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P. Noll Nachrichtentechnik an der TH/ TU Berlin – Geschichte, Stand und Ausblick (Version 21.06.2001) 1 Einleitung Als 1879 die Königliche Technische Hochschule zu Berlin gegründet wurde, gab es das Wort Elektrotechnik noch nicht, als sie fünf Jahre später in den im Renaissancestil geschaffenen Monumentalbau an der Charlottenburger Chaussee in dem noch selbständigen Charlottenburg einzog, hatte dieser noch keine elektrische Beleuchtung (Bild 1). Bild 1: Königliche Technische Hoch- schule zu Berlin (um 1890) Die Königliche Technische Hochschule zu Berlin (später: Technische Hochschule Berlin- Charlottenburg) war seit der Jahrhundertwende eine weltweit anerkannte Ausbildungs- und Forschungsstätte, Vorbild für Technische Hochschulen in vielen Ländern. Das lag u.a. daran, daß die wichtigsten Industriefirmen und bedeutende Forschungsinstitutionen in Berlin ange- siedelt waren, aus denen sich dann auch der Professorennachwuchs rekrutieren konnte. Neben einem breiten Ausbildungsspektrum von Technischen Schulen bis zu Universitäten gab es in Berlin ein dynamisches Unternehmertum, aber auch Risiko nicht scheuende Großbanken. Schließlich war auch die Politik, das gerade entstandene Deutsche Reich, an Infrastruktur- maßnahmen zur Förderung von Gewerbe, Verkehr und Militär interessiert. Die drahtgebundene Nachrichtentechnik gehörte zu den Voraussetzungen für einen bis dahin unbekannten Wirtschaftsaufschwung, sie wurde ergänzt durch den Beginn der Funkübertra- gung in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts und ihrer Anwendung und Vervoll- kommnung in den folgenden Jahrzehnten, zuerst für Daten-, dann aber auch für Sprachsigna- le. Die Entwicklung der Elektronenröhre führte zur Anwendung der Trägerfrequenztechnik und diese ermöglichte das Senden mehrerer Signale auf einer Leitung in unterschiedlichen Frequenzbändern - es entstand die Fernsprechweitverkehrstechnik. In Verbindung mit der Funktechnik standen damit auch technische Lösungen für Hörfunk und Fernsehen zur Verfü- gung. Erst Jahrzehnte später gab es mit der digitalen Informations- und Kommunikationstech- nik einen in seinen Folgen vergleichbaren innovativen Schub, mit dem Versprechen einer uni-

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P. Noll

Nachrichtentechnik an der TH/ TU Berlin –

Geschichte, Stand und Ausblick (Version 21.06.2001)

1 Einleitung

Als 1879 die Königliche Technische Hochschule zu Berlin gegründet wurde, gab es das Wort Elektrotechnik noch nicht, als sie fünf Jahre später in den im Renaissancestil geschaffenen Monumentalbau an der Charlottenburger Chaussee in dem noch selbständigen Charlottenburg einzog, hatte dieser noch keine elektrische Beleuchtung (Bild 1).

Bild 1: Königliche Technische Hoch-

schule zu Berlin (um 1890) Die Königliche Technische Hochschule zu Berlin (später: Technische Hochschule Berlin-Charlottenburg) war seit der Jahrhundertwende eine weltweit anerkannte Ausbildungs- und Forschungsstätte, Vorbild für Technische Hochschulen in vielen Ländern. Das lag u.a. daran, daß die wichtigsten Industriefirmen und bedeutende Forschungsinstitutionen in Berlin ange-siedelt waren, aus denen sich dann auch der Professorennachwuchs rekrutieren konnte. Neben einem breiten Ausbildungsspektrum von Technischen Schulen bis zu Universitäten gab es in Berlin ein dynamisches Unternehmertum, aber auch Risiko nicht scheuende Großbanken. Schließlich war auch die Politik, das gerade entstandene Deutsche Reich, an Infrastruktur-maßnahmen zur Förderung von Gewerbe, Verkehr und Militär interessiert. Die drahtgebundene Nachrichtentechnik gehörte zu den Voraussetzungen für einen bis dahin unbekannten Wirtschaftsaufschwung, sie wurde ergänzt durch den Beginn der Funkübertra-gung in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts und ihrer Anwendung und Vervoll-kommnung in den folgenden Jahrzehnten, zuerst für Daten-, dann aber auch für Sprachsigna-le. Die Entwicklung der Elektronenröhre führte zur Anwendung der Trägerfrequenztechnik und diese ermöglichte das Senden mehrerer Signale auf einer Leitung in unterschiedlichen Frequenzbändern - es entstand die Fernsprechweitverkehrstechnik. In Verbindung mit der Funktechnik standen damit auch technische Lösungen für Hörfunk und Fernsehen zur Verfü-gung. Erst Jahrzehnte später gab es mit der digitalen Informations- und Kommunikationstech-nik einen in seinen Folgen vergleichbaren innovativen Schub, mit dem Versprechen einer uni-

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versellen globalen Multimediawelt, die Teilnehmern unabhängig von ihrem jeweiligen Stand-ort audiovisuelle Kommunikationsformen und Zugriff auf Daten, Musik und Bilder bietet. Dieser Übersichtsaufsatz soll den Beitrag der Technischen Hochschule/Technischen Universi-tät Berlin zu der Entwicklung der Nachrichtentechnik aufzeigen. Ergänzende Informationen sind auf den Webseiten des Fachgebiets Fernmeldetechnik der TU Berlin zu finden.

2 Die ersten Jahre

2.1 Gründung der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin Die Königliche Technische Hochschule zu Berlin (im folgenden: TH Berlin) entstand 1879 durch den Zusammenschluß von zwei Institutionen, der Königlichen Bauakademie mit dem Gründungsjahr 1799, und der Gewerbeakademie mit dem Gründungsjahr 1821.

Bauakademie (1799)

Gewerbeakademie (1821)

Königliche Bergakademie

(1770)

KöniglicheTechnische Hochschule zu Berlin

(1879)

1916 18791879

Bild 2: Gründungsinstitutionen der Königlichen Technischen Hochschule zu Berlin

(Jahresangaben in Klammern: Gründungsjahre)

Die Gewerbeakademie wurde anfangs Technische Schule genannt, dann Gewerbeinstitut, bis sie 1866 ihren endgültigen Namen erhielt. Bau- und Gewerbeakademie hatten einen Lehr-, aber keinen Forschungsauftrag. Die Königliche Bauakademie galt als Tochterinstitution der Königlichen Akademie der Küns-te, die 1696 gegründet worden war. Die Gründung der Bauakademie erfolgte durch Friedrich Wilhelm III, der sparsam war und auf wirtschaftliche Weise Bauleute heranziehen wollte. Leh-rer an der Königlichen Bauakademie waren u.a. Friedrich Gilly, einer seiner Schüler, Karl Friedrich Schinkel (1781-1841), Johann Gottfried Schadow (1764-1850) und Wilhelm Beuth, der gleichzeitig auch die Gewerbeakademie leitete (siehe unten). Büsten von Schinkel und Beuth schmücken noch heute den Senatssaal der Technischen Universität Berlin. Die Akade-mie entwickelte sich stetig in Richtung einer Technischen Hochschule, dazu gehörten Gymna-sium oder Höhere Realschule als Eingangsvoraussetzung, ein vierjähriges Studium sowie ab 1875 fünf Abteilungen, die den späteren Fakultäten der TH Berlin bereits sehr ähnlich waren:

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Natur- und Mathematische Wissenschaften, Allgemeine Bauwissenschaften, Manuelle Fertig-keiten, Ingenieurwesen sowie Architekturwissenschaften. Die Gewerbeakademie wurde 1821 von Beuth gegründet. Sie bildete Mechaniker, Chemiker und Bauhandwerker aus. Zu ihren berühmten Wissenschaftlern gehörten u.a. Elwin B. Chris-toffel (Differentialgeometrie), Franz Grashof (Mathematik und Mechanik), Jacob Steiner (Geometrie), Karl Weierstrass (einer der bedeutendsten Mathematiker seiner Zeit), Franz Reuleaux (Maschinenbau) und sein Schüler Adolf Slaby (Theorie der Gasmaschinen). Reu-leaux war Gründer der Kinematik, der Lehre von den Bewegungsgesetzen. Die Gewerbeakademie hatte einen großen Einfluß auf die Entwicklung der Ingenieurwissen-schaften in Deutschland. 1846 entstand der Verein der Zöglinge des Gewerbe-Instituts, daraus ein Jahr später die Hütte, die wissenschaftliche Ziele hatte und eine studentische Gemein-schaft darstellte. Ab 1857 gab die Hütte Taschenbücher heraus. Ein Jahr zuvor hatte sich auf der Jahresversammlung der Hütte aus ihrer Mitte heraus der Verein Deutscher Ingenieure (VDI) gebildet. Die TH Berlin hatte im Gründungsjahr 1879 etwa 1450 Studenten und war noch in der Stadt-mitte (Klosterstraße) angesiedelt. Anfangs bestand sie aus fünf Abteilungen: Architektur, Bau-ingenieurwesen, Maschineningenieurwesen einschl. Schiffbau, Chemie und Hüttenkunde so-wie Allgemeine Wissenschaften.

2.2 Werner von Siemens, Geburtshelfer und Motor der Elektrotechnik Gefördert von Werner von Siemens, begann mit dem Jahr 1879, dem Gründungsjahr der TH Berlin, eine Entwicklung, der sogenannte Institutionalisierungsschub, des Fachgebietes Elekt-rotechnik1, gekennzeichnet durch das Entstehen von Fachkongressen, Ausstellungen, Grün-dung von Fachzeitschriften, Fachgesellschaften, Instituten und Lehrstühlen. Zu dieser Zeit war die elektrische Telegrafie bereits etabliert, Samuel Morse hatte schon 1837 seinen Telegrafen-apparat zum Patent angemeldet, in Berlin hatte Siemens 1847 mit Johann Georg Halske die Telegraphenbauanstalt gegründet. Die Telegrafie war weltweit zum ersten großtechnischen Anwendungsgebiet der Elektrotechnik geworden1, nationale und internationale Standards ver-einfachten den Austausch von Informationen zunehmend. Erst eine Menschengeneration nach dieser Telegrafie, sie war übrigens digital, wurde (1876) Alexander G. Bell ein Telefonpatent erteilt, damit begann die Aufbauphase der analogen Fernsprechtechnik. Die Starkstromtechnik machte ihre ersten Schritte auf den Gebieten der Elektrischen Maschi-nen und Beleuchtungstechnik, nachdem Siemens 1867 das dynamoelektrische Prinzip gefun-den hatte. 1879 führte Siemens in Berlin auf einer Gewerbeausstellung in Moabit die weltweit erste elektrisch betriebene Eisenbahn vor, 1881 fuhr die weltweite erste Straßenbahn vom S-Bahnhof Groß-Lichterfelde zur Kadettenanstalt eröffnet. Im Gründungsjahr (1879) der TH Berlin regte Siemens in einem Brief an den Generalpost-meister von Stephan die Gründung eines Deutschen Vereins für Elektrotechnik an; daraufhin wurde im gleichen Jahr der Elektrotechnische Verein (etv) gegründet, der nicht nur Berliner

1W. König und H. Petzold: Elektrotechnik. Wissenschaft und Gesellschaft, in Reinhard Rürup (Hrsg): Beiträge zur Geschichte der TU Berlin 1879-1979. Springer-Verlag 1979.

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Elektrotechnikern offen stand. Zu den 36 Gründungsmitgliedern des Elektrotechnischen Ver-eins gehörten u.a. Halske, Dr. Siemens, Geh. Rat Prof. Dr. Kirchhoff, Dr. Slaby, Dr. Stephan. Werner Siemens war auch sein erster Präsident. Der Begriff Elektrotechnik war neu, er wies auf einen neuen Zweig der Technik hin, bis dahin sprach man von Elektrophysik. Zwei Jahre später (1881) hielt Werner von Siemens einen Vortrag vor diesem Elektrotechnischen Verein und regte die Gründung von Lehrstühlen der Elektrotechnik an, "um wenigstens unsere tech-nische Jugend mehr vertraut mit der Elektrizitätslehre und ihrer technischen Anwendung zu machen". 1887 wurde die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR) gegründet, Geburtshelfer war wiederum Werner von Siemens, der ein Grundstück an der Marchstraße, also in unmittelbarer Nachbarschaft der TH und des später gegründeten Heinrich-Hertz-Instituts für Schwingungs-forschung (HHI), zur Verfügung stellte. Erster Präsident der PTR war Hermann von Helm-holtz. Einige Wissenschaftler der PTR wurden Hochschullehrer der TH Berlin und spielten dort eine wichtige Rolle bei dem Aufbau elektrotechnischer Lehrstühle.

2.3 Der Beginn von Telegrafie und Telefonie In seinem oben bereits zitierten Brief aus dem Jahr 1879 an den Generalpostmeister von Ste-phan äußerte Werner von Siemens über die Telegrafie, daß sie "schon in etwas ruhige Fort-schrittsbahnen eingelenkt ist und das aristokratisch-konservative Element der Elektrotechnik repräsentiert". Die „ruhigen Fortschrittsbahnen“ weisen darauf hin, daß die Grenzen der elekt-rischen Telegrafie fast erreicht und Standards und Protokolle für den Datenaustausch entwi-ckelt waren. Die Telegrafie hatte schon frühe Triumphe gefeiert, so entstand 1870, von den Gebrüdern Siemens gebaut, die 11000 km lange „Indo-Europäische Telegraphenlinie“ von London nach Kalkutta, Teilstücke waren noch in den sechziger Jahren des letzten Jahrhun-derts in Betrieb. Masten dieser Telegrafenverbindung stehen noch heute in Wüstengebieten und weisen auf diese ersten Erfolge der Informations- und Kommunikationstechnik (I&K) hin - die man damals nicht so nannte. Diese Telegraphenlinie hatte erstmals gezeigt, daß der Traum einer weltumspannenden elektrischen Kommunikation realisierbar sein könnte, dieser Gedanke beeinflußte in starkem Maße das Zeit- und Raumgefühl der Menschen. Für einen weiteren Innovationsschritt fehlten seinerzeit Verstärker und Verfahren der Mehrfachausnut-zung von Übertragungsmedien, die erst nach Erfindung der Elektronenröhre (1910) eingesetzt werden konnten. Verbindungen waren auch im wesentlichen Punkt-zu-Punkt-Verbindungen, eine automatische Vermittlungstechnik mit Wahlmöglichkeiten durch die Teilnehmer war noch nicht bekannt, und die „Endgeräte“, Morseschreiber und –empfänger, hatten keine einfa-che „Bedienoberfläche“, daher war geschultes Personal zur Bedienung erforderlich. Die Fernsprechtechnik kam eine Generation später, wurde aber schnell zu einem Massen-kommunikationsmittel. Philipp Reis war es 1861 erstmalig gelungen, Sprache und Musik auf elektroakustischem Wege zu übertragen, ein französischer Telegrafenbeamter hatte bereits 1854 den Gedanken einer elektrischen Sprachübertragung über Telegrafenleitungen geäußert. Praktisch begann die Telefonie 1876 mit Alexander G. Bell. In Deutschland erkannte General-postmeister von Stephan die Bedeutung dieser Erfindung und erklärte das Fernsprechen zur Angelegenheit der Reichspost. Es gab zu dieser Zeit in Deutschland noch kein Patentrecht, das erleichterte die Einführung der Telefonie. Im Jahr 1881, also zwei Jahre nach Gründung der TH Berlin, wurde eine erste Stadtfernsprecheinrichtung in Berlin eingerichtet, anfangs mit acht Teilnehmern, die Telefonie breitete sich aber mit hohen Zuwachsraten aus. Die Reich-weite der Telefonie war bei Kabeln auf etwa 30 km begrenzt, erst die Erfindung der „Pupin-

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Bespulung“ von Kabeln (um 1900), insbesondere aber der Einsatz von Elektronenröhren er-laubte es dann, Fernsprechverbindungen von mehreren tausend Kilometer Länge aufzubauen.

3 Nachrichtentechnik an der TH Berlin-Charlottenburg

Wilhelm Brix. Zwei Jahre nach Gründung der Königlichen Technischen Hochschule zu Ber-lin gab es bereits eine Vorlesung über Telegrafie, gehalten von Dr. phil. Wilhelm Brix, der schon ab 1863 als Dozent für Elektrische Telegrafie an der Bauakademie gelehrt hatte2. Brix war vermutlich der erste Dozent für elektrische Telegraphie in Deutschland - aber auch für Elektrotechnik. Er war bereits seit 1853 Herausgeber einer vom Deutsch-Österreichischen Telegraphen-Verein herausgegebenen Zeitschrift gewesen und hatte sich große Verdienste beim Ausbau der deutschen Telegrafieverbindungen erworben, als Bevollmächtigter des Ge-neral-Telegraphenamtes leitete er diesen Ausbau. Adolf Slaby. Als Brix 1882 seine Vorlesungstätigkeit beendete, übernahm Adolf Slaby diese Vorlesung (1883). Zusätzlich las er über Elektrische Kraftmaschinen (Titel: Elektromecha-nik). Eine Siemenssche Anregung führte 1884 zur Schaffung eines Elektrotechnischen Labo-ratoriums, mit der Errichtung wurde Slaby betraut. Er erhielt 1886 eine ordentliche Professur für Theoretische Maschinenlehre und Elektrotechnik. Slabys Bedeutung für die Elektrotechnik geht über seine Pionierarbeiten in der Frühphase der Funktechnik, über die noch berichtet werden wird, weit hinaus - er trug auch wesentlich zur Popularisierung der Elektrotechnik bei. So war er seit 1895 Berater von Kaiser Wilhelm II. war, der ihn insbesondere wegen seiner didaktischen Fähigkeiten außerordentlich schätzte. Kaiser Wilhelm II. besuchte mit seinem Gefolge in der TH mehrfach Vorlesungen über die neuesten Entwicklungen und Erfindungen auf dem Gebiet der Technik, insbesondere über Funkentelegrafie und Drahtloses Fernsprechen. Darüber hinaus trug Slaby zur Gleichstellung der Technischen Hochschulen mit Universitäten und zur gesellschaftlichen Anerkennung der Ingenieure bei. Man sagt Slaby Einflußnahme bei der Erteilung des Promotions- und Habilita-tionsrechts für die Preußischen Technischen Hochschulen nach (1899).

Bild 3: Adolf Slaby Professor für Theoretische Maschinenlehre und Elektrotechnik an der TH Berlin.

Slaby war Gründungsmitglied des Elektrotechnischen Vereins (1879), Vorsitzender des VDI und erster Vorsitzender des VDE (1893). Auch wurden durch ihn sehr früh Verbindungen zwischen der akademischen Welt und ihrer Hochschulforschung und der industriellen Praxis hergestellt. Slaby schreibt 1901: 2 Hans Pieper: Philipp Wilhelm Brix, ein Pionier im Telegrafenwesen. Archiv für deutsche Postgeschichte, 1974 , S. 199 - 131.

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„Die Funkentelegraphie hat das Studium der tastenden Versuche verlassen, sie ist jetzt einer bewußten Ingenieurtätigkeit erschlossen, und die regsamen Kräfte der Industrie werden schon das ihrige tun, das Anwendungsgebiet in schnellem Tempo zu erweitern“. Über das Funksystem Slaby-Arco, die Zusammenarbeit mit der AEG und die Gründung der Telefunken GmbH (1903) wird weiter unten berichtet werden. Zwei Fachgebiete bildeten seit der Jahrhundertwende die Nachrichtentechnik, die Telegrafie und die Funkentelegrafie. Die Telegrafie entwickelte sich zur Fernmeldetechnik und die Fun-kentelegrafie zur Hochfrequenztechnik. An der TH Berlin gab es seit 1911 eine Vorlesung Fernmeldetechnik, ab 1922 einen gleichnamigen Lehrstuhl, 1935 folgte ein Lehrstuhl für Hochfrequenztechnik. Ordinarien für diese beiden Fachgebiete gibt es auch noch heute an der TU Berlin.

3.1 Telegrafie, Telefonie und Fernmeldetechnik Wie bereits erwähnt, hatte Dr. Brix ab 1881 an der TH Berlin eine Vorlesung Elektrische Te-legraphie angeboten. 1883 übernahm Dr. Slaby diese Vorlesung. Im Jahr 1892 erhielt Dr. Karl Strecker eine Dozentur für das Lehrgebiet Elektrotelegraphie, das dazu von dem Lehrge-biet von Prof. Slaby abgespalten,wurde. Strecker kam vom Reichspostministerium, er war bereits seit 1886 Privatdozent an der TH Berlin, wurde 1899 Professor und 1913 ordentlicher Professor. Über die Inhalte der Vorlesung Elektrotelegraphie wissen wir nicht viel, eine Notiz von Rudolf Franke, Vorstandsmitglied der Firma Mix und Genest, und ab 1922 erster Ordina-rius für Fernmeldetechnik der TH Berlin, ist erhellend3; ihm sagte Strecker im Jahre 1911: „Geben Sie sich gar keine Mühe, Zuhörer für Ihre Vorlesungen zu werben. Für die Schwach-stromtechnik ist gar kein Interesse vorhanden. Ich habe hier 20 Jahre das Gebiet der Telefo-nie und Telegrafie vertreten und im Höchstfalle 5 Hörer gehabt, zu denen ich mich in die Bank gesetzt und mit ihnen unterhalten habe“. Rudolf Franke. Wie an anderen Hochschulen auch waren die Gebiete Telegrafie und Telefo-nie eher historisch orientiert, die Energietechnik hatte ein deutliches Übergewicht und galt daher häufig, aber fälschlich, als das historisch ältere Gebiet. Es war Rudolf Franke, der 1909 mit einer auch vom Verein Deutscher Elektrotechniker (VDE) unterstützten Denkschrift, „betr. die Errichtung eines Lehrplans für Schwachstromtechnik an einer Technischen Hoch-schule" auf die Benachteiligung dieser Schwachstromtechnik hinwies. In der Tat war die Starkstromtechnik Ende des letzten Jahrhunderts durch die Einführung von elektrischer Be-leuchtung, Antriebstechnik und Versorgungsnetzen so vorherrschend geworden, daß in Deutschland über 90 Prozent der elektrotechnischen Industrieproduktion auf den starkstrom-technischen Sektor entfielen1. Rudolf Franke las seit 1907 als Privatdozent an der TH Berlin, erhielt 1911 eine Professur, ein Jahr später wurde ein Laboratorium für Schwachstromtechnik eingerichtet, aber erst 1922 wurde er Ordinarius für Fernmeldetechnik und Feinmechanik. Der Begriff Fernmeldetechnik wurde von Franke selbst geprägt, das Vorlesungsverzeichnis des WS 1911/1912 nennt erstma-lig eine gleichnamige Vorlesung. Nach dem ersten Weltkrieg waren mehr als die Hälfte aller

3 Rudolf Franke: Geschichte der Entstehung und Entwicklung des ersten Lehrstuhls für Fernmeldetechnik an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg, 1959, unveröffentlichtes Manuskript.

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Elektrotechnik-Studenten Studierende der Fernmeldetechnik, der Nachwuchs der Reichspost für die nach dem ersten Weltkrieg geschaffene Laufbahn des höheren fernmeldetechnischen Dienstes setzte sich im wesentlichen aus Franke-Schülern zusammen4.

Bild 4: Rudolf Franke

Erster Professor für Fernmeldetechnik an der TH Berlin

Erstaunlicherweise wurden vom Institut für Fernmeldetechnik Fragen der Übertragungstech-nik nur am Rande in Lehre und Forschung behandelt. Der Schwerpunkt lag auf Fragen der elektromechanischen Steuerung, der Fernschreibtechnik (die der Telegrafie eine bessere Be-dienoberfläche verlieh) und der durch Nummernwahl gesteuerten Fernmelde-Vermittlungstechnik. Franke hatte eine an die Erkenntnisse von Franz Reuleaux angelehnte „vergleichende Schalt- und Getriebelehre“ entwickelt und gezeigt, daß sich jede getriebliche Aufgabe in der Fernmeldetechnik auf mechanischem oder magnetischem oder elektrischem Wege lösen läßt. Er zeigte seinen Studenten, daß jede mechanische Lösung eines Problems durch eine äquivalente elektrische ersetzt werden könne – und daß auch der umgekehrte Weg möglich sei2. Die Studien- und Diplomarbeiten seit 1924 sind noch weitgehend vorhanden, die beiden folgenden Bilder zeigen Titelblatt und Aufgabenstellung einer der ersten Diplom-arbeiten des Lehrstuhls für Fernmeldetechnik. In den dreisemestrigen Vorlesungen zur Fernmeldetechnik wurden im fünften Semester Grundlagen gelehrt (Schalt- und Getriebelehre, elektrische Energiespeicher, Elektromagnete, Elektroröhren, Vorgänge auf Leitungen), im sechsten Semester folgte die eigentliche Fern-sprechtechnik (insbesondere Vermittlungstechnik, Fernämter, Nebenstellen). Das siebente Semester war Sondergebieten gewidmet (Telegrafie, elektrische Uhren, Fernmeldung von Wasserstand, Temperatur etc. und Geschwindigkeitsmessungen).

Bild 5: Diplomarbeit 1924 Titelseite

4 G. Goebel: Rudolf Franke, der Schöpfer der Fernmeldetechnik. Archiv für das Post- und Fernmeldewesen, 1950, Nr. 8, S.659-660.

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Karl Küpfmüller betreute den Lehrstuhl bis 1936 kommissarisch, nachdem Franke 1935 e-meritiert war. Küpfmüller hatte seit 1935 den Lehrstuhl für Allgemeine und Theoretische E-lektrotechnik inne (er war von 1928 bis 1935 für einen gleichnamigen Lehrstuhl an der TH Danzig verantwortlich gewesen) .

Diplom-Aufgabe

Auf einem Ozeandampfer wird das Steuerruder durch besondere Dampfmaschine bewegt, der übliche Ket-tenzug zur Betätigung der Rudermaschine vom Steuerrad aus soll durch eine ganz elektromagnetische Übertra-gungseinrichtung ersetzt werden. Verlangt wird : 1.) Ein Wechselstrom - Übertragungssystem zu entwickeln mit der Wirkung, daß im Gebersystem Stromunterschiede erzeugt werden, die im Empfangssystem Feldumkehr her-vorrufen. Durch geeignete Anordnung soll eine vollstän-dige Felddrehung entstehen. Erläuterungen hierzu und Berechnungen , 2.) Der genaue konstruktive Entwurf mit allen Einzelhei-ten für werkstattmäßige Herstellung 3.) Allgemeiner Schaltplan mit allen Einzelheiten 4.) Genaue Konstruktionszeichnung aller für die Steue-rung in Frage kommenden elektrischen und mechanischen Schaltgeräte für werkstattmäßige Ausstellung. 18. 11. 24

Bild 6: Diplomarbeit 1924 (Aufgabentext)

Bild 7: Karl Küpfmüller Kommissarischer zweiter Professor für Fernmeldetechnik an der TH Berlin

Wilhelm Stäblein wurde 1936 als Ordentlicher Professor für das Lehrgebiet "Anlagen der Fernmeldetechnik" berufen. Er wurde auch Abteilungsleiter der Abteilung Fernmeldetechnik am Institut für Schwingungsforschung (HHI). Stäblein, der unter Piloty im Berliner AEG-For-schungsinstitut gearbeitet hatte, nahm neue Forschungsaufgaben auf. In diesem Zusammen-hang sollen zwei wissenschaftliche Mitarbeiter erwähnt werden, die unter Stäblein Wegwei-sendes geleistet haben.

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Bild 8: Wilhelm Stäblein Zweiter Professor für Fernmeldetechnik an der TH Berlin

Der damalige wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Fernmeldetechnik, Herbert Raa-be, gilt als Vater des Abtasttheorems5. Das Abtasttheorem in nachrichtentechnischem Zusammenhang wurde zum ersten Mal in seiner Dissertation abgeleitet6. Abtastung bildet die Grundlage der digitalen Nachrichtentechnik, die sich aber erst Jahrzehnte später durchsetzte. Die andere Erwähnung betrifft Helmut Schreyer, auch er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Fernmeldetechnik. Schreyer war mit Konrad Zuse befreundet und hatte ihn bereits 1937 dazu angeregt, statt der Telefonrelais elektronische Röhrenschaltungen zu verwenden: "Das mußt Du mit Röhren machen"7. Zuse und Schreyer stellten bereits 1938 einem kleinen Kreis von Mitarbeitern des Instituts für Fernmeldetechnik ihren Plan eines elektronischen Rechners vor. Herr Schreyer war vermutlich weltweit der erste, der die Idee, einen elektroni-schen Rechner zu bauen, systematisch verfolgte. Schreyer wies in seiner Dissertation auf die Verwendbarkeit solcher Röhrenrelais für „ein vollautomatisches Rechengerät mit abzutasten-dem Rechenplan und Speicherwerk“ hin8. Zuse schreibt in seiner Autobiographie, daß Ende des Krieges ein funktionsfähiges Rechenwerk für 10 Binärstellen fertig war, aber verlorenge-gangen sei9.

3.2 Funkentelegrafie und Hochfrequenztechnik Heinrich Hertz hatte 1887/88 in Karlsruhe elektrische Wellen experimentell nachgewiesen und damit die Richtigkeit der Maxwellschen Theorie der Elektrizität und des Magnetismus bestätigt. Die Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin hatte auf Anregung von Helmholtz, Professor der Physik in Berlin, eine entsprechende Preisaufgabe gestellt. Helm-holtz wies seinen Assistenten Hertz auch auf diese Aufgabe hin. Hertz legte seine Ergebnisse der Preußischen Akademie der Wissenschaften vor. Heinrich Hertz war nur an der physikalischen Erkenntnis gelegen, an technische Anwendun-gen, etwa auf dem Gebiet der Nachrichtenübertragung, hatte er nie gedacht; er betrieb Hoch-frequenzphysik, nicht Hochfrequenztechnik. Die „Telegraphie ohne Draht“ oder „Wellentele-graphie“ beschäftigte aber nach den Hertzschen Versuchen viele Wissenschaftler. Der italieni-sche Funktechniker Guglielmo Marconi begann im Jahre 1895 mit praktischen Versuchen. Es gelang ihm 1897, bei Übertragungsversuchen in England Nachrichten über mehrere Kilometer drahtlos zu senden. Im ersten Jahrzehnt basierten Funkversuche auf durch Funkenentladung

5 „Herbert Raabe - Der Vater des Abtasttheorems“, Würdigung von Prof. Dr. Lüke, RWTH Aachen , ntz 1989. 6 Herbert Raabe, „Untersuchungen an der wechselzeitigen Mehrfachübertragung (Multiplexübertragung)“, Dissertation TH Berlin, 1939. 7 Interview mit Konrad Zuse, Siemens-Zeitschrift 1989, Heft 3. 8 H. Schreyer „Das Röhrenrelais und seine Schaltungstechnik“, Dissertation TH Berlin, 1941. 9 K. Zuse, „Der Computer – Mein Lebenswerk“, Springer-Verlag, 1993.

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angestoßenen gedämpften Schwingungen der elektrischen Resonanzsysteme. In der deutschen Sprache ist der Name ,,Funktechnik" für die drahtlose Übertragung geblieben. Adolf Slaby nahm im Mai 1897 an Marconis Versuchen am Bristol-Kanal teil, auf Anregung des Kaisers. Nach Berlin zurückgekehrt, baute er Marconis Apparaturen nach, zuerst mit schlechtem Ergebnis längs eines Flures im Hauptgebäude der Königlichen Technischen Hoch-schule zu Berlin, dann von diesem Hauptgebäude zu einem Wasserturm am Salzufer (mit ei-nem daraus resultierenden Zusammenbruch des Fernsprechverkehrs im Charlottenburger Be-reich) und schließlich zwischen der Glienecker Brücke, der Pfaueninsel und der Sakrower Heilskirche. Dazu gibt es eine wunderbare Beschreibung aus dem Jahr 189710. Slaby verbes-serte die MArconi-Technik, als innovativen eigenen Beitrag ordnete Slaby die Funkenstrecke in einem besonderen Kreis an, der induktiv mit dem Antennenkreis gekoppelt war. Ein daraus entstandener Prioritätsstreit mit Ferdinand Braun wurde beigelegt. Zum hundertsten Jahrestag dieses Funkverkehrs wurde Slaby an der TU Berlin mit einem Festkolloquium geehrt, Nachbauten seiner ersten Versuche wurden an der TU Berlin von Prof. Dr. Mönich und dem Deutschen Technikmuseum Berlin erstellt und an der Sakrower Heils-kirche erfolgreich vorgeführt.

Bild 9: Slabys Versuche auf der Pfaueninsel10

Bild 10: Sacrower Heilskirche Slaby und sein Assistent Graf Arco lieferten wichtige Beiträge zur Funkübertragung, es ent-stand das Funksystem Slaby-Arco, das patentiert und von der AEG übernommen wurde. In Konkurrenz dazu stand ein von Siemens und Ferdinand Braun entwickeltes System. 1903

10A. Slaby: Die Funkentelegraphie. Berlin, Verlag von L. Simion, 1897.

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wurde von der AEG und Siemens Telefunken, Gesellschaft für drahtlose Telegraphie ge-gründet, um Prioritätsstreitigkeiten zu beenden und die internationale Konkurrenzfähigkeit der deutschen Funktechnik nicht zu gefährden. An die Spitze dieses Unternehmens trat Graf Arco. Die Telefunken-Gesellschaft wurde in kurzer Zeit richtungsgebend für die Weiterentwicklung im Sender- und Empfängerbau der Funktechnik. Heinrich Fassbender. Von 1906/07 bis 1908/09 hielt Slaby Vorlesungen über Funkentele-grafie, nach seiner Emeritierung (1912) übernahm der Geheime Reg.-Rat Dr. Ernst Orlich, von der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt (PTR) kommend, den Lehrstuhl. Orlich war ein hervorragender Theoretiker, der erstmals das Fach Theoretische Elektrotechnik an der TH Berlin las und ein Hauptverdienst an dem wissenschaftlichen Ausbau der TH Berlin in den folgenden Jahren hatte11. Einer seiner Assistenten, Heinrich Fassbender, auch er von der PTR kommend, habilitierte sich 1914 an der TH für das Lehrgebiet Drahtlose Telegraphie und Telephonie sowie Elektrotechnische Meßkunde und hielt seitdem auch eine gleichnamige Vorlesung. Im gleichen Jahr bot auch Friedrich Kock erstmalig Vorlesungen über Drahtlose Telegraphie und Hochfrequenztechnik in der Abteilung (ab 1922: Fakultät) für Allgemeine Wissenschaften der TH Berlin an. Alexander Meißner. Eine grundlegende Erfindung im Jahr 1913 ebnete den Weg für viele neuen Anwendungen. In diesem Jahr hatte Alexander Meißner, ein Mitarbeiter der Telefunken GmbH, mit seinem Rückkopplungspatent die Grundlage für die Erzeugung und den Empfang ungedämpfter Schwingungen mit gittergesteuerten Elektronenröhren geschaffen. Dies war vorher nur mit aufwendigen Hochfrequenzmaschinen mit übersättigten Transformatoren als Frequenzvervielfacher möglich. Meißner wurde Lehrbeauftragter und (ab 1928) Honorarpro-fessor für Drahtlose Fernübertragung an der TH Berlin. Die TU Berlin würdigte seine Ver-dienste durch Verleihung der Ehrensenatorwürde. Mit dem Aufkommen des Funkprinzips, der Verstärkerröhren und des Rückkopplungsprinzips konnten jetzt vielseitige neue Lösungen nachrichtentechnischer Aufgaben realisiert werden. Störanfällige Freileitungsverbindungen wurden durch Kabel ersetzt, trägerfrequente Übertra-gungen - also die Übertragung von mehreren Fernsprech- oder Telegrafiesignalen über eine gemeinsame Leitung, wobei jedem Nachrichtensignal ein eigenes Frequenzband zugeordnet wurde - ermöglichten eine Mehrfachausnutzung von leitungsgebundenen oder funkbetriebe-nen Übertragungsstrecken. Fassbender und sein Assistent Erich Habann führten bereits 1918 () einen gleichzeitigen hochfrequenten Trägerfrequenz-Fernsprechverkehr von drei Fern-sprechverbindungen zwischen Berlin und Potsdam vor, ein halbes Jahr später konnte ein öf-fentlicher postalischer Trägerfrequenz-Telegrafieverkehr zwischen Berlin und Weimar (dem damaligen Sitz der Nationalversammlung) eingerichtet werden. Fast 100 Patente und Patent-anmeldungen aus der Anfangszeit der Trägerfrequenztechnik tragen Fassbenders und Habanns Namen.

11 Heinrich Fassbender, „Die Entwicklung der Hochfrequenztechnik an der Technischen Hochschule Berlin bis 1945“, Nachrichtentechnische Zeitschrift (NTZ); 1965, Heft 11, S. 664 – 668.

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Bild 11: Heinrich Fassbender

Erster Professor für Hochfrequenztechnik an der TH Berlin

Fassbender war ab 1918 Professor an der TH Berlin, von 1926 bis 1935 in Personalunion auch noch Leiter der Abteilung Flugfunkwesen an der Deutschen Versuchsanstalt für Luftfahrt (DVL) in Berlin-Adlershof. Dadurch wurden auch grundsätzliche Fragen der Flugzeugnaviga-tion im Bereich ultrakurzer Wellen bis hin zum Langwellenbereich, Trägerfrequenztechnik, Antennenoptimierungen und Probleme der Hochfrequenzmeßtechnik an der TH bearbeitet. Während des Krieges kamen Wehrmachtsaufträge hinzu, wie die Entwicklung und Antennen für V2-Geschosse12. . 1931 wurde Fassbender auch die Leitung des Instituts für Elektrische Schwingungslehre und Hochfrequenztechnik übertragen, das einige Jahre vorher unter der Leitung von Friedrich Kock in der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften entstanden war. 1935 wurde ein Lehr-stuhl für Hochfrequenztechnik und Flugfunkwesen geschaffen, dessen erster Ordinarius dann Fassbender wurde. Es war das erste Ordinariat für Hochfrequenztechnik in Deutschland. Zu seinen Assistenten gehörte u.a. Friedrich Wilhelm Gundlach, der nach dem Kriege Nachfolger von Fassbender wurde (siehe Kapitel 6).

3.3 Netzwerk- und Systemtheorie Die Probleme bei der funk- oder leitungsgebundenen Übertragung von Nachrichtensignalen über große Strecken führten dazu, daß das Verhalten elektromagnetischer Wellen zunehmend mit mathematischen Mitteln analysiert wurde. Insbesondere in den Entwicklungsjahren der Funktechnik fehlte nämlich ein vertieftes Verständnis der physikalischen Grundlagen. Nach Aussagen von Graf v. Arco, Assistent von Slaby, waren die ersten Funkversuche elektrische Alchemie, und er ergänzte: „Gedankenexperimente waren ausgeschlossen und es herrschte reinste und roheste Empirie“. Nicht immer war und ist es erforderlich, zur Analyse elektromagnetischer Phänomene die Maxwellsche Theorie heranzuziehen. Das gilt insbesondere, wenn man nur an einer einge-schränkten Klasse von Phänomenen interessiert ist, zum Beispiel am Eingangs- und Aus-gangsverhalten nachrichtentechnischer Komponenten. Mit der Netzwerk- und Systemtheorie ist dafür ein eigenständiges theoretisches Konzept entstanden, das für die Anwendung auf praktische Problemstellungen der Elektrotechnik von zentraler Bedeutung ist. Die Theorie basiert auf Modellbildungsprozessen, die reale Systeme genügend genau wiedergeben, und auf der Anwendung mathematischer Methoden, zu denen die Analysis komplexer Variablen, line-are und nichtlineare Differentialgleichungen sowie Integraltransformationen wie die Fourier- oder Laplacetransformation gehören.

12Friedrich-Wilhelm Gundlach, „80 Jahre Hochfrequenztechnik an der Technischen Universität Berlin“, in Rein-hard Rürup (Hrsg): Wissenschaft und Gesellschaft, Zweiter Band, Springer-Verlag, 1979.

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Berlin war bis zum Ende des zweiten Weltkrieges ein Zentrum der Netzwerk- und Systemthe-orie. Die Theorie der Gleichstromnetzwerke begann mit Kirchhoff, der 1843 mit 21 Jahren die Maschen- und Knotenregel fand. Helmholtz ergänzte diese Ergebnisse durch das Superpositi-onsprinzip und den Satz von der Ersatzspannungsquelle. Die Theorie der Gleichstrom-netzwerke kann als erste eigenständige ingenieurwissenschaftliche Theorie auf dem Gebiet der Elektrotechnik angesehen werden13. Damit konnten alle "Gleichstromprobleme" oder auf den Gleichstrom zurückführbare Probleme mathematisch formuliert und gelöst werden. In der Schwachstromtechnik begann in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts die theoretische Forschung auf den Gebieten der Vierpole, Kettenleiter und Siebschaltungen. Ein Vierpol ist ein elektrotechnisches System mit einem durch zwei Eingangspole charakterisier-ten Eingang und einem entsprechenden Ausgang. Der Begriff Vierpol wurde 1921 von Franz Breisig geprägt, der Professor an der mit dem Telegraphenversuchsamt verbundenen Post- und Telegraphenschule war, die der Fortbildung der höheren technischen Reichspostbeamten diente. Seit 1924 war er Honorarprofessor an der TH Berlin (siehe auch Bild 10). Die Vier-poltheorie wurde von ihm und Julius Wallot zu einer eigenständigen Theorie ausgebaut. Dar-aus entstand die Filtertheorie von Karl Willy Wagner und von Wilhelm Cauer. Auch Wallot und Wagner lehrten an der TH Berlin. Wallot wurde 1929 zum nichtbeamteten außerordentli-chen Professor berufen, er gab seine Lehrtätigkeit 1939 aus eigenem Entschluß „wegen der Neuordnung der Verhältnisse der Dozenten“ auf. Karl Willy Wagner (1883-1953), war 1913 Professor und Chef der Starkstromabteilung (!) der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt geworden, seine Erkenntnisse über elektrische Wanderwellen sind bis heute für die Hochspannungstechnik grundlegend. 1923 wurde er als Nachfolger von K. Strecker Präsident des Telegraphentechnischen Reichsamtes, vier Jahre später wurde er Professor für Allgemeine Schwingungslehre an der TH Berlin und etwas spä-ter in Personalunion Direktor des HHI (siehe Kapitel 4). Zu seinen bedeutendsten wissen-schaftlichen Beiträgen gehören die Theorie der Kettenleiter und der elektrischen Siebketten, die Ionosphärenforschung, die Analyse von Geräuschen und Sprachsignalen und Beiträge zur elektrischen Nachbildung von Sprachlauten. K.W. Wagner war einer der damals führenden Elektroingenieure und Nachrichtentechniker, sowohl als Wissenschaftler wie auch als Organi-sator. Eine ungewöhnlich große Zahl internationaler Ehrungen bezeugt die Bedeutung seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Wilhelm Cauer studierte an der TH Berlin Technische Physik und promovierte 1926 bei Ge-org Hamel in der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften, K.W. Wagner war der zweite Gut-achter. 1928 folgte die Habilitation für das Fach "Angewandte Mathematik", sein Habilitati-onsvortrag hatte das Thema: "Die Siebschaltungen der Fernmeldetechnik" . 1936 wurde Cauer Leiter des Forschungslaboratoriums der fernmeldetechnischen Firma Mix und Genest Berlin, er hielt von 1938 bis 1942 an der TH Berlin Vorlesungen über „Die mathematischen Grundla-gen der Elektrizitätstheorie“, „Theorie der Einschwingvorgänge“ und „Theorie der linearen Wechselstromschaltungen“. 1939 wurde er zum außerplanmäßigen Professor ernannt. Cauers wissenschaftlichen Konzepte auf dem Gebiet der Netzwerksynthese fanden erst nach Kriegs-ende Eingang in Industrie und Lehre. Zu seinem 50. Todestag (1995) wurde Cauer an der TU Berlin mit einer Gedenksitzung gewürdigt14,15.

13 G. Wunsch: Geschichte der Systemtheorie. Oldenbourg Verlag, 1985. 14 ITG Diskussionssitzung und Gedenksitzung zum 50.ten Todestag von Wilhelm Cauer, TU Berlin, VDE Ver-lag, 1996, Herausgeber W. Mathis und P. Noll.

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TH Berlin-

Charlottenburg

HHI

Telegraphen- Versuchsamt

Post- und Telegraphen-

schule

Physikal.- Technische

Reichsanstalt

Forschungslabors der Industrie

Fr.Wilhelm-

Universität

(Telegr.techn. Reichsamt)

AEG, Siemens, Lorenz, Mix & Genest,

Telefunken, etc.

K. Strecker K.W.Wagner

K.W.Wagner

Küpfmüller K.W. Wagner

Helmholtz, Kirchhoff

Hertz

Fassbender Orlich

Wagner, Salinger, Leithäuser, Klein, Pelz

Breisig

Cauer, Franke, Küpfmüller, Meissner,

Schröter, Stäblein, Wallot

Bild 12: Wichtige Institutionen und Wissenschaftler der Nachrichtentechnik in Berlin

und ihre Verbindungen zur TH Berlin-Charlottenburg

Karl Küpfmüller (1897-1977) war Assistent von Karl Wilhelm Wagner im Telegraphen-technischen Reichsamt gewesen, wechselte dann zu Siemens & Halske und wurde später Pro-fessor in Danzig. 1935 wurde er, wie bereits dargestellt, als o. Professor für Allgemeine und Theoretische Elektrotechnik an der TH Berlin berufen. 1937 verließ Küpfmüller die TH Ber-lin, um (bis 1945) Direktor der Zentralen Entwicklungsabteilung bei Siemens & Halske, Ber-lin, zu werden. Er blieb der TH aber über eine Honorarprofessor verbunden, in dieser Zeit stellte er seine Systemtheorie in seinen Vorlesungen vor. Die von Karl Küpfmüller eingeführte Systemtheorie erlaubt eine Eingang-Ausgang- bzw. Ur-sache-Wirkung-Beschreibung mit Hilfe von Spektraltransformationen und idealisierten Signa-len. Damit lassen sich Systeme ohne Rücksicht auf ihren inneren Aufbau durch eine einzige Funktion, die System- oder Übertragungsfunktion, beschreiben. Küpfmüller schreibt im Vor-wort zu seinem Buch16: „...Eine neuere Betrachtungsweise, die sich als besonders fruchtbar erwiesen hat, besteht darin, daß willkürlich bestimmte Wechselstromeigenschaften der Übertragungssysteme ange-

15 Special Issue in Memory of Wilhelm Cauer: The Role of Losslessness in Theory and Applications. AEÜ Sept./Nov. 1995. 16 Karl Küpfmüller, „Die Systemtheorie der elektrischen Nachrichtentechnik", Springer, 1949.

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nommen werden; es wird dann gefragt, wie sich ein so gekennzeichnetes System bei der Über-tragung von Nachrichten verhält. Für diese Art der Betrachtung schlage ich die Bezeichnung „Systemtheorie“ vor...“

3.4 Rundfunk und Fernsehen Die Trägerfrequenztechnik erlaubte die Mehrfachausnutzung von Funkstrecken. Damit konn-ten auch neue Dienste eingeführt werden; in Deutschland wurde im Jahre 1923 mit der regel-mäßigen öffentlichen Ausstrahlung von Hörfunksendungen begonnen, zwölf Jahre später folg-te – mit sehr geringer Teilnehmerzahl - der Fernsehfunk Zwischen den Weltkriegen, insbesondere in den dreißiger Jahren, spielten die Fachgebiete Bildtelegraphie und Fernsehen an der TH Berlin eine herausragende Rolle. Wichtige Namen sind Korn (Bildtelegraphie), Schröter (Fernsehen) und Kirschstein (Fernsehen). Korn und Schröter boten Lehre in der Fakultät für Allgemeine Wissenschaften an. Fritz Schröter, For-schungsdirektor der Telefunken AG, war an der TH von 1931 bis 1945 Honorarprofessor. Er lieferte wesentliche Beiträge zum Fernsehen17, u.a. durch die Einführung der Braunschen Röhre als Fernsehbildröhre und durch seine Erfindung des Zeilensprungverfahrens zur Erzeu-gung flimmerfreier Fernsehbilder. Es war auch Schröters Initiative, daß ab 1939 die Fernseh-bildröhren ein rechteckförmiges Format bekamen. Rundfunk- und Fernsehdienste wurden schwerpunktmäßig in Berlin entwickelt und in Pilot-versuchen getestet. Nicht nur der Rundfunk, auch der Tonfilm und das Fernsehen hatten ihre deutschen Premieren in Berlin.

4 Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung

Der große Erfolg des neuen Rundfunkdienstes gab den Anstoß, grundlegende wissenschaft-lich-technische Fragestellungen in einem Forschungsinstitut zu bearbeiten. Die Anregung da-zu wurde vom Staatssekretär des Reichspostministeriums, Hans Bredow, gegeben, der sich auch um die Einführung des Rundfunks verdient gemacht hatte. 1928 kam es zur Gründung des Heinrich-Hertz-Institutes für Schwingungsforschung (HHI) mit den Abteilungen Telegra-phie- und Fernsprechtechnik, Hochfrequenztechnik, Akustik und Mechanik. Neben der Reichspost, dem Reichsrundfunk, dem VDE und elektrotechnischen Konzernen gehörte auch die Technische Hochschule Berlin zu den Mitgründern. Der Direktor, Karl Willy Wagner (Allgemeine Schwingungslehre) und die Abteilungsleiter des Instituts waren ,,Stiftungsprofessoren" der Technischen Hochschule. Abteilungsleiter wurden G. Leithäuser (Elektrische Schwingungslehre und Hochfrequenztechnik), Hans Salinger (Telegraphie- und Fernsprechtechnik), E. Meyer (Akustik) und W. Hort (Mechanik). Aufgabe des HHI war es, die wissenschaftlichen Grundlagen für den noch jungen Rundfunk zu fördern, dazu gehörte die Erforschung von elektrischen, akustischen und mechanischen Schwingungen. Die wissenschaftlichen Arbeiten des HHI waren sehr breit angelegt. Auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik befaßte sich die Fernmeldetechnik mit Übertragungssystemen und ihren Komponenten, mit Nebensprechen auf Leitungen sowie mit linearen Netzwerken

17A. Karolus, „Fritz Schröter zum 70. Geburtstag“, A.E.Ü. Band 10 (1956), S. 505 - 505.

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(Kettenleiter, Siebschaltungen für die Rundfunktechnik und Vierpoltheorie). Die Hochfre-quenztechnik arbeitete auf dem Gebiet der Wellenausbreitung (über Erdboden, unter Wasser, in der Ionosphäre), der Entwicklung von Antennen und der Sender- und Empfängeroptimie-rungen bei sehr hohen Frequenzen. Im zweiten Weltkrieg wurde dem HHI ein „Vierjahres-Institut“ angegliedert, das mit dem HHI durch Personalunion der leitenden Stellen verbunden war, es führte u.a. Versuche und Entwicklungen, so zur Steuerung von V2-Waffen, für die Versuchsanstalt Peenemünde durch.

5 Niedergang und Ende der TH Berlin-Charlottenburg

Der Niedergang der TH Berlin-Charlottenburg begann mit dem Auftreten des Nationalsozia-lismus. Die TH wurde eine Hochburg der Nationalsozialisten, anfangs in erster Linie in den Reihen der Studenten, verglichen damit war die Professorenschaft eher zurückhaltend. Bei den Studentenschaftswahlen 1931 stimmten bereits über 60% für die Nationalsozialisten. Der Weggang jüdischer Studenten, die Ausschaltung jüdischer Wissenschaftler und die politische Gleichschaltung der TH vollzogen sich ohne großen Widerstand. Auch Professor Gustav Hertz, Direktor des Physikalischen Instituts und Nobelpreisträger von 1925, mußte aufgeben, als ihm - wie anderen - die Prüfungsberechtigung entzogen wurde. 1933 emigrierten u.a. auch zwei Wissenschaftler der TH Berlin, deren grundlegenden Arbei-ten auf Gebieten der Nachrichtentechnik später weltweite Anerkennung fanden: Dennis Ga-bor, dessen Gabor-Transformation hochaktuell für die theoretische Nachrichtentechnik ist18, und Eugene Wigner, der auf dem Gebiet der Elementarteilchen-Physik arbeitete und die Wignerverteilung in die Natur- und Ingenieurwissenschaften einführte. Gabor-Transformation und Wigner-(Ville)-Verteilung ermöglichen auf unterschiedliche Weise zeitvariante Zeit-Frequenz- oder Raum-Frequenz-Darstellungen von Signalen19. Beide wanderten in die USA aus und erhielten später Nobelpreise, Wigner im Jahr 1963 für ein Ergebnis aus der Kernphy-sik, Gabor im Jahr 1970 für die Entdeckung des Prinzips der Holografie. 1966 wurde Wigner die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Berlin verliehen. Nicht nur die TH Berlin, auch die benachbarten Institutionen, die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR) und das Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung (HHI) waren gleichartig betroffen. Am HHI kam es 1936 zu einer "Säuberung", der Name Heinrich Hertz mußte aus der Institutsbezeichnung verschwinden, der Abteilungsleiter Hans Salinger mußte gehen, weil er „nichtarisch“ war, der Abteilungsleiter Gustav Leithäuser, weil seine Frau „halbarisch“ war, der Direktor K.W. Wagner wurde aus noch ungeklärten Gründen abberufen. Nach einer Interimsleitung durch den damaligen NS-Dozentenführer der TH Berlin wurde Fassbender 1937 zum Direktor des Instituts für Schwingungsforschung (IfS) ernannt, Küpfmüller (später Stäblein) übernahm die Abteilung Fernmeldetechnik, Zinke die Abteilung Hochfrequenztechnik. Gegen Kriegsende wurden die im Hauptgebäude untergebrachten Institute für Fernmeldetech-nik und für Hochfrequenztechnik bei Luftangriffen zerstört, ebenso das in der Franklinstraße

18 D. Gabor: „Theory of Communication“, J. IEE 93 (1946), S. 429 - 457. 19 S. Qian und D: Chen, „Joint Time-Frequency Analysis“, IEEE Signal Processing Magazine, Vol. 16, No,2, 1999.

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gelegene Heinrich-Hertz-Institut; wesentliche Gerätebestände gingen bei Verlagerungen verlo-ren. In den letzten Kriegstagen, kam der Ordinarius für Fernmeldetechnik, Stäblein, bei einem Luftangriff auf Nürnberg ums Leben, als er mit anderen die Verlagerung von wissenschaftli-chem Gerät des HHI nach Oberfranken durchführte. Arbeiten an der TH und am HHI für die Versuchsanstalt Peenemünde wurden eingestellt. Am Institut für Fernmeldetechnik hatte die letzte Diplomarbeit vor Kriegsende folgende Aufgabenstellung: „Es ist ein englischer Beuteverstärker nach Frequenzgang, Verstärkungsgrad und Netzspei-sung zu untersuchen und das Schaltbild aufzunehmen“. Die Aufgabe wurde am 7. 12. 1944 an einen ungarischen Studenten ausgegeben, Abga-bedatum war der 22.1.45. Ergebnis der Untersuchung: Der „Beuteverstärker“ erwies sich als reines Netzteil. Zuse erwähnt in seinen Erinnerungen, daß dem Institut für Fernmeldetechnik damals nachrichtentechnisches Kriegsgerät wöchentlich und lastwagenweise überlassen wur-de. Das folgende Diagramm zeigt, daß im neunzehnten Jahrhundert an der TH Berlin nachrichten-technische Inhalte im wesentlichen nur von Slaby und Strecker vermittelt wurden, daß die Blütezeit der Nachrichtentechnik Mitte der zwanziger Jahre begann – und daß sie Mitte der dreißiger Jahre durch die Ausschaltung jüdischer sowie politisch unliebsamer Wissenschaftler bereits ihrem Ende zuging.

6 Der Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg

Die TH Berlin wurde 1946 als Technische Universität Berlin neugegründet. Bereits im Herbst 1945 wurde mit dem Wiederaufbau der Lehrstühle für Fernmeldetechnik und Hochfrequenz-technik begonnen, allerdings bis zur Zeit der Beendigung der Berliner Blockade unter erhebli-chen Schwierigkeiten. Wie andere Disziplinen auch verlor die Elektrotechnik der TU Berlin ihr außeruniversitäres Umfeld, Forschungsinstitute der Industrie und der Deutschen Post, Be-hörden und Verbände verließen Berlin. Die Lehrstühle für Fernmeldetechnik und Hochfrequenztechnik und Technische Akustik so-wie das HHI wurden in einem durch Kriegseinwirkungen teilweise beschädigten Gebäude in der Jebensstraße, dem ehemaligen Heereswaffenamt, untergebracht, notwendige Wiederbeset-zungen zogen sich bis in die fünfziger Jahre hin. Allerdings war Gustav Leithäuser, der bis 1936 Abteilungsleiter im Heinrich-Hertz-Institut gewesen und dann entlassen worden war, schon 1945 zum Ordinarius für Hochfrequenztechnik berufen worden; er hatte diese Stelle bis zu seiner Emeritierung 1953 inne. Leithäuser übernahm in den ersten Jahren auch die kom-missarische Leitung des Lehrstuhls Fernmeldetechnik, bis 1950 Gerhard Rothert Lehrstuhl und Institut für Fernmeldetechnik übernahm (1950 – 1968); seine Nachfolger waren Erich R. Berger (1969 bis 1997) und Peter Noll (ab 1980). Friedrich-Wilhelm Gundlach wurde 1954 auf den Lehrstuhl für Hochfrequenztechnik berufen, ihm folgte 1983 Klaus Petermann. 1996 wurden die Fachgebiete Fernmeldetechnik, Hochfrequenztechnik, Mikrowellentechnik, Tele-kommunikationsnetze und Theoretische Elektrotechnik im Institut für Nachrichtentechnik und Theoretische Elektrotechnik zusammengefaßt.

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18

1880 1890 1900 1910 1920 1930 1940 1950

Barkhausen

Breisig

Brix

Cauer

Fassbender

Feldtkeller

Franke

Gundlach

Jungfer

Kirschstein

Klein

Korn

Küpfmüller

Leithäuser

Meissner

Pelz

Rothert

Runge

Salinger

Schröter

Slaby

Stäblein

Strecker

Wagner

Wallot

Zinke

Bild 13: Übersicht über Beschäftigungszeiten nachrichtentechnischer Professoren20 (TH Berlin und Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung)

6.1 Nachrichtentechnische Forschung an der TU Berlin

20 Es werden auch wissenschaftliche Mitarbeiter genannt, die später Professoren wurden.

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Zu den ersten Arbeiten nach Kriegsende gehörten seit 1945 wissenschaftliche Arbeiten für die sowjetische Militäradministration in den dafür geschaffenen Nachrichtenlabors in Lichten-berg. An ihnen nahmen u.a. Prof. Leithäuser, Prof. Meißner und Dr. Raabe teil. Beispielswei-se wurden die Möglichkeiten einer trägerfrequenten Sprachübertragung mittels Mehrfachaus-nutzung von 3 – 5 mm Eisen-Freileitungen untersucht, wie sie in Rußland existierten. Forschungsthemen auf dem Gebiet der Nachrichtentechnik ergaben sich nach Kriegsende zu-erst durch Fortschreibung von bisher behandelten Aufgaben, führten aber durch das Auftreten neuer Basistechnologien schnell zu wechselnden Fragestellungen. Zu diesen Basistechnolo-gien, die die nachrichtentechnische Forschung beeinflußten, gehörten als erstes Halbleiterdio-den und Transistoren, dann komplexe integrierte Bausteine der Mikroelektronik, die schließ-lich auch eine wirtschaftliche Digitalisierung von Sprach- und Bildsignalen zuließen. Im hochfrequenten Bereich standen Möglichkeiten der Erzeugung kohärenten Lichtes mittels Laser und der optischen Übertragung über Glasfasern im Vordergrund. Die Basistechnologie Mikroelektronik lieferte Jahr für Jahr höhere Integrationsdichten, d.h., die Zahl der Transistoren pro Chip nahm über lange Jahre ebenso zu wie deren Verarbei-tungsgeschwindigkeiten. Damit standen effiziente digitale Prozessoren und Speicher zur Ver-fügung, die zu Innovationen wie der digitalen Telefonie (ISDN), den leitungsgebundenen und paketvermittelnden Datennetzen, den optischen Breitbandnetzen und zellular strukturierten Mobilfunknetzen führten. Fernmeldetechnik und Kommunikationsnetze In der Fernmeldetechnik wurden anfangs Fragen der elektronisch gesteuerten Vermittlungs-technik behandelt, wobei die eigentliche Durchschaltung noch galvanisch mittels elektrome-chanischer Wähler- oder Relaisschalter erfolgte, bis dann, als robuste Transistoren zur Verfü-gung standen, auch die Möglichkeiten des Ersatzes elektromechanischer Schalter durch elekt-ronische Komponenten, sogenannten Koppelpunkten, in großer Breite untersucht werden konnte. Entsprechende Modellanlagen wurden aufgebaut und optimiert. Die hohen Schaltge-schwindigkeiten der Komponenten ließen auch Konzepte zu, bei denen die Anzahl von Sprachverbindungen auf einer Übertragungsstrecke durch statistisches Multiplex verdoppelt werden konnte. In solchen Verfahren wird Teilnehmern ihre Verbindung kurzzeitig wegge-schaltet, weil sie gerade nicht sprechen, weil sie gerade nachdenken oder dem entfernten Teil-nehmer zuhören, um in dieser Zeit Sprachsignale anderer Teilnehmer durchzuschalten. Ent-sprechende Algorithmen, die auch auf heutigen digitalen Übertragungskanälen, insbesondere auf transkontinentalen Seekabel- und Satellitenverbindungen eingesetzt werden, wurden auch am Institut für Fernmeldetechnik untersucht. In den sechziger Jahren wurden beispielsweise auch schon zukünftige Videokommunikationsszenarien in Betracht gezogen und das Durch-laß- und Sperrverhalten elektronischer Schalter (Koppelpunkte) in zukünftigen Breitbandver-mittlungseinrichtungen gegenüber den zu der Zeit noch analogen Videosignalen mit Bandbrei-ten bis zu 10 MHz untersucht. Mit der Digitalisierung der Dienste Fernsprechen, Fax-, Festbild- und Bewegtbildübertragung entstanden wirtschaftliche Lösungen für die Übertragung der unterschiedlichen Signale, da sie ein gleichartiges digitales Format besitzen, so daß bisher unterschiedliche Netze zu homoge-neren Netzen zusammengeführt werden konnten (Integration der Dienste), und da das digitale Format eine wirtschaftliche digitale Durchschaltung in Vermittlungsrechnern ermöglichte (Integration von Übertragungs- und Vermittlungstechnik). Das führte im Fachgebiet Fernmel-detechnik (Prof. Noll) in den letzten Jahren zu der Entwicklung neuer Algorithmen für die digitale Übertragung von Sprach-, Audio- und Bildsignalen bei niedrigen Bitraten, insbesonde-re in Mobilfunkanwendungen und für den noch sehr jungen Digitalen Hörfunk (DAB = digital

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audio broadcast). Für Mobilfunkanwendungen wurden Verfahren entwickelt, die es ermögli-chen, Dienste mit unterschiedlichen Bitraten, z.B. Sprach-, Daten- und Bilddienste, gleichzei-tig zu übertragen. Dafür wurden auch geeignete Kanalmodelle entwickelt. Weitere Aktivitä-ten galten der Internet-Kommunikation. Da im Internet Sprache in „Paketen“ (Blöcken) über-tragen wird, von denen durch Bitfehler oder überlastete Vermittlungsknoten auch einige verlo-ren gehen können, wurden Verfahren der Lücken- und Pausenrekonstruktion von Sprachsigna-len optimiert. Weiter wurden Verfahren der Audiosignalverarbeitung entwickelt und Beiträge zu dem internationalen ITU-Standard zur Qualitätsbestimmung codierter Audiosignale gelie-fert. Um in Mobilfunkanwendungen Umgebungsgeräusche bei der Sprachübertragung zu re-duzieren, wurden mehrdimensionale Signalverarbeitungsalgorithmen und optimale Wienerfil-ter entwickelt (siehe Bild 14). Mehrere der genannten Projekte wurden für die TELEKOM bearbeitet.

Bild 14: Geräuschreduktion mit Mikrofongruppen und adaptivem Nachfilter

[Quelle: Institut für Fernmeldetechnik, Dr.-Ing. M. Drews]

Darstellung von Signalverläufen und Frequenz-Zeit-Darstellungen. Von links: a) ungestörtes Sprachsignal, b) gestörtes Sprachsignal (SNR = - 3 dB, d.h.Störsignalleistung doppelt so groß wie Sprachsignalleistung), c) Störsignalreduktion durch Summation der Mikrofonsignale nach Laufzeit-

ausgleich, d) zusätzliche Störsignalreduktion durch adaptives Nachfilter (Störleistung in c) bzw. d) um Faktor 6 bzw. 10 reduziert)

Im Fachgebiet Telekommunikationsnetze (Prof. Wolisz), das 1993 entstand, werden zur Zeit Untersuchungen zum drahtlosen Zugang zu lokalen Netzen und zum Internet durchgeführt sowie Teilprojekte für zukünftige integrierte breitbandige Mobilkommunikationssysteme be-arbeitet. Zielrichtung ist die Integration neuer Technologien, die Entwicklung flexibler Proto-kolle und die Anpassung von Multimedia-Diensten an heterogene Netze. Daneben spielen Fragen der Leistungsbewertung eine große Rolle. Hochfrequenztechnik In der Hochfrequenztechnik wurden frühere Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der Mikro-wellentechnik wieder aufgenommen, die Möglichkeiten der Entwicklung und des Einsatzes von Transistoren und Halbleiter-Spezialdioden untersucht und Forschungsarbeiten auf dem Gebiet der passiven Bauelemente der Mikrowellentechnik verstärkt. Untersucht wurden u. a.

Sprechersignal

f [k

Hz]

0

1

2

3

4

0 1

t [s]

gestörtes SprechersignalEingangs-SNR = - 3 dB

f [k

Hz]

0

1

2

3

4

0 1

t [s]

SummensignalSNRE = 7,3 dB

f [k

Hz]

0

1

2

3

4

0 1

t [s]

gefiltertes Signal SNRE = 9,6 dB

f [k

Hz]

0

1

2

3

4

0 1

t [s]τ1

τ2

τM

GeräuschreduktionLaufzeit-steuerung

Sprecher MikrofoneHintergrund-geräusche

...Nachfilter

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Hohlleiter, Streifen- und Schlitzleitungen. Ausführliche Arbeiten galten dem Gebiet der Mik-rowellenantennen: Hornstrahler, Kugelantennen und insbesondere Antennengruppen, deren Richtcharakteristik mit rein elektronischen Mitteln durch Steuerung der Schwingungsphase der einzelnen Elemente trägheitslos geschwenkt werden kann, wurden gründlich untersucht. Ein neues Arbeitsgebiet eröffnete sich, als zu Anfang der 60er Jahre Verfahren bekannt wur-den, mit Hilfe des Prinzips der induzierten Emission kohärente optische (Laser-) Strahlung zu erzeugen. Damit konnten die hochfrequenztechnischen Prinzipien der Führung und Abstrah-lung elektromagnetischer Wellen von einem Frequenzgebiet unterhalb von 100 GHz (Wellen-länge über 3 mm) auf ein Frequenzgebiet um 500 THz (500 Billionen Hz) übertragen werden. Die Wellenlängen reduzierten sich damit um den Faktor 5000. Es wurden Laser nachgebaut und weiterentwickelt, Schwierigkeiten bereitete anfangs die Mehrwelligkeit der Laser, ganz ähnlich der Mehrwelligkeit der Antennensysteme zu Beginn der Funkentelegraphie. Es wur-den Methoden entwickelt, die Mehrwelligkeit zu vermeiden. Zur etwa gleichen Zeit, Ende der sechziger Jahre, begannen weltweit Untersuchungen zur Führung von optischer Strahlung durch dielektrische Wellenleiter, insbesondere Glasfaser. Durch Hochzüchtung der dielektri-schen Werkstoffe konnte erreicht werden, daß die Dämpfung bei der Führung optischer Strah-lung geringer ist als die Dämpfung von elektromagnetischen Wellen niedriger Frequenz längs Kupferkabeln. Mit der Untersuchung von Glasfasern und der Entwicklung und Optimierung optischer Komponenten entstand an der TU Berlin ein neues Arbeitsgebiet mit weltweit ge-würdigten Ergebnissen. Derzeitige Arbeitsschwerpunkte sind u.a. die Modellierung optischer Übertragungsstrecken für hochratige digitale Übertragungen, optische Signalverarbeitung in Halbleiter-Laserverstärkern, optoelektronische Sensoren und Polymer-Wellenleiterstrukturen für optische Komponenten.

6.2 Nachrichtentechnische Lehre an der TU Berlin Die ersten Nachkriegsjahre dienten dem Wiederaufbau der Ausbildung, die in der Fernmelde- und Hochfrequenztechnik sehr ähnlich organisiert ist: eine zweisemestrige Hauptvorlesung über das jeweilige Fach wird von theoretischen Übungen (sogenannten Rechenübungen) und experimentellen Laboratoriumsübungen begleitet. Heute wie in früheren Jahrzehnten sind die Hauptvorlesungen von weiteren Vorlesungen begleitet, die von den Studenten als Ergän-zungs- oder Wahlfächer in ihren Studien- und Prüfungsplan aufgenommen werden können. Diese ergänzenden Vorlesungen werden zum Teil von den beamteten Professoren abgehalten, zum anderen Teil von Honorarprofessoren, Privatdozenten, außerplanmäßigen Professoren und Lehrbeauftragten. Studien- und Diplomarbeiten ergeben sich meistens aus den Forschungsaktivitäten der Fach-gebiete, in den ersten Nachkriegsjahrzehnten wurden sie fast ausschließlich als experimentelle Arbeiten durchgeführt. Im Institut für Fernmeldetechnik standen dazu auch unterschiedliche Fernsprechvermittlungseinrichtungen zur Verfügung, von einfachen Nebenstellenanlagen für wenige Teilnehmer bis zu einer Modellanlage eines Fernsprechamtes für 10000 Teilnehmer. Heute werden insbesondere in der Fernmeldetechnik an erster Stelle softwarebasierte Unter-suchungen durchgeführt. In den Fachgebieten der Hochfrequenztechnik werden sowohl expe-rimentelle, theoretische und rechnergestützte Arbeiten vergeben. Nachrichtentechnische Inhalte werden derzeit in den 10 SWS umfassenden Hauptfächern E-lektromagnetische Verträglichkeit, Hochfrequenztechnik, Hoch- und Höchstfrequenzelektro-nik, Kommunikationsnetze, Optische Übertragungstechnik und Nachrichtenübertragung sowie vertieft in den 30 SWS umfassenden Schwerpunktfächern Hochfrequenztechnik und Optoe-lektronik sowie Nachrichtenübertragung und Netze vermittelt.

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6.3 Das Heinrich-Hertz-Institut nach 1945 Prof. G. Leithäuser übernahm nach Kriegsende zusätzlich die Leitung des Heinrich-Hertz-Instituts, das jetzt seinen alten Namen wieder erhalten hatte und der Technischen Universität angegliedert wurde. Ein Institutsteil wurde der Ostberliner Deutschen Akademie der Wissen-schaften zugeordnet und zeitweise auch von Leithäuser geleitet. Die nachrichtentechnischen Arbeiten im Westberliner HHI umfaßten anfangs die Gebiete der allgemeinen Meßtechnik, der Fernmeldeübertragungs- und Vermittlungstechnik der Verstärkertechnik, der Leitungs-theorie, der Antennen und der Wellenausbreitung. Im Jahre 1954 wurde das Heinrich-Hertz-Institut für Schwingungsforschung wieder von der TU getrennt und von der Förderungsgemeinschaft des HHI betrieben. Trotz der organisatori-schen Trennung des HHI von der TU Berlin blieben beide Institutionen eng miteinander ver-bunden, weil die TU-Ordinarien für Fernmeldetechnik Hochfrequenztechnik, Technische A-kustik und Technische Mechanik entsprechende Abteilungsleiterfunktionen im HHI wahr-nahmen. Es wurde dabei im allgemeinen darauf geachtet, daß sich die Forschungsarbeiten an der TU mit denen am Heinrich-Hertz-Institut nicht überschnitten, sondern sinnvoll ergänzten. Erst nach Gründung des Heinrich-Hertz-Instituts für Nachrichtentechnik, einer GmbH des Bundes und des Landes Berlin, im Jahre 1974 wurde diese Personalunion aufgegeben. Das neue HHI betreibt grundlagenorientierte und anwendungsnahe Forschung auf dem Gebiet der Informationstechnik, zur Zeit in drei Schwerpunkten. Im Schwerpunkt Photonik-Netze werden breitbandige optische Kommunikationsnetze und optische Vermittlungstechniken unter Ein-satz der optischen Zeitmultiplextechnik und der Wellenlängenmultiplextechnik (einer Träger-frequenztechnik im Optischen) untersucht. Der Schwerpunkt Mobile Breitbandsysteme ist im Aufbau begriffen, es sollen die technologische Basis für breitbandige Mobilkommunikation geschaffen und Systemkonzepte dafür entwickelt werden. Im Schwerpunkt Elektronische Bildtechnik für Multimedia werden Ideen für Multimedia-Anwendungen und benutzerfreund-liche Bedienoberflächen entwickelt, Algorithmen für die Audio- und Videokompression op-timiert und geeignete Hardware-Architekturen bereitgestellt.

7 Informations- und Kommunikationstechnik – Die Zukunft

Die Entwicklung der Nachrichtentechnik hat seit ihren Anfängen durch stetiges Wechselspiel zwischen technischen Innovationen, wirtschaftlichem Anwendernutzen und den Wünschen nach verbesserten Kommunikationsmöglichkeiten zu außerordentlich leistungsfähigen, den ganzen Erdball umspannenden Nachrichtennetzen geführt. Dabei entstanden für die damaligen Kommunikationsarten Sprache, Text und Daten allerdings getrennte, auf ihren Zweck hin optimierte Netze. Die technologischen Fortschritte auf dem Gebiet der Mikroelektronik und der Photonik haben inzwischen den Weg zu einem neuen Innovationsschritt der Nachrichten-technik geebnet, in dem die bisher getrennten Netze vereinigt und bisher inkompatible Tele-kommunikationsdienste durch erheblich umfassendere und attraktivere Dienste ersetzt wer-den.

7.1 Digitale Netze

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Zur Digitalisierung mit anschließender Datenkompression von Sprach-, Audio- und Bildsigna-len stehen heute internationale Standards, aber auch komplexe integrierte Schaltungen zur Verfügung. Die Vernetzung von Daten- und Telekommunikationsnetzen ist bereits weitge-hend erfolgt, da es durch Bereitstellung der dazu erforderlichen Technologie gelang, in Weit-verkehrsverbindungen durch Glasfaserkabel und photonische Bauelemente sowie durch Satel-litenübertragungssysteme klassische Übertragungsmedien zu ersetzen und die erforderlichen Übertragungsraten bis in den Bereich von Gbit/s zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig gelang es aber auch, Hochgeschwindigkeitschips als Telekom-Bausteine zur Verfügung zu stellen, mit denen beispielsweise die zum Teil Jahrzehnte alten Kupfer-Teilnehmeranschlußleitungen (Telefonleitungen) der Fernsprechtechnik genutzt werden können, um über diese Schmal-bandkanäle nicht nur digitalisierte Sprache im ISDN-Format zu übertragen, sondern auch Da-ten und Bilder. Zukünftige Mobilfunknetze ergänzen diese Infrastruktur. Auch das bestehende GSM-Mobilfunknetz (in Deutschland D- und E-Netze) hat noch genügend Entwicklungspotential, verbesserte Sprachqualität, erhöhte Bitraten für Daten- und Faxübertragung sowie günstige Tarife werden dazu beitragen, die Zahl der Anwender bis etwa zum Jahr 2003 weltweit auf über 500 Millionen anwachsen zu lassen. In den nächsten Jahren wird das Wachstum im Be-reich Mobilkommunikation weiter deutlich über dem der Festnetzkommunikation liegen. Ver-einzelt treten sogar schon Substitutionseffekte auf. Zur Unterstützung einer weltweiten Er-reichbarkeit dienen Satellitenkommunikationssysteme mit bis zu mehreren hundert Satelliten, die als tieffliegende LEO-Satelliten (LEO = low earth orbit) eine direkte Kommunikation mit mobilen Teilnehmern erlauben. Die TUBSAT-Satelliten der TU Berlin gehören zu dieser Klasse, sie werden für unterschiedliche Experimente genutzt.

ISL

Systemkontrolle PSTN

Mobilstation

Gateway

Satellit

Bodenstationsterminal

Mobilstation

Mobilstation

Mobilstation

Bild 15: Unterstützung einer weltweiten Erreichbarkeit durch Satellitenkommunikationssysteme In wenigen Jahren wird es weltumspannende UMTS-Mobilfunknetze der dritten Generation geben (UMTS = universal mobile telephone systems), die es ermöglichen, Übertragungsraten bis zu 2 Mbit/s zur Verfügung zu stellen, ausreichend auch für Bewegtbildübertragungen. Neue und weiterentwickelte Funktechniken werden langfristig die Übertragungsraten noch weiter erhöhen. Forschungsaktivitäten im Feld der mobilen Breitbandkommunikationsnetze zielen auf Bitraten von etwa 155 Mbit/s. Daneben werden auch vergleichbare drahtlose lokale Netze entstehen.

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Es entsteht insgesamt ein weltweites Netz, in dem unterschiedliche Codierungsstandards, Pro-tokolle und Übertragungstechniken koordiniert werden müssen. Es wird also – schon aus Wettbewerbsgründen und infolge der ständigen technischen Evolution – kein einheitliches Netz geben. Künftige Kommunikationssysteme werden wegen der Heterogenität der Techno-logien und Funktionen Fähigkeiten zur automatischen Anpassung an die Benutzer, an die momentane Nutzungsumgebung und an das jeweilige Anwendungsszenario aufweisen müs-sen. Beispielsweise werden Übertragungsraten wählbar sein, oder beim Aufbau einer Verbin-dung wird mit dem Netzbetreiber eine bestimmte Übertragungsqualität vereinbart, für die dann der Netzbetreiber die notwendige Übertragungsrate zur Verfügung stellt. Diese Übertra-gungsraten können auch variabel gestaltet werden, um bei variablen Kanaleigenschaften je-weils ausreichenden Fehlerschutz bereitstellen zu können. Es gibt bereits erste Standards der Audio- und Bildcodierung, die solche Verfahren der Skalierbarkeit von Bitrate, Bandbreite, Codierer/Decodierer-Komplexität, Qualität oder Robustheit gegenüber Kanalfehlern erlauben. So kann der sendende Teilnehmer eine kleine Bitrate wählen, um Kosten zu sparen, ein emp-fangener Teilnehmer kann hohe Bitraten anfordern, weil er einen hochauflösenden Fernseh-empfänger nutzen will, und der Netzbetreiber kann Bitraten reduzieren, um eine momentane Überlastung in einem Vermittlungsknoten abzubauen. Entsprechende Anpassungsprozesse finden auch heute schon statt, so werden schon jetzt über das Telefonnetz nicht nur Sprach-signale, sondern auch Daten und Audiosignale übertragen, das Internet mit seinem Prinzip der paketorientierten Datenübertragung wird bereits für echtzeitnahe IP-Telefonie (IP = Internet protocol) und Bildübertragung genutzt. Die zukünftigen Satelliten sind im Kern „fliegende IP-Knoten“, die von überall aus genutzt werden können.

7.2 Dienste Heutige Kommunikationssysteme erlauben bereits eine Übertragung großer Informationsmen-gen in kurzer Zeit zwischen unterschiedlichen Partnern und Standorten. Multimediale Kom-munikation führt die "Medien" Text, Grafik, Festbild, Bewegtbild und Ton zusammen und erlaubt Zugriff zu Datenarchiven, etc. Forschungsbedarf besteht bei Fragen der Strukturierung digitaler Medien und bei der Gestaltung der Interaktion digitaler Medien. Ebenso gehören dazu technologische Fragen, wie z.B. das flexible Echtzeitmanagement von Kommunikations-leistungen. Von großer Bedeutung werden Anwendungsfelder mit kooperativen verteilten Aufgabenlösungen sein, so in den Gebieten Telemedizin, Telemanufacturing, Telearbeit, Ver-netztes Lehren und Lernen, Telepublishing und Teleshopping. Zukünftige personenbezogene Kommunikationssysteme (personal communication networks) gehen über die Möglichkeiten mobiler Systeme hinaus. Sie ermöglichen die weltweite Er-reichbarkeit von Teilnehmern unter alleiniger Nutzung der lokal vorhandenen Kommunikati-onsstrukturen und Endgeräte und schließen Verfahren der multimedialen Umsetzung von Nachrichten ein. So würde ein dem Teilnehmerrechner gesendeter email-Text automatisch als synthetisch-sprachliche Äußerung an den Teilnehmer weitergeleitet werden, wenn an dessen augenblicklichem Aufenthaltsort nur ein Telefonanschluß zur Verfügung stände. Auf gleiche Weise könnten Webseiten akustisch umgesetzt und vorgelesen werden.

Die Integration der Dienste bei der Übertragung wird sich auch auf die Endgeräte auswirken, sie werden „intelligent“, um eine einfache, anschauliche, situationsangepaßte und fehlertolerante Bedienbarkeit sicherzustellen, z. B. mittels Sprache und Gestik. Sie erlauben den Aufruf von Telefonie, Rundfunk- und Fernsehdiensten, Internet-Anwendungen wie email- und Webdiensten, sie stellen personenindividuelle „Zeitungen“ zusammen und erlauben einen Zugriff auf vernetzte Haushaltsgeräte. Multimediatechnik heißt also nicht nur, daß unterschiedliche Dienste in einem Netz transportiert werden, sondern sie bedeutet auch, daß

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Dienste in einem Netz transportiert werden, sondern sie bedeutet auch, daß Telekommunikati-on, Hör- und Fernsehfunk, Computeranwendungen und Bildverarbeitung konvergieren. Nut-zer werden nicht mehr unterschiedliche Dienste erkennen, sie können nahtlos zwischen Tele-fonfunktion, PC-Anwendung, Webseitenaufruf und Heizungsabfrage hin- und herwandern, sind mit der Nutzung nicht an die eigene Wohnung oder das Büro gebunden, ihr portables Endgerät, ein personal mobile communicator, erfüllt seine Aufgaben überall.

7.3 Informations- und Kommunikationstechnik an der TU Berlin Die technische Entwicklung hat dazu geführt, daß in der Ausbildung von Elektroingenieuren zwei neue Basistechnologien verstärkt berücksichtigt werden müssen, die Mikroelektronik und die Softwaretechnik. Die Fachbereiche Elektrotechnik und Informatik haben auf diesen Strukturwandel sehr frühzeitig reagiert, indem sie seit 1990 einen gemeinsamen Studiengang „Technische Informatik“ angeboten haben, in dem Elektrotechnik- und Informatik-Ausbildungsmodule zu etwa gleichen Teilen vertreten sind. Die 2001 vorgenommene Zu-sammenlegung der Fachbereiche Elektrotechnik und Informatik zu einer Fakultät IV war ein sehr begrüßenswerter Schritt, um die Ausbildungsprofile zusammenzuführen. Eines der sechs Institute der Fakultät ist das Institut für Telekommunikationssysteme, das sich verstärkt den Software- und Systemaspekten der Informations- und Kommunikationstechnik zuwenden wird. Es sind dies die Fachgebiete Fernmeldetechnik (Noll), Telekommunikationsnetze (Wo-lisz), Kommunikationsendsysteme (NN), Offene Kommunikationssysteme (Popescu-Zeletin), Intelligente Netze und Multimediadienste (Gheis) und Betriebs- und Kommunikationssysteme (Heiss). Das Fachgebiet Hochfrequenztechnik ist jetzt Teil des mehr technologiebezogenen Instituts für Hochfrequenztechnik und Halbleiter-Systemtechnologien. Eine weitere Konzent-ration der Aktivitäten wird als sinnvoll angesehen. Dazu könnte die Bildung eines Kompetenz-zentrums unter Einbeziehung des relevanten TU-Umfelds sinnvoll sein, möglichst unter Ein-beziehung Berliner Institutionen, zu denen bisher schon enge wissenschaftliche Kontakte be-standen.