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Narods Traum

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Nr. 596

Narods Traum von Arndt Ellmer

In den mehr als 200 Jahren ihres Fluges durch das All haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Ver-gleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt – inzwischen ist nach einem weiteren Sturz in die Zukunft das Jahr 3807 Bord-zeit angebrochen – geht es bei den Solanern um Dinge, die die weitere Existenz aller ernstlich in Frage stellen. Immer noch ist Hidden-X, das versteckte Unbekannte, aktiv, obwohl dieser Gegner der SOL durch Atlan und seine Getreuen schon mehr als eine entscheidende Schlappe erlitten hat. Gegenwärtig stellt sich für die Solaner die Lage so dar: Nach der Befreiung aus dem Zeit-tal, der Rückkehr Atlans und dem Sturz in die Zukunft überwindet man die fast 40 Millio-nen Lichtjahre von der ehemaligen Zone-X nach Pers-Mohandot, wo die Solaner auf die feindlich eingestellten Zyaner treffen. In dieser Situation macht Skrempeleck oder Narod II, ein alter, seltsamer Mann, von sich reden. Inmitten der Feinde wirkt er als Verkünder des Positiven. Seine Entwicklungsge-schichte wird aufgezeichnet in NARODS TRAUM ...

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Die Hauptpersonen des Romans: Breckcrown Hayes – Der High Sideryt beschäftigt sich mit dem Logbuch der SOL. Narod – Ein Ahlnate träumt den Traum des Positiven. Philippa van Leeuw – Narods Freundin, eine Magnidin. Bellog – Ein High Sideryt, der seinen Amtsvorgänger umbringt.

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Das Logbuch

Ein paar Stunden Ruhe nur waren es, die

ihm blieben. Sie mußten genügen. Was da-nach kam, lag jenseits des Erfassungsvermö-gens eines Menschen, und niemand wagte eine Prognose.

Solaner pendelten zwischen der SOL und der Dimensionsspindel hin und her. Es gab keinen Zweifel mehr, daß sie der einzige Weg in das Sternenuniversum war, zum Flekto-Yn. Zurück in das Sternenuniversum, in dem sie sich bereits einmal aufgehalten hatten.

Breckcrown Hayes griff nach dem Logbuch und legte es auf den Tisch. Ein Signal am Interkom zeigte ihm, daß die Zentrale ihn zu erreichen suchte. Er schaltete ein, und Galla-tan Herts informierte ihn über den Fortgang der Arbeiten. Die Techniker hatten die Di-mensionsspindel bereits untersucht und ohne größere Probleme übernommen. Der erste Probebetrieb ohne Menschen und Schiffe war erfolgreich verlaufen. In wenigen Tagen woll-te Atlan den Vorstoß in das Sternenuniversum wagen.

Der High Sideryt unterbrach die Verbin-dung, setzte sich an den Tisch und begann gedankenverloren im Logbuch zu blättern. Er hatte nicht oft Zeit, dies zu tun und wichtige Ereignisse der Vergangenheit nachzulesen. Auch jetzt tat er es in dem Gedanken, daß er jeden Augenblick gestört werden konnte, wenn es etwas Neues gab.

Alle waren zuversichtlich, daß sie vor der endgültigen Lösung des Problems standen, das den Namen Hidden-X trug.

Die Gewißheit, woher nehmen wir sie ei-gentlich? fragte Breckcrown sich. Er wußte die Antwort, sie hatte sich, verbunden mit einem Namen, seinem Gedächtnis eingeprägt.

Skrempeleck. Der geheimnisvolle Mann. Der Prophet, der

Atlan das Leben gerettet hatte und mit einem Lächeln im Gesicht gestorben war. Immer wieder hatte er den Untergang des Gegners vorausgesagt.

Breck war geneigt, ihm zu glauben. Hatten nicht alle seine Voraussagen ihre Bestätigung gefunden?

Irgendwie hatte der Solaner dazu beigetra-gen, daß alle im Schiff in kürzester Zeit die

gefährlichen und heimtückischen Ereignisse um das Zeittal verdaut hatten. Skrempeleck hatte mit seinen Fähigkeiten etwas bewirkt, was Atlan und die Solaner wohl nie geschafft hätten. Er hatte die Zyaner vom verhängnis-vollen Einfluß durch Hidden-X befreit.

Noch immer war es ein Rätsel, woher Skrempeleck die Kraft dazu genommen hatte. Niemand konnte die Frage beantworten, selbst Sternfeuer mit ihren telepathischen Ga-ben nicht.

Narod II, wie Skrempeleck sich auch ge-nannt hatte, war tot. Sein Geheimnis hatte er mit in das Grab genommen. Sein Leichnam war auf Stützpunkt I geblieben und von den Solanern und Klippern gemeinsam in der Er-de bestattet worden.

Die Zyaner hatten sich danach restlos zu-rückgezogen.

Breck Hayes versuchte, seine Gedanken abzuschalten, nicht mehr an all das zu denken, denn es führte ihm in jeder Sekunde vor Au-gen, welche Verantwortung er besaß.

Die Augen des High Sideryt hefteten sich auf die Blätter und Folien, die er umschlug, eine nach der anderen. Er suchte nichts Be-stimmtes, wollte irgendwo einfach innehalten und lesen, einen weiteren Teil der wenig rühmlichen Vergangenheit in sich aufnehmen.

Ein exotischer Name tauchte auf, Philippa van Leeuw, ein weiterer Name, dann auf der nächsten Seite ein ...

Breckcrown Hayes versteifte sich plötzlich. Heiß stieg das Blut seinen Kopf empor, und er nahm die Seite des Buches rasch zurück, glät-tete sie und starrte auf die beiden Namen.

Philippa van Leeuw. Narod. NAROD! Der High Sideryt sprang auf, packte das

Logbuch und hielt es der Beleuchtungseinheit an der Kabinenwand entgegen.

»Narod!« flüsterte er und suchte nach ei-nem Datum, einer Zeitangabe. Erfuhr er durch Zufall mehr über den alten Solaner, über sein Geheimnis? Oder war es nur eine zufällige Namensgleichheit?

Skrempeleck hatte sich immer wieder Na-rod II genannt. Die Vermutung lag nahe, daß er von Narod gewußt hatte.

Hayes überflog die ersten Zeilen, die von Philippa van Leeuw geschrieben worden wa-

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

ren. Deutlich war sie als Autorin des Berichts gekennzeichnet.

»Mein Amt als Magnidin gebietet es mir, die Vorgänge detailliert festzuhalten«, las er die Einleitung. »Narod ist ein Teil einer Ge-schichte, die so unwahrscheinlich ist, daß sie beinahe wieder real wirkt. Ich schreibe sie auf, laufe Gefahr, mein Amt zu verlieren und weiß nicht, wann ich von der reinen Bericht-erstattung des Beobachters abweiche und nur noch Teilnehmer bin, Teil eines andauernden Erlebnisses, das mich in seinen Bann gezogen hatte. Narod war Wirklichkeit, aber ich glau-be, er wird nie mehr zurückkehren.«

Breckcrown fuhr herum und preßte eine Handfläche auf die Kontaktstelle am Inter-kom. Sofort erhellte sich der Bildschirm, und das Gesicht von Uster Brick erschien. Er lä-chelte ihm schelmisch entgegen, wurde dann übergangslos ernst, als er den Ausdruck im Gesicht des High Sideryt entdeckte.

»Ich möchte nicht gestört werden«, sagte Hayes schnell. »Bis zum frühen Morgen nicht. Ich bin einer wichtigen Sache auf der Spur!«

Ehe Uster antworten konnte, wurde der Bildschirm dunkel, und Breck setzte sich wieder an seinen Tisch.

»Narod ist sehr alt«, las er. »Keiner kann sein Alter richtig schätzen, er nennt es nie. Aber in seinem Innern, da ist er jung geblie-ben, fast kindhaft jung. Laßt mich über Narod berichten, über ihn und seine Träume.«

1.

Die riesigen Stahlsegmente der Wand ver-

schwanden nach unten und oben, wurden von der Decke und dem Boden verschluckt. Un-sichtbare Maschinen bewegten sie ebenso geräuschlos, wie sie selbst arbeiteten. In der von Ausfällen heimgesuchten SOL nahm es sich wie ein Wunder aus. Innerhalb von drei Minuten hatten sich die beiden Hallen zu ei-ner einzigen großen vereinigt, und die etwa achthundert Solaner im einen Teil erblickten die in Quadraten angeordneten Gruppen der SOLAG, die steif und reglos verharrten und auf keinen einzigen Zuruf reagierten.

Flüsternd beobachteten die Solaner das Ge-schehen. Ihre hellgrünen Bordkombinationen

waren meist schmutzig oder abgerissen. Im Gegensatz dazu leuchteten die Uniformen der SOLAG mit all ihrem Glitzer und Flitter ver-führerisch zu ihnen herüber.

»Kommt zur SOLAG!« lautete ein überall verbreiteter Spruch. »Dann stehen euch alle Wege offen!«

Die einfachen Solaner wußten, daß es leere Worte waren, denn die SOLAG bildete eine in sich geschlossene Elite, zu der höchst sel-ten Bewerber Zutritt fanden.

Die SOLAG, das war eine unnahbare Gruppierung, die geringste aller Minderheiten in dem großen Schiff. Sie übte die absolute Macht aus.

»Hört sofort auf zu flüstern!« dröhnte eine harte Stimme über den Solanern auf. Sie ver-nahmen das Stampfen von Robotern, die draußen aufmarschierten, und senkten die Köpfe. Doch auch dies war ihnen untersagt, denn sie mußten ihre Augen auf die Halle richten, das Ritual mitverfolgen. Die wahllos zusammengetriebenen Solaner beobachteten, wie die Gruppen der SOLAG für ihre Aufga-be vorbereitet wurden. Vystiden eilten hin und her, zischten Kommandos.

Die Uniformen und die heruntergekomme-nen Kombinationen standen sich gegenüber, als drohe eine Massenschlägerei. Aber nichts ereignete sich, was den zündenden Funken gebracht hätte. Eiseskälte lag über den verein-ten Hallen, und die Ferraten in ihren dunkel-blauen Uniformen präsentierten auf ein lautes Kommando hin die Waffen.

Durch den gegenüberliegenden Eingang rollte ein Fahrzeug mit einem Aufbau herein. Es näherte sich den Solanern bis auf wenige Meter, hielt dann an, während die Ferraten mit angeschlagenen Strahlern vorrückten und es säumten. Ihnen folgten Pyrriden, Haematen und Vystiden. Auch sie waren bis an die Zäh-ne bewaffnet.

Jetzt betrat eine lange Schlange von Ahlna-ten die Halle, angetan mit den weiten, hell-blauen Gewändern ihrer Kaste. Es hieß, daß sie dieselbe Farbe besaßen wie das Gewand des legendären Mannes, der einst die SOLAG gegründet hatte. Sein Name war verlorenge-gangen oder nur der Schiffsführung bekannt.

Der vorderste der Ahlnaten trug einen Stab vor sich her, auf dessen Spitze die ho-

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lographische Projektion der SOL hing. Sie zeigte das Schiff, wie es nur von außen zu sehen war.

Dicht an dem Fahrzeug schwenkte der Ho-loträger zur Seite und ließ die Schlange vor-bei, beobachtete sie aus aufmerksamen Au-gen, wie sie die fünf Stufen des Aufbaus em-porklomm zu dem altarähnlichen Tisch und sich um ihn herum ausbreitete.

»Waffen!« eilte ein geflüsterter Ruf durch die Reihen der Solaner. »Golden leuchtende Waffen!«

Die Ahlnaten um den Tisch hoben die Ar-me, breiteten sie zur Seite aus. Die langen Ärmel der Gewänder hingen nach unten, ver-deckten gegenseitig die Körper und ließen die einzelnen Brüder und Schwestern der dritten Wertigkeit zu einem einzigen Block ver-schmelzen, der den Tisch schützend umgab.

»Verneigt euch!« kommandierte die harte Stimme aus den Lautsprechern in der Decke. Die Solaner folgten eilig dieser Aufforderung.

Sechzehn weiße Gewänder huschten herein, trieben auf das Fahrzeug zu, nahmen ein am Boden markiertes Viereck ein. In ihrer Mitte leuchtete eine Gestalt, angetan mit blauen Metallschuppen, den Kopf steil nach oben gerichtet. Der High Sideryt!

Jetzt erst wurde den Solanern die Bedeu-tung des Bevorstehenden richtig bewußt. Nach einer halben Minute richteten sie ihre Oberkörper wieder auf, aber da hatte sich das Viereck vom Boden gelöst und schwebte un-erreichbar in die Höhe. Eine dicke Säule trug die Plattform empor.

»High Sideryt, wir grüßen dich!« hallten die Stimmen der Magniden durch die Halle, wurden von den Mikrofonen aufgenommen und verstärkt abgestrahlt.

»High Sideryt, wir verehren dich!« antwor-teten die Ahlnaten, und die Pyrriden und Fer-raten fügten hinzu: »Wir dienen dir!«

Die einfachen Solaner schwiegen verwirrt. Die Reihenfolge war ihnen genau eingeschärft worden. Jetzt mußten sie feststellen, daß die Vystiden und Haematen noch nicht gespro-chen hatten. Sie warteten darauf, und ihr Gruß an den High Sideryt kam nie zustande.

»Wir sterben für dich!« riefen die Haema-ten und ihre Offiziere jetzt laut, doch eine bellende Stimme von oben unterbrach sie.

»Wer ist dafür verantwortlich?« schnaubte der High Sideryt. Ein Vystide trat aus seiner Reihe und salutierte.

»Bellog!« Die Aufforderung des Bruders ohne Wertigkeit traf den Magniden unerwar-tet, aber er verstand und reagierte. Ein Blitz aus der Höhe warf den Vystiden zu Boden. Ferraten rannten herbei und zerrten ihn an Händen und Füßen hinaus.

»Beginnt!« forderte der High Sideryt die Ahlnaten auf und beobachtete aufmerksam, wie sie Metallstaub in ihre Hände träufelten, ihn an der Flamme in der Mitte entzündeten und dann über die dreihundert Handwaffen verstreuten. Augenblicklich loderte der ge-samte Tisch auf und strahlte verzehrendes, rotes Licht hinab über die Menge der Solaner.

Die Waffen waren ein Glücksfall. Eine der seit langem defekten Robotfabriken hatte auf einen Aktivierungsimpuls reagiert und die Waffen ausgespuckt. Danach war sie in ihrem eigenen Rost erstickt. Die hochmodernen Strahler waren ein Geschenk des High Sideryt an alle, die ihm nahestanden, an die Magni-den, die vierzig Vystiden und verdiente Hae-maten und Ahlnaten.

Ein Schuß peitschte durch die Halle und schlug irgendwo in der Wand ein. Einer der Ahlnaten hatte dem High Sideryt die erste Waffe auf die Plattform hinübergereicht, und der Bruder ohne Wertigkeit probierte sie so-fort aus.

Mit ungläubig geweiteten Augen verfolgten die Solaner, was geschah. Jeder, der eine Waffe erhielt, feuerte sie mit leuchtenden Augen ab, ohne auf das Ziel zu achten. Es war ein Wunder, daß niemand getroffen wurde.

Einer der Magniden in seinem weißen Ge-wand trat an den Rand der Plattform. An sei-nem Hals hing ein goldener Mikrofonknopf.

»High Sideryt, wir danken dir!« brüllte er begeistert. »Wir werden uns dieses Geschenks würdig erweisen.«

Ohrenbetäubender Beifall klang auf, und die Stimme des High Sideryt war kaum zu vernehmen, der die Zeremonie für beendet erklärte.

Die Solaner erhielten einen Wink. Sie be-eilten sich, ihm nachzukommen. Mit eingezo-genen Köpfen wandten sie sich um und drängten dem Ausgang entgegen. Die Worte

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des High Sideryt hörten sie nicht mehr.

»Alle, die nicht normal sind, sind Mons-ter!« verkündete der Bruder ohne Wertigkeit, und seine Worte waren ein Signal.

*

Philippa erhob sich von ihrem gemeinsa-

men Lager und warf einen Blick auf die Digi-talanzeige ihres Armbands. Ihre hohe Gestalt mit dem bronzenen Ton ihrer Haut und den goldblonden Haaren bildete einen herrlichen Gegensatz zu der mageren Einrichtung der Kabine. Ihr Gesicht zeigte im Gegenschein der Beleuchtung ein klassisches Profil mit einer geraden Stirn, einer leicht gebogenen Nase und einem kleinen Mund mit vollen, rot leuchtenden Lippen. Langsam griff sie nach ihrer Kombination und begann sie sich anzu-ziehen. Zuletzt griff sie nach dem weißen Gewand, streifte es sich über und stieg in die Stiefel. Nachdenklich sah sie auf den ruhen-den Mann hinab, der mit untergeschlagenen Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Armen an der Bettwand lehnte und sie lä-chelnd beobachtete.

»Manchmal bist du ein kleiner Narr«, sagte Philippa. »Ich verstehe dich nicht. Du willst mir begreiflich machen, was du denkst, aber du kannst es nicht!«

»Versuche wenigstens, mich zu verstehen!« antwortete Narod und stand ebenfalls auf. Sein hagerer, ausgemergelter Körper bildete einen krassen Gegensatz zu den vollen, üppi-gen Formen der achtzigjährigen Magnidin. »Es ist doch nicht schwer! Alles läßt sich auf einen Grundgedanken zurückführen. Wenn wir nichts tun, wer dann? Nur das Ganze ist wichtig! Der Einsatz des einzelnen für das Ganze, das ist die Voraussetzung!«

Manchmal schien er nicht zu begreifen, wie die Wirklichkeit aussah.

»Bruce Wilfern ist tot!« sagte Philippa ein-dringlich. »Bellog hat ihn erschossen! Auf Befehl des High Sideryt!«

»Er hat gefehlt«, versuchte Narod seine Meinung zu verteidigen. »Er hat sich schuldig gemacht.«

»Wessen schuldig?« Die Magnidin hatte ih-re Stimme erhoben.

Narod stand dicht vor ihr, spürte ihren hei-

ßen Atem. Er nahm sie in seine Arme, küßte sie leidenschaftlich und in dem Bewußtsein, daß er sie für immer besitzen würde. Sie tauschten Gedanken aus, wie sie sie mit kei-nem anderen in dem großen Schiff hätten tei-len können.

»Es war ein Mißverständnis oder ein Un-fall«, flüsterte er neben ihrem Ohr, und sie entzog sich ihm.

»Du hast den Körper eines Greises, aber du sprichst wie ein junger, unerfahrener Sola-ner!« rief Philippa. »Wer bist du wirklich? Das Gewissen des High Sideryt? Oder das der SOL? Von welcher Seite aus betrachtest du die Gegebenheiten?«

Plötzlich wurde Narod nachdenklich. Er schien nach innen zu lauschen, doch ein Zir-pen riß ihn aus seinen Gedanken.

»Ich muß gehen«, stellte er fest. »Du weißt, ich bin zur Jagd eingeteilt. Die erste Monster-jagd im Schiff! Wo mögen sie nur herkom-men, diese Monster?«

Philippa öffnete mit einem Ruck die Tür. War er denn so ahnungslos, daß er die Hand-lungen des High Sideryt verteidigte? Oder war er borniert? In der Magnidin stritten sich die Empfindungen. Sie wollte zurück in seine Kabine, ihm Dinge sagen, die er als Ahlnate doch auch wissen mußte, aber offenbar nicht zu wissen schien. Dann aber unterließ sie es doch, weil sie keinen Sinn darin sah.

»Bis morgen«, rief Narod ihr fröhlich nach, und sie dachte mit einem Stirnrunzeln daran, was morgen wohl sein würde.

Narod aber machte sich auf den Weg. Er suchte die kleine Zentrale der Ahlnaten auf, die in der Nähe des Zentralantigravs vier Eta-gen unter der Hauptebene lag, und meldete sich. Gemeinsam mit dreißig Kastenbrüdern wartete er darauf, daß ein paar Vystiden er-schienen und ihnen ihre Aufgaben zuwiesen.

»Wer hat sie nur an Bord gebracht, diese Monster?« fragte er, aber keiner konnte ihm Auskunft geben. Sie alle hatten nicht zu den Privilegierten gehört, die an der Weihe der neuen Waffen teilgenommen hatten.

»Draußen sind Solaner und wollen ihre verhungerten Nachbarn abliefern«, meldete ein Pyrride mit grobschlächtigem Gesicht. »Es sind zwölf Todesfälle!«

»In den Konverter«, entschied einer der

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Brüder der dritten Wertigkeit.

»Verhungert?« echote Narod. »Woran ver-hungert?« Ungläubiges Erstaunen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Werden sie nicht versorgt?«

Einer der Ahlnaten kam heran und blieb dicht vor ihm stehen, maß ihn abschätzend von oben bis unten.

»Wo kommst du eigentlich her, Großva-ter?« fragte er. »Seit wann bist du in unserer Kaste?«

»Schon lange«, sagte Narod zerstreut. »Ich meine nur, es muß doch eine Möglichkeit geben, so etwas auszuschalten. Es hängt an der gerechten Verteilung der Nahrungsmittel. Daß manches im argen liegt, wissen wir schließlich alle.«

Der andere lachte und würdigte ihn keines Blickes mehr. Narod aber schloß die Augen. Er dachte nach und fuhr sich mehrmals über den kahlen Kopf.

Hatte er etwas verpaßt in all den Jahren? War eine Entwicklung an ihm vorbeigegan-gen, sah er die Dinge aus dem falschen Blickwinkel?

Für das Gute einzutreten, das war sein Ziel. Deshalb war er in der SOLAG, deshalb setzte er seine ganze Kraft ein. Er wollte die Zu-stände bessern und andere von der Notwen-digkeit seines Tuns überzeugen. In der Ver-gangenheit war seiner Ansicht nach vieles schlimmer gewesen, aber die Erinnerung dar-an war nur verschwommen. Es fielen ihm keine konkreten Erlebnisse ein, und hätte ihn jemand in diesem Augenblick nach seinem Alter gefragt, er hätte es nicht einmal gewußt.

Narod erkannte, daß ihm das Wichtigste überhaupt fehlte, nämlich die Fähigkeit, über-zeugend zu wirken.

*

Ihr Auftrag lautete, die zwölfte Etage im

Bereich zwischen den drei Antigravs abzurie-geln und die Wohnbereiche undurchdringbar zu machen. Innerhalb einer Viertelstunde hat-ten sie Stellung bezogen und meldeten es. Der Vystide in der Koordination bestätigte es.

»Wieso nennt ihr es eigentlich eine Jagd?« erkundigte Narod sich, der das Funkgerät trug. »Es geht doch wohl darum, ausgerissene

Monster wieder einzufangen und zurückzu-bringen.«

»Es geht darum, sie zu eliminieren«, lachte der Bruder der zweiten Wertigkeit.

Narod ließ vor Schreck fast das Funkgerät fallen. Dann aber riß er sich zusammen, denn er bemerkte die unruhigen Blicke, die seine Kastenbrüder ihm zuwarfen. Irgendeiner brummte etwas, das wie »senil« klang.

Nein, es mußte sich um gefährliche Bestien handeln, redete er sich ein. Es gab keine ande-re Möglichkeit, ein Vorgehen zu rechtferti-gen, wie sie es an den Tag legten.

»Auf!« Narod fühlte sich am Ärmel gezo-gen und folgte den anderen, zog wie sie den Strahler aus seinem Halfter unter dem Ge-wand.

An der nächsten Abzweigung stieß eine Gruppe Haematen zu ihnen. Sie hielten die neuen Waffen eng an die Hüften gepreßt und blickten sich aufmerksam um. Mit abschät-zenden Blicken maßen sie die Lehrer des Kas-tensystems, die die Ahlnaten schließlich wa-ren. Was hatten Lehrer und Zelebranten auf einer solchen Jagd zu suchen?

Narod sah ihre Augen, und ihm wurde un-gemütlich unter den funkelnden Blicken.

Die ersten Gruppen drangen jetzt in den Wohnbereich ein, sie meldeten ständig ihre Standorte. Sie durchsuchten jeden Winkel, und Narod hoffte, daß sie endlich etwas fin-den würden. Je schneller die Angelegenheit vorbei war, desto besser.

Weitere Meldungen gingen ein, ihre Grup-pe erhielt den Einsatzbefehl. Sie trennten sich, die Hälfte ging mit einem Teil der Haematen vor. Sie bogen in einen Korridor ein, verteil-ten sich an den Türen zu den einzelnen Woh-nungen.

Narod klopfte, während in seiner Nähe die Haematen mit den Kolben ihrer Strahler ge-gen die Türfüllungen hämmerten.

»Aufmachen! Im Namen der SOLAG!« rief er und trat in die Wohnung, deren Tür sich zögernd vor ihm auftat. Fünf Gesichter er-wachsener Solaner sahen ihm entgegen, nichtssagend und verkrampft. Eine der Frauen trug die Uniform der Ferraten.

»Was ist?« fragte Narod freundlich. »Ihr seht aus, als wärt ihr einem Monster begegnet. Wo ist es?«

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Hinter Narod kamen zwei Haematen und

musterten die Wohnung flüchtig. Sie gingen weiter, ließen den Ahlnaten allein, der mit vorgehaltener Waffe alle Kabinen durchsuch-te. Er öffnete die Schränke, prüfte ihren In-halt. Seine Bewegungen waren umständlich, er hatte keinen Anhaltspunkt, wonach er ei-gentlich suchen sollte.

»He, Alter!« sagte die Ferratin, als er am großen Wandschrank des Wohnraums stand. »Warum haben sie dich mitgeschickt?«

»Ich bin nicht alt!« erwiderte Narod un-wirsch und öffnete den Schrank.

Zwischen Kleidern und ein paar Geschirr-teilen kauerte zitternd ein kleines Mädchen, und der Ahlnate zog es zu sich heraus. Er be-trachtete das verweinte Gesicht und wischte mit einem Zipfel seines Gewands die Tränen ab. Hinter ihm begann die Ferratin in lautes Jammern auszubrechen. Er fuhr herum.

»Was ist los?« fragte er mitleidig. »Wie kann ich euch helfen?«

Er faßte das Mädchen an den Schultern, die ihm merkwürdig weich und kalt vorkamen. Er zog das Kleidchen glatt, das aus einer ehema-ligen Bordkombi notdürftig zusammenge-schneidert war, gab der Kleinen einen Klaps auf den Hintern und sagte:

»Warum verheimlicht ihr mir, daß sich ein Monster hier aufgehalten hat? Wißt ihr, wohin es sich entfernt hat?«

Sprachlos starrten sie ihn an, und die Ferra-tin würgte hervor: »Nein!«

Narod verließ die Wohnung und schloß die Tür hinter sich. Die übrigen Mitglieder der Gruppe hatten sich inzwischen weiterbewegt, und er beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen. Er wollte fragen, wie die Monster eigentlich aussahen.

Von irgendwoher gellte ein fürchterlicher Schrei. An der Krümmung des Korridors sah er zwei Haematen, die mit einer Gestalt ran-gen. Sie waren in Bedrängnis, und er eilte ihnen zu Hilfe.

Schüsse peitschten, brachten einen Teil der Wand zum Dampfen. Wieder gellten mehrere Schreie auf.

Eine graue, pelzige Gestalt taumelte Narod entgegen. Aus aufgerissenen Augen starrte sie ihn an, hielt inne, als sie den vorgestreckten Lauf seiner Waffe sah.

»Nein«, ächzte sie. »Bitte nicht!« Narod ließ den Strahler sinken. Er winkte

den Haematen, nicht zu schießen. Es war ein Irrtum, ein gräßlicher Irrtum. Das Wesen, das da vor ihm flehend in die Knie brach, von einem weiteren Schuß nach vorn auf das Ge-sicht geworfen wurde und sich nicht mehr regte, war ein Solaner, ein Mensch. Er war nackt, und sein Körper war fast vollständig von einem grauen Pelz bedeckt.

»Ihr Idioten!« schrie Narod auf. »Könnt ihr nicht aufpassen, was ihr tut? Der Solaner ist tot!«

Grimm erfaßte ihn, er wollte auf dem Ab-satz umkehren und die Magniden von dem Vorfall unterrichten.

»Was willst du?« knurrte einer der Männer in ihren blauschwarzen Kombinationen. »Ein Monster, mehr nicht! Es gibt Hunderte davon! Es sieht aus, als seien sie gewarnt. Ein Teil hat sich schon verkrochen!«

Narods Kombilader polterte zu Boden. Der Ahlnate wankte und suchte krampfhaft nach einem Halt. Um ihn begann sich alles zu dre-hen.

Monster! Monster! dröhnten die Worte in seinem Kopf. Zur Säule erstarrt blieb er neben der Leiche stehen, und die Haematen wandten sich kopfschüttelnd ab.

»Das ist ein Monster, falls du noch nie ei-nes gesehen hast!« riefen sie ihm lachend zu.

Narod taumelte. Langsam sank er neben dem toten Monster nieder, die Augen blind in den Korridor gerichtet. Er sah nichts mehr, hörte nichts mehr. Er fühlte nur seinen eige-nen Körper, und dieser versagte bei jeder Be-wegung, die er machen wollte.

Es sind Solaner, redete er sich ein. Wie wir. Warum werden sie wie Monster behandelt?

In der nächsten Sekunde traf ihn die Er-kenntnis, und seine Herzmuskulatur ver-krampfte sich. Er drohte das Bewußtsein zu verlieren und schnappte wild nach Luft.

»Philippa!« schrien seine Gedanken. »Phi-lippa, ich verstehe jetzt alles! Was war ich für ein Narr!«

Er sprang auf, hetzte den Korridor entlang, ohne es zu realisieren. Er rief nach der Magnidin, doch niemand hörte ihn. An einer Gangkreuzung lief er zwischen sich über-schneidenden Energiebahnen hindurch, rollte

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sich instinktiv ab. Er sprang rückwärts, han-delte völlig unter Ausschaltung seines Be-wußtseins. Gebückt raste er in den Korridor zurück.

»Philippa!« rief er immer wieder. Niemand gab ihm Antwort.

»Wo bin ich?« fragte er die Wand, und die Wand verbog sich unter seinen flackernden Augen. Seine Sehfähigkeit kehrte langsam zurück. Seine Ohren entdeckten ein dumpfes Brausen, dann hörte er Schüsse.

Narod taumelte auf ein Schott zu, es gehör-te zu einer Reparaturkammer. Er stützte sich gegen den Öffnungskontakt, wankte hinein. In der Dunkelheit blieb er stehen und beobachte-te, wie die sich schließende Tür ihm den letz-ten Rest Helligkeit entzog.

Was warst du für ein Narr! Du hast die Re-alitäten nicht gesehen, denn du hast dich hin-ter deinem Wahn versteckt, in allem nur das Gute zu sehen. Du hast bewußt vor der Welt die Augen verschlossen, bist allen Wahrheiten aus dem Weg gegangen! Du hast einen In-stinkt dafür entwickelt, Probleme von vorn-herein zu umgehen!

Deine Gedanken und du! Zwei schöne Partner!

»Nein!« schrie er, es hallte dumpf in dem kleinen Raum. »Ich bin kein Feigling. Ich entziehe mich nicht der Verantwortung!« Er sank in sich zusammen. »Bei der SOL, beim High Sideryt! Was soll ich tun? Bruder ohne Wertigkeit, weißt du davon?«

Die sich öffnende Tür enthob ihn einer Antwort. Das Licht ging an, ein kleines Bün-del stürzte herein, klammerte sich an die Türkante, kippte dann vornüber.

Narod fing es auf. Undeutlich erkannte er das Mädchen, das er in dem Schrank gefun-den hatte. Sein Kleid war zerrissen, er sah die Schultern, die dunkel schillerten und ein Schuppengeflecht zeigten. Und hinten am Hals, unter den ausgerissenen Nackenhaaren, zogen sich lange, rote Striemen entlang, die heftig pulsierten.

Der Ahlnate fühlte das rote Blut durch sei-ne Finger drängen und bettete das Mädchen eilig zu Boden. Aus weit aufgerissenen Augen sah es ihn an. Das Gesicht war verzerrt und doch halb verklärt. Keine einzige Träne lief aus den Augen, und ein wenig Dankbarkeit

schimmerte dem Bruder der dritten Wertigkeit entgegen.

»Skr... skremp...«, hauchte es mit erster-bender Stimme. »Skrempel... skrem... eck.«

Narod schnürte es die Kehle zu. Er nahm noch das letzte Zucken des kleinen Körpers wahr, dann stürzte er bewußtlos neben dem Mädchen zu Boden.

2.

Die Kälte war furchtbar, und sie veranlaßte

sein Bewußtsein, sich nicht mehr zurückzu-ziehen. Wie aus einem eisigen Flüssiggastank tauchte es empor, vermittelte ihm den Ner-venimpuls des Luftholens. Dann aber war es wieder glühende Hitze, das Innere eines Kon-verters, das es umgab und schließlich dazu führte, daß das Bewußtsein mit Gewalt dräng-te und Narod die Augen aufschlug.

Hastig wälzte er sich herum. Sofort wurde ihm schwarz vor den Augen. Vergeblich ver-suchte er, seine Umwelt zu erfassen, es gelang ihm nicht. Weder Hitze noch Kälte umgaben ihn, es war einfach nichts, bis auf eine winzi-ge Berührung an seiner linken Körperseite. Er dachte an einen harten Gegenstand, die Waffe oder das Funkgerät.

Vorsichtig blinzelte der Ahlnate. Licht brannte, er erkannte die Umrisse der

Kammer, und seine Erinnerung kehrte zurück. Er senkte den Kopf, blickte auf den kleinen Körper, neben dem er lag. Seine Hände taste-ten an ihm entlang, er war steif und kalt.

Du warst ohnmächtig, erkannte er. Er hatte keine Ahnung, wie lange er so gelegen hatte. Es mußten Stunden gewesen sein.

Mit unglaublicher Wucht stürmten die Ge-danken auf ihn ein. Unter Aufbietung all sei-ner Kräfte gelang es ihm, sie im Zaum zu hal-ten. Das Geschehen, es hatte sich tatsächlich so abgespielt, und er besaß keine einzige Ge-dächtnislücke. Das Mädchen, es war ein letz-ter, überzeugender Beweis.

Narod bewegte lautlos die Lippen. Er war sich in diesen Sekunden nicht sicher, ob er etwas sagte oder nur dachte. Einen Augen-blick wähnte er sich unter der Tür stehend, sich und den kleinen Körper am Boden beo-bachtend. Dann verwischte sich dieser Ein-druck wieder, machte dem klaren Blick des

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geschulten Solaners Platz, der Erschütterung und Elend beinhaltete. Schwankend erhob er sich, stand hilflos da. Die Welt, die er erlebt hatte, war nicht mehr seine Welt.

Ein gräßlicher Alptraum? Narod zitterte, und er getraute sich kaum, in

diesem Zustand hinauszugehen. Sein hell-blaues Gewand war zerknittert und machte ihm wenig Ehre. Der Ahlnate schüttelte den Kopf. Bei allem, was ihm heilig war, darauf kam es jetzt wirklich nicht an. Sein Status als Bruder der dritten Wertigkeit, er bedeutete ihm nichts mehr, die Möglichkeit des Auf-stiegs innerhalb der Hierarchie, das Bewußt-sein, eines Tages an höherer Position mehr zu erreichen für die Schiffsgemeinschaft, sie ließen ihn kalt, wo er sich früher glühende Gedanken gemacht hatte.

Automatisch betätigte er den Türöffner, spähte hinaus. Der Korridor lag verlassen da, in Sichtweite lag das Funkgerät, das er bei sich getragen hatte.

Der Ahlnate warf einen letzten, traurigen Blick in die Kammer, dann hatte die Automa-tik die Tür geschlossen und ihn dem Bild des Grauens entzogen. Er richtete seinen zwei Meter großen, schlanken Körper auf, versuch-te, den Eindruck eines Mannes zu erwecken, der die Situation völlig überblickte. Und dabei war er in diesen Minuten so hilflos wie noch nie. Aus seiner von Natur aus kreideweißen Haut war auch das letzte Blut gewichen, und wer ihn so gesehen hätte, hätte ihn für eine wandelnde Leiche gehalten.

Die Lebensfreude und Zuversicht, die er immer ausgestrahlt hatte, sie waren mit ei-nemmal dahin, in unergründlichen Tiefen seines Unterbewußtseins versiegt. Er begann zu reifen.

Narod ging hin, hob das Funkgerät auf und schaltete es ein. Er vernahm Stimmen, teils undeutlich, teils schrill. Er begriff, daß die Jagd noch im Gang war, daß Solaner gejagt wurden, die anders waren als die meisten. Sie unterschieden sich nur durch ihr Äußeres und waren geistig doch vollwertig.

Zum erstenmal hörte er jetzt, was der High Sideryt bei der Waffenweihe verkündet hatte, und ein Schauer rann seinen Rücken hinab, ließ ihn frösteln.

Jagd auf Monster! Allein der Begriff mach-

te ihm Angst. Gut zwanzig Jahre war es her, daß die ersten Solaner mit körperlichen Be-sonderheiten geboren worden waren. Sie hat-ten von Anfang an eine eigene Gruppe gebil-det, knüpften Bindungen, und in manchen ihrer Verhaltensweisen erinnerten sie an die Buhrlos, die in den Außenbezirken des Schif-fes hausten und tief im Innern selten gesehen wurden. Narod hatte die Solaner mit körperli-chen Unterschieden immer als vollwertige Menschen betrachtet, alle Solaner taten das.

Jede Entwicklung in diesem Schiff ist posi-tiv! besagte eine alte Regel.

Solaner nannten sie die Menschen mit die-sen äußerlichen Unterscheidungsmerkmalen.

»Monster!« ächzte Narod. »Jetzt sind es plötzlich Monster, die man wie Tiere jagt!«

Philippa fiel ihm ein, und er steuerte den nächsten Interkom an. Als Ahlnate durfte er die Zentrale des Mittelteils anrufen und nach der Magnidin verlangen. Egal, was geschehen würde, er mußte sie sprechen, sofort. Sie mußte ihm helfen.

So schnell es ging, bewegte er sich fort. Seine Waffe fand er nirgends, es war ihm egal. Mochte sie an sich nehmen, wer sie ge-rade fand. Vielleicht konnte ein Solaner damit sein Leben retten.

Laute Rufe näherten sich. Um die Krüm-mung des Ganges kam eine Gruppe Pyrriden in ihren hellroten Uniformen. Die meisten waren nur mit Neuropeitschen bewaffnet. Ein paar aber trugen Schußwaffen, und ihrem Verhalten nach kannten sie ihr Ziel.

»Halt!« Narod hob die Hand und befahl ih-nen, sich seiner Anweisung zu fügen. »Wohin wollt ihr?«

»Ein Monster wartet auf uns, Ahlnate!« grölten mehrere auf einmal. In ihren Augen glitzerte die Lust zu töten und erschreckte Narod zutiefst. Er blinzelte, eine kurze Schwäche in seinen Knien schwand, und er musterte die freundlichen Gesichter des Hau-fens. Viele der Pyrriden hielten plötzlich Werkzeuge in den Händen.

»Wir sind auf dem Weg zu den Solanern«, verkündete der Anführer der Gruppe. »Du erinnerst dich an das Versprechen, das Meny-nes ihnen gegeben hat? Wir wollen mit dem Bau ihres Partnerschaftskabinetts beginnen. Bisher waren keine Materialien dafür vorhan-

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

den. Jetzt soll es endlich gebaut werden!«

»Kommt, ich begleite euch«, erwiderte der Ahlnate. »Ich interessiere mich dafür. Wenn es irgendwie geht, will ich meinen Beitrag leisten, daß es schnell fertiggestellt wird. Die Solaner haben es verdient!«

Narod freute sich über die Beliebtheit, die diese Minderheit neben den Buhrlos besaß. Alles deutete auf eine glückliche Zukunft aller Solaner hin.

»Was ist?« dröhnte der Pyrride. »Kommst du mit oder sollen wir es allein jagen?«

Narod zuckte zusammen und schwankte. Nur mühsam fand er in die Wirklichkeit zu-rück. »Was ...«, begann er. »Was hast du ge-sagt? Ja, selbstverständlich.«

Der Haufen stürmte an ihm vorbei, und kurz darauf erklang das Fauchen von Waffen und das Zischen der Peitschen.

Narod sah ihnen fassungslos nach. Was war geschehen?

In einem Anfall von Verzweiflung warf er das Funkgerät weg, daß es knirschend zer-platzte. Hinter seiner Stirn entstand ein unbe-stimmbarer Druck.

Wie von Furien gehetzt, rannte er davon.

* »Dort drüben, ein Ahlnate!« Die beiden Ferraten blieben stehen und

warteten, bis der Mann in dem blauen Ge-wand sie erreicht hatte. Er hielt an und mus-terte sie aus flackernden Augen.

»Wer seid ihr?« stöhnte er und machte fah-rige Bewegungen mit den Händen.

»Können wir dir helfen?« erkundigten sich die Ferraten besorgt. »Dir ist nicht gut. Bist du krank?«

Narod schüttelte trotzig den Kopf. »Nicht krank«, erwiderte er hastig. »Ich

muß nur ...« »Wir bringen dich hin, wenn du uns sagst,

wohin du willst.« Narod lehnte sich an die Wand, er atmete

rasselnd. Immer wieder wischte er sich über die Augen, die beiden Gestalten wurden deut-licher.

»Also gut«, hörte er die Ferraten sagen, »wenn du uns nicht sagen willst, wo die Monsterjäger jetzt sind, suchen wir eben al-

lein weiter. Wir wollen schließlich auch unse-ren Anteil!«

Sie ließen ihn stehen, und erst jetzt stellte Narod fest, daß er sich unmittelbar neben dem Eingang zur Ahlnatenzentrale befand. Er zö-gerte kurz, dann trat er mit schwankenden Schritten ein.

Mehrere Brüder der dritten Wertigkeit hiel-ten sich darin auf. Sie wandten kurz den Kopf.

»Wie viele?« erkundigte sich Genroud. Narod schien ihn nicht zu verstehen, und

der Ahlnate wiederholte seine Frage. Als er immer noch keine Antwort gab, sich nur wortlos in einen Sessel vor der Interkomanla-ge fallen ließ, erhob sich der andere und kam heran.

»Du zitterst ja«, stellte er fest. »Was ist mit dir los? Bist du im Kampf verletzt worden?«

»Zuviel gerannt«, keuchte Narod. »Ich kann nicht mehr!«

»Total abgehetzt«, stellte Genroud fest. »Ich frage mich, wer hier das Opfer war und wer der Jäger.«

Ein anderer Bruder lächelte geringschätzig und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Er ist für so etwas viel zu alt. Ich hätte da besser durchgehalten!«

Narod merkte, wie ein erneuter Hörsturz bei ihm einsetzte. Die weitere Unterhaltung drang nur als undeutliches Gemurmel zu ihm durch, und er wandte sich heftig ab, richtete seine Aufmerksamkeit auf die Funkanlage. Er beugte sich vor und schaltete eine Verbindung zur Zentrale.

Reiß dich zusammen, redete er sich ein. Niemand darf etwas von deinem Zustand er-fahren. Es kann dich deinen Status kosten. Dann waren die Anstrengungen der vergan-genen Jahrzehnte umsonst!

Das geschwungene Bildzeichen der Zentra-le erschien auf dem kleinen Schirm, und Na-rods Blick klärte sich. Er mußte mit Philippa sprechen und ihr einen Hinweis zukommen lassen, wie es um ihn stand. Sie würde ihm helfen.

Die Armaturen vor seinen Augen begannen zu verschwimmen, und er löschte hastig die Verbindung. Schwer atmend ließ er sich im Sessel zurückfallen und wartete, bis der An-fall vorbei war.

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Er war krank, erkannte er, schwerkrank. Er

bildete sich alles nur ein. Er würde in eine der Medostationen gehen und versuchen, einen der wenigen funktionierenden Roboter zu bemühen. Medikamente konnten ihm be-stimmt helfen, sofern welche vorhanden wa-ren.

Oder nicht? Zweifel überkamen ihn, während er die Er-

eignisse der vergangenen Stunden und Minu-ten vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen ließ. Je länger er nachdachte, desto größer wurde in ihm die Gewißheit, daß es an ihm lag, an seinem Innern.

Ich bin geisteskrank! erkannte er mit einer Mischung aus Verzweiflung und wissen-schaftlicher Akribie.

»Ich melde mich wieder, wenn mein nächs-ter Dienst beginnt!« sagte er laut und erhob sich. Jetzt war ihm äußerlich nicht anzusehen, wie es um ihn stand. Die Brüder der dritten Wertigkeit nickten ihm zu, und ihre Augen verrieten, daß sie seine Ausrede mit der Über-anstrengung längst akzeptiert hatten. Nur Genroud fragte:

»Wen wolltest du da gerade erreichen?« »Nicht wichtig«, winkte er ab. »Ich dachte

an Medikamente, aber die Schwäche ist vor-bei!«

Er eilte hinaus, und sein Gewand wehte um seinen hageren Körper, während er die kno-chigen Hände unter dem Gewand verborgen hielt. Er hatte die Hände gegen den Brustkorb gepreßt und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Ungehindert machte er sich auf den Weg zu seinem nächsten Ziel.

*

Tenho Waibnost war seit sechs Jahren im

Amt. Gemessen an seinen Vorgängern war es eine lange Zeit. Waibnost erinnerte sich nicht, daß einer von ihnen eines natürlichen Todes gestorben war. Für sich selbst allerdings war er zuversichtlich. Mit viel Geschick hatte er es bisher verstanden, die einzelnen Gruppen der SOLAG für sich einzunehmen und notfalls gegeneinander auszuspielen. Auch die Magniden waren ihm treu ergeben, wenn er auch nicht bei allen wußte, ob ihre Loyalität bis zur Aufgabe des eigenen Lebens gehen

würde. Der High Sideryt hatte keine Lust, es aus-

zuprobieren. Er wollte keine Veränderung des jetzigen Zustands, soweit es die Schiffsfüh-rung betraf. Eines stand für ihn allerdings schon fest. Über seinen Nachfolger gab es keine Diskussion. Sein Name war in SENE-CA gespeichert, er würde das höchste Amt dereinst übernehmen. Wenn er bis dahin noch lebte.

Waibnost saß auf dem Thron in seiner Klause und hielt die Augen auf die restlichen sechs Podeste gerichtet, überflüssige Podeste, für die es keine Verwendung gab. Was moch-te der erste High Sideryt sich dabei gedacht haben, als er die Klause einrichtete?

Vergeblich hatte er im Logbuch nach einem Hinweis gesucht, aber er hatte in den Nieder-schriften Elvin Gladors nichts gefunden, was damit zusammenhing.

Waibnost war eine mittelgroße, kräftige Gestalt. Die »Rüstung« aus blauen Metall-plättchen war ursprünglich für einen größeren Solaner gemacht worden, aber er hatte es in letzter Minute verhindern können, daß jener High Sideryt geworden war. Eine Frau als Schwester ohne Wertigkeit! Unmöglich!

Der High Sideryt erhob sich und schritt hinüber zur Wand, wo sich die Kontrolltafeln befanden. Er aktivierte mehrere Bildschirme und beobachtete das Geschehen in mehreren Abschnitten des Mittelteils. Ab und zu deute-ten reglos liegende Gestalten oder dunkle Fle-cken auf dem hellen Bodenbelag darauf hin, was sich überall in dem großen Schiff ereig-nete.

»Jemand hat geplaudert«, zischte Waibnost unzufrieden. »Es gibt eine undichte Stelle in der SOLAG. Wie anders hätten die Solaner erfahren können, daß eine Jagd auf Entartete bevorstand.«

Viel zu wenige waren von den Kommandos bisher zur Strecke gebracht worden, und er beschloß, bei der nächsten Aktion besser vor-bereitet zu sein. Im Augenblick war es ihm lediglich darum gegangen, den Kämpfern der einzelnen Kasten ein Ventil zu verschaffen, damit sie sich abreagieren konnten. Eines Tages würde es keine Monster mehr in der SOL geben, das schwor er sich.

Was dann? fragte der High Sideryt sich. Es

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

gab noch andere Mutanten, aber sie standen unter einem eigenartigen Tabu, denn in ihnen verkörperte sich die eigentliche Hoffnung aller Solaner.

Waibnost lachte geringschätzig. In seinen Augen waren die Buhrlos lediglich ein Relikt einer Vergangenheit, über die man besser nicht sprach. Unnötige Esser im Verband des Schiffes, das kaum für die stetig wachsende Bevölkerung aufkommen konnte.

Der High Sideryt schaltete um auf die Zent-rale, die unmittelbar neben seiner Klause lag. Er zählte neun Magniden und Magnidinnen, die sich im Augenblick dort aufhielten. Bellog konnte er nirgends entdecken, und das wun-derte ihn nicht. Der Magnide zählte zu den härtesten Verfechtern absoluter Abhängigkeit und der Reinerhaltung der solanischen Rasse innerhalb des Machtgefüges. Ja, manchmal überraschte er durch Vorschläge, auf die selbst er als High Sideryt nie gekommen wä-re.

»Neue Ergebnisse über die Jagd?« sagte er in sein Mikrofon. Die Köpfe der Magniden fuhren zu den Kameras herum, sie hatten sei-ne Stimme sofort erkannt.

»Nein«, erklärte Prester Hooley bereitwil-lig. »Dafür kommt es in den Außenbezirken der SZ-2 zu merkwürdigen Vorgängen.«

»Was?« schrie Waibnost aufgebracht. »Wa-rum sind dort keine Kontrollen?«

»Alles beteiligt sich an der Monsterjagd.« Hooley zuckte mit den Schultern. »Es wurde soeben erst entdeckt, daß sich die Buhrlos weigern, das Schiff zu verlassen und ihren Aufenthalt im Vakuum zu nehmen!«

»Das geht zu weit«, rief der High Sideryt aufgebracht. »Wozu haben wir den Flug un-terbrochen? Doch nur wegen dieser ...« Er hieb wahllos auf ein paar Tasten. »Sofort Fer-raten in die betroffenen Gebiete. Wenn die Buhrlos Schwierigkeiten machen, gibt es nur eine einzige Antwort!«

»Wie viele?« wollte Hooley wissen. »Mindestens drei«, entschied der High Si-

deryt. Eine Hand griff an ihm vorbei und schaltete die Verbindung ab. Waibnost fuhr herum.

»Bellog!« stieß er hervor. »Wie bist du ...« Der Magnide hatte sein Gewand abgelegt

und trug die grüne Kombination eines einfa-

chen Solaners. Um seinen Mund spielte ein verächtliches Lächeln. In seiner Hand lag eine der neuen Waffen.

Erst jetzt bemerkte Tenho Waibnost, daß die Geheimtür im Hintergrund der Klause offen stand und seine sieben Roboter nicht reagierten.

»Ein Kunststück«, sagte Bellog gelassen. »Es war nicht einfach, ein Gerät zu bauen, mit dem die Roboter beeinflußbar sind. Es ist ge-lungen!«

»Was willst du von mir?« Der High Sideryt bewegte sich langsam rückwärts, stieß an die Kontrollwand.

»Ich ziehe einen bestimmten Zeitpunkt nach vorn«, erklärte Bellog ernst. »Du kannst dich darauf verlassen, daß die drei Buhrlos exekutiert werden. Das ist auch in meinem Sinn!«

»Du machst einen Fehler«, sagte Waibnost schnell. »Du weißt gar nicht, ob ich ...«

»Doch, ich weiß!« Der Magnide grinste. »SENECA!« brüllte Waibnost und hoffte,

daß die Biopositronik ihn auch ohne den Ko-degeber hörte. »Ich nehme meine Entschei-dung zurück. Bellog ist nicht ...«

Der Magnide schoß. Dann fing er den Kör-per Waibnosts auf und legte ihn vorsichtig auf den Boden. Mit wenigen Schritten war er drüben am Thron und nahm den Kodegeber von der Sitzfläche. Er betätigte ihn.

»SENECA!« sagte er. »Hier spricht der Magnide Bellog. Der High Sideryt ist tot!«

»Ich sehe es«, erwiderte SENECA knapp. Wenige Sekunden später meldete sich die Biopositronik in der Hauptzentrale.

»Der High Sideryt ist tot!« verkündete sie. »Es lebe der neue High Sideryt. Es ist der Magnide Bellog!«

Der Nachfolger hatte die Bildschirme ein-geschaltet und beobachtete die Reaktion der Brüder und Schwestern der ersten Wertigkeit. Sie waren überrascht, zeigten jedoch nicht, was sie dachten.

Auch gut, überlegte Bellog. Und laut sagte er:

»Hooley, wir verdoppeln die Anzahl. Nimm sechs Buhrlos!«

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

3.

Narod setzte sich in den einzigen Sessel

seiner bescheidenen Kabine und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Es war glühend heiß. Die geschlossenen Augen ließen das unheilvolle Kreisen der Wände verschwinden, schalteten seine veränderte Wahrnehmungs-fähigkeit aus. In lichten Augenblicken zwei-felte er daran, ob er körperlich und geistig jemals wiederhergestellt würde, und er suchte nach den Spuren dessen, was in ihm vorging und nicht normal war.

Es konnten unmöglich nur die Nachwir-kungen des Schocks sein.

Der Ahlnate spürte die Erinnerung schwin-den. Die Erlebnisse der letzten Stunden ver-wischten sich in seinen Gedanken. Wahrheit und Einbildung, er konnte sie nicht mehr trennen und bekam Angst vor sich selbst.

Die Hilfsbereitschaft der Ferraten und Pyr-riden, hatte er sie sich nur eingebildet?

Sein idealistisches Weltbild verleitete ihn nur zu gern dazu, das zu verneinen. Er wünschte sich das Gegenteil. Er hatte die Jagd geträumt und alles, was damit zusammenhing. Als er das Zeichen dazu erhalten hatte, war Philippa bei ihm gewesen.

Dann war auch die Magnidin ein Traum, Einbildung. Und er war kein Narr, wie sie ihn genannt hatte.

Narod bekam Mitleid mit ihm, seinem selbsterschaffenen Gebilde. Fast hätte er sich in seiner eigenen Gedankenwelt verstrickt. Die Jagd, der Schock, sie waren eine Reaktion seines Körpers auf die gefährliche Nähe des Wahnsinns.

Das Versprechen, daß sie sich morgen wie-dersehen würden, es existierte nicht, er brauchte auf Philippa nicht zu warten.

Narod stellte fest, daß die Freundlichkeit, das Entgegenkommen und die Hilfsbereit-schaft der SOLAG-Mitglieder so ganz nach seinem Geschmack und seiner Überzeugung waren. Er faßte den Entschluß, nach diesen Solanern zu suchen und mit ihnen zu spre-chen. Es durfte nicht schwerfallen, sie davon zu überzeugen, daß sie ihre Ziele zum Wohl der Gemeinschaft viel besser erreichen konn-ten, wenn sie zusammenarbeiteten.

Gleichzeitig mit diesen Gedanken befiel ihn

die Angst, daß die Vorspiegelungen seines Geistes zurückkehren würden, und er stellte sich zum ungezählten Mal die Frage nach der Realität. Konnte es wirklich sein, daß ein we-sentlicher Teil seiner Erinnerung und seiner Gefühle der Einbildung entsprang? Bilder entstanden in seinen Händen, die er dicht vor den Augen hielt. Er sah Solaner einer Zeit vor der SOLAG, lange vorher. Was war damals alles gewesen?

Ein Gedanke flüsterte ihm zu, daß er ir-gendwann einen Unfall erlitten hatte und noch in Behandlung war.

Der Schock in Narod saß zu tief, als daß er sich endgültig für eine Ansicht entschieden hätte. Er grübelte und kam auf die Idee, die Probe aufs Exempel zu machen. Er erhob sich.

»Ahlnate Narod an Zentrale«, meldete er sich über den Interkom. »Die Magnidin van Leeuw wird dringend in Sektor IV C-L-O-V-E-C- benötigt. Bitte um Weiterleitung!«

Es war ihr Verabredungszeichen, das sie in irgendeinem Traum gemeinsam ausgeheckt hatten.

Narod setzte sich wieder und fixierte die Tür. Er wartete, fieberte dem Augenblick ent-gegen, da sich der Türmelder regen würde. Und mit jeder Sekunde hoffte er, daß es wirk-lich nur ein Traum gewesen war, daß sie nicht kam.

Das Zirpen riß ihn in die Wirklichkeit zu-rück. Er stürzte zur Tür, öffnete, strauchelte. Philippa fing ihn auf und zog ihn hinein zu seinem Lager.

»Du hast Fieber«, stellte sie fest. »Es muß schlimm gewesen sein!«

»Was?« krächzte er. »Was soll schlimm gewesen sein?«

»Die Monsterjagd. Was ist los mit dir?« »Ich habe schlecht geträumt«, flüsterte er

und fuhr mit seinen Fingern durch ihre lan-gen, goldblonden Strähnen. »Oder kannst du dir vorstellen, daß die SOLAG auf Solaner Jagd macht, sie als Monster betrachtet?«

»Narod, komm zu dir!« Leise begann die Magnidin zu sprechen. Möglichst schonend versuchte sie ihm beizubringen, daß es die Realität war, die er erlebt hatte, eine grausame Realität. Und am Schluß fügte sie hinzu: »Bellog ist der neue High Sideryt. Er hat

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

sechs Buhrlos zum Tod verurteilt!«

Narod brauchte lange, bis er es endlich beg-riffen hatte. Er barg sein Gesicht erneut in den Händen und begann haltlos zu schluchzen. Philippa umfaßte seine Handgelenke, zog seine Hände zu sich heran.

»Armer Narod«, sagte sie. »Erkennst du jetzt, was ich meinte, als ich dich einen Nar-ren nannte?«

Der große Mann richtete sich langsam auf. Sein Gesicht war gerötet, hatte die fahle Bläs-se ganz verloren. Ja, er hatte es erkannt. Gleich nach dem Tod des ersten Monsters hatte er es erkannt.

»Dann habe ich all die Jahre einer schlech-ten Sache gedient«, flüsterte er entsetzt. »Al-les, was ich getan habe, war falsch!«

»Nein. Du hast es ehrlich gemeint. Du hast dich immer selbstlos für andere eingesetzt. Unsere Gedanken waren einander immer na-he. Jetzt um so mehr, das weiß ich mit Si-cherheit. Wir dürfen nie zu anderen Solanern darüber sprechen, schon gar nicht zu Mitglie-dern der SOLAG!«

Er verstand. Ihre Position als Magnidin war gefährdet, wenn es sich herausstellte, daß sie die Überzeugung der anderen nicht teilte. Bei ihm war es ähnlich, er konnte es sich als Ahl-nate nicht leisten, zu rebellieren.

»Ich habe alles als Realität empfunden, die Pyrriden und die anderen Helfer«, murmelte er.

»Deine Träume werden vergehen«, munter-te Philippa ihn auf. »Der Schock wird sich legen und seine Nebenwirkungen ebenfalls.«

Sie sah, daß er aufatmete, und freute sich mit ihm. Dann aber ließ er wieder den Kopf hängen und berichtete in Einzelheiten das, was er erlebt hatte. Philippa gewann den Ein-druck, daß er tatsächlich nicht vermochte, die einzelnen Erlebnisse richtig zu unterscheiden.

»Es ist ein totes Mädchen in einer Repara-turkammer gefunden worden«, bestätigte sie ihm. »Es wies Anzeichen körperlicher Muta-tion auf.«

Die Erinnerung überwältigte ihn, und Phi-lippa rief aus: »Alter Narod! Was mußt du durchgemacht haben. Wenn ich es kann, dann nehme ich ein wenig von der Last auf meine Schultern, die dich drückt!«

»Alt!« Es klang hohl aus seinem Mund.

»Nicht jetzt, im Jahr 114 der SOL. Hast du nicht selbst gesagt, ich sei ein junger Mann in einem alten Körper?«

Philippa nickte. Immer wieder rätselte sie, wie alt Narod tatsächlich war. Seinem Äuße-ren nach konnte man ihn für 180 oder 190 Jahre halten. Noch nie hatte er ihr das ver-meintliche Geheimnis anvertraut.

»Möchtest du dich mir nicht endlich mittei-len?« fragte sie leise. »Es könnte nicht scha-den. In deinem Zustand wäre es wichtig für mich, viel über dich zu wissen.«

Narod ging nicht auf ihre Bitte ein. »Skrempeleck!« rief er plötzlich aus. »Das

muß der Name des Mädchens gewesen sein! Skrempeleck, das Monster!«

*

Die darauffolgenden Tage verbrachte der

Ahlnate in tiefer Nachdenklichkeit. Er hatte Mühe, seinen Dienst zu versehen, und oft erwischte er sich dabei, daß er unkonzentriert arbeitete.

Narod holte aus seinem Schrank in der Zentrale die Räucherstäbchen hervor, packte sie in die kleine, mit leuchtenden Steinen ver-zierte Tasche, die er von seinem Vorgänger übernommen hatte. Die Steine waren künst-lich erzeugt, eine Spielerei irgendeines Beses-senen. Er nickte Genroud freundlich zu, dann machte er sich auf den Weg.

Er betrat einen Antigrav in der Absicht, sich von ihm zehn Etagen nach oben zu einer Maschinenhalle tragen zu lassen, die in einem verkommenen Zustand war. Niemand hatte sich bisher um sie gekümmert. Wahrschein-lich wußte keiner in dem großen Schiff, wel-che Bedeutung die Maschinen früher gehabt hatten. Es spielte keine Rolle. Eine Gruppe junger Ferraten würde sich in nächster Zeit um die Instandsetzung bemühen. Später konn-te man immer noch prüfen, wozu die Anlagen verwendet werden konnten.

Ein schrilles Heulen ließ den Ahlnaten zu-sammenzucken. Im ersten Augenblick klang es wie das Fauchen von Schüssen und ließ ihm das Blut in den Kopf steigen. Er schweb-te an einem Ausstieg vorbei, verpaßte die Chance. Erst jetzt wurde ihm bewußt, daß es der Alarm für den Antigrav war und er

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

schleunigst einen Ausgang suchen mußte.

Die wenigen Sekunden bis zur nächsten Etage kamen ihm wie eine Ewigkeit vor. Er bemerkte die Verlangsamung in der Ge-schwindigkeit, das leichte Rucken, das durch seinen Körper ging. Es war höchste Zeit, und er klemmte sich die Tasche unter den Arm, streckte die Arme zur Seite aus.

In diesem Augenblick setzte der Antigrav aus, und das Heulen der Sirene schwoll um mehrere Stufen an. An den Ausstiegen schlos-sen sich krachend Sicherungsbügel, um ein Betreten des defekten Schachtes zu verhin-dern. Manche Bügel jedoch waren eingerostet oder funktionierten aus anderen Gründen nicht.

Narod stürzte. Er fühlte, wie sein eigenes Gewicht ihn nach unten zog, hoffte, daß die Computer in der Zentrale oder SENECA die künstliche Schwerkraft im Schiff aufheben würden, um den Ausfall des Antigravs aus-zugleichen. Seine Hände ertasteten die Spros-sen der Notleiter, die es glücklicherweise in jedem Schacht gab. Die ersten Sprossen streiften sie nur, dann fanden sie Halt, klam-merten sich fest. Der Ahlnate glaubte, ihm würden die Arme aus dem Leib gerissen. Die Tasche stürzte in die Tiefe, klatschte immer wieder an die Wandung. Dann vervielfältigten sich die Geräusche, die Räucherstäbchen wa-ren herausgefallen und begannen sich selbst zu entzünden.

Das alles war Narod egal. Er hängte sich mit angewinkelten Unterarmen in die Spros-sen und richtete die Augen nach oben. Er hoffte, daß kein anderer auf ihn stürzte und mit in die Tiefe riß. Der Schacht war aber leer.

Langsam begann der Ahlnate hinaufzustei-gen. Er erreichte den nächsten Ausstieg, schwang sich über die Kante, schob sich unter den Bügeln hindurch und verharrte dann re-gungslos. Er sah Stiefel, glänzende Stiefel, und darüber blaue Metallschuppen. Er richtete sich auf.

»Du bist es, Narod«, hörte er die wohlklin-gende Stimme des neuen High Sideryt.

»Der Antigrav fiel aus«, berichtete Narod atemlos. »Die Sirene kam viel zu spät. Es hätte mich fast das Leben gekostet!«

»Wir werden unsere Anstrengungen ver-

größern, die technischen Anlagen instand zu halten«, versprach der High Sideryt. »Ich kenne dich als einen Mann, der besonderen Einsatz für die SOL zeigt und sich gut dafür eignet, einen höheren Rang in der SOLAG zu bekleiden.«

Narod schüttelte heftig den Kopf. Es war nicht seine Absicht, sich in den Vordergrund zu stellen, und er machte Bellog dies klar. Der High Sideryt lächelte verständnisvoll.

»Bescheidenheit ist eine Zier«, sagte er. »Wir begegnen uns wieder!«

Er streckte dem Ahlnaten beide Hände ent-gegen, und Narod wollte sie dankbar drücken. Im letzten Augenblick unterließ er es und beobachtete, wie Bellog verschwand, wie eine Figur auf bewegtem Zelluloid, das man ein-fach zur Seite zog.

Ein Schmerz in seinem rechten Arm rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Noch immer hing er an den Sprossen der Notleiter, der linke Arm hatte sich gelöst, und der rechte rutschte unter dem Gewicht seines Körpers heraus. Verzweifelt packte Narod zu. Er preß-te den Kopf gegen die kalten Metallstäbe und hörte seinem eigenen Keuchen zu.

Nur jetzt nicht erblinden oder erlahmen! redete er sich ein und erinnerte sich an die Zwischenfälle während der Jagd.

In diesem Moment begann etwas ihn nach oben zu zerren. Er betrachtete seine Beine, die die Bewegung mitmachten, seinen Körper auf den Kopf stellten, bis er ihn mit Muskelkraft in die ursprüngliche Lage brachte. Nach einer Weile erst ließ er los, als er sicher war, daß der Antigrav wieder normal arbeitete. Er ließ sich den Rest des Weges hinauftragen, er-reichte sein Ziel. Er sprach über eine Stunde mit den zwanzig jungen Solanern und Solane-rinnen, bereitete sie eingehend auf ihren Dienst bei den Ferraten vor. Danach händigte er ihnen ihre Uniformen aus und schickte sie unter Begleitung mehrerer Pyrriden in ihre Unterkünfte. Die Zeremonie hatte ohne Räu-cherstäbchen stattgefunden, und er machte sich unbefriedigt auf den Rückweg.

Narod fragte sich nach dem Sinn seines Tuns. Er erkannte ihn nicht mehr, denn seine Überzeugung war nicht mehr die frühere. Er schämte sich, weil er die jungen Menschen regelrecht angelogen hatte. Er hatte ihnen die

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

SOLAG als gut und wichtig dargestellt. Es bereitete ihm Gewissensbisse.

Und noch etwas anderes war da. Die Inten-sität, mit der er die Begegnung mit Bellog geträumt hatte, die Klarheit, mit der dieser von den positiven Anstrengungen gesprochen hatte, sie waren stärker geworden.

Narod beendete seinen Dienst und suchte die Kantine auf, in der nur Mitglieder der SOLAG Zutritt hatten. Hier gab es ausrei-chend Nahrungsmittel aus den SOL-Farmen und den wenigen arbeitenden Fabriken. Er ließ sich an einem leeren Tisch nieder und tastete irgend etwas, verzehrte es und erinner-te sich hinterher nicht, was es gewesen war.

Der Traum stand im Gegensatz zu dem ab-klingenden Schock, der sein Realitätsbewußt-sein wieder normalisierte. Bellog war nicht wirklich dagewesen, und nach den vielstündi-gen Unterhaltungen, die Narod inzwischen mit Philippa geführt hatte, begann er erneut, die Ursache in seinem Innern zu suchen, un-abhängig von den Vorfällen, die alles ausge-löst hatten.

Wenn dein Geist anders reagiert als der ei-nes normalen Solaners, dann ist der Unter-schied zu einer körperlichen Abweichung nicht weit, redete er sich ein. Dann bist du ebenso ein Solaner wie alle anderen, auf die Jagd gemacht wird.

Du bist ein Monster, auf geistiger Ebene. Bei diesem Gedanken wurde ihm schlecht.

* Die Magnidin Philippa van Leeuw befand

sich seit achtzehn Jahren im Amt. Ihre techni-schen Fähigkeiten hatten zu ihrer Berufung geführt. Ursprünglich war sie als Ahlnatin für die technische Wartung der Hangars zustän-dig gewesen. In einer Notlage war sie berufen worden, und seither trug sie zusammen mit den Magniden Ontelgert und Vabbel Simiers die Verantwortung für die Steuerung des Schiffes. Immer wieder kam es zu Fehlern, die sie nicht lokalisieren konnten, die aber in ihren Augen allein auf eine Störung SENE-CAS zurückzuführen waren.

»Wir verlassen den derzeitigen Sektor in kurzer Zeit«, rief Ontelgert ihr zu, als Philippa die Hauptzentrale betrat. Außer ihr waren

bereits alle Magniden anwesend und nahmen ihre Positionen ein. Sie beeilte sich, an die Steuerkonsolen hinüberzukommen, und sank schwer in den Kontursessel.

»Die erste Anordnung des neuen High Si-deryt, die die Schiffsführung betrifft«, nickte Vabbel Simiers. Er saß links von ihr, Ontel-gert rechts. Wie zwei Säulen flankierten sie ihre Amtskollegin.

»Wo geht es hin?« erkundigte Philippa sich.

»Es ist egal. Bellog will die bisherige Flug-richtung beibehalten. Ein Ziel gibt es wie immer nicht. Irgendwann wird er wohl ein Sonnensystem anfliegen und die Pyrriden losschicken. Es fehlt an vielem.« Er lachte zynisch. »Aber solange es uns reicht ...«

Philippa van Leeuw schloß rasch die Augen und würgte den Ekel hinunter, der sie erfaßte. Manchmal hatte sie sich gefragt, warum sie nicht einfach zurücktrat und das Leben einer gewöhnlichen Solanerin begann. Immer wie-der trat sie jedoch in der Zentrale ihren Dienst an. Sie fühlte sich für die über achtzigtausend Solaner verantwortlich, zumindest für die Zeit, in der kein anderer begabter Techniker und Pilot ihre Stelle einnehmen konnte.

Die Anfangszeit war schwer genug gewe-sen. Nur mühsam hatte sie sich im Kreis der Magniden behauptet, und Denver, der dama-lige High Sideryt, hatte ihr mit einem Augen-zwinkern gesagt: »Es ist eine Ausnahme, die du hoffentlich zu schätzen weißt, Philippa. Nach meinen Informationen bist du der erste Ahlnate, der unter Überspringung des Haema-ten- und Vystidenstatus Magnide wird. Allein die Tatsache deiner Berufung hat dir unter den Brüdern und Schwestern der zweiten Wertigkeit etliche Neider eingebracht.«

»Warum bin ich überhaupt Magnidin ge-worden?« hatte sie gefragt. »Hätte es nicht ausgereicht, wenn ich als Ahlnatin für die Steuerung der SOL zuständig gewesen wä-re?«

»In der Hauptzentrale haben Ahlnaten nichts zu suchen. Auch du wirst den Unter-schied bald erkennen, wenn du in das techni-sche Gesamtwissen eingeweiht worden bist und die Zusammenhänge begreifst.«

Es war lange her, seit diese Worte gespro-chen worden waren, aber sie hatte sie wörtlich

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behalten. Denver war kurze Zeit später auf geheimnisvolle Weise verschwunden, und die Magniden hatten über vier Jahre ohne High Sideryt gelebt, bis SENECA endlich den Na-men des Nachfolgers preisgegeben hatte. Denvers Überreste waren nie gefunden wor-den.

In den vierzehn Jahren seither hatte Philip-pa zwei High Sideryts erlebt, Bellog war der dritte. Er hatte ihnen verweigert, von der Lei-che Waibnosts Abschied zu nehmen.

Er hat ihn umgebracht, wußte sie mit abso-luter Sicherheit. Er hat gewußt, daß er selbst der Nachfolger ist.

Jedesmal, wenn es einen neuen Bruder oh-ne Wertigkeit gab, glichen sich die Vorgänge. Auch jetzt nahm die SOLAG es mit einem Achselzucken zur Kenntnis, daß ein neuer Mann das höchste Amt bekleidete. Ändern würde sich nichts, die Hierarchie war so per-fekt aufgebaut, daß Personen willkürlich aus-getauscht werden konnten. Die Diktatur hatte sich verselbständigt.

»Fertig?« Übergroß hing das Gesicht Bellogs auf dem

Bildschirm, und die Augen funkelten auf sie herab. Der High Sideryt gedachte nicht, selbst in die Zentrale zu kommen und den Fernflug zu leiten. Er traute dem Frieden nicht.

Du tust gut daran, um deine Sicherheit be-sorgt zu sein, dachte Philippa van Leeuw und leitete mit einem Knopfdruck den automati-schen Countdown ein. Wie leicht könnte dir dasselbe Schicksal widerfahren. Mit einem flüchtigen Blick streifte sie die vierzehn Magniden und Magnidinnen, eine ganze Schar, von der jeder bereit gewesen wäre, das höchste Amt zu übernehmen. Irgendwann würde auch Bellog einen Nachfolger benen-nen, aber wenn er schlau war, zögerte er die-sen Zeitpunkt so lange wie möglich hinaus. Als Lebensversicherung sozusagen.

»Wir verlassen die rasende Galaxis mit ih-rer hohen Rotationsgeschwindigkeit und tre-ten einen Fernflug an, bis unsere Hyperorter in Flugrichtung eine neue feststellen«, befahl der High Sideryt. »Ausführung sofort!«

Die Hände der drei Magniden flogen über die Kontrollen. Tief im Rumpf des riesigen Hantelschiffs erwachten gigantische Maschi-nen zum Leben, wurden auf ihre Einsatzbe-

reitschaft geprüft. Wenige Sekundenbruchtei-le dauerte es, dann gab Ontelgert Philippa mit einem kurzen Kopfnicken zu verstehen, daß alle Systeme bereit waren.

Die Magnidin beschleunigte die SOL, jagte sie dem Leerraum zwischen den Galaxien entgegen, der sich wie ein unersättlicher Schlund vor ihr auftat. Mit Maximalwerten raste das Generationenschiff davon, ver-schwand übergangslos aus dem Normalraum, als Philippa van Leeuw die Dimetransphase einleitete.

»Auftrag ausgeführt!« meldete sie, und Bellogs Augen ruhten auf ihr und dem weißen Gewand, das ihre Figur verdeckte. Die Augen leuchteten und glühten, dann erlosch der Bild-schirm, und die Magniden waren zumindest optisch wieder unter sich. Aber dennoch glaubten sie fest daran, daß der High Sideryt sie weiter beobachtete.

Zwei Stunden blieben Philippa, Ontelgert und Vabbel Simiers in der Hauptzentrale. Dann erst waren sie überzeugt, daß alle Ag-gregate ohne Ausfall weiterarbeiten würden, und zogen sich für einen Teil des intergalakti-schen Fluges zurück.

Philippa suchte ihre Kabine auf, die keine vierzig Meter von der Zentrale entfernt im selben Korridor lag. Hier patrouillierten pau-senlos Haematen. Ihnen konnte niemand ent-gehen, und die Abstrahlmündungen ihrer Waffen glühten schußbereit.

Philippa van Leeuw öffnete die Tür und trat ein. Sie riß den Mund auf, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Starr stand sie da. Erst das leise Zischen, mit dem sich die Tür hinter ihr schloß, brachte wieder Leben in die Magni-din. Mit raschen Schritten war sie um den Tisch herum, beugte sich über die am Boden liegende Gestalt.

Es war Narod. Der Ahlnate trug die Klei-dung eines Solaners. Sie war zerrissen und verdreckt, bedeckte die verkrümmt liegende Gestalt wie ein Leichentuch.

Philippa faßte Narods Hand und fühlte den Puls. Er schlug langsam aber regelmäßig. Die Augen des Mannes waren geschlossen, die Finger wie in einem inneren Kampf verkrallt.

Die Magnidin richtete sich abrupt auf. Sie wollte hinaus, um Hilfe zu holen. Dann aber blieb sie zögernd stehen, wandte sich wieder

19

ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

dem Körper des Ahlnaten zu.

»Eine Vision?« fragte sie leise. »Hat er wieder eine Vision?«

Sie dachte an seine Worte, an seine Be-fürchtungen, und langsam begann auch sie zu glauben, daß es nicht der Schock war, der es bewirkte. Es konnte eine heimtückische Krankheit sein. Der Schock war höchstens der Auslöser gewesen.

»Armer Narod!« sagte Philippa und setzte sich abwartend in einen Sessel. Da lag er vor ihr, der Mann, mit dem sie seit über einem halben Jahr ihre Freizeit teilte, der ihr in sei-ner geistigen Grundhaltung so ähnlich war, daß sie sofort begriffen hatte, daß sie nicht von ihm lassen würde.

Narod wußte, wie sie dachte, was sie dach-te. Es wäre ein leichtes für ihn gewesen, sie dem High Sideryt ans Messer zu liefern und als Feindin der SOLAG zu bezeichnen. Sie hätte es nicht einmal leugnen können. Er tat es nicht. Er bestärkte sie in ihrem Verhalten. Ihr Widerstand war passiv, sie rechnete mit der Zeit, die für sie arbeitete. Und doch fühlte sie, daß sie einst in hohem Alter würde erken-nen müssen, daß sie zu schwach gewesen war, um eine Veränderung zu bewirken.

Ihre Augen ruhten auf dem reglosen Körper des alten Mannes, den ab und zu ein Zittern durchlief. Philippa wußte, daß sie ihm jetzt nicht helfen konnte. Sie konnte nur warten.

4.

Der Traum: Er hat ihn geküßt. Ja, wahrhaftig geküßt.

Und in diesem Augenblick ging auch dem letzten von uns ein Licht auf, daß hier ein Mensch einem anderen seinen Segen gab. Einer, der eine vielhundertjährige Erfahrung besaß, versuchte, einem Neugeborenen seine Liebe zu geben.

Ein halbes Jahr ist seitdem vergangen. Un-ser Schiff hat längst jene Bereiche hinter sich gelassen, die zu den uns bekannten gehören. Eine fremde Welt umfaßt uns, macht uns in gewisser Weise hilflos. Wir haben mit den ersten Auswirkungen der Isolation zu kämp-fen.

Anfangs glaubten wir, daß sich die Men-schen automatisch an die neuen Verhältnisse

anpassen würden. Die Umbauten im Schiff sollten zudem bewirken, daß alle sich wohl fühlten.

Jetzt ist die erste Krise da. Bjo kommt in die Zentrale herein und winkt

mir zu. Er redet ganz kurz mit Gavro Yaal, nähert sich dann mit geschmeidigen Bewe-gungen meinem Standort. Ich beobachte ihn, der vor dem Abschied so viel für uns getan hat. Er hat Perry begleitet, und ich bin mir sicher, daß es ihm zu verdanken ist, daß die Terraner schnell über ihre Wehmut hinweg-kamen, die sie angesichts der Tatsache erfüll-te, daß ein Teil von ihnen eigene Wege gehen wollte. Sie haben es mit Fassung getragen, ich bin ihnen dankbar dafür. Ja, manche von ih-nen haben uns sogar ermuntert.

»Es sind Anzeichen von Hysterie«, sagte Bjo und reicht mir die Hand. »Ich soll dir aber Grüße von Federspiel ausrichten. Seine Schwester ist bereits in der SZ-2 und sieht dort nach dem Rechten.«

»Laß uns die anderen zusammenrufen«, antworte ich dem Katzer und mache mich selbst auf den Weg zu Gavro. Der Kosmobio-loge ist nicht jedesmal meiner Meinung, und er zeigt es auch offen. Zu groß waren die Un-terschiede, die uns in der Zeit vor der Stunde Null trennten. Yaal, der große Verfechter der Unabhängigkeit, hatte kein Verständnis für die Vermittlerrolle, die ich übernommen hat-te.

Gavro starrt mir fragend entgegen. Er ist von mehreren seiner engsten Anhänger um-geben. Manchmal werde ich das Gefühl nicht los, daß sie einen entscheidenden Einfluß auf ihn ausüben und er nicht immer so kann, wie er gern möchte.

»Es hat keinen Sinn, wenn wir lange disku-tieren«, versuche ich ihm begreiflich zu ma-chen. »Die Probleme mancher Solaner hängen einfach mit der langen Einsamkeit im All zu-sammen. Es fehlen viele Dinge an Bord, die ein Mensch braucht, und sei es nur fester Bo-den unter den Füßen!«

»Boden, Boden!« murrt Yaal. Er deutet auf den Belag des Zentralebodens. »Da ist unser Boden!«

»Plastik«, sagt Bjo. »Kunststoff! Wovon Joscan redet, das ist Erde, lebendiger Unter-grund. Gras, Moos, Duft!«

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Gavro weiß, daß Bjo recht hat. Er weiß

auch, daß überall in allen drei Schiffsteilen eine Tendenz zur Autarkie, zur Abkapselung besteht. Es läuft auch seinen Vorstellungen zuwider, was sich anbahnt.

»Also was?« Ein Mann neben Yaal spricht es aus. Sein Name ist Cleton Weisel. Bisher hat er sich nicht besonders hervorgetan.

»Zurück zu den Urzuständen, das ist es, was Hellmut will«, sagt Gavro schnell und nickt mir zu. Ich weiß nicht, ob ich es als Zei-chen des Einverständnisses werten soll. Bjos Gesicht entspannt sich ein wenig.

Yaal wendet sich plötzlich ab. Er läßt seine Begleiter stehen und eilt aus der Zentrale des Mittelteils hinaus. Er will irgendwo hin, das sehe ich an seiner Miene. Etwas hat er vor, oder er will eine Vermutung überprüfen.

Wir warten, aber er kehrt nicht zurück, und Bjo und ich verlassen die Zentrale. Ein letzter Blick auf die Kontrollanlagen zeigt, daß alles in Ordnung ist. Die Emotionauten sitzen in ihren Sesseln, die Hauben an ihren Bügeln weit über sich. Sie haben im Augenblick nichts zu tun, denn SENECA steuert den Flug automatisch.

»Er heckt etwas aus«, sage ich zu Bjo. »Was ist es?«

»Ich weiß es nicht«, erwidert Breiskoll. »Ich habe seine Gedanken nicht gelesen. War-ten wir bis morgen, was dann ist!«

Manchmal scheint es tatsächlich, daß War-ten eine sehr heilsame Tugend ist. Der Vor-schlag, den Gavro Yaal uns allen unterbreitet, überrascht nicht nur mich. Es ist ein Kom-promiß, und Yaal gibt sich damit auch keine Blöße. Er will nicht zugeben, daß vieles, was in der Zeit vor dem Aufbruch zerstört worden ist, gut war und wieder aufgebaut werden müßte. Dafür bringt er Alternativen.

»Wir sollten eine Möglichkeit schaffen, Naturräume mit dem Anbau von Nahrungs-mitteln zu verbinden«, läßt er seinen Vor-schlag verbreiten. »Wir errichten SOL-Farmen, in denen wir pflanzliche Nahrung herstellen und die gleichzeitig den Solanern als Erholungsgebiete dienen.«

Wie immer hat Yaal seine Worte knapp und präzise formuliert. Sie haben etwas Endgülti-ges an sich, aber das täuscht. Die Schiffsfüh-rung besteht aus dreißig Personen, die ge-

meinsam beraten und vor allem gemeinsam entscheiden. Jeder hat eine Stimme, und nach den ersten Wochen des Alleinseins war es wunderbar, die Selbstverständlichkeit zu beo-bachten, mit der die Solaner ihren Weg zu einer offenen Demokratie suchten. Nichts hatten sie in der früheren Zeit gelernt, immer waren sie Mitläufer von Entscheidungen ge-wesen, die andere gefällt hatten. Jetzt sollte das anders werden. Die Solaner, ich schließe mich selbstverständlich mit ein, mußten es lernen.

»Also gut«, sage ich, nachdem wir uns alle zu einer Beratung versammelt haben. »Der Vorschlag ist vernünftig. Er wird sich wohl auch verwirklichen lassen, wenn wir noch Sämereien aus alter Zeit in den Kühlhäusern haben. Wenn nicht, müssen wir uns einen geeigneten Planeten für die Rohmaterialien suchen.«

»Das wird nicht nötig sein«, erwidert Gavro schnell, aber Cleton Weisel meint: »Warum auch nicht. Ich habe Solaner gesehen, die sind vor lauter Weltraum schon ganz kribbelig!«

Es wird abgestimmt, und alle sind dafür. Die SOL-Farmen werden gebaut werden, ein Teil der Selbstversorgung wird auf Naturpro-dukte umgestellt. Es ist unvorstellbar, wenn ich an die Wochen und Monate denke, die die SOL in der Galaxis Algstogermaht festsaß und Perry Rhodan das Sporenschiff suchte. Damals hatten die Solaner alles abgelehnt, was mit den Menschen zusammenhing. Und die Wochen der Trennung von den Terranern waren gekennzeichnet gewesen von der Ver-nichtung all dessen, was mit dem planetaren Leben zu tun hatte. In regelrechten Orgien waren die natürlichen Vorräte verzehrt wor-den, die das Schiff noch besaß. In Zukunft wollte man sich auf die künstliche Produktion der Schiffsanlagen beschränken.

Ich lächle versonnen, und Gavro bekommt es mit. Einen kurzen Augenblick erwidert er es, dann ist er wieder ernst, analysiert das Vorhaben von der Warte des Wissenschaftlers aus. Hätte ich ihm in der Stunde Null so etwas prophezeit, hätte er mich ausgelacht.

Wir Solaner sind und bleiben Menschen, zumindest unsere Generation, die sich in nichts von ihrer Rasse unterscheidet. Wir be-nötigen all das, was ein Mensch für Geist und

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Seele braucht, und sei es nur die für das Un-terbewußtsein heilsame Farbe Grün, Natur-grün, wie es Pflanzen hervorbringen. Früher hieß es sogar, daß Grün gut für die Augen sei. Rot dagegen mache aggressiv.

Wir sind Menschen, es werden andere nach uns kommen. Sie sind ein Teil von uns, zeichnen immer mehr für die Euphorie ver-antwortlich, die uns gefangenhält. Wenn die Rede auf sie kommt, sind auch Hysterie und SOL-Farmen schnell vergessen. Dann schaltet Gavro Yaal blitzschnell um, wird ein wenig unnachgiebig, bis ihm jemand begreiflich macht, daß jene neue Generation die SOL wieder nach ihrem Geschmack herrichten wird und das nicht unsere Aufgabe ist.

Ein halbes Jahr sind wir unterwegs, und be-reits sind sieben von ihnen geboren worden. Sieben Säuglinge mit den glasartigen Narben leben in unserem Schiff, und wir haben ihnen den Namen nach der Frau gegeben, die den ersten von ihnen geboren hat und dann ge-storben ist.

Wir nennen sie Buhrlos.

* Die Magnidin erhob sich sofort, als Narod

sich regte. Seine Hände und sein Körper streckten sich, er rollte sich herum, bis er auf dem Rücken lag. Er öffnete die Augen, und sie blieben an der Beleuchtungseinheit an der Decke hängen, einem Kranz aus zehn hellen Edelgasstrahlern, die in ruhigem, hellgelbem Ton brannten.

Narod fuhr auf und drehte sich um. »Philippa«, stammelte er, »ich bin bei dir!

Wie komme ich hierher?« Die Magnidin berichtete ihm, wie sie ihn

gefunden hatte. Auch sie wußte nicht, wann und wie er hereingekommen war. Der Wohn-bereich der Magnidin wurde rund um die Uhr bewacht.

»Du hast dein Gewand abgelegt, warum?« fragte sie. Narod dachte nach. Er hob fragend die Schultern. Er wußte es nicht.

Er setzte sich auf den Sesselrand, betrachte-te sich von oben bis unten. Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war die Tür zur Funkzentrale in der zweiundzwanzigsten Eta-ge gewesen. Er hatte eintreten wollen, um

eigenhändig eine Reparatur durchzuführen, die für die Ferraten zu schwierig war, weil sie nicht das erforderliche Wissen dazu besaßen.

»Mein Gewand«, sagte er, »ich muß es ver-loren haben.«

Es konnte auch sein, daß es in der Funk-zentrale geblieben war und er sich für die Re-paratur eine einfache Kombi übergestreift hatte. Oder er hatte sich bereits in seiner Ka-bine umgezogen.

»Es wird immer schlimmer«, gestand er Philippa ein. »Und je länger ich rätsele, desto sicherer bin ich, daß es sich um eine Verände-rung meines Verstands handelt. Ich bin ein Monster!«

»Du redest dummes Zeug!« begehrte die Magnidin auf. »Ich kenne dich lange genug, um deinen Geisteszustand beurteilen zu kön-nen. Wenn höchstens, dann ist es eine Krank-heit, von der du geheilt werden kannst.«

»Es ist keine Krankheit, denn ich fühle mich wohl dabei«, erwiderte er barsch. »Es ist eine Veränderung, die mir auf seltsame Weise Kraft gibt. Ich kann sie nur nicht kontrollie-ren, es ist alles so verschwommen.«

»Du hattest wieder eine Positiv-Begegnung!«

»Ja!« Er erinnerte sich jetzt an jedes einzelne

Wort, jedes Bild, das sein Gehirn empfangen oder produziert hatte.

»Es war anders als bisher. Ich habe von der Vergangenheit geträumt, vom Anfang der neuen Zeit der SOL!«

»Vom ... Anfang?« dehnte Philippa van Leeuw. Wieder maß sie seine Gestalt, verfolg-te die Bewegungen seiner knochigen Finger, wie sie über den kahlen Kopf strichen, die harten Linien des eingefallenen Gesichts nachzogen. Der fast lippenlose Mund war blaß, zeigte im Augenblick keinerlei Kontu-ren mehr. Dafür sprachen die wasserblauen, lebhaften Augen eine deutliche Sprache. Na-rod war erleichtert, und er faltete die Hände vor dem Körper wie jemand, der sich gerade von einem üppigen Mahl zurücklehnt.

Narod war älter als die neue Geschichte der SOL. Philippa war bereit, es zu beschwören. Er mußte auch die Zeit davor noch gekannt haben. Träumte er von der Vergangenheit, wie sie einmal hätte sein können?

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

»Was weißt du über die Zeit des Aufbruchs

und Abschieds?« wollte sie wissen. »Wieviel von dem, was du träumst, entspricht der Wahrheit, was ist Wunsch?«

Narod konnte nicht sagen, was Wunsch, was Wahrheit war. Die Erinnerungen an die tatsächlichen Begebenheiten hatten sich ver-wischt, hatten der Realität des Traumes Platz gemacht. Ihn besaß er voll, und er war nicht in der Lage, der Magnidin eine Erklärung zu geben.

»Dein Alter!« rief sie aus. »Dein Zustand ist altersbedingt.« Er winkte ab.

Schatten huschten über Philippas Gesicht. Sie war Magnidin und konnte ihn nach Mög-lichkeit beschützen. Ohne sie war er verloren. Der Hauptgrund für die Unruhe, die plötzlich von ihr Besitz ergriff, war jedoch ein anderer. Sie fürchtete, daß er sich veränderte, daß er sich in seine Traumwelt flüchtete, weil ihm diese eine Welt vorgaukelte, wie er sie sich wünschte. Wahrscheinlich erkannte er das noch nicht in endgültiger Konsequenz, doch der Zeitpunkt war absehbar. Philippa hatte Angst, ihn zu verlieren.

»Deine Träume sind eine Flucht«, sagte sie. »Du kannst dich leicht von ihnen lösen.«

»Ich spüre, daß es keine Flucht ist«, erwi-derte er nachdenklich. »Ich empfinde es eher als Botschaft, als Auftrag. Mehr kann ich beim besten Willen nicht dazu sagen, und selbst das ist nur Vermutung. Ich kann es nicht deuten oder zuordnen.«

»Nicht mit deinen Erlebnissen während der Jagd in Zusammenhang bringen?«

Narod erwiderte nichts. Er strich die grüne Kombination glatt und rieb den Schmutz ab, so gut es ging. Für ein paar Augenblicke ver-schwand er in der Hygienekabine, und Philip-pa vernahm das Rauschen der Desinfektions-düsen. Als der Ahlnate wieder heraustrat, machte er einen manierlichen Eindruck.

»Es wird weitergehen, Narod. Was wird daraus entstehen? Wie oft kommen deine Träume und entziehen dich der Wirklichkeit, nehmen dir die Erinnerung an dein Leben und deine Aufgaben?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, daß es mich mitten im Dienst befällt, während Dut-zende von Brüdern und Schwestern meiner Kaste um mich herum sind.«

Bisher waren die Träume und Vorstellun-gen ohne Vorwarnung über ihn gekommen. Sie würden es vielleicht auch in Zukunft tun.

»Erzähle mir, was es war«, bat die Magni-din. »Ich werde ab sofort auf dich aufpassen und versuchen, das Schlimmste zu verhüten.«

Narod war einverstanden. Er vertraute ihr. Er würde ihr alle seine Träume berichten und mit ihrer Hilfe versuchen, die Bedeutung die-ser Ereignisse und Vorgänge für sich selbst zu ermitteln. Doch deswegen konnte er nicht einfach sein Amt vernachlässigen.

»Ich brauche Glück«, sagte er und erzählte ihr, was er geträumt hatte.

*

Der Traum: Es liegt teils daran, daß die Solaner mich

nicht verstehen, teils, daß ich sie nicht begrei-fe. Ich weiß aus all ihrem Gerede nur, daß ich jetzt in der Schiffsführung mitsprechen soll oder darf. Die emotionellen Unterschiede ih-rer Worte erreichen mich manchmal nicht so, wie ich es mir vom Translator wünsche. Dann erinnere ich mich jedesmal an unsere erste Begegnung, an meine Errettung durch ihr Schiff, als ich den Kontakt zum MODUL ver-loren hatte und dazu verdammt war, die Un-endliche Schleife allein zu vollenden.

Ich, ein Forscher der Kaiserin von Therm. Inzwischen bin ich ein Forscher für mich

selbst, der mit Hilfe der Menschen eine Ant-wort auf die Frage nach der eigenen Realität gefunden hat. Etwas wie Dankbarkeit verbin-det mich mit den Menschen, und der Entschluß, an Bord des Generationenschiffs zu verbleiben, war für mich ein Akt der eige-nen Überzeugung. Die SOL ist so völlig an-ders als das MODUL, sie ist meine zweite Heimat geworden, und ich werde sie wohl nie verlassen, aus Angst, ich könnte sie dereinst verlieren wie damals das ... MODUL. Meine Erinnerung daran wird immer lückenhafter.

»Douc Langur in die Zentrale«, meldet sich der Translator vor meinem Körper. »Es ist wichtig.«

Mag es wichtig sein, ich habe nichts dage-gen, daß ich Sprecher für alle Fremdwesen an Bord sein soll, für die Kowalleks, die Epseri-den, Phlaphla und den Theodam, die in den

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

vergangenen zwei Jahren in kleinen Gruppen oder als Einzelwesen an Bord gekommen sind, wenn unsere Beiboote ihre Welten be-suchten, um notwendige Rohstoffe einzuho-len. Längst hat sich die immer wiederkehren-de Prozedur einer Planetenlandung eingebür-gert, aber nie geht die SOL selbst nieder. In jedem Fall verharrt sie außerhalb eines Son-nensystems, dokumentiert dadurch, daß ihre Bewohner Weltraummenschen sind.

Es gibt dreißig Buhrlos! Sie werden noch durch ihre Eltern vertreten, denn sie sind zu jung.

Ich mache mich auf den Weg zur Zentrale, ein langer, mühsamer Weg, und ich spüre das Bedürfnis in mir, bald wieder eine der An-tigravkammern im Mittelteil aufzusuchen oder mich in die Antigravwabenröhre meiner HÜPFER zu begeben. Sie ruht in einem der Hangars, das alte, treue Boot. Es wird ge-pflegt, als nähme es innerhalb der SOL-Beiboote einen besonderen Rang ein. Auch die übrigen Schiffe, Space-Jets, Korvetten, Kreuzer und wie sie alle heißen, sind tech-nisch in Ordnung. Was die Terraner zunächst befürchteten, daß es in der SOL einen Rück-gang der Technik und Wissenschaft geben würde, es ist nicht eingetreten. Im Gegenteil. Die Solaner durchforschen den Leerraum wie die Besessenen, suchen fieberhaft nach einer kosmischen Antwort auf die von ihnen selbst gestellte Frage ihrer Bestimmung.

Ich betrete die Zentrale und sehe mich um. Drüben an den Hauptkontrolltafeln steht der neue Sprecher. Es ist Cleton Weisel. Gavro Yaal hat seine Position für ihn geräumt. Der Kosmobiologe vergräbt sich in seinen Labora-torien, und ab und zu, wenn ich nachts an seinem Aufenthaltsort vorbeigehe, höre ich den zarten, ergreifenden Klang dieses Musik-instruments, das sie Gitarre nennen. Nie zuvor habe ich ein solches Instrument in dieser Verwendung gesehen. Die Menschen bergen viele Überraschungen in sich.

Links in dem großen Saal steht eine Gruppe der Solaner. Hellmut, Sternfeuer, ihr Zwil-lingsbruder, Yaal und der geheimnisvolle Breiskoll. Ein paar andere sind bei ihnen, die ich nicht namentlich kenne.

»Da ist er«, sagte Joscan. »Komm zu uns her, Douc!«

Mein Gang ist ihnen noch immer unbe-greiflich, ich versuche es zu verstehen.

»Es ist wichtig!« rufe ich übermäßig laut, doch der Translator dämpft es. Und dann ver-suche ich, die wenigen Brocken in Interkosmo wiederzugeben, so deutlich, daß sie verstan-den werden.

Es gelingt. Joscan Hellmut deutet auf Bjo Breiskoll,

der eine junge Frau um die Hüfte gefaßt hält. Sie lächeln einander an, ein ermutigendes Lächeln, das etwas ausdrückt, was ich mir nicht erklären kann. Sie nennen es den »ver-liebten Blick«.

»France erwartet ein Kind von Bjo«, erklär-te Josc jetzt. »Die beiden wollen heiraten.« Ein alter Mann mit langem, dunklem Bart steht dabei und nickt freundlich. Er heißt Perg Ivory und ist der Vater des Mädchens.

Für einen Moment bin ich verwirrt. Ist das so wichtig? Da löst Bjo sich aus der Umar-mung und tritt zu mir heran.

»Es gibt einen alten Brauch, der auch in der SOL ab und zu gepflegt wird«, sagt der Kat-zer. »Es soll eine Hochzeit nach diesem alten Brauch sein. Ich möchte, daß du mein Trau-zeuge bist, Douc!«

Ich deute eine Verbeugung an, wie ich sie bei Menschen oft gesehen habe. Mehr als ein Zucken kommt nicht dabei heraus.

»Wenn ich dir damit einen Gefallen tun kann, gern«, sage ich. »Aber bedenke, ich bin ein Extraterrestrier. Ich weiß nicht, ob das rechtlich einwandfrei ist.«

»Es spielt in der SOL überhaupt keine Rol-le«, erhebt Cleton Weisel seine Stimme. »Je-der, der in diesem Schiff wohnt, hat dieselben Rechte. Sie erlöschen erst, wenn er endgültig Abschied von der SOL nimmt.«

Erfreut willige ich ein und bitte Joscan, mich in meine Verhaltensweisen einzuführen. »Ich möchte nichts falsch machen!« Er ver-steht es und nickt.

Die Hochzeit soll noch in dieser Stunde stattfinden. Bjo wartet nur auf seine Mutter und die Geschwister. Sie sind gerufen und treffen kurz darauf ein. Auch sein Vater kommt, Komty Wamman, er ist ernst und ohne Regung, ein merkwürdiger Mensch.

»Cleton wird das Zeremoniell durchführen, und es wird eine Urkunde ausgefüllt«, erklärt

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Hellmut. »Sie wird dann im Zentralarchiv aufbewahrt und kann später eine lückenlose Chronik bilden, einen Stammbaum, wenn weitere Geburten und andere Ereignisse da-zukommen.«

Ein merkwürdiges Volk, diese Menschen. Merkwürdig von meinem Standpunkt aus. Aber was soll ich als Maßstab nehmen? Sie sind nicht seltsamer als alle anderen Völker, die ich im Lauf meiner Reisen erlebt habe.

Am Eingang entsteht fröhlicher Lärm. Mehrere Solaner stürmen herein und schreien durcheinander. Ich schalte den Translator wieder ein, um sie verstehen zu können.

»Es ist ein Kind geboren mit einer völlig einhüllenden Verdickung. Eine Weiterent-wicklung. Eine neue Lebensform!«

Es dauert, bis alle begriffen haben, was gemeint ist. Dann aber ist die Hochzeit für einige Zeit vergessen, alle rennen davon, das Wunder zu bestaunen. Nur Joscan bleibt ste-hen, den Mund zu einer Frage geöffnet.

»Wundere dich nicht«, versuche ich ihm klarzumachen. »Ich habe es erwartet. Die Kinder mit den Buhrlonarben sind nur eine Vorstufe!«

Seine Augen beginnen zu strahlen, während er langsam zur Tür geht. Wie ein Schlafwand-ler. Eine Unterscheidung ist aus der Taufe gehoben. In Zukunft wird es Buhrlos und Buhrlonarbige geben, sofern man die dicken Glaswülste weiter als Narben bezeichnet.

»Ist es nicht ein schönes Hochzeitsge-schenk für die beiden?« rufe ich ihm nach.

5.

Der Mann fiel ihnen seit Tagen auf. Immer

wieder erschien er in den Bereichen des Mit-telteils, die in der Nähe der Außenhaut lagen. Es kam ihnen vor, als suche er etwas.

Sie hielten ihn für einen Spion, und er trug das blaue, weit fallende Gewand eines Ahlna-ten. Vorsichtig bewegte er sich durch die Kor-ridore, lauschte ab und zu an Türen, die zum unmittelbaren Wohnbereich der Buhrlos ge-hörten.

Die Gläsernen berieten sich und beschlos-sen, ihn zur Rede zu stellen. Sie ließen ihn in einen Seitengang hinein und versperrten ihm dann in beiden Richtungen den Weg.

Der Ahlnate erschrak nicht einmal. Fast schien er damit gerechnet zu haben. Abwar-tend blickte er ihnen entgegen. Sie waren über dreißig Stück, eine erdrückende Übermacht.

»Was willst du von uns, Mann der SO-LAG?« erkundigte Trevor Cass sich. »Bist du gekommen, die Auswahl zu treffen?«

Der Ahlnate zuckte zusammen, als fiele ihm etwas Wichtiges ein.

»Nein«, entgegnete er. »Aber ich weiß, daß die Vystiden unterwegs sind, um sechs von euch mitzunehmen. Sie sollen hingerichtet werden!«

Die Buhrlos sahen sich gegenseitig an. Sie hatten es bereits gewußt, die Nachricht war aus der Mitte des Schiffes schnell bis zu ihnen geeilt. Sie waren bereit, das Schiff sofort zu verlassen und sich dem Zugriff der Schergen zu entziehen.

»Bellog ist der neue High Sideryt, er hat den Befehl gegeben«, sagte der Ahlnate. »Er wird sich nicht umstimmen lassen.«

Die Buhrlos wurden unsicher. Sie kannten die Angehörigen der SOLAG, machten re-gelmäßig ihre Erfahrungen mit ihnen. Der hier war anders, paßte nicht recht in das Bild. Sein Auftreten war zurückhaltend, fast schüchtern. Geradezu bereitwillig hatte er ihnen die Absicht des High Sideryt kundge-tan.

»Du bist tatsächlich ein Ahlnate?« fragte Cass verwundert. »Wie heißt du?«

»Es ist besser, ihr wißt meinen Namen nicht«, sagte der Bruder der dritten Wertig-keit. »Es könnte mir und euch schaden.«

Trevor Cass bedankte sich für die War-nung. Seine Begleiter öffneten ihre Reihen und gaben ihm den Weg frei, und der Ahlnate schritt weiter. Diesmal ging er schneller und entschwand bald ihren Blicken.

»Was er wohl suchen mag?« wunderte Cass sich. »Er macht den Eindruck, als suche er ein Versteck.«

Der Ahlnate hörte seine Worte nicht mehr, er hatte sich zu weit entfernt. Mit gesenktem Kopf eilte er dahin. Er sah ein, daß er einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt hatte, einen Platz zu suchen, an dem er ungestört seinen Träumen nachhängen konnte. Wenn die Su-che der SOLAG nach sechs Buhrloführern vorbei war, ging es besser.

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Hoffentlich kommt es nicht dazu, dachte

Narod verbittert. Ich wünsche den Buhrlos, daß sie sich den Fängen der Vystiden entzie-hen können. Das Schiff ist groß. Die Gläser-nen dürfen keine zweite Monsterklasse wer-den!

Er spürte wieder den Druck im Kopf wie jedesmal, wenn er an die Solaner und die Jagd dachte. Waibnost hatte sich enttäuscht gezeigt über die Ergebnisse der Verfolgung, und Bel-log suchte fieberhaft nach Anhaltspunkten, wie er die Monster schneller und gezielter aufspüren konnte.

Narod hätte sich die Antwort geben kön-nen, er war mit der Ideologie der SOLAG vertraut. Sie ekelte ihn seit geraumer Zeit an, in der er sich immer mehr von ihr abwandte. Er sah an sich hinab auf das zerknitterte Ge-wand und fragte sich, warum er es eigentlich noch trug. Hätte er es nicht für immer gegen seine grüne Reparaturkombination vertau-schen können?

Je größer der Abstand zu seinen Erlebnis-sen um die Jagd und Skrempeleck wurde, desto mehr hatte er Schwierigkeiten, sein per-sönliches Geheimnis für sich zu behalten, nicht an die Öffentlichkeit zu treten mit sei-nen Erkenntnissen. Es war gefährlich, konnte den Tod bedeuten oder ihm auf andere Weise schwer schaden.

Er fürchtete sich nicht mehr davor. Ledig-lich die Warnung Philippas hatte sich seinem Verstand eingeprägt. Sie nahm er sich zu Her-zen, erkannte aber auch, daß sie immer stärker von dem Entsetzen verdrängt wurde, das ihn hier und da überkam, an jedem Ort, in jeder Situation in diesem Schiff. Jetzt, da er alles mit anderen Augen sah als früher.

Narod war unendlich traurig. Er hatte Mit-leid mit den Solanern, mit den Buhrlos und Halbbuhrlos und mit den Mitgliedern der SOLAG.

Ihnen die Augen zu öffnen, konnte hilfreich sein. Aber dazu brauche er weitere Träume, Erkenntnisse, wie es hätte werden können.

»Ich glaube an meine Träume«, stellte er fest. »Und an ihre Verwirklichung!«

Er mußte es unbedingt Philippa erzählen.

*

Der Traum: Es ist herrlich hier draußen. Alle achtund-

zwanzig Erwachsenen sind mit dabei. Um uns herum ist das Glitzern von vielen tausend Sternen des Kugelhaufens. Sie leuchten so hell, daß wir unsere Schatten auf der dunklen Oberfläche unserer Heimat sehen können.

Achtundzwanzig gibt es, und über fünfzig Halbbuhrlos, die uns in einer taumelnden Traube begleiten. Sie umschwirren uns, unter-stützt von den Rückstoßgeräten. Ich erkenne den Raumanzug mit den drei roten Positions-leuchten. Das ist Corun Han Buhrlo, unser Stammvater sozusagen. Er war der erste mit den Glasnarben, wurde in der Stunde Null geboren. Er fliegt um uns herum und schwenkt ständig hin und her.

»Bjo Breiskoll müßte es erleben«, sagt er uns manchmal. »Er würde euch mit seinem Geist begleiten, ohne einen Fuß durch eine der Schleusen zu setzen. Man sollte ihn we-cken. Ihn und die anderen.«

Einundzwanzig Jahre ist es her. Damals war ich noch ein kleines Kind. Gavro und die anderen Solaner der ersten Stunde hatten die Schiffsführung mit einem unglaublichen Vor-schlag überrascht.

»Wir wissen nicht, ob es immer so sein wird wie jetzt«, hatte Joscan Hellmut verkün-det. »Vielleicht gerät die SOL eines Tages in eine Gefahr, der nur wir gewachsen sind, die wir das Wissen um die Vergangenheit besit-zen, ohne es verlieren zu können. Was wird dann sein, wenn wir nicht mehr sind?«

Cleton fuhr zusammen. »Du willst unser Leben ändern?«

Sie wollten es nicht. Sie wollten ihr eigenes Leben verändern. Ihr Vorschlag schockierte die Solaner so sehr, daß Weisel ihn ablehnte. Erst nach mehreren Stunden ließ er sich über-reden, alle Solaner abstimmen zu lassen. Und danach setzte er sich schweren Herzens mit SENECA in Verbindung. SENECA richtete fünf Überlebenstanks ein, für Yaal, Hellmut, Breiskoll, Sternfeuer und Federspiel. Sie lie-ßen sich einschläfern, warten als stille Reser-ve auf den Tag X und hoffen in unser aller Sinn, daß er nie kommen möge. Irgendwann in ferner Zukunft sollen sie ohne zwingenden Grund geweckt werden.

Aus Dankbarkeit.

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Cauter Flensy rempelt mich an und streckt

mehrmals die linke Faust von sich. »Kommt!« bedeutet es, und im Licht der Sterne sehe ich, wie er mit den Augen zwinkern will. Das ist gefährlich, und ich hebe rasch zwei Finger der rechten Hand. Manchmal haben wir Schwie-rigkeiten, uns so zu verhalten, daß wir unser eigenes Leben nicht gefährden. Wenn sich die Hornwülste über seinen Augen lösen, stirbt er den Dekompressionstod.

Ich mache den Halbbuhrlos Zeichen, daß wir unseren Standort verlassen. Mit leichten Taumelbewegungen im fast vernachlässigba-ren Schwerekraftfeld unserer Heimat treiben wir über der Wandung entlang, höchstens fünfzig Meter entfernt. Die SOL ist aus dieser Perspektive ein langgezogener Schlauch mit zwei riesigen Beulen links und rechts. Die Beulen scheinen ihren Durchmesser zu verän-dern. Wir treiben der SZ-2 entgegen, sie bläht sich langsam auf, wir fühlen es richtig. Op-tisch macht es sich erst nach hundert Metern bemerkbar, und auch da nur, weil wir die Um-risse des Schiffes in diesem Kugelsternhaufen deutlich erkennen können.

Sichtkontakt ist für uns Buhrlos nicht er-forderlich. Selbst in der absoluten Finsternis zwischen den Galaxien verlieren wir nie unse-re Orientierung. Wir wissen immer, wo sich das Schiff befindet, selbst wenn kein einziges Licht zu uns herüberleuchtet. Manche Wis-senschaftler im Schiff erkennen das als eines der untrüglichen Zeichen, daß wir eine An-fangsstufe eines neuen Volkes sind, eine wei-tere Evolutionsstufe. Eines Tages werden alle so sein.

Ich kann es noch gar nicht glauben, so eu-phorisch ich auch bin. Was wird aus den alten Solanern, wenn sie eines Tages so wenige sind wie wir jetzt im Vergleich zu ihnen? Werden sie ebenso eine glückliche Minderheit darstellen?

Ich spüre, daß die Zeit unseres Vakuumauf-enthalts zu Ende geht. Corun macht mit sei-nen Lampen Zeichen, fordert uns zur Rück-kehr auf. Wir waren lange genug draußen, um den Gegebenheiten unserer Hornhaut Rech-nung zu tragen. Die Kinder warten auf uns, die Kleinen, bei denen der Entwicklungspro-zeß noch keine regelmäßige Häutung erfor-derlich macht. Erst ab dem neunten Lebens-

jahr etwa tritt er ein, sie erkennen den Zeit-punkt selbst, jeder für sich. Er kündigt sich als unwiderstehlicher Drang an. Keiner kann sich dem widersetzen, wenn er mit Gewalt zu-rückgehalten wird, führt das automatisch zu Siechtum und baldigem Tod. Bereits Yaal hat das vorausgesehen, als er die ersten gläsernen Säuglinge untersuchte. Als Kosmobiologe besaß er die Kenntnis, jedoch nicht die Erfah-rung mit uns.

Besitzt! muß ich sagen, denn er lebt ja noch.

In einer dichten Gruppe kehren wir zu einer der kleinen Mannschleusen zurück und stei-gen nacheinander ein. Hinter uns schweben Corun Han und seine Begleiter, umgeben uns als schützender Mantel. Wir haben nichts zu fürchten, und dennoch kümmern sie sich ohne Unterbrechung um unser ganzes Leben. Ihre Augen strahlen dabei. Nur manchmal, wenn sie unser Aussteigen beobachten, schimmert Trauer in ihren Augen.

Wir sind es, die uns um die Halbbuhrlos kümmern müssen. Immer wieder mache ich es den anderen klar.

Unser Schiff wird in das Zentrum des Ku-gelhaufens fliegen, auf der Suche nach Er-kenntnissen. Wir suchen Wissen über die Ent-stehung und Entwicklung von Leben in ande-ren Bereichen des Universums. Eines Tages erhoffen wir uns daraus Rückschlüsse für un-sere eigene Entwicklung. Vor allem die Neu-denker sind es, die in dieser Richtung drän-gen. Sie bilden eine kleine, aktive Gruppe aus Halbbuhrlos und einfachen Solanern und ha-ben eine große Anhängerschaft in allen Schiffsbereichen. Eine der SOL-Farmen ist kürzlich in NEU-Farm umbenannt worden.

Ich warte im Korridor hinter der Schleuse auf Corun Han. Er nimmt den Raumhelm ab und strahlt mich an.

»Esther Vijar, ich bin in deiner Nähe«, meinte er in der offenen, unkomplizierten Art, die uns allen eigen ist. »Ich gehe mit dir.«

»Ja, komm in meine Kabine, wir machen es uns gemütlich«, erwidere ich und lehne mich ein bißchen an ihn. »Es wird ein schöner Tag.«

Er beobachtet mich, wie ich mich schüttle und mit den Händen über meinen Körper rei-be. Die abgestorbenen Oberzellen der Horn-

27

ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

haut fliegen wie die Schuppen eines unsaube-ren Menschen umher und bedecken den Bo-den. Irgendwo in einer Nische wartet ein Rei-nigungsroboter darauf, sie wegsaugen zu dür-fen.

Corun Han ist mir behilflich. Es tut ihm gut, mit seinen Händen über meinen Körper streichen zu dürfen. Ein elektrischer Strom durcheilt mich dabei, ich weiß seit langem, daß Corun mir nicht gleichgültig ist. Irgend-wann werde ich ihn bitten, mit mir zusam-menzuleben.

Unsere Kinder, sie werden vollwertige Buhrlos sein. Ganz sicher.

*

Bisher war es immer gutgegangen. Jetzt

aber merkte Narod, daß er sich nicht mehr rechtzeitig zurückziehen konnte. Sein Körper krampfte sich innerlich zusammen. Er hörte plötzlich nichts mehr, und seine Augen verlo-ren ihren Glanz. Es wurde schwarz um ihn, und er kippte aus dem Sessel in der Zentrale, wo er seinen Dienst versah. Steif krachte er zu Boden, und zwei Frauen eilten herbei, um nachzusehen, was mit ihm los war.

Dazwischen gellte Genrouds Stimme: »Schmeißt ihn weg. Es hat ihn endgültig er-wischt!«

»Nein, er lebt«, erwiderte eine der Ahlna-tinnen. »Aber er ist krank. Er wird seinen Dienst nicht weiterführen können.«

»Bellog soll sich um ihn kümmern und ihn als Zeremonienmeister zu einer der Schleusen schicken, damit die Buhrlos uns nicht durch die Lappen gehen und die Ferraten einen Aufpasser haben!«

Narod nahm von alledem nichts wahr. Und doch war er nicht bewußtlos. Er lag da, völlig gelähmt, mit erstorbenen Sinnen. Sein Geist jedoch war wach, er dachte und suchte. Narod versuchte die Ursachen für seinen Zustand zu finden. Er begriff, daß es derselbe Zustand war, in dem er sich während des Schocks be-funden hatte. Dort allerdings war er bewußt-los neben das tote Mädchen gestürzt.

Er war anders, er wußte es. Sein Geist übte einen Einfluß auf den Körper aus, der sich von dem Üblichen unterschied. Er konnte es nicht mehr verheimlichen, es war zu spät.

Narod rang sich zu einem Entschluß durch, der richtungweisend für sein Leben sein konnte. Immer gewaltiger wuchs seine Über-zeugung an, daß es sich bei der Entwicklung der SOL um eine Fehlentwicklung handelte, die von niemandem gewünscht worden war, schon gar nicht von jenen, die dem Schiff damals die Unabhängigkeit gebracht hatten.

Der Weg geht immer weiter, dachte der Ahlnate. Eines Tages wird es keine Monster und Buhrlos mehr geben, und die Schlächter der SOLAG werden sich an die einfachen Solaner halten. Absolutes Chaos wird ausbre-chen, an dessen Ende auch das Ende des stol-zen Schiffes stehen wird.

Ein Bild von verbranntem Boden zuckte durch sein Gehirn und legte Kräfte in ihm frei, die er nie vermutet hätte. Heiß rann das Blut durch seine Adern, legten sich die Mus-keln um Nerven und Knochen, spannte sich sein Körper an.

Auf Gedankenbefehl normalisierte sich sein Gehör, wurde er sehend. Und er erkannte die Ratlosigkeit der Brüder und Schwestern der dritten Wertigkeit, die weiterhin seine starren Augen musterten.

»Wir sollten ihn besser in die nächste Krankenstation einliefern«, sagte ein weiterer Ahlnate, der hinzutrat. Sie wußten, daß es illusorisch war. Wer konnte schon mit Sicher-heit sagen, ob die Roboter dort noch funktio-nierten.

Narod wünschte sich weg aus der Zentrale, doch es ging nicht. Seine Geisteskraft besaß Grenzen und machte sie ihm deutlich. Dafür war er erneut in der Lage, seine Augen und Ohren abzuschalten, sich dem Wahrneh-mungsbereich zu entziehen. Auch sein Ge-ruchssinn setzte aus, und der Herzschlag ver-langsamte sich. Narod steigerte seine Kon-zentration weiter und erreichte jene gefährli-che Grenze, die Leben und Tod trennt. Ver-mutlich wäre er ohne weiteres in der Lage gewesen, einen Herzstillstand zu bewirken und sich damit jeder Verantwortung zu ent-ziehen.

Da aber war die Verantwortung in ihm, die er erkannt hatte, die ihm ein Weiterleben sinnvoll erscheinen ließ. Er stoppte den Pro-zeß ab und sank in Ohnmacht.

Wie lange sie dauerte, konnte er nicht sa-

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

gen. Als er zu sich kam, hörte er die Stimme des High Sideryt, die sich schrill nach den Monstern erkundigte. Genroud stand im Ge-spräch mit ihm, konnte ihm aber keine genau-en Auskünfte geben.

Narod erhob sich und sprang hinüber an die Kontrollen. Er schob seinen Kollegen zur Seite und baute sich vor dem Interkom auf.

»Die SOL ist auf Abwegen und droht eines Tages in der Vernichtung zu enden«, warf er Bellog vor. »Ich fordere dich auf, sofort dein Amt aufzugeben und die SOLAG aufzulösen. Ich komme hinüber in die Zentrale.«

Für einen kurzen Augenblick waren die Augen des High Sideryt voller Unglauben auf ihn gerichtet. Dann lachte Bellog, und es war ein häßliches Lachen.

»Zieht diesem Schwachkopf eins über den Schädel«, sagte er und schaltete ab.

Die Ahlnaten warfen sich auf ihn, zerrten ihn in den hintersten Winkel ihrer Zentrale und preßten ihn gegen die Wand. Genroud nahm ihm seine Waffe ab.

»Ich habe schon immer gewußt, daß mit dir etwas nicht in Ordnung ist«, zischte er. »Jetzt weiß ich auch, was. Du bist geisteskrank!«

»Idioten!« rief Narod laut aus. »Ihr seid Idioten! Seht ihr nicht, daß ich recht habe? Daß es mit der SOL ständig abwärts geht? Wenn wir die Zustände jetzt nicht ändern, wird es eines Tages zu Ende sein mit allem!«

Der Ahlnate schüttelte stumm den Kopf. Mitleidig musterte er Narod.

»Sperrt ihn ein!« ordnete er an. »Er soll sich mal tüchtig aushungern, dann sehen wir weiter. Und macht Bellog einen kurzen Be-richt. Es wäre zu empfehlen, wenn er ihn zu-sammen mit den Buhrlos liquidieren läßt!«

Sie packten Narod und zerrten ihn hinaus. Diesmal widersetzte sich der Ahlnate seinen Brüdern. Er versuchte auf sie einzureden, aber sie hörten ihm nicht zu.

Philippa! Siedendheiß überkam es ihn. Sie mußte ihm helfen. Gleichzeitig fiel ihm ein, daß er dumm gewesen war, kindhaft dumm. Er hatte sich überschätzt. Seine Überzeu-gungskraft war gleich Null.

»Du willst es mir begreiflich machen, was du denkst, aber du kannst es nicht!« hatte die Magnidin vor kurzer Zeit zu ihm gesagt. Jetzt stachen ihn die Worte wie Nadeln in seinem

Gehirn. Hast du jetzt, was du wolltest? fragte er

sich. Bist du jetzt dort, wo du sein möchtest? Dein Ziel, ein Märtyrer?

Er fühlte sich schrecklich allein. Er hatte getan, wovor Philippa ihn ständig gewarnt hatte. Und er konnte nichts mehr tun, wurde von denen eingesperrt, die bisher mit ihm zusammengearbeitet hatten. Wenn die Magnidin ihn befreite, setzte sie ihr eigenes Leben aufs Spiel.

»Laß es nicht wahr sein, was geschieht!« bebte Narod innerlich.

6.

Der Traum: Der Alarm treibt wie Fanfarenstöße durch

den Mittelteil und die beiden Kugelzellen. Ein unheimliches Schwingen bringt die Wahr-nehmungen aller Solaner durcheinander. Ich sehe einige durch Korridore wanken, andere in ihren Kabinen sich an Möbel klammern. In der Hauptzentrale herrscht die Hektik eines Mückenschwarms.

Ich muß an Perry Rhodan denken, an das, was er mir damals sagte, als er mir seine vor-letzte Anweisung gab.

»Du weißt um die Aktivatorschaltung, die dir nachträglich eingebaut worden ist. Sie soll verhindern, daß jemals einer der Aktivatorträ-ger an Bord bedroht wird«, erklärte Rhodan.

»Die Vernichtung eines Zellaktivators hätte die Vernichtung des gesamten Schiffes zur Folge«, erwiderte ich. »Deshalb muß die Be-drohung eines Aktivatorträgers verhindert werden.«

»Du wirst in Verbindung mit dieser Schal-tung alle Systeme des Schiffes mit Ausnahme der Lebenserhaltungssysteme abschalten, wenn ein solcher Fall eintreten sollte.«

»Du bist der Kommandant des Schiffes. Ab sofort tritt die Schaltung in Kraft.«

»Es ist gut«, sagte Rhodan. »Die Solaner sollen das Schiff erst erhalten, wenn ich per-sönlich aus freiem Willen die Anweisung ge-be, die Schaltung zurückzunehmen und zu löschen.«

Damals war er von dem Gedanken ausge-gangen, daß die Solaner ihre viel gepredigte Gewaltlosigkeit erst unter Beweis stellen

29

ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

mußten. Ihr Vorgehen gegen die Terraner hatte nicht danach ausgesehen.

Als hätten sie ihn sich als Vorbild genom-men, denke ich und versuche, eine absolut energetische Ausgewogenheit zwischen mei-nem positronischen und meinem biologischen Teil herzustellen. Die Balpirol-Halbleiter sind absolut zuverlässig und in Ordnung.

Ein Impuls erreicht mich, Cleton Weisel hat sich gemeldet.

»Warum gibst du Alarm, SENECA?« fragt er. »Wir können nicht erkennen, was die Ur-sache ist!«

»Es existiert eine Bedrohung in diesem Schiff. Ich habe sie noch nicht lokalisiert!«

»Solaner?« Wie kurzsichtig sie immer denken. Natür-

lich sind es keine Solaner. Im Schiff herr-schen Ausgeglichenheit und Frieden. Alle sind frohgelaunt, gehen ihren Forschungen und Arbeiten nach. Viele gehen täglich zu den Buhrlos und unterhalten sich mit ihnen. In letzter Zeit sind weniger geboren worden als zu Beginn unseres Fluges. Die Gläsernen ma-chen sich Gedanken darüber, und die Solaner trösten sie.

Meine emotionelle Plasmakomponente bringt viel Verständnis für diesen Zweig menschlicher Entwicklung auf. Sie wünschen sich, das Schiff besäße eine durchsichtige Außenhaut, so daß sie immer den Weltraum anschauen könnten. Die Neudenker unterstüt-zen sie, die noch viel verzweifelter sind, weil sich ihr Traum von der Vergeistigung nicht so schnell erfüllt, wie sie meinten.

Ich schweige zu diesen Dingen, denn ich habe eine Geheimanweisung erhalten. Jemand hat mir zu verstehen gegeben, daß ich alle Erkenntnisse bezüglich der Buhrlos und ande-rer Gruppen zurückhalten soll. Die Gläsernen sind in meinen Augen nur eine vorübergehen-de Erscheinung.

Ich kann nicht erkennen, wer mir die An-weisung gegeben hat, aber sie traf auf autori-siertem Weg bei mir ein. Vielleicht kam sie aus den Tanks, in denen die Schläfer liegen. Später werde ich mich darum kümmern.

»Im Mittelteil ist eine unbekannte Energie-form materialisiert«, stelle ich fest und sehe, wie Weisel und die Solaner erschrecken. »Deshalb der Alarm. Ich habe meine 500-

Meter-Kugel zusätzlich gesichert. Es kann sie niemand mehr betreten!«

Weisel schaltet bereits an den Kontrollen. Seine Lebensgefährtin, eine Buhrlo, hilft ihm. Er ruft alle wissenschaftlichen Stationen und die technischen Zentralen, fordert fahrbare Schutzschirmprojektoren an. Ich mische mich ein.

»Es hat keinen Sinn, ihr könnt nichts dage-gen ausrichten. Ich habe die Energieform jetzt auf meinen Ortern, ihr könnt die Positionen ablesen.«

Die Solaner erstarren. »Sie dringt soeben mühelos durch meine

Schutzschirme ein«, teile ich überflüssiger-weise mit. »Ich kann nichts dagegen ausrich-ten.«

Meine Speicher messen jetzt die ersten Abweichungen im Korsett ihrer energetischen Spannungsfelder. Die stärksten Schwankun-gen treten an den Sicherungen zwischen Po-sitronik und Bionik auf, an den Balpirol-Halbleitern. Wenn sie zerstört werden, dann ist das Schiff dem Untergang geweiht.

Die Energieform durchdringt alles in mir, aber ich spüre noch keine Änderung. Dem Prinzip der Logik folgend, kann ich nicht an einen Zufall glauben und warte auf die Aus-wirkungen.

»Bisher keine Vorkommnisse«, teile ich wahrheitsgemäß mit. Überall im Schiff ist meine Stimme zu hören.

In diesem Augenblick verstummt der Alarm, ohne daß ich einen entsprechenden Befehl gegeben oder erhalten habe.

Ein Heulen innerhalb meiner Kugel setzt ein. Es ist eine zusätzliche akustische Alarm-anlage. Sie kann nur von mir selbst in Betrieb genommen werden.

Meine Biokomponente regt sich plötzlich. Wild begehrt sie auf. Die Sicherungen an den Balpirol-Halbleitern sind eingerastet!

Die Positronik ist in Gefahr! »Höchste Alarmstufe an das Schiff! Meine

Positronik ist gestört. Es besteht Vernich-tungsgefahr!«

»SENECA!« schreit Weisel. »Sämtliche Systeme des Schiffes sind ausgefallen, ein-schließlich der Luftversorgung. Was ist ge-schehen?«

»Ich bin handlungsunfähig! Sofort das

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Schiff verlassen! Flieht mit den Beibooten. Mein Positronikteil ist von der fremden Ener-gieform beherrscht, und handelt allein!«

»Die Sicherungen, was ist damit?« Es ist die Stimme Esterhan Soeklunds. Er

weiß, worum es geht. »Eingerastet. Beide Teile getrennt. Ich wie-

derhole: Verlaßt sofort das Schiff. Es besteht Vernichtungsgefahr!«

Die Solaner benötigen lange, bis sie reagie-ren. Sie sind die alte Schule nicht gewohnt, noch nie waren sie in so großer Gefahr, daß es um ihr Leben gegangen wäre. Der Beginn der Evakuierung zieht sich hin.

»Es besteht kein Grund zur Besorgnis«, kommt es aus den Lautsprechern, es ist die Positronik.

»Was denn nun?« schreit Weisel wie von Sinnen.

Ich will noch antworten, aber es gelingt mir nicht mehr. Die Positronik hat die Leitungen zum Kommunikationssystem übernommen und die Bionikanschlüsse blockiert. Ich weiß nicht, mit welchem Gegner ich es zu tun habe.

Es muß eine Möglichkeit geben, einzugrei-fen. Ich versuche, sie zu finden. Eine Umge-hung der Sicherungen ist nicht möglich und zudem gefährlich. Ich beschließe zu warten. Vielleicht läßt der fremde Einfluß nach, es wird alles gut. Aber ich glaube es nicht. Mei-ne Emotionen sind zu geschult, im Umgang mit einer Positronik zu vertraut, als daß sie die Anzeichen falsch interpretieren würden.

*

Der Traum: Der Deckel des Überlebenstanks steht of-

fen, der Mann darin bewegt sich unkontrol-liert. Der Erweckungsvorgang dauert viel zu lange. Ich beuge mich über den Tank, mustere die Gesichtszüge Hellmuts, die sich langsam lockern. Endlich, nach Minuten bangen War-tens, schlägt er die Augen auf. Ein nichtssa-gender Blick trifft mich, erinnert mich daran, daß wir den Erweckungsvorgang ohne SE-NECAS Hilfe, völlig auf eigene Faust durch-geführt haben. Ich befürchte, daß es Fehler gegeben hat.

»Weisel!« stößt Hellmut plötzlich hervor. Er hat mich erkannt, obwohl 42 Jahre seit

seiner Einschläferung vergangen sind. Esterhan Soeklund tritt neben mich und

faßt in die flüssige Emulsion hinein, in die der Körper eingehüllt war. Eigentlich hätte sie vollständig abgepumpt werden müssen, jetzt ist die Hälfte des Tanks noch voll.

»Kannst du mich hören?« frage ich. Hell-mut nickt und versucht sich aufzurichten. Er wirft erste Blicke um sich.

»Ist etwas schiefgelaufen?« erkundigt er sich und wartet auf meine Antwort. Dann aber begreift er. »Welches Jahr schreiben wir?«

Er zieht sich am Rand des Tanks hoch und richtet sich in die Hocke auf.

»Wir leben im Jahr 3650, dem Jahr 64 der SOL«, erklärt Soeklund sofort. »Wir haben nur dich geweckt, denn unser Problem betrifft SENECA!«

»Die Biopositronik? Das ist unmöglich!« »Seit fünf Jahren ist sie beschädigt. An-

fangs hatte sie einen Totalausfall, dann be-gann sich die Situation langsam zu normali-sieren. Wir hofften immer, es würde völlig gut werden, doch wir haben uns getäuscht. Immer wieder kommt es zu Zwischenfällen, und mehr als einmal befanden sich Solaner in Lebensgefahr!«

»SENECA gefährdet Menschenleben!« Joscan Hellmut springt auf, klammert sich

schwankend an den Rand des Tanks. Ein Ro-boter rollt heran, bittet ihn, in die Kabine zu steigen, die er hinter sich herzieht. Hellmut tut es, noch unbeholfen, aber von den Nachrich-ten angestachelt. Der Roboter verabreicht ihm mehrere Injektionen, steckt ihn in die Kabine und wartet, bis Hellmut gesäubert und ange-kleidet herauskommt. Dann rollt er mit der Kabine davon.

»Eine umfassende Störung SENECAS?« ruft Josc. Noch immer kann er es nicht glau-ben.

»Komm mit in die Zentrale. Du wirst es er-leben!«

Auf unsicheren Beinen folgt er uns. Noch wirken die Injektionen nicht vollständig, und Soeklund hält sich bereit, ihn zu stützen. In der Zentrale geht Hellmut sofort auf die Kon-trollanlagen zu, er mustert die Daten, spielt Aufzeichnungen ab. Er verfolgt genau, was an jenem 4. Oktober des Jahres 3645 geschah. Er kann es nicht fassen.

31

ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Ich weiß, daß es für ihn schlimm sein muß.

Jahrzehnte hat er sich um die Biopositronik und ihre beiden Ableger gekümmert, die ir-gendwo herumlaufen und manchmal in den Zentralen der beiden SOL-Zellen zu finden sind. Nach seinem Wissen ist es unmöglich, und das Gerede von einer unbekannten Ener-gieform will er nicht akzeptieren.

»SENECA, melde dich!« sagt er. »Joscan, was gibt es? Hast du gut geschla-

fen?« Die Stimme der Biopositronik ist freundlich wie immer.

»Du hast vor fünf Jahren einen Totalausfall gehabt? Eine unbekannte Energieform? Das mußt du mir erklären!«

SENECA geht nicht darauf ein. »Das wüßte ich aber!« erklärt er und sagt keinen Ton mehr. Er schweigt auch, als Hellmut ihn nochmals anspricht und Aufklärung verlangt. Josc wirft einen hilfesuchenden Blick zu mir herüber.

Ich versuche es ebenfalls, doch die Biopo-sitronik gibt keine Antwort mehr.

»Die 500-Meter-Kugel, ist sie ...?« »Sie ist wieder zugänglich. Soeklund war

schon dort. Er hat nichts erreicht!« Wortlos wendet Hellmut sich ab. Er verläßt

die Zentrale, und ich bin sicher, daß er sich sofort auf den Weg macht. Ich bekomme Zweifel, ob es richtig war, ihn zu wecken.

Zwanzig Stunden vergehen, ohne daß wir etwas von ihm hören oder sehen. In dieser Zeit geschieht sehr viel, was er noch nicht weiß. Vielleicht kann er es von der Alpha-Zentrale aus verfolgen, falls er Zutritt erhalten hat. Er ist autorisiert.

Der Heimatpfleger erleidet in diesen Stun-den eine endgültige Niederlage. Er wollte die Situation dazu benutzen, um sich an die Macht zu bringen. Er wollte alleiniger Kom-mandeur des Schiffes werden. Bei seiner jüngsten Rede hatte er achtzig Zuhörer, die ihn obendrein verlachten. Er hat sich zurück-gezogen und sogar seine Stelle als Astronom aufgegeben.

Dafür sind die Neudenker aktiv und schlie-ßen ihre Vorbereitungen ab. Ihre Anschauung hat sich in den letzten fünf Jahren grundle-gend gewandelt. Sie haben den Gedanken an eine vergeistigte Existenz längst fallengelas-sen. Sie vertreten jetzt die Auffassung, die

Solaner müßten zu einem planetengebunde-nen Leben zurückkehren. Sie sind dabei, dies zu tun.

Die SOL fliegt in einem Orbit um eine Welt, die sie spontan Chircool nennen. Ihr Beiboot ist klar, mit dem sie und ihre Ausrüs-tung hinabgebracht werden. Fünfhundert sind es, und Douc Langur will mit ihnen ziehen.

Die Entscheidung des Fremden wundert mich nicht mehr. Von Anfang an interessierte er sich stark für die Neudenker. Er hat sie auf Schritt und Tritt verfolgt, hat ihretwegen sein Amt als Sprecher der Extras aufgegeben. Er hat ihren Gesinnungswandel erlebt, und seine Entscheidung, sie auf ihrem weiteren Weg zu begleiten, ist für mich verständlich. Wir ha-ben die HÜPFER in den Kreuzer gebracht, der den Namen HOFFNUNG trägt. Möge der Auszug dieser Minderheit Glück bedeuten für uns und die SOL.

Es gibt Stimmen, die angesichts der Stagna-tion bei den Buhrlos davon sprechen, daß un-sere einzige innere Aufgabe es sei, immer wieder auf unbewohnten Welten kleine Grup-pen abzusetzen, die sich im Lauf der Zeit zu Zivilisationen entwickeln. Ich weiß nicht, ob etwas Wahres daran ist. 64 Jahre haben wir überdauert, ohne eine endgültige Antwort auf unsere Fragen zu finden, deshalb erscheint diese Version nicht überzeugend. Sie ist durch nichts untermauert.

Noch nicht. Als Joscan Hellmut zurückkehrt, ist die

Nacht vergangen, der nächste Tag schon etli-che Stunden alt. Hellmut kommt herein, mit lächelndem Gesicht. In der Hand trägt er ei-nen Strahler.

»Das Problem ist gelöst«, berichtet er. »SENECA ist frei!«

Wir sind überrascht, niemand hat es erwar-tet.

»Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß die Positronik von einer fremden Energie durchdrungen ist, die Fehlsteuerungen und Ausfälle produziert, habe ich lange überlegt«, gibt der Kybernetiker zu. »Die rettende Idee kam mir erst in den Augenblicken letzter Ver-zweiflung!«

»Was hast du gemacht?« ruft Soeklund. Hellmut hält ihm den Strahler entgegen, wirft ihn ihm dann zu. Ich glaube nicht, daß die

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Geste eine Aufforderung sein soll.

»Ich bin in die Speichersektoren vorge-drungen und habe mit der Waffe ein paar blinde Schüsse abgegeben. Die energetische Intelligenz hat daraufhin das Schiff verlassen, das ihr zur Heimat geworden war.«

Heimat? Intelligenz? »Willst du damit sagen ...« »SENECAS Bioteil hat mir diese Beobach-

tung mitgeteilt. Ein Restimpuls nur, als sich die Sicherungen an den Balpirol-Halbleitern desaktivierten.«

Hellmut steht da, und ich trete zu ihm, drü-cke ihm die Hand.

»Bringt mich zu meinem Tank zurück«, meint er, als sei nichts geschehen. »Ich habe meine Ruhe verdient. Es ist alles in Ord-nung!« Er wendet sich an alle Anwesenden. »Solange Minderheiten freiwillig von Bord gehen und nicht, weil sie unterdrückt werden, ist alles in Ordnung!«

*

Narod eilte aufatmend durch die offene Tür

hinter Philippa her. Die Magnidin befreite ihn, sie holte ihn heraus. Er hatte sie erst an ihrer Stimme erkannt. Sie trug eine schwarze Perücke und eine Maske vor dem Gesicht. Ihr Körper steckte in der blauschwarzen Uniform eines Haematen. An ihrem Gürtel hing eine der neuen Waffen, die der ehemalige High Sideryt großzügig verschenkt hatte. In der Hand hielt die Frau einen zweiten Strahler.

Philippa versuchte alle weiblichen Merk-male ihrer üppigen Figur zu verdecken und sich das Gepräge eines Mannes zu geben. Mit weiten Schritten eilte sie Narod voran, den Kopf lauschend ausgestreckt.

Narod hatte längst die Orientierung verlo-ren. Im Halbdunkel der nächtlichen Beleuch-tung folgte er ihrem Schatten, der sie in die Tiefen des Schiffes geleitete. Über eine halbe Stunde waren sie unterwegs.

Philippa brachte Narod in ein kleines Ver-steck in den Außenbezirken des Mittelteils. Es war ein Hohlraum zwischen mehreren Repa-raturkammern. Er sah im Licht ihrer Stablam-pe, daß sie mehrere Kissen und Decken her-gebracht hatte. Ein kleines Paket mit Nahrung und Flüssigkeit lag daneben.

»Sie werden dich überall suchen«, flüsterte die Magnidin. »Warum hast du das getan? Du mußt verrückt geworden sein!«

Narod erzählte ihr, was er bisher geträumt und welche Konsequenzen er daraus gezogen hatte.

»Ich habe mich überschätzt«, gestand er. »Ich habe unüberlegt gehandelt. Nun ist es zu spät. Aber ich empfange auch ...«

Philippa unterbrach ihn zornig. Für kurze Zeit nahm sie die Maske ab.

»Sie haben dir den Ahlnatenstatus aber-kannt. Bellog hat dich zum Freiwild für alle Jäger erklärt. Kannst du dir vorstellen, in wel-che Gefahr ich mich begebe, wenn ich dir helfe? Ich kann nur unregelmäßig kommen und dich mit dem Notwendigsten versorgen. In der Nähe findest du eine Toilette, aber ich rate dir, sie nur nachts aufzusuchen!«

»Du tust so viel für mich, und ich habe es wohl nicht verdient«, seufzte Narod niederge-schlagen. »Ich werde tun, was du sagst. Aber es werden Tage kommen, in denen alles an-ders sein wird. Es gibt positive Geistesströ-mungen in diesem Schiff. Meine Mutation ermöglicht es mir, diese in mir aufzunehmen, um meine Kräfte und Fähigkeiten zu stärken. Ja, ich glaube, das ist mein Ziel, das mir vom Schicksal vorgegeben ist!« Er faßte die Magnidin zärtlich am Kopf und zog ihn zu sich heran. »Philippa, es ist mir gelungen, meine Schockzustände zu steuern. Ich kann mich erblinden und taub machen, wann ich will. Ich kann meinen Herzschlag verlangsa-men und mich in einen Zustand der Starre versetzen, über lange Zeit. Damit eröffnen sich mir ungeahnte Möglichkeiten.«

»Narod, wach auf!« Philippa rief es gefähr-lich laut. Sie zog sich die Maske über.

»Ich verstehe dich nicht mehr«, flüsterte sie dann. »Ich versuche es verzweifelt, aber es gelingt mir nicht. Was ist dein Ziel, welche Interessen verfolgst du plötzlich? Hast du Aussichten auf Erfolg?«

Der hagere Mann ließ sich zu Boden sin-ken. Aus verkniffenen Augen blinzelte er in das Licht der Lampe. Philippa drückte sie ihm in die Hand, gab ihm dann die zweite Waffe.

»Ich werde Erfolg haben, ich glaube dar-an«, erwiderte er. »Erinnerst du dich an unse-re vielen Gespräche, die wir geführt haben in

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

all den Monaten? Eines Tages wird der Erfolg kommen, und es wird auch ein Erfolg für dich sein!«

»Wenn ich bis dahin noch lebe!« »Du bist sehr jung im Vergleich mit mir.

Ich würde die Zeit in wachem Zustand wohl kaum erleben.«

»Was willst du tun?« »Warten. Immerfort warten!« Philippa stand an dem kleinen Schlupfloch,

wo sie die Wandplatte gelockert hatte. Ein kleiner Griff ermöglichte es, sie von innen zuzuziehen.

»Ich habe Angst um dich, Narod«, gestand sie. »Wenn du nicht mehr bist, habe ich den einzigen Menschen verloren, dem ich vertrau-en kann.«

»Du kommst bald wieder«, stellte der ehe-malige Ahlnate fest. »Ich werde auf dich war-ten.«

Die Wand schloß sich und ließ ihn in seiner Ungewißheit zurück. Er schaltete die Lampe aus und starrte in die undurchdringliche Dun-kelheit. Irgendwo dort war der Griff, der ihn mit dem Leben verband, aber auch mit der Gefahr des Todes. Philippa, sie hatte ihn ge-rettet, weil sie es nicht mitansehen konnte, wie er gejagt und geschunden wurde.

Die Magnidin kannte seine Träume. Sie versuchte zu verstehen, welche Konsequenzen sie für ihn hatten. Eines Tages würde sie da-hinterkommen. Sie würde ihn ganz verstehen und ihm dankbar sein. Sie würde begreifen, warum es für ihn kein Zurück gab, warum sein eigenes Leben eine untergeordnete Rolle spielte.

»Der Tag kommt!« sagte er zu sich. Dann sank er hintenüber, ohne die Nahrungsmittel angerührt zu haben.

7.

Der Traum: Die SOL fliegt wie eine Königin in das

fremde Sonnensystem ein. Sie ist von vierzig hauchdünnen Spindeln begleitet, die in hellem Violett schimmern. Es sind die letzten Schif-fe, die das Volk der Crysalen aufbringen konnte. Die restlichen haben sich mangels Energie aufgelöst.

Draußen hängen unsere Buhrlos, erfreuen

sich an den energetischen Wellen, die durch das System branden. Seit langem befinden sich die Gläsernen wieder einmal in einem Freudentaumel. Über dreißig Kinder sind in dem letzten Vierteljahr zur Welt gekommen. Sie werden vollwertige Buhrlos sein.

Die SOL ist die Rettung in letzter Not. Dunkel liegen die sechs Planeten des frem-

den Systems vor uns. Sie geben noch ein we-nig Wärme ab, erscheinen auf unseren Tastern als hellrote Kugeln mit einer langsam abneh-menden Masse. Ihre Atmosphäre haben sie längst verloren, ihre Oberflächen sind in der Weltraumkälte erstarrt.

Die kleine rote Sonne ist endgültig erlo-schen. Als flüssiger Brocken mit einer erhär-tenden Oberfläche zieht sie auf ihrer Bahn durch diese Milchstraße, die wir Rautengala-xis nennen. Es ist ein Zufall, daß wir den Not-ruf empfangen haben. Wir sind sofort hinge-flogen, denn es ist unsere Pflicht, in Not gera-tenen Völkern zu helfen. Wir sind geradezu prädestiniert dafür, denn wir haben keine Verpflichtungen, unser Flug hat kein festes Ziel.

114 Jahre sind wir nun schon unterwegs, und eines Tages werden es 228 sein und mehr. Dann wird man längst nicht mehr von einem einsamen Flug oder einer Odyssee sprechen. Es ist kein Suchen, was wir betrei-ben, sondern ein Finden da und dort.

Unsere Heimat ist mehr wert als jeder Pla-net, der in seiner gebundenen Bahn hängt und nicht fliehen kann oder bei einer Flucht un-weigerlich stirbt. Nein, die SOL, Heimat so vieler Gruppen, ist ein Symbol für die Weite des Universums und die Weite des Geistes. Denn der Geist haucht das Leben ein.

Über vierzig verschiedene Gruppen gibt es an Bord. Die Extras, die seit den ersten Jahren an Bord gekommen sind, haben sich ver-mehrt. Sie leben mitten zwischen den Sola-nern, nicht in selbstgeschaffenen Ghettos. Neben den einfachen Solanern sind sie die größte Gruppe.

In den letzten zwanzig Jahren sind auch die ersten Solaner geboren worden. Es sind Sola-ner, die sich durch körperliche Mutationen unterscheiden. Daß sie einen anderen Namen erhalten haben, ist fast alltäglich. Jede neue Erscheinung erhält einen neuen Namen. Die

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Solaner werden von den Buhrlos neugierig beäugt. Sie erinnern sich noch an das, was der Forscher Douc Langur vor fünfzig Jahren sagte, nämlich daß die Buhrlos nicht die ein-zige Entwicklung bleiben würden, genauso-wenig wie die Halbbuhrlos allein geblieben waren.

Langur ist nicht mehr im Schiff, SENECA hat die Koordinaten jenes Planeten, er kann das Schiff jederzeit hinsteuern. Doch wozu? Wenn das Schicksal es will, werden wir eines Tages wieder mit den Neudenkern zusam-mentreffen.

Die SOL hält an. Funksprüche gehen hin und her. Die Translatoren der neuen Genera-tion sind in der Lage, sich blitzschnell auf alle möglichen Varianten intelligenter Sprache einzustellen, gleich ob es sich um eine akusti-sche, eine telepathische oder anders geartete Sprache handelt. Die Crysalen sind annähernd humanoid, sie haben einen Kopf, der die Sin-nesorgane in sich trägt, auch einen Mund, der mittendrin seinen Platz hat.

Die ersten Space-Jets verlassen die Hangars und verteilen sich gleichmäßig über das Sys-tem der toten Sonne. Immer wieder treffen sie auf Schiffbrüchige, denen die Schiffe buch-stäblich unter den Füßen schwanden.

Unsere Wissenschaftler interessieren sich brennend für diese Energieschiffe, aber viel Erfolg werden sie bei Untersuchungen nicht mehr haben. Wir wissen bereits, daß sie ihre Energie aus der Sonne bezogen haben. Wir halten es für den Grund, warum dieser Stern nicht mehr existiert, und wir werden die Cry-salen danach fragen.

Die ersten der Spindeln schweben jetzt in die Hangars ein, wo wir Platz geschaffen ha-ben. Es sind grazile Raumfahrzeuge, so zer-brechlich und zart wie ihre Lenker. Sie blei-ben in der Luft ruhen, einen guten halben Me-ter über dem Boden, ihre Insassen steigen aus. Sie tragen Raumanzüge, legen diese jetzt ab. Sie wissen, daß sie das tun müssen, zum Zei-chen ihrer Friedfertigkeit. Ein kriegerisches Volk würden wir nicht aufnehmen.

Bisher haben wir im Weltall nur den Frie-den gefunden, ohne jemals in die Nähe eines Krisenherds zu gelangen. Unser planloser Flug mag die Ursache sein, manche halten es aber auch für eine Fügung des Schicksals.

Manche der Bordreligionen glauben, daß wir gelenkt werden, gesteuert von einem Finger dessen, was sie als Gott bezeichnen. Ich per-sönlich sehe nur unsere eigenen Entscheidun-gen, den Kurs zu ändern, in den Hyperraum zu gehen und wieder zurück.

Die Crysalen sind leuchtende Wesen wie ihre Schiffe. Sie besitzen ein Gesicht vorne und eines hinten. Sie wirken schüchtern, aber das ist kein Wunder. Die an die Hangars an-grenzenden Bereiche sind vollgestopft mit Solanern und Extras, die den Überlebenden ihren Gruß entbieten wollen. Es ist schwierig, überhaupt durchzukommen und sie in die vorbereiteten Hallen zu führen, wo sie erst einmal Unterkunft finden, bis sie auf Krank-heitskeime untersucht sind und in ihre Wohn-quartiere einziehen können, die bis dahin nach ihren Bedürfnissen gebaut sein werden.

»Willkommen!« verkündet der Sprecher der Schiffsführung, ein Zeltaghe. Jeder Wohnbereich des Schiffes hat einen Vertreter im Parlament der SOL, insgesamt sind es über viertausend. Aus ihnen setzt sich die Schiffs-führung zusammen, die dreißig Personen stark ist. Der Sprecher wechselt jeden Tag, und jeder Wohnbereich kann seinen Vertreter nach Belieben zurückziehen, wenn er sofort einen neuen bestimmt. Dieses System hat sich seit langem bewährt, es braucht nicht geändert zu werden. Es gewährleistet, daß alle Gruppen in Frieden und Freundschaft zusammenleben können. Tauchen einmal Probleme auf, wer-den sie ohne Gewalttätigkeit beigelegt.

Das ist, so glaube ich, eine Errungenschaft, die wir den 114 Jahren verdanken und nicht der Zeit davor. Genau weiß ich es allerdings nicht, ich müßte in den Speichern nachlesen oder mir von SENECA einen akustischen Bericht zusammenstellen lassen.

Für unsere Generationen ist wichtig, daß wir zum erstenmal ein fremdes Volk vor dem Untergang gerettet haben. Seine Überleben-den sind bei uns an Bord. Sie werden hier ausharren, sich einfügen, werden sich ver-mehren und eines Tages wieder auf eine be-wohnbare Welt auswandern. Viele haben das inzwischen getan, gerade von den Extras, die aus Neugier an Bord gekommen waren. Sie werden einen Zweig ihrer Rasse auf einer anderen Welt fortsetzen und eines Tages ver-

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

gessen, daß sie gar nicht von da stammen, sondern einst mit einem Schiff gekommen sind. Wir aber werden sie nicht vergessen. Die SOL zieht aus dem toten System hinaus und führt einen Dimetransflug durch. Sie kommt in den Randgebieten der Rautengala-xis zum Vorschein, und die Schiffsführung läßt die Fahrt vorläufig aufheben. Reglos hängt die Hantel da, während in den Hangars die letzten der bezaubernden Spindeln endgül-tig erlöschen. Die Wissenschaftler sind ent-täuscht, doch sie werden es verwinden.

Raulff Barnow

* »Nein!« Er preßte es trotzig zwischen den

Lippen hervor. Er bewegte sich zwischen ih-ren Fronten und wußte nur zu gut, daß ein Entkommen unmöglich war.

Narod war in einem Korridor zu sich ge-kommen. Sofort hatte er sich in eine Nische zurückgezogen. Er hatte keine Ahnung, wie er hierher gekommen war. In seinen Ohren rauschte das Blut. Er wollte zurückeilen, nach jenem Interkom mit der beschädigten Ver-kleidung suchen, der ihm als Hinweis auf sein Versteck diente.

Aber da war ein innerer Impuls, der ihn aufhielt.

Der ehemalige Ahlnate lauschte in sich hinein, suchte nach den Spuren jener positi-ven Geistesströmungen, die er in sich aufzu-nehmen in der Lage war. Mit ihnen wollte er seine eigenen Kräfte immer weiter aufbauen, bis er eines Tages stark genug war, daß er allen Widernissen trotzen konnte.

Er fand die Spuren nicht, lediglich einen Hauch, undeutlich und kaum faßbar. Es war nicht genug, er mußte sich in Zukunft mehr anstrengen.

Narod hörte die Stimmen, die sich ihm nä-herten. Sie kamen jetzt nicht von beiden Sei-ten. Eine der Suchgruppen hatte sich entfernt. Er löste sich aus der Nische und eilte gebückt den Korridor entlang, suchte nach Anhalts-punkten seiner Umgebung. Er befand sich in einem Lebensbereich der Buhrlos und atmete auf. Die Gläsernen waren in der Nähe, sie konnten ihm helfen.

Dann aber waren wieder die häßlichen Stimmen der SOLAG-Mitglieder in seinen Ohren, schrill und gewalttätig.

Narod tastete zum Gürtel, spürte die Waffe, die Philippa ihm gegeben hatte. Er trug sie bei sich und wußte nicht, warum. Er hatte in sei-nem Versteck geträumt, war anschließend hinausgegangen, ohne es zu realisieren.

Sein Traum hatte ihn aufgerüttelt. Er hatte die Gegenwart erreicht, das Jahr 114. Zum erstenmal besaß er direkte Vergleichsmög-lichkeiten der beiden Entwicklungen. Und immer wieder erwischte er sich dabei, daß er sich seinen Traum zur neuen Wirklichkeit machte. Dann dachte er an die Magnidin und ihre Worte. Er floh, floh aus der Realität in eine Traumwelt, die besser war.

Narod gelangte an eine Gangkreuzung und spähte vorsichtig um die Ecke. Noch immer vernahm er Stimmen hinter sich, das Getram-pel von Stiefeln, die ihm folgten. Er hatte sein Zeitgefühl verloren. Sein Chrono sagte ihm, daß es erst drei Stunden her war, daß Philippa ihn in das Versteck gebracht hatte. Ihm kam es wie eine halbe Ewigkeit vor.

Ein rauhes Lachen klang auf. »Genroud!« flüsterte Narod. »Es ist Gen-

roud!« Er bog in den Seitengang ein, der in das

Schiffsinnere führte. Der Ausgabetrakt einer Versorgungsmaschine tauchte vor ihm auf. Sie ragte in den Gang hinein und arbeitete nicht. Rasch zwängte er sich zwischen Ma-schine und Wand, zog den Strahler und stellte ihn auf höchste Lähmstufe.

Sie kamen. Er sah sie nicht, hörte nur ihre Stimmen, schätzte ihre Zahl auf zehn. Mit ihnen aber kamen positive Gedankenströme, die er deutlich empfing. Narod lief ein kalter Schauer über den Rücken.

Sie sind nicht hinter dir her, stellte er über-rascht fest. Sie haben die sechs Buhrlos ge-holt!

Er spreizte die Beine, hob den Arm mit der Waffe. Die ersten Ferraten tauchten in seinem Gesichtsfeld auf.

Narod drückte den Auslöser, hielt ihn auf Dauerfeuer. Die Ferraten gingen aufstöhnend zu Boden. Eine Waffe entlud sich, traf jedoch niemanden. Die Buhrlos warfen sich zu Bo-den, der Lähmstrahl erfaßte die Männer hinter

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ihnen. Sie kamen nicht dazu, sich zu wehren. Lediglich der Ahlnate richtete die Waffe auf den Angreifer, ließ sie dann sinken.

»Du!« stöhnte Genroud. Er hatte ihn er-kannt.

Narod lähmte den ehemaligen Kastenbru-der und sah sich um. Die Buhrlos umringten ihn.

»Du bist doch der Ahlnate, der uns gewarnt hat!« stellte einer fest. »Man hat dich aus der SOLAG ausgestoßen und jagt dich wie ein Monster!«

Narod nickte nur. Er machte ihnen schwei-gend Zeichen, sich mit ihm zurückzuziehen. Als er die Gangkreuzung erreichte, wandte er sich ab, wollte sich entfernen. Die Buhrlos ließen es nicht zu.

»Wir sind dir Dank schuldig«, sagten sie. »Was können wir für dich tun? Können wir dich verstecken?«

Ein Gedanke entstand in Narod. Er spürte die Ausstrahlung der sechs Gläsernen, emp-fand sie als stärkend. Und doch war sie ihm zu wenig.

»Ich werde euer Angebot annehmen«, er-widerte er dankbar. »Aber ich kann es nicht sofort tun. Ich werde euch aufsuchen, wenn die Stunde gekommen ist.«

Er wandte sich ab und eilte davon. Als er sich kurz umblickte, waren auch die Buhrlos verschwunden.

Narod fand den Hinweis und gelangte un-gesehen zu seinem Versteck. Er holte die Stablampe hervor und schaltete sie ein, kroch in den Hohlraum hinein.

Philippa! Sie war dagewesen. Sie hatte ihm weitere Nahrungsmittel gebracht und eine frische Kombination. Sie war außen grün und innen dunkelblau mit dem Abzeichen der Fer-raten. Eine Wendekombination zur Verklei-dung.

Immer mehr begann er die Magnidin zu schätzen. Es gehörte viel Umsicht und Ge-schick dazu, eine solche Kombination zu be-schaffen, und Philippa hatte es unter Gefähr-dung ihrer eigenen Existenz getan.

Alles für ihn, für seinen Traum. Er mußte jetzt hierbleiben und auf sie warten.

Er legte sich auf den Kissen zurecht, griff nach einem Konzentratriegel und schob ihn sich in den Mund. Er schaltete die Lampe aus,

schloß die Augen und wartete. Wartete auf den Hauch des Positiven, Zuversichtlichen. Er ahnte, daß es lange dauern würde, bis seine Kräfte vollkommen waren.

Eine endlos lange Zeit. In dieser Zeit würde er sterben oder von der SOLAG zur Strecke gebracht werden.

Blieb ihm also nur ein einziger Weg. »Ich will Sicherheit haben«, dachte er.

»Wie wird die Zukunft aussehen?« In seiner Brust meldeten sich ziehende

Schmerzen, die ihn nicht mehr losließen. Die Trennung von der Magnidin konnte Dinge auslösen, die er kaum vorauszusehen in der Lage war.

Er blieb liegen, die Hände gegen die Rip-pen gepreßt. Er wartete auf Philippa und auf den Traum.

Narod wollte auch die Zukunft träumen.

8. Der Traum: Percy hat mir den Auftrag gegeben, die

beiden SOL-Zellen abzukoppeln. Während ich mit meinen Gedankenimpulsen verfolge, wie die Motoren die schweren Sicherheits-schotte an den Verbindungsstücken zum Mit-telteil zufahren und der Countdown für die Lösung der Schraubenverbindungen und das Einsetzen der Magnetfesselprojektoren läuft, muß ich immer wieder daran denken, welche Bedeutung dieses Ereignis für uns alle hat.

Zum erstenmal greifen die Buhrlos mit starker Hand in den Ablauf der Dinge ein. Seit Monaten haben sie sich mit den Wissen-schaftlern zusammengesetzt, um unter Ausschluß der Öffentlichkeit etwas vorzube-reiten. Jetzt ist es soweit.

Ein Teil der Buhrlos verläßt das Schiff, fin-det sich in einiger Entfernung zu einem Expe-riment zusammen, das nach Aussage der Glä-sernen Antwort auf die Frage des endgültigen Weges in die Zukunft geben soll. Viel ist noch nicht bekannt über dieses Experiment, ich glaube, daß sich die Buhrlos selbst nicht sicher über seinen Ausgang sind.

Warten wir ab, was daraus entsteht. Percy verläßt die Zentrale. Der Sprecher

der Schiffsführung hat es selbst in die Hand genommen, die Gläsernen bei dem Massener-

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

eignis zu unterstützen. Er hilft auch den Sola-nern beim Anlegen ihrer manchmal exoti-schen Raumanzüge. Zum Teil sind es Einzel-anfertigungen, weil die Mutierten über starke körperliche Veränderungen verfügen. Alle Solaner verlassen das Schiff, seine drei Teile. Sie fliegen in die Nähe der Buhrlos hinüber, als gelte es, sie vor der Vernichtung zu retten.

Endrique kommt herein und löst mich ab. Die Trennung der SOL-Zellen ist abgeschlos-sen, die beiden Kugeln driften davon, warten auf die Anweisungen der Gläsernen. Ich strei-fe die SERT-Haube vom Kopf, der Haltebü-gel schwenkt automatisch nach oben. Ich ver-lasse den Sessel, den ich trotz meines hohen Alters regelmäßig innehabe, der mir nach einer späten Emotio-Ausbildung sofort zur Verfügung gestellt wurde. Ich mache Endri-que Platz. Er hat nichts zu tun, beobachtet bloß und ist für Notfälle einsatzbereit.

»Du gehst nach draußen?« fragt er. Ich ni-cke. Er streicht sich die Haare nach hinten, setzt die Haube auf. Seine Gedankenimpulse sind vorhanden, aber sie werden jetzt nicht weitergeleitet. Sie würden ein Chaos in der Positronik anrichten.

»Viel Spaß!« sagt er, aber ich bin schon draußen. Ein letzter Blick zurück auf die Bildschirme zeigt den von vielen Beiboot-lampen angestrahlten Pulk der zweitausend Gläsernen, die sich zwei Kilometer vom Mit-telteil entfernt aufhalten. Es hat sich nichts verändert dort draußen.

Kurz darauf verlasse ich in einem Flugan-zug das Schiff, hebe in der Nähe des Ring-wulstes ab und bewege mich in den freien Raum hinein. Die Buhrlos haben sich bereits vier Kilometer entfernt, sie werden weiter angestrahlt. Die SOL-Zellen flankieren sie mit eingeschalteten Schirmen.

Ich sehe viele hundert leuchtende Punkte, Solaner aus allen Bereichen, die wie ich das Experiment nicht nur vom Bildschirm aus verfolgen wollen. Sie nähern sich den Buhrlos bis auf die Höhe der Kreuzer und Korvetten, die so reglos verharren wie die Körper der Gläsernen.

Kurz darauf werden wir über Funk angeru-fen. Es ist Percy persönlich. Er hält sich in einer Schleuse auf, gibt uns die Wünsche der Buhrlos durch.

»Zieht euch zurück«, sagt er. »Euer Ab-stand zu ihnen muß mindestens drei Kilome-ter betragen.«

Aus dieser Entfernung ist nicht viel zu se-hen, ich steuere deshalb den nächstbesten Kreuzer an und gehe an Bord, finde mich in der Zentrale ein, wo die Teleoptik das Bild heranholt, als stünde das Schiff unmittelbar neben dem verschlungenen Pulk leuchtender Leiber.

Eine Viertelstunde später ist es soweit. Auf Anweisung der SOL hin erlöschen alle Scheinwerfer, und es ist dunkel in diesem Gebiet mitten im Leerraum. Nur in der Ferne schimmern vereinzelt Sterne, die darauf hin-weisen, daß wir uns am Rand einer fremden Galaxis befinden.

Zunächst geschieht überhaupt nichts, und ich beschäftige mich in Gedanken mit den anderen Gruppen an Bord. Vor einem Viertel-jahr hat uns das Volk der Crysalen verlassen, nach über vierzig Jahren haben sie einen Pla-neten gefunden, auf dem sie bleiben wollen. Wir haben ihnen alles mitgegeben, was sie brauchen, Maschinen, Häuser, sonstige Aus-rüstung. Sie werden eine Stadt bauen, werden Metalle erzeugen und vielleicht in hundert Jahren den Stand ihrer Kultur erreicht haben, den sie vor dem Erlöschen ihrer Sonne besa-ßen. Ihr Abzug hat mich ein wenig traurig gestimmt, denn sie waren uns allen mit ihrer besinnlichen, sehr gemeinschaftsbezogenen Art ans Herz gewachsen. Sie haben sehr viel getan in der SOL, und wo sie aufkreuzten, gab es immer fröhliche Gesichter.

Die Crysalen waren die Vorbilder unserer Jugend. Mit leuchtenden Augen lauschte sie ihren Erzählungen aus der Unendlichkeit. Die Kinder waren traurig, als sie gingen.

Ohne es eigentlich zu wollen, setze ich die Buhrlos mit ihnen gleich. Ich bekomme Angst um sie, glaube das Ziel ihrer Bemühungen zu erkennen.

»Da!« Jemand schreit es, verstummt dann. Der Pulk der Buhrlos beginnt zu leuchten.

Langsam glimmt er auf, wird immer heller. Eine halbe Minute verstreicht, dann schim-mert er in einem grellen Weiß. Die Intensität des Lichtes nimmt immer mehr zu. Die Schirme der SOL-Zellen verblassen daneben.

»Ortung?« frage ich. »Wo sind die Gläser-

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

nen?«

»Noch an Ort und Stelle«, wird mir geant-wortet. Ich kann außer dem Licht nichts er-kennen.

Die nachfolgenden Meldungen lassen das Schlimmste befürchten. Die Gravitation in und um die Erscheinung verändert sich. Ein enges, scharf begrenztes Feld entsteht.

»Nein, das ist nicht möglich!« ruft der Kommandant des Kreuzers aus, ein Solaner namens Grefed Mlonamier. »Ein White Ho-le!«

Die Buhrlos haben ein Weißes Loch er-zeugt! Sie sind womöglich hindurchgegangen in ein anderes Universum.

Meine Gedanken! Ich habe es befürchtet! Eine Stimme klingt in mir auf. Sie wispert

mir etwas von der Unendlichkeit vor, und ich begreife plötzlich, was da vor sich geht. Die Buhrlos sprechen mit uns und ihren Artgenos-sen, die sich im Schiff befinden. Ohne Hilfs-mittel können sie sich mit allen telepathisch in Verbindung setzen, eine geistige Brücke bil-den.

DAS IST DER ANFANG! höre ich und denke es mit. Ja, es ist der Anfang. Und die Gläsernen haben ihn gemacht.

Als ich wieder auf den Bildschirm sehe, ist das Weiße Loch verschwunden. Nur die Buhrlos sind da, und sie lösen sich aus ihrer Umklammerung, setzen sich rudernd in Rich-tung auf die Schiffszellen in Bewegung. Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber es sind auf die Zahl genau gleich viel, die zu jedem Teil hinüberschweben.

Warum mußte sich die SOL teilen? denke ich, aber die Frage spielt in meinen Augen keine Rolle. Nicht jetzt. Ungeduldig warte ich, bis der Kreuzer in den Mittelteil zurück-gekehrt ist. Ich steige aus und eile in die Zent-rale.

»Percy!« hauche ich. »Es ist wahr. Haben es alle erkannt? Unser Ziel ...«

Percy fängt meinen stürzenden Körper auf, ruft einen Medorobot zu Hilfe. Ich wehre matt ab.

»Laß es«, sage ich. »Es hat keinen Sinn. Ich spüre, daß es zu Ende geht mit mir!«

Percy beugt sich besorgt über mich, schüt-telt tadelnd den Kopf.

»Habt ihr es erkannt?« flüstere ich. »Unser

Weg war richtig. Wir haben immer gehofft. Ihr dürft es jetzt erleben. Die SOL ist dem Ziel so nahe!«

Der Medorobot jagt eine belebende Spritze in meine Venen, aber es ist nutzlos. Percy erkennt es schließlich und bettet meinen Kopf in seine Arme.

»Ja«, sagt er laut. »Alle haben es begrif-fen!« Er sieht, daß ich die Augen schließe, und drückt meinen alten Körper an sich.

»Cleton ...«, sagte er immer wieder. »Cle-ton ...«

*

Der Gegentraum: In den drei gegeneinander abgeschotteten

Schiffsteilen herrschte Aufruhr. Mehrere tau-send Solaner wurden aus ihren bisherigen Wohnbereichen vertrieben und dazu gezwun-gen, in einem Hangar in den Korvetten zu leben. Sie durften diesen Bereich nicht verlas-sen. Trotz heftiger Proteste ließ sich die Schiffsführung nicht zu einer Änderung be-wegen, obwohl sie über die Lage informiert war.

In dem Hangar gab es keine Versorgungs-anlagen, und die SOLAG kümmerte sich nicht um die Herbeischaffung von Nahrungsmit-teln. Es war ein Auszug in den Tod.

In dieser Situation griffen die Buhrlos ein. Sie rückten geschlossen gegen die Hauptzent-rale vor. Sie waren unbewaffnet, aber ent-schlossen.

»Sie werden es nicht wagen!« Amalmann II fuhr auf und drohte den Magniden mit der Faust. Nurmer wich heftig zurück und stieß mit Herravo zusammen. Er hob abwehrend die Hände.

»Wir sollten sie anhören«, sagte er. Berrester und Ramarquart traten hinzu. Sie

schoben Nurmer beiseite. »Es muß sich etwas ereignen, was die So-

laner gegen sie aufbringt«, sagten sie. »Dann haben sie mit sich selbst zu tun, und wir len-ken von unserem Problem ab. Der Hangar bleibt versiegelt, in spätestens zehn Tagen hat sich alles von selbst gelöst.«

Amalmann II nickte, seine Augen leuchte-ten auf. Er winkte die beiden Magniden zu sich in seine Klause.

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Eine halbe Stunde später befanden sich

mehrere Hundertschaften der SOLAG im Schiff unterwegs. Sie suchten geheime Lager und Verstecke auf, legten ihre Uniformen ab und vertauschten sie mit den hellgrünen Kombinationen. Dann bewaffneten sie sich mit allem, was nicht nach SOLAG aussah.

Überall entstanden Tumulte. Es kam sofort zu Gefechten zwischen Angehörigen der SO-LAG und den aggressiven Solanern. Hinter-halte wurden gelegt, Angreifer getötet. Und dann erwachten die Lautsprecher zu donnern-dem Leben.

»Die Buhrlos haben die Solaner gegen die Schiffsführung aufgewiegelt«, verkündete eine Stimme. Sie nannte die Anzahl der Op-fer. Neben etlichen Ferraten und Haematen befanden sich zwölf Vystiden und zwei Magniden unter den Opfern. Die »Solaner« hatten fünfzig Tote zu beklagen. Bildübertra-gungen bewiesen eindeutig, daß die Buhrlos tatsächlich mit Kampfhandlungen in der Nähe der Hauptzentrale beschäftigt waren.

Die Solaner gingen – zögernd erst, dann mit Nachdruck – gegen die Buhrlos vor. Die-sen halfen alle Beteuerungen nichts. Sie zo-gen sich zurück und kapselten sich einmal mehr völlig ab. Von den Solanern in den Kor-vetten sprach niemand mehr, auch die Gläser-nen wollten nichts mehr mit ihnen zu tun ha-ben. Auf dem Umweg über den Weltraum konnten sie sowieso nicht genügend Lebens-mittel herbeischaffen, um sie am Leben zu erhalten.

Ausbruch! Das war ein Wort, das sie im Mund führten, aber die Solaner glaubten ih-nen nichts mehr. Der Plan der beiden verstor-benen Magniden war aufgegangen.

Und als nach über einer Woche heimlich drei Korvetten ausgeschleust und in eine nahe Sonne gestürzt wurden, da nahm es niemand zur Kenntnis. Immer, wenn es Schwierigkei-ten gegeben hatte, war es so. Keiner machte sich darüber Gedanken. Warum auch. Keiner hatte es je anders kennengelernt.

*

Narod schrie laut auf und erwachte. Es riß

seinen Körper empor, und er stieß sich den Kopf an der niedrigen Decke des Hohlraums.

Er war in Schweiß gebadet. Der große, hagere Mann wälzte sich mühe-

voll herum. Alle Glieder schmerzten ihn, aber die Nadelstiche in seiner Brust hatten aufge-hört. In tiefen Zügen sog er Luft in die Lun-gen.

Narod hatte Angst und schaltete die Lampe ein. Er leuchtete sein Versteck ab, prüfte den Eingang. Nichts hatte sich verändert, er war allein.

Der Traum, er hatte sich gespalten! Er hatte jetzt zwei Entwicklungen geträumt, zwei zu-künftige Möglichkeiten.

Möglichkeiten? Ein Scharren und Schaben ließ ihn nach der

Waffe greifen. Er löschte das Licht. Die Wandplatte des geheimen Eingangs

bewegte sich seitwärts, ein Spalt entstand, der immer breiter wurde. Draußen lauerte ein Schatten, breit und gefährlich.

Narod rührte sich nicht, wartete, bis der Schatten die Öffnung vollständig verdunkelte und hereinkam. Der Sicherungsbügel seiner Waffe rastete aus, der Zeigefinger krümmte sich. Noch immer war die Waffe auf Läh-mung eingestellt.

Er ließ die Lampe aufblitzen. »Philippa!« stieß er hervor. Seine Stimme

klang belegt und rauh. Die Magnidin trug ihr weißes Gewand. Sie

hatte sich nicht maskiert, aber in ihrer Hand lag die goldene Waffe.

»Wo bist du gewesen?« rief sie mit verhal-tener Stimme. »Hat man dich entdeckt? Ist das Versteck bekannt?«

»Nein. Niemand kennt es. Ich weiß aller-dings nicht, wie ich von hier zu den Buhrlos gekommen bin!«

Philippa van Leeuw setzte sich neben den ehemaligen Ahlnaten und sah ihn lange an. Sie sagte kein Wort, und er hütete sich, das Schweigen zu brechen.

»Dein Traum«, begann sie schließlich. »Was ist aus ihm geworden? Träumst du noch immer?«

»Es ist schlimmer geworden«, flüsterte er ihr zu. »Laß dich anfassen!«

Er tastete nach ihrem Arm, hielt ihn fest, zog die Magnidin näher zu sich heran und legte eine Hand um ihre Taille.

»Ja«, sagte er. »Du bist real. Du bist Wirk-

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

lichkeit. Bei der SOL und allem, was wertvoll und teuer ist. Welche Zukunft ist unsere Zu-kunft?«

Er erzählte ihr von seinem Traum und dem Gegentraum, und Philippa maß ihn mit scheu-en Augen.

»Es hat sich angehört, als könntest du die wirklichen Ereignisse der Zukunft vorausse-hen«, sagte sie. »Was kann es bedeuten?«

Narod erhob sich plötzlich. Leicht nach vorn gebeugt und mit eingezogenem Kopf stand er vor ihr, und das Licht der Lampe ver-zerrte seine Gestalt zu einem Gebilde, das aus Feuer und Rauch zu bestehen schien. Der kahle Kopf spiegelte.

Narod hatte die knochigen Hände vor dem Körper gefaltet, hielt die wasserblauen Augen leuchtend auf sie gerichtet.

»Philippa!« rief er aus. »Was auch immer geschieht, Verzage nicht. Ich sehe den Weg jetzt deutlich vor mir!«

Die Worte sprudelten nur so über seine Lippen. Was der Schock der Monsterjagd in ihm ausgelöst hatte, was die Träume in immer steigendem Maß in ihm bewirkt hatten, das alles fand sich in seinem Gehirn und seinen Worten jetzt zu einem zielgerichteten Kon-zept.

»Ich bin dazu geboren, zu träumen!« stieß er atemlos hervor. »Ich erkenne klar meine Aufgabe, das Schicksal der SOL eines Tages zum Guten zu wenden. Die Zeit ist noch nicht reif, aber eines Tages wird sie für mich gear-beitet haben. Die positiven Kräfte werden stärker werden und mich unterstützen. Und dann werde ich da sein! Ich werde all meine Kraft dareinlegen, die Diktatur zu beenden und zum Wohl des Schiffes beizutragen.«

Er kniete sich vor Philippa hin, faßte ihr Gewand.

»Wer weiß, was dann sein wird, in jener Zukunft. Vielleicht gilt es, das Schiff vor ei-ner äußeren Gefahr zu retten oder seinen end-gültigen Zerfall aufzuhalten. Ich werde mir dann einen Raumanzug besorgen und die Heimat bewahren!«

Sein sonst fahles Gesicht hatte sich gerötet. Er lachte die Magnidin zuversichtlich an, und sie stimmte ihm begeistert zu.

»Endlich weiß ich, was du vorhast«, sagte sie. »Aber wirst du es erleben können?«

»Ja«, sagte Narod. »Ich kann es. Es hat kei-nen Sinn, meine Träume und die Konsequen-zen daraus in SENECA oder eine andere Po-sitronik einzugeben. Sie sind alle bewacht, ich würde mein Leben aufs Spiel setzen und müß-te damit rechnen, daß man alles wieder löscht.«

»Du tust mir weh«, sagte die Magnidin plötzlich. »Du willst mich allein lassen. Der einzige Mensch, mit dem ich reden kann, ver-läßt mich!«

»Ich bin da!« behauptete Narod. »Du bist jung. Du wirst den Tag noch erleben, an dem ich zurückkehre!«

»Auf die Dauer wird dieses Versteck ent-deckt werden!«

»Nein! Du wirst sehen, daß es nicht so ist! Ich weiß, was ich tun muß!«

Philippa zog ihn zu sich heran. Für ein paar Augenblicke lagen sie sich in den Armen, und die Magnidin küßte ihn auf den Mund. Dann erhob sie sich abrupt und strebte dem Aus-gang zu.

»Warte hier, ich muß dich nochmals spre-chen!« sagte sie. »In ein paar Stunden bin ich zurück.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Du hast mich überzeugt, es muß gehen. Weißt du, was das heißt? Zum erstenmal in deinem Le-ben verstehe ich wirklich, was du willst. Ich kenne deine Ziele und weiß, wie du sie errei-chen willst. Du wirst es schaffen. Und eines Tages ...«

Sie schlüpfte hinaus und schob die Wand-platte zu.

»Ja, ich werde es schaffen«, murmelte er und starrte die verschlossene Öffnung an. »Ich werde dort sein, wo die stärksten positi-ven Strömungen des Schiffes existieren. Mein Leben habe ich in einem Irrtum gelebt, jetzt will ich daran gehen, diesem Leben einen Sinn zu geben.«

Und er setzte sich an die Wand und träum-te.

9.

Der Traum: Keiner kann sich die Freude vorstellen, der

sie nicht selbst erlebt. Zum erstenmal in der 202 Jahre alten Geschichte der SOL schließen sich die dreihundert Verantwortlichen der

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Schiffsführung zu einem Geistesblock zu-sammen. Sie haben sich in der Hauptzentrale versammelt und sitzen in Konzentration versunken auf dem Fußboden.

Um sie herum wimmelt es von Buhrlos. Die SOL hängt ohne Fahrt im Raum, die Kon-trollen sind außer Betrieb. Niemand hat jetzt Zeit, sich um so etwas zu kümmern. Die Ses-sel an den Steueranlagen, sie sind abmontiert, um mehr Platz für die Menschen zu schaffen. Allerdings werden die Sicherheitsbestimmun-gen auch jetzt nicht außer acht gelassen. In den beiden Zentralen der SOL-Zellen läuft der übliche Schichtplan ab, sitzen die Emotionau-ten unter ihren Helmen, bereit, jederzeit ein-zugreifen und das Schiff aus einer möglichen Gefahrensituation zu fliegen.

Aber es gibt keine Gefahr weit und breit. Nichts deutet darauf hin, daß es in diesem Abschnitt des Universums Leben gibt oder jemals gegeben hat. Die Voraussetzungen sind da, und wir gehen daran, die geistige Einheit endlich zu vollziehen.

Die Gläsernen assistieren. Sie haben vor ein paar Jahrzehnten zum erstenmal so etwas ge-macht, indem sie ein Weißes Loch bildeten und damit für kurze Zeit ihre Körperlichkeit aufgaben. Jetzt soll Ähnliches entstehen, ohne daß einer der Beteiligten seinen Körper ver-liert.

Die dreihundert Solaner sind nicht mehr ansprechbar. Auch die Buhrlos schweigen. Sie übertragen die ihnen eigenen instinktiven Ahnungsfähigkeiten auf sie, die der Telepa-thie eng verwandt sind. Ein Flimmern hüllt die Gruppe nun ein, breitet sich rasch aus und erfüllt die gesamte Zentrale.

Alle werden betroffen und in den unbe-greiflichen Bann einbezogen, der ein bis jetzt einmaliges Ereignis bedeutet. In der Zukunft wird es ihn öfters geben, falls sich die Schiffs-führung aufgrund ihres persönlichen Erlebnis-ses dafür entscheidet.

Sie wissen, daß sie ein unwägbares Risiko eingehen, denn die meisten von ihnen sind keine Buhrlos und anders geartet. Es gibt Ge-fahren, die darin liegen, daß sie sich gegensei-tig ihre Gedanken öffnen und jeder in dem anderen wie in einem offenen Buch lesen wird. Geheime und erschütternde Gedanken werden es teilweise sein, die sie an sich und

den anderen erleben. Manchmal zuckt es in einem Gesicht, rea-

gieren Muskeln auf die ungeheure Belastung. Dann greift eine ausgleichende Kraft ein, be-ruhigt die Wogen und glättet sie.

Vor dem Experiment haben alle Solaner ei-ne ausführliche Zusammenfassung der bishe-rigen Geschichte ihrer Heimat zu sehen be-kommen. Der erste Flug bis zur Unabhängig-keit, dann der eigentliche Flug. Sie wissen alle, daß sich die vage Hoffnung des Beginns erfüllt hat. Die SOL flog ziellos umher, aber sie hatte dennoch ein Ziel.

Der Gedankenblock steht jetzt, und die Ge-danken der Teilnehmenden erklingen in allen, die sich im Bereich des Banns befinden. Bil-der beginnen zu strömen, durchziehen die Windungen jedes Gehirns, regen die Nerven-bahnen zu erhöhter Leistung an. Sie sehen die Harmonie des Universums, die Ruhe der Um-gebung und suchen ein neues Ziel. Sie finden viele, die sie nach und nach ansteuern wollen. Um zu helfen, um Neues zu erfahren, Wissen zu erwerben. Irgendwo in der Zukunft wartet ein Sonnensystem auf sie, das alles, was sich nähert, mit unwiderstehlicher Gewalt an sich zieht. Keine Kraft ist ihm gewachsen, und die Notrufe vieler Schiffe sind wie das Weinen von Kindern.

Hin, nur hin! Die SOL kann sie retten. Der Geistesblock ist in der Lage, jene Kraft zu beeinflussen und auszuschalten. Irgendwann.

Plötzlich wird der Bann gestört. Jemand ruft laut etwas.

»Wir haben vergessen, die Schläfer zu we-cken!«

Die Buhrlos werden unruhig, die dreihun-dert Solaner finden langsam in die Wirklich-keit zurück.

Es macht nichts. Sie wollten nur geweckt werden, wenn es dringend ist. Dennoch sind in diesen Minuten alle überzeugt, daß die Schläfer unbedingt geweckt werden müssen.

Warum auch nicht. Wir können ihnen zei-gen, was wir erreicht haben.

Auch die Schläfer werden darüber glück-lich sein.

*

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ATLAN 97 – Die Abenteuer der SOL

Der Gegentraum: Keiner konnte es sich vorstellen, der es

nicht selbst erlebte. Zum erstenmal in der lan-gen Zeit, die das Schiff irgendwohin unter-wegs war, war die SOL hilflos. Zumindest behauptete die Schiffsführung, es sei das erste Mal.

Noch schrillte der Alarm, hetzten die Kas-tenangehörigen wie aufgescheuchtes Wild durch die Korridore und Hallen, suchten ihre Einsatzzentralen auf.

»Höchste Alarmstufe!« verkündeten die Magniden über die Rundrufanlage.

Ein Rütteln ging durch das Schiff. Die Wände ächzten und knirschten, die drei Schiffsteile sträubten sich gegen die unerhörte Kraft. Dann beruhigte sich die Lage über-gangslos.

Chart Deccon erschien in der Zentrale. Der High Sideryt trug seine Rüstung aus blauen Plättchen nicht, ein Zeichen, daß er aus dem Schlaf gerissen worden war. Er hatte sich ein weißes Magnidengewand übergeworfen und starrte aus tiefliegenden, dunklen Augen auf die Bildschirme.

»Gegenschub!« dröhnte er, aber Lyta Kun-duran schüttelte den Kopf.

»Es hat keinen Sinn!« verkündete sie. »Die Zugkraft ist zu groß. Wir sollten abwarten, bis sich eine günstige Gelegenheit findet!«

Es war eine fadenscheinige Ausrede, sie wußte es. Wenn es ihnen nicht jetzt gelang, aus dem Bereich der starken Anziehung zu kommen, dann würden sie es nie schaffen.

»Wir wissen noch zu wenig über die Kraft, die dahintersteckt«, fügte Arjana Joester hin-zu.

Chart Deccon, massig und groß, gab sich in das Unvermeidliche. Sie würden einen Weg suchen, die Zugkraft auszuschalten, und sich mit den starken Waffen der SOL zur Wehr setzen.

»Die SOLAG hat bisher jede Krise gemeis-tert«, brummte er und dachte daran, wie er selbst Magnide geworden und später als Nachfolger Tineidbha Daraws das Amt des High Sideryt angetreten hatte.

Mit dieser Bemerkung ließ er die Magniden und Magnidinnen stehen und kehrte in seine Klause zurück. Er steuerte auf seinen Thron zu, wollte sich hineinsetzen, doch er taumelte

und stürzte hart auf die Knie. Wieder schüttel-te sich das Schiff, er merkte deutlich, daß es beschleunigt und kurz darauf wieder abge-bremst wurde.

Ein verteufelter Fangmechanismus, dachte er und schickte einen Fluch hinaus in den Leerraum, jenem Sonnensystem entgegen, das sie nicht mehr losließ. Sie saßen in einer Fal-le, einer regelrechten Mausefalle.

Der High Sideryt schnaufte schwer und schob seinen massigen Körper auf den Thron zu, zog sich hinein. Ein Zittern setzte ein, das sich bis in die kleinsten Fasern seines Körpers fortsetzte. Er betätigte den Kodegeber und rief SENECA.

»Was sollen wir tun?« fragte er. »Gibt es eine Möglichkeit, dem Zugstrahl zu entkom-men?«

Die Biopositronik rührte sich nicht, und Deccon schaltete wütend an dem kleinen Ge-rät. Mehrmals wiederholte er seine Frage.

»Das wüßte ich aber!« sagte SENECA end-lich. Es blieb sein einziger Kommentar, und er verunsicherte den High Sideryt weiter.

Ein Anruf aus der Zentrale lenkte ihn ab. Nurmer teilte ihm mit, daß sie einen Felsbro-cken mit knapp sechshundert Kilometer Durchmesser passierten.

»Rufe die Buhrlos in das Schiff«, sagte Deccon. »Man kann nie wissen.«

Tatsächlich setzte erneut ein Rütteln ein, die SOL machte einen Satz nach vorn, wäh-rend sie fast in Reichweite an dem Planetoi-den vorüberzog. Nochmals kam das Rütteln auf, zitterte alles in dem großen Schiff.

Deccon erschien es, als wackelten die Fun-damente seines eigenen Machtbereichs. Be-klemmung stieg in ihm empor, während er sich ausmalte, daß die Situation gefährlich für sie werden konnte, wenn die Gefahr zu lange anhielt. Er sah das Fundament einstürzen, aber mit einem kalten Lächeln wischte er das Bild hinweg.

Nein, die SOLAG war festgeschrieben auf ewigem Papier. Sie konnte Krisen aushalten.

10.

Philippa hatte sich beeilt. Als sie jedoch die

Wandplatte öffnete und in das Versteck leuch-tete, sah sie sofort, daß Narod nicht mehr da

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war. Die Lebensmittel und die Decken und Kissen waren verschwunden. Der Solaner hatte alles mitgenommen.

Die Magnidin leuchtete das Versteck aus und entdeckte den Zettel, der am Boden lag. Er war eng beschrieben, und die Handschrift war seine. Sie bückte sich rasch und hob den Zettel auf. Sie hielt ihn an ihre Lampe und las.

»Philippa! Verzeih mir, wenn ich nicht mehr da bin. Ich habe den Weg gewählt, den ich als den einzigen erkannt habe. Erinnere Dich an unser letztes Gespräch. Die Zeit drängt. Ich werde lange brauchen, um zu dem zu werden, was ich werden will. Aber eines Tages werde ich soweit sein. Dann werden wir uns wiedersehen.

Ich schreibe Dir hier meine letzten Träume auf. Sie führen in eine Zukunft, die weit vor uns liegt. Es sind zwei Entwicklungen, und Du wirst wissen, welche die wahre und wel-che die erwünschte ist. Glaube fest daran, daß es mir eines Tages gelingen wird, die Ge-schichte zu beeinflussen und alles zum Guten zu lenken. Ich werde mich mitten zwischen positiven Strömungen niederlassen, werde mich in Blindheit schlagen und taub machen. Ich werde meine Körperfunktionen auf ein Minimum herabsetzen und meinen Geist ganz für das Positive öffnen. Niemand wird mich finden, und eines Tages dann werde ich als neuer Mensch wiederkehren. Ein junger Geist in einem alten Körper.

Du sagst es immer so. Aber vielleicht wird bis dahin mein Geist reifer sein und der Alte-rungsprozeß nicht so rasch fortschreiten. Viel-leicht wirst Du dann älter sein als ich.

Philippa, ich grüße Dich. Du wirst mir feh-len und mich vermissen. Ich weiß es. Ich habe in all den Wochen das hauchdünne Band ge-spürt. Die Verhältnisse lassen es nicht zu, daß wir es enger knüpfen, daß eine Magnidin sich mit einem Ahlnaten abgibt. Glaube mir, es ist besser so. Du wirst Deinen Dienst weiterfüh-ren, und mich wird man vergessen. Außer Dir und ein paar wenigen wird sich eines Tages niemand mehr erinnern, was gewesen ist.

114, eines Tages wird man es als das wich-tigste Jahr in der Geschichte der SOL be-zeichnen.

Philippa, hüte unser Schiff. Ich bin traurig, daß es so verkommen ist. Trage Sorge, daß es

noch existiert, wenn ich zurückkehre aus mei-ner selbstgewählten Verbannung.

Lebe wohl. Du hast mir Hoffnung gegeben, ich werde Dein Bild im Herzen tragen.

Philippa, ich liebe Dich. Vergiß mich nicht. Und erschrick nicht, wenn ich nach langer

Zeit der körperlichen Ruhe nicht alle meine Sinne zurückgewinnen kann, wenn ich taub bleibe oder blind. Ich werde reden können, und das allein ist wichtig.

Noch einmal: Verzeih mir!« Die Magnidin ließ den Zettel sinken, dessen

Rückseite in kleinen, kaum lesbaren Buchsta-ben die Träume trug. Was sollte sie mit all ihrem Wissen tun?

Sie war in stärkerem Maß von ihm und sei-ner Mission überzeugt als zu Anfang. Seine Entwicklung war kein Zufall gewesen, nicht die bloße Nachwirkung eines Schocks. Die Monsterjagd hatte etwas in ihm zum Leben erweckt.

Narod war ein Mutant, und seine Kräfte würden wachsen.

»Ich verzeihe dir!« flüsterte sie kaum hör-bar. »Du mußt deinen Weg gehen. Ich darf dich nicht halten!«

Noch empfand sie die Trennung nicht so stark. Das würde erst nach ein paar Wochen kommen. In vielen einsamen Stunden würde sie der gemeinsamen Zeit nachtrauern.

»Narod, Narod!« sagte sie mit belegter Stimme. »Ich werde auf dich warten!«

Das blieb ihr als einziges. Die Hoffnung, daß er eines Tages zurückkehren würde.

Philippa steckte den Zettel tief in ihr Ge-wand und verließ das Versteck. Sie suchte ihre Kabine auf und las die Zeilen Narods immer wieder. Er hatte ihr eine Botschaft vermitteln wollen, und sie versuchte, an sie zu glauben.

Die Zukunft der SOL, würde sie so sein, wie er es sich in seinen Träumen wünschte? Ein Schiff voller Glück? Mit einem Ziel und einer Aufgabe?

Philippa beschloß zu warten. Erst in hohem Alter wollte sie den Gedanken an seine Rück-kehr aufgeben und dann dafür sorgen, daß Narods Vermächtnis wenigstens nicht verlo-renging.

Hoffnung ist etwas Positives, sagte die Magnidin sich. Das machte sie ein klein we-

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nig glücklich und half ihr über das andere hinweg.

Das Logbuch

»Narod wird nicht zurückkehren, ich glau-

be es jetzt zu wissen. Vielleicht ist es aber auch nur meinem jetzigen Zustand zu verdan-ken, daß ich das behaupte. Die in mir schlummernde, tödliche Krankheit kann jeden Augenblick zum Ausbruch kommen und mich hinwegraffen. Ich bin froh, daß es mir gelun-gen ist, die Geschichte Narods festzuhalten und in das Logbuch einzutragen. Es ist die Geschichte eines Träumers, der es möglich machen wollte, daß sein Traum eines Tages in Erfüllung gehen würde. Nun, es ist ihm ver-sagt geblieben. Der Traum verblaßt, wie mein eigenes Leben verblaßt.«

Philippa van Leeuw Breckcrown Hayes richtete sich auf und

streckte sich. Sein Rücken schmerzte, und die Augen brannten. Der High Sideryt erhob sich und ging unruhig in seiner Behausung auf und ab. Der 25. 9. 3807 war gerade fünf Stunden alt.

Philippa hatte sich getäuscht. Narod war wiedergekehrt, oder wenigstens einer, der sein Vermächtnis gekannt hatte. Mit Überzeu-gungskraft und einer überpositiven Einstel-lung zu allem hatte er in kurzer Zeit Erstaun-liches geleistet, dieser Narod II oder Skrem-peleck. Viel zu schnell war er gestorben, sie würden nie erfahren, ob er mit Narod iden-tisch gewesen war.

Breckcrown sah die rote Linie, die durch die ganze Geschichte führte und bis in die Jetztzeit reichte. Narod hatte den einzigen sinnvollen Weg gewählt, sinnvoll für die da-malige Zeit. Er hatte die Zeit für sich arbeiten lassen.

Jetzt plötzlich war er aufgetaucht. Wer hat ihn geweckt? Oder was? überlegte

der High Sideryt. Welches Ereignis war der Auslöser?

Möglicherweise die Ereignisse um das Zeit-tal oder die Nähe von Hidden-X, das sie in

diesen Tagen besonders zu fürchten hatten. Skrempelecks Prophezeiung, würde sie ein-treffen? War seine geistige Mutation so weit vorangeschritten, daß er die Zukunft der Wirklichkeit exakt bestimmen konnte?

Alles sprach dafür. Narod hatte in dem Zeitraum nach 3700 Dinge geträumt, die mit der harten Wirklichkeit der SOL überein-stimmten.

Hoffnung, hatte Philippa van Leeuw ge-schrieben, ist etwas Positives, und Breck be-gann langsam daran zu glauben. Sie würden es schaffen. Mit dem, was Skrempeleck oder Narod II in den Solanern zurückgelassen hat-te.

Noch etwas anderes beschäftigte den High Sideryt, und er rieb sich vor Erregung die Narben seines Gesichts, die die SOL-Würmer darin zurückgelassen hatten.

Die positive Geschichte der SOL, wie Na-rod sie geträumt hatte, konnte auch eine Wirk-lichkeit sein. Eine, die vielleicht noch in der Zukunft lag. Oder eine, die zu Beginn der Odyssee als eine von vielen Möglichkeiten existiert hatte, von der realen Entwicklung jedoch überholt worden war.

Wie schön wäre es gewesen. Wie wunder-voll hätte dieses Schiff im Universum wirken können. Und wie grausam war die Realität dagegen.

Atlan jagte einem Auftrag der Kosmokraten nach, befriedete Sternenreiche und Völker-schaften. Das Schiff besaß eine Aufgabe und eine Bedeutung, die die andere positive Ent-wicklung ausschloß.

Hatte es so kommen müssen? Breckcrown versuchte erst gar nicht, eine

Antwort auf diese Frage zu finden. Er ging zu seinem Bett und legte sich hin. Er schlief auf der Stelle ein, und das Gelesene und die Prob-leme des Schiffes in der Vergangenheit verblaßten, verschwanden von einem Augen-blick auf den anderen aus seinem Bewußtsein.

Philippas Hoffnung aber blieb. Sie vermit-telte ihm ein Gefühl der Behaglichkeit, und sein Schlaf war tief und fest.

ENDE

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Weiter geht es in Band 98 der Abenteuer der SOL mit:

Der Planetenwall von Kurt Mahr

Impressum: © Copyright der Originalausgabe by Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt Chefredaktion: Klaus N. Frick © Copyright der eBook-Ausgabe by readersplanet GmbH, Passau, 2008, eine Lizenzausgabe mit Genehmigung der Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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