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Einführung in die Literaturwissenschaft / W.S. 2012/13 / Wolfgang Struck Demodokos. John Flaxman (1810) Narrative Verfahren: Wie entstehen Geschichten? Erzählen ist ein grundlegender – kultur- und epo- chenübergreifender - Modus der Kommunikation. Auch wenn der Begriff im engeren Sinn an die mündliche Rede gebunden ist, lassen sich doch Charakteristika der spezifischen Form sprachlicher Mitteilung, die mit ‚Erzählen’ im allgemeinen Wortgebrauch verbunden ist, auch schriftlich und in anderen Medien realisieren. Beispiele dafür bieten Formen literarischen und filmischen Erzählens. Erzählen ist also auch medienübergreifend. Gerade aufgrund dieser Ausdehnung ist der Begriff jedoch schwer einheitlich zu definieren; es läßt sich aber fragen nach eben den Charakteristika, die den ver- schiedenen Formen von ‚Erzählen‘ gemeinsam sind. Dabei ist zugleich zu fragen nach den mögli- chen Ausdifferenzierungen des Konzepts: welche unterschiedlichen Formen des ‚Erzählens‘ gibt es, was macht sie trotzdem zu Formen des Erzählens? Narrative Verfahren ergänzen die poetischen Ver- fahren wie Reim, Metrum und Bildlichkeit. Sie stehen damit nicht im Gegensatz zu diesen; auch narrative Texte können, wie beispielsweise die Odyssee oder die Ballade Erlkönig, im Hinblick auf poetische Verfahren beschrieben werden. Sie fokus- sieren vielmehr einen anderen Aspekt literarischer (aber auch nicht-literarischer) Texte: das Erzählen von Geschichten. a): Die Odyssee Eine Art Urszene des Erzählens findet sich im 8. Buch der Odyssee, wo der Held am Hof des Königs Alkinoos zu einem Fest geladen wird, dessen Höhe- punkt der Auftritt eines Erzählers/Sängers (eines Rhapsoden) bildet: Und den geschätzten Sänger führend, nahte der Herold. Ihm war die Muse hold; sie gab ihm Gutes und Schlimmes: Nahm ihm das Licht seiner Augen und schenkte ihm süße Gesänge. [...] Aber nachdem sie sich dann am Trinken erquickt und am Essen, Trieb die Muse den Sänger, den Ruhm der Männer zu singen Aus dem Sang, dessen Ruhm den Himmel damals erreichte, Von des Odysseus Streit mit dem Peleussohne Achilleus. [...] [Odyssee, dt. von Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 1979; 8. Gesang, Vers 62ff.] Bei dem „Sang, dessen Ruhm den Himmel damals erreichte“, der hier vorgetragen wird, handelt es sich um eine Episode aus der Ilias, dem der Odyssee vorangehenden Epos. Es handelt sich um ein Geschehen, das ebenfalls der in der Odyssee erzählten Geschichte vorangeht. Wie die Odyssee selbst ist auch die Ilias eine epische Dichtung, die ein umfangreiches, komplexes Geschehen in Versen (Hexameter: 6-füßige Daktylen) präsentiert.

Narrative Verfahren: Wie entstehen Geschichten? a): Die ... · PDF file3 Kalypso in Odysseus verliebt, die nun ihre weib-lichen ebenso wie ihre göttlichen Reize aufbietet, um ihn

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Einführung in die Literaturwissenschaft / W.S. 2012/13 / Wolfgang Struck

Demodokos. John Flaxman (1810)

Narrative Verfahren: Wie entstehen Geschichten? Erzählen ist ein grundlegender – kultur- und epo-chenübergreifender - Modus der Kommunikation. Auch wenn der Begriff im engeren Sinn an die mündliche Rede gebunden ist, lassen sich doch Charakteristika der spezifischen Form sprachlicher Mitteilung, die mit ‚Erzählen’ im allgemeinen Wortgebrauch verbunden ist, auch schriftlich und in anderen Medien realisieren. Beispiele dafür bieten Formen literarischen und filmischen Erzählens. Erzählen ist also auch medienübergreifend. Gerade aufgrund dieser Ausdehnung ist der Begriff jedoch schwer einheitlich zu definieren; es läßt sich aber fragen nach eben den Charakteristika, die den ver-schiedenen Formen von ‚Erzählen‘ gemeinsam sind. Dabei ist zugleich zu fragen nach den mögli-chen Ausdifferenzierungen des Konzepts: welche unterschiedlichen Formen des ‚Erzählens‘ gibt es, was macht sie trotzdem zu Formen des Erzählens? Narrative Verfahren ergänzen die poetischen Ver-fahren wie Reim, Metrum und Bildlichkeit. Sie stehen damit nicht im Gegensatz zu diesen; auch narrative Texte können, wie beispielsweise die Odyssee oder die Ballade Erlkönig, im Hinblick auf poetische Verfahren beschrieben werden. Sie fokus-sieren vielmehr einen anderen Aspekt literarischer (aber auch nicht-literarischer) Texte: das Erzählen von Geschichten.

a): Die Odyssee Eine Art Urszene des Erzählens findet sich im 8. Buch der Odyssee, wo der Held am Hof des Königs Alkinoos zu einem Fest geladen wird, dessen Höhe-punkt der Auftritt eines Erzählers/Sängers (eines Rhapsoden) bildet: Und den geschätzten Sänger führend, nahte der Herold. Ihm war die Muse hold; sie gab ihm Gutes und Schlimmes: Nahm ihm das Licht seiner Augen und schenkte ihm süße Gesänge. [...] Aber nachdem sie sich dann am Trinken erquickt und am Essen, Trieb die Muse den Sänger, den Ruhm der Männer zu singen Aus dem Sang, dessen Ruhm den Himmel damals erreichte, Von des Odysseus Streit mit dem Peleussohne Achilleus. [...] [Odyssee, dt. von Roland Hampe, Stuttgart: Reclam 1979; 8. Gesang, Vers 62ff.] Bei dem „Sang, dessen Ruhm den Himmel damals erreichte“, der hier vorgetragen wird, handelt es sich um eine Episode aus der Ilias, dem der Odyssee vorangehenden Epos. Es handelt sich um ein Geschehen, das ebenfalls der in der Odyssee erzählten Geschichte vorangeht. Wie die Odyssee selbst ist auch die Ilias eine epische Dichtung, die ein umfangreiches, komplexes Geschehen in Versen (Hexameter: 6-füßige Daktylen) präsentiert.

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Und so kann man sich auch für die Odyssee selbst vorstellen, daß sie auf eine ähnliches Weise präsen-tiert worden ist: in einem öffentlichen Vortrag durch einen Rhapsoden, der die Verse (im Fall der Odyssee sind es immerhin 12200 Hexameter, die in 24 "Bücher" bzw. "Gesänge" unterteilt sind) in einer Art Sprechgesang rezitiert oder singt, begleitet auf einer Lyra. Gelegentlich hat man in dem blinden Sänger sogar ein Selbstportrait des Dichters der Odyssee, Homer, sehen wollen. Das ist allerdings reine Spekulation – über den Dichter der Odyssee ist praktisch nichts bekannt. Naheliegender scheint es daher, die Blindheit als rhetorische Figur zu verstehen: der Sänger ist blind für das Geschehen um ihn herum, dafür ‚sieht‘ er aber in einem übertragenen Sinne die Dinge, die die Muse ihm weist, ‚sieht‘ also mehr als alle anderen. Noch ein anderes Detail legt es jedoch nahe, in der hier dargestellten Sprechsituation einen Hinweis auf die Sprechsituation des gesamten Textes zu sehen: die Muse nämlich, die den Sänger zu seiner Darbietung befähigt, ja sogar treibt, wird bereits im ersten Vers der Odyssee in ähnlicher Weise angesprochen, einem Vers, der ebenfalls dem Erzählen selbst gewidmet ist: Nenne mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der vielfach Wurde verschlagen, seit Trojas heilige Burg er zerstörte“ [Odyssee, 1. Gesang, Vers 1f.] Entworfen wird hier eine dreistellige Konstellation:

Ich (mir) – die Muse – der Mann Das Objekt, von dem erzählt werden soll (der "Mann", seine Taten und sein Schicksal) steht hier erst an dritter Stelle, davor stehen die Instanzen des Erzählens. Dem Hinweis darauf, was erzählt wird, geht also ein Hinweis voraus, wer erzählt. Wer ‚spricht‘ hier? (1) Schon das Ich ist nicht das ‚Ich‘ eines Men-

schen, der im 8. Jh. v. Chr. gelebt hat und viel-leicht Homer geheißen hat (genauere Informa-tionen über den Verfasser der Odyssee sind kaum bekannt), sondern es ist – zugleich – Teil einer literarischen Konvention: des Prooimions, der traditionellen Eingangsformel epischer Texte, in der ein Dichter/Sänger (Rhapsode) eine Göttin der Kunst um Beistand bittet (die Musen sind Töchter des Zeus und der Titanin Mnemosyne, unter ihnen ist Kalliope –"die Schönstimmige" – die Muse des epischen Gesangs; „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus“ heißt es etwa am Beginn der Ilias).

(2) Darüber hinaus delegiert dieses Ich seine

Rede/sein Schreiben – teilweise – an die Muse.

Es spricht damit nicht als reale, empirische Person, sondern aus einer Position göttlicher Inspiration, und es verfügt damit über ein Wissen und eine Ausdruckskraft, die diejenige normaler Menschen übersteigt; eine ‚Entrealisierung‘ des Dichters, die im Genie-Begriff späterer Zeiten nachwirkt (die Genien sind eine römische Variante der Muse).

(3) Erst nachdem auf diese Weise das Aussage-

subjekt bestimmt ist, wird auch das Objekt des Erzählens benannt: der Mann Odysseus und seine Taten und Erlebnisse.

Der Erzählerals Vermittler: Illustration aus einer Handschrift des 13. Jahrhunderts (Wolfram von Eschenbach:

Willehalm) Diese Illustration eines mittelalterlichen Erzähltextes stellt den Erzähler (Mitte) zwischen die Figuren der Handlung, die demgegenüber nur schattenhaft gezeichnet sind. Wie ein Moderator präsentiert er sie dem Publikum. In der Odyssee wird der so definierte Erzähler gleich im Anschluß an das Prooimion seine Fähigkeit unter Beweis stellen, indem er von einem Ort berichtet, der menschlicher Erfahrung grundsätzlich nicht zugänglich ist: dem Götterhimmel Olymp. Hier wird gerade auf einer Versammlung der Götter über das weitere Schicksal des Odysseus beraten. Dieser befindet sich, wie wir zunächst erfahren, bereits im 8. Jahr auf der Insel Ogygia, der vorläufigen seine Fähigkeit unter Beweis stellen, indem er von einem Ort berichtet, der menschlicher Erfahrung grundsätzlich nicht zugänglich ist: dem Götterhimmel Olymp. Hier wird gerade auf einer Versammlung der Götter über das weitere Schicksal des Odysseus beraten. Dieser befindet sich, wie wir zunächst erfahren, bereits im 8. Jahr auf der Insel Ogygia, der vorläufigen Endstation einer durch immer neue Unglücke unterbrochenen Seereise, die ihn vor Troja zurück in seiner Heimat Ithaka hätte führen sollen. Auf Ogygia hat sich die Nymphe

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Kalypso in Odysseus verliebt, die nun ihre weib-lichen ebenso wie ihre göttlichen Reize aufbietet, um ihn bei sich zu halten. Auf der Götterver-sammlung faßt jedoch Zeus den Beschluß, daß Odysseus nun endlich nach Hause zurückkehren darf; und so endet diese erste ‚Szene‘ mit einer doppelten Aktion: der Götterbote Hermes wird nach Ogygia geschickt, um Kalypso zu befehlen, Odysseus ziehen zu lassen, und Athene begibt sich in Odysseus‘ Heimat Ithaka, um seine Rückkehr vorzubereiten.

Die Erzählung 'folgt' zunächst Athene und schildert in den kommenden drei Büchern die desolaten Zu-stände auf Ithaka, wo eine große Gruppe von Adli-gen Odysseus' Frau Penelope bedrängt, unter ihnen einen neuen Mann zu wählen, sowie eine Reise, die Odysseus' Sohn Telemachos auf Anraten Athenes unternimmt, um die Spur seines Vaters aufzu-nehmen und Unterstützung gegen die 'Freier' zu finden. Das 5. Buch 'springt' dann nach Ogygia, um zu schildern, wie Hermes dort ankommt und Ka-lypso die Aufforderung der Götter überbringt. Dieses Geschehen verläuft zeitgleich mit dem im 3. Buch geschilderten, es findet also ein Sprung in der Zeit zurück statt. Oder anders gesagt: zwei parallel stattfindende Handlungen werden nacheinander geschildert. Einen Überblick über den weiteren Verlauf gibt die folgende Synopse: Die Odyssee (Synopse) 1. Prooimion (Musenanruf); Götterversammlung; Odysseus, der bereits im achten Jahr auf der Insel Ogygia bei der Nymphe Kalypso ist, soll die Rück-kehr in seine Heimat Ithaka ermöglicht werden; Athenes Ermahnung an Telemachos 2. Ithaka: die Freier (d.h. der Adel Ithakas) bedrän-gen Odysseus‘ Frau Penelope, einen neuen Mann und damit Herrscher des Inselfürstentums zu wäh-len; Odysseus‘ Sohn Telemachos verläßt das Land 3. Telemachos bei König Nestor in Pylos

4. Telemachos bei König Menelaos in Lakedämon (Sparta); Ithaka: Beschluß der Freier, Odysseus‘ Sohn bei seiner Rückkehr zu töten 5. Ogygia: Odysseus bei Kalypso, Ankunft des Hermes, der die Entscheidung des Götterrats über-bringt; Bau des Floßes, Aufbruch (nach fünf Tagen), Schiffbruch (nach 18 Tagen Fahrt) 6. Odysseus bei den Phäaken: die Königstochter Nausikaa findet den am Strand schlafenden Schiff-brüchigen und bringt ihn zu ihrem Vater, König Alkinoos 7. Bei den Phäaken: freundliche Aufnahme des Odysseus 8. Bei den Phäaken: Gastmahl und Vortrag des Sän-gers (Rhapsoden) Demodokos, u.a. über den Unter-gang Trojas (Ereignisse der Ilias), darin kommt auch Odysseus vor; Tränen des Odysseus 9. Bei den Phäaken, Gastmahl: Odysseus gibt seine Identität zu erkennen und beginnt, seine Geschichte zu erzählen: - Erlebnisse bei den Kikonen, Lotophagen und

Kyklopen (Blendung des Polyphemos, durch die sich Odysseus den Zorn Poseidons zuge-zogen hat)

10. Fortsetzung von Odysseus‘ Erzählungen: - Äolos - Lästrygonen - Kirke (Zauberin, die die Gefährten Odysseus‘

in Schweine verwandelt) 11. Fortsetzung von Odysseus‘ Erzählungen: - Das Totenreich (Hades; dorthin ist Odysseus

von Kirke versetzt worden) 12. Fortsetzung von Odysseus‘ Erzählungen: - Die Sirenen - Skylla und Charybdis - Diebstahl der heiligen Rinder des Sonnengottes

Helios; daraufhin läßt Zeus das Schiff unterge-hen; Tod aller Gefährten

- Odysseus treibt 9 Tage auf dem Meer und lan-det dann auf Ogygia

13. Odysseus‘ Abfahrt von den Phäaken und An-kunft in Ithaka, von Athene als Bettler getarnt 14. Odysseus beim ‚göttlichen Sauhirten‘ Eumaios 15. Rückkehr Telemachos nach Ithaka, Athene be-wahrt ihn vor einem Hinterhalt der Freier

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16. Telemachos trifft Odysseus (der mit Eumaios ‚die Nacht verplaudert hat‘); die Freier bedrängen weiterhin Penelope und wollen Telemachos töten 17. Odysseus, immer noch als Bettler getarnt, in der Stadt/am Hof, von Freiern, Knechten und Mägden verspottet und bedroht 18. Telemachos kommt ebenfalls in die Stadt; wei-tere Konflikte mit den Freiern; Faustkampf des Odysseus mit dem Bettler Iros 19. Abend: Odysseus (unerkannt) und Penelope; Telemachos entfernt alle Waffen aus dem Saal des Palastes, den die Freier zur Nacht verlassen haben; die Amme erkennt Odysseus, als sie ihm die Füße wäscht 20. Nacht und folgender Tag: düstere Vorahnun-gen; die Freier bedrängen Penelope 21. Der Bogenkampf: Odysseus (‚Der Bettler‘) be-steht als einziger den ‚Ehetest‘ 22. Die Rache: Odysseus gibt sich zu erkennen und tötet gemeinsam mit Telemachos und Eumaios die wehrlosen Freier, die untreuen Mägde und Knechte werden hingerichtet 23. Odysseus überzeugt Penelope von seiner Iden-tität, beide verbringen gemeinsam die Nacht 24. Athene versöhnt Odysseus mit den aufständi-schen Volk, das die Ermordung der Freier (der ge-samten adligen Jugend der Insel) nicht hinnehmen will Die Synopse folgt der vergegebenen Segmentierung der Odyssee in 24 Bücher/Gesänge. Dabei zeigt sich, daß die Reihenfolge, in der das Geschehen geschildert wird, immer wieder in markanter Weise von der Chronologie, in der die geschilderten Ereingnisse stattgefunden haben, abweicht. Zwischen dem ersten und dem letzten Buch ver-gehen 40 Tage. Die Handlung der Odyssee umfaßt jedoch einen weit größeren Zeitraum, nämlich die zehn Jahre, die zwischen dem Sieg des griechischen Heeres über Troja, dem Aufbruch der Krieger Richtung Heimat und der verzögerten Rückkehr des Odysseus liegen. Die Ereignisse dieser zehn Jahre werden in langen Rückblenden in das Geschehen der letzten 40 Tage integriert. Die Erzählung folgt also nicht linear dem Zeitablauf, sondern sie bewegt sich abwechselnd vorwärts und rückwärts. Dies ergibt ein sehr viel komplexeres Verlaufsschema als es sich etwa im Drama findet Es gibt also verschiedene Möglichkeiten, eine Geschichte in ihrem zeitlichen Verlauf zu präsentieren: die

Erzählung kann der Chronologie der Ereignisse folgen, sie kann aber auch mehr oder weniger stark davon abweichen, so wie es die Odyssee tut.

Allerdings folgen auch diese Abweichungen einer eigenen Logik. Wenn etwa die Erzählung im 2. bis 4. Buch zunächst dem Weg des Telemachos folgt, dann folgt sie damit auch der Eigendynamik einer Handlung, die durch die Ankunft Athenes ausgelöst worden ist. Es wird also zunächst eine (Teil-) Ge-schichte bis zu ihrem vorläufigen Ende erzhält, bevor dann eine weitere Teilgeschichte erzählt wird. Das heißt: Geschichten ergeben sich nicht nur dar-aus, daß bestimmte Ereignisse aufeinander folgen, sondern diese Ereignisse stehen auch in systemati-schen Zusammenhängen. Aus dieser Beobachtung hat Aristoteles die eine Definition von Geschichte abgeleitet, die bis heute für Theorien des Erzählens von zentraler Bedeutung ist. b) was wird erzählt: Aristoteles’ Definition Aristoteles’ Definition findet sich in seiner Poetik unter den Stichworten ‚Handlung‘, ‚Fabel‘ und ‚Mythos‘, die alle die “Zusammenfügung der Ge-schehnisse” zu einem “Ganzen” bezeichnen, ge-nauer, zu einer “Handlung mit Anfang, Mitte und Ende” (23. Kap.): “Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürli-cherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise auf etwas anderes folgt, und zwar notwendigerweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anderes folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern müssen sich an die genannten Grundsätze halten.” (Poetik, 7. Kap.)

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“Die Fabel des Stücks ist nicht schon dann [...] eine Einheit, wenn sie sich um einen einzigen Helden dreht. Denn diesem einen stößt unendlich vieles zu, woraus keinerlei Einheit hervorgeht. So führt der eine auch vielerlei Handlungen aus, ohne daß sich daraus eine einheitliche Handlung ergibt. [Daher] müssen die Teile der Geschehnisse so zusammen-gefügt sein, daß sich das Ganze verändert und durcheinander gerät, wenn irgendein Teil umgestellt oder weggenommen wird. Denn was ohne sichtbare Folgen vorhanden sein oder fehlen kann, ist gar nicht ein Teil des Ganzen.” (Poetik, 8. Kap) Gegenüber einer Chronik, die Ereignisse in ihrer zeitlichen Abfolge aufzeichnet (die Ereignisse fol-gen aufeinander), ist die Ereinisfolge in einer Ge-schichte auf spezifische Weise motiviert (kausal-logisch, mythisch, poetisch: die Ereignisse folgen auseinander). In Weiterentwicklung von Aristote-les‘ Fabel-Begriff läßt sich die Geschichte auch be-schreiben als strukturiertes – in der Terminologie Jurij Lotmans: sekundär modellbildendes – System. Die Ereigniskette: Der König starb und dann starb die Königin ist dieser Definition zufolge keine Geschichte, sie wird dazu erst, wenn eine Motivation hinzukommt: Der König starb und dann starb aus Gram auch die Königin.

(nach Edward M. Forster, Aspects of the novel, Olando 1955)

Auch eine Ereigniskette wie Odysseus geht von zu Hause weg, ist in der Fremde (fern von der Heimat) – kehrt in die Heimat zurück ist zunächst keine Ge-schichte, sie wird es erst, indem ein Motiv für die Rückkehr existiert, also etwa das Heimweh Odys-seus‘ und die Sehnsucht nach seiner Frau. Anders gesagt: Anfang (Odysseus ist in der Fremde) und Ende (Odysseus ist wieder zuhause) stehen nicht in einer einfachen Differenz, sondern in einer bewer-teten, hierarchisierten, konzeptuellen Differenz (für die Odyssee etwa: in der Heimat ist es besser als in der Fremde). Eben diese konzeptuelle Differenz motiviert die Rückkehr. Geschichten bieten – oder suchen nach – Erklärun-gen, Rechtfertigungen, Be- und Verurteilungen, in der Regel für Veränderungen in der erzählten Welt oder der erzählten Welt als ganzer (gelegentlich auch für deren Ausbleiben). Entscheidend dabei ist die anfangs erwähnte Grundstruktur von Anfang – Mitte – Ende: mit ihr ist verbunden die Vorstellung einer konzeptuelle Differenz zwischen Anfang und Ende (diese Differenz kann sich auch so realisieren, daß am Ende der Anfangszustand wiederhergestellt ist, obwohl zwischendurch eine konstitutive Verän-

derung eingetreten ist; z.B.: warum ist der Held am Ende arm, obwohl er doch am Anfang reich war, oder warum ist ‚Hans im Glück‘ zu einem späteren Zeitpunkt arm, obwohl er doch zwischenzeitlich reich war?). Solche konzeptuellen Differenzen führen auf eine Ebene fundamentaler abstrakter Konzepte und deren Verbindung (z.B. die Verschränkung ‚arm‘ und ‚glücklich‘ vs. ‚reich’ und ‚unglücklich‘). Erzählungen sind damit Indikator ideologischer Systeme. In der Odyssee lassen sich auf diese Weise mehrere Geschichten unterscheiden, die miteinander verwo-ben sind. In erster Linie sind das die Handlungsstränge um den reisenden Odysseus und die Handlung auf Ithaka um Penelope, Telemachos und die Freier, die während der ersten 12 Bücher parallel verlaufen und erst in der zweiten Hälfte des Textes zusammengeführt werden. Eine solche Seg-mentierung erlaubt es, die Odyssee als Integration von (mindestens) zwei elementaren Handlungs-schemata zu beschreiben: - Seefahrer-Geschichte, die von der abenteuer-

lichen und gefährlichen Fahrt am Rand der be-kannten Welt handelt

- Geschichte vom heimkehrenden König, der sich seine frühere Stellung erst wieder neu erkämp-fen muß

Für die Seefahrer-Geschichte etwa läßt sich neben der konzeptuellen Differenz von Heimat und Fremde weiterhin eine Diffferenz von Gruppe und Individuum feststellen: Odysseus bricht mit seinen Gefährten auf, wobei er zwar der Anführer der Gruppe ist, aber durchaus kein allmächtiger Herrscher; vielmehr muß er immer wieder um die Kooperation der Gefährten werben und ist dabei nicht immer erfolgreich: es ist gerade die Eigen-mächtigkeit der Gefährten, die immer wieder zu Katastrophen führt). Am Ende dagegen ist Odys-seus allein: er hat die Gruppe der Gefährten einge-tauscht gegen individuelle Erfahrung. So erzählt die Odyssee auch die Geschichte einer Individuation. Zugleich erzählt sie davon, wie dieses Individuum sich bewährt gegen die mythischen Mächte, die die Natur beherrschen: erzählt wird auch die Geschichte einer Emanzipation (ein Prozeß, der sich auch auf der Ebene der Erzählperspektiven bestätigt, wenn mit Odysseus ein individueller Erzähler dem Allgemeinwissen des Rhapsoden entgegengesetzt wird, s.u.). Für die Geschichte vom heimkehrenden König läßt sich eine ähnliche Differenz feststellen: während Odysseus abwesend ist, gibt es keine klare Hierar-chie und es herrscht eine desolate Situation von Chaos und Anarchie, am Ende dagegen ein Zustand

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von Ordnung und Harmonie. Die mit äußerster Bru-talität durchgeführte Auslöschung praktische der gesamten Adelsschicht der Insel, an deren Ende Odysseus als unbestrittener – und nunmehr unbe-streitbarer – Herrscher überbleibt, würde also moti-viert – und legitimiert – durch eine wertbesetzte Differenz von Chaos und Ordnung und zugleich von Gruppe und Individuum. Legitimiert wird hier also ein spezifisches, monarchisches Herrschaftssystem. c) wer erzählt? Daß in der Odyssee die Geschichte einer Individua-tion erzählt wird, zeigt auch ein Blick auf die Orga-nisation des Erzählens, genauer: darauf, wie die dem Beginn der Handlung vorausliegenden Erei-gnisse in die Erzählung integriert werden. Zum Teil sind sie Gegenstand des Vortrags durch den Rhapsoden Demodokos, der im 8. Gesang auftritt. Die Situation auf dem Fest bildet hier einen Rah-men, in den eine Binnenerzählung eingebettet ist. Dabei wird auf eine weitere Spezifik des rhapsodi-schen Gesangs hingewiesen, die einerseits die Form des Vortrags betrifft ("gar schön nach der Ord-nung"), andererseits aber auch das, was erzählt wird: Aber nachdem sie sich dann am Trinken erquickt und am Essen, Sprach den Demodokos an der erfindungsreiche Odysseus: Weit vor den Sterblichen allen, Demodokos, muß ich dich

preisen. Dich hat die Muse gelehrt, Zeus‘ Tochter, oder Apollon; Denn gar schön nach der Ordnung besingst du das Los der

Achäer, Was sie taten und litten und wie die Achäer sich mühten, So wie selber Erlebtes oder von Zeugen Gehörtes. Doch auf, schreite nun fort, und singe des hölzernen Pferdes Schaffung, welches Epeios schuf mit Hilfe Athenes, Das mit List auf die Burg einst brachte der hehre Odyseus, Angefüllt mit Männern, die Ilion [Troja] übermannten.

[8. Gesang, Vers 484ff.] Daß der - für die Teilnehmer des Festes anonyme - Zuhörer Odysseus hier den ihm bis dahin unbe-kannten Sänger auffordern kann, ganz bestimmte Ereignisse zu berichten, deutet daraufhin, daß es keine individuelle Erfindung ist, was hier Gegen-stand des 'Sanges' wird, sondern ein prinzipiell allen zugängliches Wissen, und daß die Leistung des Sängers vor allem darin besteht, dieses Wissen in die richtige "Ordnung" zu bringen. Die Szene verweist damit auf eine Funktion der epischen Dichtung in Kulturen, die keine Schrift besitzen (wie die griechische zu der Zeit, als die geschilder-ten Ereignisse stattgefunden haben, etwa 1200 v. Chr.): sie bewahrt die Erinnerung an Ereignisse, die für die gesamte Gesellschaft von Bedeutung sind. Vor allem der Vers verleiht der Erzählung von solchen Ereignissen eine relativ feste Form. So können auch längere Text memoriert, auswendig gelernt, immer wieder reproduziert und schließlich

an die Rhapsoden der folgenden Generation weiter-gegeben werden. Die Odyssee setzt dem Gesang des Rhapsoden De-modokos jedoch einen anderen Vortrag an die Seite. Als der Sänger nämlich gebeten wird, auch vom weiteren Schicksal des Odysseus nach der Abreise aus dem besiegten Troja zu berichten, kann dieser keine Auskunft geben. Er 'weiß' nur, was die längst in die Heimat zurückgekehrten Griechen berichtet haben; von diesen waren Odysseus und seine Gefährten jedoch gleich nach der Abfahrt von Troja getrennt worden, und sie sind bis zu dem Tag des Festes verschollen geblieben. Nun aber gibt Odysseus sich zu erkennen, und in den folgenden Gesängen berichtet er selbst von dem, was er seit seiner Trennung von den anderen Griechen erlebt hat. Auch hier wird also eine privilegierte Position des Erzählers konstruiert, aber sie beruht nicht mehr darauf, daß er von den Musen inspiriert worden wäre, sondern daß er etwas berichtet, das nur er allein wissen kann, weil nur er es erlebt hat. Hier werden also zwei Erzähler einander gegenübergestellt, die auf unterschiedliche Weise privilegiert sind: (a) durch (göttliche) Inspiration (b) durch individuelle Erfahrung Entsprechend lassen sich zwei Aspekte des Erzäh-lens unterscheiden: (a) Erzählen als Kunst (d.h. als aufgrund poetischer Verfahren organisierte Form) (b) Erzählen als Mitteilung (Kommunikation) d) Die Ebenen des narrativen Textes Aus der dreistelligen Konstellation „Ich – die Muse – der Mann“, mit der die Odyssee beginnt, lassen sich drei Fragen ableiten, die an jede Erzählung gestellt werden können: wer erzählt, wie wird er-zählt und was wird erzählt. Während die ersten beiden Fragen neben der expliziten oder impliziten Erzählfigur auch die Organisation des Zeitablaufs sowie Fragen nach der sprachlichen Form (so ist etwa das, was erzählt wird, zumindest bis zu einem gewissen Grad davon unabhängig, ob es in griechi-scher oder deutscher Sprache formuliert ist, oder ob es in Hexameter-Versen oder in Prosa präsentiert wird) und nach der medialen Vermittlung (bei-spielsweise mündlicher Vortrag oder schriftlicher Text) umfassen, betrifft die dritte Frage die Ge-schichte im Sinne Aristoteles’, also die Frage nach relevanten Ereignissen, Anfang, Mitte und Schluß sowie nach konstitutiven Differenzen.

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Grundsätzlich ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen des Erzählens zu unterscheiden; zunächst: - das Erzählte, die Geschichte selbst (was wird

erzählt: histoire) - das Erzählen (oder allgemeiner: die Vermitt-

lung) der Geschichte (wie wird erzählt, wer erzählt: discours)

Beide Ebenen lassen sich weiter differenzieren, so gehört zur Ebene des Erzählens insbesondere die Frage, wer erzählt; bei der Analyse des Erzählten läßt sich eine dynamische Ebene der Ereignisse von einer statischen Ebene allgemeiner Regeln, Gesetze etc. (abstrakte Konzepte) unterscheiden.

Ebene 0 Ebene 1 Ebene 2

Geschehen/Geschehensmomente ungeordnete, sinnindifferente Menge von Ereignissen

abstrakte Konzepte nicht-zeitliche (achronische) Ordnungsschemata (Anschauungen, Überzeugungen, Wertvorstellungen, Personen- und Handlungsschemata, historische Konzepte, z.B. Epochenmuster); häufig in Oppositionspaaren auszudrücken

+ chronologische Ordnung [Chronik; Aristoteles: Ereignisse folgen aufeinander] + Selektion + Kombination: motivierte Folge einander zugeordneter Ereignisse [Aristoteles: Ereignisse folgen auseinander] + konzeptuelle Differenz (spezifische Spannung zwischen Anfang und Ende; Geschichte als Interpretation dieser Veränderung) + Konfiguration + Zuordnung semantischer Räume

Geschichte / histoire (was wird erzählt: Menge der abstrahierbaren Ereignisse in ihrer (chrono-) logischen und konzeptuellen Ordnung

+ (Um-) Organisation der Abfolge / Arragement + Perspektivierung (Erzählinstanz als Vermittlung) + poetische Verfahren (Sprache, Metrum, Vers/Prosa, Bildlichkeit/Uneigentlichkeit) + mediale Realisation (Mündlichkeit/Schriftlichkeit, Literatur, Film, Theater... [Selektion und Kombination möglicher narrativer, poetischer, rhetorischer Verfahren: wie wird die Geschichte ‚erzählt‘]

Text / discours (in seiner medial realisierten Form, also als geschriebener/gedruckter Text, als Rezitation, als rhapsodischer Gesang, als Hörspiel, als Film ...), wie wird erzählt, wer spricht?

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Bei den Ebenen 0 und 1 handelt es sich um Ab-straktionen, die aus den jeweiligen, konkret reali-sierten Texten rekonstruiert werden, d.h. Aus-gangspunkt für Literaturwissenschaft sind die vor-liegenden Texte. Der Rückgang auf die elementa-reren (‚tieferen‘) Ebenen stellt Kriterien der Text-beschreibung zur Verfügung und liefet wertvolle heuristische Hinweise zur Analyse und Interpreta-tion (zum Verstehen des Textes; so stellt etwa der Versuch, zentrale abstrakte Konzepte zu isolieren, bereits einen wesentlichen Interpretationsschritt dar). Es geht also darum, den schrittweisen Aufbau eines Textes aufgrund einer ihm zugrundeliegenden Erzählgrammatik nachzuvollziehen. Ziel ist es dabei zunächst, einen gegebenen Text so weit zu abstrahieren, daß die ‚hinter‘ ihm verborgenen Konzepte und die ihm zugrundeliegenden elemen-taren Erzählstrukturen (-muster, -schemata) er-kennbar werden. Das macht Texte untereinander vergleichbar und erlaubt Aussagen über die – häu-fig unbewußten – kulturellen Überzeugungen, Äng-ste, Hoffnungen, Wünsche, Ideologien, die darauf Einfluß haben, wie Geschehensmomente zu Ge-schichten verbunden werden. Demgegenüber geht es bei der Analyse des dis-cours gerade um die Verfahren, die – in ihrer je-weiligen Kombination – die Individualität dieses einen, bestimmten Textes ausmachen. Auch dazu haben Erzähltheorien eine Reihe von Kriterien entwickelt. Die im folgenden aufgelisteten Katego-rien überschneiden sich teilweise, sie sind nicht klar voneinander abgrenzbar und hierarchisierbar. Sie liefern jedoch ein Arsenal heuristischer (also vor-läufiger) Fragen, mit denen die Eigentümlichkeit eines Textes deskriptiv zu erfassen ist (wobei je-weils zu prüfen ist, welche Fragen sinnvoll an den jeweiligen Text zu stellen sind und welche Funk-tion die jeweiligen Kriterien für die Textbedeutung haben). Sie erlauben es, den bisher im Blick auf poetische Verfahren erstellten Fragekatalog im Hinblick auf narrative Verfahren zu erweitern: Kategorien zur Analyse der histoire: was wird erzählt? Die unter Berücksichtigung der discours-Ebene rekonstruierte Geschichte (die ‚besprochene Welt‘) ist dann in zunehmender Abstraktion zu analysieren im Hinblick auf Kriterien wie: • Konfiguration (welche Figuren tauchen auf,

welche Merkmale zeichnen sie jeweils aus, welche Figurengruppen lassen sich bilden, welches Relationengefüge läßt sich feststel-len?)

• Selektion und Kombination von Geschehens-

momenten (welches Geschehen ist relevant, welches weniger relevant?)

• konzeptuelle Differenzen - Anfangs- und Endpunkt - relevante Veränderungen / Ereignisse - weitere relevante Situationen und Erei-

gnisse

• welche Motivationen vermitteln zwischen den einzelnen Geschehensmomenten? E. M. Forster gibt folgendes Beispiel: "Der König starb und dann starb die Königin": hier handelt es sich um keine Geschichte, da die Ereignisse ledig-lich aufeinander folgen; "Der König starb und dann starb aus Gram die Königin": hier liegt eine Motivation vor, die Ereignisse folgen aus-einander, also handelt es sich um eine Ge-schichte

• semantische Räume (welche semantischen

Eigenschaften werden topographischen Räu-men zugeordnet, wie sieht das Raum-Modell der erzählten Welt aus, welche Grenzen sind erkennbar, wo finden Grenzüberschreitungen statt?)

• abstrakte Konzepte (welche – häufig in

Oppositionspaaren formulierbaren – Gesetze Normen und Werte charakterisieren die darge-stellte Welt?)

Mögliche/relevante Kategorien zur Analyse des discours: wie wird erzält? • Sprachliche Strukturen; rhetorische und stilisti-

sche Aspekte • Temporale Strukturen:

• Umstellung der Ereignisfolge • Verhältnis von erzählter Zeit und Erzähl-

zeit (vorher - gleichzeitig - nachher) • ‘Erzählgeschwindigkeit’: zeitdehnend -

zeitdeckend - zeitraffend • Erzählweise (berichtend - szenisch) wer erzählt? • Sprechsituation: Verhältnis von Sprechsitua-

tion und besprochener Situation • Sprecher (lassen sich biologische, soziale,

psychische, ethische Kriterien finden, gibt es Informationen über Alter, Geschlecht, Bildung, soziale Stellung, Beruf, Aussehen etc.?)

• Adressaten / Verhältnis Sprecher-Adressat • wohlwollendes oder skeptisches Publikum • Lehrer-Schüler-Verhältnis • Verteidigungsrede vor Gericht u.s.w.

• gibt es Sprecher-/Adressatenwechsel? • gibt es verschiedene Erzählebenen (Rahmen-

und Binnenhandlung)? wie ist ihre Beziehung zueinander?

• Zeit und Ort der Äußerung • Verhältnis von Sprecher und Adressat

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• Verhältnis von Sprechsituation und besproche-ner Situation • vorher – nachher • Anteil der Sprechsituation an der bespro-

chenen Situation • Verhältnis von Sprecher und Besprochenem

• Beteiligtsein oder Neutralität; Grad der In-formiertheit)

• Motivation und Funktion des Sprechaktes • Modalitäten des Sprechaktes

• Medium, Texttyp, Kode • welche Größen des Sprechaktes werden fokus-

siert? Die Frage, wer erzählt, kann von entscheidender Bedeutung sein, da die ganze erzählte Welt sich im Akt des Erzählens konstituiert. Man bezeichnet diesen Konstitutionsprozeß auch als Diegese und unterscheidet entsprechend die extradiegetische Welt (die Welt, in der erzählt wird: Sprechsituation) von der inner- oder intradiegetischen Welt (die Welt, über die erzählt wird, oder genauer: die er-zählt wird, d.h. im Akt des Erzählens entsteht). Die Unterscheidung von diegetischer und mimetischer Form der Darstellung, oder von Diegesis und Mimesis geht zurück auf Platon (Der Staat, 387-367 v. Chr.). Mimesis: Illusion einer direkten, nicht durch einen Erzähler vermittelten Teilhabe an einem Geschehen (showing) (etwa im Drama, wo die Figuren sich in ihrer Rede und ihren Handlungen selbst darzustel-len scheinen) Diegesis: Erzählakt und Erzählerfigur (telling) sind eigenständig modelliert und bilden eine Art Filter, durch den das dargestellte Geschehen wahrnehmbar wird. Die Diegesis kann in einer anthropomorphen Figur (einem Erzähler oder einer Erzählerin) kon-kretisiert sein, sie kann aber auch abstrakter ange-legt sein. So spricht man beispielsweise auch beim Film von der Kameraarbeit (Fokussierung, Kame-rabewegungen, Einstellungsgrößen, Rahmungen) und der Montage (Schnitt, Kombination) als diege-tischer Funktion. Unter Diegese wird auch die Gesamtheit des er-zählten Geschehens, sowie weitergehend die im Erzählakt konstituierte Welt (das räumliche und zeitliche Universum, in dem die Figuren sich befin-den, die semantischen Räume und abstrakten Kon-zepte) verstanden (Gerard Genette: Die Erzählung, München: Fink 1998). Entsprechend der Stellung zur diegetischen Welt läßt sich die Perspektive bestimmen, aus der erzählt wird: Ist die Vermittlungsinstanz (Erzählfigur) Teil der erzählten Welt, ist die Erzählung intradiegetisch;

steht sie dagegen außerhalb der erzählten Welt, ist die Erzählung extradiegetisch. Sie kann damit aber immer noch an der erzählten Geschichte selbst teilhaben, etwa wenn auf ein vergangenes Gesche-hen, in das die Erzählfigur selbst involviert war, zurückgeblickt wird (Odysseus auf dem Fest des Alkinoos), in diesem Fall ist das Erzählen homo-diegetisch. Hat die Erzählfigur dagegen keinen Anteil am Erzählten, ist das Erzählen heterodiege-tisch (der Sänger Demodokos, der von Odysseus Kriegstaten berichtet). Der Akt des Erzählens, die Diegese, begründet eine eigene Welt, die diegetische Welt, in der grund-sätzlich andere Gesetze gelten können als in der Welt, in der erzählt wird. So ist etwa das Eintreten wunderbarer Ereignisse, das Auftreten von Riesen und Zwergen oder Ähnliches in einem Märchen nicht besonders verwunderlich, in einer der 'nor-malen' Welt entsprechenden Welt, in der so ein Märchen erzählt wird, wäre es dagegen sehr unge-wöhnlich. Der von der Muse inspirierte Sänger der Odyssee kann etwa von den Beratungen der Götter berichten, der 'Ich'-Erzähler eines realistischen Romans aus dem 19. Jahrhundert könnte das nicht (oder nur um den Preis, auch ansonsten 'wunderlich' zu wirken, d.h. seine Glaubwürdigkeit einzubüßen). Die diegetische Welt kann also der 'normalen' Er-fahrungswelt entsprechen, sie muß es aber nicht. Daher besteht ein zentraler Schritt der Analyse einer Erzählung darin, die Gesetze der erzählten Welt zu rekonstruieren. Nicht immer ist die 'sprechende' Instanz auf der hierarchisch höchsten internen Sprechsituation als Person konkretisiert, sie kann auch lediglich eine abstrakte Instanz sein. Dennoch ist eine solche Instanz prinzipiell vorhanden, sie definiert sich in erster Linie über die Informationen, die über die erzählte Welt zur Verfügung gestellt werden, also über das Wissen, über das die vermittelnde Instanz verfügt und über die Ereignisse, die in ihrem 'Blickfeld', ihrem Fokus, liegen; darüber hinaus manifestiert sie sich in oft nur implizit greifbaren Wertungen, (Vor-) Urteilen und Ähnlichem. Eine alternative Formulierung für die Vermittlungsfunktion des Erzählens bildet die Beschreibung als Point of View oder Fokalisierung. Grundsätzlich lassen sich drei Möglichkeiten des Point of View bzw. der Fokalisierung unterscheiden: - interner POV / interne Fokalisierung: das

'Blickfeld' ist auf die Perspektive einer Figur eingeschränkt; dies ist häufig der Fall bei "Ich"-Erzählungen, in denen eine Figur über die eigenen Erfahrungen, über die eigene psy-chische Innenwelt und über das von ihr wahr-nehmbare/wahrgenommene Geschehen be-richtet; ebenfalls relativ häufig ist der Fall, daß

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von einer Person in der grammatischen 3. Per-son ("er"/"sie") gesprochen wird, dennoch aber eine ähnliche Beschränkung der Perspek-tive vorliegt wie im Fall der "Ich"-Erzählung (personales Erzählen)

- externer POV / externe Fokalsierung: be-schränkt sich auch die Darstellung äußerlich wahrnehmbaren (allgemein zugänglichen) Ge-schehens

- polyperspektivischer POV / Null-Fokalisie-rung: es werden verschiedene Blickpunkte eingenommen; im Extremfall ist das Blickfeld der Erzählinstanz unbeschränkt, es ist kein Filter/Fokus erkennbar, durch den Menge und Art der verfügbaren Informationen einge-schränkt würden; das heißt zum Beispiel, daß die Erzälhung Einblicke in die Gedankenwelt bzw. das psychische 'Innenleben' verschiede-ner Figuren bietet, daß Geschehen präsentiert wird, das an verschiedenen Orten gleichzeitig stattfindet etc. (ein Standardfall einer Null-Fo-kalisierung ist das auktoriale Erzählen)

e) Franz Kafka: Das Urteil Die Lektüre von Franz Kafkas Erzählung "Das Urteil" geht aus von einer scheinbaren Inkonsistenz in der Motivation der Geschehensfolge: was hat der im ersten Teil der Erzählung entfaltete Konflikt zwischen Georg Bendemann und dem nach Ruß-land ausgewanderten Freund mit dem Vater-Sohn-Konflikt des zweiten Teils zu tun? Eine mögliche Verbindung ergibt sich, wenn man die Aufmerk-samkeit auf die Frage richtet, aus welcher Perspek-tive das Geschehen eigentlich betrachtet wird. Während zunächst ein externer POV etabliert zu werden scheint, lassen sich weitere Inkonsistenzen (Georg Bendemann nimmt seinen Vater, der ihm wenige Augenblicke zuvor noch als "Riese" gege-nübergestanden war, auf den Arm und trägt ihn ins Bett) eher durch einen internen POV erklären. Die Verlagerung auf der Ebene semantischer Räume von 'außen' (dem Blick über Straße und Fluß in die Ferne, dem Brief nach Rußland) nach 'innen' (dem Weg in das dunkle Zimmer des Vaters, dessen Blick von einer hohen Mauer begrenzt ist, und weiter bis zum/ins Bett) entspricht somit der Verla-gerung der Beobachterperspektive von einem ex-ternen zu einem internen POV. Dabei wird der Vergleich der Lebensgeschichten Georgs und des Freundes zu einer Abwägung über den richtigen Weg, die sich unter der Perspektive eines nicht ausgetragenen Vater-Sohn-Konflikt anders darstellt. Dies lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Erzählfunktion, die gleichsam einen Filter zwi-schen die Rezipienten und die erzählte Welt legt. Entscheidend sind damit alle Frage, die z.B. Infor-miertheit, Wissensstand, Zuverlässigkeit, Glaub-würdigkeit, Absichten dieser Instanz betrifft (s.o unter ‚wer erzählt).

Der Weg von außen nach innen: semantische Räume und Bewegungsrichtungen in Das Urteil

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