 von besonderer Relevanz, wenn die Herstellung humaner ES-Zellen auf so genannte überzählige Embryonen be-schränkt wird. Diese Embryonen haben keine Lebenser-wartung und deswegen, so wird argumentiert, könne ver-treten werden, dass sie vor ihrer Vernichtung für hoch-rangige Forschungsziele eingesetzt werden. Vorbehaltegegen die Herstellung von EG-Zellen beruhen im Wesent-lichen darauf, dass dies zu einer Vermehrung von Abtrei-bungen führen könnte. Dem kann aber durch entspre-chende Regelungen entgegengewirkt werden.

Gegen das therapeutische Klonen bestehen noch weitereBedenken. Es setzt nämlich in hohem Umfang Spenden hu-maner Eizellen voraus. Welches Verfahren auch immer dafür angewandt wird: Es degradiert die Frauen zur Liefe-rung von Material – eine Vorstellung, die nicht mit derenMenschenwürde in Einklang zu bringen ist. Dies sind dieGründe für die Ablehnung des therapeutischen Klonens inder Stellungnahme der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Gegen den Import von ES-Zellen wird geltend gemacht,dass die Verlagerung der Herstellung von humanen ES-Zellen einen Fall der Doppelmoral darstellt. Dabei bleibtunberücksichtigt, dass unterschiedliche rechtliche Rah-menbedingen in verschiedenen Staaten die Regel, nichtdie Ausnahme sind. Die Grundprinzipien internationaler Beziehungen verbieten es, anderen Staaten eigene Wert-

 vorstellungen aufzuzwingen. Alle Staaten haben, außer in bestimmten Ausnahmen, den Anspruch auf Achtungihrer Wertvorstellungen, wie auch Deutschland erwartet,dass seine Wertvorstellungen respektiert werden. Die Ent-scheidung über die Zulässigkeit der Herstellung humaner 

PROF. RÜDIGER WOLFRUM, geboren 1941,ist Direktor am Max-Planck-Institut für aus-ländisches öffentliches Recht und Völkerrechtin Heidelberg und Honorarprofessor der Rechts-wissenschaften an der Universität Heidelberg.Seit 1996 ist Wolfrum außerdem Vizepräsidentder Deutschen Forschungsgemeinschaft. In seinenForschungen beschäftigt er sich unter anderem

mit den Grundlagen des Völkerrechts, mit internationalem und natio-nalem Umweltrecht sowie mit internationalem Menschenrechtsschutz.

 Verschiedene Wege zur Herstellungmenschlicher embryonaler Stammzellen.Aus dem Gewebe von abgegangenen Fetenlassen sich pluripotente Zellen, die primor-dialen Keimzellen (in der Abbildung links)gewinnen, die jedoch nicht in allen ihrenEigenschaften gleichwertig mit embryo-nalen Stammzellen sind. In erster Liniewerden embryonale Stammzellen aus über-zähligen Embryonen gewonnen, die imRahmen von künstlichen Befruchtungenentstanden sind (Mitte der Abbildung).Ein weiterer Weg besteht im so genanntenZellkern-Transfer. Dieses Verfahren doku-mentiert zugleich das Prinzip des thera-peutischen Klonens. Dabei wird der Kerneiner vom Patienten stammenden norma-len Körperzelle in eine zuvor entkernteEizelle gebracht. Diese Zelle beginnt sichzu teilen und wächst zu einer Blastozyste,die in Gewebekultur genommen wird (inder Abbildung rechts). Unter bestimmtenWachstumsbedingungen lassen sich die

embryonalen Stammzellen zu verschiede-nen Zelltypen, wie Haut-, Knochenmark-,Nerven- oder Muskelzellen entwickeln.

In dem Artikel „Stammzellen: Stammkapitaleiner neuen Medizin“ in MPF 2/2001 ist uns Seite 68 ein Fehler unterlaufen: An MorbusParkinson leidet ein Prozent der Bevölkerunüber 60 Jahre – und nicht „fast ein Fünftel“.Wir bitten, dieses Versehen zu entschuldigeHautzellen

Spermatozoid

Isolierung derKeimbahnzellen

Befruchtung in vitro 

Kultur nichtdifferenzierter Zellen

Eizelle

Kulturenspezialisierter Zellen

5 Tage alter Embryo

Zelledes Patienten

(z.B. Hautzelle)

Kerntransfer

K no ch en ma rk N er ve nz el le n M us ke lz el le n

Zellen embryonalenUrsprungs(University of Wisconsin,

Madison/Geron)

„Verjüngung”somatischerZellen durchKerntransfer(Advanced

Cell Technology)

Zellen fetalen Ursprungs(John-Hopkins

University/Geron)

Fetus (natürlicher Abort) Patient

Rinder-Eizelle

ohne Kern

5 Tage alter Embryo

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100 Jahre VOGELWAR

Das bedeutete ein Mammutpro-gramm für den Einmannbetrieb, der mit Thienemann startete. Trotz sei-ner bescheidenen Arbeitsmöglichkei-ten versuchte Thienemann zunächstallen in den Satzungen verankerten

Forschungsaufträgen gerecht zuwerden. Vor allem betrieb er anfäng-lich viel praktischen Vogelschutzund führte beispielsweise umfang-reiche Versuche mit künstlichenNisthöhlen durch oder untersuchtedie Beziehungen des Vogelschutzeszur Land- und Forstwirtschaft, spe-ziell zur Obstkultur und Bienenzuchtsowie zur Jagd.

Später rückte Thienemann vompraktischen Vogelschutz ab und kon-zentrierte sich mehr und mehr auf die Vogelzugforschung. Was den Vo-gelschutz anbelangt, glaubte er „ihmam besten dienen zu können, wenner durch die Zugforschung die dem

 Vogel auf dem Zuge und im Winter-quartier drohenden Gefahren auf-helle und im Übrigen vor allemgrundsätzlich den Menschen zu ei-nem guten und gesunden Verhältniszur Vogelwelt erziehe.“

In der Vogelzugforschung Thiene-manns verschoben sich die Schwer-punkte immer weiter von der über-wiegend beschreibenden Darstellunghin zu ersten Analysen der Ursachenund der Steuerungsmechanismen des

 Vogelzugs sowie zur Durchführungerster Experimente. Das herausra-gende und bleibende Verdienst Thie-nemanns ist das „Vogelberingungs-experiment“, also die Einführung der 

68   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

SSENSCHAFTSgeschichte 

Im Jahr 1901 wurde auf der Kuri-schen Nehrung im ehemaligen Ost-

preußen eine erste „ornithologisch-biologische Beobachtungsstation“gegründet: die Vogelwarte Rossitten.Schon von ihrer Satzung her weitmehr als eine Feldstation, entwickel-te sich die Vogelwarte aus bescheide-nen Anfängen zu einem erfolgrei-chen Institut mit breit angelegtenForschungskonzepten. Entstandenaus einer Privatinitiative, führte ihr 

 Werdegang über die Deutsche Or-nithologische Gesellschaft (DOG), dieKaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG,ab 1923) und über die Max-Planck-Gesellschaft (seit 1946) schließlichzur Max-Planck-Forschungsstelle für Ornithologie (ab 1998) – und dieseEntwicklung als Institution spiegelteinen guten Teil der Entwicklung or-nithologischer Forschung wider, dieim Folgenden dargestellt wird.

Gegen Ende des 19. Jahrhundertswar die Zeit reif für die Gründungeiner Vogel-„Warte“, also eines Insti-tuts im Sinne einer Sternwarte, dochin diesem Fall zur Beobachtung

Einen „Vogelzug, so gewaltig, wie e r bisher noch nie in Deutsch-

land beobachtet worden war“, erlebte JOHANNES THIENE-

MANN, als er 1896 zum ersten Mal die Kurische Nehrung besuchte. Aus diesem Eindruck keimte die 

Idee, „…ob sich hier nicht etwas Bleibendes schaffen ließe“. Diese Idee wurde 1901 mit der Gründung 

der VOGELWARTE ROSSITTEN Wirklichkeit – und lebt seit 1946 in der VOGELWARTE RADOLFZELL

erfolgreich fort, wie deren Direktor PROF. PETER BERTHOLD im folgenden Bericht schildert.

rste Institutsgebäude der Vogelwarte Rossitten –

hemalige Atelier des Tiermalers Heinrich Krüger.

   F   O   T   O  :   H   E   N   R   I   C   I ,   U   M

   1   9   0   0

Ernst Schüz und Rudolf Kuhk vor Schloss Möggingen, dem

Hauptsitz der Vogelwarte Radolfzell, beim Neuanfang des Inst

   F   O

   T   O  :   A   R   C   H   I   V   V   O   G   E   L   W   A   R   T   E ,   U   M

   1   9   4   6nithologischen Beobachtungsstation

in Rossitten“ eine entsprechende In-stitutsgründung vorschlug, zu der esbereits ein Jahr später kam. Er selbstschwor der Theologie ab, studierteBiologie und wurde in der unter 

„unsäglichen Mühen“ gegründeten„Vogelwarte Rossitten“ bald zumweltweit bekannten „Vogelprofessor“.Im Jahr 1923 übernahm die KWGdas Institut, das damit eine solide

 Arbeitsbasis erhielt.Der Rahmen der Forschung wurde

für das neu gegründete Institut inRossitten durch die vorgegebenenSatzungen der DOG unter „Zweck der Vogelwarte“ überaus weit abge-steckt. Er umfasste nicht wenigerals neun Hauptuntersuchungsgebie-te, nämlich

• Beobachtung des Vogelzugs,untergliedert in neun Teilgebietewie Zugzeit der einzelnen Arten,Richtung der Wanderzüge oder Höhe und Schnelligkeit des

 Wanderfluges,• Beobachtung der Lebensweiseder Vögel,• Untersuchungen über Mauser und Verfärbung,• Abschätzung des wirtschaft-lichen Wertes der Vögel,• Untersuchungen über zweck-mäßigen Vogelschutz,• Einrichtung einer Vogel-sammlung,• Beschaffung von Untersu-chungsmaterial für die wissen-schaftlichen Staatsinstitute,• Ausweitung einzelner Punkteauf andere Tierklassen und• Verbreitung der Kenntnis desheimatlichen Vogellebens.

niedriger fliegender „Himmelskör-per“ – vor allem wandernder Zugvö-gel. Die Vorstellungen Aristoteles`,des Begründers der wissenschaftli-chen Vogelforschung, vom „Winter-schlaf“ der Vögel – insbesondere der 

Schwalben – im Schlamm von Ge-wässern oder die Transmutations-theorie – die Umwandlung von„Sommer-“ in „Wintervögel“ – wa-ren überholt. Und auch noch so ge-naue Beobachtungen Einzelner, wie

 von Friedrich II. in seinem berühm-ten Werk „De arte venandi cum avi-bus“ dargestellt, waren an ihre Gren-zen gestoßen.

Zufallsbeobachtungen und Berich-te von Reisenden wiesen inzwischenauf kontinentweite, ja sogar welt-weite Wanderbewegungen von Zug-

 vögeln hin. Das zu belegen erforder-te angemessene Forschungsmetho-den und -einrichtungen, und sowurde auf dem ersten „Internationa-len Ornithologen-Kongress“ 1884 in

 Wien in einer speziellen Sitzungtagelang über die „Einrichtung von

 Vogelbeobachtungsstationen über die ganze bewohnte Erde“ beraten.

VOM THEOLOGEN

ZUM „VOGELPROFESSOR“Die in Wien gewonnenen Ideen

führten dann in Deutschland zu ei-ner Initialzündung: Johannes Thie-nemann war zum einen von der Ideeeiner Vogelwarte und zum anderen

 von dem Vogelzugparadies KurischeNehrung in der „Preußischen Wüste“so begeistert, dass er der DOG beideren Fünfzig-Jahr-Feier 1900 inLeipzig in einem zündenden Vortragüber „Zwecke und Ziele einer or-

Von der Preußischen Wüste

ans Schwäbische Meer Von der Preußischen Wüste

ans Schwäbische Meer 

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100 Jahre VOGELWAR

chen Erfassung von Singvogelbe-ständen, wie sie von der VogelwarteRadolfzell mittels standardisierter Fangverfahren im „Mettnau-Reit-Illmitz-Programm“ entwickelt wur-den. Zwar stehen heute hochmoder-ne neue Methoden zur individuellen

 Verfolgung von Zugvögeln zur Verfügung, etwa die Satelliten-Telemetrie; doch wird die herkömm-liche Beringung höchstwahrschein-lich noch jahrzehntelang eine domi-nierende Rolle spielen, allein wegenihrer relativ geringen Kosten und ih-rer hohen Effizienz.

EIN HISTORISCHER

VERSUCH – NEU AUFGELEGT

Noch kurz vor seinem Ruhestand(1929) führte Thienemann so ge-nannte Auflassversuche mit Schwal-ben und Störchen durch, mit denener die Orientierungsforschung einlei-tete – etwa zu derselben Zeit, als der Kanadier W. Rowan die ersten Expe-rimente zur Klärung der Steuerungs-mechanismen des Vogelzugs begann.

 Von 1926 bis 1928 aufgezogene,zurückgehaltene und spät (nach Ab-zug der Altstörche) aufgelasseneJungstörche zeigten auch ohneFührung durch Altvögel normalesZugverhalten bis in das Schwarz-meergebiet. Von dort an wichen sienach Westen ab, worin Schüz später eine „Abirrung“ vermutete. Aus heu-tiger Sicht könnte es sich dabei umeine (genetisch) programmierte Rich-tungsänderung handeln, die Störchegenerell vornehmen, wenn sie dieSinai-Halbinsel überflogen habenund in den Sudan und Tschad wan-

dern. Diese spannende Frage unter-suchen wir zurzeit gemeinsam mitrussischen Kollegen durch Wieder-holung des Thienemannschen Ver-suchs, wobei die Jungstörche in demRossittener Nachfolgeinstitut vor Ort– der Biologischen Station Rybachy – aufgezogen und nach ihrer Freilas-sung mithilfe der Satelliten-Teleme-trie fortwährend geortet werden.

Die Zeittafel auf Seite 70 zeigt,dass sich nach dem Übergang der 

70   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

SSENSCHAFTSgeschichte 

Heute sind allein in Europa 37 natio-nale Beringungszentralen tätig, mitderen Ringen jährlich rund drei Mil-lionen Vögel markiert werden. Welt-weit sind inzwischen mehr als 200Millionen Vögel beringt worden, undMillionen Wiederfunde und Wieder-fänge beringter Individuen geben

 Aufschluss über Zugwege und -zei-ten, über Winterquartiere, Rastgebie-te und vieles mehr: So kennt man in-zwischen das weltumspannende Netz

 von Vogelzugrouten zumindest inallen wesentlichen Einzelheiten.

Inzwischen hat die Beringung vie-le neue Arbeitsbereiche erschlossen,wie etwa das detaillierte Studium

 von Vogelpopulationen mithilfe vonFarbringen – das ebenfalls schon inRossitten begonnen wurde – oder dieregelmäßige Durchführung von„Volkszählungen“ zur kontinuierli-

 Vogelberingung auf breiter Basis, diekurz vor der Gründung Rossittensder dänische Lehrer Christian Mor-tensen erfunden hatte. Mit dem Aus-bau dieser individuellen Kennzeich-nung von Vögeln durch Metallringeam „Lauf“ (am unteren, mit Horn-schildern bedeckten Teil des Beins)

 verhalf Thienemann einer wissen-schaftlichen Methode zum Welter-folg, die selbst heute – nach hundertJahren – immer noch ausgeweitetwird, insbesondere in Afrika, Asienund Südamerika, aber auch in Euro-pa, und hier auch mit neuartigenKunststoffringen.

In der „Rossittenzeit“ wurden bis

zum Ende des Zweiten Weltkriegsinsgesamt rund eine Million Vögelberingt, im Bereich der VogelwarteRadolfzell als Nachfolgeinstitut seit1946 etwa 4,5 Millionen Individuen.

Johannes Thienemann (rechts)

und Oskar Heinroth 1929 in Königsberg.

Leitung der Vogelwarte Rossitten auf Oskar Heinroth (als Direktor vonBerlin aus) und Ernst Schüz am In-stitut die Arbeitsbereiche alsbaldweiterentwickelten: Es kamen Be-standsaufnahmen dazu, ferner brut-biologische und ökologische Studien,

 Versetzungsexperimente und schließ-lich zugphysiologische Untersuchun-gen, insbesondere von P. Putzig, der sich unter anderem mit der Rolle der Schilddrüse bei der Zugsteuerungbeschäftigte.

Schon bald hatte die überaus er-folgreiche Institutsarbeit in RossittenNachfolger gefunden: bereits 1908 inder Ungarischen Ornithologischen

Centrale, 1910 in der VogelwarteHelgoland (der sich 1936 als drittedeutsche Vogelwarte Hiddensee zu-gesellte) und im Laufe der Jahre inden meisten Ländern der Welt, so in

 jüngster Zeit in Albanien, Slowenienund im türkischen Teil Zyperns.

Nach dem Verlust von Rossitten,bedingt durch den Zweiten Welt-krieg, wurde das Institut 1946 als„Vogelwarte Radolfzell“ am Boden-see von der Max-Planck-Gesellschaftweitergeführt. Diese Umsiedlungquer durch Deutschland kam nichtzufällig zu Stande, sondern vor al-lem durch die persönlichen Bezie-hungen zwischen ihrem späterenHauptförderer Baron Nikolaus vonund zu Bodman und Ernst Schüz.

Baron von Bodman hatte alsgroßer Natur- und spezieller Vogel-freund bereits einen Verein „Süd-deutsche Vogelwarte“ mitgestaltet,ferner von 1938 – 1944 eine „Berin-gungszentrale für Baden und Würt-

temberg“ als Zweigstelle von Rossit-ten eingerichtet und hegte schonlange den Wunsch nach einer „rich-tigen“ Vogelwarte in seinem Bereich.Da auch Schüz, als Schwabe, einer Rückkehr in den süddeutschen Raumkeineswegs abgeneigt war, bezogdie Vogelwarte gern die angeboteneNotunterkunft im WasserschlossMöggingen derer von und zu Bod-man. Damals konnte man noch nichtahnen, in welches ornithologische

   F   O   T   O  :   K   R   A   U   S   K   O   P   F

Entwicklung der

Aufgabenbereiche der

 Vogelwarte Rossitten unter

Johannes Thienemann und

Ernst Schüz. Träger der

 Vogelwarte bis 1923 wardie Deutsche Ornitholo-

gische Gesellschaft, danach

die Kaiser-Wilhelm-

Gesellschaft.

   N   A   C   H   A   S   C   H   O   F   F ,

   1   9   7   7

Generalsekretär der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft,

riedrich Glum, beim 25-jährigen Jubiläum der Vogel-

e Rossitten am 1. Juni 1926 vor der Außenstation

enhorst“; Dritter von links: Johannes Thienemann.

   F   O   T   O  :   A   R   C   H   I   V   V   O   G   E   L   W   A   R   T   E

Bei der wissenschaftlichen Arbeit in Rossitten

im Jahre 1930: Rudolf Mangels, Werner Rüppell,

Gustav Kramer.

„Storchversuchsherde“ der Vogelwarte Rossitten

n 20er-Jahren für Orientierungsversuche.

   F   O   T   O  :   A   R   C   H   I   V   V   O   G   E   L   W   A   R   T   E

   F   O   T   O  :   S   C   H    Ü   Z ,

   1   9   3   3

Teilnehmerkarte der Vogelwarte Rossitten für

Absolventen von Beringungskursen in den 30er-Jahren.

   F   O   T   O  :   A   R   C   H   I   V   V   O   G   E   L   W   A   R   T   E

Jungstörche auf dem Transport zur

 Vogelwarte Rossitten für Orientierungsversuche.

   F   O   T   O  :   S   C   H    Ü   Z ,

   1   9   3   3

Das Museumsgebäude der Vogelwarte Rossitten

mit Volierenanlage Mitte der 30er-Jahre.

   F   O   T   O  :   S   C   H    Ü   Z

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100 Jahre VOGELWAR

72   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

SSENSCHAFTSgeschichte 

Paradies das Institut damit verlagertworden war: Die Reichhaltigkeit desBodenseebeckens an Brut-, Zug- undRastvögeln, an Habitaten in einer ausgeprägten Mosaiklandschaft undinzwischen an Naturschutzgebietenübertrifft die Region um Rossittenbei weitem und machte das neue

 Wirkungsgebiet zu einem Eldoradofür ornithologische Forschung.

So wurde aus der Notaufnahme ei-ne dauerhafte Bleibe. Die Vogelwartehat heute noch ihnen Hauptsitz inSchloss Möggingen, in freundschaft-lichem Einvernehmen mit dem jetzi-gen Schlossherrn, Dr. Konrad Frei-herr von und zu Bodman und seiner 

Familie, und ist zu einer wohl etab-lierten Einrichtung in Baden-Würt-temberg geworden, mit engen Ver-bindungen zu den Universitäten inKonstanz, Freiburg und Tübingen. Wegen ihrer geringen Größe blieb

die Vogelwarte über lange Zeit anandere Institute oder Abteilungenangegliedert oder wurde von aus-wärtigen Direktoren in Verbindungmit örtlichen Leitern geführt. Mitdem Ruhestand Thienemanns wurdeErnst Schüz von 1929 bis 1936 örtli-cher Leiter, während Oskar Heinroth

 vom Berliner Zoo aus dem Institutals Direktor vorstand, bis Schüz dieLeitung von 1936 bis 1959 ganzübernahm. Mit der Angliederung der 

 Vogelwarte an das Max-Planck-In-stitut für Verhaltensphysiologie(MPIV) sollte sie Gustav Kramer alseigener Direktor leiten, der jedochnoch im Berufungsjahr 1959 beimBeschaffen von Versuchsvögeln töd-lich verunglückte. Danach war die

 Vogelwarte der Reihe nach an die Abteilungen von Konrad Lorenz(1959 bis 1967), Jürgen Aschoff (1967 bis 1979), Wolfgang Wickler (1979 bis 1991) und Eberhard Gwin-ner (1991 bis 1998) angegliedert,während in Radolfzell Rudolf Kuhk (1946 bis 1967), Hans Löhrl (1967bis 1976), Eberhard Gwinner (1976bis 1991) und Peter Berthold (1991bis 1998) die örtliche Leitung inne-hatten.

Dieser häufige Wechsel in der Oberleitung des Instituts hat der Vo-gelwarte viele wesentliche und ent-scheidende Impulse gebracht, so et-wa die Ära Lorenz in Hinblick auf 

 Vogelhaltung und ethologische Stu-dien oder die Periode Aschoff inBezug auf die Hinwendung zu bio-rhythmischen Fragestellungen. Dasssich die Forschung in Radolfzell so-wohl vertieft als auch stark in dieBreite entwickelt hat, lag an einer Reihe von Gründen: Zum einenwirkten die oben genannten vielsei-tigen Einflüsse von außen, ferner konnte man auf den in Rossitten auf breiter Basis geschaffenen Grundla-

gen aufbauen. Dazu kamen besonde-re Herausforderungen an Ornitholo-gen, bedingt vor allem durch Vogel-bestandseinbrüche sowie durch all-gemeine Umweltveränderungen. Undschließlich bestand seit der Studien-zeit eine enge Zusammenarbeit zwi-schen Eberhard Gwinner und dem

 Autor dieses Berichts.Die Arbeit der Vogelwarte Radolf-

zell umfasst heute mehr als zehnForschungsgebiete mit zahlreichenDetailbereichen, nämlich Vogelzug-forschung in Feld und Labor in fastallen derzeit aktuellen Teilgebieten,Jahresperiodik, Evolutionsbiologie,

 Verhaltens- und Populationsgenetik,Molekularbiologie, Populationsdy-namik, Brutbiologie und Paarungs-systeme, Ernährungsbiologie und

 Verbreitung, Ökomorphologie und Verhaltensökologie sowie breit an-gelegte Grundlagenforschung imBereich des Arten- und Umwelt-schutzes.

TROTZ KRISEN

„WÜRDIG GEALTERT“

 Wenige Institute erreichen ein ehr-würdiges Alter von hundert Jahren,aber noch weit wenigeren ist es be-schieden, durch eine Krisensituationzu mehreren Nachfahren zu kommenund so weiter existieren zu können.Genau das ist mit der VogelwarteRossitten geschehen: Sie hat nichtnur, wie bereits beschrieben, nach

hard Gwinner geleitet. Da beide In-stitutsleiter in wenigen Jahren eme-ritiert werden, ist für die Zukunfts-planung eine Stammkommissioneingesetzt worden, die im Augustdieses Jahres ihre Arbeit aufgenom-men hat. Die Institutsleitung siehtderzeit in Übereinstimmung mit demFachbeirat und der Forschungsfeld-kommission der Max-Planck-Gesell-schaft zukunftsträchtige Forschungs-schwerpunkte im Bereich der Ge-biete Biodiversität, Evolutionsbiolo-gie, Biorhythmik, Populationsöko-logie und Ökophysiologie, bei der 

 Vögel als Modelle für Untersuchun-gen im Spannungsfeld der rezenten

Klimaerwärmung, rascher Biodiver-sitätsänderungen und mikrorevolu-tiver Prozesse eine hervorragendeRolle spielen könnten. DetaillierteForschungskonzepte zu diesen The-men sind erstellt und werden gegen-wärtig diskutiert.

dolfzell – zusammen. So betreibenbeide Institute eine gemeinsameFangstation in Rybachy, eingerichtetnach den Richtlinien des „Mettnau-Reit-Illmitz-Programms“, und man

 verfolgt Weißstörche aus der RegionKönigsberg mithilfe der Satelliten-Telemetrie. Außerdem werden Wis-senschaftler und Doktoranden aus-getauscht – und so lebt das ErbeThienemanns an zwei Orten gedeih-lich fort.

Im Jahr 1998 wurde das MPI für  Verhaltensphysiologie in Seewiesengeschlossen, und die in Andechs an-gesiedelte ornithologische Abteilungsowie die Vogelwarte Radolfzell

wurden zusammen als eine „Max-Planck-Forschungsstelle für Ornitho-logie“ ausgegründet. Die beiden Ab-teilungen „Vogelwarte Radolfzell“und „Biologische Rhythmen und

 Verhalten“ werden derzeit von denDirektoren Peter Berthold und Eber-

dem kriegsbedingten Ende 1946 ihre Arbeit als „Vogelwarte Radolfzell“im Rahmen der MPG in Süddeutsch-land wieder aufgenommen, sondernes wurden auch am alten Platz imehemaligen Rossitten nach einiger Zeit die Arbeiten weitergeführt: 1956wurde im Fischerdorf mit dem neuenNamen „Rybachy“ auf Betreiben desOrnithologen L. O. Belopolskij die„Biologische Station Rybachy“ ge-gründet, und zwar als Außenstelledes Zoologischen Instituts der Russi-schen Akademie der Wissenschaftenin St. Petersburg.

Die Arbeiten dieser Station geltenüberwiegend ornithologischen Fra-

gen und insbesondere dem Vogelzug.Sie wird heute mit ihren rund dreißigMitarbeitern großenteils von der Sielmann-Stiftung unterhalten undarbeitet in verschiedenen Bereicheneng mit westlichen Partnern – vor allem auch mit der Vogelwarte Ra-

r Berthold und Alexander Bardin, Institutsdirektoriologischen Station Rybachy, 1991 vor dem Instituts-

ude in Rybachy, mit der neuen und alten Institutstafel.

   F

   O   T   O  :   Q   U   E   R   N   E   R

rbeiter der Vogelwarte Radolfzell 1946

Fang von Singvögeln zur Beringung im

fgürtel des Bodensees (Markelfinger Winkel).

   F   O   T   O  :   A   R   C   H   I   V   V   O   G   E   L   W   A   R   T   E

Treibholz errrichteter Beobachtungsstand

Vogelwarte Rossitten auf der Kurischen Nehrung

Rudolf Mangels, Friedrich-Wilhelm Merkel,

kannt, Dieter Schüz).

   F   O   T   O  :   S   C   H    Ü   Z ,   U   M

   1   9   3   5

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3 / 2 0 0 1 M A X P L A N C K F O R S C H U N G   75

FREMDEN feindlichk

74   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

RSCHUNG & Gesellschaft 

meldet worden. Dies entspricht ei-nem Anstieg von 58,9 Prozent im

 Vergleich zum Vorjahr. In Nord-rhein-Westfalen spricht man sogar 

 von einem Anstieg um 74,1 Prozent.Besonders Besorgnis erregend ist dieZunahme von Gewaltdelikten, also

 von Straftaten wie beispielsweise Tö-tungsdelikten, Körperverletzungen,Brandstiftungs- und Sprengstoffde-likten, Landfriedensbruch oder Raub.Insgesamt wurden 998 Gewaltdelik-te, die dem gesamten rechtsextremorientierten Spektrum (rechtsextre-mistische, fremdenfeindliche, antise-mitische Delikte) zuzurechnen sind,registriert. Dies entspricht einer Stei-gerungsrate von rund 34 Prozent im

 Vergleich zum Vorjahr. Die Zahl der Gewaltdelikte im Bereich des Rechts-extremismus nahm von 279 auf 328und damit um 17,6 Prozent zu. Be-sonders markant, nämlich um 42,1Prozent, ist die Zahl der fremden-feindlich motivierten Gewaltdeliktegestiegen: von 451 auf 641. Die Zahlder antisemitisch motivierten Ge-waltdelikte stieg von 16 auf 29.

eutschland muss stärker gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und rechtsextreme Gewalt

rgehen. Das hat die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) beim

roparat jüngst in ihrem zweiten Bericht gefordert – ein Wunsch, den die Juristin DIDEM AYDIN

m MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR AUSLÄNDISCHES UND INTERNATIONALES STRAFRECHT

reiburg) teilt. Bei einem Besuch von BUNDESJUSTIZMINISTERIN  HERTA DÄUBLER-GMELIN

Institut hielt sie folgenden Vortrag, der als Essenz ihrer Promotion anzusehen ist, die

e gerade bei PROF. HANS-JÖRG ALBRECHT, Direktor der kriminologischen Abteilung,

geschlossen hat. Aydin plädiert für einen differenzierten Umgang der Rechtspolitik mit der

emdenfeindlichkeit sowie für eine systematische und eingehende statistische Erfassung.

Farid Guendoul alias Omar BenNoui wird am 13. Februar 1999

 von rechtsradikalen Jugendlichen inGuben (Brandenburg) gehetzt undbedroht. In panischer Angst tritt er die Glastür eines Hauses ein, um sichzu retten. Dabei verletzt er sich aneiner Schlagader. Er verblutet imHausflur. 21 Monate nach dieser töd-lichen Hetzjagd verurteilt das Cott-busser Landgericht acht Täter wegenfahrlässiger Tötung. Drei der elf An-geklagten erhalten Haftstrafen. Zweikommen mit Verwarnungen und

 Auflagen, die übrigen mit Be-währungsstrafen davon. Die Strafenlösen Bestürzung aus. Der Vizepräsi-dent des Zentralrats der Juden inDeutschland, Michel Friedman, sagt:„Es ist nicht nachvollziehbar, dassJugendliche, die den Tod eines Men-schen verursacht haben, mit Be-währungsstrafen davonkommen.“

Szenewechsel. Skinheads singen ineinem Konzert das folgende Lied:„Denke so wie ich, könnt ihr es ver-stehen, könnt ihr ertragen, tausendTürken hier zu sehn, dann macht doch

endlich Schluss, ihr seid wohl genug,macht es wie damals und steckt sie inden Zug.“ Dieser Text ist von der Bundesprüfstelle für jugendgefähr-dende Schriften indiziert worden.

Das sind zwei Beispiele von kon-kreten Taten, die zu erkennen geben,worum es sich bei der fremdenfeind-lichen Kriminalität handelt. Wie ist die Situation in Deutsch-

land? Der allgemein vorherrschendeEindruck, wonach rechtsextremisti-sche, antisemitische und fremden-feindliche Taten zunehmen, findetmittlerweile in den Statistiken, etwawas die Summe der gemeldeten Ta-ten betrifft, seine Bestätigung. Undnach Angaben des Jahresberichts1999 der Europäischen Stelle zur Be-obachtung von Rassismus und Frem-denfeindlichkeit gelten ähnliche Ver-hältnisse für ganz Europa. InDeutschland ist im Jahr 2000 dieZahl der gemeldeten rechtsextremis-tischen, fremdenfeindlichen und an-tisemitischen Straftaten erheblichangestiegen. Insgesamt sind in die-sem Bereich 15.951 Straftaten ge-

Die Opfer braucheneine Stimme

Bei der Analyse dieser Tendenzensollte die Tatsache berücksichtigtwerden, dass der Anstieg der Fall-zahlen zum Teil auch auf ein verän-dertes Anzeigeverhalten, auf eine er-höhte Wachsamkeit von Polizei undauf verstärkte Einsätze zurückge-führt werden kann. Ferner muss manbetonen, dass insbesondere nach

 Anschlägen, über die von den Medi-en intensiv berichtet wird, die De-liktzahlen explosionsartig ansteigen,dass sie aber parallel zu der geringe-ren Präsenz des Themas in den öf-fentlichen Debatten wieder absinken.Freilich ist es offensichtlich, dassdiese Art von Kriminalität in der Ge-sellschaft stets besonders präsent istund bedrohlich wirkt.

Rechtsextremistische oder frem-denfeindliche Gewalt ist keine Spe-zialität der fünf neuen Bundesländer,sondern ein Problem der ganzen Re-publik, sogar von ganz Europa.

 Während in Westdeutschland viele Anschläge anonym und von Einzel-personen ausgeführt werden, kommtes in Ostdeutschland dagegen seit

zehn Jahren immer wieder zu Fällen von Menschenjagd durch Gruppen junger Männer. Für ganz Deutsch-land aber gilt: Obwohl fremden-feindliche Straftaten oft von Jugend-lichen begangen werden, gilt diesnicht ausschließlich. Und fremden-feindliche Täter handeln nicht unbe-dingt im Namen der nationalsozia-listischen Ideologie. Weder verbalenoch gewalttätige aktuelle Fremden-feindlichkeit könnte als eine Vorbe-reitung auf die Rassenvernichtungangenommen werden. Insofern fragtsich in diesem Zusammenhang, obgeltende Instrumentarien der wehr-haften Demokratie altmodisch sind.

Die zwei Tatbeispiele am Anfangweisen auf zwei Arten von Fremden-feindlichkeit hin: einerseits verbale,andererseits gewalttätige, die unter-schiedliche strafrechtliche Reaktio-nen hervorrufen. Der Begriff Frem-denfeindlichkeit beinhaltet eine Viel-falt von Handlungen, die einen dif-ferenzierten Umgang des Strafrechtsbenötigen, der den zweckmäßigenPerspektiven über die Natur und Er-

scheinungsformen der Fremden-feindlichkeit Rechnung trägt. DiesePerspektiven bestimmen auch dieBeantwortung der Frage danach,woran man strafbare Fremdenfeind-lichkeit erkennt und wie man sie an-gemessen bekämpft.

Perspektive der Vorurteilsbekämp-fung: Von Bedeutung ist für diesePerspektive die gesellschaftliche Er-ziehung oder Umerziehung; Straf-recht wird dabei keine besondereRolle zugeschrieben, gesellschaftliche

 Anti-Rassismus-Programme werdenbevorzugt.

Die Perspektive der Bekämpfungder nationalsozialistischen Ideologieund der wehrhaften Demokratie ver-sucht mit Mitteln der Überwachung,insbesondere verbale Fremdenfeind-lichkeit und ideologisch geprägtegewalttätige Fremdenfeindlichkeit zubekämpfen – Stichwort: Verfassungs-schutzbehörden, Verein und Partei-

 verbote.Die Perspektive der Hass-Bekämp-

fung fordert ein Modell „hate cri-mes“ und die prinzipiell verschärfte   F

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FREMDEN feindlichk

Sanktionierung der fremdenfeindlichmotivierten Straftaten.

Die Perspektive der Anti-Diskrimi-nierung bevorzugt den zivil- undstrafrechtlichen Schutz von benach-teiligten Gruppen vor Diskriminie-rung. Anti-Diskriminierungskom-missionen, Klagen gegen Diskrimi-nierung werden eingeführt. So wird

 versucht, das Strafrecht dadurch zuentlasten, dass man außerhalb desStrafrechtssystems dafür sorgt, dassdie potenziellen Opfer in der Gesell-schaft stärker auftreten, was ihre

 Viktimisierung aufgrund der Schwä-che schwieriger macht.

Die Perspektive des Schutzes der  verletzlichen Opfer plädiert für eine verschärfte Bestrafung der Begehungeiner Straftat gegen tatsächlich

 verletzliche Personen, Obdachlose,Schwule, Ausländer.

Die Perspektive des konflikttheore-tischen Ansatzes denunziert die ge-sellschaftsstrukturelle Befürwortungder Fremdenfeindlichkeit, stellt dengeltenden gesellschaftlichen Diskursin der Mitte der Gesellschaft über 

 vorwiegend außerstrafrechtliche The-men wie Zuwanderung, Asyl, Aus-länderkriminalität, Diskriminierung,doppelte Staatsangehörigkeit infrage,betrachtet die Zunahme der fremden-feindlich motivierten Straftaten unddie Frage nach der Rolle des Straf-rechts in der Bekämpfung solcherTaten aus diesem breiteren Horizontund fordert eine gesellschaftspoliti-sche Gesamtpaketlösung.

Das deutsche und zum großen Teilauch das europäische Strafrecht wirdim Bereich der verbalen Fremden-feindlichkeit durch die Perspektiveder Ideologienbekämpfung mit In-strumentarien einer wehrhaften De-mokratie charakterisiert, im Bereichder gewalttätigen Fremdenfeindlich-keit werden keine besonderen Maß-

nahmen befürwortet. Deutschlandund viele andere europäische Staa-ten verfolgen verbale Fremdenfeind-lichkeit mit einer Reihe von Vor-schriften besonders hart (zum Bei-spiel in Artikel 130 Strafgesetzbuchzum Punkt Volksverhetzung). Verba-le Fremdenfeindlichkeit wird als eine

 Vorstufe der Rassenvernichtung be-trachtet und mit Mitteln der Über-wachung (Stichwort: Verfassungs-schutzbehörde, Verein- und Partei-

 verbote) bekämpft. Es bestehen zwi-schen den Strafgesetzen verschiede-ner europäischer Staaten zwar unter-schiedliche Formulierungen, dasGrundkonzept ist aber die Bestrafung

 vom Aufstacheln zum Rassenhassund des Leugnens des Holocaust. Andererseits bestehen vor allem in

Deutschland keine besonderen straf-gesetzlichen Maßnahmen gegen ge-walttätige Fremdenfeindlichkeit. Alseines der seltenen Beispiele in Euro-pa sieht seit 1998 das Vereinigte Kö-nigreich verschärfte Strafen für ras-sistisch motivierte Straftaten vor. Dieeinzigen Möglichkeiten in Deutsch-

land sind die Anwendung der Klau-sel der niedrigen Beweggründe beimTatbestand des Mordes, wenn es sichum ein rassistisches oder fremden-feindliches Tötungsdelikt handelt, daTötung aus rassistischem Hass vonder Rechtsprechung als eine Tötungaus niedrigen Gründen betrachtet

wird. Ferner ist der Richter gemäß Artikel 46 Absatz 2 des Strafgesetz-buches (StGB) verpflichtet, die ausder Tat sprechende Gesinnung desTäters bei der Strafzumessung zuberücksichtigen. Dies bedeutet aber keine automatisch verschärfte Be-strafung, denn die anderen Umstän-de, die für den Täter sprechen, müs-sen gegen die fremdenfeindliche Ge-sinnung abgewogen werden. Angesichts der Besorgnis erregen-

den Dimensionen der strafbarenFremdenfeindlichkeit und der Zunah-me von rechtsextremistisch, frem-

denfeindlich und antisemitisch moti- vierten Straftaten muss man sich alsofragen, ob nicht besondere straf-rechtliche Maßnahmen nötig sind,um gewalttätige Fremdenfeindlich-keit besser ahnden zu können.

Die Standpunkte dazu sind unter-schiedlich. So weist etwa Justizmi-nisterin Herta Däubler-Gmelin For-derungen nach Gesetzesverschärfun-gen zurück. Sie geht davon aus, dassdie Justiz das Strafmaß bei Deliktenwie Körperverletzung aus rechtsex-tremen Motiven bereits heute vollausschöpfen könne und spricht sichstattdessen für schnellere Prozessemit eindeutiger begründeten Urteilenaus. Dagegen fordert unter anderender Brandenburgische Justizminister Kurt Schelter ein schärferes Straf-recht. Künftig solle juristisch zwi-schen dem Tatbestand der Körper-

 verletzung und der Körperverletzungaus niedrigen Beweggründen wie et-wa Hass unterschieden werden. Ob-wohl seine Meinung zunehmend

 vertreten wird, ist bislang ungeklärt,ob die Justiz fremdenfeindliche De-likte tatsächlich zu milde oder ange-messen ahndet. Dafür bedarf es wis-senschaftlicher Untersuchungen der Strafzumessungspraxis der deut-schen Rechtsprechung und der Be-

antwortung der ganz konkreten Fra-ge, ob und in welchem Ausmaßfremdenfeindlich motivierte Strafta-ten einerseits und andererseits paral-lele Straftaten, die nicht fremden-feindlich motiviert sind, unterschied-lich behandelt werden. Zwei neuefraktionsübergreifende Anträge imBundestag gegen Rechtsextremis-mus, Fremdenfeindlichkeit und Ge-walt fordern einen Beschluss, der dieBundesregierung zu der Unterstüt-zung wissenschaftlicher Forschungs-

 vorhaben in dem genannten Bereich verpflichtet.

Hiervon könnte auch das Max-Planck-Institut für ausländisches undinternationales Strafrecht profitieren:Es wird demnächst ein empirischesProjekt beginnen, das die Strafzu-messungspraxis in dieser Hinsichtempirisch und in vergleichender Per-spektive mit den Vereinigten Staaten

 von Amerika analysiert.Ferner ist eine Straftheorie ange-

sagt, die nachweisen kann, dassfremdenfeindliche Straftaten entwe-der im Hinblick auf das herbeigeführ-te Unrecht oder auf die Schuld der Täter besonders verletzend oder ge-fährlich sind. Dieser Nachweis istfreilich schwierig, denn man müsstedabei zum Beispiel eine klare Ant-wort auf die Frage geben können, obund inwiefern sich die Tötung einesausländischen Mitbürgers aufgrund

 von Rassenhass und die Tötung einesObdachlosen aufgrund der besonde-ren Verletzlichkeit des Opfers oder dieTötung eines Fußballfans durch Hoo-ligans unterscheiden. Man kann dieBeispiele vermehren und fragen, wasden Unterschied zwischen einem ras-sistischen Tötungsdelikt und einemTötungsdelikt aus Habgier ausmacht. Abgesehen von der Frage, ob die

Justiz Fremdenfeindlichkeit tatsäch-lich angemessen ahndet, ist die offi-

zielle statistische Erfassung der fremdenfeindlichen Delikte lücken-haft. Auch nach Meinung des Vize-präsidenten des Bundeskriminalamts(BKA), Bernhard Falk, ist einzuräu-men, dass die in Kriminalstatistikenenthaltenen Fallinformationen nicht

 verlässlich und eindeutig genugsind. So sagte er auf der Herbstta-gung des BKA im November vergan-genen Jahres: „Die Bewertung, obeine Straftat rechtsextremistisch,fremdenfeindlich oder antisemitischmotiviert und dementsprechend zuerfassen war, obliegt den sachbear-

beitenden Polizeidienststellen. Prob-lematische Erfassungskriterien undgroße Bewertungsspielräume führenaber nicht selten zu einer fragmenta-rischen, fragwürdigen oder unein-heitlichen phänomenologischen Zu-ordnung ähnlich gelagerter Fälle;auch Opportunitätserwägungen sindnicht mehr auszuschließen. Zudemwerden die Daten in unterschied-lichen Meldesystemen mit nichtkorrespondierenden Erfassungsmo-dalitäten abgebildet, nämlich imKriminalpolizeilichen Meldedienst inStaatsschutzsachen (KPMD-S) undin der Polizeilichen Kriminalstatis-tik-Staatsschutz (PKS-S). Generelllässt die praktizierte Erfassungs- undZahlmethodik verlässliche Aussagenzu einzelnen Tat- und Tätermerkma-len nur mit großen Einschränkungenzu. Das Fehlen der Opferstatistiksowie die bekannte Hell-/Dunkel-feld-Problematik sind weitere Grün-de dafür, dass an das zurzeit vorleg-bare polizeiliche Datenmaterial keinezu hohen Validitätserwartungen ge-knüpft werden dürfen.“

 Was also tun? Die Möglichkei-ten des Strafrechts sind nicht darauf beschränkt, das amerikanische „hatecrimes“-Modell zu übernehmen undfremdenfeindliche Straftaten im

„Erst ein Perspektivenwechsel in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik öffnet den Weg für den

Abbau von Fremdenfeindlichkeit und rechtsradikaler Gesinnung in der Mitte der Gesellschaft. De r unmittel-

bare Zusammenhang zwischen einer ausgewogenen Ausländerpolitik sowie einem systematischen Anti-Diskriminierungsrecht und einer erfolgreichen Bekämpfung fremdenfeindlicher Kriminalität ist evident.“ 

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FREMDEN feindlichk

Endeffekt automatisch schärfer zubestrafen. Darüber hinaus könnteman vielmehr die Umgestaltung des

 Volksverhetzungsparagraphen oder die Erweiterung der Artikel 86 und86a StGB (Verbreitung von Propa-gandamitteln und Verwenden vonKennzeichen verfassungswidriger Organisationen) ins Auge fassen. Sokönnte man den Tatbestand der 

 Volksverhetzung derart ändern, dassneueren Erkenntnissen über dieUmstände der VolksverhetzungstatenRechnung getragen wird und inein Einschüchterungs- oder Belästi-gungsmodell umsetzen:

1. Wer in einer Weise, die geeignetist, Teile der Bevölkerung oder de-ren Angehörige in begründete

 Angst um ihren Leib, ihr Leben

und ihre Freiheit zu versetzen, zuGewalttätigkeiten gegen Teile der Bevölkerung aufstachelt oder zuGewalt- oder Willkürmaßnahmengegen sie auffordert oder 2. in der Absicht, Teile der Bevöl-kerung oder deren Angehörige in

 Angst um ihren Leib, ihr Lebenund ihre Freiheit zu versetzen, und

in einer diesen Erfolg herbeizu-führen geeigneten Weise Teile der Bevölkerung beschimpft, böswillig

 verächtlich macht oder verleumdetoder in der Absicht, bei den Be-troffenen begründete Besorgnisseum ihre körperliche Unversehrtheitzu erregen, und in einer diesenErfolg herbeizuführen geeigneten

 Weise Teile der Bevölkerung ein-schüchtert oder belästigt, wird(. . .) bestraft.

 Auf diese Weise würden die echtenGewalttätigkeiten im Vorfeld geahn-det, wobei die Bestrafung der poli-tisch unkorrekten Äußerungen ver-mieden wird. Darüber hinaus wärendenkbar:

• die Erweiterung des Haftgrundsder Wiederholungsgefahr,

• die Erweiterung des Haftgrunds„Schwere der Tat“ (bei schwerer Körperverletzung und besondersschwerer Brandstiftung),

• die Erweiterung des Landfrie-densbruchtatbestands,

• eine Verschärfung des Strafrah-mens bei Körperverletzung,

• die Aufnahme von „Schutz der  Allgemeinheit vor Gewalttätig-keiten“ als zusätzliches Präven-tionsziel ins Jugendgerichtsge-setz,

• die Herausnahme der Heran-wachsenden aus dem Jugendge-richtsgesetz,

• die Erweiterung des Artikel 46 Absatz 2, sodass die tatsächliche Verletzlichkeit des konkretenOpfers vom Richter bei der 

Strafzumessung automatisch be-rücksichtigt wird,

• eine Strafverschärfung bei Bege-hung der Brandstiftung mitmehreren anderen zusammen,

• eine bessere statistische Er-fassung der Fremdenfeindlich-keit: Einführung eines Gesetzes,das dem amerikanischen „Hate

Crime Statistics Act“ ähnlich ist.Durch dieses Gesetz wurde einDatenerfassungsmechanismuseingeführt, der Tatumstände,Täter- und Opfermerkmale undinsbesondere die Motivationender „hate crimes“ detailliert er-fasst.

Eine Änderung im Strafrecht alleinist jedoch zu wenig. Was fehlt, isteine ernstere gesellschaftliche undwissenschaftliche Auseinanderset-zung mit der Thematik. Wie müsstesie aussehen?

Betroffene und potenzielle Opfer kommen selten zu Wort; selbst in der Europäischen Stelle zur Beobachtung

 von Rassismus und Fremdenfeind-lichkeit arbeitet kein einziger An-gehöriger der betroffenen Minder-

heiten als Experte. Die kriminologi-schen Dimensionen des Phänomensmüssen differenziert erforscht wer-den. Es ist fraglich, ob Maßnahmenwie Aussteigerprogramme, die sichin der Regel an militante Überzeu-gungstäter wenden, von Nutzensind, wenn die Täter spontan gehan-delt haben. So haben beispielsweise„normale“ deutsche Jugendliche zu-sammen mit einigen Skinheadsspontane Verfolgungsgangs gebildet,denen Schlägereien zwischen Deut-schen und Ausländern in Diskothe-ken vorangingen. Stattdessen solltein Deutschland ein transparenter in-stitutioneller Rahmen verfügbar sein,um Rassendiskriminierung undfremdenfeindliche Taten zu überwa-chen und deren Opfern Unterstüt-

zung zu gewähren. In Belgien wur-de zum Beispiel ein Zentrum für Chancengleichheit und Rassismus-bekämpfung gegründet. Eine solcheEinrichtung könnte auch bei uns die

 Wirksamkeit von Gesetzen und denSchutz von Opfern überwachen undwürde auf diese Weise institutionelleHilfe bieten.

Dass Prozesse schneller laufen, istnicht nur in Bezug auf Fremden-feindlichkeit, sondern auch allge-mein wünschenswert. Es scheint aber bei den fremdenfeindlichen Angrif-fen besonders auffällig zu sein, dassdie Hauptverhandlungen verhältnis-mäßig spät eröffnet werden. Dies zuändern sollte Ziel sein. Bessere Ur-teilsbegründungen und eine ernstere

 Auseinandersetzung der Urteile mitdem fremdenfeindlichen Charakter der Tat sind wegen ihrer großenSignalwirkung ebenfalls von Bedeu-tung. Die Polizei sollte enger mitMinderheitenorganisationen und Ge-meinden zusammenarbeiten. Aucherscheint eine Gesetzesänderungempfehlenswert, wonach die tatsäch-liche Verletzlichkeit des Opfers vomRichter bei der Strafzumessung obli-gatorisch zu berücksichtigen wäre.Ohnehin wird in Deutschland für eindifferenziertes Strafzumessungssys-tem plädiert.

Der polizeistatistische Datenerhe-bungsmechanismus im Bereich frem-denfeindlicher Straftaten bedarf ei-

ner gründlichen Umgestaltung undErweiterung. Richtlinien sind not-wendig, um den sachbearbeitendenDienststellen Kriterien zur Verfügungzu stellen, mit deren Hilfe die rechts-extremistische, fremdenfeindlicheund antisemitische Motivation vonStraftaten besser erkannt wird. DasBKA sollte verpflichtet werden, um-fassendere Informationen über Tat-umstände, Täter- und Opfermerk-male bereitzustellen. Dabei könnteman von den amerikanischen Erfah-rungen mit den „Hate Crime Statis-tics“ großen Nutzen ziehen. Darüber hinaus wäre eine gesamteuropäischeDatensammlung und Analyse sinn-

 voll. Dies würde die Einführung eu-ropaweit geltender Rechtsvorschrif-ten und Institutionen erleichtern. DieHarmonisierung der Strategien ge-gen fremdenfeindliche Taten in ganzEuropa ist angesagt.

Es gilt aber auch die Legitimation von Freiheitsrechten neu zu über-denken. Die Frage nach der Berech-tigung von Meinungs- und Demons-trationsfreiheit und Effizienz der 

Überwachungsinstrumentarien ge-gen verbale Fremdenfeindlichkeitmuss ernst genommen und aufrich-tig beantwortet werden. Und: Esmuss berücksichtigt werden, dass so-wohl der gesellschaftliche Diskursüber Zuwanderung und damit ver-bundene Themenbereiche in der Mit-te der Gesellschaft als auch die Aus-länderpolitik geeignet sind, Frem-denfeindlichkeit und Rechtsextre-mismus ungewollt zu verstärkenoder zielgerichtet zu schwächen. Zuaußerstrafrechtlichen Maßnahmengegen fremdenfeindliche Krimina-lität gehören unter anderem die För-derung der Teilhabe von Migrantenan der politischen Willensbildung,die Förderung der rechtlichenGleichstellung und der Abbau struk-tureller Benachteiligung.

Deutschland ist in dieser Hinsichtinsbesondere im Vergleich zu Hol-land, Belgien, Dänemark, Finnlandund Irland, die Gleichstellungsbehör-den auch als Beschwerdeinstanzengegründet haben, rückständig. Es be-steht kein systematisches Anti-Dis-

kriminierungsgesetz und es gibt kei-ne Institutionen, die Rassismus undFremdenfeindlichkeit überwachen.

 Ausländerbeauftragte operieren nichtals Rechtsinstanz gegen Benachteili-gung. Abgesehen von dem Verbotdes Artikel 3 Absatz 1 und 3 desGrundgesetzes stehen für den priva-ten Sektor nur Artikel 75 des Be-triebsverfassungsgesetzes und relativ begrenzte Möglichkeiten des Arbeits-rechts beziehungsweise auch die un-mittelbare Anwendung des Grundge-setzes auf Arbeitnehmer-Arbeitge-ber-Beziehungen zur Verfügung.Luxemburg dagegen ist sogar so weitgegangen, die Diskriminierung am

 Arbeitsplatz oder bei der Bereitstel-lung von Waren und Dienstleistun-gen strafbar zu machen. Portugal hat1999 zwei Gesetze gegen Rassendis-kriminierung erlassen. Das Vereinig-te Königreich verfügt seit 1976 über einen umfassenden „Race Relations

 Act“, der von der durch das Gesetzselbst ins Leben gerufenen Kommis-sion für Rassengleichheit überprüftwird.

„Es ist fraglich, ob Maßnahmen wie Aussteigerprogramme,

e sich in der Regel an militante Überzeugungstäter wenden,

von Nutzen sind, wenn die Täter spontan gehandelt haben.“ 

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ZWEI FRAUENAN DER SPITZE

Aufbruch und Aufbau in der Hertziana –nicht nur baulich, sondern auch wis-

senschaftlich: Denn es gibt zwei neueDirektorinnen. So kam bereits vor zwei

Jahren Prof. Elisabeth Kieven als Nach-folgerin von Prof. Matthias Winner

an die Hertziana. Im Oktober die-ses Jahres wird Prof. Sibylle Ebert-Schifferer Prof. Christoph LuitpoldFrommel im Amt folgen. Die beidenDirektorinnen stehen vor der Doppel-aufgabe des Neubaus im eigenenInstitut und einer noch intensiverenZusammenarbeit mit dem Kunsthis-torischen Institut in Florenz, daskürzlich in die Max-Planck-Gesell-schaft aufgenommen wurde (Seite 102 dieser Aus-

gabe). Das sind Herausforderungen, für die ihnenbei der Vorstellung der neuen Projekte im Mai inRom nicht nur die Max-Planck-Gesellschaft, son-

dern auch die anwesenden Kunsthistorikeraus aller Welt viel Erfolg gewünscht haben.

PRIVATE FÖRDERER

Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stif-tung: 3 Millionen Mark; Fritz Thyssen Stif-tung: 2,6 Mio. DM; Richard und Anne-LieseGielen Leyendecker-Stiftung: 0,5 Mio. DM;Deutsche Bank Kultur-Stiftung: 0,25 Mio. DM;Ernst von Siemens-Kunstfonds: 0,2 Mio. DM;Siemens Italien: 0,1 Mio. DM.

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Baulärm schlägt den Besuchernentgegen, die im Frühsommer 

2001 die Bibliotheca Hertziana be-treten. Es scheint, als ob an Stelle

 von Kunsthistorikern nun die Bau-arbeiter das ganze Institut in Be-schlag genommen hätten. Der Palaz-zo Zuccari, der ursprüngliche, 1913der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ver-machte Institutspalast, gleicht einer Großbaustelle, wie man sie von Alt-bausanierungen her kennt. Renoviertwerden dort Lesesäle, Arbeitsräumeund zu allem Überfluss (weil dasHauptwasserrohr in der Nacht brach)noch die Bibliothekarswohnung imobersten Stockwerk. Eine weitere

 Wohnung, die des ehemaligen Direk-tors, wird für den wissenschaftlichenInstitutsbetrieb umgewidmet und

entsprechend hergerichtet. Bauge-

kungen und Belastungen. Es wirdder erste Neubau im historischenZentrum Roms seit langem sein -gleichzeitig eine bereits jetzt mit

 vielen Vorschusslorbeeren bedachtearchitektonische Meisterleistung.

Mitte der neunziger Jahre lobte dieMax-Planck-Gesellschaft einen Ar-chitektenwettbewerb aus. Dabei leg-ten südeuropäische Architekten fas-zinierende Entwürfe vor. Warum ge-rade Architekten aus dem Mittel-meerraum? „Weil diese am besten mitdem Zenitlicht in Rom umgehen kön-nen“, sagt Dr. Hardo Braun, oberster Bauherr und jetzt Stellvertretender Generalsekretär der Max-Planck-Ge-sellschaft, der sich nach dem Neubaudes Max-Planck-Hauses am Hofgar-ten mit einem weiteren architektoni-

schen Glanzprojekt schmücken kann.

Bibliotheca HERTZIAN

Der Gewinner des Wettbewerbs, JuanNavarro Baldeweg, den Braun als„noblen, bescheidenen Herrn“ cha-rakterisiert, hat die Aufgabe, aufengstem Raum und historischemGrund einen Neubau zu schaffen, ambesten gelöst. „Nicht nur eine genialeIngenieurleistung, sondern auch einepoetische Arbeit“, sagt Braun über den Entwurf des Spaniers. Eine Ar-beit, die die vielen Auflagen der römi-schen Baubehörde erfüllt, ohne anästhetischer Qualität einzubüßen.

Fassadengestaltung ist im HerzenRoms längst tabu, die historischenHäuserfronten sind denkmalge-schützt. Das gilt auch für die Mauernder Paläste, die die Hertziana, in un-mittelbarer Nähe zur SpanischenTreppe zwischen der Via Gregoriana

und der Via Sistina gelegen, ihr

Eigen nennt. Deshalb muss der Neu-bau hinter den bestehenden Fassa-den unsichtbar bleiben. Und auchauf einen zweiten Punkt legt die rö-mische Baubehörde großen Wert:Der Bereich des heutigen Innenhofs,der Garten zwischen den PalazziZuccari und Stroganoff, darf nichtüberdacht werden. Zusätzlich ver-mutet man unter der Erdoberflächedie Reste der Villa des Lukull. InRom bedeuten solche Funde Segenfür Archäologen, aber oft Fluch für Bauherren, denn die Überbleibselkönnen das gesamte Projekt infragestellen, zumindest aber den Baube-ginn verzögern.

 Auflagen über Auflagen – für denBau nach oben wie nach unten. Bal-deweg hat sie alle sorgfältig durch-

dacht. Und erfüllt. Anstelle eines

rüste auch im benachbarten PalazzoStroganoff, wo Glasdächer und De-ckenteile erneuert und die Magazineim Keller modernisiert werden. Bau-gerät selbst zwischen beiden Paläs-ten, im ehemaligen Garten des Zuc-cari-Hauses, der schon lange nichtmehr durch den Angst erweckendenEingangs-Schlund, den Mascherone,betreten werden kann – Maulsperre.

In diesem ehemaligen kleinenGarten-Grundstück, eingerahmt vonhistorischen Fassaden, soll nach Ab-schluss der Renovierungsarbeiten der Bibliotheksneubau entstehen. Das istdie gute Nachricht, auch wenn dieBauarbeiten in den nächsten Jahrenandauern werden. Die Aussicht auf den Neubau mit besten Arbeitsbe-dingungen entschädigt schon heute

die Mitarbeiter für viele Einschrän-

hrzeichen der Bibliotheca Hertziana

Rom ist Frederico Zuccaris um 1590

standenes Fratzenportal an der Via

goriana. Es war ursprünglich Teil einer 

rtenmauer, und der Einfall des Künstlers 

darin, den Ankommenden durch einen

ntesken Höllenrachen („Lasst, die ihr

geht, alle Hoffnung fahren“) in das

radies“ des dahinter sich öffnenden

rgartens treten zu lassen. Nach dem

kauf des Palastes durch Henriette Hertz 

Jahr 1904 musste der Garten einem

ubauflügel weichen, in dem der große

esaal der Bibliothek Platz fand.

s Portal ist seitdem geschlossen.

wird als Haupteingang der neuen

liothek wieder geöffnet werden.

rechts: Modell des Bibliotheksneubaus

eöffnetem Mascherone (Treppenaufgang links).

   F   O

   T   O   S  :   F   I   C   H   E   R   A

Dr. Hardo Braun, Stellvertretender

Generalsekretär der Max-Planck-Gesell-

schaft (rechts), erklärt den Baldeweg’schen

Entwurf im Architekturmodell. Von links:

Dr. Walter Homolka, Stellvertretender

 Vorstandsvorsitzender der Kultur-Stiftung

der Deutschen Bank, Jürgen Chr. Regge,

 Vorstand der Fritz Thyssen-Stiftung,Prof. Elisabeth Kieven, Direktorin an der

Bibliotheca Hertziana und Dieter Grömling,

Leiter der Bauabteilung in der General-

verwaltung der Max-Planck-Gesellschaft.

Die Bibliothek auf der Hutschachtel

Elisabeth Kieven

Sibylle Ebert-Sch

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Bibliotheca HERTZIAN

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MPF: Herr Keller, sehen Sie sich mehr

als Bibliothekar oder als Kunsthistoriker? 

DR. FRITZ EUGEN KELLER:  Als Bibliothekar bin ichgerne Dienstleister für täglich 90 bis 100 Besucher unddie Mitarbeiter am Institut. Ich freue mich, wenn meineMitarbeiter und ich weiterhelfen können. Trotzdem mussich sagen, dass ich Kunsthistoriker aus Leidenschaft ge-blieben bin. Ich würde gern mehr forschen, wenn ich die Zeit dazu hät-te. Deshalb komme ich mir manch-mal wie König Midas vor, der an der Quelle sitzt, aber nicht trinken darf,um sie nicht versiegen zu lassen.

MPF: Welche Rolle spielt

die Bibliothek für das Institut? 

RSCHUNG & Gesellschaft 

KELLER: Eine ganz entscheidende Rolle, wie schon der Name Bibliotheca Hertziana erahnen lässt. Das Institutwurde von Henriette Hertz gestiftet. Sie überließ 1913 der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft einen Bestand von 5000Büchern. Heute sind es 230.000 Bände. Die Bibliothek istdas „Laboratorium“ unserer Forscher und bildet neben der Dokumentation, der Fotothek und dem für die For-schungsprogramme verantwortlichen Direktorium die

wichtigste Service-Einrichtung unse-res Instituts. Die Bibliothek hat dank der Ankaufspolitik meiner Vorgänger einen wichtigen Stellenwert für dasFach Kunstgeschichte bekommen.Hier gibt es eine große Kontinuität,wenn man bedenkt, dass ich seit den1920er-Jahren erst der vierte Biblio-thekar bin.

MPF: Wie hat man sich die Bibliothek in den

 Anfangsjahren vorzustellen? 

KELLER: Die Grundstruktur der heutigen Bibliothek hatin seiner vierzigjährigen Amtszeit von 1922 bis 1961mein Vorgänger Ludwig Schudt gelegt. Unter seiner Auf-sicht haben jeden Morgen um neun Uhr die Assistentenund Stipendiaten die Bände in die Freihand-Regalezurückgestellt. Anschließend wurden die Zeitschriftendurchgesehen, die neu erschienenen Beiträge in einemBandkatalog handschriftlich vermerkt. Dieser Katalog istheute schon ein historisches Dokument, in dem sich Ein-träge von später berühmt gewordenen Kunsthistorikernwie Richard Krautheimer finden lassen.

MPF: Bei dem schnellen Wachstum des

Bücherbestands war man doch sicher bald

an Grenzen gestoßen? 

KELLER: Unter Schudts Nachfolger Otto Lehmann-Brock-haus wurde 1963 der Palazzo Stroganoff angekauft undbis 1967 ein moderner Quertrakt im Garten errichtet, um

zusätzliche Räumlichkeiten für die Bibliothek zu schaffen.Gleichzeitig hat Lehmann-Brockhaus ein neues Signatur-system eingeführt, das sich bereits am Münchner Zentral-institut für Kunstgeschichte bewährthatte. Dieses so genannte Göttinger Signatursystem ist zwar kompliziert,aber sehr effektiv. Bis Mitte der acht-ziger Jahre wurde der gesamte Biblio-theksbestand umsigniert und gleich-zeitig auch räumlich verdichtet.

MPF: Sie haben 1993 das Amt

von Ernst Guldan übernommen.

Welche Herausforderungen

kamen auf Sie zu? 

KELLER: Mindestens zwei zentraleHerausforderungen, denen sich bereits Schudt und Leh-mann-Brockhaus stellen mussten: Platz zu schaffen für einen kontinuierlich wachsenden Bücherbestand undgleichzeitig diesen Bestand so effektiv und benutzer-freundlich wie möglich zu verwalten. Bereits bei der Eme-ritierung von Lehmann-Brockhaus im Jahr 1977 hattesich der Bibliotheksbestand gegenüber den sechziger Jah-ren verdoppelt. Mein direkter Vorgänger hat bei seinem

 Ausscheiden in einem Memorandum darauf hingewiesen,dass bei dem vorhandenen Bibliothekswachstum der Platzfür die Bücher spätestens im Jahr 2005 erschöpft seinwird. Das war vor zehn Jahren. Gleichzeitig war ich vor die Aufgabe gestellt, die EDV zur Katalogisierung undprofessionellen Sacherschließung einzuführen. Seit 1996sind alle Neuerscheinungen elektronisch erfasst. Wir sindmit dem Münchner Zentralinstitut und unserem neuenSchwesterinstitut, dem Kunsthistorischen Institut in Flo-renz, mit einer gemeinsamen Datenbank unter dem Soft-waresystem „Allegro“ verbunden, das an der UniversitätBraunschweig entwickelt wurde und alle zwei Jahre ver-

bessert wird. Die Datenbank wird alle zehn Sekunden re-pliziert, sodass den Benutzern die Informationen über dengesamten Buchbestand und die erfasste Aufsatzliteratur aktuell vorliegen.

MPF: Doch das beste EDV-System nutzt nichts,

wenn der Platz für die Bücher fehlt...

KELLER: Deswegen sind wir ja so froh, dass der Neubaukommt. Für uns ist es wichtig, dass der Charakter unserer Bibliothek erhalten bleibt: eine systematisch geordneteFreihandbibliothek, in der sich die Leser frei bewegen undaus den Regalen die Bücher entnehmen können, die sie für ihre Forschungsarbeit benötigen. Und weil die Bücher ei-nes Sachgebiets geschlossen Seite an Seite stehen, müssenimmer Lücken im Regal bleiben, die dann mit Neuerschei-nungen zum betreffenden Thema aufgefüllt werden. Auf diese Weise wollen wir pro Jahr 4000 bis 5000 Bücher neuunterbringen. Trotz aller Verdichtungsmaßnahmen sindwir jetzt an räumliche Grenzen gestoßen, die man nur grundsätzlich durch einen Neubau überwinden kann.

MPF: Welche Vorteile bringt der Neubau? KELLER: Wir werden nicht nur eine größere Grundflächehaben, um die Bücher aufzustellen, sondern schaffen

gleichzeitig Fahrregale an, die unsgegenüber der herkömmlichen Auf-stellung weitere 65 Prozent an Stell-fläche bringen. Diese Regale hättenwir in den bestehenden Gebäudennicht flächendeckend aufstellen kön-nen. Dazu sind die Decken nicht sta-bil genug, ganz zu schweigen vonder dadurch erhöhten Brandlast, diekeine Baubehörde akzeptiert hätte.Umgekehrt erlaubt uns der Neubau,die Brandschutzprobleme im PalazzoZuccari und Palazzo Stroganoff zu

lösen. In der neuen Bibliothek wird es eine Vielzahl vonfunktionalen Verbesserungen geben. So hoffen wir, für die nächsten vierzig, fünfzig Jahre genügend Kapazitäten

 vorhalten zu können, die uns das Wachstum der Biblio-thek wie geplant ermöglichen.

MPF: Rosige Aussichten also? 

KELLER: Ganz bestimmt. Natürlich mit dem Wermuts-tropfen, dass wir in den nächsten Jahren mit der Baustel-lensituation fertig werden und einen Teil der Bücher aus-lagern müssen. Der Fertigstellungstermin 2006 läge gera-de noch in meiner Amtszeit, so dass ich meinem Nachfol-ger hoffentlich eine gut funktionierende Bibliothek ineindrucksvoll schönen neuen Räumen übergeben kann.Unsere Gastforscher werden dann wieder den alten Char-me der Hertziana erleben können: im Herbst und Winter bis Einbruch der Dunkelheit die Kunstschätze Roms vor Ort erfahren und anschließend das Gesehene in einer der besten kunsthistorischen Bibliotheken vertiefen.

DAS INTERVIEW FÜHRTE BERND  WIRSING

„Die Bibliothek ist das Labor der Forscher“

R. FRITZ EUGEN KELLER (59) studierte Kunstgeschichte, Archäologie und mittelalterliche Geschichte

den Universitäten Frankfurt a. M., Freiburg, München und Berlin. Nach seiner Promotion im Jahr 1975

sistierte er am Kunsthistorischen Institut der FU Berlin (bis 1986). Im Jahr 1993 übernahm er, nach

ner Ausbildung zum höheren Bibliotheksdienst, die Bibliotheksleitung an der BIBLIOTHECA HERTZIANA.

hwerpunkt seiner Forschungstätigkeit war und ist, soweit es ihm seine Bibliotheksarbeit erlaubt, der

llenbau der Renaissance in Italien. Seine Wohnung befindet sich im obersten Stock des Palazzo Zuccari.

gegossenen Fundaments, das die ar-chäologische Zone zerstört hätte,wird eine alles überspannende dop-pelbödige Kastenkonstruktion einge-lassen, die Hardo Braun gern miteiner Hutschachtel vergleicht. Andiesem auf seitlichen Mikro-Pfählengegründeten Kasten hängen zweiUntergeschosse, die über geplanteEinstiege künftige archäologische

 Ausgrabungen ermöglichen. Fazit:Die Gründungen für den Neubausind so geschickt konzipiert, dass der archäologische Bodengrund nichterst aufwändig ausgegraben werdenmuss oder gar zerstört wird.

 Auf die Hutschachtel werden sechsGeschosse mit Lesegalerien undKompaktmagazinen gesetzt, diePlatz für über eine halbe Million

Bücher bieten werden. So kann dieHertziana ihren heutigen Buchbe-stand (230.000 Bände) verdoppeln,

womit – bei einem Wachstum von5000 Büchern pro Jahr – in dennächsten vierzig bis fünfzig Jahrengerechnet wird.

Im kommenden Jahr wird dieBaustelle eingerichtet – eine in Romnicht eben einfache Aufgabe. Denndie Straßen um die Hertziana herummüssen frei bleiben, kein Baumate-rial darf den nie versiegenden Ver-kehrsstrom stoppen – gespeist vonmotorisierten jungen Römerinnenund Römern, die im Sommer die hal-be Nacht lang die Sistina hoch über den Pincio und wieder zur Piazza delPopolo hinab brausen. Oder vonTouristen, die die Spanische Treppehinauf schlendern, um in den Hotelsum das Institut ihre Herberge zu fin-den. Deshalb wird die Baustelle auf 

einem gepachteten Grundstück ein-gerichtet, das gegenüber dem Ma-scherone liegt. Von dort nimmt der 

zwischen den Palästen postierte Bau-kran das Material auf und hebt esüber die Via Gregoriana und die Fas-saden der Hertziana in den Innenhof.Zwischen den Jahren 2003 und 2006soll die neue Bibliothek entstehen,die gleichzeitig eine architektonischeund funktionale Klammer zwischendem Palazzo Zuccari und dem Palaz-zo Stroganoff bilden wird.

Die Baukosten werden mit 35 Mil-lionen Mark veranschlagt, wovonBund und deutsche Bundesländer den Großteil von 25 Millionen Mark aufbringen. Den Rest wird die Max-Planck-Gesellschaft von Stiftungenund privaten Förderern einwerben,und hierbei war sie bereits erfolg-reich: Rund 6,7 Millionen Mark (zwei Drittel der ausstehenden Sum-

me) konnte sie bereits für das Neu-bauprojekt von dritter Seite sam-meln.   BERND W IRSING

Fritz Eugen Keller im Gespräch

mit Bernd Wirsing, Pressesprecher

der Max-Planck-Gesellschaft.

   F   O   T   O   S  :   F   I   C   H   E   R   A

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Tina Romeis

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SOFJA KOVALEVSKAJA-PrPERSON

Tina Romeis

 Tina Romeis blickt lächelnd auf 

einen Teich, der von einem wildwuchernden Pflanzenmeer eingefasstist; abends hört man hier Fröschequaken. Romeis ist eine schlankePerson mit einem dichten Haar-schopf und forschenden Augen. Ob-wohl sie erst seit etwa vierzehnTagen am Institut ist („Ich lebe nochaus dem Koffer“), bewegt sie sichschon sehr sicher durch den grünenCampus, an Gewächshäusern vorbei,über grüngesäumte Wege, deren

Randbepflanzung zeigt, wie schönbunt Gärten wachsen könnten, wennman sie nur ließe. Wir gehen auf dasGebäude zu, in dem ihr neues Labor und ihr Büro untergebracht sind. Sienennt es „Office“ – auch das nocheine Reminiszenz an ihren letzten

 Arbeitsplatz.Tina Romeis ist Biochemikerin.

 Aber keine besonders typische: Die vergangenen viereinhalb Jahre hatsie in Norwich verbracht, alsEMBO-Stipendiatin am renommier-ten Sainsbury Laboratory im Nor-wicher John-Innes-Centre, und ihre

 Ankunft in Köln ist nur der letzteSchritt einer langen akademischenReise von der Escherichia-coli-Bio-chemie zur Pflanzenphysiologie. „Ichhabe mich meinem Traumarbeitsge-biet, der Pflanzenbiochemie, tatsäch-lich nicht linear, sondern eher auf immer enger werdenden Kreisen ge-nähert“, sagt sie. Aber die vielseiti-gen Erfahrungen, die sie dabei ge-sammelt hat, sind nun dafür verant-

ren, um sich eine eigene Arbeits-gruppe aufzubauen und völlig unab-hängig ihren Forschungsinteressennachzugehen – in einem Arbeitsge-biet, das bisher in Deutschland iminternationalen Vergleich deutlichunterrepräsentiert ist. Aber der Reihe nach. Was macht

eine Biochemikerin in einem For-schungszweig, der durch den Gen-technik-Boom der vergangenen Jahreund der vollständigen Entschlüsse-lung ganzer Pflanzengenome zurzeit

doch eher von DNA-Experten ge-prägt wird? Romeis: „Die Genetik hatin den letzten Jahren sicher unglaub-

lich viel erreicht. Aber in den nächs-ten Jahren wird die Biochemie wieder stark gefragt sein.“ Der Grund: In-zwischen kennt man die Zusammen-hänge zwischen den Genen und denEigenschaften der Organismen so gutwie nie zuvor. Aber das komplexeZusammenspiel zwischen dem Erb-molekül und dem Rest der Zelle istnoch weitgehend Terra incognita.

 Wie zum Beispiel erfährt der Zell-kern von den Dingen, die „draußen“

 vor sich gehen? Eins steht fest: die

Kommunikation zwischen den Sen-soren in der Zellwand und dem gene-tischen Datenspeicher muss über Pro-

Griff in den „biochemischen“ Werkzeugkasten: Ein paar Tropfen einer Peptidlösung gaukeln einem Tabakb

einen Pilzbefall vor. Später am Blatt entnommene Proben zeigen, welche Enzyme an der Stressantwort beteiligt s

„Ich liebe diesen Campus. Obwohl ich mich schon erst darauf einstellen musste. Schließlich war 

ich viereinhalb Jahre eher formal durchgestaltete englische Gärten gewöhnt“, sagt TINA ROMEIS,

eine 36-jährige Wissenschaftlerin, die den Tross der 180 Forscher am Kölner MAX-PLANCK-

INSTITUT FÜR ZÜCHTUNGSFORSCHUNG demnächst als Gruppenleiterin verstärken wird.

   F   O   T   O

   S  :   R   U   T   H

   A   L   B   U   S

wortlich, dass sie am Kölner Institutdie neue Abteilung für MolekularePhytopathologie unter Paul Schulze-Lefert perfekt ergänzt. Und letztlichhaben sie auch dazu beigetragen,dass die Biochemikerin sich nun mitbeachtlichen Fördergeldern im Rü-cken und den idealen Arbeitsbedin-gungen an der Züchtungsforschungso intensiv um ihr Forschungsthemakümmern kann: Der Koffer, mit demsich Romeis in Köln anmeldete, ent-hielt auch den Sofja Kovalevskaja-

Preis der Alexander von Humboldt-Stiftung. Das bedeutet: eineinhalbMillionen Mark in zweieinhalb Jah-

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SOFJA KOVALEVSKAJA-Pr

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PERSON

  P K

Zellkern

Avr9

Cf-9

DNS

Stres

reaktion

Wie gelangen Informationen über unerwünschte G

oder Angreifer zum Zellkern? In Ermangelung von Det

kenntnissen mussten Biochemiker den Staffe

der „Stressenzyme“ durch Pfeile andeuten. Tina Romeis

einen der Pfeile als Proteinkinase (CDPK) identifizie

vielleicht der Schlüssel, mit dem sich das Str

geschehen in Pflanzen einmal besser verstehen lä

teine, Enzyme, Hormone und Signal-stoffe ablaufen. Und diese Molekülefallen nun einmal in das Regimentder Biochemiker. „Wer genau wissenmöchte, wie die komplexen Regulati-onsmechanismen in der Zelle funk-tionieren, der kommt an der Bioche-mie nicht vorbei“, sagt Romeis.

Ein Beispiel: Werden Pflanzen be-strahlt oder von einem Käfer ange-knabbert – und damit unter Stressgesetzt –, erwidern sie das mit ei–nem ganzen Arsenal von Abwehrre-aktionen. Und das hat es in sich,denn Pflanzen können im Bedro-hungsfalle nicht weglaufen, sie ha-

ben keinen Blutkreislauf und damitauch kein Immunsystem wie der Mensch. Daher muss jede einzelnePflanzenzelle im Prinzip jederzeit inder Lage sein, sich wirkungsvoll auf eigene Faust zu verteidigen. So stel-len sie Giftstoffe her, die Fressfeindeabwehren, ausbremsen oder vernich-ten – Chemikalien, die Zellwand auf-lösende Enzyme von Pilzen blockie-ren oder wichtige Stoffwechselfunk-tionen von Bakterien lahm legen.

 Angegriffene Pflanzenzellen pro-duzieren außerdem reaktive sauer-stoffreiche Moleküle – im Prinzipenge Verwandte des Wasserstoff-peroxids –, die Angreifer buchstäb-lich verätzen, und setzen Botenstoffefrei – wie etwa das Gas Stickstoff-monoxid, das durch die Zellwändediffundieren kann und benachbarteZellen vor der Gefahr warnt. Undwenn alles Wehren hoffnungslos ist,ziehen eroberte Zellen die letzteReißleine und begehen durch Auslö-sung ihres eingebauten Zelltodpro-gramms Selbstmord. Dadurch stirbtdie angegriffene Blattregion ab, der 

 Angreifer kann sich im günstigstenFall nicht weiter ausbreiten.

Erstaunlich: Obwohl Pflanzen soeinfach gebaut sind, reagieren sieauf die verschiedensten Stressreizeanders. Auf osmotischen Stress –zum Beispiel durch zu salzhaltigeBöden – anders als auf „Wunden“,auf das Abknicken feiner Härchenauf der Blattoberfläche anders alsauf das Eindringen eines Pilzes.Manche Reaktionen, wie etwa der 

 Aufbau einer erhöhten Kalziumkon-zentration im Zellinnern, finden inSekundenschnelle statt; andere, wiedie mehrstufige Synthese chemischhochkomplexer, wirksamer Abwehr-stoffe, nehmen Tage in Anspruch. Wie erkennen Pflanzen ihre Fein-

de? Wie „entscheiden“ sie, welche Abwehrstrategie die beste ist? Feststeht: Hinter den ausgeklügelten Ab-wehrschlägen verbirgt sich einhöchst komplexer biochemischer Schlachtplan, der dennoch mit einfa-chen und – wie genetische Analysenzeigen – relativ wenigen Komponen-ten auskommen muss.

DIE PFLANZENZELLE

ALS „TERRA INCOGNITA“

Und damit sind wir mitten im Ar-beitsgebiet von Tina Romeis. Sie hatsich vorgenommen, Licht auf diekomplexen Stoffwechselvorgänge inPflanzen zu werfen, die mit dem

 Auftreten von biotischem (zum Bei-spiel durch Käferbisse oder Pilz-attacken) und abiotischem Stress(zum Beispiel durch zu hohe Ozon-

konzentration in der Luft oder etlicheTage ohne Gießkanne) einhergehen.

 Viel wissen die Wissenschaftler da-rüber noch nicht, obwohl es kauman Forschungsanstrengungen gefehlthat. Romeis hat allerdings womög-lich einen Schlüssel in der Hand, denPflanzengenetiker bisher noch nichtherumdrehen konnten.

Diesen Schlüssel fand Sie, als siein ihrer Norwicher Post-Doc-Zeit beiJonathan Jones an einem Proteinaus Tomatenzellen gearbeitet hat.Dieses „Sensor-Protein“, Cf-9 ge-nannt, ist über einen Anker fest mitder Tomatenzellwand verbunden und

in der Lage, ein bestimmtes Pilzei-weiß (Avr9) zu erkennen. Avr9, einPeptid mit 28 Aminosäuren, dientder Tomate offenbar als besonderesKennzeichen im Steckbrief ihres An-greifers: Das Andocken dieses Mo-leküls an den Cf-9-Rezeptor bringtTomatenzellen dazu, ihre Stoffwech-selmaschinerie zur Abwehr des Fein-des in Gang zu setzen – etwa so, wiedas Einatmen bestimmter Pollen bei

 Allergikern zu tränender Nase undroten Augen führt. Die Sequenz deszugehörigen Cf-9-Gens ist lange be-kannt. Zu Forschungszwecken hatman das Gen auch in anderen Pflan-zen unterbringen können; Romeiszum Beispiel untersuchte diese Cf-9-und Avr9-Interaktionen zunächst imDetail an Tabakpflanzen – aus dengroßen Tabakblättern lassen sich diefür biochemische Untersuchungenbenötigten großen Substanzmengenleichter erhalten. Wie aber erfahren der Zellkern und

andere Stoffwechselinstanzen nun vom Andocken des Pilzeiweißes?Romeis: „Wenn meine Kollegen die-sen Vorgang skizzieren, malen sie ei-ne Zellwand mit dem Cf-9-Proteinund den Zellkern und zeichnen danneine Reihe von Pfeilen dazwischen.Genau diese Pfeile interessierenmich. Was für Schritte verbergensich dahinter?“ Welche Moleküle tra-gen die Botschaft vom ungebetenenGast weiter? Wie schaltet die Zelle

Romeis, eine Forscherin mit Faible für Pflanzen: „Wer im Detail wissen will,

flanzen funktionieren, kommt – trotz der Erfolge der Genetik – an der Biochemie nicht vorbei.“

den Hebel auf „Abwehr“? Bei ihren Versuchen, die Bausteine dieses Puz-zles ausfindig zu machen, half TinaRomeis ein sicheres Auge für Details,Intuition und die nötige Portion Ziel-strebigkeit. Denn wie bei vielenwichtigen Entdeckungen fand sieihren Schlüssel bei der Arbeit an der Lösung eines ganz anderen Problems,das bei ihren Experimenten in Nor-wich auftauchte. Denn offenbar reicht es zum Auslösen der Stress-symptome nicht, wenn lediglich Avr9und Cf-9 sich außerhalb der Zell-wand begegnen. Bald lag der Ver-dacht nahe, dass das Cf-9 Protein al-

leine nicht genügt: Ein zweites „Pro-tein X“, ein Corezeptor, ebenfalls inder Zellwand in direkter Nähe zu Cf-9, muss an der Signalweiterleitungbeteiligt sein. Aber welches?

In der „roten Biochemie“ wäre die Antwort auf diese Frage vergleichs-weise schnell gefunden: Dort würdeman das schon bekannte Proteinmarkieren, die Zelle auflösen und

 versuchen, den Corezeptor über daslocker damit verbundene markierteEiweißmolekül aufzuspüren und zuisolieren. Bei Pflanzen ist das nichtso einfach. Anders als tierische Zel-len mit ihrer weichen Membran las-sen sich ihre stabilen Zellen nichteinfach aufschließen: Man muss sieim Mörser regelrecht zermalmen,um an ihren Inhalt zu kommen. Da-bei können Verbindungen zwischenMembranproteinen natürlich leichtzerstört werden.

WICHTIGE MASCHE

IM „STRESSNETZWERK“

Zum Glück kann man auch auf anderen Wegen hinter die Natur der empfindlichen Proteinkomplexe inder Pflanzenzellwand oder sogar noch tiefer in der Signalkaskadekommen. So etwa mit einem tiefen,gezielten Griff in den Werkzeugkas-ten der Biochemiker. Romeis: „Da dieersten Reaktionen auf Stress soschnell kommen, ergab sich der Ver-dacht, dass das unbekannte Protein

im Rezeptorkomplex eine Kinaseenthalten könnte, also ein Enzym,das eine Phosphatgruppe auf be-stimmte andere Eiweißmoleküle über-trägt und sie damit aktiviert. Sofunktionieren übrigens auch die ers-ten Schritte der Immunabwehr beimMenschen. Es kann also durchaussein, dass wir Menschen und diePflanzen da eine ganze Menge ge-meinsam haben.“

Romeis schnitt also Blätter an,spritzte eine Lösung des Avr9-Pilzei-weißes als Stressfaktor hinterher,analysierte in kurzen Zeitabständendie in der Zelle enthaltenen Proteineund fand dabei eine schwache Ban-de, die andere vielleicht übersehen

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SOFJA KOVALEVSKAJA-Pr

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PERSON

Ein „gestresstes“ Blatt: Auf der rechten Seite hat die Pflanze nach Kontakt mit einem Pilz-

eiweiß ihr Abwehrprogramm angeworfen. Auch wenn man viele der beteiligten Gene kennt,

liegen die biochemischen Vorgänge hinter dieser Reaktion noch weitgehend im Dunkeln.

hätten: sicher nicht der gesuchteCofaktor, sondern etwas anderes.Romeis indes schöpfte Verdacht –und konnte bald darauf belegen,dass der schwache Schatten auf dem

 Analysegel zu einem Enzym gehörte,das kurz nach dem „Impfen“ mitdem Pilz-Agressorprotein Avr9 einePhosphatgruppe „aufgedrückt“ be-kommt – woraufhin es seine Gestaltauf diffizile Weise ändert. Das auf diese Weise biochemisch enttarnte

Enzym war eine „calcium-depen-dent-protein-kinase“, kurz CDPK –ein Vertreter einer Enzymfamilie,die allein in  Arabidopsis thaliana

(Ackerschmalwand), einem schnell-wachsenden Unkraut, ganze 34 Mit-glieder zählt, die sich untereinander obendrein kaum unterscheiden.

Romeis erkannte, dass diese CDPK ein Glied in der langen Leitung vonder Zellwand zum Zellkern seinmusste, und zwar eins, das ziemlich

weit oben in der ominösen Pfeilkettesitzt, sonst würde es nicht so schnellaktiviert. Diese Entdeckung ist nunso, als würde man eine Taschenlampein einen bisher völlig dunklen Ab-schnitt auf der Landkarte des Zell-stoffwechsels halten. Tina Romeishatte ihre Fahne in biochemischesNeuland gesteckt – und begann inden kommenden Norwicher Jahren,weitere Belege für ihren Befund zusammeln. Mit dieser Leistung hat sieletztlich auch die Jury des Sofja Ko-

 valevskaja-Preises überzeugt.

NEUE PFADE DURCH DIE

BIOCHEMISCHE

 LANDKARTE

In Köln will die Biochemikerin diestressige CDP-Kinase nun näher ken-nen lernen – also ihre Struktur undFunktion enträtseln und damit ge-wissermaßen auch die nächsten unddie vorausgegangenen molekularenStaffelläufer im Stressgeschehen ansLicht holen. Denn Romeis’ CDPK kann ihrerseits andere Proteine akti-

 vieren. Und sie ist an vielen Stressre-aktionen der Zelle – langsamen wie

Noch ist das Labor von Tina Romeis im Kölner Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung nicht vollständig eingerichtet.

Für die junge Forscherin kein Grund, Däumchen zu drehen: Die ersten Proben warten bereits auf ihre Untersuchung.

Jeweils bis zu 2,25 Millionen Mark erhalten die vierzehn Forscherin-nen und Forscher, die die Alexander von Humboldt-Stiftung mit demSofja Kovalevskaja-Preis auszeichnet. Die Finanzierung ermöglichtden Spitzenwissenschaftlern, eine eigene Arbeitsgruppe an einem For-schungsinstitut ihrer Wahl in Deutschland aufzubauen. Sechs von ih-nen haben sich entschieden, als Gäste an einem Max-Planck-Institutzu arbeiten. Der Preis, benannt nach der russischen Mathematikpro-fessorin Sofja Kovalevskaja (1850 bis 1891), wird vom Bundesminis-terium für Bildung und Forschung im Rahmen des Zukunftsinvesti-tionsprogramms der Bundesregierung (ZIP) finanziert. Damit sollenherausragend qualifizierte ausländische (und deutsche) Nachwuchs-wissenschaftler nach Deutschland (zurück)geholt werden. NebenDR. TINA ROMEIS bereichern noch zwei Frauen und drei Männer künftigdie Forschungstätigkeit der Max-Planck-Institute:

❿ DR. BARBARA TILLMANN (29), USA, Allgemeine Psychologie,MPI für neuropsychologische Forschung, Leipzig.Barbara Tillmann studierte an der Johannes Gutenberg-Universität inMainz und an der Université de Bourgogne (Frankreich), wo sie 1999promovierte. Seitdem war sie als Postdoctoral Fellow und Mitarbeite-rin am Dartmouth College in den USA. Tillmann erforscht, wie Men-schen Strukturen in Sprache und Musik erkennen und erlernen. Alssolche gehört sie weltweit zu einer sehr kleinen Gruppe von Wissen-schaftlern, die Musikverarbeitung experimentell untersuchen. Mitihren bisherigen Arbeiten betrat die Psychologin wissenschaftlichesNeuland, das als Startpunkt der Entwicklung eines neuen Fachgebietsangesehen wird. In ihrem Projekt verbindet Tillmann Experimente zurWahrnehmung mit Computermodellen, die Lernprozesse durch neuro-nale Netze simulieren. Außerdem plant sie, die neuronalen Strukturen

beim Hören durch funktionale Kernspintomographie zu analysieren.❿ PROF. MATILDE MARCOLLI (31), Italien, Geometrie,MPI für Mathematik, Bonn.Matilde Marcolli hat an den Universitäten Mailand und Chicago (USA)studiert und wurde 1997 in Chicago promoviert. Sie war anschließendan verschiedenen Instituten tätig, darunter am M.I.T. in Cambridge,Mass. (USA) und ist zur Zeit Professorin am Max-Planck-Institut fürMathematik in Bonn. Marcollis Anliegen ist die Verbindung vonMathematik und theoretischer Physik. Ihr Interesse gilt den Eich-theorien und der nicht-kommutativen Geometrie, der hyperbolischenGeometrie und der Arithmetik. Sie widmet sich der Entwicklung vonEichtheorien zu Spiegelsymmetrien und dem fraktalen Quanten-Hall-Effekt. Bereits zu Beginn ihrer Laufbahn hatte sie die für ihr Fach-gebiet grundlegende so genannte Seiberg-Witten-Theorie eingeführt.

❿ DR. STEPHANE CHARLOT (37), Frankreich, Astrophysik,MPI für Astrophysik, Garching.Stephane Charlot studierte an der Université de Paris 7 und wurdedort 1992 promoviert. Er war Mitarbeiter an den Universität Berke-ley, am Kitt Peak National Observatory und am Space Telescope Insti-tute (alle in den USA). Seit 1995 ist er Chargé de Recherche amInstitut d'Astrophysique de Paris. 1998 erhielt er die Bronzemedailledes Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Der Franzo-se hat sich der Entstehung und Evolution von Galaxien verschrieben.Insbesondere widmet er sich der Interpretation von Galaxien-Spek-tren in Beobachtungsprojekten großen Maßstabs. Ausgangspunkt istdas umfangreiche Datenmaterial, das von verschiedenen internatio-nalen Einrichtungen gesammelt wurde. Für die Interpretation desMaterials entwickelte Charlot ein neues Computerprogramm, das„Sophisticated Population Synthesis Model“.❿ DR. GLEB SUKHORUKOV  (32), Russische Föderation,Physikalische Chemie und Oberflächenphysik, MPI für Kolloid-und Grenzflächenforschung, Potsdam.Gleb Sukhorukov studierte an der Lomonosov Universität in Moskau,wo er 1994 promoviert wurde. Seitdem ist er als wissenschaftlicherMitarbeiter am Institut für Kristallographie der Russischen Akademieder Wissenschaften und am Max-Planck-Institut für Kolloid- undGrenzflächenforschung in Potsdam tätig. Als profilierter Biophysikerhat sich Sukhorukov auf Hohlkapseln aus Polymeren spezialisiert.Sie werden benutzt, um Arzneien oder andere Stoffe in der Pharma-zie, Lebensmitteltechnik und Gen-Technologie einzusetzen. Bisherentwickelte Sukhorukov neue Methoden, um Kapseln zu produzieren.Außerdem erforschte er die Durchlässigkeit und Elastizität der Poly-merkapseln und wie sich diese Eigenschaften kontrollieren lassen. In-

ternationale Beachtung erhielt Sukhorukov für die Entwicklung vonMethoden zur Kolloidbeschichtung durch polymere Multischichten.❿ DR. GRIGORI V AJENINE (27), Russische Föderation,Festkörperchemie, MPI für Festkörperforschung, Stuttgart.Grigori Vajenine studierte an den Colleges für Chemie in Moskauund Bethe (USA) und wurde 1997 an der Cornell Universität in Ithaca(USA) promoviert. Seitdem war er Mitarbeiter an der UniversitätCornell und am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung inStuttgart. Darüber hinaus erhielt er verschiedene Forschungspreise. Vajenine arbeitet als Festkörperchemiker sowohl theoretisch als auchexperimentell. In seinen theoretischen Arbeiten erforscht Vajeninedie Atom-Muster, die entstehen, wenn sich Metalle nach dem Kon-densieren in Kristallen miteinander verknüpfen. Seine Experimentegelten der Struktur eines ersten Suboxides mit Erdalkalimetallen.

DER SOFJA KOVALEVSKAJA-PREIS

schnellen – beteiligt. Die Biochemi-kerin hofft, dass sie mit der neuenKinase eine zentrale Masche des

 Alarmierungsnetzwerkes der Zelle inder Hand hat. Vielleicht, so die Idee,kann man ausgehend von dieser Ma-sche nach und nach größere Bereichedes komplexen Anti-Stress-Netz-werks der Pflanzenzellen enthüllen.

Gut möglich, dass Romeis dabei ir-gendwann auch an den geheimnis-

 vollen Rezeptorkomplex gelangt, der am Anfang ihres Weges zu den CDP-Kinasen gestanden hat. Die Erfor-schung der geheimnisvollen Pfeileauf den weißen Teilen der biochemi-

schen Landkarte verspricht aber auch ohne diese Aussicht sehr aufre-gende Zeiten. Sehr weit voraus in dieZukunft gedacht – hier wird Romeissehr vorsichtig – könnte man einesTages vielleicht versuchen, sich dieerforschten Mechanismen zu Nutzezu machen, um zum Beispiel resis-tentere Pflanzen zu gewinnen: etwasolche, die bei tieferen Temperaturengedeihen oder salzhaltige Böden ver-tragen. Und zwar nur mit den Mit-

teln, die diese Pflanzen gewisser-maßen in ihrem eigenen Werkzeug-kasten haben, ohne „hereingeklonte“Fremdgene.

Bis diese Ernte eingefahren werdenkann, wird es aber wohl noch eine

 Weile dauern. Denn, so Romeis, „diegrüne Biochemie hängt derzeit nocheinige Jahre hinter der ‚roten’zurück“ – weil sich sehr viel weniger Forscher für Pflanzen interessieren,weil in die „rote Biochemie“ durchihre medizinische Bedeutung mehr Gelder fließen, und weil Pflanzenzel-len durch ihre harte Zellwand ebennicht so leicht zu knacken sind. War-

um hat sie sich dieses Forschungsge-biet dann ausgesucht? „Ich wollteimmer schon dahin,“ sagt sie, „ichmag Pflanzen und Blumen sehr.“

Ihre „grüne“ Seele ist in ihrer Kindheit gereift. Aus einem fränki-schen 3000-Seelen-Dorf in ländli-cher Gegend stammend und ein eher großstadtfeindliches „Gewächs“, istdie heute noch passionierte Reiterinnaturnah aufgewachsen. Bald ent-wickelte die junge Forscherin eine

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PERSON

„Die Züchtungsforschung ist ein Institut, das gerade im Aufbruch ist.

Hier finde ich Leute, die gemeinsam etwas Neues aufbauen wollen“, sagt Tina Romeis.

Durch akademische Wanderjahre gestählt für die interdisziplinäre

Zusammenarbeit: „Man muss als Chef nicht allkompetent sein.

Als Gruppenleiter muss man Zusammenhänge sehen – und neugierig bleiben.“

unstillbare Neugier, die sie sich bisheute bewahrt hat. „Ich wollte immer 

wissen, was hinter den Dingensteckt. Woher lebendige Dinge ihreStrukturen, Farben und Formen ha-ben.“ In einer Facharbeit für den Lei-stungskurs Chemie untersuchte siezum Beispiel den Einfluss vonSchwermetallen auf Pflanzen. Dawar die Entscheidung, Biochemie –und zwar die grüne! – studieren zuwollen, nur konsequent. Romeis ent-schied sich für Tübingen, unter an-derem, weil hier eben auch Pflanzen-physiologie als drittes Hauptfach an-geboten wurde.

Dort bekam sie dann ihren erstenbiochemischen Schliff. Diplom undPromotion bei Joachim-Volker Höltjeam Max-Planck-Institut für Entwick-lungsbiologie führten sie allerdingstrotz ihres grünen Wahlfachs ersteinmal wieder weg von ihrem eigent-lichen Ziel: Bei ihrer Doktorarbeitging es um die Chemie der Bak-terienzellwand während der Zelltei-lung von Escherichia coli. Etwasnäher kam sie ihrem Steckenpferddann erst wieder in München – „ob-wohl Großstadt, aber auch – wie dieMünchner sagen – ein ‚Millionen-dorf’. Das Labor hatte einen fantasti-schen Blick auf den botanischen Gar-ten, das ging für mich also in Ord-nung...“. In München rückte sie als

Post-Doc bei Regine Kahmann näher an die Front im Kleinkrieg zwischenPflanzen und Pilzen – allerdings ersteinmal „auf der ‘falschen’ Seite“.Romeis’ Aufgabe war die Erfor-schung der Gene und Genprodukte,die es bestimmten Pilzen ermögli-chen, sich selbst von ihren Artgenos-sen zu unterscheiden und Tumore inMaispflanzen zu verursachen.

Tina Romeis näherte sich demThema zwar nicht über die DNA,sondern zunächst, wie es sich füreine Biochemikerin gehört, indem sieeinige der wichtigsten am Erken-nungsmechanismus beteiligten Mo-

leküle untersuchte. Aber: „Durch die‘genetische’ Umgebung in Münchenhabe ich gelernt, wie Genetiker anihre Aufgaben herangehen und neueSichtweisen hinzugewonnen.“

HINEINDENKEN

IN ANDERE DISZIPLINEN

Doch nach drei Jahren stand end-gültig fest: „Keine Pilze mehr.“ Esfolgte der Wechsel nach Norwich, wosie sich endlich dezidiert mit der Pflanzenbiochemie auseinander set-zen konnte. Wenngleich sie ihre

 Wurzeln in München nie ganz kapp-te: Damit sie sich an der Isar habili-tieren konnte, ohne das Labor inNorwich im Stich lassen zu müssen,machte sie sich mehrmals im Jahr auf den Weg über den Ärmelkanal,um in der bayerischen Landeshaupt-stadt weiterhin Vorlesungen oder Se-minare zu halten undKurse zu betreuen.

So war ihre Reisezum Max-Planck-In-stitut für Züchtungs-forschung ein ver-meintlich langer Wegmit einigen Umwe-gen. „Aber das zahltsich aus. Ich habe in

 verschiedenen For-

schungsfeldern die Gedanken und Arbeitsmethoden vieler Kollegenkennen gelernt, das hilft mir jetztsehr.“ Schließlich lassen sich diekomplexen Probleme der Zellfor-schung am besten interdisziplinär lösen. So auch an der neuen Abtei-lung, der sie die nächsten Jahre an-gehören wird: Hier arbeiten Geneti-ker und Biochemiker Hand in Hand.„Ich komme hier an ein Institut, dasgerade im Aufbruch ist. Hier findeich viele Leute, die sagen‚ lass’ unsgemeinsam etwas Neues anfangen,lass’ uns etwas tun. Hier gibt es ein‘challenging and high profile scienti-

fic environment’. Das war der Grundfür mich, hierher zu kommen.“

Bei der Zusammenarbeit mit ihrenneuen Kollegen wird Romeis eine

 Weisheit helfen, die sie auch vonihren Reisen mitgebracht hat. „Ichhabe gelernt, dass man als Chef nicht allkompetent sein kann undmuss. In Detailfragen verlasse ichmich auf Spezialisten. Als Gruppen-leiter muss man Zusammenhänge se-hen, den Überblick behalten, neueProzesse initiieren – und neugierigbleiben.“ Dennoch – hat sie sichdenn, täglich praktisch beide Armeund die Gedanken tief in der Pflan-zenbiochemie, ihr Faible für Blumenerhalten können? Sind Pflanzennicht längst ein bloßer Arbeitsge-genstand? „Nein,“ lacht sie, „da hatsich nichts geändert. In England binich sogar ein echter Rosenfan gewor-

den. Obwohl ich kei-nen eigenen Gartenhabe – aber das kann

 ja noch kommen“. Zum Abschluss des Besuchsführt sie uns zu ihrer Lieblingsstelle auf demInstitutscampus: eineausgedehnte Wiese mitbunten Feldblumen.

STEFAN ALBUS

3 / 2 0 0 1 M A X P L A N C K F O R S C H U N G 91

NEU erschien

Die Autoren beginnen im erstenKapitel mit der Darstellung des klas-sischen Wahrscheinlichkeitsbegriffs,der sich zunächst aus der Erwartungdes Gewinns in einem fairen Spielableitete. Es ist interessant zu sehen,wie diese ersten Versuche, die auf diesubjektive „faire Erwartung“ für dasEintreffen eines zukünftigen Ereig-nisses zurückgriffen, der heutigenInterpretation der abstrakten mathe-matischen Wahrscheinlichkeit näher stehen als die durch die wachsendeBedeutung statistischer Analysen ge-prägten und aus relativen Häufig-keiten abgeleiteten Definitionen im19. Jahrhundert. Die frühe Entwick-

lung wurde vor allem von bedeuten-den Mathematikern der Zeit, unter anderem von Jacob Bernoulli undPierre Simon Laplace, getra-gen. Sie gipfelten in Ber-noullis Theorem über das„Gesetz der großen Zahl“und seiner Umkehrung, diehier als Bayes’sches Theo-rem bezeichnet wird und inden späteren Kapiteln über die Interpretation statisti-scher Analysen eine we-sentliche Rolle spielt. Aller-dings ist die formale Darstellung desTheorems auf S. 52 für den mit der 

 Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht Vertrauten kaum nachvollziehbar,da die verwendeten Größen nichtgenauer definiert und inhärente Vor-aussetzungen nicht genannt werden.

Kapitel zwei ist der großen Zeit der Statistik im 19. Jahrhundert gewid-met. Die Autoren zeigen auf, wiediese sich aus der Erhebung gesell-

schaftlicher Daten entwickelte unddamit dem Vorwurf entging, demseit Newton in der Naturwissenschaft

 vorherrschenden mechanistischen Weltbild des Determinismus zu wi-dersprechen. Zur Interpretation sta-tistischer Daten wurde die Gauß’scheFehlertheorie entwickelt, die für die

 Verteilung der Messwerte um denwahren Wert die Gauß’sche Glocken-kurve ergab. Diese Techniken über-trugen sich gegen Ende des Jahr-

Experten der

Unsicherheit

Gerd Gigerenzer, Zeno Swijtink, Theodore

Porter, Lorraine Daston, John Beatty,

Lorenz Krüger, DAS REICH DES ZUFALLS:

Wissen zwischen Wahrscheinlichkeiten,

Häufigkeiten und Unschärfen,

374 Seiten, Spektrum Akademischer

 Verlag, Heidelberg, Berlin, 78 Mark.

Zufall – ein Wort, das wie kaumein anderes unseren alltäglichen

Sprachgebrauch, Naturwissenschaft,Mathematik und letztlich damit auchdie Philosophie durchdringt. Wiekaum bei einem anderen Begriff ver-mischen sich hier rationale Gedan-

ken mit individuell psychologischenErwartungen bis hin zu Glaubens-überzeugungen. Wie kaum sonst trifft hier strenge

mathematische Analyse als Quantifi-zierung des Zufalls mit persönlichenund gesellschaftlichen Wertungenzusammen, und das macht diesesThema als Beispiel gesellschaftlicher 

 Abhängigkeit in der Interpretationwissenschaftlicher Begriffe so span-nend. Ist ein Zufall wirklich zufälligoder bleiben uns nur seine kausalenUrsachen verborgen? Was bedeutendie mit einem deterministischen Pro-gramm in einem Rechner erzeugtenZufallszahlen?

Diesem faszinierenden Themen-kreis ist das vorliegende Buch ge-widmet. Es setzt sich zum Ziel, demschillernden Begriff des Zufalls inseinem Bedeutungswandel im Lauf der historischen Entwicklung, in sei-nem Bezug zu Wahrscheinlichkeitund Statistik und in seiner zuneh-

mend prägenden Ausstrahlung auf  Wissenschaft und Gesellschaft nach-zuspüren.

Dazu haben sich die sechs Autorenaus unterschiedlichen Disziplinen –Bildungsforschung, Philosophie, Ge-schichte und Wissenschaftsgeschich-te – zusammengefunden und einwahrhaft umfassendes Kompendiumdes Wahrscheinlichkeitsbegriffs undseiner statistischen Interpretation inNatur- und Geisteswissenschaft von

der späten Renaissance bis zur Neu-zeit vorgelegt. Zum Gelingen diesesinterdisziplinären Vorhabens trug –wie man der Danksagung entnehmenkann – ganz entscheidend bei, dassdie Autoren bei zwei gemeinsamen

 Aufenthalten in gastlichen Häusernsich gegenseitig anregen und einegemeinsame Sprache finden konn-ten. Und dies merkt man dem Buchin jedem seiner Kapitel an: Der Blick wird nie auf einen Teilaspekt ver-engt, sondern behält stets in breitangelegter Perspektive das Ganzeim Auge.

Diese neue Sichtweise ist ebensofesselnd wie gelegentlich mühsam,

denn sie verlangt dem Leser nichtnur eigene Kenntnisse in der Philo-sophiegeschichte ab, sondern über-flutet ihn oftmals mit einer überbor-denden Fülle von Quellenzitaten undden dort vertretenen Lehrmeinun-gen. Dies ist eben kein „Buch für denNachttisch“, sondern fordert zugroßer geistiger Konzentration her-aus, um sich die Fülle des von sechsExperten ihrer Fächer Vorgestelltenzu erarbeiten.

Der mathematisch-naturwissen-schaftlich orientierte Leser hätte sichallerdings gewünscht, dass die Auto-ren auch noch einen Mathematiker hinzugezogen hätten, um die mathe-matische Entwicklung des Wahr-scheinlichkeitsbegriffs und seine Be-ziehung zur relativen Häufigkeitschärfer darzustellen, von der später als nicht hinreichend erkannten Defi-nition durch Richard von Mises bishin zur axiomatischen Fassung durch

 A. N. Kolmogoroff. Dies ist sicher auch für eine mehr die qualitativen

 Aspekte in den Vordergrund stellendeDarstellung nicht ohne Belang, da dieErkenntnis, dass sich Wahrschein-lichkeit nicht als Limes relativer Häu-figkeiten definieren lässt, zu einer Neuinterpretation zwang. In diesemZusammenhang vermisst man auchden insbesondere in der Naturwissen-schaft immer mehr in den Vorder-grund tretenden Zusammenhang mitder Informationstheorie.

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92   M A X P L A N C K F O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

U erschienen

hunderts auf die Naturwissenschaftin Form der kinetischen Gastheorie

 von James Clark Maxwell und der statistischen Mechanik von LudwigBoltzmann.

Das anschließende Kapitel „DieExperten der Unsicherheit“ ist sicher eines der interessantesten und auchdas zentrale des ganzen Buchs, da eseine umfassende Darstellung der Me-thoden statistischer Analysen unddes Statistikerstreits bietet, der sichbis ins vorige Jahrhundert und mög-licherweise auch noch bis in die Ge-genwart hinzieht. Es geht dabei umdie Frage, welche Information manaus Statistikreihen gewinnen kann,

und dies ist natürlich für die gesell-schaftliche Interpretation statisti-scher Daten von größter Bedeutung.

 Ausführlich wird die Kontroversezweier bedeutender Schulen, der vonRonald A. Fisher und der von Jerzy Neyman und Egon S. Pearson, an-hand aktueller Beispiele dargestellt.

 Vier weitere Kapitel sind den An-wendungen von Wahrscheinlichkeitund Statistik in unserem heutigenDenken gewidmet, wobei Biologieund Physik in den Naturwissen-schaften und die Psychologie in denGesellschaftswissenschaften promi-nente Beispiele liefern. Insbesonderewird der Einzug des abstrakten

 Wahrscheinlichkeitsbegriffs in dieGrundlagen des physikalischen Welt-bilds, wie er sich in der Quantenme-chanik vollzog und den wissen-schaftlichen Determinismus erschüt-terte, ausführlich diskutiert. Leider wird hier nicht auf die entscheidendeRolle der Zustandsreduktion imMessprozess hingewiesen, die erstdas Kausalverhalten bricht, nachdemsich die Zustände selbst nach der Schrödinger-Gleichung streng kausalentwickeln. Ein äußerst anregendesund kritisches Fazit bietet das ab-schließende Kapitel „Die Implikatio-nen des Zufalls“, das nochmals auf-zeigt, in welch umfassender Weisestatistisches Denken unsere heutigenBegriffsbildungen in Natur- undGeisteswissenschaft beherrscht.

Das Buch wendet sich an Leser, dieein vertieftes Bild des so schillerndenBegriffs Zufall suchen und bereitsind, den Autoren in ihrem weit ge-spannten Bogen über die histori-schen und wissenschaftstheoreti-schen Aspekte dieses Begriffs zu fol-gen. Spezielle mathematische Kennt-nisse sind hierfür nicht erforderlich.Dennoch ist das Buch nicht leicht zulesen. Wer tiefer in die Materie ein-dringen will, wird um Zurückverwei-sungen und gelegentliche Zuhilfe-nahme der in großer Fülle zitiertenOriginalliteratur nicht herumkom-men. Aber der Leser wird für dieseMühe reichlich belohnt, denn er pro-

fitiert von einer besonderen Stern-stunde wissenschaftlicher Publikati-on, in der sechs Autoren in Klausur gingen, um ihr Fachwissen so einzu-bringen, dass eine wahrhaft inter-disziplinäre Darstellung gelang.

Einige kritische Anmerkungen sei-en dennoch erlaubt, die vielleicht für spätere Auflagen Anregungen gebenkönnen. Für den mit Wahrschein-lichkeitsrechnung und Statistik nicht

 vertrauten Leser wäre es nützlich,am Beginn der Bibliographie einigeelementare Darstellungen dieser Ge-biete zu nennen. Ein Anhang miteiner kurzen Einführung in die

 Wahrscheinlichkeitsrechnung (unab-hängige Ereignisse, Produktsatz, we-niger spezifische Merkmale, Sum-mensatz), die ja mit elementarmathe-matischen Begriffen auskommt,würde es dem ambitionierten Leser erlauben, zum Beispiel die aufS. 239/240 aufgeführten Beispielefür das Bayes’sche Theorem rechne-risch nachzuvollziehen. Für eineErstauflage weist das Buch erfreulichwenige Druckfehler auf, dennochsollten die aus verschiedenen Über-setzungen stammenden Begriffehomologisiert werden, um unge-bräuchliche, aus dem Englischenwörtlich übersetzte Begriffe, wie auf S. 66 „das zweite Gesetz der Thermo-dynamik“, zu vermeiden, das imDeutschen „Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik“ heißt. FRIEDRICH BECK

Regeln für

gute Wissen-

schaft

 Was ist verantwortliches Han-deln in der Wissenschaft?

Zu dieser Frage hat ein Arbeits-kreis des Wissenschaftlichen Ratsder Max-Planck-Gesellschaft un-ter dem Vorsitz von WolfgangEdelstein und Peter Hans Hof-schneider ein über hundert Seitenstarkes Papier verfasst, das jetzt inder Reihe „Max-Planck-Forum“erschienen ist.

Neben den Analysen und Emp-

fehlungen enthält die Broschüreauch die „Regeln zur Sicherungguter wissenschaftlicher Praxis“,die Ende 2000 vom Senat der Max-P lanck-Gesellschaft be-schlossen wur-den, die novel-lierte „Verfah-rensordnung bei

 Verdacht auf wissenschaftli-ches Fehlverhal-ten“ sowie Emp-fehlungen zur Erhöhung des Frau-enanteils in gehobenen Positionenin der Max-Planck-Gesellschaft.Die „Regeln zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis“ sindfür alle Mitarbeiter verbindlich.Der Text ist als PDF-Datei unter www.mpforum.de auch im Inter-net verfügbar. Dort finden Sieaußerdem das Max-Planck-Dis-kussionsforum. GOTTFRIED PLEHN

Die Broschüre kann kostenlos

bei der Pressestelle der

Max-Planck-Gesellschaft,

Postfach 10 10 62,

80084 München,

angefordert werden.

Tel.: 089/2108-1276

Fax: 089/2108-1207E-Mail: [email protected]

DIE DRITTE  ENTITÄT

Zum Artikel „Eine Quelle der

Demut“, MPF 2/2001:

99 Prozent der DNA-Sequenzen vonMensch und Schimpansen ähnelnsich. Es ist ja auch nicht viel, wasbeim Menschen hinzukommt, näm-lich erweiterte Artikulationsmöglich-keiten und schritthaltend damit einweiterer Ausbau des Gehirns, damitder Mensch diese Möglichkeiten auchnutzen kann. Allerdings kann er sienur deshalb nutzen, weil die Evoluti-on zuvor etwas Merkwürdiges erfun-den hatte, was außerhalb der Natur-wissenschaften steht. Ich will das

kurz erklären: Wenn Sie sich im Fern-sehen ein Fußballspiel anschauen, so

 vermittelt Ihnen die Bildröhre denEindruck farbiger Hektik auf demgrünen Rasen. Das verdanken Sie et-wa einer Million farbiger Phosphor-plättchen, die aufleuchten, wenn sie

 von Elektronenstrahlen getroffenwerden. Aber die vielen leuchtendenPunkte sind nicht das Bild, sondernsie tragen es nur! Ähnliches geschiehtin Ihrem Gehirn: Das Auge empfängtLichtwellen und gibt elektrische Im-pulse an das Gehirn weiter. Und phy-sisch entstehen im Gehirn nichts an-deres als elektrische Impulse „feuern-der“ Nervenzellen. Diese Impulse aber sind nicht das Bild, sondern sie tra-gen es nur. Wo aber entsteht daseigentliche Abbild des Fußballspiels?In Ihrem metaphysischen „Ich“! Also verfügt der Mensch doch über 

etwas Besonderes, das ihn über seinenur physische Umwelt erhebt? Denner nimmt die Umwelt wahr, er be-merkt seine eigenen Gedanken undnicht elektrische Impulse, er empfin-det metaphysisch Freude undSchmerz. Doch es gibt gute Gründefür die Annahme, dass nicht nur der Mensch, sondern auch die höher or-ganisierte Tierwelt von diesem meta-physischen Phänomen profitiert. Pro-fitiert deshalb, weil neue Erfahrun-gen im Gehirn nicht als bedeutungs-lose und zusammenhanglose neueelektrische Impulse, sondern als Ab-

bild der Realität registriert werden,auf welches zweckmäßige und auchlebenserhaltende Reaktionen möglichsind! Denn neue elektrische Impulseallein haben noch nicht gelernt, mitzweckmäßigen Reaktionen verbun-den zu sein.

Svante Pääbo schreibt: „Die Er-kenntnis, dass ein einziger Zufalloder wenige genetische Zufälle diemenschliche Geschichte erst möglichmachten, wird uns völlig neue philo-sophische Herausforderungen be-scheren, über die wir nachdenkenmüssen.“ Verzeihung, ich empfindedie Erkenntnis, dass erst Metaphysik die Entwicklung der höheren Tierwelt

einschließlich des Menschen möglichmachte, als eine vielleicht nochgrößere philosophische Herausforde-rung! Übrigens ist jenes metaphysi-sche Phänomen wohl bekannt. Philo-sophen und Hirnforscher sprechen

 von „Qualia“, ohne diesen aber ir-gendeine physische Wirkung zuzu-billigen. Weit verbreitet, wenn auchmissverstanden, ist seine Bedeutungals Information. Schon Norbert Wie-ner, der Vater der Kybernetik, stellteMitte des vorigen Jahrhunderts fest:Information ist eine neben Materieund Energie dritte Entität!

PROF. PETER R. GERKE, GRÄFELFING

ALLES ÜBER EINEN  LEISTEN

Zum Artikel „Mathe mangelhaft“,

MPF 1/2001:

 Von meinem Standpunkt – ich binseit 27 Jahren Gymnasiallehrer in

 Wien – scheint mir die ganze TIMS-Studie nicht sehr aussagekräftig.Einerseits habe ich den Eindruck,dass hier die ganze Welt über den an-gelsächsischen Leisten geschlagenwerden soll, bei allen Schwierigkei-ten eines solchen Vergleichs. Ande-rerseits sind 15- bis 18-Jährige heil-los überfordert, wenn sie schon indiesem Alter selbstständig Theorienund dergleichen aufstellen sollen:Dafür ist an der Universität genugZeit!   PROF. WALTER KLAG, WIEN

ESPERANTO-ARBEITSGEMEINSCHAFT

LESERbriefe 

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INSTITUTE aktu

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INSTITUTE

   F   O   T   O   S  :   T   O   M

   H   E   R   B   S   T ,   M   P   I   F    Ü   R

   A   S   T   R   O   N   O   M   I   E

    /   L   U   C   I   A   N   O

   M   I   G   L   I   E   T   T   A ,   L

   B   T   C

Die 20 Meterhohe Montierudes Fernrohrs.

Forscher mit dem LBT viel-leicht zum ersten Mal Plane-ten bei anderen Sternendirekt nachweisen. An dem200-Millionen-Mark-Projektbeteiligen sich Institute undUnternehmen aus den USA,Italien und Deutschland.

Das Large Binocular Telescopeist im Prinzip ein gigantischerFeldstecher. Die beiden 8,4-

Meter-Spiegel bieten zusam-men ein 100 Quadratmetergroßes „Auffangbecken” fürdas Licht – so viel wie ein Ein-zelspiegel von 12,6 MeterDurchmesser. Auf diese Weisesammelt das Teleskop auchnoch die Strahlung der leucht-schwächsten Objekte am Randdes beobachtbaren Universums.Das Zusammenspiel der beidenim Abstand von 14,4 Meternnebeneinander montiertenSpiegel verleiht dem LBT au-ßerdem ein Auflösungsvermö-gen, das dem eines einzigenFernrohrs von 23 Meter Öff-nung entspricht. Jeder Spiegelgleicht einer überdimensiona-len „Honigwabe” aus Borsilikat-Glas und wiegt 15,6 Tonnen.

Um die volle Leistungsfähigkeitdes neuen Teleskops zu nutzen,werden die von jedem Einzel-spiegel reflektierten Lichtstrah-len überlagert, das heißt zurInterferenz gebracht. Dieserphysikalische Kunstgriff ist derGrund für die oben erwähnteaußerordentlich hohe Bild-schärfe. Ein weiterer Vorteil desLarge Binocular Telescope istsein vergleichsweise großesGesichtsfeld von ungefähr40 Bogensekunden (entspre-chend dem scheinbaren Durch-messer des Planeten Jupiter).Am LBT gewinnen die Astrono-men also großräumige Aufnah-men, die noch kleinste Detailszeigen. Ausgestattet ist dasFernrohr mit adaptiver Optik,die das „Flimmern” der Luftausschaltet und ungestörteBilder liefert. Zudem hält einSystem von mechanischen,computergesteuerten Stößelndie Spiegel stets in der richti-

gen Form (aktive Optik). Vier Instrumente analysierendas Licht aus den Tiefen desAlls: eine elektronische Kameramit großem Gesichtsfeld (Weit-feld-CCD), ein Paar Infrarot-Spektrografen (LUCIFER), eineKamera im gemeinsamenBrennpunkt (LINC) sowie – imrechten Spiegel untergebracht– ein optischer Spektrograf (MODS). Alle Instrumente sol-len ständig am Teleskop mon-

tiert bleiben. Die Wissenschaft-ler können mit jedem „Auge”unabhängig voneinander das-selbe Objekt beobachten, durchleichtes „Kippen” der Sehach-sen aber auch unterschiedlicheObjekte studieren oder sich mitbeiden „Augen” im Interferenz-modus ein und dasselbe Objektmit höchstem Auflösungsver-mögen vornehmen. „Dadurchgarantiert das LBT einzigartigeFlexibilität”, sagt Prof. Hans-Walter Rix, Direktor des Heidel-berger Max-Planck-Institutsfür Astronomie, der die Feder-führung der deutschen Projekt-beteiligung hat.Mit dem Large Binocular Teles-cope werden die Astronomenvor allem weit entfernte Milch-

straßensysteme, junge Doppel-sterne und neu geborene Son-nen inmitten von protoplane-taren Scheiben ins Visier neh-men. Mit dem so genanntenNull-Interferometer wollendie Experten nach extrasolarenHimmelskörpern fahnden.Dabei soll das Instrument dasLicht eines fernen Sterns „aus-blenden”, um das schwacheGlimmen der vom Stern sonstüberstrahlten Planeten sicht-bar zu machen.Die Komponenten des LargeBinocular Telescope werdenzurzeit in den drei Partnerlän-dern USA, Italien und Deutsch-land gefertigt: Das drehbare,53 Meter hohe und 2000 Ton-nen schwere Teleskopgebäudesteht auf dem 3200 Meterhohen Mount Graham an deramerikanisch-mexikanischenGrenze vor seiner Vollendung;die beiden Teleskopspiegelwurden ebenfalls in den USA

gegossen. Deutsche Astrono-men arbeiten intensiv an derPlanung und Fertigung derhoch empfindlichen Messin-strumente. Und die Firma An-saldo Energia in Mailand hatdie eigentliche Teleskopstruk-tur entwickelt und gebaut.Sie wurde am 27. Juni von denAufsichtsratmitgliedern des LBTbesichtigt. Dabei überzeugtensich die Astronomen von derPräzision der Konstruktion.

In Mailand haben Astrono-men am 27. Juni Richtfestfür das größte bisher gebau-te „Fernglas” gefeiert. Mitzwei Spiegeln von jeweils8,4 Meter Durchmesser undeinem Gesamtgewicht von600 Tonnen wird dieses LargeBinocular Telescope (LBT)nach seiner Inbetriebnahmein drei Jahren auf demMount Graham im US-Bun-

desstaat Arizona das leis-tungsfähigste Einzelteleskopder Welt sein. „Das LBTkönnte Fragen beantworten,die schon seit dem AltenTestament diskutiert werden,zum Beispiel: Wann wurde esLicht im Universum?”, sagtProf. Hans-Walter Rix, Direk-tor des Max-Planck-Institutsfür Astronomie in Heidelberg.Darüber hinaus werden die

Zwei Augensehen besser:Mit den beidenSpiegeln von je-weils 8,4 MeterDurchmesser wirddas „Large Bino-cular Telescope”zu den Grenzendes Universumsspähen.

Denn die mehr als 20 Meterhohe Struktur muss hundertevon Tonnen auf Bruchteileeines Millimeters genaubewegen.„Es ist begeisternd zu sehen,dass nach über zehn Jahren Vorbereitung, Planung und Baudie einzelnen Teile dieses Tele-skops fertig werden. Jetzt kön-nen wir uns voll auf die Inte-gration der Komponenten kon-zentrieren. Denn nur wenn diebeste Mechanik, die bestenSpiegel und die besten Instru-mente reibungslos zusammen-spielen, können wir mit diesemFernrohr astronomische Spit-zenforschung betreiben”, sagtRix. Es werde aber noch zweibis drei Jahre dauern, bis dieeinzelnen Bauteile zusammen-gefügt sind und miteinanderharmonieren. „Aber dann ha-

ben wir ein neues, beispiellosscharfes Werkzeug in der Hand,um die Rätsel des Universumszu entschlüsseln.”

Weitere Informationenerhalten Sie von:

PROF. HANS-WALTER RIX

Max-Planck-Institutfür Astronomie, HeidelbergTel.: 06221/528-211Fax: 06221/528-339E-Mail: [email protected]

@

ASTRONOMIE

Richtfest für das größte „Fernglas“ der Welt

aktuell aktuell 

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STITUTE aktuell 

96   M A X  P  L A N C K F  O R S C H U N G   3 / 2 0 0 1

ein Gewässer untersucht, das mehroder weniger stark geschädigt ist.”Zwick und seine Kollegen konzen-trieren sich heute auf eine Aus-wahl häufiger und damit wichti-ger Arten, die sie in ihrer „Emer-genzfalle” finden, vor allemKöcher-, Stein- und Eintagsfliegensowie eine Reihe wirklicher Flie-genfamilien. Die Emergenzfalle

gleicht einem sechs Meter langen,den rund einen Meter breitenBachlauf überspannenden „Ge-wächshaus” mit einer Zeltkon-struktion im Inneren, in der die er-wachsenen Tiere nach oben stei-gen und in ein Auffanggefäß ge-langen, aus dem es kein Entrinnengibt und in dem sie gleich konser-viert werden.Darüber hinaus widmen sich dieWissenschaftler parallel zu denEmergenzstudien der Untersu-chung von im Wasser lebendenOrganismengruppen; besondersdie Flohkrebse (Gammariden) wer-den genau unter die Lupe genom-men. Die etwa zwei Zentimetergroßen Tiere sind im Bach für dasGrobe zuständig: Sie zerschred-dern das Laub und sonstiges orga-nisches Material (Detritus) und lie-fern damit Nahrung für viele an-dere Organismen, zum Beispiel fürInsektenlarven. Die Forschungenam Breitenbach haben immer Sai-son. Der Oberlauf friert nicht zu.

Die übers Jahr konstante Wasser-temperatur von acht Grad Celsiusnahe der Quelle spiegelt die jährli-che Durchschnittstemperatur dergeografischen Breite wider. ImWinter erleben einige Bewohnerim und am Bach sogar denHöhepunkt ihrer Entwicklung:Die erste Steinfliege (Leuctra

prima ) schlüpft, der Gletscherfloh(Boreus hiemalis ) geht auf denkleinen Schneeinseln auf Nah-rungssuche und schon im Februar

erwacht auch die Larve derKöcherfliege (Apatania fimbiata )aus ihrer Winterruhe.In den vergangenen fünfzigJahren haben die Schlitzer Wissen-schaftler ungefähr 1000 Fach-publikationen veröffentlicht. DieKernfragen ihrer Forschungenhaben sich bis heute kaum verän-dert: Welche abiotischen, also leb-losen und biotischen Faktoren ge-stalten und kontrollieren die Le-bensgemeinschaft? Welche Rück-wirkungen auf den Lebensraumgibt es? Bei Tieren und Pflanzenkönnen auch gestaltlich sehr ähn-liche Arten in ihrer Ökologie, inihren Ansprüchen und Leistungendeutlich verschieden sein undmüssen wissenschaftlich getrenntbetrachtet werden. Vermutlich gilt

Ähnliches für die Mikroben, wo ei-ne vergleichbar präzise Unterschei-dung der Formen erst jetzt durchmoderne molekularbiologischeMethoden möglich zu werden be-ginnt. Die Verfahren werden inSchlitz derzeit erprobt, die Limno-logen erwarten ein erheblich ver-tieftes Verständnis der Rolle dieserOrganismen im Ökosystem.Bei den Wirbellosen werden Ana-lysen der Konkurrenzvermeidungund experimentelle Untersuchun-gen von Entwicklung, Wachstumund Reproduktionspotenzial – je-weils in Abhängigkeit von abioti-schen Faktoren und biotischen In-teraktionen – weitergeführt undintensiviert, ebenso wie die Analy-sen der Schwankungen in derDichte des Vorkommens von In-sekten mit künstlichen neuronalenNetzen. Peter Zwick: „Hauptziel istdie Zusammenführung und ne-beneinander gereihte Darstellungder verschiedenen Forschungser-gebnisse in einer Gesamtschau

des Ökosystems Breitenbach alsMusterbeispiel für Strukturund Funktion eines naturnahenBach-Oberlaufs in unserenMittelgebirgen.“

Weitere Informationenerhalten Sie von:

PROF. DR. PETER ZWICK

Limnologische Fluss-Station SchlitzTel.: 06642/9603-30Fax: 06642/6724E-Mail: [email protected]

@

ist die Gesamtheit von Lebens-raum (Biotop) und Lebensgemein-schaft (Biozönose) aus Pflanzen,Tieren und Mikroben. Die For-schung basiert auf der Limnologie,also der Wissenschaft von denBinnengewässern. Die Limnologieist interdisziplinär und vereint Ein-zelwissenschaften wie Physik,Chemie, Botanik, Zoologie oderMikrobiologie.Am Beginn des ökologischenKreislaufs stehen Pflanzen desBachs sowie organische Stoffe ausder bacheigenen Primärproduktionoder aus der Umgebung. Sie sindGrundlage des Energie- und Koh-

lenstoff-Flusses und die Nah-rungsbasis für Tiere, Pilze undBakterien. Bakterien und Pilzewiederum bilden eine erheblicheBiomasse, die der Fauna als Nah-rungsgrundlage dient. Tiere lebenteils direkt von Pflanzen, aberauch von anderen Tieren oder to-tem organischen Material mit sei-ner mikrobiellen Besiedlung.„Fließgewässer sind Spiegel ihrerEinzugsgebiete, vor allem kleineBäche erhalten einen Großteil derin ihnen umgesetzten Stoffe alstote Biomasse aus ihrer Umge-bung. Ihre Lebensgemeinschaftenwerden weitgehend allochton,das heißt von außen ernährt”,sagt Prof. Peter Zwick, der die LFSseit 1984 leitet.Die wissenschaftlichen Arbeitenam Breitenbach förderten Er-staunliches zu Tage: Die SchlitzerLimnologen wiesen rund 1000 hei-mische Tierarten nach; mehr alsdie Hälfte davon Wasserinsekten.Hinzu kam noch eine große An-

zahl von Einzellern und Mikroor-ganismen, deren BestimmungScharen von Forschern über Gene-rationen hinweg beschäftigenkönnte. Diese ungeheure Arten-vielfalt (Biodiversität) erschienzunächst weltweit einmalig. „InWirklichkeit ist sie für naturnaheFließgewässer aber typisch”, erläu-tert Peter Zwick. Und: „Wer in an-deren Fließgewässern weniger Ar-ten findet, der hat entweder nichtgenau genug nachgeschaut oder

sche Militärregierung die For-schungsgenehmigung. Ein Jahrspäter zeigten die Studenten indem oberhessischen StädtchenSchlitz die Ausstellung „Das Lebenunserer Heimatgewässer”. DerSchirmherr Graf Otto Hartmannvon Schlitz erwies sich später alsgroßzügiger Mäzen: Er stiftete dasGebäude der Fluss-Station undbegründete damit die Einrichtung,die eine Außenstation der damali-gen „Hydrobiologischen Anstaltder Max-Planck-Gesellschaft” inPlön ist. Erster Leiter der Fluss-Station (bis 1956 und dann wiedervon 1965 bis 1982) war Joachim

Illies, einer der Gründer.Im Jahr 1959 entstand an der Sta-tion ein neuer Seitentrakt, 1968schenkte Graf Otto Hartmann vonSchlitz der Max-Planck-Gesell-schaft die gegenüberliegende„Hallenmühle”, in der die ForscherLabor- und Arbeitsräume einrich-teten. Schließlich wurde die Stati-on 1996 erneut umgebaut. Die Verlängerung des Hauptgebäudesschaffte Platz für weitere Labors.Heute verfügt die LFS außerdemneben modernsten Analysegerätenüber eine Bibliothek, die unter an-derem 2200 Monographien und9000 Zeitschriftenbände besitzt.Bei ihrer Gründung im Jahr 1951hatte die Fluss-Station Schlitz eineeinzige Wissenschaftlerstelle undnur wenige technische Mitarbei-ter. Zurzeit sind dort 21 Beschäf-tigte tätig, darunter fünf Wissen-schaftler.In den späten sechziger Jahrenbegannen die Forscher an der LFSdamit, ökologische Beziehungen

in Fließgewässern im Detail zu er-fassen und zu quantifizieren. DieStudienobjekte sollten naturnah,durch menschliche Einflüsse in der Vergangenheit nicht entscheidendverändert und aktuell wenig ge-stört sein, sich aber kaum von an-deren Bächen im gleichen Natur-raum unterscheiden. Ein solchesGewässer war der Breitenbach, andem die Fluss-Station als Schwer-punkt ihrer Arbeit eine Ökosys-temstudie erstellte. Ein Ökosystem

Der Breitenbach entspringt inunbewohntem Waldgelände auf der Schilda, dem großen Sand-steinplateau östlich des Fulda-tals in Oberhessen. Er fließtzunächst nach Norden, biegt aneiner geologischen Verwerfungabrupt nach Westen ab undmündet schließlich oberhalb desNaturschutzgebiets „Breitecke”in die Fulda. Der Breitenbachhat ein mittleres Gefälle vondrei Prozent, ist etwa 4,2 Kilo-meter lang und eine Besonder-heit: Er zählt zu den am bestenuntersuchten Gewässern derErde. Seit fünfzig Jahren ist er

Forschungsgegenstand derLimnologischen Fluss-StationSchlitz (LFS), die als Arbeits-gruppe zum Max-Planck-Insti-tut für Limnologie in Plöngehört.

Die Geschichte der Fluss-Stationbegann an der Universität Göttin-gen. Dort wollten 1946 fünf Bio-logiestudenten ein Institut zurErforschung von Fließgewässerngründen und das gesamte Systemvon Fulda und Weser untersuchen.Als Basis erwarb die Gruppe einGrundstück an der unteren Werra;am 28. Juni 1948 erteilte die briti-

LIMNOLOGIE

Der Breitenbach als Wissensquell

SENAT

Günter Stock

ist neuer

 Vizepräsident

Der Senat der Max-Planck-Gesellschaft hatauf seiner letzten SitzungProf. Günter Stock (57) zum Vizepräsidenten der Wissen-schaftsorganisation gewählt.Er folgt in diesem AmtDr. Tyll Necker nach, der am29. März dieses Jahres über-raschend gestorben war.

Stock ist als Vorstandsmitglieddes Berliner Pharmakonzerns

Schering AG zuständig für For-schung und Entwicklung imUnternehmen, für die Betreu-ung der StrategischenGeschäftseinheitensowie für die RegionLateinamerika. Erstudierte Medizinin Heidelberg undhatte an der dorti-gen Universitäteine Professur inne,bevor er 1983 zuSchering wechselte.Dort begann erzunächst als Leiterder Herz-Kreislauf-Forschung. 1989wurde er in den Vorstand berufen. Danebenist Stock seit 1992 Mitgliedim Wissenschaftsrat, einemPolitikberatungsgremium.Seine guten Beziehungen zurakademischen Welt hat der In-dustriemann nie aufgegeben;so gehört Stock seit 1993 dem

Senat und dem Verwaltungsratder Max-Planck-Gesellschaftan. Nach Neckers Tod hat erauch den Vorsitz der Senats-kommission inne, die dieWahl des Präsidenten derMax-Planck-Gesellschaft fürdie Amtszeit 2002 bis 2008vorbereitet.

nem Gewächshaus gleicht die etwachs Meter lange Emergenzfalle, die deneitenbach überspannt.

Am 4. Juni 1951wurde das Insti-tutsgebäude derLimnologischenFluss-StationSchlitz (LFS) offi-ziell an die Max-Planck-Gesell-schaft übergeben.Das Foto zeigt(von links):Joachim Illies,einen der Gründerder Station, denMäzen Graf OttoHartmann vonSchlitz sowieOtto Hahn,damals Präsident

der Max-Planck-Gesellschaft.

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Die Pünktchen auf dem „Ö“von Göttingen strahlen nunals europäischer Stern: Schondas Signet des EuropeanNeuroscience Institute (ENI)macht deutlich, was die Ini-tiatoren im Sinn hatten, alssie das Konzept dieses Kom-petenzzentrums austüftelten;nämlich europaweit die Neu-rowissenschaften zu stärkenund ein Exzellenz-Netzwerkaufzubauen. Mit der Eröff-nung des ENI im Juni 2001übernimmt es die Funktion,

Keimzelle eines solchen Ver-bunds zu sein. Gründer sinddie Max-Planck-Gesellschaftund die Georg-August-Uni-versität Göttingen. Geforschtwird vorerst in Räumen derUniversität; ein eigener Bauist geplant.

Drei Göttinger Wissenschaft-lern ist die Idee für ENI zu ver-danken. Mit Unbehagen sahenErwin Neher vom Max-Planck-Institut für biophysikalischeChemie, Diethelm W. Richtervon der Abteilung Neurophy-siologie der Universität undWalter Stühmer vom Max-Planck-Institut für experimen-telle Medizin, dass Japan unddie USA Ende der neunzigerJahre die finanzielle Förderungneurowissenschaftlicher For-schungsprogramme dramatischaufstockten. Denn: Nach der1990 in Amerika proklamiertenDekade des Gehirns (Decade

of the brain) wurde diese vondem japanischen NeurologenMasao Ito 1997 kurzerhandzum im Jahr 2000 beginnendenCentury of the brain erweitert.Die europäische Wissenschafts-politik sollte vergleichbare An-strengungen unternehmen, umdie einst führende Rolle in denNeurowissenschaften zurück-zugewinnen und die Abwande-rung junger Nachwuchswissen-schaftler in außereuropäische

Länder mittels attraktiverArbeits- und Karrieremöglich-keiten zu verhindern, dachtensich die deutschen Forscher.Denn die Erforschung dermolekularen und zellulärenGrundlagen der Hirnfunktionsei eine, wenn nicht die be-stimmende wissenschaftlicheHerausforderung in diesemJahrhundert; zumal die Neuro-wissenschaften von den jüngs-ten Durchbrüchen und techni-schen Neuerungen auf denGebieten der Genetik, der Mo-lekularbiologie, der Biophysikund den bildgebenden Techno-logien enorm profitierten.Den Göttinger Wissenschaft-lern war klar, dass man den

außereuropäischen Anstren-gungen auf dem Gebiet derNeurowissenschaften nur eu-ropäisch würde begegnen kön-nen. Ihr Konzept greift deswe-gen die Forderung nach einerKonzentrierung der Neurowis-senschaften in europäischenExzellenzzentren auf und ver-steht die Gründung des Euro-pean Neuroscience Institute inGöttingen als Keimzelle einesNetzwerks. Diese Konzentrie-

rung im ENI leisten am Göttin-ger Standort neben den zweiMax-Planck-Instituten zahlrei-che Abteilungen der Univer-sität (aus den Fakultäten fürMedizin, Biologie und Physik)und das Deutsche Primaten-zentrum – an sie sind die vierbereits bestehenden Arbeits-gruppen angebunden, die dasENI-Konzept nun mit Leben er-füllen. Zwei widmen sich mehrder Grundlagenforschung, zweiforschen krankheitsbezogen.Die Gruppe unter Leitung vonHarald Neumann (Neuroimmu-nologie) befasst sich mit zell-schädigenden Wechselwirkun-gen zwischen Immun- undNervensystem wie sie bei Mul-

tipler Sklerose und der Alz-heimer-Erkrankung eine Rollespielen. Auf dem Gebiet derNeuroendokrinologie forschtdie Gruppe von Marjan Rupnik;sie studiert die Entwicklungneurosekretorischer Funktionenmithilfe von Elektrophysiologieund „Imaging“-Techniken.Stephan Sigrist leitet eine Ar-beitsgruppe, die die Regulationder synaptischen Prozesseals Grundlage von Lern- und

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Gedächtnisprozessen genetischanalysiert. Und die Forschungs-gruppe um Fred Wouters wid-met sich der Biophysik der Zel-le; sie betreibt das Studium vonProtein-Protein-Interaktionenwährend der neuronalen Ent-wicklung mittels „Fluoreszenz-life-time-imaging“.Auch wenn die Gruppen unab-hängig voneinander sind undselbstständig arbeiten, ist Ko-operation sehr wichtig. DieENI-Initiatoren wünschen sicheine offene, i nterdisziplinäreAtmosphäre mit einem direktenund nicht-hierarchisch gepräg-ten Kontakt zwischen allenwissenschaftlich Tätigen.Außerdem wollen sie Studen-ten gezielt für die Neurowis-

senschaften heranziehen: Diean ENI beteiligten Institutionenhaben eine international aus-gerichtete Graduate School inGöttingen etabliert, die in ein-einhalb Jahren zum Master-of-Science-Abschluss und in vierJahren zum PhD führt. DieStudenten absolvieren einenTeil ihrer Ausbildung in Formvon längerfristigen Praktikaauch am ENI, wo sie in Laborsmitarbeiten.In seiner endgültigen Form sollENI sechs unabhängige neuro-biologische Arbeitsgruppen be-herbergen – ein Wunsch, dermomentan nicht zuletzt wegender räumlichen Situation nochoffen ist. Untergebracht sinddie vier Forschungsgruppenund Labors derzeit auf 640Quadratmetern in Räumen derUniversität, die mit Landesmit-teln renoviert wurden – eineZwischenlösung zwar, aber siezeigt, mit welchem Nachdruck

das Land Niedersachsen hinterdem ENI-Konzept steht, unddass man eine Verzögerung beider Umsetzung des Konzeptsvermeiden wollte. Schon imkommenden Jahr soll mit demBau eines eigenen Gebäudesbegonnen werden. Insgesamtfördert Niedersachsen das Pro- jekt mit rund 40 MillionenMark. Die Arbeitsgruppen wer-den von der Max-Planck-Ge-sellschaft, der Universität Göt-

ENI ALS KEIMZELLE

Europäisches Zentrum

für Neurowissenschaften eröffnet

tingen sowie von der ScheringAG finanziert. Darüber hinauserhofft man sich Gelder vonder Europäischen Union.Wohl nicht zu Unrecht: WieEU-ForschungskommissarPhilippe Busquin bei der Ein-weihung des European Neuro-science Institute deutlichmachte, entspreche das ENIseinen Vorstellungen von Ex-zellenzzentren, die dem Ziel desso genannten EuropäischenForschungsraums dienten. Undauch die Busquin’sche Forde-rung nach Netzwerken solcherhochkarätigen Forschungszent-ren erfüllen die ENI-Gründerschon in hohem Maße. So be-stehen bereits Kontakte zu an-deren Universitäten und For-

schungsinstituten in Europa,wie dem Autonomic Neuro-science Institute (London), demNobel Institute for Neurophy-siology des Karolinska Institute(Stockholm), dem Institut deNeurobiologie de la Mediter-ranée (Marseille) und demScientific Institute San Raffae-le (Mailand). Als wichtigesInstrument der Zusammenar-beit zwischen den Einrichtun-gen sind Junior ResearchGroups geplant. Sie sollen es –ein weiteres förderfähiges Zieleuropäischer Forschungspolitik– Nachwuchswissenschaftlernerleichtern, innerhalb Europasmobil zu sein und ausländischeArbeitserfahrung zu sammeln.Eine andere Erfahrung, auf diesie lieber verzichtet hätten unddie nun eine gehörige PortionImprovisationstalent verlangt,haben die ENI-Mitarbeiter ge-rade gemacht: Im Juli brachenunbekannte Täter in die Insti-

tutsräume ein und stahlen diegesamte computertechnischeAusstattung samt Server.

Weitere Informationenerhalten Sie von:EUROPEAN NEUROSCIENCE INSTITUTE

(ENI), GöttingenWiebke HeinrichTel.: 0551/39-12344Fax: 0551/39-12346E-Mail: [email protected]

@

ASTRONOMISCHE GESELLSCHAFT

Bruno-H.-Bürgel-Preis

für Jakob Staude

Dr. Jakob Staude vom Max-Planck-Institut für Astronomiein Heidelberg ist mit dem dies- jährigen Bruno-H.-Bürgel-Preisausgezeichnet worden. Damitwürdigt die AstronomischeGesellschaft herausragendeLeistungen in der Verbreitungund Popularisierung astro-nomischen Wissens und astro-nomischer Erkenntnisse fürdie große Öffentlichkeit.

Der 56-jährige Heidelberger Wis-senschaftler erhielt die Auszeich-

nung im Rahmen der 75. Tagungder Astronomischen Gesellschaftam 10. September in München.Staude, so die Begründung, habesich überragende Verdienste fürdie Zeitschrift STERNEUND WELT-RAUM („SuW“) erworben: „DurchIhren großen per-sönlichen Einsatz,Ihr verlegerischesEngagement undIhre astronomischeKompetenz habenSie aus bescheide-nen Anfängen her-aus und mit stetssehr begrenzten fi-nanziellen Mitteln,in 20 Jahren diewichtigste deutsch-sprachige Zeitschriftfür anspruchsvollepopuläre Astronomie geschaffen,welche gleicherweise bei Laienund Fachleuten höchste Wert-schätzung genießt.“ Jakob Staudefungiert seit Oktober 1981 als

Chefredakeur des Magazins, des-sen verkaufte Auflage in dieserZeit von 5300 auf 22.000 Exem-plare gestiegen ist. Seit 1970 istStaude am Max-Planck-Institutfür Astronomie und beschäftigtsich als Wissenschaftler vor allemmit Sternentstehung. Die Astro-nomische Gesellschaft verleihtden Bruno-H.-Bürgel-Preis seit1983 in unregelmäßigem Rhyth-mus. Jakob Staude ist dersiebente Preisträger.

Im ZeichenEuropas: DerniedersächsischeWissenschafts-minister ThomasOppermann(links) und EU-Forschungskom-missar PhilippeBusquin beider Eröffnungdes EuropeanNeuroscienceInstitute (ENI)in Göttingen.

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bereits im Alter von vier Wochen,während die für Chorea Hunting-ton charakteristischen motorischenStörungen erst von der fünftenWoche an auftraten (und ein Ab-sterben neuronaler Zellen frühe-stens nach 14 Wochen nachzuwei-sen war). Daraus leiteten Prof.Bates und ihre Kollegen die Vermu-tung ab, nicht das Absterben vonNervenzellen löse die Krankheits-symptome aus, sondern eine vonden Aggregat-Einschlüssen verur-sachte neuronale Fehlfunktion seidafür verantwortlich. Viele Anzei-chen deuten inzwischen darauf hin, dass es sich dabei um Störun-gen bei der Transkription bestimm-ter Gene handelt.Mit dem – das Huntington-Gentragende – transgenen Mäuse-

stamm stand den Wissenschaftlernerstmals ein Modellorganismuszur Verfügung, an dem sich dieSymptomatik und die molekularenProzesse der Chorea-Huntington-Erkrankung im Detail studierenließen und der eine Möglichkeitbot, therapeutische Ansätze zuerproben. Innerhalb von nur vierJahren, so Prof. Bates, seien vieleder in dieses Modell gestecktenHoffnungen realisiert worden: „Dieneuropathologischen Kennzeichenvon Polyglutamin-Krankheitenwurden aufgedeckt, wichtige Ein-sichten in die frühen Stadien desKrankheitsprozesses gewonnenund Verbindungen gefunden, die –nachdem sie sich bei den transge-nen Mäusen als wirksam erwiesen– jetzt schon die ersten Phaseneiner klinischen Prüfung durch-laufen.“

Prof. Jean LouisMandel, 1946 in Straß-burg geboren, studierte

an der dortigen Univer-sität Medizin (Promotion1971) und Biochemie(Promotion 1974). Erwurde 1975, nach einemzweijährigen Postdocto-ral-Training am Depart-ment für Medical Gene-

tics an der University of Toronto,Lecturer in Biochemistry an dermedizinischen Fakultät der Straß-burger Universität. Zeitgleichwurde er Mitarbeiter im For-

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Zum zwölften Mal hat die Ger-trud Reemtsma Stiftung – siewird von der Max-Planck-Gesell-schaft treuhänderisch verwaltet– den mit 100.000 Mark dotier-ten K. J. Zülch-Preis für beson-dere Leistungen auf dem Gebietder neurologischen Grundlagen-forschung vergeben: Ausgezeich-net wurden zu gleichen TeilenProf. Dr. Gillian Patricia Bates,Guy’s Hospital Medical School,Medical & Molecular Genetics,London, U.K., und Prof. Dr. JeanLouis Mandel, Université LouisPasteur, Institut de Génétique etde Biologie Moléculaire et Cellu-

laire, Straßburg. Beide Wissen-schaftler haben herausragendeBeiträge zur Aufklärung der mo-lekularen Mechanismen neuro-degenerativer Erbkrankheitendes Menschen geleistet. DiePreise überreichte Prof. KlausHahlbrock, Vizepräsident derMax-Planck-Gesellschaft, am7. September im Isabellensaaldes Gürzenich in Köln.

Als „bahnbrechend“ würdigt dieGertrud Reemtsma Stiftung in ihrerBegründung die wissenschaftlichenBeiträge von Gillian Patricia Bates.Sie habe neben der Erforschungdes pathogenen Mechanismus derHuntington’schen Krankheit dasweltweit am meisten untersuchteMausmodell zur Erforschungneurodegenerativer Erkankungendes Nervensystems entwickelt.Die Laudatio für Frau Bates hieltProf. Konrad Beyreuther vomHeidelberger Zentrum für mole-kulare Biologie.

Jean Louis Mandel hat, so dieGertrud Reemtsma Stiftung, bei derIdentifikation und dem Klonenvon Genen auf dem X-Chromosom„Pionierarbeit geleistet“. Durch dieEntwicklung eines monoklonalenAntikörpers gegen expandiertePolyglutaminsequenzen habe er alsErster mehrere Krankheitsgene miterweiterten Trinukleotid-Wiederho-lungen identifiziert und Schlüssel-beiträge zum heutigen Verständnisvon Chorea Huntington, der Fried-

reich Ataxie sowie dem Syndromdes fragilen X-Chromosoms gelie-fert. In seiner Laudatio würdigteProf. Hans-Hilger Ropers vomBerliner Max-Planck-Institut fürmolekulare Genetik vor allemdiese Arbeiten.

Prof. Gillian Patricia Bates, 1956in Kenilworth bei Birmingham ge-boren, studierte in Sheffield undLondon. Sie promovierte 1987 ander London University und forschtevon 1987 bis 1993 als PostdoctoralFellow im Genome Analysis Labora-tory des Imperial Cancer ResearchFund (ICRF) in London. Hier begann

eine intensive Zusammenarbeitmit Prof. Hans Lehrach, der damalsebenfalls an diesem Labor tätigwar. Beide publizierten zwischen1989 und 1994 gemeinsam und alsMitverfasser zahlreiche Artikel überihre Forschungen bezüglich des dieHuntington’sche Krankheit auslö-senden Gens. Dann trennten sichihre Wege: Hans Lehrach ging 1994als Direktor an das Max-Planck-Institut für molekulare Genetik inBerlin und Gillian Patricia Bateswurde Senior Lecturer in MolecularBiology an den United Medical andDental Schools sowie 1998 Profes-sorin für Neurogenetics an der GKTSchool of Medicine, King’s Collegein London. Ihre Arbeitsgruppenkooperierten aber weiterhin engmiteinander. Zur Förderung dieserZusammenarbeit erhielt Frau Batesim Jahr 1999 den Max-Planck-Forschungspreis – eine der vielenAuszeichnungen, die ihr bislangverliehen worden sind.Chorea Huntington ist der For-

schungsschwerpunkt von Prof.Bates. Bei diesem Leiden handeltes sich um eine Erbkrankheit desMenschen, bei der selektiv Nerven-zellen in bestimmten Bereichen desGehirns absterben. Die Krankheits-symptome sind unkontrollierteBewegungen, Geistesgestörtheit,Gemütsstörungen und Muskel-lähmungen. Bei den meisten Pati-enten treten die ersten Symptomeab dem 40. Lebensjahr auf. DasLeiden führt 15 bis 20 Jahre nach

dem Ausbruch zum Tod. 1993gelang einer internationalen For-schergruppe unter maßgeblicherBeteiligung von Gillian PatriciaBates die molekulare Identifizie-rung des Gens, das mit der Ent-stehung von Chorea Huntingtonverknüpft ist. Das Produkt diesesGens ist ein hochmolekulares Pro-tein – Huntingtin genannt –, überdessen natürliche Funktion dieForscher noch rätseln. Durch ver-gleichende Analysen des Gens beiGesunden und bei Huntington-Patienten fand man heraus, dasses sich bei der Mutation,die der Krankheit zugrunde

liegt, um ein so genanntesverlängertes CAG-Repeathandelt.Ein Repeat ist ein Genab-schnitt, in dem eine be-stimmte Sequenz von dreiBasen mehrmals aufeinan-der folgt. Im Fall von Cho-rea Huntington handelt essich um das Triplett Cytosin-Adenin-Guanin (CAG), das denCode für die Aminosäure Glutaminbildet. Im normalen Gen wiederholtsich dieses Triplett zwischen 6- und36-mal, während es bei Hunting-ton-Patienten bis zu 180-mal auf-einanderfolgt.Die Arbeitsgruppe von Prof.Lehrach am Berliner Max-Planck-Institut für molekulare Genetikhat gezeigt, dass im ReagenzglasHuntingtine mit mehr als 51 Gluta-minen zu unlöslichen Aggregatenverklumpen, die eine fibrilläre,faserartige Feinstruktur aufweisen.Solche Aggregate fanden sich auchim Gehirn von Mäusen, denen man

ein menschliches Huntington-Genmit überlangen CAG-Repeats über-tragen hatte: Prof. Bates gelang inZusammenarbeit mit den BerlinerForschern und einer Gruppe amUniversity College in London derNachweis, dass in den Nervenzell-kernen der transgenen MäuseEinschlüsse des verklumptenmenschlichen Huntingtin-Proteinsvorliegen.Nachkommen der transgenenMäuse zeigten diese Einschlüsse

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schungslabor von Prof. PierreChambon, wo er an der Ent-deckung der Mosaikstruktur vonGenen beteiligt war. 1978 ernannteihn die Fakultät zum Assistant-und später zum Full Professor fürGenetik. Seit 1985 leitet er außer-dem das „DNA Diagnostic Labora-tory for Genetic Diseases“. AuchProf. Mandel, der dem Fachbeiratdes Max-Planck-Instituts für mole-kulare Genetik in Berlin angehört,ist Träger vieler hoher wissen-schaftlicher Auszeichnungen,unter anderem erhielt er 1999 denMedizin-Preis der Louis-Jeantet-Foundation.Seit 1991 wurden in Mandels Labo-ratorium die Gene und Genmuta-tionen wichtiger mono-genetischerKrankheiten identifiziert. Besonde-

re Aufmerksamkeit fanden dabeidie Arbeiten, die sich mit der Iden-tifikation und Untersuchung eineszu jener Zeit neuen und unerwar-teten Mutationsmechanismus be-schäftigten: der unstetigen Expan-sion von Trinukleotid-Repeats, alsogenau jener ausufernden und inihrer Wirkung fatalen Wiederho-lungen, die auch Chorea Hunting-ton auslösen.Dieser Mechanismus ist, wie Man-del und seine Mitarbeiter nachwie-sen, die Ursache von mehr als 15neurologischen Krankheiten underklärt die speziellen familiärenAusbreitungsmuster solcher Leiden.Beispielsweise wurde demonstriert,dass eine Expansion von Cytosin-Guanin-Guanin-Repeats i n Verbin-dung mit einer abnormalen Methy-lierung das so genannte Syndromdes fragilen X-Chromosoms auslöst.Diese überwiegend bei Männernvorkommende Erbkrankheit äußertsich in einer verzögerten motori-schen und geistigen Entwicklung

mit Sprachentwicklungsstörungen,Aggressivität und Autismus. Sieentsteht durch Fehler bei derTranskription eines Gens an derbrüchigen Stelle des X-Chromo-soms. 1991 gelang Mandels Ar-beitsgruppe auch die Charakterisie-rung von zwei Gen-Ausprägungen(Premutation und Vollmutation)und deren unterschiedlichen Verer-bungsmustern - eine Entdeckung,die sowohl die Pränataldiagnose alsauch die anschließende genetische

Beratung revolutionierten.Die Expansion einer anderenTriplett-Wiederholung, des Guanin-Adenin-Adenin-Repeats, verur-sacht, wie Mandel und seine Mitar-beiter zeigten, die so genannteFriedreich-Ataxie, eine fortschrei-tende Koordinationsstörung vonBewegungsabläufen. Sie beginntmeist im frühen Jugendalter mitProblemen beim Gehen und Stehensowie Störungen des Lagesinns.Ähnliche Symptome zeigen aucheinzelne Typen der Spinozere-bellären Ataxien, deren Gene eben-falls von Mandels Arbeitsgruppeidentifiziert wurden.Gegenwärtig konzentrieren sichdie Arbeiten in Mandels For-schungslabor – neben der Beschäf-tigung mit Chorea Huntington und

der Krankheit des fragilen X-Syn-droms – auf eine Klärung der pa-thologischen Mechanismen bei derMyotubularen Myopathie, einererblichen Muskelerkrankung, undder Adrenoleukodystrophie, einerfamiliär gehäuft auftretendenLipidspeicherkrankheit mit Störun-gen im Fettstoffwechsel. Für dieseKrankheiten versuchen die Wissen-schaftler außerdem zelluläreModelle oder Tiermodelle zu ent-wickeln, um daran therapeutischeStrategien zu erproben.Die Gertrud Reemtsma Stiftungwurde im Jahr 1989 von GertrudReemtsma zum Gedenken an ihrenverstorbenen Bruder, den Neurolo-gen Prof. Dr. Klaus Joachim Zülch,ehemaliger Direktor der Kölner Ab-teilung für allgemeine Neurologiedes Frankfurter Max-Planck-Insti-tuts für Hirnforschung, mit demZiel gegründet, die Erinnerung andas Lebenswerk ihres Bruders wachzu halten.Gertrud Reemtsma war auf Initia-

tive ihres Bruders bereits vor demKrieg als Sekretärin im Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschungin Berlin-Buch tätig. Seit demJahr 1964 engagierte sie sich alsFörderndes Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft und unter-stützte zudem die von ihrem Bru-der geleitete Kölner Abteilungdes Max-Planck-Instituts für Hirn-forschung finanziell. Anfang 1996verstarb Gertrud Reemtsma80-jährig in Hamburg.

K. J. ZÜLCH-PREIS

„Stotternde“ Gene töten den Nerv 

Gillian Bates

Jean Louis Mandel

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STANDo

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MAXPLANCKFORSCHUNG

wird herausgegeben vom Referatfür Presse- und Öffentlichkeitsarbeitder Max-Planck-Gesellschaft zurFörderung der Wissenschaften e.V.

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Für Mitarbeiter der MPG ist einemTeil der Auflage die Mitarbeiterzeit-schrift MAXPLANCKINTERN beigefügt:Dr. Christina Beck (-1306/Redaktion)Carin Gröner (-1231/Personalien)

MAXPLANCKFORSCHUNG will Mitar-beiter und Freunde der Max-Planck-Gesellschaft aktuell informieren. DasHeft erscheint in deutscher und eng-lischer Sprache (MAXPLANCKRESEARCH)

 jeweils in vier Ausgaben pro Jahr. DieAuflage beträgt zurzeit 27.000 Exem-plare. Der Bezug des Wissenschafts-magazins ist kostenlos.

Alle in MAXPLANCKFORSCHUNG ver-tretenen Auffassungen und Meinun-gen können nicht als offizielleStellungnahme der Max-Planck-

Gesellschaft und ihrer Organeinterpretiert werden.

MAXPLANCKFORSCHUNG wird auf chlor-frei gebleichtem Papier gedruckt.Nachdruck der Texte unter Quellen-angabe gestattet. Bildrechte könnennach Rücksprache erteilt werden.

Die Max-Planck-GesellschaftzurFörderung der Wissenschaften unter-hält 79 Forschungsinstitute, in denenrund 11.000 Mitarbeiter tätig sind,davon etwa 3100 Wissenschaftler.Hinzu kamen im Jahr 2000 rund 6900

Stipendiaten, Gastwissenschaftlerund Doktoranden. Der Jahresetat um-fasste insgesamt 2338 MillionenMark; davon stammten 2209 Millio-nen Mark aus öffentlichen Mitteln.

Die Forschungsaktivität erstrecktsich überwiegend auf Grundlagen-forschung in den Natur- und Geistes-wissenschaften. Da die Max-Planck-Gesellschaft ihre Aufgabe vor allemdarin sieht, Schrittmacher der For-schung, insbesondere in Ergänzungzu den Hochschulen zu sein, kann sie

nicht in allen Forschungsbereichentätig werden. Sie versucht daher, ihreMittel und Kräfte dort zu konzentrie-ren, wo besondere Forschungsmög-lichkeiten erkennbar sind.

Die Max-Planck-Gesellschaft ist einegemeinnützige Organisation des pri-vaten Rechts in der Form eines einge-tragenen Vereins. Ihr zentrales Ent-scheidungsgremium ist der Senat, indem eine gleichwertige Partnerschaftvon Staat, Wissenschaft und sach-verständiger Öffentlichkeit besteht.

NIEDERLANDE

NijmegenITALIEN

RomSPANIEN

AlmeriaFRANKREICH

GrenobleBRASILIEN

Manaus

Forschungseinrichtungen der 

Max-Planck-Gesellschaft 

Institut/ 

Forschungsstelle Teilinstitut/ Außenstelle❍ SonstigeForschungs-einrichtungen

STITUTE aktuell 

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Die Max-Planck-Gesellschaft(MPG) bekommt Zuwachs:Das Kunsthistorische Institut(KHI) in Florenz, das nochals „unselbstständige Bun-desanstalt“ im Geschäftsbe-reich des Bundesministeriumsfür Bildung und Forschung(BMBF) firmiert, wird zum1. Januar 2002 in die Trä-gerschaft der Max-Planck-Gesellschaft überführt.Das von Prof. Max Seidelgeleitete KHI beschäftigtsich vor allem mitder norditalie-nischen Kunst

des Mittelaltersund der Renais-sance. Als wis-senschaftlicheigenständigesInstitut solles eng mit derBibliothecaHertziana inRom zusammen-arbeiten.

Die Initiative ging vom Bundaus. Im Herbst vergangenenJahres hatte das Bundesminis-terium für Bildung und For-schung die Max-Planck-Gesell-schaft gebeten, die Übernahmedes Kunsthistorischen Institutszu prüfen. Der Senat der MPGstimmte dem zu. Daraufhinhat sich eine von der Geistes-wissenschaftlichen Sektion derMax-Planck-Gesellschaft ein-gesetzte Kommission mit Fra-gen der wissenschaftlichenQualität des KHI sowie mit des-

sen Perspektiven beschäftigt.Ihr Fazit: Die kunsthistorischeForschung innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft erhieltemit der Übernahme eine brei-tere Basis und das Fach Kunst-geschichte mit seiner interna-tionalen Ausstrahlung neue,entscheidende Impulse. DieKommission empfahl darum

einstimmig, das KHI einzuglie-dern. Dem folgte der Senatder MPG und fällte auf seinerSitzung am 21. Juni den ent-sprechenden Beschluss. Bedin-gung ist jedoch, dass bis Jah-resbeginn 2002 sowohl diefinanziellen und administra-tiven Fragen mit dem Ministe-rium geklärt sind als auchdie Bund-Länder-Kommissionfür Bildungspolitik und For-schungsplanung abschließend

zugestimmt hat.Das KHI soll als wis-

senschaftlicheigenständiges

Institut in dieMax-Planck-

Gesellschaftübergeleitetwerden.Gleichzeitigempfahl dieKommission

die Bildungeines wissen-

schaftlichen undinstitutionellen Ver-

bunds mit der im Jahr1913 gegründeten Biblio-

theca Hertziana in Rom. Dieseskunsthistorische Institut derMax-Planck-Gesellschaft be-schäftigt sich vor allem mitder Kunst der Renaissance unddes Barock in Mittel- undSüditalien und ergänzt so denSchwerpunkt der Forschungs-arbeiten am KHI, der auf dernorditalienischen Kunst desMittelalters und der Renais-sance liegt. Die Kommissionsieht für das KHI drei For-

schungsperspektiven: erstensKooperationsmöglichkeitenvon Kunstgeschichte undNaturwissenschaften, zweitensErforschung von Kunst undArchitektur des 19. und 20.Jahrhunderts – zum Beispielunter dem Aspekt der Entste-hung nationaler Identitätenim Vergleich von Deutschland

und Italien – und drittens dieBearbeitung des Themas „Itali-enische Kunst und Europa”auch unter Einbeziehung derKunst Osteuropas. Wegen die-ses erweiterten Forschungs-spektrums soll das Kunsthisto-rische Institut in Florenz miteiner zweiten Abteilung ausge-stattet werden.Das Kunsthistorische Institutwurde 1897 durch eine privateInitiative von Kunsthistorikerngegründet und zunächst über-wiegend von dem im folgendenJahr eingerichteten „Verein zurFörderung des Kunsthistori-

schen Instituts in Florenz” so-wie von privaten Geldgebernfinanziert. Seit 1970 lag dieTrägerschaft der Einrichtungbeim Bundesministerium fürBildung und Forschung. Seit1993 steht das Institut unterder wissenschaftlichen Leitungvon Prof. Max Seidel. Das KHIbeschäftigt 35 Mitarbeiter (da-von 14 Wissenschaftler) undbesitzt eine Bibliothek mit215.000 Bänden sowie eineFotothek mit 550.000 archi-vierten Fotografien. ZentralesForschungsprojekt ist zurzeitdie Erarbeitung eines mehrbän-digen Handbuchs zum Thema„Die Kirchen von Siena”.Untergebracht ist das KHIbislang in zwei Gebäuden imStadtzentrum von Florenz:im Palazzo Capponi Incontriund im angrenzenden PalazzoRosselli. 1987 hat die DeutscheBank – sie gehört neben derThyssen- und der Volkswagen-

Stiftung zu den Stiftern derLiegenschaften – die gegen-überliegende Casa del Sarto-Zuccari dazugekauft. DasGebäude ist in schlechtem Zu-stand und soll einer Empfeh-lung des Wissenschaftsrats zu-folge saniert werden und demneuen Max-Planck-Institutzusätzliche Räume bieten.

INSTITUTS-ÜBERNAHME

Die Renaissance im Blickpunkt

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Im FOKUS

„Eingezäunt“ durch sechs Kunststoff-Pfosten sitzt eine Nervenzelle auf einem Silizium-Chip: Wird die Zelle durch einen Spannungsstoß über den

Transistor erregt, leitet sie dieses Signal über synaptische Kontakte an benachbarte Nervenzellen weiter – und deren Aktionspotenziale lassen sich dann

wiederum über einen Transistor messen. Mit diesem Aufsehen erregenden Experiment haben Prof. Peter Fromherz und Dr. Günther Zeck am Martins-

rieder Max-Planck-Institut für Biochemie den Nachweis geliefert, dass hybride Schaltkreise aus Halbleitern und synaptisch vernetzten Neuronen

machbar sind und auch tatsächlich funktionieren: Damit ist der Einstieg in die „Neuro-Elektronik“ vollzogen. FOTO: MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR BIOCHEMIE