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Offener Horizont4 | 2017

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Offener Horizont Jahrbuch der Karl Jaspers-Gesellschaft

4 | 2017

Herausgegeben vonMatthias Bormuth

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2017www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus der Aldus nova Pro und der Frutiger

ISSN (Print) 2198-9133ISBN (Print) 978-3-8353-3113-6

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4161-6

RedaktionMatthias Bormuth und Malte Maria Unverzagt

BeiratUlrich v. Bülow, Wolfgang Frühwald, Dieter Henrich,

Ulrich Keicher und Sebastian Kleinschmidt

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Inhalt

Matthias BormuthEinleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Sibylle LewitscharoffGerhard Altenbourg  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

Karl Jaspers

Dieter Lamping Vom Europäischen GeistVom Europäischen GeistKarl Jaspers’ Genfer Vortrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

Jan AssmannKarl Jaspers’ Theorie der Achsenzeit als kulturanalytische Heuristik  43

David EngelsAchsenzeit oder Kulturmorphologie?Die Geschichtsbilder von Karl Jaspers und Oswald Spengler  . . . . 56

Uwe WalterVom Ursprung und Ziel der GeschichteVom Ursprung und Ziel der Geschichte und Historische ExistenzHistorische ExistenzKarl Jaspers’ und Ernst Noltes Geschichtsentwürfe im Vergleich  . . 74

Michael SommerAbendland und Morgenland. Von Weber zu Jaspers  . . . . . . . . . 90

Erich Auerbach

Matthias BormuthDeutsche MenschenDeutsche MenschenErich Auerbach schreibt an Walter Benjamin  . . . . . . . . . . . . . 105

Martin Vialon»Die Katastrophen des letzten Jahrhunderts haben es bewirkt, dass ich nirgends hingehöre …«Erich Auerbach als Literatursoziologe und Autor von MimesisMimesis  . . . 118

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Fredrik BöökErich Auerbach und sein »meisterliches Werk« MimesisMimesis  . . . . . . . 131

Erich AuerbachEin Brief an Fredrik Böök  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

Erich AuerbachDas französische Publikum im 17. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . 139

Portraits

Matthias BormuthVom Sinn des ErinnernsTony Judt und das vergessene 20. Jahrhundert  . . . . . . . . . . . . 151

Tony JudtLehrer – Forscher – MenschDas letzte Gespräch mit Charlie Rose  . . . . . . . . . . . . . . . . . 162

Jerome KohnHannah Arendt (1906-1975)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

Alfred KazinHannah Arendt: Die Last unserer Zeit  . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Alfred KazinLionell Trilling und die New York Intellectuals  . . . . . . . . . . . . 191

Gustaw HerlingAlbert Camus, Nicola Chiaromonte und Ignazio SiloneAus dem Tagebuch bei Nacht geschriebenTagebuch bei Nacht geschrieben (1971-1978)  . . . . . . . . 197

Gustaw HerlingDie Kunst des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

Inge Jens An den Grenzen des VerstehensEin Gespräch mit Matthias Bormuth  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228

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Geistes- und Kunstgeschichte

Jens KulenkampffAuf der Suche nach der wahren ReligionÜberlegungen zu David Hume  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

Ulrich von BülowHans Blumenbergs Zettelkästen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

Martin WarnkeNach fünfzig Jahren. Anfänge eines Kunsthistorikers . . . . . . . . . 288

Martin WarnkeJacob Burckhardt und Karl Marx  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

Eduard BeaucampDas produktive TraumaErinnerungen an den Malerpoeten Gerhard Altenbourg  . . . . . . . 319

Anita Beloubek-Hammer»Versunken im Ich-Gestein« –Zum Schaffen des Zeichners und Graphikers Gerhard Altenbourg (1926-1989)  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322

Gerhard AltenbourgGemälde (1947-1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Bücher im Profil

Ludger LütkehausHeidegger? Jaspers!Die KorrespondenzenKorrespondenzen von Karl Jaspers in einer monumentalen Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355

Thomas Meyer»Der Tod ist ein theologisches Motiv der Freiheit.«Der Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Karl Löwith (1919-1973)  . . . . . . . . . . . 360

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Jana V. Schmidt»Schreib doch mal hard factshard facts über Dich.«Hannah Arendt und Günter Anders im Briefwechsel (1939-1975)  367

Stefan Müller-DoohmIntellektuelle – Gemeinsames im Konträren Siegfried Kracauers Biographie und Karl Heinz Bohrers Autobiographie  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376

Sebastian KleinschmidtMit den Augen der Musik, mit den Augen der GedankenGisela von Wysockis Roman WiesengrundWiesengrund  . . . . . . . . . . . . . . 388

Frank-Rutger Hausmann»Habent sua fata libelli«Ernst Robert Curtius’ nachgelassenes Werk Elemente der BildungElemente der Bildung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392

Thomas SparrBenn als BriefschreiberÜber zwei Neuveröffentlichungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

Artur BeckerVerführtes DenkenVerführtes DenkenCzesław Miłosz und sein Jahrhundert   . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

Anhang

Chronik der Karl Jaspers-GesellschaftVorträge und Tagungen 2016/2017  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

Abbildungen und Nachweise  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

Dank  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

Autoren  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 441

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Matthias Bormuth

Einleitung

I.

Als Karl Jaspers im September 1946 in Genf die Rede Vom europäischen Vom europäischen GeistGeist hielt, galt er als einer der wichtigsten Intellektuellen, deren Wort bei der Neuordnung des vom Krieg gezeichneten Kontinents großes Gewicht hatte. Emphatisch erinnerte er bei dem Treffen ausgewählter Intellektu-eller an das historisch verbürgte Moment der Freiheit, das auch für die zukünftige europäische Welt entscheidend sei:

Die Größe unserer abendländischen Geschichte sind die Freiheitsbewe-gungen im Miteinanderreden: in Athen, im republikanischen Rom, im frühen Island, in den Städten des späten Mittelalters, in den Konstituie-rungen der Schweiz und der Niederlande, in der Idee der Französischen Revolution trotz ihres Abfalls und ihres Übergangs in Diktatur, in der klassischen politischen Geschichte der Engländer und Amerikaner.1

Drei Jahre später weitete Jaspers seine Überlegungen über die Dynamik des freiheitlichen Denkens nochmals über Europa aus und blickte auf die globale Welt, als er Vom Ursprung und Ziel der Geschichte Vom Ursprung und Ziel der Geschichte veröffent-lichte. Der Topos der Achsenzeit diente ihm, um kulturübergreifend ein historisches Phänomen zu beschreiben: das Erwachen des Sinnes für die Möglichkeit, als Individuum sich einer höheren Wahrheit zu versichern, deren Geltung man auch gegen die Widerstände der eigenen Gesellschaft vertritt. So heißt es:

Zum erstenmal gab es Philosophen. Menschen wagten es, als Einzelne sich auf sich selbst zu stellen. Einsiedler und wandernde Denker in China, Asketen in Indien, Philosophen in Griechenland, Propheten in Israel gehören zusammen, so sehr sie in Glauben, Gehalten innerer Verfassung voneinander unterschieden sind.2

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Diesem Denkweg gehen die Essays und Studien der Jaspers gewidmete Sektion dieses Jahrbuchs nach. Der Germanist Dieter Lamping erinnert an den Geist der Genfer Rede, ohne den die spätere Philosophie der Achsenzeit nicht denkbar wäre. Jan Assmann untersucht als Ägyptologe diesen Topos, der unter Historikern heute international diskutiert wird,3 von seiner Entstehung und Bedeutung her, sich die Freiheit nehmend, als Karl-Jaspers-Preisträger der Universität Heidelberg auch teilweise deut-lich Distanz zu dessen Position zu nehmen. Ihm folgen drei Arbeiten, die Jaspers’ Vorstellung der Achsenzeit mit anderen, meist konservativen Geschichtskonzepten vergleichen. Der Althistoriker David Engels nimmt als Kontrast Oswald Spenglers 1917 erschienenes Werk Vom Untergang Vom Untergang des Abendlandesdes Abendlandes in den Blick, während sein Kollege Uwe Walter den seit dem Historikerstreit oft marginalisierten Ernst Nolte und dessen Opus magnum Historische ExistenzHistorische Existenz in erstaunliche Beziehungen zu Jaspers’ Geschichtsentwurf setzt. Zuletzt widmet sich Michael Sommer, der die Autoren auf einer Achsenzeit-Tagung der Karl Jaspers-Gesellschaft zu-sammenbrachte,4 der Bedeutung, die Max Weber für die Entfaltung der Idee der Achsenzeit hatte. Bei aller Kritik am späten Weber war Jaspers bis zuletzt fasziniert von dessen Modernität und der Fähigkeit, den An-spruch der Freiheit zu artikulieren, den er selbst als das abendländische Erbe der ersten Achsenzeit ansah.

II.

In den Kreis freier Individuen – folgt man Jaspers – gehörte auch der Romanist Erich Auerbach, den er gerne 1930 als Kollegen in Heidelberg gesehen hätte. Auerbachs Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literaturin der abendländischen Literatur, das im Exil entstand, wurde seit der Publikation im Jahre 1946 zum Weltklassiker. Die prekäre Lage deutsch-jüdischer Gelehrter, die vergeblich versucht hatten, sich in der Wei marer Republik zu assimilieren, zeigt sich auch in seiner Freundschaft mit Walter Benjamin. Dessen 1936 veröffentlichte Anthologie Deutschen MenschenDeutschen Menschen, die entlang von Briefen den Geist des aufgeklärten Bürgertums um 1800 erinnerte, spendete auch Auerbach Trost in Istanbul. Nach dem Erfolg seiner Literaturgeschichte schrieb er 1947, als er sich auf der Überfahrt in die USA befand, an Fredrik Böök, einem führenden Mitglied des schwe-dischen Nobel-Komitees: »Die Katastrophen des letzten Jahrhunderts ha-ben es bewirkt, dass ich nirgends hingehöre, und ich versuche, aus dieser Lage wenigstens eines zu gewinnen, innere Unabhängigkeit.«5

Martin Vialon, Leiter des Oldenburger Erich Auerbach-Archivs, gibt

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eine kurze Skizze des Gelehrten, seines Lebens und Denkens. Er ordnet hierbei den Brief an Böök sowie dessen hymnische Rezension von Mime-Mime-sissis historisch ein. Beide Texte finden sich anlässlich des 125. Geburtstags von Erich Auerbach ebenso abgedruckt wie dessen Rede Das französische Das französische Publikum des 17. JahrhundertsPublikum des 17. Jahrhunderts, in der dieser schon Ende 1936 am neuen Wirkungsort den jungen Türken sein soziologisches Vorgehen vorstellte.

III.

Die Portraits dieses Bandes stehen im Horizont von Hannah Arendt, deren Denken über das Jahr vor allem die Treffen des Lesezirkels der Jaspers-Gesellschaft prägte. Eröffnet wird die Reihe mit einer Skizze zu Tony Judt, der als Ideenhistoriker in New York um das Jahr 2000 das Erbe Hannah Arendts als unabhängiger Intellektueller antrat. In seinen luzi-den Erinnerungen versicherte er sich des vergessenen zwanzigsten Jahr-hunderts, der politischen Intellektuellen, die seine Vorbilder waren und zu denen neben Arendt auch Albert Camus und der polnische Dichter Czesław Miłosz gehörten. Deren liberales Selbstverständnis, das zwischen Links und Rechts kaum einzuordnen ist, prägt auch Judt. In einem letzten Gespräch verdichtet er, von einer neurologischen Erkrankung ganz auf das Innenleben zurückgeworfen, das Selbstverständnis des politischen Intellektuellen, der auch Forscher und Lehrer ist.

Hannah Arendt erscheint genauer in zwei Portraits. Zum einen kön-nen wir die kurze Trauerrede abdrucken, die Jerome Kohn nach ihrem Tod am 8. Dezember 1975 in New York hielt. Sie fand sich erst kürzlich im Privatarchiv ihres Schülers und letzten Assistenten. Einen weiteren persönlichen Blick auf Arendt als unabhängige Intellektuelle wirft Alfred Kazin. Dieser gibt in einem zweiten Text auch Einblicke in die Gruppe, die sich vor allem um Lionell Trilling an der Columbia University sam-melte. Dort sprach 1946 auch Albert Camus gegen die totalitäre Tendenz, den Menschen zu Nutzen eines historischen Zieles seiner Freiheit und oft auch seines Lebens zu berauben. So kann man es den Erinnerungen entnehmen, die der in Neapel lebende polnische Schriftsteller Gustaw Herling in den 1970er Jahren in seinem Tagebuch, bei Nacht geschrie-Tagebuch, bei Nacht geschrie-benben aufzeichnete, als er über seine intellektuellen Weggefährten Nicola Chiaromonte und Ignazio Silone nachdachte. Auch er schuf mit seinem Tagebuchwerk, das in der Exilzeitschrift KulturaKultura in Paris über Jahrzehnte erschien, im besten Sinne intime Denkmäler von Intellektuellen, die in New York und Europa maßgebliche Vertreter eines Denkens waren, das sich nicht vom Zauber der Russischen Revolution blenden ließ, sondern

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die Opfer der Geschichte benannte und deshalb in Kauf nahmen, von der europäischen Linken marginalisiert zu werden. Sie alle gehören zu dem weltweiten Kreis von unabhängigen Intellektuellen, die nach Jaspers die Voraussetzung der »freien Welt« bildeten und in Tony Judt zuletzt ihren großartigen Geschichtsschreiber fanden.

So wie Judt in der politischen Grenzsituation im Jahrhundert der Ex-treme die Möglichkeiten des Erinnerns auslotete, so tat er es zuletzt auch im Blick auf sein eigenes Leben, als ihn sein Krankheitszustand ganz auf das Innenleben zurückwarf. Obwohl Judt nochmals auflebt, wenn er sich auf nächtliche Reisen in die Vergangenheit begibt, bleibt er dennoch nüchtern:

Die Freuden geistiger Beweglichkeit, so erscheint es mir inzwischen, werden von denjenigen, die nicht ausschließlich auf sie angewiesen sind, zwangsläufig überbewertet. Gleiches gilt für all die gutgemeinten Empfehlungen, sich geistigen Ausgleich für körperliche Beeinträchti-gungen zu suchen. Derlei ist nutzlos. Verloren ist verloren, und nichts ist gewonnen, wenn man es mit einem netteren Namen belegt. Meine Nächte sind interessant, aber ich könnte gut auf sie verzichten.6

Anders erfuhr Inge Jens die Grenzsituationen des geistigen Verfalls, dem am Ende seines Lebens ihr Mann Walter Jens ausgesetzt war. Im Ge-spräch, das anlässlich ihres 90. Geburtstages im Frühjahr 2017 in Tübingen stattfand, berichtet die Historikerin, wie sie in dieser Zeit an vielfache Grenzen des Verstehens geriet. Wie bei Judt bleibt am Ende die Frage, was jenseits des vergänglichen Lebens den Menschen noch erwarten könnte. Sie ist für den modernen Intellektuellen nicht zu beantworten, auch wenn das Verlangen, an die Vorstellungen der jüdischen und christlichen Tra-dition anzuschließen, in Worten und Zeichen oft aufscheint, wie auch die Geschichte von Inge und Walter Jens zeigt.

IV.

Einer der Väter einer solchen Skepsis war David Hume, der mit größter Sorgfalt die Grenzen unserer Vernunft bestimmte, die weder in religiösen noch wissenschaftlichen Dingen an ein gewisses Ende kommen könne. Jens Kulenkampff, einer der besten Kenner seines Werkes, zeichnet dessen »Suche nach der wahren Religion« nach, die Hume besonders in der Form antiker Dialoge inszenierte. Ganz anders bewegte sich Hans Blumenberg in der Neuzeit, deren eigenständige Legitimität er gegen-

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über dem religiösen Erbe nach theologischen Anfängen mit ironischer Intensität zeitlebens behauptete. Mit welchem Arbeitsethos der Philo-soph auf diesem Wege Bücher, Zeitungen und Journale durchforstete, um Stichwörter und Zitate im Gewebe seiner Gedanken aufnehmen zu können, zeigt der Archivar Ulrich v. Bülow in seiner Erkundung »Hans Blumenbergs Zettelkästen«.

Dass die christlich-jüdische Welt für die Moderne eine immense Be-deutung besitzt, war für Martin Warnke als Kunsthistoriker nicht nur in der Analyse großer Bildwerke evident. Als junger Kunsthistoriker wies er in seiner Doppelbiographie von Jacob Burckhardt und Karl Marx auf die Dynamik der Säkularisierung ursprünglich religiöser Gedankenwelten hin. Diese kam bei dem konservativen Kulturhistoriker und dem Autor von Das KapitalDas Kapital, das vor 150 Jahren zuerst veröffentlicht wurde, in der gemeinsamen Freundschaft zum Theologen und Aufklärer Gottfried Kin-kel zum Ausdruck, was eine der Pointen der 1970 zuerst veröffentlichten Spurensuche Warnkes war. Dessen 80. Geburtstag ist uns außerdem An-lass, mit ihm auch auf seine kunstgeschichtlichen Anfänge in Berlin und Madrid zu blicken.

Den Abschluss der Rubrik »Geistes- und Kunstgeschichte« bilden die Beiträge zum Künstler Gerhard Altenbourg. Er erfüllt wie wenige nach 1945 in radikaler Einsamkeit eines der Kriterien des abendländischen Menschen, wenn Jaspers von der »bewußten Innerlichkeit persönlichen Selbstseins« spricht. Von den Traumata des Krieges gezeichnet, die er als junger Soldat erlitt, wie Eduard Beaucamp in seiner kurzen Skizze berichtet, schuf sich Gerhard Altenbourg in der jungen DDR graphisch und malerisch eine eigene Welt, in der alle Passionen und Reflexionen der Wirklichkeit ihren phantastischen und vieldeutigen Ausdruck fan-den. Abgeschirmt lebte der Sohn eines freikirchlichen Pfarrers später im Altenburger Elternhaus, von der Schwester versorgt, seine ausgewählten Freunde in Ost wie West und in der Literatur suchend. Anita Beloubek-Hammer führt als versierte Kennerin seines Werks entlang der Bilder, die mit großer Leidenschaft ein privater Sammler seit langen Jahren zusam-mentrug, in Malen, Denken und Leben Altenbourgs ein. Von der hohen Sensibilität und Begabung des Künstlers, zeugt besonders unser Titelbild Versunken im Ich-GesteinVersunken im Ich-Gestein, das die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff in ihrer Skizze zu Eingang des Jahrbuchs kongenial betrachtet und mit seiner Zeit verknüpft. Sprechend für das Leben, das der Künstler in Altenburg führte, bis er Ende 1989 bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, ist ein Satz von Elias Canetti, den Altenbourg an den Freund Erhard Kästner im Westen schrieb: »Es läßt sich nur einsam sein, wenn man in einiger Entfernung Menschen hat, die auf einen warten.«7

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V.

Am Ende des Jahrbuchs steht die neue Sektion »Bücher im Profil«, deren Interesse es ist, Publikationen, Leben und Denken einzelner Intellektuel-ler in ihrer gegenseitigen Bezogenheit zu erkunden. So werden vor allem Briefausgaben wie auch biographische und autobiographische Werke zur Besprechung stehen.

Dass diese Schlaglichter zugleich auch etwas von der Perspektive des-jenigen offenbaren, der die Bücher darstellt, zeigt sich schon deutlich in Ludger Lütkehaus’ Blick auf die dreibändige Ausgabe der ausgewählten Korrespondenzen von Karl Jaspers, welche die Zeit des Nationalsozia-lismus stark akzentuieren. An die Thematik schließt sich der Essay an, den Thomas Meyer im Blick auf den Briefwechsel schrieb, den Martin Heidegger mit seinem jüdisch-stämmigen Schüler Karl Löwith seit 1919 führte. Dass dieser nach Jahrzehnten im Exil nach Deutschland zurück-kehrte und zuletzt seinen Frieden mit dem als Denker immer noch fas-zinierenden Heidegger machte, ist ein Teil der Aporien, die uns derartige briefliche Zeugnisse offenbaren.

Ganz andere Dimensionen des privaten Lebens enthüllt die von Jana Schmidt vorgestellte Korrespondenz, die Hannah Arendt über Jahrzehnte mit ihrem ersten Ehemann Günter Anders führte. Auch geben ihre Briefe einigen Anhalt, wie beide ihre im Exil verschärften Einblicke auf die to-talitäre Welt bedenken und sich – in Nähe und Distanz zu Karl Jaspers – nach 1945 zunehmend als politische Philosophen verstehen, deren öf-fentliches Wort gehört wird.

So wie beide von Anfang an ein spannungsvolles Verhältnis zu Theodor W. Adorno hatten, entwickelte sich zwischen diesem und seinem Mentor Siegfried Kracauer in den Jahren des Exils eine Distanz, die Jörg Später unter anderem in seiner Biographie Kracauers untersucht. Stefan Müller-Doohm nimmt zudem das Erscheinen von Karl-Heinz Bohrers Autobiographie zum Anlass, das Phänomen intellektueller Freundschaf-ten zu untersuchen, kam es doch bei diesem auch zu einer signifikanten Auseinandersetzung mit Jürgen Habermas. Die Bedeutung, die Theodor W. Adorno für viele Studenten in der jungen Bundesrepublik einnahm, schildert liefert Gisela v. Wysocki exemplarisch in WiesengrundWiesengrund. Sebastian Kleinschmidt führt in diesen feinen Entwicklungsroman ein.

Einen Sprung zurück in das Ende der Weimarer Republik unternimmt Frank Rutger Hausmann, wenn er Ernst Robert Curtius’ nie vollendetes Buch Elemente der BildungElemente der Bildung vorstellt. Es fragt mit bleibender Aktualität nach der Bedeutung der Universitäten in der Moderne und steht im Kon-trast zu Jaspers’ Geistiger Situation der ZeitGeistiger Situation der Zeit. Aufschlussreich sind zudem

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Curtius’ in Ausschnitten angefügte Briefe an Ortega y Gasset, dem wich-tigsten Intellektuellen in Spanien, der in den Franco-Jahren seine Unab-hängigkeit wahrte.

Die Spannungen, in die das Jahr 1933 Gottfried Benn als expressio-nistischen Dichter stürzte, zeichnet vor allem der Briefwechsel ab, den er über zwei Jahrzehnte mit dem Bremer Kaufmann Friedrich Wilhelm Oelze führte. Thomas Sparr gibt ein Portrait des Verhältnisses, das sich zwischen dem Arzt der Armen und dem Großbürger gerade auch in den Jahren der Inneren Emigration entspann, auch die neue Ausgabe bislang unveröffentlichter Briefe hinzuziehend, die Holger Hof jüngst ebenso edierte.

Die Vorstellung intellektueller Lebensläufe beschließt Artur Beckers Essay zur umfangreichen Biographie von Czesław Miłosz, die Andrzej Franaszek vorlegte. Dieser eigenwillige Poet, Essayist und Romancier, zu dessen Werk Verführtes DenkenVerführtes Denken Jaspers ein Vorwort schrieb, war zu jener Zeit sehr eng mit dessen zweiter Meisterschülerin Jeanne Hersch befreundet. An deren Gedanken hat sich Miłosz in seinem Versuch der Selbstklärung bis ins hohe Alter stark orientiert. So heißt es in seinem spätem Prosagedicht Was habe ich von Jeanne Hersch gelernt?Was habe ich von Jeanne Hersch gelernt?: »Dass uns bewusst sein soll, dass wir Gefangene unserer eigenen Erfahrungen sind – allerdings nicht, um die Realität auf unsere Träume und Luftschlösser zu reduzieren.«8

Anmerkungen1 Vgl. in diesem Band, S. 30 und Karl Jaspers: Vom europäischen GeistVom europäischen Geist, München 1947,

S.  14.2 Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der GeschichteVom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949, S. 22. 3 Vgl. Robert N. Bellah und Hans Joas (Hg.): The Axial Age and Its ConsequencesThe Axial Age and Its Consequences, Cam-

bridge 2012. 4 Die künstlerischen Akzente setzte die Kunsthistorikerin Monica Meyer-Bohlen in einer

Ausstellung zum Werk von Sigmar Polke, der sich mit Jaspers’ Topos der Achsenzeit beschäftigt hatte. Vgl. die Chronik der Jaspers-Gesellschaft 2016/17, in diesem Band, S. 425-433, hier: 428.

5 Vgl. in diesem Band, S. 137 f., hier: 137.6 Tony Judt: Das Chalet der ErinnerungenDas Chalet der Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2012, S. 29.7 Vgl. in diesem Band, S. 20.8 Czesław Miłosz: GedichteGedichte, ausgewählt und mit einem Nachwort von Adam Zagajewski,

München 2013, S. 141.

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Sibylle Lewitscharoff

Gerhard Altenbourg

Versunken im Ich-GesteinVersunken im Ich-Gestein ist ein rätselhaftes Bild, dessen Anziehungs-kraft erst feine Würzelchen, dann immer stärkere Wurzeln in Herz und Hirn des Betrachters wachsen läßt. Auf meine auffangsame Organe hat es jedenfalls so gewirkt. Nach heutigen Maßstäben ist es ein Werk von be-scheidener Größe. Es mißt gerade mal 60,2 × 42,7 cm. Da ich keine Lieb-haberin überbordernder, meist schlecht gemalter Protzgebilde bin, hat es sogleich meine Sympathie geweckt. Natürlich nicht nur deshalb. Viel-leicht war es zuerst die Farbgebung, die meine Zuneigung entstehen ließ. Weißliches Grau, dunkles Blau, dunkles Ocker und Schwarz, zartes Gelb, diese wenig vorlaute Farbgebung ist ideal für ein Gemälde, dem man so-gleich anmerkt, daß es ihm darum zu tun ist, sich in die Verschwiegenheit zurückzuziehen. Etwas lockerer ausgedrückt: eine Figur wird bei ihrem Erscheinen sogleich dem Verschwindibushaften überantwortet. Ohne weiteres wäre es möglich, gerade dieses Bild zum Fokus einer Erzählung zu machen, in der es sich zwar nicht im Lauf der Zeit zerrüttet wie das berühmte Portrait des Dorian Gray, jedoch Tag für Tag in seinem Haupt-teil ein klein wenig diffundiert, bis eine große Lücke, ein geheimnisvoller Ausfraß inmitten des Gesteins entsteht und von der ehemaligen Figur nur noch die dicken, schwarzen Balken übrig sind, über denen der Kopf thront. Wären diese Dickstriche im übrigen als Knochengerüst zu deuten? Oder als Fragmente einer Anzugsjacke? Ich weiß es nicht. Sicher ist nur, sie halten das Haupt.

Wie ich der Beschreibung entnehme, ist das Bild auf einen Karton aufgetragen, verschiedene Farben kamen dabei zum Einsatz: chinesische Tusche, Aquarellfarben, Rötelstifte und Pastellkreiden. Gerhard Alten-bourg wählte für seine Arbeiten mit Vorliebe poetisch anmutende Titel, die einen Hinweis auf eine mögliche Interpretation des Bildes geben, aber nur einen zarten, jedenfalls keinen Titelwink mit dem Zaunpfahl. Nun

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denn – ein versunkenes Ich blickt uns an, ins Gestein geschlossen, aber gleichzeitig mit einiger Insistenz daraus hervortretend, denn hier sind zwei Materien in einen Kontrast gesetzt, die in der Realität schwerlich miteinander harmonieren können. Stein ist hart. Ein Gespenstwesen im Zustand fortgeschrittenen Verbleichens ist hingegen ein luftig Nicht-Ding.

Daß uns dieses Gespenst anblickt, ist eigentlich falsch. Der Betrach-ter muß die Augen unter dem beschirmten Schädel erst finden. Sie sind winzig. Hat man sie jedoch entdeckt und blickt in sie, besitzen diese eher nach Millimetern als nach Zentimetern zu messenden Äuglein kurioser-weise eine Intensität, die man so kleinen Gebilden nicht zutraut, zumal sie farblich keineswegs hervorgehoben sind. Sie stechen nicht, sie glotzen nicht, sie irritieren nicht, und trotzdem nehmen sie den Betrachter gefan-gen – wenn er sich denn fangen lassen will. Wer an dem Bild vorübergeht, könnte diese Augen durchaus übersehen. Wer sich dem Bild jedoch län-ger widmet, ist vielleicht von diesen leicht aufgerissenen Augen berührt, in die man einen verborgenen Schmerz hineininterpretieren kann, eine Mischung aus Zögerlichkeit und Beharrungswillen des Künstlers, der sich im Widerstreit befindet, ob er aus seiner Versunkenheit im Gestein auftauchen oder es bei der radikalen Verschwiegenheit belassen soll. Viel-leicht will er uns eine intrikate Botschaft von seiner eigenen Wesenheit übermitteln, die auf das Leben im Geheimen pocht, bei gleichzeitigem Versuch, sich durchzusetzen gegen die verhärteten Zumutungen einer Gesellschaft, welcher der Künstler nicht entkommen wollte oder konnte.

Das mag ›a weng‹ dicke hineininterpretiert sein in zwei winzige Äug-lein. Eine solche Interpretation gedeiht natürlich auf dem Wissensgrund, daß Altenbourg in der DDR lebte und dort als Künstler sehr wenig zu bestellen hatte. Entfernter vom sozialistischen Realismus, der sich mit der Zeit zwar wandelte und sich neue Themen und neue figurative Wel-ten erschloß, hätte das in die künstlerische Privatheit gezogene Werk des Gerhard Ströch kaum sein können, der ziemlich abgewandt in Thüringen in einem Haus mit Garten lebte und an den offiziellen Inszenierungen des sozialistischen Staates nicht teilnahm.

Jawohl! Der Mann hieß mit Nachnamen StröchStröch. Man versteht sofort, daß er sich einen silbenreicheren Künstlernamen aussuchen mußte, in der sowohl das Althergebrachte mitschwingt als auch die Verschlossen-heit einer auf einem Felsen thronenden Burg, die einen gesicherten, ver-schließbaren Torzugang hat, um die Feinde abzuwehren. Das zwischenein geschobene UU sorgt dabei für leichte und sicher gewollte Irritation. Für schwäbische Ohren klingt in StröchStröch auch das Adjektiv sterchsterch an, das im Ö statt im EE des Namens geradezu veralbert wird. So oder so: AltenbourgAltenbourg

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klingt bedeutend besser als das sterche StröchStröch, vor allem geheimnisvoller. Und der Künstlername weist ihn natürlich auch als Bewohner der ehe-maligen Residenzstadt Altenburg im Thüringischen aus, in welcher er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte.

An dem Vornamen GerhardGerhard ist in sämtlichen deutschen Dialekten mit dessen dezent kriegerisch anmutenden und heutzutage verwischten Be-deutungsschlepp nichts auszusetzen. Rein gar nichts auszusetzen ist auch an der Lebensart eines scheinbaren Idyllikers, der sich im Geräuschlosen bewegt, aber in seinem Werk durchaus über Haken, Borsten und winzige Zähnchen verfügt, um den Zumutungen einer tumben Staatsdoktrin zu trotzen. In einer Gesellschaft, in der jeder Gedanke, jeder geäußerte Satz, jede Theaterinszenierung, jedes gemalte Bild und jeder gedrehte Film schnell zum Politikum werden kann, ist die radikale Abstinenz von den Parolen und Devisen eines lächerlich verbohrten Staates mit ebenso lä-cherlichem wie gefährlichem Spitzelwesen eine Aussage mit intrikater Sprengkraft.

Gerhard Altenbourg hielt sich zurück. Seine Tatkraft lebte er in seinem Haus aus, wovon nicht nur die Zeichnungen und Aquarelle zeugen, son-dern auch die zu einigen Teilen bemalten Türen und Wände, in denen sich der Mann eine ureigenes Gehäus der Abwehr schuf, das er mit eigenen Werken bestückte, um sich gegen die Außenwelt intensiver abzuschot-ten. Zwar gibt es etliche Künstler, deren Gestaltungswille auf das eigene Zuhause übergriff. Bei Altenbourg darf man vielleicht annehmen, daß ihn diese Art des schöpferischen Ausdrucks weniger stark in Anspruch genommen hätte, wenn er sich als Künstler freiheitlicher hätte bewegen können, um Zuspruch und Anregungen von außen ungehindert auf sich einwirken zu lassen.

Seine Belesenheit war eine andere Art, sich der Staatsdoktrin zu ent-ziehen und sich in ein ureigenes Gehäus einzuspinnen, in die Mauern des Hauses, das sein Vater, ein Pfarrer, einst erbaut hatte. Wie ich einer Betrachtung von Erhart Kästner entnehme, mit dem er über viele Jahre hinweg in Kontakt stand, war der zurückgezogen lebende Mann kei-nesfalls ein Leser dessen, was in der DDR als empfohlene Lektüre galt. Er schätzte Samuel Beckett und Ernst Jandl, und, was ihn eindeutig als Liebhaber auch exzentrischer Lektüren ausweist, die mit gewöhnlicher Lesekost nichts zu tun haben: er schätzte Rudolf Borchardt, diesen hoch-mögenden Sonderling (und auch bisweilen Narren) einer Literatur, die sich einem größeren Publikum bis auf den heutigen Tag hartnäckig ent-zieht. Auch dies kennzeichnet Altenbourg als Solitär. Ein Solitär, der das Eingesponnensein pflegte, wovon die rätselhafte Verschlossenheit seiner Kunst beredt kündet, beredt insofern, als sich seinen Werken durchaus

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erzählerische Momente zuordnen lassen, so ephemer, so spielerisch ver-schweift und zugleich verkapselt sie auch sein mögen. Offensichtlich war bei ihm die Neigung, sich selbst als Schriftsteller zu beweisen, ebenso vorhanden. Altenbourg war ja auch ein Mann, der die Wörter liebte, und gerade die versunkenen, im Rückzug begriffenen. Dabei suchte ihn bisweilen die etwas exaltiert wirkende Marotte heim, zwei Wörter mit einem Gleichheitszeichen zu verbinden, als komme darin eine anders-mögende Sprachmathematik zum Vorschein. Man kann aber froh sein, daß aus Gerhard Altenbourg kein zweiter Arno Schmidt wurde, der in seinem Spätwerk die aparte Verkasematuckelung der Schreibweise ins Extrem trieb. Eine Verstellungstechnik, die auch in der Zeichensetzung ihren Ausdruck findet, paßt gut zu einer frei gewählten und heroisierten Einsamkeit. Sie paßt auch gut zu diesem Menschen, der in einem Brief an Anita Kästner, der Frau von Erhart Kästner, schrieb, er lese gerade mit Vergnügen in den Aufzeichnungen Elias Canettis, aus denen er drei Sätze zitiert: »Es läßt sich nur einsam sein, wenn man in einiger Entfernung Menschen hat, die auf einen warten. Absolute Einsamkeit gibt es nicht. Es gibt nur die grausame Einsamkeit gegen die Wartenden.«1

In vollendeter Einsamkeit lebte Altenbourg durchaus nicht, denn seine Werke fanden ab Anfang der fünfziger Jahre zunächst zwar nur verhal-tenen Anklang im Westen, in den sechziger Jahren jedoch immer stär-keren, zumal sich bedeutende Galeristen wie Rudolf Springer und Dieter Brusberg für ihn interessierten. Auch auf der Documenta in Kassel war er zweimal vertreten.

Kehren wir wieder zu Versunken im Ich-GesteinVersunken im Ich-Gestein zurück. Am oberen Rand des Bildes und an einem Fleck auf der linken Seite zeigt sich ein dunkles Blau, kein gewölbter Himmel, der bereits ins nächtliche Dunkel zurücksinkt, eher ein einsickerndes Blau, das sich Spalten und Löcher im Gestein zunutze macht, um zu erscheinen. Vielleicht kündet das Gesicht von einem präzis in den Fels geschlossener Traum, der sich ohne zu wa-bern in den Grenzen seiner bleichen Kontur hält. In einem Text über den Schriftsteller und Bibliothekar Erhart Kästner greift Gerhard Altenbourg zu einer seltenen Formulierung, indem er von einem Schimmer des geist-Schimmer des geist-gezeugten Blausgezeugten Blaus spricht.2 Nun, sein Blau im Ich-Gestein ist weniger von schimmernder Feuchte, sondern eher trockener Natur. Es zeugt jeden-falls nicht von einer sich über Erde, Geröll und Fels erhebenden luziden Durchsichtigkeit, die sich über den Bildrand hinaus ins Weite verbreitet. Deshalb hat das Bild auch ohne Rahmen etwas Eingeschreintes.

Haben wir schon davon gesprochen, was sich unter dem Schirm der Mütze verbergen mag? Es ist nicht leicht zu deuten. Eine Art Galerie, eine leicht gebogene Balustrade mit einer zarten Andeutung von Sommer-

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lichem könnte es sein, wiewohl ihr weder Wärme entströmt, noch müßte das sich hinter der Stirn tummelnde Geistgebiet vor der Hitze beschirmt werden. Die leichte, nach den äußeren Enden hin etwas hochgezogene Biegung läßt zugleich die Assoziation von einem Kahn aufkommen, in welchem sich die schwankenden Gedanken sammeln. Auch das mag überinterpretiert sein. Aber bei der Betrachtung eines gegenständlichen Bildes, das sich davor hütet, allzu klare Zeichen zu setzen, gilt grundsätz-lich: dem Betrachter bleibt überlassen, darin zu sehen, was er denn sehen will.

Dünne Langnase, dünner Mundstrich, geisterhafte Striche, die das Gesicht ein wenig zerteilen, ohne es zu verletzen, eine Protuberanz auf der linken Seite, von der man nicht weiß, ob das ein kurioses Kragenge-wurstel sein soll, läßt das Antlitz ein wenig götzenhaft erscheinen. Aller-dings dürfte es sich um einen Götzen von äußerst fragiler Natur handeln, jedenfalls keinen aus Gold, Bronze, Holz oder Stein, sondern einen, der erscheint, um demnächst wieder zu vergehen. Jetzt kneife ich die Augen zusammen und öffne sie wieder: er ist noch da! Jawohl, noch da! Insisten-ter denn je in seiner inoffensiven, geisterhaften Zuhandenheit.

Leider war es dem verehrungswürdigen Künstler nicht vergönnt, seine leibliche Zuhandenheit nach dem Fall der Mauer noch ein Weilchen in die offenere Welt zu tragen. Er starb am 30. 12. 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, dreiundsechzigjährig an den Folgen eines Verkehrsunfalls.

Anmerkungen1 Gerhard Altenbourg und Erhart Kästner: Das dritte Auge. Ein Dialog der Freunde Das dritte Auge. Ein Dialog der Freunde, Frank-

furt a. M. / Leipzig 1992, S. 128.2 Ebd., S. 13.

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Dieter Lamping

Vom Europäischen Geist Karl Jaspers’ Genfer Vortrag

1.

Als die Genfer »Rencontres Internationales« zum ersten Mal im Sep-tember 1946 stattfanden, zum Thema »L’Esprit européen«, waren damals weithin bekannte europäische Intellektuelle wie Julien Benda, Francesco Flora, Jean-Rudolf von Salis, Georg Lukács, Stephen Spender und Georges Bernanos eingeladen. Nur ein Deutscher war aufgefordert wor-den, sich zu beteiligen: der 63-jährige Karl Jaspers, im letzten Jahr erst von der amerikanischen Besatzungsmacht wiedereingesetzt als Professor für Philosophie an der Universität Heidelberg. Für Jaspers war der Genfer Vortrag sein erster großer Auftritt außerhalb Heidelbergs seit gut einem Jahrzehnt. Nach dem Verlust seiner Professur 1938 hatte er Einladungen zu Vorträgen in das benachbarte Ausland, nach Basel und Paris, ausge-schlagen, weil er seine Frau ungeschützt hätte zurücklassen müssen.

Jaspers zu den »Rencontres« einzuladen hatte durchaus Sinn. An-ders als Julien Benda, der 1933 seinen Discours à la nation européenneDiscours à la nation européenne veröffentlicht hatte, war er zwar nicht mit einer Schrift zu europäischen Fragen hervorgetreten. Noch vor dem Publikationsverbot hatte er aber eine Reihe von Büchern veröffentlicht, deren europäischer Horizont of-fensichtlich war. In verschiedene Sprachen übersetzt, waren sie auch au-ßerhalb Deutschlands wahrgenommen worden. Zu ihnen gehörten nach Die geistige Situation der ZeitDie geistige Situation der Zeit vor allem seine wesentlich auf Kierkegaard und Nietzsche sich beziehenden drei Groningener Vorlesungen über Vernunft und ExistenzVernunft und Existenz von 1935 und sein DescartesDescartes-Buch von 1937. Im Unterschied vor allem zu Martin Heidegger war Jaspers zudem einer der wenigen nicht-emigrierten deutschen Philosophen, die nicht auf die eine oder andere Weise mit dem Nationalsozialismus paktiert hatten.1

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2.

Mit der Genfer Tagung setzte der durch den Krieg unterbrochene Europa-Diskurs neu ein. Weil sich an ihm während des 20.  Jahrhunderts zahl-reiche Schriftsteller von Hugo von Hofmannsthal über Thomas Mann bis zu T. S. Eliot beteiligt haben, nach dem Zweiten Weltkrieg etwa auch Alfred Andersch, Rolf Hochhuth und Hans Magnus Enzensberger, hat man in ihm gern ein Anliegen vor allem von Autoren gesehen.2 Doch außer Politologen und Theologen sind es auch Philosophen gewesen, die an ihm teilgenommen haben. Jaspers ist auf deutscher Seite neben Jürgen Habermas3 der bekannteste.

1945 schien die europäische Idee nach zwei Weltkriegen, die von Eu-ropa ausgegangen waren, erledigt. In der neutralen Schweiz teilte man diese Ansicht allerdings nicht, gerade in Genf, das seit 1920 Sitz des Völ-kerbundes, seit dem 1. August 1946 auch Sitz des Büros der Vereinten Nationen war. Die Frage, welche Rolle Europa in einer künftigen Weltord-nung einnehmen könne, stand durch die Gründung der Vereinten Natio-nen und der Einrichtung ihres europäischen Hauptsitzes tatsächlich auf der Tagesordnung.

Jaspers gehörte zu den Deutschen, die das Europäische nicht verlo-ren geben wollten. Er war sich allerdings der Schwierigkeit bewußt, den europäischen »Geist«, dessen Geltung Benedetto Croce für das 19. Jahr-hundert erwiesen hatte,4 in die zweite Hälfte des 20. hinüberzuretten. »Die Enttäuschung zweier Weltkriege«, stellt er fest,5 »zwingt uns, alle europäischen Gebilde gleichsam zu beklopfen, wie weit sie etwa hohl ge-worden sind«.6 Die Bilanz dieser Prüfung fällt nüchtern aus. Alles, was man herkömmlicherweise als europäisch betrachtet hatte, sah Jaspers in einer Krise: den Humanismus, die moderne Zivilisation, die »Gesell-schaft germanisch-romanischer Nationengermanisch-romanischer Nationen in ihrem politischen Gleichge-wicht«, schließlich die »christlichen Kirchen«.christlichen Kirchen«.7 Mit dieser Feststellung ist gewissermaßen der Nullpunkt der überlieferten Idee von Europa erreicht, an dem die Frage: »Was ist Europa?«8 neu gestellt werden muß. Genau das hat Jaspers in seiner Genfer Rede getan.

Die Gedanken, die er dabei entwickelte, sind grundsätzlicher Art. Sie gelten dem, was Europa im Letzten ausmacht – dem »europäischen Geist«, wie er ihn nennt. Jaspers statuiert ihn nicht dogmatisch, sondern versucht ihn empirisch aus der Geschichte zu ermitteln. Die Rede lohnt deshalb auch ein Menschenalter später noch die Lektüre – gerade vor dem Hintergrund erheblich veränderter politischer und ökonomischer Umstände. Denn zu der Dynamik der Veränderungen, die zu ihnen ge-führt haben, gehört es, dass sie kaum eine Verständigung über eine ge-

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meinsame europäische Identität einschlossen. Der politische und der öko-nomische Diskurs haben sich vom kulturellen bald abgelöst. Worauf sich Europa gründen könnte, über einige gemeinsame politische und ökono-mische Interessen hinaus, die stets einem mal langsameren, mal schnelle-ren Wandel unterliegen, ist dabei durchaus fraglich geblieben. Gerade in Krisenzeiten wird das immer wieder deutlich. Die Rede von Jaspers nach 70 Jahren zu konsultieren, bedeutet nicht zuletzt, zu den grundlegenden Fragen eines europäischen Selbstverständnisses zurückzukehren.

3.

Auf die Frage: »Was ist Europa?«9 gibt es für Jaspers grundsätzlich ver-schiedene Antworten. Sie gehen alle über das bloß Geographische hinaus, nicht nur in das Politische, sondern auch z. B. in das Religiöse hinein, und sind historischem Wandel unterworfen:

Was ist Europa? Etwa die kleine Halbinsel, die der Eurasiatische Konti-nent zum Atlantischen Ozean vorstreckt? Oder auf diesem Boden viel-mehr ein geistiges Prinzip, das Prinzip des Abendlandes? Dann umfaßt Europa in der Antike die griechisch-römische Bildungsgemeinschaft, die um das Mittelmeer lebte. Im Mittelalter reichte es so weit wie das Christentum: die Christenheit ist Europa. In der neueren Zeit aber galt Europa geographisch als das Land bis zum Ural, geistig als die Einheit, die sich den Erdball kolonisatorisch aneignete, als der weiße Mann überall ein Vorrecht geltend machte.10

Eine kulturelle Bestimmung Europas mag da zunächst einfacher erschei-nen, doch auch sie gerät schnell zu einer Aufzählung, wie Jaspers vor-führt:

Europa, das ist die Bibel und die Antike. Europa ist Homer, Äschylus, Sophokles, Euripides, ist Phidias, ist Plato und Aristoteles und Plotin, ist Virgil und Horaz, ist Dante, Shakespeare, Goethe, ist Cervantes und Racine und Molière, ist Lionardo, Raffael, Michelangelo, Rembrandt, Velasquez, ist Bach, Mozart, Beethoven, ist Augustin, Anselm, Thomas, Nicolaus Cusanus, Spinoza, Pascal, Kant, Hegel, ist Cicero, Erasmus, Voltaire. Europa ist in Domen und Palästen und Ruinen, ist Jerusalem, Athen, Rom, Paris, Oxford, Genf, Weimar. Europa ist die Demokratie Athens, des republikanischen Roms, der Schweizer und Holländer, der Angelsachsen.11

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Den »unermeßlichen Reichtum des Geistes, der Sittlichkeit, des Glau-bens«,12 den diese Vielzahl von Personen, Orten und Ordnungen bedeu-tet, sieht Jaspers als das an, was Europäer »verbindet«. Das »Prinzip«, das er in ihm erkennt, hat er mit drei »Worten« umschrieben: »Freiheit, Geschichte, Wissenschaft«.13 Es sind aus seiner Sicht gewissermaßen die Hauptworte europäischen Denkens.

4.

Jaspers proklamiert zwei Arten von Freiheit, die man, nahe an seiner Ter-minologie, die existenzielle und die politische nennen kann. Beide äußern sich in Kommunikation: »Europäisch scheint uns dieses beides: die Tiefe menschlicher Kommunikation selbstseiender Einzelner und die bewußte Arbeit an der Freiheit der öffentlichen Zustände durch die Formen ge-meinschaftlicher Willensbildung.«14

Das sind, unschwer zu erkennen, Grundgedanken der Jaspers’schen Philosophie: dass wir als Einzelne in der Kommunikation mit – einem – anderen Menschen erst zu uns kommen, und dass dies nur in einer Freiheit geschehen kann, die auch gesellschaftlich gesichert sein muß. Existenzielles verbindet sich dabei mit politischem Denken, wenn Jaspers pointiert festhält: »Freiheit ist angewiesen auf die Freiheit aller anderen«.15

Kommunikation ist für Jaspers prozeßhaft: »Wir leben nicht in der Ewigkeit vollendeten Einklangs der Seelen, sondern in der Zeit, das heißt dem stets unvollendeten Anderswerdenmüssen«.16 Die Suche nach Wahrheit wird dabei »durch zwei europäische Grunderscheinungen« be-stimmt: das »Leben in Polaritätenin Polaritäten« und das »Leben vor dem Äußerstenvor dem Äußersten«. Das »Leben in Polaritäten« nennt Jaspers auch das »von Grund auf dia-lektische Dasein«17 Europas:

Europa hat zu jeder Position selber die Gegenposition entwickelt. Es ist eigen vielleicht nur dadurch, daß es der Möglichkeit nach alles ist. Daher ist es bereit, was von außen kommt, nicht nur als Gegensatz zu nehmen, sondern in sich selbst hineinzubilden als Element seines eige-nen Wesens.18

Diese Polarität findet Jaspers letztlich in der »Überlieferung« begründet. »Schon die Bibel, die Grundlage europäischen Lebens, birgt auf eine ein-zige Weise in sich die Polaritäten«,19 vor allem die zwischen Christlichem und Jüdischem. Polaritäten ziehen sich auch durch die europäische Ge-schichte:

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An der Wurzel Europas steht weiter die große Antithese von Antike und Christentum; beide bekämpfen sich und vereinigen sich bis heute. – Europäisch sind die fruchtbaren Gegensätze von Kirche und Staat, von Nationen und Reich, von romanischen und germanischen Natio-nen, von Katholizismus und Protestantismus, von Theologie und Phi-losophie.20

In solcher Spannung der Gegensätze kann es immer wieder ein Scheitern geben, das zum »Leben vor dem Äußersten« gehört:

Dies Scheitern selber aber ist in einer europäischen Polarität Symbol geworden: in dem griechischen tragischen Bewußtseintragischen Bewußtsein, das den Sinn im Scheitern und den Drang zum echten Scheitern kennt – im christlichen christlichen KreuzKreuz, durch welches das tragische Bewußtsein überwunden oder von vornherein gar nicht betreten ist, das den Sinn des Leidens in einer transzendenten Versöhnung kennt.21

5.

Aus dem Drang nach Freiheit entsteht für Jaspers erst Geschichte: als »Anderswerdenmüssen« und Anderswerdenwollen. Sie ist darin für ihn wesentlich Verwirklichung von Freiheit:

der Europäer will konkrete Freiheit, das heißt die Freiheit der Menschen im Einklang miteinander und mit der sie erfüllenden Welt.

Einzig im Abendland ist im Bewußtsein des Einzelnen die Freiheit gebunden an die Freiheit der Zustände.22

Geschichte sei »notwendig, um Freiheit zu erringen«, ja sie sei geradezu »Ringen um die Freiheit«.23

Das muß man, wenn man Jaspers richtig verstehen will, als ein Prinzip begreifen, das nicht notwendig Realität wird. Deshalb fügt er auch, wieder nüchterner, einschränkend hinzu: »Solche Geschichte gibt es jedenfalls in Europa, wenn auch die Masse des europäischen Geschehens wie überall in der Welt ist: das Forttreiben des Unheils von einer Gestalt in die an-dere«.24

Was bleibt, wenn sich Freiheit nicht vollständig verwirklichen läßt, ist der »Anspruch auf Freiheit«, der Geschichte antreibt »als Bewegung zur politischen Freiheit«:25