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AMNESTY INTERNATIONAL REPORT 2013

»Wenn ich schweige, siegt die Straffreiheit. Ichhätte niemals gedacht, dass die Wahrheit zusagen und zu schreiben bedeuten könnte, sichauf einen schmalen Grat zwischen Leben undTod zu begeben. Glauben Sie nicht, dass ichkeine Angst habe, oft durchdringt sie mich bisin die Knochen, doch das Gefühl der Verant-wortung ist stärker.«

Dina Meza, Journalistin und Menschen-rechtsverteidigerin aus Honduras

Auch im Jahr 2012 kämpften Menschenrechts-verteidigerinnen und Menschenrechtsverteidi-ger gegen die Mauer des Schweigens undbrachten Menschenrechtsverletzungen ansLicht der Öffentlichkeit, damit die Verantwort-lichen nicht mehr im Geheimen agieren kön-nen. Vor Gerichten, auf der Straße und im Inter-net traten mutige Frauen und Männer für dasRecht auf freie Meinungsäußerung, für einEnde von Diskriminierung und für Gerechtig-

keit ein. Einige zahlten dafür einen hohenPreis. In vielen Staaten waren sie Anfeindun-gen, Inhaftierungen und Gewalt ausgesetzt.Lippenbekenntnisse zu den Menschenrech-ten hielten Regierungen nicht davon ab, mitder Sorge um die nationale und öffentlicheSicherheit Menschenrechtsverstöße zu recht-fertigen.Der Amnesty International Report 2013 belegt,dass der Ruf nach Gerechtigkeit immer lauterwird. Trotz aller Grenzen und mächtigen Kräfte,die sich ihnen entgegenstellten, begehrtenüberall auf Welt Menschen auf, um ihre Rechteeinzufordern und sich solidarisch mit denjeni-gen zu zeigen, die Unterdrückung, Diskriminie-rung, Gewalt und Unrecht ausgesetzt sind.Ihre Worte und Aktionen zeigen, dass die welt-weite Menschenrechtsbewegung immer grö-ßer und stärker wird – und damit die Hoffnungauf eine Welt ohne Menschenrechtsverletzun-gen.

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AMNESTY INTERNATIONALREPORT 2013ZUR WELTWEITEN LAGEDER MENSCHENRECHTE

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Berichtszeitraum1. Januar bis 31. Dezember 2012

Übersetzerinnenund Übersetzer:Jürgen BauerAriane BöcklerFee EngemannWiebke EnglerDietmar KneitschelEla KneitschelEdith NerkeMascha RohnerAnja SchulteRegina Spöttl

Verantwortlich:Mascha Rohner und Birgit Stegmayer

Deutsche ErstausgabeErschienen bei S. FISCHERFrankfurt am Main, Mai 2013

Titel der englischen Originalausgabe:›Amnesty International Report 2013‹© Amnesty International Publications,London 2013Deutsche Ausgabe:© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013Umschlaggestaltung:hißmann, heilmann, hamburgnach einer Vorlage von Amnesty InternationalGesamtherstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckPrinted in GermanyISBN 978-3-10-000837-4

www.fsc.org

MIXPapier aus verantwor-tungsvollen Quellen

FSC® C083411

®

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Inhalt

Vorwort 7

Regionen im Überblick

Afrika 23

Amerika 25

Asien und Pazifik 27

Europa und Zentralasien 28

Naher Osten und Nordafrika 30

Länderberichte

Afghanistan 35

Ägypten 39

Albanien 46

Algerien 48

Angola 51

Äquatorialguinea 54

Argentinien 57

Armenien 59

Aserbaidschan 60

Äthiopien 63

Australien 67

Bahamas 69

Bahrain 70

Bangladesch 74

Belarus 77

Belgien 80

Benin 81

Bolivien 82

Bosnien und Herzegowina 85

Brasilien 88

Bulgarien 94

Burkina Faso 96

Burundi 96

Chile 99

China 101

Côte d’Ivoire 107

Dänemark 110

Deutschland 112

Dominikanische Republik 114

Ecuador 116

El Salvador 118

Eritrea 120

Estland 123

Fidschi 123

Finnland 125

Frankreich 126

Gambia 129

Georgien 132

Ghana 135

Griechenland 136

Großbritannien 140

Guatemala 144

Guinea 146

Guinea-Bissau 149

Guyana 151

Haiti 152

Honduras 155

Indien 157

Indonesien 163

Irak 167

Iran 171

Irland 177

Israel und besetzte palästinensischeGebiete 179

Italien 184

Jamaika 189

Japan 191

Jemen 192

Jordanien 197

Kambodscha 200

Kamerun 203

Kanada 206

Kasachstan 209

Katar 212

Kenia 214

Kirgisistan 218

Kolumbien 221

Kongo (Demokratische Republik) 227

Kongo (Republik) 232

Korea (Nord) 234

Korea (Süd) 236

Kroatien 239

Kuba 241

Kuwait 244

Laos 246

Lettland 247

Libanon 248

Liberia 251

Libyen 254

Litauen 260

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Madagaskar 261

Malawi 263

Malaysia 265

Malediven 267

Mali 269

Malta 273

Marokko und Westsahara 274

Mauretanien 277

Mazedonien 280

Mexiko 282

Moldau 288

Mongolei 290

Montenegro 291

Mosambik 292

Myanmar 295

Namibia 299

Nepal 301

Neuseeland 303

Nicaragua 304

Niederlande 306

Niger 307

Nigeria 308

Norwegen 313

Oman 315

Österreich 316

Pakistan 318

Palästinensische Gebiete 322

Panama 327

Papua-Neuguinea 328

Paraguay 329

Peru 331

Philippinen 333

Polen 336

Portugal 338

Puerto Rico 339

Ruanda 340

Rumänien 344

Russland 346

Saudi-Arabien 352

Schweden 356

Schweiz 357

Senegal 359

Serbien (einschließlich Kosovo) 361

Sierra Leone 366

Simbabwe 369

Singapur 373

Slowakei 374

Slowenien 377

Somalia 378

Spanien 383

Sri Lanka 386

Südafrika 390

Sudan 395

Südsudan 400

Suriname 405

Swasiland 406

Syrien 408

Tadschikistan 415

Taiwan 418

Tansania 420

Thailand 421

Timor-Leste 424

Togo 425

Trinidad und Tobago 427

Tschad 429

Tschechien 432

Tunesien 434

Türkei 438

Turkmenistan 443

Uganda 445

Ukraine 448

Ungarn 452

Uruguay 454

Usbekistan 455

Venezuela 458

Vereinigte Arabische Emirate 460

Vereinigte Staaten von Amerika 462

Vietnam 468

Zentralafrikanische Republik 470

Zypern 473

Anhang

Kampagnen und Aktionen vonAmnesty International im Jahr 2012 477

Adressen der deutschsprachigen Sektionenvon Amnesty International 480

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Menschenrechtesind grenzenlos

Von Salil Shetty,internationaler Generalsekretärvon Amnesty International

»Ungerechtigkeit an irgendeinem Ort be-droht die Gerechtigkeit an jedem ande-ren. Wir sind in einem unentrinnbarenNetz der Gegenseitigkeit gefangen, inein einziges Gewand des Schicksals ge-hüllt. Was auch immer einen von uns di-rekt beeinflusst, beeinflusst indirektauch alle anderen.«

Martin Luther King Jr., Brief aus dem Gefängnis von Birmingham,USA, 16. April 1963

Am 9. Oktober 2012 schossen Taliban in Pakis-tan der 15-jährigen Malala Yousafzai in denKopf. Ihr »Verbrechen« war es, sich für die Bil-dung von Mädchen einzusetzen. Ihr Mediumwar ein Blog. Wie bei dem Tunesier MohamedBouazizi, dessen Selbstverbrennung 2010Proteste im gesamten Nahen Osten und inNordafrika auslöste, hatte auch Malalas Ent-schlossenheit Auswirkungen weit über dieGrenzen Pakistans hinaus.

Menschen wie sie haben auf der ganzenWelt – unter großem persönlichem Risiko so-wohl auf der Straße als auch in der digitalenWelt – Unterdrückung und Gewalt durch Re-gierungen und andere einflussreiche Akteureaufgedeckt. Über Blogs, andere soziale Me-dien und mithilfe der traditionellen Presse ha-ben sie eine internationale Solidarität geschaf-

fen, damit die Erinnerung an Mohammed undMalalas Träume nicht in Vergessenheit gerät.

Der Mut vieler Menschen verbunden mit derMöglichkeit, ein starkes Verlangen nach Frei-heit, Gerechtigkeit und Rechten auf neuen We-gen zu kommunizieren, hat die Machthaberalarmiert. Solidaritätsbekundungen mit denje-nigen, die gegen Unterdrückung und Diskri-minierung protestieren, stehen in deutlichemGegensatz zu dem Verhalten vieler Regierun-gen, die mit großer Härte gegen friedliche De-monstrierende vorgehen und immer wiederversuchen, die Kontrolle über die digitale Weltzu gewinnen – nicht zuletzt auch durch dasSchaffen digitaler Landesgrenzen.

Was bedeutet es für die Machthaber, die sichan das Konzept der Souveränität klammernund es missbrauchen, dass Menschen in derLage sind, Herrschaftsstrukturen zu durchbre-chen? Was heißt es für sie, wenn sie sehen,dass ihr Volk die Werkzeuge der Unterdrü-ckung und Desinformation, auf denen ihreMacht gründet, ins Licht der Öffentlichkeitrückt? Die von den Machthabern geschaffenenWirtschafts-, Politik- und Handelssystemebringen oftmals Menschenrechtsverletzungenmit sich. So führt der Handel mit Waffen zum

2012 wurdein 112 Staaten gefoltert

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Tod von Menschen. Trotzdem wird er sowohlvon Regierungen verteidigt, die ihr eigenesVolk mit diesen Waffen unterdrücken, als auchvon denjenigen, die vom Waffenhandel wirt-schaftlich profitieren. Sie alle rechtfertigen ihrVorgehen mit staatlicher Souveränität.

Souveränität und SolidaritätAuf dem Weg zur Verwirklichung von Freihei-ten, Rechten und Gleichheit müssen wir dasKonzept der Souveränität überdenken. DieStärke staatlicher Souveränität sollte – undkann – durch die Bestimmung des eigenenSchicksals entstehen. So wie es Staaten vor-gemacht haben, die aus dem Kolonialismushervorgegangen, aus dem Schatten dominie-render Nachbarstaaten herausgetreten oderaus Bewegungen hervorgegangen sind, dierepressive und korrupte Regime gestürzt ha-ben. Das ist die positive Macht der Souveräni-tät. Um sie einerseits aufrechtzuerhalten undandererseits zu kontrollieren, muss Souverä-nität neu definiert und dabei sowohl globale So-lidarität als auch globale Verantwortlichkeitmiteinbezogen werden. Wir sind Weltbürger.Wir können uns für andere einsetzen, weil wir

China: Verzweifelte Frau nach dem Abriss ihres Hauses © AP Photos / Imagine China

Zugang zu Informationen haben und entschei-den können, über Grenzen hinweg aktiv zuwerden.

Immer wieder pochen Regierungen undMachthaber auf staatliche Souveränität, umtun zu können, was sie wollen, und sie setzendabei Souveränität mit der Kontrolle über in-nere Angelegenheiten ohne jegliche Einfluss-nahme von außen gleich. Dieser Souveräni-tätsanspruch – so fadenscheinig er auch seinmag – dient dabei häufig dem Vertuschenoder Verleugnen von Unterdrückung, Korrup-tion, Hungersnöten, geschlechtsspezifischerVerfolgung, Massenmorden und Genoziden.

Doch für diejenigen, die ihre Macht und ihrVorrecht ausnutzen, ist es schwierig gewor-den, diesen Missbrauch zu vertuschen. Bürgernehmen mit ihren Mobiltelefonen Videos aufund stellen sie ins Internet. Sie enthüllen soMenschenrechtsverletzungen und zeigen, wassich wirklich hinter der scheinheiligen Rhetorikund den eigennützigen Rechtfertigungen derMachthabenden verbirgt. Gleichzeitig wird dieKontrolle von Unternehmen und anderen ein-flussreichen privaten Akteuren vereinfacht, weiles immer schwieriger wird, die Konsequenzen

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von undurchsichtigen oder kriminellen Aktivitä-ten zu vertuschen.

Einer der Schwerpunkte der Menschen-rechtsarbeit ist das Recht aller Menschen aufSchutz vor Gewalt. Ein weiterer wichtigerAspekt ist die strikte Begrenzung der staatli-chen Eingriffsmöglichkeiten in das Privat- undFamilienleben. Dazu gehört auch der Schutzder Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- undGewissensfreiheit. Dies bedeutet zudem, dassder Staat nicht über den Körper und den Um-gang mit ihm bestimmen darf – was auch dieWahl der Kleidung, die Entscheidung Kinder zubekommen und die sexuelle und geschlechtli-che Identität einschließt.

Allein das Jahr 2012 hat uns eine Vielzahl vonBeispielen dafür geliefert, dass Regierungendie Rechte ihrer eigenen Bevölkerung verletzen.

In den ersten Tagen des Jahres 2012 wurden300 Familien aus einem Stadtteil der kambod-schanischen Hauptstadt Phnom Penh vertrie-ben und waren in der Folge obdachlos. Nurwenige Wochen später erlitten 600 Menschenim Armutsviertel Pinheirinho im brasiliani-schen Bundesstaat São Paulo dasselbe Schick-sal. Im März wurden insgesamt 21 Menschenvon Polizisten in Jamaika erschossen und meh-rere Musiker in Aserbaidschan geschlagen,festgenommen und in Haft gefoltert. Die west-afrikanische Republik Mali stürzte im selbenMonat nach einem Putsch in der HauptstadtBamako in eine schwere Krise.

Und so ging es weiter: In Nigeria kam es zuZwangsräumungen. In Somalia, Mexiko undanderen Ländern wurden Journalisten getötet.Frauen wurden zu Hause, auf der Straße oderwährend sie ihr Recht zu protestieren wahrnah-men, vergewaltigt und sexuell missbraucht.Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender undIntersexuelle wurden verprügelt und daran ge-hindert, Gay-Pride-Festivals zu veranstalten.Menschenrechtsverteidiger wurden ermordetoder auf Grundlage konstruierter Anklagen in-haftiert. Im September ließ die japanische Re-gierung zum ersten Mal seit mehr als 15 Jahreneine Frau hinrichten. Im November eskalierteder Konflikt zwischen Israel und dem Gazastrei-fen abermals, zur gleichen Zeit flohen in der

Demokratischen Republik Kongo Tausende Zi-vilpersonen aus ihren Unterkünften, als dievon Ruanda unterstützte bewaffnete BewegungM23 in Richtung der Hauptstadt der ProvinzNordkivu marschierte.

In Syrien dauerte der bewaffnete Konflikt 2012unvermindert an. Bis Ende des Jahres war dieAnzahl der Toten laut Angaben der UN bereitsauf über 60000 gestiegen.

UntätigkeitWir gehen bei unserer Menschenrechtsarbeitdavon aus, dass Staaten souverän sind.

In den vergangenen Jahrzehnten hat manstaatliche Souveränität – die zunehmend en-ger mit dem Konzept der nationalen Sicherheitverknüpft wurde – viel zu oft als Rechtferti-gung für Handlungen genutzt, die der Wahrungder Menschenrechte entgegenstanden. Inmanchen Ländern behaupten die Regierungen,dass sie – und nur sie – Entscheidungen tref-fen können, die Auswirkungen auf das Lebenihrer Bevölkerung haben.

Der syrische Präsident Bashar al-Assad si-cherte sich, wie schon sein Vater vor ihm, seinAmt, indem er die Armee und die Sicherheits-kräfte des Landes gegen die eigene Bevölke-rung einsetzte, die seinen Rücktritt forderte. Esgibt jedoch einen wesentlichen Unterschied:Zur Zeit des Massakers von Hama im Jahre1982 geschahen diese Massentötungen trotzdes Einsatzes von Amnesty International undviele anderen weitgehend außerhalb desBlickfeldes der restlichen Welt. Im Gegensatzdazu war es mutigen syrischen Bloggern undAktivisten in den vergangenen Monaten mög-lich, der ganzen Welt direkt und unmittelbarzu erzählen, was in ihrem Land passiert.

Seit nunmehr fast zwei Jahren führen die syri-schen Streit- und Sicherheitskräfte immer wie-der willkürliche Angriffe durch und inhaftieren,

Seit dem Beginnder Kämpfe in Syriensind über 60000 Menschengetötet worden

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foltern und töten Menschen, die sie für Unter-stützer der bewaffneten Opposition halten. Trotzder steigenden Zahl der Todesopfer – und trotzreichlich vorhandener Beweise für begangeneVerbrechen – ergriff der UN-Sicherheitsrat er-neut keine Maßnahmen zum Schutz der Zivilbe-völkerung. In einem Bericht von Amnesty In-ternational werden in diesem Zusammenhang31 verschiedene Arten der Folter und ander-weitiger Misshandlungen dokumentiert. Be-waffnete Oppositionsgruppen sind ebenfallsfür Massentötungen und Folterungen verant-wortlich, wenngleich in wesentlich geringeremAusmaß. Dass der UN-Sicherheitsrat bishernicht eingegriffen hat, liegt vor allem am Wider-stand der Vetomächte Russland und China, dieihre Haltung damit begründen, dass man diestaatliche Souveränität Syriens achten müsse.

Dass weder einzelne Staaten noch die interna-tionale Gemeinschaft konsequente Maßnah-men zum Schutz der Zivilbevölkerung ergreifen,wenn Regierungen und Sicherheitskräfte ge-gen ihr eigenes Volk vorgehen – es sei denn, esbringt ihnen einen Nutzen – ist inakzeptabel.Egal, ob wir von dem Genozid in Ruanda 1994,den eingesperrten Tamilen in der tödlichen»Sicherheitszone« im Norden Sri Lankas, in der2009 Zehntausende Zivilpersonen starben,den verhungernden Menschen in Nordkoreaoder aber von dem aktuellen Konflikt in Syriensprechen – Untätigkeit unter dem Vorwand, dieSouveränität eines Staates zu wahren, ist un-entschuldbar. Dies beinhaltet nicht zuletzt derGrundsatz der Schutzverantwortung, der aufdem UN-Weltgipfel 2005 beschlossen und seit-dem bereits mehrfach bestätigt worden ist.

Letztendlich tragen die Staaten selbst die Ver-antwortung dafür, dass die Rechte ihrer Be-völkerung gewahrt werden. Niemand, der anGerechtigkeit und Menschenrechte glaubt,würde jedoch behaupten, dass staatliche Sou-veränität derzeit in irgendeiner Weise zur Um-setzung dieser beiden Grundwerte beiträgt.

Dass Staaten absolute Souveränität bean-spruchen und gleichzeitig ihren Fokus auf denSchutz der nationalen Sicherheit und nicht aufMenschenrechte und die Sicherheit der Be-völkerung legen, ist eine gefährliche Mischung,

der endlich etwas entgegensetzt werdenmuss. Schluss mit Ausflüchten und Entschuldi-gungen. Es ist an der Zeit, dass die internatio-nale Gemeinschaft aufsteht und ihre Verpflich-tung zum Schutz aller Bürgerinnen und Bür-ger dieser Welt neu definiert.

Die Regierungen sind dazu verpflichtet, dieMenschenrechte zu respektieren, zu schützenund zu erfüllen. Viele sind dieser Pflicht jedochallenfalls vorübergehend nachgekommen. DieMenschenrechtsbewegung konnte in den ver-gangenen Jahrzehnten zahlreiche Erfolge ver-zeichnen – von der Freilassung gewaltloserpolitischer Gefangener bis hin zu einem globa-len Folterverbot und der Einrichtung eines In-ternationalen Strafgerichtshofs. Dennoch führtdie verzerrte Auslegung von Souveränität dazu,dass Millionen von Menschen weiterhin derZugang zu Menschenrechten versperrt bleibt.

Schutz oder AusbeutungEines der prägnantesten Beispiele für die pro-blematische Auslegung staatlicher Souveräni-tät ist der weltweite Umgang mit indigenen Be-völkerungsgruppen in den vergangenen Jahr-

Bahrain: Eine Demonstrantin hält das Foto des inhaftierten Men-schenrechtlers Nabeel Rajab hoch © AP Photo / Hasan Jamali

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zehnten. Eine Wertvorstellung, die indigene Ge-meinschaften rund um den Globus verbindet,ist ihre Ablehnung des Konzeptes von »Grund-besitz«. Sie betrachten sich stattdessen tradi-tionell als Hüter des Landes, auf dem sie leben.Dafür zahlen sie jedoch einen hohen Preis. Wiesich im Laufe der Zeit herausgestellt hat, lebenviele indigene Gemeinschaften in Gebieten,die reich an Bodenschätzen sind. Die Regierun-gen, die eigentlich zum Schutz der Rechte die-ser Gemeinschaften verpflichtet sind, bean-spruchen deswegen oftmals deren traditionel-les Land für den »souveränen Staat«, verkaufenoder verpachten es oder ermöglichen es ande-ren, die Bodenschätze auszubeuten. Anstatt dieVorstellung der Gemeinschaften, Wächter desLandes und aller zugehörigen Ressourcen zusein, zu respektieren, sind Staaten und Unter-nehmen in diese Gebiete eingedrungen, habendie indigene Bevölkerung vertrieben und Ei-gentum am Land oder aber die daran geknüpf-ten Abbaurechte beansprucht.

Besonders erschreckend ist, wie viele Staatenund Unternehmen die UN-Erklärung über dieRechte der Indigenen Völker einfach ignorieren.Darin werden Staaten ausdrücklich dazu auf-gefordert, indigene Gemeinschaften in vollemUmfang und wirksam an allen Angelegenhei-ten zu beteiligen, die sie betreffen.

Die Sawhoyamaxa in Paraguay konnten auch2012 nicht auf das Land zurückkehren, vondem sie vor 20 Jahren vertrieben worden wa-ren. Und das, obwohl der InteramerikanischeGerichtshof für Menschenrechte 2006 ihreLandrechte in einem Urteil anerkannte. Weiternördlich, in Kanada, wehrten sich weiterhinDutzende Gemeinschaften der First Nationsgegen den geplanten Bau einer Pipeline zwi-schen den Ölsanden in der Provinz Albertaund der Küste von British Columbia, die durchihre Gebiete führen würde.

2012 wurde in 80 Staatendas Recht auf ein fairesGerichtverfahrensystematisch verletzt

In einer Zeit, in der sich die Regierungen einBeispiel daran nehmen sollten, wie indigeneGemeinschaften mit natürlichen Ressourcenumgehen, werden die Gebiete, in denen dieseBevölkerungsgruppen ihrem traditionellen Le-ben noch nachgehen können, überall auf derWelt immer kleiner.

Aktivisten, die sich für die Rechte ihrer indige-nen Gemeinschaften einsetzen, laufen Gefahr,angegriffen und sogar getötet zu werden.

Derartige Diskriminierung, Marginalisierungund Gewalt beschränkten sich 2012 nicht nurauf den amerikanischen Kontinent, sondern wa-ren weltweit zu beobachten – von den Philip-pinen bis Namibia, wo die Kinder der San undder Ovahimba sowie andere ethnische Minder-heiten durch zahlreiche Beschränkungen amZugang zu Bildung gehindert wurden. So wur-den die Kinder der Ovahimba in Opuwo gezwun-gen, ihr Haar kurz zu schneiden und auf dasTragen traditioneller Kleidung zu verzichten, umeine öffentliche Schule besuchen zu dürfen.

Globalisierung und MenschenrechteDer Kampf um Ressourcen ist nur eines derMerkmale unserer globalisierten Welt. Ein an-deres ist der Kapitalfluss über Landesgrenzenund Ozeane hinweg in die Taschen der Macht-haber. Natürlich stimmt es, dass die Globalisie-rung für einige zu Wirtschaftswachstum undWohlstand geführt hat. Doch müssen nicht nurindigene Bevölkerungsgruppen, sondern zahl-reiche weitere Gemeinschaften zusehen, wieRegierungen und Unternehmen Profit ausdem Land schlagen, auf dem sie leben – wäh-rend sie selbst hungern.

Trotz eines signifikanten Wirtschaftswachs-tums in vielen Ländern Subsahara-Afrikas le-ben dort noch immer Millionen von Menschenin lebensbedrohlicher Armut. Nach wie vorsind zwei der Hauptgründe dafür Korruptionund der Abfluss von Kapital in Steuerpara-diese außerhalb Afrikas. Der Reichtum der Re-gion an Bodenschätzen heizt Geschäfte zwi-schen Unternehmen und Politikern an. Feh-lende Transparenz hinsichtlich abgeschlosse-ner Lizenzverträge und keinerlei Verpflichtun-gen zur Rechenschaftslegung führen zu un-

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rechtmäßiger Bereicherung sowohl der Unter-nehmenseigner als auch der Politiker, die aufKosten derjenigen geschieht, deren Arbeitskraftausgebeutet wird, deren Land abgetragen wirdund deren Rechte verletzt werden. Gerechtig-keit ist für sie nicht einmal ansatzweise er-reichbar.

Ein weiteres Beispiel für den freien Kapital-fluss in unserer globalisierten Welt sind dieRücküberweisungen von Arbeitsmigranten ausder ganzen Welt in ihre Heimatländer. LautAngaben der Weltbank sind diese Rücküber-weisungen in Entwicklungsländer dreimal sohoch wie die offiziellen internationalen Entwick-lungshilfeleistungen. Dennoch wurden dieRechte eben dieser Arbeitsmigranten 2012größtenteils weder durch ihre Heimat- nochdurch ihre Aufnahmeländer angemessen ge-schützt.

So haben beispielsweise Arbeitsvermittlungenin Nepal 2012 weiterhin Migranten zum Zweckder Ausbeutung und Zwangsarbeit vermitteltund dabei Gebühren verlangt, die über denstaatlich vorgeschriebenen Höchstsätzen la-gen. Dadurch waren viele Arbeiter gezwun-gen, große Darlehen zu hohen Zinssätzen auf-

Kenia: Bewohner der informellen Siedlung Deep Sea in Nairobi © Nikola Ivanovski

zunehmen. Anwerber täuschten zahlreicheArbeitssuchende hinsichtlich der Entlohnungund der Arbeitsbedingungen. Und Arbeitsver-mittlungen, die gegen das nepalesische Gesetzverstoßen hatten, wurden nur selten zur Ver-antwortung gezogen. Die nepalesische Regie-rung erließ im August ein Gesetz, mit demFrauen unter 30 Jahren untersagt wurde, alsHausangestellte nach Kuwait, Katar, Saudi-Arabien oder in die Vereinigten ArabischenEmirate zu migrieren, nachdem es in diesenLändern wiederholt Beschwerden wegen sexu-ellen und anderen physischen Missbrauchsgegeben hatte. Das Verbot erhöhte jedoch mög-licherweise die Risiken für die Frauen, die nungezwungen sind, auf anderem Wege Arbeit zufinden. Dieses Gesetz ist wie andere auchnicht mehr als ein Lippenbekenntnis für dieRechte von Frauen. Notwendig wäre, dasssich die nepalesische Regierung dafür einge-setzt, dass Frauen in ihrem Arbeitsumfeld imAusland besser geschützt sind.

Sobald Arbeitsmigranten die Grenzen ihrerHerkunftsländer hinter sich gelassen haben,fühlen diese sich nicht länger für sie verantwort-lich. Gleichzeitig sprechen ihnen die Aufnah-

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meländer alle Rechte ab, weil sie eine fremdeStaatsbürgerschaft haben. Die InternationaleKonvention zum Schutz der Rechte aller Wan-derarbeitnehmer und ihrer Familienangehöri-gen von 1990 gehört noch immer zu den Men-schenrechtsabkommen mit den wenigstenVertragsstaaten. Keiner der Staaten in West-europa, die Migranten aufnehmen, hat dasAbkommen bisher ratifiziert und auch anderewichtige Aufnahmeländer wie die USA,Kanada, Australien, Indien, Südafrika undeinige der Golfstaaten gehören nicht zu denVertragsstaaten.

Besonders schutzlos sind Personen, die keineStaatsbürgerschaft besitzen. Weltweit gibt es12 Mio. Staatenlose, was der Einwohnerzahlgroßer Ballungsräume wie London, Lagos oderRio de Janeiro entspricht. Etwa 80% der Staa-tenlosen sind Frauen. Sie unterstehen nichtdem Schutz eines »souveränen Staates«. IhrSchutz obliegt uns allen. Die Menschenrechte

Anfang 2012 waren12 Millionen Menschenweltweit staatenlos

Südsudan: Flüchtlinge aus den Konfliktgebieten im Sudan im Flüchtlingslager in Yida © Pete Muller

müssen für alle Menschen gelten, ob sie einHeimatland haben oder nicht.

Manche Staaten fühlen sich nicht zuständig,wenn Frauen in Lagern im Südsudan verge-waltigt, Asylsuchende von Australien bis Keniain Hafteinrichtungen oder Metallverschlägeneingesperrt werden, Hunderte Flüchtlinge inundichten Booten auf ihrer verzweifelten Su-che nach einem sicheren Hafen sterben.

Afrikanischen Flüchtlingen vor der Küste Ita-liens wurde 2012 abermals das Anlegen anden sicheren Ufern Europas verweigert. Dieaustralische Regierung fing weiterhin Bootevon Flüchtlingen und Migranten auf hoher Seeab. Auch die US-Küstenwache verteidigte die-ses Vorgehen: »Das Abfangen von Migrantenauf hoher See ermöglicht eine schnelle Rück-führung in ihre Herkunftsländer, wodurch kost-spielige Prozesse vermieden werden, die nacheiner Einreise in die USA erforderlich werdenwürden.« In all diesen Fällen hatte die staatli-che Souveränität Vorrang vor dem Recht desEinzelnen, Asyl zu beantragen.

Etwa 200 Menschen sterben jedes Jahr beidem Versuch, auf dem Weg in die USA dieWüste zu durchqueren – eine direkte Folge vonMaßnahmen der US-Regierung, ungefährli-

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chere Wege über die Grenze für Migranten un-passierbar zu machen. Obwohl die Einwande-rung in die USA stetig abnimmt, ist die Zahl derTodesopfer in etwa gleich geblieben.

Diese Beispiele zeigen auf besonders drasti-sche Weise, wie die Verantwortung, die Men-schenrechte – einschließlich des Rechts auf Le-ben – zu schützen, verleugnet wird. Die Ab-schottung der Grenzen steht in starkem Kon-trast zum freien und grenzüberschreitendenKapitalfluss.

In ebenso starkem Kontrast stehen Einwande-rungskontrollen zum weitgehend unbe-schränkten internationalen Handel mit konven-tionellen Waffen, zu denen auch Kleinwaffenund leichte Waffen gehören. HunderttausendeMenschen werden infolge dieses Handels ver-letzt, vergewaltigt, gezwungen, aus ihrer Heimat

Aktion von Amnesty International anlässlich der UN-Konferenz zum Waffenkontrollvertrag in New York im Juni 2012

© Control Arms – Andrew Kelly

In den 131 bewaffnetenKonflikten des Jahres 2012starben zwischen 794000und 1115000 Menschen

zu fliehen, oder getötet. Darüber hinaus hatder Waffenhandel direkten Einfluss auf Diskri-minierung und geschlechtsspezifische Gewaltgegen Frauen und auf die Bemühungen umFrieden und Sicherheit sowie Gleichberechti-gung der Geschlechter. Es ist oftmals einfach,an Waffen zu gelangen, sie werden gekauftund verkauft, getauscht und weltweit versandt.Und viel zu häufig landen Waffen in den Hän-den von Regierungen und ihren Sicherheits-kräften, die Menschenrechte missachten,oder bei Kriegsherren und kriminellen Banden.Die weltweiten Rüstungstransfers sind ein lu-kratives Geschäft mit einem Volumen von rd. 70Mrd. US-Dollar. Natürlich versuchen daherdiejenigen, die besonders von diesem Geschäftprofitieren, Handelsschranken zu verhindern.Als dieser Bericht in den Druck ging, waren dieRegierungen der Länder, die am stärksten inden Handel mit Rüstungsgütern eingebundensind, zu Verhandlungen über einen Waffen-kontrollvertrag bereit. Amnesty Internationalfordert, dass Waffen nicht exportiert werdendürfen, wenn die Gefahr besteht, dass mitihnen schwere Verletzungen der Menschen-

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rechte und des humanitären Völkerrechts be-gangen werden könnten.

Der Fluss von InformationenPositiv an den bisher genannten Beispielen ist,dass sie uns überhaupt bekannt sind. Schonseit einem halben Jahrhundert dokumentiertAmnesty International Menschenrechtsverlet-zungen rund um die Welt und setzt alle verfüg-baren Mittel ein, um solche Verletzungen zustoppen, ihnen vorzubeugen und die Men-schenrechte zu schützen. Heutige Kommuni-kationsformen eröffnen Möglichkeiten, die sichdie Gründer der modernen Menschenrechts-bewegung niemals erträumt hätten. Durch siewird es für Regierungen und Unternehmenzunehmend schwieriger, sich hinter den Gren-zen der »Souveränität« zu verstecken.

Neue Kommunikationsmittel sind atemberau-bend schnell zu einem festen Bestandteil desalltäglichen Lebens geworden. Von der Erstel-lung der ersten Internet-Domain .com 1985 biszu den 2,5 Mrd. Menschen, die heute Zugangzum Internet haben, hat sich eine außerge-wöhnlich rasante Entwicklung vollzogen. 1989legte Tim Berners Lee seine Idee zum Aus-tausch von Informationen über das Internet vor,was die Arbeit von Wissenschaftlern erleich-tern sollte. Hotmail wurde 1996 ins Leben geru-fen, Internet-Blogs im Jahre 1999, Wikipediaging 2001 online. Seit 2004 gibt es Facebook, einJahr später folgte YouTube – gleichzeitig wurdeder milliardste Internet-User gezählt, bei dem essich »statistisch gesehen wahrscheinlich umeine 24-jährige Frau in Shanghai« handelte.2006 gingen Twitter und eine zensierte Versionvon Google in China (Gu Ge) online. Bis 2008gab es bereits mehr Internetnutzer in China alsin den USA. Im selben Jahr entwickelten Akti-visten, die mit Bürgern aus Kenia zusammen-arbeiteten, eine Webseite mit dem NamenUshahidi – dem Suaheli-Wort für »Zeugnis«.Zunächst sollte die Seite die Möglichkeit eröff-nen, die Berichte über Gewalttaten nach denWahlen in Kenia auf einer Karte festzuhalten.Seitdem hat sie sich zu einer global genutztenPlattform entwickelt, die sich das Ziel gesetzt hat»Informationen zu demokratisieren«.

Die modernen Kommunikationsmittel ver-schaffen uns Zugang zu unzähligen Informa-tionen und ermöglichen es Aktivisten, sicherzu-stellen, dass Menschenrechtsverstöße nichtunbemerkt bleiben. Informationen schaffen je-doch auch einen gewissen Handlungszwang.Schon bald wird sich entscheiden, ob wir auchin Zukunft uneingeschränkten Zugang zu die-sen Informationen haben werden, oder ob Staa-ten und andere einflussreiche Akteure diesenZugang einschränken werden. Ein Ziel vonAmnesty International ist es, sicherzustellen,dass jeder die Möglichkeit hat, Informationenzu erhalten und zu verbreiten und somit denMissbrauch von Macht und Souveränität zu be-kämpfen. Das Internet bildet ein wichtiges Ge-gengewicht zu dem Konzept der Souveränitätund den an Staatsbürgerschaft gebundenenRechten. Es eröffnet uns die Möglichkeit, dasModell eines Weltbürgertums zu kreieren.

Was Martin Luther King Jr. so bildhaft als ein»unentrinnbares Netz der Gegenseitigkeit«und ein »einziges Gewand des Schicksals« be-schrieben hat, wurde vor und nach ihm bereitsvon zahlreichen großen Denkern und Men-schenrechtsverteidigern befürwortet und ver-mittelt. Jetzt ist es jedoch an der Zeit, diese Vor-stellung in das »Grundgerüst« unseres Mo-dells einer internationalen Staatsbürgerschafteinzuflechten. Die afrikanische Lebensphilo-sophie Ubuntu bringt es auf den Punkt: »Ichbin, weil wir sind.«

Es geht darum, uns alle miteinander zu ver-binden, unser natürliches Gerechtigkeitsemp-finden und unsere Menschlichkeit nicht vonGrenzen, Mauern, Ozeanen oder Feindbildernbeeinflussen zu lassen. Heute haben wir durchdas Internet eine wirkliche Verbindung –durch einen gemeinsamen Zugang zu Informa-tionen.

Handlungsmacht und BeteiligungEs ist ganz einfach. Die Grenzenlosigkeit der di-gitalen Welt schafft gleiche Voraussetzungenfür alle. Durch das Internet haben viel mehrMenschen als zuvor Zugriff auf Informationen,die ihnen helfen, Regierungen und Unterneh-men zu hinterfragen. Dadurch entstehen

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mehr Transparenz und eine größere Rechen-schaftspflicht. Informationen sind Macht. DasInternet hat das Potenzial, den 7 Mrd. Men-schen weltweit erheblich mehr Macht zu ge-ben. Es ist ein Instrument, das es uns ermög-licht, Menschenrechtsverletzungen zu sehen,zu dokumentieren und dagegen vorzugehen –ganz egal, wo sie begangen werden. Mithilfedes Internets können wir Informationen verbrei-ten und gemeinsam mit anderen daran arbei-ten, Probleme zu lösen, die menschliche Si-cherheit und Entwicklung zu fördern und dasVersprechen von überall geltenden Menschen-rechten zu verwirklichen.

Der Missbrauch staatlicher Souveränität stehthingegen für das genaue Gegenteil. Dabeigeht es um Mauern, um die Kontrolle von Infor-mations- und Kommunikationswegen und da-rum, sich hinter Gesetzen zum Staatsschutz zuverstecken. Hinter dem Anspruch auf Souve-ränität steht die Vorstellung, dass es niemandenaußer der betreffenden Regierung selbst an-geht, was sie macht. Und dass gegen eine Re-gierung nicht vorgegangen werden kann, so-lange sie innerhalb ihrer Staatsgrenzen agiert.

Mexiko: Journalisten protestieren im Mai 2012 nach der Tötung von drei Fotojournalisten (»Die Wahrheit lässt sich durch den Mordan Journalisten nicht unterdrücken«) © AP Photo / Eduardo Verdugo

Es geht um den Umgang der Mächtigen mitden Machtlosen.

Macht und Potenzial der digitalen Welt sindimmens. Dieses Potenzial kann sowohl dazugenutzt werden, eine Gesellschaft aufzubauen,in der die Menschenrechte gewahrt werden,als auch zur Umsetzung menschenrechtsver-letzender Maßnahmen.

Die Wurzeln von Amnesty International liegenim Kampf für die freie Meinungsäußerung. Die-ser Kampf hat durch das Internet eine neue Di-mension erhalten. Weil die Kontrolle von Mei-nungen in der digitalen Welt weitaus schwierigerist, gehen Regierungen mit großer Härte gegenInternetaktivisten vor. Am deutlichsten zeigt sichdies durch die zunehmende Verfolgung undDrangsalierung von Bloggern – von Aserbaid-schan bis Tunesien, von Kuba bis zu den pa-lästinensischen Autonomiegebieten. In Vietnamwurden im September die beiden bekanntenBlogger Nguyen Van Hai, der auch als Dieu Caybekannt ist, und Phan Thanh Hai, der unterdem Pseudonym AnhBaSaiGon arbeitet, sowiedie beliebte »Gerechtigkeit-und-Wahrheit-Bloggerin« Ta Phong Tan wegen »Propaganda

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gegen den Staat« vor Gericht gestellt. Sie wur-den zu zwölf, vier bzw. zehn Jahren Haft und an-schließenden drei bis fünf Jahren Hausarrestverurteilt. Das Gerichtsverfahren der Bloggerdauerte nur wenige Stunden. Ihre Familienan-gehörigen wurden drangsaliert und inhaftiert,um sie an der Teilnahme am Verfahren zu hin-dern. Insgesamt dreimal wurde die Verhandlungverschoben – zuletzt wegen des Todes derMutter von Ta Phong Tan, die sich aus Protestgegen die Behandlung ihrer Tochter vor einemRegierungsgebäude in Brand gesteckt hatte.

Die Inhaftierung von Personen, die online vonihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Ge-brauch machen und in der digitalen Welt gegendie Machthaber vorgehen, ist jedoch nur dererste staatliche Verteidigungsmechanismus.Immer häufiger bemühen sich Regierungen,jegliche digitalen Kommunikationswege oderInformationssysteme abzuschotten. Sowohl imIran als auch in China und Vietnam wurde ver-sucht, ein System umzusetzen, das eine staat-liche Kontrolle der Kommunikationsmöglichkei-ten im Internet und des Zugangs zu allen digi-tal verfügbaren Informationen ermöglicht.

Besorgniserregend ist auch die hohe Anzahlvon Ländern, die eine weniger offensichtlicheKontrolle des Internets durch umfangreicheÜberwachungsmechanismen und eine per-fide Manipulation des Informationszugangs er-forschen. Die USA haben kürzlich das Rechtbeansprucht, Daten aus sogenannten Clouds,also aus digitalen Speichersystemen, die Men-schen aus der ganzen Welt benutzen, zu über-wachen. Das bedeutet, dass die Behördenauch Daten von Einzelpersonen und Unterneh-men einsehen können, die weder in den USAleben, noch die US-amerikanische Staatsbür-gerschaft haben.

Der Kampf um den Zugang zu Informationenund die Kontrolle von Kommunikationsmittelnbeginnt gerade erst. Wie also kann die interna-tionale Gemeinschaft denjenigen, die im Na-hen Osten und in Nordafrika mutig ihr Lebenund ihre Freiheiten aufs Spiel setzen, umMenschen zu mobilisieren, Respekt zollen? Wiekann sich jeder von uns solidarisch mit MalalaYousafzai und all den anderen Menschen zei-

gen, die es wagen aufzustehen und zu sagen,dass sie Unrecht nicht länger hinnehmen?

Wir können Regierungen dazu auffordern, si-cherzustellen, dass ihre Bevölkerung uneinge-schränkten Zugang zur digitalen Welt erhält.Dadurch würden sie dem Menschenrechts-grundsatz aus Artikel 15 des InternationalenPakts über wirtschaftliche, soziale und kultu-relle Rechte nachkommen: »Die Vertragsstaa-ten erkennen das Recht eines jeden an, anden Errungenschaften des wissenschaftlichenFortschritts und seiner Anwendung teilzuha-ben«. Auch in Artikel 27 der Allgemeinen Erklä-rung der Menschenrechte heißt es: »Jeder hatdas Recht, am kulturellen Leben der Gemein-schaft frei teilzunehmen, sich an den Künstenzu erfreuen und am wissenschaftlichen Fort-schritt und dessen Errungenschaften teilzuha-ben.«

Uneingeschränkter Zugang zum Internet istsicherlich als Errungenschaft des wissen-schaftlichen Fortschritts zu betrachten.

Vor vielen Jahren haben zahlreiche Staaten einAbkommen zur Regelung des internationalenPostverkehrs geschlossen. Durch die Zusam-menarbeit der nationalen Postdienste aller be-teiligten Staaten ist so ein globales Versandsys-tem entstanden. Seitdem können wir Briefeschreiben, eine Briefmarke auf den Umschlagkleben und sie an fast jeden Ort dieser Weltschicken. Wird die Post nicht bis zur Haustürgebracht, gibt es Postfächer oder Sammelstel-len, wo die Postsendungen abgeholt werdenkönnen.

Diese Postsendungen werden als privat be-trachtet – egal wie viele Grenzen sie überque-ren. Diese Form der Kommunikation und desInformationsaustauschs setzte von Anfang andas Recht auf den Schutz der Privatsphäre vo-raus und hat das Kommunikationswesen –auch wenn sie manch einem Jugendlichen

In 101 Ländernwurde 2012 das Rechtauf freie Meinungsäußerungunterdrückt

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heute altertümlich erscheinen mag – grundle-gend verändert. Der wichtigste Punkt ist, dasssich die Staaten damals dafür eingesetzt ha-ben, allen Bürgern den Zugang zu diesemDienst zu ermöglichen. Sicherlich haben vieleRegierungen ihren Zugriff auf die Postsendun-gen auch dazu genutzt, private Dinge zu lesen.Dennoch haben sie grundsätzlich akzeptiert,dass der Schutz der Privatsphäre auch für die-sen Bereich der Kommunikation gilt. In zahlrei-chen Ländern wurde den Menschen so erstdie Möglichkeit eröffnet, Informationen und Er-eignisse aus ihrem Familien- oder Gemein-schaftsleben mit anderen zu teilen.

Das Internet ist heute ein wichtiges Kommuni-kations- und Informationsmittel. Der Aufbaueiner Gesellschaft, in der die Rechte aller Men-schen respektiert werden, ist nur durch Trans-parenz, Zugang zu Informationen und die Mög-lichkeit, sich an politischen Debatten und Ent-scheidungen zu beteiligen, möglich.

Nur sehr wenige Regierungsmaßnahmenkönnen so unmittelbare, wirkungsvolle undweitreichende positive Konsequenzen für dieMenschenrechte haben, wie der Zugang zumInternet.

Jede Regierung dieser Welt muss nun eineEntscheidung treffen. Entweder sie nutzt dieTechnologie, um ihre Macht über andere zu-rückzugewinnen, oder sie setzt diese ein, umden Einzelnen und seine Freiheiten zu stärken.

Die Einführung des Internets und sein globa-ler Durchbruch – mittlerweile hat man überMobiltelefone, Internetcafés und Computer inSchulen, öffentlichen Bibliotheken, am Ar-beitsplatz und zu Hause Zugang zur digitalenWelt – hat den Menschen die Chance eröffnet,ihre Rechte zu beanspruchen.

Eine Entscheidung für die ZukunftDie Regierungen könnten diesen Augenblicknun dazu nutzen, sicherzustellen, dass alleBürger uneingeschränkten Zugang zum Inter-net erhalten. Sie könnten dafür sorgen, dassdieser Zugang für jeden bezahlbar ist und dassman an noch mehr Orten wie Bibliothekenund Cafés kostenlos oder zu erschwinglichenPreisen ins Internet gehen kann.

Vor allem könnten die Regierungen sicherstel-len, dass Frauen – von denen derzeit nur 37%in irgendeiner Form Zugang zum Internet ha-ben – aktiv von diesem InformationssystemGebrauch machen können und somit die Mög-lichkeit erhalten, sich an den weltweiten Ereig-nissen und Entscheidungen zu beteiligen. Lauteinem Bericht von UN Women, dem Unter-nehmen Intel und dem US-Außenministeriumhaben in Ländern wie Indien, Mexiko undUganda wesentlich weniger Frauen Zugangzum Internet als Männer. Weil viele Frauen ihrHaus aus religiösen und kulturellen Gründennicht verlassen dürfen, um beispielsweise In-ternetcafés zu besuchen, muss der Internetzu-gang zu Hause, aber auch in Schulen und amArbeitsplatz staatlich gesichert werden.

Auch die soziale Diskriminierung von Frauenund ihre negative Stereotypisierung müssenauf Regierungsebene bekämpft werden. Eineindische Ingenieurin erzählte, dass man ihrden Zugang zu einem Computer verbotenhabe, weil man »Angst hatte, dass etwasschief geht, wenn sie ihn berührt«. AndereFrauen berichteten von Ehemännern, dieihren Frauen die Arbeit am Familiencomputerverbieten, damit sie nicht auf Seiten zugreifenkönnen, die sie als sexuell anzüglich betrach-ten. Dies ist auch in Aserbaidschan einer derGründe dafür, dass nur 14% der Frauen, aber70% der Männer schon einmal online waren.

Mit der Anerkennung des Rechts auf Zugangzum Internet würden die Regierungen ihrenPflichten hinsichtlich des Rechts auf freie Mei-nungsäußerung und des Rechts auf Informa-tionen nachkommen.

Geschieht dies nicht, besteht die Gefahr, dasssowohl auf nationaler als auch auf internatio-naler Ebene eine Zweiklassengesellschaft ent-steht, in der nur wenige Menschen auf die In-strumente zugreifen können, die sie zur Wahr-nehmung ihrer Rechte benötigen.

Wissen, Informationen und unser Sprachver-mögen geben uns Macht. Staaten, die dieRechte ihrer Bürger achten, fürchten dieseMacht nicht, sie fördern sie. Die Grenzenlosig-keit der digitalen Welt ermöglicht es uns allen,als Weltbürger die digitalen Instrumente zu

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nutzen, um den Respekt für die Menschen-rechte zu fördern – sowohl lokal in unseremengsten Umfeld, als auch global in Solidaritätmit Menschen, die weit entfernt leben.

Traditionelle Formen der Solidaritätsbekun-dung können heute einen noch viel größerenEinfluss haben, weil sie sich viral verbreiten.Dies zeigen zwölf Einzelfälle, für die sich Tau-sende Menschen unter dem Motto »Dein Briefkann Leben retten« im Rahmen des zehntenweltweiten Briefmarathons von Amnesty Inter-national im Dezember 2012 eingesetzt haben.Der Briefmarathon ist das größte Menschen-rechtsevent der Welt. Seit einigen Jahren kön-nen sich Interessierte auch durch E-Mails,Online-Petitionen, SMS, Faxe und Twitter-Nachrichten daran beteiligen. 2012 wurden ins-gesamt 1,8 Mio. Aktionen zu den zwölf Fällengestartet.

Amnesty International sieht im Internet dasPotenzial und die Möglichkeiten, die Peter Be-nenson bereits vor mehr als 50 Jahren schon ge-sehen hat – die Chance, dass Menschen überGrenzen hinweg zusammenarbeiten können,um Freiheit und Rechte für alle zu fordern. SeinTraum wurde damals als eines der größeren

21 Regierungenließen im Jahr 2012Menschen hinrichten

Hirngespinste unserer Zeit abgetan. Viele ehe-malige gewaltlose politische Gefangene verdan-ken diesem Traum ihre Freiheit und einige so-gar ihr Leben. Wir befinden uns auf der Schwellezur Erschaffung und Erfüllung eines weiterenTraumes, den einige als Hirngespinst abtun wer-den. Amnesty International stellt sich den He-rausforderungen und ruft alle Staaten auf, dieVeränderungen unserer Welt anzunehmenund allen Menschen die Werkzeuge zur Selbst-bestimmung bereitzustellen.

»Die Unterstützung und Solidarität ganznormaler Menschen gibt uns Hoffnung.Menschen sind die einzige Triebkraftfür Veränderung. Regierungen werdennichts unternehmen, solange die Men-schen keinen Druck machen. Die vie-len Schreiben, die ich von Amnesty-Mitgliedern erhalten habe, geben mirgroße Hoffnung inmitten aller Widrig-keiten.«

Azza Hilal Ahmad Suleiman; sie sah am 17. Dezember 2011 beieiner Protestaktion in Kairo, wie Soldaten eine junge Frau schlu-gen und ihr die Kleider vom Leib rissen. Als Azza Suleiman zurHilfe eilte, wurde auch sie brutal zusammengeschlagen. Sie ver-lor das Bewusstsein und musste wochenlang im Krankenhaus be-handelt werden. Bis heute wurde niemand für die Tat zur Re-chenschaft gezogen.

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Regionen im Überblick

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Afrika 23

Afrika

Die Krise in Mali beherrschte in den vergange-nen Monaten die internationalen Schlagzeilen.Doch der Konflikt, der in dem westafrikani-schen Land wütet, spiegelt tiefgreifende Pro-bleme wider, unter denen die gesamte Regionleidet: Armut und Gewalt prägen auf dem afri-kanischen Kontinent weiterhin die Lebenswirk-lichkeit unzähliger Menschen. Dies ist auchein Versagen der internationalen Politik: Ihr istes noch immer nicht gelungen, effektive Me-chanismen zu etablieren, um Frieden, Stabilitätund Menschenrechte in der Region zu ge-währleisten.

In Mali kämpfen Tuareg seit Jahrzehnten ge-gen Armut, Diskriminierung und Marginalisie-rung. So auch im Januar 2012, als sich Tuareg-Kämpfer mit bewaffneten Islamisten verbün-deten, um gegen die malische Staatsmacht zurebellieren. Im März putschte in der Haupt-stadt Bamako das Militär. Dadurch zerbrachMali de facto in zwei Teile. Bewaffnete Grup-pen kontrollierten bis Jahresende den Nordendes Landes. Kämpfer der Tuareg und Islamis-ten machten sich dabei schwerer Menschen-rechtsverstöße schuldig: Sie vergewaltigtenMädchen und Frauen, töteten gefangengenom-mene Soldaten, steinigten Menschen und ver-hängten Amputationsstrafen. Doch auch die Si-cherheitskräfte machten sich in Mali schuldig:Sie richteten Gefangene außergerichtlich hinund beschossen Tuareg-Gebiete ohne Rück-sicht auf Zivilpersonen. Zudem rekrutiertennicht nur die bewaffneten Gruppen im Nor-den, sondern auch die von der malischen Re-gierung finanzierten Milizen Kindersoldaten.Aufgrund der blutigen Kämpfe befanden sich inMali mehr als 400000 Menschen auf derFlucht.

Im Osten der Demokratischen RepublikKongo rissen die Kämpfe zwischen Armee undbewaffneten Gruppierungen auch 2012 nichtab. Die Konfliktparteien verübten schwereMenschenrechtsverstöße, wobei insbesondereZivilpersonen die Leidtragenden waren. Vor al-

lem in der ostkongolesischen Provinz Nordkivu,die reich an Bodenschätzen ist, spitzte sichdie Lage zu.

Auch der Konflikt zwischen Sudan und Süd-sudan verschärfte sich 2012 weiter. Seit derSüdsudan im Juli 2011 seine Unabhängigkeitvom Sudan erklärt hatte, kam es in der erdöl-reichen Grenzregion immer wieder zu blutigenKämpfen. Die beiden Staaten sind sich überden Verlauf ihrer gemeinsamen Grenze unei-nig. Insbesondere in der Region Darfur und inden sudanesischen Bundesstaaten Südkordo-fan und Blue Nile war die Menschenrechts-lage angespannt. Ende 2012 nahmen dieKampfhandlungen zu, in deren Folge viele zi-vile Opfer zu beklagen waren. Mehr als 200000Menschen flohen in angrenzende Staaten. Da-rüber hinaus kam es im Sudan zu Massenpro-testen gegen die Sparmaßnahmen der Regie-rung. Bei der Niederschlagung der Proteste be-gingen die Sicherheitskräfte Menschenrechts-verletzungen.

Aber auch in anderen Staaten der Region gin-gen Polizei und Sicherheitskräfte mit großer

Frau aus Mali in einem Flüchtlingslager im April 2012

© Amnesty International

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24 Regionen im Überblick

Brutalität gegen die Bevölkerung vor. So etwa inNigeria: In dem westafrikanischen Staat warenseit Mitte 2009 mehr als 1000 Menschen durchAnschläge der islamistischen Gruppe BokoHaram ums Leben gekommen. Die nigeriani-schen Behörden reagierten darauf mit schwe-ren Menschenrechtsverletzungen: Sie ließenMenschen »verschwinden«, führten außerge-richtliche Hinrichtungen durch, brannten Häu-ser nieder und nahmen Menschen rechtswid-rig in Gewahrsam.

In Südafrika ereignete sich im August 2012einer der schlimmsten Fälle von Polizeigewaltseit dem Ende der Apartheid: In einer Platin-Mine des LONMIN–Konzerns, 100 km nord-westlich von Johannesburg, waren Bergarbeiterin Streik getreten, um für höhere Löhne zukämpfen. Die südafrikanischen Behörden sta-tionierten daraufhin mit Sturmgewehren be-waffnete Polizisten in der Region, um den Streikaufzulösen. Bei der Niederschlagung desStreiks starben mehr als 30 Bergleute. Es gibtHinweise darauf, dass die meisten Opfer er-schossen wurden, als sie versuchten, zu fliehenoder sich zu ergeben. Die blutigen Unruhenstießen nicht nur die südafrikanische Bergbau-industrie, sondern das gesamte Land in einetiefe Krise.

In vielen afrikanischen Staaten wurden Men-schenrechtsverteidiger, Journalisten und Op-positionelle massiv unterdrückt: In Äthiopienmussten Regierungskritiker beispielsweise mitlangen Haftstrafen rechnen, in Gambia wurdenDissidenten willkürlich festgenommen, schi-kaniert und mit dem Tod bedroht. In Côted’Ivoire führten Anschläge unbekannterKämpfer zur Unterdrückung von Menschenaufgrund ihrer vermeintlichen ethnischen Zu-gehörigkeit oder ihrer politischen Überzeugun-gen.

In mehreren afrikanischen Ländern wurdenTodesurteile verhängt, vollstreckt wurden sieaber in nur wenigen Staaten. Gambia ist einerdieser Staaten: Das westafrikanische Land hatim August 2012 nach fast 30 Jahren erstmalswieder Gefangene hingerichtet.

Frauen und Mädchen wurden in der Regionbesonders häufig Opfer von Diskriminierung

und geschlechtsspezifischer Gewalt – undzwar sowohl in den eigenen vier Wänden alsauch in bewaffneten Konflikten. In vielen Kri-sengebieten, darunter Mali, Tschad, Sudanund die Demokratische Republik Kongo, wurdesexuelle Gewalt gegen Frauen systematischals Kriegswaffe von Soldaten und bewaffnetenOppositionsgruppen eingesetzt. Im Sudanmussten sich einige Frauen, die an Protestver-anstaltungen teilgenommen hatten, soge-nannten Jungfräulichkeitstests unterziehen. Inanderen Ländern wurde der blutige Brauchder Genitalbeschneidung weiterhin durchge-führt.

Kurz vor dem des 50. Jahrestags der Afrikani-schen Union im Jahr 2013 stellen die auf demKontinent grassierende Korruption und die vie-len Konfliktherde große Herausforderungendar. Doch es gibt auch Grund zur Hoffnung,denn in ganz Afrika protestierten 2012 Men-schen friedlich für soziale Gerechtigkeit und dieAchtung ihrer Menschenrechte.

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Amerika 25

Amerika

»Wir sollten niemals die Angst den Mutbesiegen lassen.«

Laísa Santos Sampaio, Lehrerin und Umweltschützerin. IhreSchwester und ihr Schwager wurden getötet – als Vergeltungs-maßnahme, weil sie sich gegen die rechtswidrige Abholzung vonWald in Brasilien eingesetzt hatten.

Die zahlreichen in der Vergangenheit verübtenMenschenrechtsverletzungen und die Tatsa-che, dass viele Verantwortliche noch immernicht zur Rechenschaft gezogen wurden, las-teten weiterhin schwer auf vielen Ländern desamerikanischen Kontinents. In Argentinien,Brasilien, Chile, Guatemala und Uruguay kames 2012 allerdings zu wegweisenden Strafver-folgungsprozessen, die als Meilensteine aufdem Weg zur juristischen Aufarbeitung derwährend der Militärdiktaturen verübten Verbre-

Guatemala: Indigene Beobachter des Verfahrens gegen den ehemaligen Präsidenten Efraín Ríos Montt im Januar 2012

© REUTERS / Jorge Dan Lopez

chen gelten können. In anderen Länderndauerte der Kampf gegen die Straflosigkeit hin-gegen an. So blieb in Haiti das Gerichtsver-fahren gegen den früheren Präsidenten Jean-Claude Duvalier immer noch ergebnislos.Und in den USA gab es so gut wie keine Fort-schritte bei der strafrechtlichen Verfolgungderjenigen, die für Menschenrechtsverletzun-gen im Rahmen des CIA-Programms für Ge-heimgefängnisse während der Präsidentschaftvon George W. Bush verantwortlich waren.

Die Ausbeutung von Bodenschätzen löstenach wie vor soziale Konflikte aus. Viele dervon Bergbauprojekten Betroffenen sahen ihreRechte zunehmend in Gefahr. Rückenwind er-hielten die indigenen Bevölkerungsgruppen je-doch durch richterliche Entscheidungen.Mehrere Urteile bestätigten ihr Recht auf einefreiwillige, vorab und in Kenntnis der Sachlagegegebene Zustimmung im Zusammenhang mitBergbau- oder anderen Großprojekten, die siebetrafen. Im Juni 2012 fällte der Interamerikani-sche Gerichtshof für Menschenrechte bei-spielsweise ein bahnbrechendes Urteil zuguns-

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26 Regionen im Überblick

ten der Kichwa aus Sarayaku, indem er fest-stellte, die Regierung Ecuadors habe die Rechteder Kichwa verletzt.

Das Interamerikanische Menschenrechtssys-tem war 2012 jedoch auch Kritik ausgesetzt.Einzelne Staaten bemängelten Entscheidungenseiner Organe. Venezuela ging sogar so weit,die Amerikanische Menschenrechtskonventionoffiziell aufzukündigen.

Hinsichtlich der Abschaffung der Todesstrafewurden 2012 Fortschritte erzielt. In den USA –dem einzigen Land auf dem amerikanischenKontinent, das nach wie vor Menschen hin-richtet – schaffte Connecticut als 17. Bundes-staat die Todesstrafe ab. In den englischspra-chigen Ländern der Karibik wurden zwar wei-terhin Todesurteile verhängt, 2012 gab es dortjedoch keine Hinrichtungen.

Die kolumbianischen Konfliktparteien nah-men nach mehr als einem Jahrzehnt erstmalswieder formelle Friedensgespräche auf. Diesbot Anlass zur Hoffnung, dass der bewaffneteKonflikt zwischen der Regierung und der Gue-rillabewegung FARC (Fuerzas Armadas Revo-lucionarias de Colombia) nach fast fünf Jahr-zehnten endlich beigelegt werden könnte.

In vielen Ländern des amerikanischen Konti-nents traten Menschen weiterhin gegen dietief verwurzelte geschlechtsspezifische Diskri-minierung und Gewalt gegen Frauen ein undkämpften für sexuelle und reproduktiveRechte. Millionen von Frauen blieb jedochweiterhin das Recht verwehrt, selbstbestimmtund informiert, ohne Zwang und Diskriminie-rung entscheiden zu können, ob, wann undwie viele Kinder sie haben wollen. In Ländernwie Chile, El Salvador, Nicaragua und der Do-minikanischen Republik verwehrte manFrauen und Mädchen, die nach einer Verge-waltigung schwanger waren oder bei denendie Fortführung der Schwangerschaft ein Ri-siko für ihre Gesundheit oder ihr Leben dar-stellte, nach wie vor den Zugang zu einem si-cheren und legalen Schwangerschaftsab-bruch. Diese Verweigerung ihrer Menschen-rechte hatte insbesondere für junge Mädchenund Frauen aus unterprivilegierten Gruppengravierende Auswirkungen.

Wenn es darum ging, Menschenrechtsverlet-zungen anzuprangern, spielten Journalistennach wie vor eine zentrale Rolle – doch zahltensie dafür oft einen hohen Preis. Einige erfuh-ren direkte Repressalien durch die Regierung,andere wurden zur Zielscheibe bewaffneterBanden und krimineller Netzwerke. Menschen-rechtsverteidiger, die häufig in unsicheren undschwierigen Situationen lebten, sahen sichzahllosen Versuchen ausgesetzt, durch Verun-glimpfung, Gewalt und Missbrauch der Ge-richte zum Schweigen gebracht zu werden.Doch machten ihre Aktivitäten deutlich, wiestark und tief verankert die Menschenrechts-bewegung in den Ländern der Region mittler-weile ist und welch große Hoffnungen Millio-nen von Menschen in sie setzen.

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Asien und Pazifik 27

Asien und Pazifik

»Die Grausamkeit dringt bis in die Stam-mesgebiete im Nordwesten Pakistansvor, doch die Justiz hat nicht dieselbeReichweite.«

Ghulam Nabi, Anwalt des Hohen Gerichts in Peshawar, Pakistan

In vielen Ländern Asiens reagierten Regierun-gen auf den Akt einer öffentlichen Meinungs-äußerung – sei es auf der Straße oder im Inter-net – mit brutalen Unterdrückungsmaßnah-men. Menschen wurden 2012 regelmäßig schi-kaniert, angegriffen, inhaftiert oder getötet,wenn sie es wagten, die Behörden zu kritisie-ren.

In Vietnam wurden mehr als 20 Blogger, Lie-dermacher und andere friedliche Dissidentenaufgrund konstruierter Anklagen inhaftiert, weilsie angeblich die nationale Sicherheit bedroh-ten. In Indonesien wurden sechs Menschenwegen Gotteslästerung in Haft genommen, 70gewaltlose politische Aktivisten blieben weiter-hin inhaftiert. In Kambodscha schossen dieSicherheitskräfte auf Menschen, die friedlichgegen rechtswidrige Zwangsräumungen undschlechte Arbeitsbedingungen protestierten.In China liefen Menschen, die sich gegen mas-senhafte Zwangsräumungen wehrten, Gefahr,in Gewahrsam genommen, zu Gefängnisstra-fen verurteilt oder in Arbeitslager gesteckt zuwerden. In Sri Lanka wurden Journalisten undandere Personen, die Kritik an den Behördenübten, willkürlich festgenommen und entführt– bis heute ist ihr Schicksal ungeklärt. In Indienkamen Aktivisten auf der Basis politisch moti-vierter Anklagen in Haft, weil sie sich für dieRechte indigener Gemeinschaften einsetzten,die versuchten, ihr angestammtes Land gegendie Interessen von Unternehmen zu schützen.

Zwar gab es in einigen Ländern Asiens 2012einen Führungswechsel auf höchster Ebene,doch verbesserte sich die Menschenrechtslagedadurch kaum.

In China nahmen die Behörden im Vorfelddes Parteitags der Kommunistischen Partei imNovember 2012 mehr als 100 Menschen fest,um Proteste zu verhindern. Der auf dem Par-teitag vollzogene Machtwechsel war der ersteseit zehn Jahren. In Nordkorea festigte KimJong-un, der 2011 die Amtsgeschäfte über-nommen hatte, seine Führungsrolle. Regie-rungsgegner wurden weiterhin in entlegene Ge-fangenenlager verbannt. Dort mussten siehungern, Zwangsarbeit leisten und wurden ge-foltert. Viele von ihnen kamen dabei zu Tode.

Auf den Malediven schlugen die Sicherheits-kräfte Proteste gegen den Rücktritt des Staats-präsidenten Mohammed Nasheed im Februargewaltsam nieder. Die Sicherheitskräfte gin-gen gegen seine politischen Verbündeten vorund folterten sie.

Zehntausende Menschen in asiatischen Län-dern litten weiterhin unter bewaffneten Kon-flikten. In Afghanistan, Myanmar, Pakistan undThailand führten Selbstmordattentate, wahl-lose Bombardierungen und Luftangriffe dazu,dass Zivilpersonen vertrieben, verletzt oder ge-tötet wurden. Einige wurden auch Opfer geziel-ter Morde.

Frauen und Mädchen wurden in zahlreichenLändern Asiens daran gehindert, ein selbstbe-stimmtes Leben zu führen, weil die Staatennichts unternahmen, um die Rechte der weib-lichen Bevölkerung in angemessener Form zuschützen und zu fördern. In Afghanistan und

Kambodscha: Demonstration für die Freilassungvon 13 Menschenrechtsverteidigern © Jenny Holligan

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28 Regionen im Überblick

Pakistan wurden viele Frauen und Mädchenweiterhin vom öffentlichen Leben ausge-schlossen. Einige wurden von den Taliban re-gelrecht hingerichtet. In Indien löste die Verge-waltigung einer Studentin, die an den Folgender Gewalttat starb, einen Sturm der Entrüs-tung aus. Der Fall machte das anhaltende Ver-sagen der indischen Regierung deutlich,Übergriffe auf Frauen und Mädchen zu be-kämpfen. Auch in Papua-Neuguinea war Ge-walt gegen Frauen und Mädchen an der Tages-ordnung, wurde aber so gut wie nie bestraft.Auf den Philippinen war im Hinblick auf Frau-enrechte hingegen ein Erfolg zu verzeichnen:Nach zehn Jahren zivilgesellschaftlichen Enga-gements verabschiedete das Parlament einneues Gesetz zur reproduktiven Gesundheit.

Auch in anderen Bereichen gab es positiveEntwicklungen – wenngleich sie sehr zögerlichausfielen. So leiteten Singapur und MalaysiaSchritte ein, um die obligatorische Verhän-gung der Todesstrafe für bestimmte Verbrechenaus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Dage-gen nahmen Afghanistan, Indien, Japan, Pakis-tan und Taiwan nach monatelanger bzw. jah-relanger Unterbrechung Hinrichtungen wiederauf.

In Myanmar öffneten sich 2012 Spielräumefür Veränderungen. Im November kündigtendie Behörden an, sie wollten ein Verfahren zurÜberprüfung der Strafprozesse von Gefange-nen entwickeln. Außerdem wurden im Laufedes Jahres Hunderte politische Gefangeneaus der Haft entlassen. Hunderte weitere blie-ben allerdings willkürlich inhaftiert – dies zeigt,dass der Weg zu Reformen immer noch sehrweit ist. Eine Einschätzung, die nicht nur aufMyanmar zutrifft, sondern für den gesamtenasiatisch-pazifischen Raum gelten kann.

Europa undZentralasien

»Was der Bürgermeister wirklich wollte,war, uns aus der Stadt zu werfen, damiter keine Roma mehr sehen musste, unddas geschah dann auch.«

Ducia, die aus ihrer Wohnung in der rumänischen Stadt Piatra Ne-amt vertrieben wurde, August 2012

Georgien erlebte 2012 eine historische Parla-mentswahl: Zum ersten Mal vollzog sich inder Südkaukasusrepublik ein Regierungswech-sel auf demokratischem und friedlichem Weg.In anderen Staaten der ehemaligen Sowjet-union hielten sich hingegen weiterhin auto-kratische Regime an der Macht. Die Europäi-sche Union erhielt 2012 den Friedensnobel-preis. Doch insbesondere die restriktive Asyl-und Flüchtlingspolitik der EU war eines No-belpreisträgers unwürdig. Auch die Lage dersechs Millionen Roma, die in EU-Staaten le-ben, war manchenorts weiterhin desolat.

Der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte in Straßburg ist seit langem die wich-tigste europäische Institution zum Schutz derMenschenrechte. Doch einige Staaten weiger-ten sich weiterhin, die Straßburger Richter-sprüche umzusetzen, und versuchten, dieKompetenzen des Gerichts einzuschränken.

In Staaten der ehemaligen Sowjetunion standdie Zivilgesellschaft unter Druck: In Belaruswurden friedliche Oppositionelle schikaniert,misshandelt und in unfairen Gerichtsverfah-ren verurteilt. In Aserbaidschan setzten die Be-hörden einige gewaltlose politische Gefangeneauf freien Fuß, während andere Dissidenten inGefängnissen verschwanden. In Russland tra-ten repressive Gesetze in Kraft, die den Staat er-mächtigen, hart gegen Kritik von Einzelperso-nen und Organisationen vorzugehen. In einigenStaaten der Region kamen besonders perfideMethoden zum Einsatz, um kritische Stimmen

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Europa und Zentralasien 29

zum Schweigen zu bringen: Mit anonymenDrohungen oder Verleumdungskampagnenwurden Oppositionelle unter Druck gesetzt.

Die Türkei baute ihren Einfluss in der Regionweiter aus, doch die Menschenrechtslageverbesserte sich in dem Land kaum. Die türki-sche Justiz versuchte nach wie vor, kritischeAktivisten, Journalisten und Schriftstellermundtot zu machen. Tausende saßen in tür-kischen Gefängnissen, nur weil sie friedlichihre politischen Überzeugungen geäußerthatten.

In einem historischen Richterspruch befandder Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte, dass die mazedonische Regierung fürdas Verschwindenlassen und die Folterungvon Khaled el-Masri verantwortlich war, der2003 in Skopje von der CIA entführt wordenwar. In Italien wiederum bestätigte im Septem-ber 2012 ein Kassationsgericht die Urteile ge-gen 23 ehemalige CIA-Agenten. Sie waren fürschuldig befunden worden, 2003 in Mailandden ägyptischen Terrorverdächtigen OsamaMoustafa Hassan Nasr entführt und nachÄgypten überstellt zu haben, wo er gefoltertworden sein soll.

Türkei : Demonstration im Januar 2012 anlässlich des fünften Todestages von Hrant Dink © REUTERS / Osman Orsal

Zum großen Teil bleibt jedoch schwer nach-vollziehbar, inwieweit die europäischen Staa-ten für die Verbrechen verantwortlich sind, dieim Rahmen des von den USA geleiteten Pro-gramms für außerordentliche Überstellungenauf europäischem Boden begangenen wordensind. Die darin verwickelten Staaten zögern wei-terhin die Untersuchungen hinaus oder de-mentieren, an Menschenrechtsverletzungenbeteiligt gewesen zu sein.

In der ehemaligen Sowjetunion wurde die Pra-xis der Überstellungen fortgesetzt. Russlandund die Ukraine kollaborierten bei der Ver-schleppung und Rückführung gesuchter Per-sonen, denen bei der Rückführung Folterdrohte, und setzten sich damit unverhohlenüber die Entscheidung des Europäischen Ge-richtshofs für Menschenrechte hinweg, derdie Auslieferung in solchen Fällen untersagthatte.

Mehrere Staaten, insbesondere Russland,untergruben die Autorität des EuropäischenGerichtshofs für Menschenrechte, indem siedessen Entscheidungen nicht umsetzten.Gleichzeitig drohte der Vorschlag bestimmterZusätze zur Europäischen Menschenrechts-

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30 Regionen im Überblick

konvention, die Unabhängigkeit des Gerichts-hofs einzuschränken und Einzelpersonen denZugang zum Gerichtshof zu erschweren. Ineinigen Balkanstaaten verringerte sich dieWahrscheinlichkeit, dass Personen, die in den1990er Jahren Opfer von Kriegsverbrechengeworden waren, jemals Gerechtigkeit wider-fahren wird. Die Ermittlungen und strafrechtli-chen Verfolgungen in diesen Fällen kamennach wie vor nur schleppend voran und wur-den durch fehlenden politischen Willen zusätz-lich behindert. In Bosnien und Herzegowinasowie in anderen Ländern wurde den Opfernvon Vergewaltigungen und von anderen inForm von sexueller Gewalt begangenen Kriegs-verbrechen weiterhin der Zugang zu Justizund staatlicher Unterstützung verwehrt.

Europäische Staaten haben ihre Abschot-tungspolitik gegenüber Flüchtlingen weiter vo-rangetrieben: Die Grenzkontrollen wurden ver-schärft, zudem schlossen europäische Regie-rungen Verträge mit nordafrikanischen Staaten,um die Abschiebung von Flüchtlingen zu re-geln. Zu den Vertragspartnern gehören Staatenwie Libyen, in denen die Rechte zurückgeführ-ter Flüchtlinge häufig missachtet werden. InGriechenland wurde es Flüchtlingen weiterhinschwer gemacht, einen Asylantrag zu stellen.Zudem liefen Asylsuchende in GriechenlandGefahr, unter unmenschlichen Bedingungeninhaftiert zu werden oder fremdenfeindlichenSchlägertrupps in die Hände zu fallen.

In Ungarn genehmigten die Behörden, dassuniformierte Rechtsextreme mit Fahnen undFackeln in Roma-Siedlungen aufmarschierten.Die Extremisten skandierten rassistische Paro-len und bewarfen die Einwohner mit Steinen. Inder gesamten Region haben Roma mit Aus-grenzung und Anfeindungen zu kämpfen.

Naher Osten undNordafrika

»Ich fand meine Söhne brennend auf derStraße liegen. Sie hatten sie aufeinan-der gelegt . . . und in Brand gesteckt.«

Eine Mutter beschreibt einem Ermittler von Amnesty Internationalin Syrien, was ihren drei Söhnen in Sarmin, Provinz Idlib, am23. März 2012 angetan wurde.

Proteste und Aufstände, die ab Ende 2010Nordafrika und den Nahen Osten erfassthatten, prägten auch im Jahr 2012 die men-schenrechtliche Entwicklung in den Ländernder Region.

In Syrien wütete weiterhin der bewaffneteKonflikt zwischen Regierungstruppen und Op-position. Das gesamte Jahr über verübten beideKonfliktparteien schwere Menschenrechtsver-stöße und Kriegsverbrechen; die Regierung warauch für Verbrechen gegen die Menschlich-keit verantwortlich. Zu den Vergehen zähltenwahllose Angriffe auf Wohngebiete, politischmotivierte Morde und Folter. Der großflächigeTerror und die Zerstörung führten zu mehr als2 Mio. Binnenvertriebenen, die unter katastro-phalen humanitären Bedingungen lebten. BisEnde 2012 waren zudem fast 600000 Men-schen ins Ausland geflohen, was die Nachbar-staaten stark unter Druck setzte. Die Wirtschaftund die Infrastruktur Syriens lagen am Boden,und ein Ende der Kämpfe war nicht in Sicht –die Zukunft Syriens sah sehr düster aus.

Andernorts bot sich 2012 ein gemischtes Bild.In Ägypten, Jemen, Libyen und Tunesien, woautokratische Herrscher gestürzt worden wa-ren, war die Pressefreiheit größer, und dieZivilgesellschaft gewann zunehmend Hand-lungsspielraum. Gleichzeitig waren jedochauch Rückschläge zu verzeichnen – so wurdedas Recht auf freie Meinungsäußerung immerwieder aus religiösen oder moralischen Grün-den eingeschränkt. In Libyen verbesserte sich

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Naher Osten und Nordafrika 31

die menschenrechtliche Situation nicht im ge-wünschten Maße, weil es der Regierung nichtgelang, die Milizen unter Kontrolle zu bringen.

Menschenrechtsverteidiger und politisch en-gagierte Personen wurden in den LändernNordafrikas und des Nahen Ostens weiterhinunterdrückt. Viele Frauen und Männer kamenallein deshalb ins Gefängnis, weil sie ihre Mei-nung äußerten, viele wurden in Gewahrsamgefoltert, mit einem Reiseverbot belegt oder vonStaatsbediensteten schikaniert, viele wurdenbei friedlichen Protesten geschlagen oder sogargetötet. In den Golfstaaten kamen Aktivisten,Dichter, Mitarbeiter des Gesundheitswesensund andere Personen ins Gefängnis, weil sieReformen gefordert oder ihre Meinung geäußerthatten. In Bahrain kündigten die Behördenzwar Reformen an, gleichzeitig inhaftierten siejedoch weiterhin führende Mitglieder der Op-position und Menschenrechtler – allesamt ge-waltlose politische Gefangene. Die Länder Al-gerien und Jordanien verschärften die Kontrolleder Medien durch neue Gesetze, und in Ma-rokko gingen die Behörden massiv gegen Jour-nalisten und Dissidenten vor.

Gaza: Hana Shalabi nach ihrer Überstellung aus israelischer Verwaltungshaft in den Gazastreifen© Anne Paq / Activestills.org

In den Ländern, in denen sich politische Ver-änderungen vollzogen, wurde zwar darüberdiskutiert, dass eine grundlegende Reform derJustiz und des Sicherheitsapparats notwendigsei. Die Debatte blieb jedoch überwiegend fol-genlos. Die Straffreiheit für Menschenrechts-verletzungen blieb im Großen und Ganzen un-angetastet, vereinzelt wurden jedoch Schritteeingeleitet, um Verstöße, die in der Vergangen-heit begangen worden waren, im Nachhineinzu ahnden. Willkürliche Festnahmen, Folterund unfaire Gerichtsverfahren waren nach wievor an der Tagesordnung. Viele Staaten ver-hängten weiterhin häufig die Todesstrafe, ins-besondere der Iran und Saudi-Arabien.

Die Hoffnungen der Frauen, die maßgeblichan den Aufständen beteiligt waren, erfülltensich nicht einmal ansatzweise. Ihre Forderung,die geschlechtsspezifische Diskriminierung zubeenden, verhallte ungehört, und einige De-monstrantinnen wurden Opfer sexueller Ge-walt. Dennoch wehrten sich Frauen in verschie-denen Ländern des Nahen Ostens und Nord-afrikas weiterhin gegen die im Alltag vorherr-schende und gesetzlich verankerte Diskrimi-

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32 Regionen im Überblick

nierung. Sie forderten außerdem angemesseneSchutzmaßnahmen gegen häusliche und an-dere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt.

Israel hielt währenddessen die Militärblo-ckade des Gazastreifens aufrecht und weitetedie rechtswidrige Besiedlung des besetztenWestjordanlandes aus. Für die 1,6 Mio. Paläs-tinenser im Gazastreifen bedeutete dies, dassdie humanitäre Krisensituation anhielt. Außer-dem schränkten die israelischen Behörden dieBewegungsfreiheit der Bewohner des Gaza-streifens und des Westjordanlandes weiterhin

stark ein. Im November 2012 ging Israel miteiner achttägigen Militäroperation gegen be-waffnete palästinensische Gruppen im Gaza-streifen vor, die wahllos Raketen nach Israelabgeschossen hatten. Dabei wurden mindes-tens 160 Palästinenser und 6 Israelis getötet.

Zwar waren 2012 einige Rückschläge zu ver-zeichnen, doch die Entschlossenheit und derMut, den die Menschen bei ihrem nicht nach-lassenden Einsatz für Gerechtigkeit, Würdeund Menschenrechte bewiesen, bot auchGrund, optimistisch in die Zukunft zu blicken.

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Länderberichte

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Aus Gründen der Kürze und der Lesbarkeit verwenden wir im Amnesty International Report immerdann männliche Formen, wenn wir nicht sicher wissen, dass es sich um Frauen handelt. Wirmöchten jedoch ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich bei Opfern, Tätern, Anwälten, Ärzten,Gefängnispersonal etc. um Männer oder Frauen handeln kann.

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Afghanistan 35

AfghanistanAmtliche Bezeichnung:

Islamische Republik AfghanistanStaats- und Regierungschef: Hamid Karzai

Tausende Zivilpersonen litten nach wievor unter gezielten und wahllosen An-griffen bewaffneter oppositioneller Grup-pen. Aber auch internationale und af-ghanische Sicherheitskräfte waren fürTodesopfer und Verletzte in der Zivilbe-völkerung verantwortlich. Nach Angabender UN-Unterstützungsmission in Af-ghanistan (United Nations AssistanceMission in Afghanistan – UNAMA) wur-den 2012 im Zuge des Konflikts mehr als2700 Zivilpersonen getötet und 4805verletzt, die überwiegende Mehrheitdurch bewaffnete Gruppen. In den Haft-einrichtungen im ganzen Land waren Fol-ter und andere Misshandlungen an derTagesordnung, obwohl sich die Regie-rung bemühte, dagegen vorzugehen.Gewalt gegen Frauen und Mädchen warweit verbreitet, ihre Diskriminierunggang und gäbe. Dies betraf sowohl die in-stitutionelle Ebene als auch die Gesell-schaft ganz allgemein. Die Regierungversuchte, eine strengere Medienkon-trolle einzuführen, und löste damit einenAufschrei unter Journalisten aus. Nachwie vor wurden Medienschaffende vonbewaffneten Gruppen und Behörden be-droht und inhaftiert. Die anhaltenden be-waffneten Auseinandersetzungen zwan-

gen noch mehr Familien dazu, ihre Hei-mat zu verlassen. Aufgrund des Kon-flikts gab es noch immer 459200 Bin-nenflüchtlinge. Viele lebten in informel-len Siedlungen in unzureichenden Un-terkünften und ohne Zugang zu Wasser,Gesundheitsversorgung und Bildung.Etwa 2,7 Mio. Afghanen lebten alsFlüchtlinge außerhalb des Landes.

HintergrundIm Januar 2012 willigten die Taliban ein, in Ka-tar ein Verbindungsbüro zu eröffnen, um denWeg zu direkten Friedensverhandlungen zu eb-nen. Die Bemühungen scheiterten jedoch imMärz an Forderungen nach einem Gefangenen-austausch. Anfang November führten Ver-handlungen zwischen Pakistan und Afghanis-tans Hohem Friedensrat dazu, dass Pakistanmehrere inhaftierte Talibanführer freiließ. Am17. November teilte der Vorsitzende des Ho-hen Friedensrats Salahuddin Rabbani mit, Ver-treter der Taliban, die sich am Friedensprozessbeteiligten, würden strafrechtliche Immunitäterhalten, obwohl einige der inhaftierten Tali-ban im Verdacht stehen, Kriegsverbrechen be-gangen zu haben. Die weiblichen Mitgliederdes Hohen Friedensrats wurden in die ent-scheidenden Friedensgespräche kaum einbe-zogen.

Bei dem alle zwei Jahre stattfindenden NATO-Gipfeltreffen betonten die Teilnehmerstaatenim Mai 2012, wie wichtig die Beteiligung vonFrauen am Friedensprozess, am politischenProzess sowie an Versöhnungs- und Wiederauf-bauprozessen sei. Außerdem müssten die in-stitutionellen Vorkehrungen zum Schutz ihrerRechte respektiert werden. Währenddessenäußerten Frauengruppen ihre Sorge darüber,dass sie von den nationalen Beratungen zurÜbergabe der Sicherheitsverantwortung vonden internationalen an die afghanischen Si-cherheitskräfte faktisch ausgeschlossen waren.Frauenrechtlerinnen verurteilten den von Prä-sident Karzai am 2. März vorgeschlagenen»Verhaltenskodex«, wonach Frauen nur miteinem männlichen Begleiter reisen und sichweder am Arbeitsplatz noch in Bildungsein-

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36 Afghanistan

richtungen gemeinsam mit Männern aufhaltensollten.

Im Juli 2012 trafen sich die internationalenGeldgeber in Tokio und versprachen Afghanis-tan bis zum Jahr 2015 Hilfszahlungen in Höhevon 16 Mrd. US-Dollar sowie eine weitere Un-terstützung bis 2017. Die Vereinten Nationengaben allerdings im Dezember bekannt, diehumanitäre Hilfe sei gegenüber 2011 um fast50% auf 484 Mio. US-Dollar im Jahr 2012 zu-rückgegangen. Nach Angaben der beratendenOrganisation ANSO (Afghanistan NGO SafetyOffice) waren NGOs und Mitarbeiter humanitä-rer Organisationen 2012 ähnlich stark bedrohtwie im Jahr 2011. Die Organisation dokumen-tierte 111 Angriffe auf NGO-Mitarbeiter durchbewaffnete Gruppen und regierungstreue Si-cherheitskräfte. Dabei wurden Personen ent-führt, verletzt und getötet.

Im September bestätigte das Parlament ohneAussprache die Ernennung von AssadulahKhalid zum neuen Leiter des GeheimdienstesNDS (National Directorate of Security) trotzBerichten, wonach er in seiner Amtszeit alsGouverneur der Provinzen Ghazni und Kanda-har an Fällen von Folter beteiligt gewesen seinsoll.

Die Unabhängige Afghanische Menschen-rechtskommission (Afghanistan IndependentHuman Rights Commission – AIHRC) war nachder umstrittenen Entlassung von drei der neunMitglieder durch den Präsidenten im Dezember2011 weiter unterbesetzt. Ein weiterer Platzwar seit Januar 2011 unbesetzt, nachdem eineKommissarin mitsamt ihrer Familie bei einemBombenanschlag getötet wurde.

Im Februar 2012 kam es zu gewaltsamen Pro-testen, nachdem auf einem Militärstützpunktin der Nähe von Kabul verbrannte Exemplaredes Korans gefunden worden waren. Bei denProtesten wurden 30 Menschen getötet.

Menschenrechtsverstöße bewaffneterGruppenTrotz eines Verhaltenskodex für Taliban ausdem Jahr 2010 (Layeha), der Kämpfer anwies,die Zivilbevölkerung nicht anzugreifen, verstie-ßen die Taliban und andere bewaffnete Grup-

pen 2012 weiter gegen das Kriegsrecht. BeiSelbstmordanschlägen wurden Zivilpersonenwahllos getötet und verstümmelt. Die Hauptur-sache für zivile Todesopfer waren selbst ge-bastelte Sprengkörper. Bewaffnete Gruppenwählten für ihre Angriffe gezielt öffentlichePlätze und Zivilpersonen, darunter Staatsbe-dienstete, die ihrer Ansicht nach die Regie-rung unterstützten, sowie Mitarbeiter internatio-naler Organisationen.

Bewaffnete Gruppen rekrutierten weiterhinJungen und Mädchen.ý Am 6. April 2012 tötete ein Selbstmordatten-täter den Vorsitzenden des Hohen Friedens-rats der Provinz Kunar, Maulavi MohammadHashim Munib, und seinen Sohn, als sie vomFreitagsgebet auf dem Weg nach Hause waren.ý Am 6. Juni töteten zwei Selbstmordattentäterauf einem belebten Markt in der Provinz Kan-dahar 22 Zivilpersonen und verletzten 24 wei-tere. Die Verantwortung für diesen Anschlagübernahmen die Taliban.ý Am 21. Juni griffen Talibankämpfer dasSpozhmay-Hotel an, ein beliebtes Ausflugszielder einheimischen Bevölkerung. Währendeiner zwölfstündigen Belagerung töteten siezwölf Zivilpersonen und verletzten neun wei-tere.ý Berichten zufolge entführten Taliban im Au-gust im Bezirk Zherai einen Jungen und ent-haupteten ihn, weil sein Bruder bei der ört-lichen Polizei (Afghan Local Police – ALP) ar-beitete. Die Taliban wiesen die Verantwortungfür die Tat zurück.ý Am 19. Oktober starben Meldungen zufolge18 Frauen in der Provinz Balkh, als ein Mini-bus auf eine Bombe am Straßenrand fuhr.ý Am 26. Oktober tötete ein Selbstmordattentä-ter, der dem Vernehmen nach erst 15 Jahre altwar, 40 Zivilpersonen, darunter sechs Kinder.Sie hatten sich in einer Moschee in Maimanain der Provinz Faryab anlässlich des Eid-Feier-tags zum Gebet versammelt.

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Afghanistan 37

Menschenrechtsverletzungenafghanischer und internationalerStreitkräfteBei Einsätzen internationaler und afghanischerTruppen wurden auch 2012 wieder Zivilperso-nen getötet oder verletzt, vor allem bei Luftan-griffen. Nach Angaben der UNAMA waren für18% der zivilen Todesopfer afghanische und in-ternationale Streitkräfte verantwortlich.ý Am 8. Februar wurden acht Jungen beiNATO-Luftangriffen in der Provinz Kapisa getö-tet. Präsident Karzai verurteilte den Angriff. DieNATO drückte ihr Bedauern aus. Dem Verneh-men nach gab die NATO an, die Jungen seienals Bedrohung eingeschätzt worden.ý Am 11. März erschoss ein US-Soldat beieinem nächtlichen Amoklauf in zwei Dörfernim Bezirk Panjwai in der Provinz Kandahar et-liche Zivilpersonen, darunter neun Mädchenund Jungen. Weitere Menschen wurden ver-letzt. Im Dezember stand der Soldat wegen16-fachen Mordes und sechsfachen versuch-ten Mordes vor einem Militärgericht.ý Am 6. Juni wurden Berichten zufolge beieinem NATO-Luftangriff in der Provinz Logar18 Zivilpersonen getötet, darunter Kinder. DerAngriff galt Taliban-Kämpfern, die Zuflucht ineinem Privathaus gesucht hatten, in dem eineHochzeit stattfand.

Im September 2012 übernahmen die afghani-schen Behörden formal die Kontrolle über dasHaftzentrum auf dem US-Militärstützpunkt Ba-gram nördlich von Kabul. Es blieb jedoch un-klar, in welchem Maße die US-Truppen die Kon-trolle über bestimmte Häftlinge behielten. Be-richten zufolge übernahmen die afghanischenBehörden die Kontrolle über rund 3100 afgha-nische Staatsangehörige, die zum Zeitpunkt derVertragsunterzeichnung am 9. März dort in-haftiert waren. Mehr als 600 Häftlinge, die da-nach auf den Stützpunkt gebracht wurden, so-wie mindestens 50 weitere Personen, die keineafghanische Staatsbürgerschaft besaßen,schienen jedoch nach wie vor der US-Militärge-richtsbarkeit zu unterstehen. Viele von ihnenwaren aus Drittländern nach Afghanistan über-stellt worden und befanden sich seit zehn Jah-ren in US-Gewahrsam. Eine unbekannte Anzahl

von Afghanen, die vor der Übergabevereinba-rung gefangen genommen worden waren,wurde nicht in afghanischen Gewahrsamüberstellt.

Nach Angaben der UNAMA ging die Anzahlder Fälle von Folter und anderen Misshand-lungen durch den Geheimdienst NDS bis Okto-ber leicht zurück. Bei der afghanischen Polizeiund beim Grenzschutz war hingegen ein An-stieg solcher Fälle zu verzeichnen.

Den Angehörigen der ALP wurden zahlreicheMenschenrechtsverletzungen vorgeworfen.Menschenrechtsgruppen äußerten sich besorgtdarüber, dass die Polizisten nicht überprüftwurden. Berichten zufolge wurden mehr als100 Angehörige der ALP wegen Straftaten wieMord, Vergewaltigung, Bombenanschlägen,Prügeln und Diebstahl inhaftiert.ý Im November 2012 kamen vier Angehörigeder ALP-Einheit in Kundus für 16 Jahre ins Ge-fängnis, weil sie die 18-jährige Lal Bibi im Maifünf Tage lang entführt, geschlagen und verge-waltigt hatten.

Recht auf freie MeinungsäußerungDer Entwurf für ein Mediengesetz sah eine ver-stärkte Kontrolle der Medien durch die Regie-rung vor. Der Gesetzentwurf forderte die Einset-zung eines Hohen Medienrats unter Vorsitzdes Informations- und Kultusministers und un-ter Beteiligung weiterer Regierungsvertreter.Das 15-köpfige Gremium sollte mit der Aufsichtund Kontrolle von Presse, Rundfunk und Fern-sehen betraut werden.

Journalisten wurden 2012 weiterhin bedroht,willkürlich festgenommen, geschlagen undgetötet. Die afghanische NGO zur Unterstüt-zung der Medien Nai verzeichnete 69 Fälle, indenen Journalisten von Angehörigen der Si-cherheitskräfte, bewaffneten Gruppen oderEinzeltätern angegriffen wurden. Dies bedeu-tete einen Rückgang von 14% gegenüber demJahr 2011. Auf Initiative des Rats der Religions-gelehrten (Ulema) drohte der Generalstaats-anwalt Medienorganisationen mit Strafverfah-ren, weil sie sich mit Angelegenheiten befassthatten, die als unmoralisch oder anti-islamischbetrachtet wurden.

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ý Der afghanische Fernsehjournalist Nasto Na-deri wurde am 21. April 2012 festgenommenund mehrere Tage lang ohne Anklageerhebungund ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand inHaft gehalten.

Gewalt gegen Frauen und MädchenTrotz eines Gesetzes zur Beendigung der Ge-walt gegen Frauen, das 2009 verabschiedetworden war, untersuchten die JustizbehördenFälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchennicht ordnungsgemäß und stellten die Täternicht vor Gericht.

Frauen und Mädchen wurden weiterhin ge-schlagen, vergewaltigt und getötet. BewaffneteGruppen griffen Frauen und Mädchen gezieltan, Behörden diskriminierten sie, und in ihrenFamilien und im gesellschaftlichen Umfeld wur-den Frauen und Mädchen bedroht. Die Unab-hängige Afghanische Menschenrechtskommis-sion dokumentierte für den Zeitraum vom21. März bis zum 21. Oktober 2012 mehr als4000 Fälle von Gewalt gegen Frauen. Dies be-deutete einen Anstieg von 28% gegenüber demVorjahreszeitraum. Die Zunahme der Anzei-gen soll auf ein gestiegenes öffentliches Be-wusstsein zurückzuführen sein. Doch war dietatsächliche Anzahl der Fälle vermutlich nochhöher, denn für die Betroffenen war eine An-zeige der Gewalttaten nach wie vor mit einerStigmatisierung verbunden und zog das Risikovon Vergeltungsmaßnahmen nach sich.ý Im Mai 2012 bestätigte ein Berufungsgerichtin Kabul eine zehnjährige Gefängnisstrafe, diegegen die Schwiegereltern eines afghanischenMädchens verhängt worden war. Das Mäd-chen war von den Schwiegereltern schwermissbraucht worden, nachdem es mit 13 Jah-ren zu einer Heirat gezwungen worden war.ý Im Juli wurde eine Afghanin, die in den Me-dien als die 22-jährige Najiba bezeichnetwurde, erschossen, nachdem man sie des Ehe-bruchs bezichtigt hatte. Der Täter war demVernehmen nach ein aufständischer Taliban.ý Am 16. September wurde ein 16-jährigesMädchen in der südlichen Provinz Ghazni we-gen einer »unerlaubten Beziehung« öffentlichausgepeitscht. Das Mädchen war von drei

Mullahs im Bezirk Jaghori schuldig gesprochenund zu 100 Peitschenhieben verurteilt worden.ý Am 10. Dezember töteten Unbekannte dieDirektorin der Frauenbehörde der ProvinzLaghman, Nadia Sidiqi, auf ihrem Weg zur Ar-beit. Ihre Vorgängerin Hanifa Safi war am13. Juli durch eine ferngesteuerte Autobombegetötet worden, ihre Familie wurde bei dem At-tentat verletzt. Für die beiden Anschläge über-nahm niemand die Verantwortung.

Flüchtlinge und BinnenvertriebeneEnde Oktober 2012 gab es rund eine halbe Mil-lion Binnenflüchtlinge, die ihre Heimatorte we-gen des Konflikts oder wegen Naturkatastro-phen verlassen hatten. Viele suchten in städti-schen Slums und anderen informellen Siedlun-gen Zuflucht. Sie errichteten provisorischeUnterkünfte aus Plastikplanen und lebten inständiger Angst vor Zwangsräumungen, die ineinigen Fällen gewaltsam verliefen. Dieschlechten sanitären Verhältnisse, der feh-lende Zugang zu Bildung und Gesundheitsver-sorgung und der überaus harte Winter2011 /12 führten dazu, dass viele MenschenKrankheiten und Kälte nicht überlebten. Be-richten zufolge sollen in diesem Zeitraum mehrals 100 Menschen gestorben sein, die meistenvon ihnen Kinder. Gleichzeitig wurde Kritik laut,dass die Binnenflüchtlinge nicht rechtzeitighumanitäre Hilfe erhalten hatten. Als Reaktiondarauf kündigte die Regierung im März an, siewerde ein umfassendes Konzept zum Umgangmit Binnenflüchtlingen entwickeln.

Im September 2012 sagte die pakistanischeRegierung zu, afghanische Flüchtlinge könn-ten weitere drei Jahre in Pakistan bleiben. Siehob damit eine Anordnung der Behörden derpakistanischen Provinz Khyber-Pakhtunkhwaauf, die alle afghanischen Migranten ohne re-gulären Aufenthaltsstatus aufgefordert hatte,das Land bis zum 25. Mai zu verlassen, da siesonst inhaftiert oder abgeschoben würden.

TodesstrafeAm 20. und 21. November 2012 ließen die Be-hörden 14 Gefangene aus dem Todestrakt hin-richten. Es war das erste Mal seit Juni 2011,

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dass wieder Hinrichtungen vollstreckt wurden,ungeachtet schwerwiegender Bedenken be-züglich der Gerichtsprozesse im Land, dienicht den Standards für faire Verfahren entspra-chen. Der Oberste Gerichtshof bestätigte 30Todesurteile. Zehn Todesurteile wurden inlange Haftstrafen umgewandelt. Ende Novem-ber befanden sich noch immer mehr als 250Männer und Frauen in Todeszellen.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Afghanistan

im Februar, März, Mai, Juni, Oktober und Dezember.ÿ Fleeing war, finding misery: The plight of the internally dis-

placed in Afghanistan, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA11/001/2012/en

ÿ Strengthening the rule of law and protection of human rights,including women’s rights, is key to any development planfor Afghanistan, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA11/012/2012/en

ÿ Open letter to the Government of Afghanistan, the UnitedNations, other humanitarian organizations and internatio-nal donors, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA11/019/2012/en

ÄgyptenAmtliche Bezeichnung:

Arabische Republik ÄgyptenStaatsoberhaupt: Mohamed Mursi (löste im Juni

Mohamed Hussein Tantawi im Amt ab)Regierungschef: Hisham Kandil (löste im August

Kamal Ganzouri im Amt ab)

Bei Protesten gegen die Militärregierungwurden 2012 in Kairo und Suez mindes-tens 28 Demonstrierende von Sicher-heitskräften getötet. Die Bereitschafts-polizei und die Armee setzten exzessiveGewalt ein, um die Proteste aufzulösen.Demonstrierende berichteten, man habesie in Gewahrsam gefoltert und ander-weitig misshandelt. Im November undDezember gingen Gegner und Anhänger

von Präsident Mohamed Mursi auf dieStraße, dabei kam es teilweise zu ge-waltsamen Ausschreitungen. Es gabnach wie vor Verfahren vor den Obersten(Notstands-)Staatssicherheitsgerichten,die nicht den internationalen Standardsfür faire Gerichtsverfahren entsprachen.Die Sicherheitskräfte setzten sich wei-terhin über das geltende Recht hinweg.Der frühere Präsident MuhammadHosni Mubarak und der ehemalige In-nenminister wurden wegen der Tötungvon Protestierenden während des Auf-stands im Jahr 2011 schuldig gespro-chen und erhielten lebenslange Haftstra-fen. Viele andere mutmaßliche Täterwurden freigesprochen. Die Mitgliederdes Obersten Militärrats mussten sichnicht wegen Menschenrechtsverletzun-gen verantworten, die während ihrerHerrschaft verübt worden waren. Präsi-dent Mursi berief eine Kommission ein,um Menschenrechtsverletzungen zu un-tersuchen, die zwischen Januar 2011und Juni 2012 begangen worden waren.Er begnadigte mehrere Zivilpersonen,die von Militärgerichten verurteilt wordenwaren, und erließ eine Generalamnestiefür Verstöße, die Protestierende bei den

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Demonstrationen gegen die Militärre-gierung begangen hatten. Religiöse Min-derheiten wurden noch immer diskrimi-niert. Es gab Strafverfahren gegen Jour-nalisten und Aktivisten wegen »Beleidi-gung des Präsidenten« und Blasphemie.Frauen wurden weiterhin durch Gesetzeund im täglichen Leben diskriminiert;sexuelle Belästigung war an der Tages-ordnung. Tausende Familien wohntennoch immer in informellen Siedlungen,die als »unsichere Gebiete« eingestuftwaren. Tausende weitere Menschen leb-ten in ständiger Angst vor Zwangsräu-mungen. Berichten zufolge töteten Si-cherheitskräfte ausländische Migranten,die auf der Sinai-Halbinsel die Grenzenach Israel überqueren wollten. Außer-dem drohte ihnen die Gefahr, von Men-schenhändlern ausgebeutet zu werden.Mindestens 91 Menschen wurden zumTode verurteilt. Über Hinrichtungen la-gen keine Informationen vor.

HintergrundAm 23. Januar 2012 trat das neu gewählte Par-lament zum ersten Mal zusammen. Im Märzernannte das Parlament eine Verfassungge-bende Versammlung, die 100 Mitglieder um-fasste und Ägyptens neue Verfassung ausarbei-ten sollte. Die Versammlung wurde von isla-mistischen Parteien dominiert. Es wurde Kritikdaran laut, dass dem Gremium nur sechsFrauen und sechs koptische Christen angehör-ten. Am 10. April setzte ein Verwaltungsgerichtdie Verfassunggebende Versammlung nacheiner Klage außer Kraft. Im Mai endete nach31 Jahren der Ausnahmezustand. Allerdingsversuchten die Behörden, einen Teil der Son-derbefugnisse beizubehalten. Am 13. Juni er-teilte das Justizministerium Angehörigen desMilitärs und des Geheimdienstes die Befugnis,Personen zu verhaften. Ein Verwaltungsgerichthob diese Maßnahme jedoch umgehend wiederauf. Im Juni setzte das Parlament eine neueVerfassunggebende Versammlung ein, gegendie erneut Klagen eingereicht wurden und dievon den oppositionellen politischen Parteien,

der Zivilgesellschaft und der koptischen Kir-che zunehmend boykottiert wurde. Am 16. Junilöste der Oberste Militärrat das Parlament auf,nachdem das Oberste Verfassungsgericht dieParlamentswahl in Teilen für verfassungswid-rig erklärt hatte. Wenige Tage vor Bekanntgabedes Ergebnisses der Präsidentschaftswahlweitete der Oberste Militärrat seine Machtbe-fugnisse am 17. Juni stark aus und be-schränkte die der nächsten Regierung. Am12. August verkündete der neu gewählte Prä-sident Mursi, er habe die Machtausweitung desObersten Militärrats rückgängig gemacht unddessen Vorsitzenden, Mohamed Tantawi, inden Ruhestand versetzt. Die Ankündigung er-folgte, nachdem eine bewaffnete Gruppe aufder Sinai-Halbinsel 16 Soldaten getötet hatte.Die ägyptischen Behörden leiteten daraufhineine groß angelegte Sicherheitsoperation indem Gebiet ein.

Am 22. November erließ Präsident Mursi eineVerfügung, wonach seine Entscheidungen ge-richtlich nicht anfechtbar seien. Die Gerichteseien auch nicht befugt, Urteile bezüglich derVerfassunggebenden Versammlung zu fällen.Außerdem erließ der Präsident ein neues re-pressives Gesetz zum »Schutz der Revolution«,tauschte den Generalstaatsanwalt aus und for-derte neue Ermittlungen und Strafverfahren imZusammenhang mit Todesfällen von Protestie-renden. Die Verfassunggebende Versammlunglegte am 30. November ihren Entwurf einerneuen Verfassung vor.

Die Verfügung von Präsident Mursi und derVerfassungsentwurf lösten landesweite Pro-teste und einen Streik der Richter aus. Es kamzu gewaltsamen Zusammenstößen zwischenAnhängern und Gegnern des Präsidenten. Am5. und 6. Dezember 2012 wurden bei Zusam-menstößen vor dem Präsidentenpalast in Kairomindestens zehn Menschen getötet. Als Reak-tion auf die Unruhen hob Präsident Mursi seineVerfügung am 8. Dezember teilweise wiederauf. Die neue Verfassung wurde bei einem Re-ferendum angenommen und trat Ende De-zember in Kraft.

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Folter und andere MisshandlungenWeder der Oberste Militärrat noch die Regie-rung von Präsident Mursi brachten 2012rechtliche oder politische Reformen auf denWeg, um der Folter ein Ende zu bereiten. ImParlament wurde zwar über härtere Strafen fürFolter diskutiert, doch kam es bis zur Auflö-sung des Parlaments zu keiner Entscheidungdarüber. Es gab weiterhin Berichte über Folterund andere Misshandlungen durch die Sicher-heitskräfte, ohne dass die Verantwortlichenzur Rechenschaft gezogen wurden. Währendder ersten 100 Tage der Amtszeit von Präsi-dent Mursi dokumentierte eine NGO 88 Fällevon Folter und anderen Misshandlungendurch die Polizei. Protestierende, die von derBereitschaftspolizei oder vom Militär festge-nommen worden waren, wurden in Gewahrsambrutal geschlagen und mit Elektroschocks ge-quält. Im Tora-Gefängnis südlich von Kairo lit-ten die Häftlinge zudem unter der Überfüllungder Zellen, unzureichender Kleidung und man-gelnder medizinischer Versorgung. EinigeMänner, die an Demonstrationen teilgenom-men hatten, berichteten, man habe sie ent-führt, an geheime Orte gebracht, mit Elektro-schocks traktiert und sexuell missbraucht, umInformationen über ihre Beteiligung an den Pro-testaktionen zu erpressen.ý George Ramzi Nakhla wurde am 6. Februar2012 in Kairo festgenommen. Er gab an, Be-reitschaftspolizisten hätten seine Arme undBeine an das Heck eines gepanzerten Fahr-zeugs gebunden und ihn dann langsam überdie Straße geschleift. Dabei sei er von mehre-ren Polizisten mit Schlagstöcken geprügelt wor-den. Im Innenministerium wurde er erneut ge-schlagen und mit Elektroschocks gequält. Seingebrochener Arm wurde nicht medizinisch be-handelt, und er musste zusammen mit 13 Män-nern mehrere Stunden lang in der Hocke aus-harren. Im Tora-Gefängnis wurde er mit Elektro-kabeln geschlagen und verhöhnt. Nach einemdreitägigen Hungerstreik kam er am 25. Märzfrei.ý Abdel Haleem Hnesh wurde am 4. Mai 2012bei einer Protestaktion im Kairoer Stadtteil Ab-bassia von Armeeangehörigen festgenommen.

Er sagte aus, die Soldaten hätten ihn mit 2mlangen Stöcken und Elektroknüppeln brutalverprügelt. Dann hätten sie ihn zusammen mitetwa 40 weiteren Personen zum MilitärgeländeS28 in Kairo gebracht. Abdel Haleem Hneshwurde der Militärstaatsanwaltschaft vorgeführtund anschließend ins Tora-Gefängnis über-stellt. Bei seiner Ankunft dort schlug man ihnmit Schläuchen und Stöcken. Fünf Tage spä-ter kam er frei.

Unfaire GerichtsverfahrenAuch nach der neuen Verfassung war es mög-lich, Zivilpersonen vor Militärgerichte zu stel-len, deren Verfahren prinzipiell nicht den inter-nationalen Standards für faire Gerichtsverfah-ren entsprechen. Im April 2012 reformierte dasParlament die Militärgesetzgebung und ent-zog dem Präsidenten die Befugnis, Zivilperso-nen an Militärgerichte zu überstellen. Dage-gen blieben diejenigen Artikel, die Militärge-richten eine Zuständigkeit für Verfahren ge-gen Zivilpersonen zubilligen, unverändert. ImJuli berief Präsident Mursi eine Kommissionein, um Fälle von Zivilpersonen zu überprüfen,die vor Militärgerichte gestellt worden warenoder die noch im Innenministerium inhaftiertwaren. Außerdem sollte sich die Kommissionmit Fällen von »Revolutionären« beschäftigen,die von der ordentlichen Gerichtsbarkeit mitHaftstrafen belegt worden waren. Auf Anratender Kommission begnadigte Präsident Mursiim Juli und August rund 700 Gefangene. ImOktober erließ er eine Generalamnestie fürVerstöße, die zur »Unterstützung der Revolu-tion« in den Jahren 2011 und 2012 begangenworden waren. In dem Dekret waren allerdingskeine fairen Gerichtsverfahren für die rund1100 Zivilpersonen vorgesehen, die von Militär-gerichten wegen anderer Straftaten verurteiltworden waren. Obwohl der seit 1981 geltendeAusnahmezustand am 31. Mai 2012 endete,wurden einige Fälle noch immer vor Notstands-gerichten verhandelt, so beispielsweise terro-ristische Vergehen sowie Fälle von Protestaktio-nen und gewaltsamen Auseinandersetzungenzwischen verschiedenen Bevölkerungsgrup-pen.

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ý Am 4. Mai nahmen Soldaten Mahmoud Mo-hamed Amin und rund 300 weitere Personenfest, die im Kairoer Stadtteil Abbassia gegen dieMilitärregierung demonstrierten. Man über-stellte die Festgenommenen an die Militär-staatsanwaltschaft und leitete gegen sie Ver-fahren wegen »Angriffen auf Armeeangehö-rige«, »Störung der öffentlichen Ordnung«und anderer Anklagepunkte ein. Am 20. Maitraten Mahmoud Mohamed Amin und weitereHäftlinge in einen Hungerstreik, um gegenihren Prozess vor einem Militärgericht zu pro-testieren. Am 19. Juni kam Mahmoud Moha-med Amin bis zum Beginn seines Prozessesauf freien Fuß. Im Oktober wurden die Ankla-gen gegen ihn im Rahmen einer Präsidialam-nestie fallen gelassen.

Exzessive GewaltanwendungZu Beginn des Jahres 2012 richteten sich dieProteste vor allem gegen die Militärregierung.Nach der Wahl von Präsident Mursi gab es so-wohl Demonstrationen seiner Anhänger alsauch seiner Gegner. Die Sicherheitskräfte hiel-ten sich weitgehend zurück, insbesonderewas große Kundgebungen auf dem Tahrir-Platzbetraf. In einigen Fällen kam es jedoch zu Zu-sammenstößen mit Demonstrierenden. Eswurde keine Polizeireform eingeleitet, und dasVorgehen der Behörden erinnerte an die Regie-rungszeit des ehemaligen Präsidenten Muba-rak, da die Sicherheitskräfte mit unverhältnis-mäßiger Gewalt gegen Protestierende vorgin-gen. Die Bereitschaftspolizei wandte exzessiveund unnötige Gewalt an, indem sie u. a.Schusswaffen und Tränengas US-amerikani-scher Herkunft einsetzte.ý In Kairo und in Suez wurden zwischen dem2. und 6. Februar 16 Protestierende getötet, alsSicherheitskräfte ohne Vorwarnung tödlicheGewalt einsetzten, um Demonstrationen auf-zulösen. Die Proteste waren eine Reaktion aufdie Tötung von etwa 70 Fußballfans des Ver-eins Al-Ahly, die bei einem Spiel in Port Said vonMännern in Zivil attackiert und tödlich verletztworden waren. Die Sicherheitskräfte hatten da-bei zugesehen und nichts unternommen, umdie Gewalt zu verhindern.

ý Zwischen dem 28. April und dem 4. Mai 2012wurden mindestens zwölf Menschen währendeiner Sitzblockade auf dem Abbassia-Platz inKairo von Männern in Zivil getötet. Der Protestder Demonstrierenden richtete sich gegen dasAuswahlverfahren vor der Präsidentschafts-wahl. Die Sicherheitskräfte griffen nicht ein,was Anlass zu der Vermutung gab, dass dieAngreifer im Auftrag oder mit stillschweigenderBilligung der Armeeführung handelten.ý Am 20. November 2012 wurde der Jugend-liche Gaber Salah Gaber Berichten zufolge beiProtesten in der Nähe des Innenministeriums inKairo von Sicherheitskräften erschossen.

StraflosigkeitIm Juni 2012 verurteilte ein Gericht den frühe-ren Präsidenten Hosni Mubarak und den ehe-maligen Innenminister Habib el-Adly wegenihrer Verantwortung für die Tötung und Verlet-zung von Demonstrierenden während des Auf-stands im Jahr 2011 zu lebenslangen Haftstra-fen. Dies stellte einen historischen Schritt imKampf gegen die Straflosigkeit dar. Sechshochrangige Sicherheitsbeamte wurden aller-dings freigesprochen. Die Staatsanwaltschafterklärte, der Mangel an Beweisen sei auf diefehlende Bereitschaft des Allgemeinen Ge-heimdienstes und des Innenministeriums zurZusammenarbeit zurückzuführen.

Die Mehrzahl der Polizeibeamten, die im Zu-sammenhang mit den Tötungen von Protestie-renden während des Aufstands im Jahr 2011vor Gericht standen, wurde freigesprochen. Inder Regel entschieden die Gerichte, die Anwen-dung tödlicher Gewalt durch die Polizei sei ge-rechtfertigt gewesen oder es mangele an Be-weisen für einen Schuldspruch. Hundertenvon Opfern und ihren Angehörigen bliebenWahrheit und Gerechtigkeit vorenthalten.

Im Oktober wurden alle Angeklagten einesProzesses freigesprochen, in dessen Mittel-punkt die sogenannte Schlacht der Kamelestand. Im Februar 2011 waren Kamelreiter ein-gesetzt worden, um Demonstrationen von Geg-nern des damaligen Präsidenten Mubarak aufdem Kairoer Tahrir-Platz niederzuschlagen.Nach dem Prozess hieß es aus Kreisen der

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Staatsanwaltschaft, dass der Fall möglicher-weise wieder aufgerollt wird.

Wegen der Tötungen und Folterungen bei denProtesten in der Mohamed-Mahmoud-Straßeund vor dem Kabinettsgebäude im Novemberund Dezember 2011 wurde kein Armeeange-höriger zur Rechenschaft gezogen. Stattdessenentschieden zivile Untersuchungsrichter, Pro-testierende wegen angeblicher Gewaltanwen-dung vor Gericht zu stellen. Diejenigen, die imZusammenhang mit den Protesten in der Mo-hamed-Mahmoud-Straße angeklagt waren,wurden begnadigt. Der Prozess gegen die De-monstrierenden vor dem Kabinettsgebäudewurde jedoch nicht eingestellt. Wegen der Miss-handlungen von Protestierenden in der Moha-med-Mahmoud-Straße musste sich nur ein Be-reitschaftspolizist vor Gericht verantworten. BisEnde 2012 war noch kein Urteil gefällt worden.

Im September 2012 verhängte ein Militärge-richt eine dreijährige und zwei zweijährigeHaftstrafen gegen drei Soldaten wegen »fahr-lässiger Tötung«. Sie waren im Oktober 2011in Kairo vor dem als Maspero bekannten Ge-bäude des staatlichen Fernsehens mit einemgepanzerten Fahrzeug in eine Gruppe von 14koptischen Protestierenden gefahren. EinemZivilgericht gelang es nicht, die Täter ausfindigzu machen, die für die Tötung von 13 weiterenPersonen verantwortlich waren. Wegen der Tö-tung von Demonstrierenden während der Mili-tärherrschaft von Februar 2011 bis Juni 2012musste sich kein Mitglied des Obersten Mili-tärrats vor Gericht verantworten.

Im Juli berief Präsident Mursi eine Untersu-chungskommission aus Beamten, Vertreternder Zivilgesellschaft und Angehörigen der Op-fer. Das Gremium soll diejenigen ausfindig ma-chen, die für die Tötung und Verletzung von De-monstrierenden während des Aufstands 2011und der Zeit der Militärherrschaft verantwortlichsind.

Es wurden keine Maßnahmen ergriffen, umden Opfern von Folter und anderen schwerenMenschenrechtsverletzungen, die während der30-jährigen Herrschaft Präsident Mubaraksverübt wurden, Gerechtigkeit, Wahrheit undWiedergutmachung widerfahren zu lassen.

Rechte auf freie Meinungsäußerungund VereinigungsfreiheitAuch 2012 gab es strafrechtliche Ermittlungenund Anklagen wegen Blasphemie und Beleidi-gung von Behördenvertretern. Die neue Verfas-sung schränkte das Recht auf freie Meinungs-äußerung ein, indem sie die Beleidigung vonPersonen und von religiösen Propheten unterStrafe stellte. Ein Gesetzentwurf enthielt Ein-schränkungen der Vereinigungsfreiheit. Sowaren u. a. repressive Regelungen für NGOsvorgesehen, was Genehmigungsverfahren so-wie Zuwendungen aus dem Ausland betraf.ý Der gewaltlose politische Gefangene MaikelNabil Sanad kam am 24. Januar 2012 im Zugeeiner umfassenderen Begnadigung von Gefan-genen durch den Obersten Militärrat frei. DerBlogger war im April 2011 nach einem unfairenGerichtsverfahren vor einem Militärgericht we-gen Kritik an der Armee und Wehrdienstverwei-gerung inhaftiert worden.ý Islam Affifi, Redakteur der Zeitung El-Dostor,musste sich im August 2012 wegen Veröffent-lichung falscher Informationen, »die den Präsi-denten beleidigen«, vor Gericht verantworten.Das Verfahren war Ende 2012 noch nicht abge-schlossen.ý Im Oktober 2012 wurde der bekannte Fern-sehmoderator Tawfiq Okasha wegen »Beleidi-gung des Präsidenten« zu vier Monaten Ge-fängnis und einer Geldbuße verurteilt. Bis zuseinem Berufungsverfahren blieb er auf freiemFuß.ý Der gewaltlose politische Gefangene AlberSaber Ayad wurde am 13. September 2012festgenommen, nachdem eine Menschen-menge sein Haus umstellt und ihn beschuldigthatte, er habe für den umstrittenen Film Inno-cence of Muslims geworben. Im Dezemberwurde er unter Bezug auf Videos und Beiträge,die er im Internet veröffentlicht hatte, wegen»Verleumdung der Religion« zu drei JahrenHaft verurteilt. Bis zur Aufnahme seines Beru-fungsverfahrens kam er gegen Kaution frei.ý Im Februar 2012 begann der Prozess gegen43 Beschäftigte von fünf internationalen Orga-nisationen, die angeblich ohne behördliche Ge-nehmigung Geld aus dem Ausland erhalten

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und ohne offizielle Erlaubnis gearbeitet hatten.Das Verfahren fand in Abwesenheit der meis-ten Angeklagten statt und dauerte Ende 2012noch an.

Rechte von Frauen und MädchenDie neue Verfassung verbietet zwar die Diskri-minierung ägyptischer Staatsbürger, die Dis-kriminierung von Frauen ist darin jedoch nichtausdrücklich untersagt, stattdessen wird aufihre Pflichten als Hausfrauen verwiesen. In denneu geschaffenen politischen Institutionenwaren Frauen unterrepräsentiert. Von den ins-gesamt 508 Abgeordneten des später aufge-lösten Parlaments waren lediglich zwölf Frauen.Der zweiten Verfassunggebenden Versamm-lung gehörten nur sieben Frauen an. Für seinKabinett berief Präsident Mursi nur sehr we-nige Frauen, und die Gouverneursposten wur-den ausschließlich an Männer vergeben. Auchvon Stellen im Justizwesen blieben Frauenweiterhin ausgeschlossen. Es wurde nichtsunternommen, um die rechtliche und alltäg-liche Diskriminierung von Frauen im Bezugauf Ehe, Scheidung, Sorgerecht und Erbrechtzu beenden. Mehrere Frauen wurden Berich-ten zufolge während der Teilnahme an Massen-protesten auf dem Tahrir-Platz und an ande-ren Orten sexuell belästigt und misshandelt. ImJuni attackierten Männer einen Protestmarschgegen sexuelle Belästigung in Kairo; die Teil-nehmerinnen der Demonstration wurden tät-lich angegriffen und sexuell belästigt. In Assiuterschoss ein Mann im September auf offenerStraße eine Frau, die sich dem Vernehmennach gegen seine sexuellen Belästigungen zurWehr gesetzt hatte. Nach den Eid-Feiertagen(Opferfest) im Oktober teilten die Behördenmit, es seien mehr als 1000 Anzeigen wegen se-xueller Belästigung eingegangen. Es gab kei-nerlei Verfahren gegen Angehörige der Sicher-heitskräfte wegen der sexuellen und ge-schlechtsspezifischen Gewalttaten gegenFrauen, die im Zuge der Proteste gegen denObersten Militärrat 2011 festgenommen wor-den waren.ý Ein Militärgericht sprach im März 2012 einenMilitärarzt wegen der sogenannten Jungfräu-

lichkeitstests frei, denen inhaftierte Demons-trantinnen im März 2011 zwangsweise unter-zogen worden waren.

DiskriminierungDie neue Verfassung enthält kein ausdrück-liches Diskriminierungsverbot aufgrund vonethnischer Zugehörigkeit. Dies könnte sich ne-gativ auf die Situation der Nubier und andererMinderheiten auswirken.

Die Verfassung garantiert zwar Religionsfrei-heit, jedoch nur für Religionen, die offiziell als»himmlisch« anerkannt werden. Dies könntenegative Auswirkungen auf Baha’i und Schi-iten haben. Juden und Christen billigt die Ver-fassung ein eigenes Personenstandsrecht zuund erlaubt ihnen, ihre religiösen Angelegen-heiten und die Wahl ihrer geistlichen Führerselbst zu regeln. Dies gilt jedoch nicht für an-dere religiöse Minderheiten.

Die Rechtslage machte es koptischen Chris-ten schwer, Kirchen zu bauen oder zu renovie-ren, da die dafür notwendigen Genehmigungennur selten erteilt wurden. In einigen Fällen ver-suchten muslimische Nachbarn, Bauarbeitenan Kirchen zu verhindern. Dies führte teilweisezu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwi-schen den verschiedenen Bevölkerungsgrup-pen. Die Sicherheitskräfte unternahmen in die-sen Fällen nichts, um die Kopten vor Angriffenzu schützen.ý Ende Januar 2012 vertrieben Muslime dreikoptische Familien aus dem Dorf Sharbatnahe Alexandria. Muslimische Dorfbewohnerverdächtigten einen Kopten, ein »unanständi-ges« Bild einer Muslimin zu besitzen, und grif-fen Häuser und Geschäfte von Kopten an. Auf»Versöhnungsversammlungen« des Dorfeswurde entschieden, dass der Mann und seinegesamte Verwandtschaft sowie fünf weitere inder Nachbarschaft lebende koptische Fami-lien das Dorf verlassen müssten. Außerdemsolle ihr Besitz verkauft werden. Die Polizeigriff nicht ein, um die Kopten vor den Übergrif-fen oder vor der rechtswidrigen Vertreibung zuschützen. Nachdem eine Delegation von Parla-mentariern das Dorf besucht hatte, konntennur die fünf Familien zurückkehren, die nichts

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mit dem ursprünglichen Streitfall zu tun hat-ten.

Recht auf Wohnen –ZwangsräumungenDie neue Verfassung enthält zwar das Recht aufangemessenen Wohnraum, doch kein explizi-tes Verbot von Zwangsräumungen. Die ägypti-sche Gesetzgebung und Politik bot weiterhinkeinerlei Schutz gegen rechtswidrige Zwangs-räumungen.

Laut Einschätzung der von der Regierung ein-gesetzten Entwicklungsgesellschaft für infor-melle Siedlungen müssten etwa 11500 Unter-künfte in »unsicheren Gebieten«, vor allem inKairo, sofort geräumt werden, da dort unmittel-bar Lebensgefahr droht. Weitere 120000 Un-terkünfte in »unsicheren Gebieten« müsstenbis 2017 geräumt werden. Dem Vernehmennach wurde in der Entwicklungsgesellschaftüberlegt, ob man die Situation in den Slumsverbessern und alternative Unterkünfte in derNähe bestehender Siedlungen bereitstellenkönnte.

Beamte des Wohnungsbauministeriums sag-ten, der Plan »Kairo 2050« sei überarbeitetworden, und man habe einige der Projekte, diemassenhafte Zwangsräumungen nach sichgezogen hätten, aufgegeben. Die Behörden wa-ren dabei, einen neuen städtebaulichen Mas-terplan »Ägypten 2052« zu erarbeiten, ohnedass die Bewohner der informellen Siedlun-gen einbezogen wurden.ý Im August 2012 kam es zu Zusammenstößenzwischen der Polizei und den Bewohnern vonRamlet Bulaq, einer informellen Siedlung imStadtzentrum von Kairo. Auslöser war der Todeines Bewohners, der von einem Polizisten ge-tötet worden sein soll. Die Polizei führte in demViertel mehrere Razzien durch und nahmeinige Männer fest. Viele männliche Bewohnersahen sich gezwungen, aus der Gegend zu flie-hen. Nach Angaben von Bewohnern drohtedie Polizei damit, die Einschüchterungen biszur endgültigen Räumung der Siedlung fortzu-setzen. Der Abriss von Ramlet Bulaq war be-reits in Planung.

Flüchtlinge und MigrantenÄgyptische Sicherheitskräfte schossen weiter-hin auf ausländische Migranten, Flüchtlingeund Asylsuchende, die auf der Sinai-Halbinseldie Grenze von Ägypten nach Israel überque-ren wollten. Mindestens acht Menschen kamendabei ums Leben. Berichten zufolge erpress-ten und misshandelten MenschenhändlerFlüchtlinge, Asylsuchende und Migranten, dieüber die Sinai-Halbinsel nach Israel gelangenwollten.

Todesstrafe2012 wurden mindestens 91 Todesurteile ver-hängt, darunter einige nach unfairen Gerichts-verfahren vor Notstandsgerichten. Über Hin-richtungen lagen keine Informationen vor.ý Im September 2012 verurteilte ein Notstands-gericht 14 Männer zum Tode, davon acht inAbwesenheit. Die Urteile ergingen im Zusam-menhang mit einem Angriff, bei dem sechsMenschen getötet worden waren. Die Ange-klagten wurden außerdem für schuldig befun-den, einer dschihadistischen Gruppe anzuge-hören.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Ägypten

2012 mehrfach, um sich ein Bild von der Menschenrechts-lage zu machen.

ÿ Brutality unpunished and unchecked: Egypt’s military killand torture protesters with impunity, http://amnesty.org/en/library/info/MDE12/017/2012/en

ÿ Agents of repression: Egypt’s police and the case forreform, http://amnesty.org/en/library/info/MDE12/029/2012/en

ÿ Egypt: New President must restore rule of law, govern for all,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/egypt-new-president-must-restore-rule-law-govern-all-citizens-2012-06-29

ÿ Egypt’s new constitution limits fundamental freedoms andignores the rights of women, http://www.amnesty.org/en/news/egypt-s-new-constitution-limits-fundamental-freedoms-and-ignores-rights-women-2012-11-30

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46 Albanien

AlbanienAmtliche Bezeichnung: Republik AlbanienStaatsoberhaupt: Bujar Nishani (löste im Juli

Bamir Topi im Amt ab)Regierungschef: Sali Berisha

Die Regierung verabschiedete 2012 Re-formen zur Einschränkung der Strafim-munität von Parlamentsmitgliedern undanderen Staatsbediensteten und revi-dierte nach Betrugsvorwürfen die Wahl-gesetzgebung. Im Dezember verschobder Europäische Rat die Verleihung desEU-Kandidatenstatus an Albanien undmachte weitere Reformen für dessenGewährung zur Bedingung.

VerschwindenlassenIm November 2012 endete das Verfahren zumVerschwindenlassen von Remzi Hoxha, einesethnischen Albaners aus Mazedonien, und zurFolter von zwei albanischen Männern im Jahr1995 vor dem Gerichtshof für Schwerverbre-chen mit der Verurteilung von drei ehemaligenBeamten des Geheimdienstes. Einer vonihnen, Ilir Kumbaro, war 2011 vor den Auslie-ferungsverhandlungen in Großbritannien geflo-hen. Er wurde in Abwesenheit zu 15 JahrenHaft verurteilt. Die Anschuldigungen gegenseine beiden Mitangeklagten wurden vom Ge-richt so abgeändert, dass sie sich auf Straftatenbezogen, die 1997 Gegenstand einer Amnes-

tie gewesen waren, wodurch sie straffrei aus-gingen. Im Dezember 2012 legten alle dreiAngeklagten gegen ihre SchuldsprücheRechtsmittel ein.

Rechtswidrige TötungenIm Mai 2012 begann der Prozess gegen denehemaligen Befehlshaber der Republikani-schen Garde, Ndrea Prendi, sowie einen ehe-maligen Gardisten, Agim Llupo. Sie wurdender Tötung von vier Demonstranten, der Verlet-zung von zwei weiteren Demonstranten undder Unterschlagung von Beweismaterial be-schuldigt. Zu den Anklagen war es nach ge-walttätigen Zusammenstößen zwischen Polizeiund Protestierenden bei einer Demonstrationgegen die Regierung im Januar 2011 in Tiranagekommen.

Folter und andere MisshandlungenIm Juni 2012 äußerte der UN-Ausschuss gegenFolter Besorgnis darüber, dass das Innenmi-nisterium keine effektiven und unparteiischenUntersuchungen von Fällen mutmaßlicherMisshandlungen durch Polizeikräfte durch-führte. Außerdem berichtete der Ausschuss,dass es keine grundlegenden Maßnahmengebe, um Häftlinge vor Folter zu schützen. Sosei nicht gewährleistet, dass Häftlinge rechtzei-tig anwaltliche und ärztliche Hilfe erhielten,und es komme häufig zu einer übermäßig lan-gen Dauer der Untersuchungshaft.

Im Juli wurden vier Gefängniswärter vom Be-zirksgericht Tirana zu einer Strafe von jeweils3100 Lek (ca. 22 Euro) verurteilt, weil sie imAugust 2011 im Gefängnis 313 den HäftlingSehat Doci verprügelt hatten.ý Im September 2012 trat eine Gruppe ehema-liger politischer Gefangener in den Hunger-streik, um dagegen zu protestieren, dass dieRegierung ihnen nach wie vor keine Entschä-digung für ihre Haft in den Jahren 1944–91 un-ter der kommunistischen Regierung gezahlthatte. Während dieser Zeit waren Tausende in-haftiert oder in Arbeitslager geschickt worden,wo sie Opfer erniedrigender Behandlung undhäufig auch Folter wurden. Während des31 Tage dauernden Protests setzten sich zwei

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Albanien 47

Männer selbst in Brand. Einer von ihnen, LirakBejko, erlag im November seinen Verletzungen.Die Ombudsperson bewertete die Maßnah-men der Polizei von Tirana, den Hungerstrei-kenden Medikamente und Flüssigkeit zu ver-weigern, als Folter.

Familiäre GewaltIm Jahr 2012 wurden 2526 Fälle familiärer Ge-walt gemeldet, 345 mehr als im Vorjahr. Auchdie Zahl der vor Gericht beantragten Schutzan-ordnungen von Gewaltopfern nahm zu. Diemeisten Betroffenen waren Frauen. Eine Ände-rung des Strafgesetzbuches, durch die fami-liäre Gewalt als Straftatbestand mit bis zu fünfJahren Haft geahndet werden kann, trat imApril in Kraft. Es gab jedoch keine Mindeststrafefür derartige Verbrechen, es sei denn, es han-delt sich um eine Wiederholungstat. Außerdemkann eine strafrechtliche Verfolgung nur ein-geleitet werden, wenn das Opfer Anzeige erstat-tet.

Im Mai wurde die Leiterin des staatlichen Zen-trums für Opfer häuslicher Gewalt entlassen,nachdem die Ombudsperson Beschwerdenvon Frauen nachgegangen war, die im Zen-trum Schutz gesucht hatten und dort Opfer will-kürlicher Bestrafungen und Einschränkungengeworden waren.

Diskriminierung – RomaVielen Roma wurde nach wie vor das Recht aufangemessenen Wohnraum verweigert.ý Einige Roma, die 2011 nach einem Brandan-schlag ihre Unterkünfte auf einem bahnhofs-nahen Gelände in Tirana verlassen mussten,wurden aus ihren provisorischen Zeltunter-künften vertrieben. Im Februar 2012 zogen achtFamilien mangels einer geeigneten Alternativevorübergehend in Räume im Ombudsbüro. Siewurden später in ehemalige Militärkasernenverlegt. Diese mussten sie jedoch aufgrund derschlechten Wohnverhältnisse und des unzu-reichenden polizeilichen Schutzes vor Bedro-hungen und Angriffen aus der Nachbarschaftverlassen. Bis Jahresende war noch keine dau-erhafte Lösung für ihre Unterbringung gefun-den worden.

ý Im Juli 2012 wurde der Lebensunterhalt vonetwa 800 Roma-Familien gefährdet, als die Po-lizei von Tirana einen Verwaltungsakt umsetzte,der das Sammeln von Abfall und anderen wie-derverwendbaren Materialien verbot, und ihreFahrzeuge und andere Ausrüstungsgegen-stände beschlagnahmte. Die Ombudspersonleitete Ermittlungen wegen exzessiver Gewalt-anwendung und Misshandlung durch die Poli-zei während des Einsatzes ein.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenIm Mai 2012 fand die erste Gay-Pride-Parade inTirana statt. Die Staatsanwaltschaft Tiranalehnte eine Anzeige von Organisationen für Les-ben, Schwule, Bisexuelle, Transgender undIntersexuelle gegen den stellvertretenden Ver-teidigungsminister Ekrem Spahiu wegen des-sen homophober Äußerungen zur Parade ab.

Recht auf Wohnen – WaisenJunge Menschen liefen nach dem Verlassenstaatlicher Fürsorgeeinrichtungen Gefahr, ob-dachlos zu werden, obwohl obdachlose regis-trierte Waisen bis zum Alter von 30 Jahren lautGesetz bei der Vergabe von SozialwohnungenVorrang genießen. Viele von ihnen musstenauch weiterhin in heruntergekommenen ehe-maligen Schülerwohnheimen leben oderkämpfen darum, eine einfache private Unter-kunft bezahlen zu können.

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48 Algerien

AlgerienAmtliche Bezeichnung:

Demokratische Volksrepublik AlgerienStaatsoberhaupt: Abdelaziz BouteflikaRegierungschef: Abdelmalek Sellal (löste im

September Ahmed Ouyahiya im Amt ab)

Die Regierung schränkte weiterhin dieRechte auf Meinungsfreiheit, Vereini-gungs- und Versammlungsfreiheit ein,löste Demonstrationen auf und schika-nierte Menschenrechtsverteidiger.Frauen wurden vor dem Gesetz und imtäglichen Leben diskriminiert. Die Ver-antwortlichen für schwere Menschen-rechtsverletzungen während der 1990erJahre sowie jene, die sich der Folter undMisshandlung von Häftlingen in den Jah-ren danach schuldig gemacht hatten,gingen nach wie vor straffrei aus. Bewaff-nete Gruppierungen verübten Angriffe,bei denen Menschen zu Tode kamen. ImJahr 2012 wurden mindestens 153 To-desurteile verhängt, Hinrichtungen gabes jedoch nicht.

HintergrundIm Berichtsjahr kam es zu Protestaktionen undDemonstrationen von Gewerkschaften undanderen Gruppierungen. Die Menschen protes-tierten gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Kor-ruption. Die Demonstrationen wurden von denSicherheitskräften aufgelöst oder schon imVorfeld verhindert, indem Zugangswege blo-ckiert und Protestierende verhaftet wurden.

Algeriens Menschenrechtsbilanz wurde imMai 2012 im Rahmen der Universellen Regel-mäßigen Überprüfung des UN-Menschen-rechtsrats begutachtet. Die Regierung nahmEmpfehlungen zur Abschaffung von Gesetzennicht an, die auf den nationalen Ausnahmezu-stand in den Jahren 1992 bis 2011 zurückgin-gen und die Rechte auf freie Meinungsäuße-rung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheiteinschränkten. Darüber hinaus verwehrte sieden Familien der in den 1990er Jahren »ver-

schwundenen« Personen das Recht auf Wahr-heit. Die UN-Hochkommissarin für Menschen-rechte stattete Algerien im September einenBesuch ab und diskutierte mit den Behördenden bereits seit langem anstehenden Besuchder UN-Arbeitsgruppe zur Frage des Ver-schwindenlassens von Personen.

Rechte auf freie Meinungsäußerungund VereinigungsfreiheitNeue Medien- und Vereinigungsgesetze tratenim Dezember 2011 in Kraft. Sie schränken diejournalistische Tätigkeit in den Themenberei-chen Staatssicherheit, nationale Souveränitätund Wirtschaftsinteressen ein. Die Überwa-chung von NGOs wurde verschärft. Die Behör-den sind jetzt berechtigt, NGOs aufzulösen,ihnen die Zulassung zu verweigern oder die fi-nanziellen Mittel zu entziehen. Journalistenwurden wegen Verleumdung strafrechtlichverfolgt.ý Der Journalist Manseur Si Mohamed, derfür die Zeitung La Nouvelle République in Mu-askar arbeitete, wurde im Juni 2012 wegen»verleumderischer Kommentare« zu zwei Mo-naten Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Erhatte über einen Staatsbeamten berichtet, dersich geweigert hatte, eine gerichtliche Anord-nung in Kraft zu setzen. Während der Dauer

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Algerien 49

seines Berufungsverfahrens blieb er auf freiemFuß.ý Im Oktober 2012 wiesen die Behörden ohnenähere Begründung einen Antrag auf Zulas-sung der nationalen Vereinigung zum Kampfgegen die Korruption (Association nationale delutte contre la corruption – ANLC) ab.

Recht auf VersammlungsfreiheitAuch nach Aufhebung des Ausnahmezustandsim Jahr 2011 verboten die Behörden weiterhinDemonstrationen in Algier und beriefen sichdabei auf ein Dekret aus dem Jahr 2001. Imgesamten Land verhinderten SicherheitskräfteProtestaktionen im Vorfeld, indem sie Zu-fahrtswege sperrten oder Menschen in Gewahr-sam nahmen. Dennoch stattfindende De-monstrationen wurden gewaltsam oder unterAndrohung von Gewalt aufgelöst.ý Am 24. April 2012 gingen Sicherheitskräftedem Vernehmen nach gewaltsam gegen Jus-tizangestellte vor, die mit einem Sitzstreik gegenihre Arbeitsbedingungen protestierten. DieDemonstrierenden wurden verprügelt und fest-genommen.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger waren nach wie vorSchikanen durch die Behörden und die Ge-richte ausgesetzt.ý Abdelkader Kherba ist Mitglied der algeri-schen Liga für die Verteidigung der Men-schenrechte (Ligue Algérienne pour la Défensedes Droits de l’Homme – LADDH) sowie desnationalen Komitees für die Rechte der Arbeits-losen (Comité pour la défense des droits deschômeurs – CNDDC). Im Mai 2012 verurteilteihn ein Gericht wegen »direkter Anstiftung zueiner Zusammenkunft« sowie wegen Teilnahmean und Filmens eines Sitzstreiks von Justizan-gestellten zu einer Geldbuße und einer einjähri-gen Freiheitsstrafe auf Bewährung. Er saß vom19. April bis 3. Mai in Haft. Im August wurde ererneut festgenommen, inhaftiert und straf-rechtlich verfolgt, weil er versucht hatte, eineDemonstration gegen die eingeschränkteWasserversorgung in Ksar El Boukhari in derProvinz Médéa zu filmen. Die Anklage lautete

auf Beleidigung und tätlichen Angriff auf einenBeamten. Er wurde freigesprochen und am11. September aus der Haft entlassen.ý Der Gewerkschafter und Präsident derLADDH in Laghouat, Yacine Zaıd, wurde imOktober 2012 von der Polizei festgenommenund geschlagen. Er erhielt eine sechsmona-tige Freiheitsstrafe auf Bewährung sowie eineGeldbuße wegen »Gewaltanwendung gegeneinen Staatsbeamten«. Das Gericht ignorierteseinen Vorwurf, die Polizei habe ihn tätlich an-gegriffen, obwohl hierfür medizinische Beweisevorlagen.ý Yacine Zaıd und drei weitere Menschen-rechtsverteidiger nahmen im April 2012 aneinem Sitzstreik außerhalb des Gerichtsgebäu-des teil, in dem Abdelkader Kherba der Pro-zess gemacht wurde. Sie erhielten Anklagenwegen »Aufrufs zu einer unbewaffneten Zu-sammenkunft« – einem Straftatbestand, dermit bis zu einem Jahr Haft geahndet werdenkann. Am 25. September erklärte das zustän-dige Gericht, es könne keinen Prozess gegendie Angeklagten führen. Dennoch waren dieAnklagen Ende 2012 noch anhängig.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitBewaffnete Gruppierungen, allen voran Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM), verüb-ten eine Reihe von Anschlägen auf zumeist mi-litärische Einrichtungen. Regierungsberichtenzufolge kam es zur Tötung von Angehörigen be-waffneter Gruppierungen durch die Sicher-heitskräfte. Die näheren Umstände blieben imDunkeln, und es steht zu befürchten, dass essich bei einigen Vorfällen um außergerichtlicheHinrichtungen handeln könnte. Mindestensvier Zivilpersonen wurden durch Bomben oderden Schusswaffeneinsatz der Sicherheits-kräfte getötet. Die Sicherheits- und Informati-onsabteilung (Département de Renseigne-ment et de la Sécurité – DRS) führte im Rahmenihrer umfassenden Befugnisse Festnahmenund Inhaftierungen von Tatverdächtigen im Zu-sammenhang mit Terrorismus durch. Die Ver-dächtigen wurden häufig ohne Kontakt zur Au-ßenwelt in Haft gehalten, was Folter und ande-ren Misshandlungen Vorschub leistete.

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50 Algerien

ý Abdelhakim Chenoui und Malik Medjnounkamen im März bzw. im Mai 2012 frei. Sie wa-ren 2011 zu jeweils zwölf Jahren Freiheitsstrafeverurteilt worden. Den beiden Männern warder Mord an dem kabylischen Sänger LounèsMatoub zur Last gelegt worden. Bis zu ihremGerichtsverfahren im Jahr 2011 befanden sichdie beiden Männer von 1999 an ununterbro-chen in Haft. Abdelhakim Chenoui berichtete,er habe sein »Geständnis« unter Zwang abge-legt und später widerrufen. Malik Medjnounsagte aus, er sei 1999 während seiner Haft beider Sicherheitspolizei gefoltert worden.

Straflosigkeit fürMenschenrechtsverletzungen in derVergangenheitDie Behörden haben noch immer keine Schrittezur Untersuchung und Klärung des Schicksalsvon Tausenden Menschen eingeleitet, die wäh-rend des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren»verschwanden«. Die schweren Menschen-rechtsverletzungen in dieser Zeit sind nichtaufgeklärt worden und die Verantwortlichenstraffrei geblieben. Es fand weiterhin dieCharta für Frieden und Nationale Versöhnung(Gesetz 06–01) aus dem Jahr 2006 Anwen-dung. Sie garantiert den SicherheitskräftenStraffreiheit, öffentliche Kritik an ihrem Vorge-hen ist dagegen strafbar. Die Familien der »Ver-schwundenen« mussten allgemein gehalteneDokumente akzeptieren, die den Tod ihrer ver-schwundenen Angehörigen bestätigten, je-doch keine Angaben zu deren Schicksal ent-hielten. Dies war eine Voraussetzung dafür,dass die Familien Entschädigungszahlungenbeantragen konnten. Angehörige, die weiter-hin ihr Recht auf Wahrheit und Gerechtigkeiteinforderten, wurden schikaniert.ý Mohamed Smaın, der ehemalige Leiter derLADDH in Relizane, hatte sich für Wahrheitund Gerechtigkeit für die Familien der »Ver-schwundenen« eingesetzt. Im Juni 2012 er-hielt er eine Vorladung des Staatsanwalts in Re-lizane. Als er nicht zu dem Termin erschien,wurde er festgenommen. Die Vorladung standim Zusammenhang mit einer zweimonatigenFreiheitsstrafe und einer Geldbuße, die gegen

ihn verhängt worden waren. Er hatte Kritik anden Behörden geäußert, weil diese im Jahr2001 Leichen aus einem Massengrab in Reli-zane entfernt hatten. Sein Urteil war 2011 vomObersten Gerichtshof bestätigt worden. Im Juli2012 kam er aus gesundheitlichen Gründen imRahmen einer Präsidialamnestie frei.

FrauenrechteFrauen wurden nach wie vor sowohl vor demGesetz als auch im täglichen Leben diskrimi-niert. Dank eines Gesetzes aus dem Jahr 2011,das den Anteil der Frauen im Parlament erhö-hen soll, gewannen Frauen bei den nationalenWahlen im Mai 2012 ein Drittel der Sitze.

Im März forderte der UN-Ausschuss für dieBeseitigung der Diskriminierung der Frau(CEDAW-Ausschuss) die Regierung auf, das Fa-milienrecht zu reformieren. Frauen müsstenhinsichtlich Ehe sowie Scheidung, Sorgerechtfür die Kinder und Erbschaftsangelegenheitendie gleichen Rechte zuerkannt werden wieMännern. Der Ausschuss forderte die Regie-rung weiterhin dringend auf, alle Vorbehalte ge-gen das Internationale Übereinkommen zurBeseitigung jeder Form von Diskriminierung derFrau zurückzunehmen und das Zusatzproto-koll zu ratifizieren. Außerdem müssten Gesetzeerlassen werden, die Frauen gegen häuslicheund andere Gewalt schützen. Die Gleichstel-lung der Geschlechter im Bildungswesen undim Berufsleben müsse vorangetrieben werden.

TodesstrafeGerichte in Algerien verhängten 2012 mindes-tens 153 Todesurteile, viele davon in Abwesen-heit der Angeklagten und meist wegen Verge-hen im Zusammenhang mit Terrorismus. Esgab jedoch keine Hinrichtungen. Die Behördenhielten damit an einem De-facto-Moratoriumfür Hinrichtungen fest, das seit 1993 in Kraft ist.ý Acht Männer wurden am 25. Oktober 2012wegen Entführung und Mord zum Tode verur-teilt. Mindestens zwei der Angeklagten gabenan, während ihrer Untersuchungshaft im Jahr2011 gefoltert worden zu sein.

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Angola 51

Amnesty International: Berichteÿ Algérie: La suspension d’un avocat stagiaire et militant des

droits humains doit être immédiatement levée,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/MDE28/001/2012/fr

ÿ Activists targeted in Algeria, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE28/002/2012/en

AngolaAmtliche Bezeichnung: Republik AngolaStaats- und Regierungschef:

José Eduardo dos Santos

Auch im Berichtsjahr 2012 gingen Poli-zei und Sicherheitskräfte gegen fried-lich Demonstrierende mit exzessiver Ge-walt vor und zeichneten für willkürlicheFestnahmen sowie Inhaftierungen ver-antwortlich. Die Versammlungsfreiheitwar im ganzen Land eingeschränkt. Eswurde befürchtet, dass zwei MenschenOpfer des Verschwindenlassens gewor-den waren. Das Recht auf freie Mei-nungsäußerung war eingeschränkt, diePresse wurde zensiert. Es gingen Be-richte über Zwangsräumungen ein.

HintergrundIm April 2012 legte Angola der AfrikanischenKommission für Menschenrechte und Rechteder Völker seinen Bericht über die Menschen-rechtslage im Land vor.

Beim Verfassungsgericht wurde im April eineneue politische Partei mit dem Namen BreitesBündnis für die Rettung Angolas (ConvergênciaAmpla de Salvação de Angola – Coligação Elei-toral – CASA-CE) registriert. Das Bündnis trat zuden Parlamentswahlen am 31. August an. Eswaren die zweiten Wahlen seit 1992 und diedritten seit der Erlangung der Unabhängigkeitim Jahr 1975. Im Vorfeld der Wahlen gingen Be-richte über sporadische politisch motivierteGewalttaten von Mitgliedern der regierenden

Volksbewegung für die Befreiung Angolas(Movimento Popular de Libertação de Angola –MPLA) ein, die sich gegen die Nationale Unionfür die völlige Unabhängigkeit Angolas (UniãoNacional para a Independência Total de An-gola – UNITA), das Bündnis CASA-CE und ge-gen andere politische Parteien richteten. Die-sen Berichten zufolge war aber auch die UNITAfür vereinzelte gewaltsame Handlungen gegendie MPLA verantwortlich, die politisch motiviertwaren. Die MPLA gewann die Wahlen mit fast72% der Stimmen. Allerdings blieben fast 40%der Bevölkerung den Urnen fern. Obwohl imVorfeld der Wahlen zahlreiche Unregelmäßig-keiten festgestellt worden waren, beurteiltenWahlbeobachter die Wahlen als frei und fair. Dienationale Wahlbehörde wies die Einsprücheder UNITA, des Bündnisses CASA-CE und derPartei für gesellschaftliche Erneuerung (Par-tido Renovador Social – PRS) gegen die Wahler-gebnisse als unbegründet zurück.

Am 28. Oktober 2012 zensierte dem Verneh-men nach das Unternehmen Media Investe,dem die Wochenzeitung Semanário Angolensegehört, eine Ausgabe des Blattes, weil sie eineRede des Vorsitzenden der UNITA, Isaías Sama-kuva, über den Zustand der Nation enthielt, inder dieser sich kritisch über die Regierung äu-ßerte. Zwar wurden gedruckte Exemplare der

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52 Angola

Zeitung verbrannt, eine Online-Version wurdejedoch verbreitet.

Polizei und SicherheitskräfteBerichten zufolge ging die Polizei u. a. gegenfriedliche Demonstrierende mit exzessiver Ge-walt, willkürlichen Festnahmen sowie Inhaftie-rungen vor. Zudem soll die Polizei bei Inhaf-tierten exzessive Gewalt angewendet haben,was in mindestens einem Fall zum Tod desBetroffenen führte. Auch wurden Fälle mut-maßlicher außergerichtlicher Hinrichtungendurch die Polizei bekannt; darunter der Fall vonsieben jungen Männern, die im Verwaltungs-bezirk Cacuaco von Luanda mit Handschellengefesselt erschossen aufgefunden worden wa-ren. Über den Stand der Ermittlungen im Zu-sammenhang mit Fällen von Menschen-rechtsverletzungen, die von der Polizei in denvergangenen Jahren begangen worden seinsollen, gab es im Berichtsjahr keine weiteren öf-fentlich zugänglichen Informationen.ý Am 3. Oktober 2012 wurde Manuel »Laran-jinha« Francisco von Polizeibeamten festge-nommen. Berichten zufolge schlugen sie ihnwährend der Festnahme und brachten ihndann auf das Polizeirevier Nummer 17 der Poli-zeidivision von Cazenga, einem Stadtbezirkder Hauptstadt Luanda. Nach Angaben vonZeugen wurde er dort von Polizisten geschla-gen. Die Polizei sagte den Angehörigen von Ma-nuel Francisco am nächsten Tag, man habeihn an das Polizeikommando von Cazengaüberstellt. Die Familie konnte ihn dort nichtfinden. Wie es hieß, erhielt sie im Lauf des Ta-ges einen Anruf, in dem sie davon unterrichtetwurde, dass man Manuel Francisco tot imStadtbezirk Cacuaco gefunden habe und sichder Leichnam in der Leichenhalle eines Kran-kenhauses in Luanda befinde. Sein Körperwies Spuren von Gewaltanwendung auf; so warihm ein Fingernagel abgerissen worden, einZahn fehlte und ein Bein war gebrochen. DieAngehörigen reichten bei der Polizeidivisionvon Cazenga Beschwerde ein. Die Polizeibehör-den nahmen jedoch zu dem Vorwurf, dass Ma-nuel Francisco im Gewahrsam getötet wordensei, keine Stellung und machten auch keine

Angaben darüber, ob die Umstände, unter de-nen er zu Tode gekommen war, untersuchtwürden. Ende 2012 lagen keine weiteren Infor-mationen vor.

Rechte auf Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitAuch im Jahr 2012 war die Versammlungsfrei-heit in ganz Angola eingeschränkt. Vor allem inLuanda, Benguela und Cabinda kam es zu De-monstrationen gegen die Regierung. Sie hat-ten bereits im März 2011 begonnen und hielten2012 an. Wie schon 2011 unterließ es die Poli-zei nicht nur, Gewaltakte gegen friedlich De-monstrierende zu verhindern, sondern gingMeldungen zufolge selbst mit exzessiver Ge-walt, in einigen Fällen auch mit willkürlichenFestnahmen und Inhaftierungen, gegen De-monstrierende vor. Auch bei Streiks setzte diePolizei exzessive Gewalt ein, so u. a. bei einemStreik der Gewerkschaften der Mitarbeiter imGesundheitswesen in Cabinda (Sindicatos dosTrabalhadores de Saúde da Cabinda) sowiebei einer Demonstration von Kriegsveteranender FAPLA, dem ehemaligen bewaffneten Armder MPLA, in Luanda. Für die exzessive Gewalt-anwendung und die willkürlichen Festnahmenwährend der Proteste im Jahr 2011 wurde nie-mand zur Verantwortung gezogen.ý Im März 2012 verbreiteten staatliche Mediengegen regierungskritische Demonstrierendegerichtete Drohungen. Diese Drohungen wur-den von einer Einzelperson geäußert, die nacheigenen Angaben Sprecher einer anonymenGruppe war, deren Anhänger sich selbst alsVerteidiger des Friedens, der Sicherheit und derDemokratie in Angola bezeichneten. Im Jah-resverlauf mischten sich immer wieder Unbe-kannte unter friedliche Demonstrierende undgriffen sie an. Es wurde vermutet, dass die Un-bekannten mit der Polizei zusammenarbeite-ten. Am 22. Mai wurde im Bairro Nelito Soares,einem Stadtteil von Luanda, eine Gruppe vonMenschen, die eine Demonstration organisie-ren wollten, von Unbekannten attackiert. Imselben Monat identifizierten Organisatoren vonProtesten vier Personen, die mit der Polizei inVerbindung standen und nach Angaben der Or-

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Angola 53

ganisatoren an Angriffen auf friedliche De-monstrierende beteiligt waren. Ende des Be-richtsjahres war noch niemand für die imFernsehen ausgestrahlten Drohungen und An-griffe strafrechtlich belangt worden, obwohldie Polizei erklärt hatte, dass diese untersuchtwürden.ý In Cabinda setzte die Polizei Schlagstöckeund Wasserwerfer gegen Mitglieder der Ge-werkschaften der Mitarbeiter im Gesundheits-wesen ein, die vor einem Provinzkrankenhausvom 30. Januar bis zum 3. Februar 2012 alsStreikposten standen. Am 3. Februar riegeltedie Polizei die Zufahrtswege zum Krankenhausfür die Streikenden ab. Diese zogen am 4. Fe-bruar zu den Büros der Dachgewerkschaft. DiePolizei schlug die Streikenden und setzteeinen Wasserwerfer ein, um sie zu zerstreuen.Sie begründete ihr Vorgehen damit, dass dieMenge unrechtmäßig in der unmittelbaren Um-gebung eines Regierungsgebäudes protes-tiere. 17 Frauen und fünf Männer wurden fest-genommen, aber noch am selben Tag wiederauf freien Fuß gesetzt.

Das Recht auf Vereinigungsfreiheit war einge-schränkt.ý Am 15. September 2012 begann vor dem Re-gionalen Militärgericht in Luanda ein Prozessgegen 15 Angehörige der Präsidentengarde, dieinnerhalb der Militärabteilung des angolani-schen Präsidialamts der Zentralabteilung fürSchutz und Sicherheit zugeordnet waren. DenGardisten wurden »kollektive Forderungen« zurLast gelegt, weil sie am 11. September eineEingabe unterzeichnet hatten, in der sie einegerechtere Bezahlung forderten, das Bewer-bungsverfahren für Offiziere der unteren Rängekritisierten und eine bessere soziale Absiche-rung im Fall des Todes naher Angehöriger ver-langten. Der Prozess wurde Ende 2012 fortge-setzt.

Recht auf freie Meinungsäußerung –JournalistenDas Recht auf freie Meinungsäußerung warweiterhin eingeschränkt. Dies galt vor allemfür die Pressefreiheit. Es gab Versuche, das Er-scheinen von Zeitungen oder Artikeln zu ver-

hindern, die als mögliche Kritik an der Regie-rung betrachtet wurden. In dem von ArmandoChicoca und William Tonet betriebenen Rechts-mittelverfahren gab es keine neuen Entwick-lungen. Beide waren 2011 wegen Verleumdungverurteilt worden.ý Am 12. März 2012 drangen ungefähr 15 Be-amte der Behörde für strafrechtliche Ermitt-lungen (Direcção Nacional de Investigação Cri-minal – DNIC) in die Büros der Zeitung Folha-8ein und beschlagnahmten 20 Computer. DieBeschlagnahmung stand in Zusammenhangmit der Veröffentlichung einer satirischen Foto-montage des Staatspräsidenten, seines Stell-vertreters und des Leiters der Militärabteilungdes Präsidialamts. Im Juni verhörte die DNICsieben Mitarbeiter der Zeitung.

VerschwindenlassenIm Berichtsjahr gingen Meldungen ein, nachdenen mindestens zwei Menschen Opfer desVerschwindenlassens geworden sein könnten.ý António Alves Kamulingue verschwand am27. Mai 2012, Isaías Sebastião Cassule am29. Mai. Sie waren an der Organisation einer fürden 27. Mai geplanten Demonstration beteiligt,bei der Kriegsveteranen und ehemalige Präsi-dialgardisten die Zahlung ausstehender Pen-sionen und Gehälter forderten.

Recht auf Wohnen –ZwangsräumungenObwohl die Regierung versicherte, sie wollemehr Wohnraum bereitstellen, kam es nachwie vor zu Zwangsräumungen, allerdings nichtmehr im gleichen Ausmaß wie in den vergan-genen Jahren. Dennoch drohte auch 2012 Tau-senden die Vertreibung aus ihren Wohnungen.Tausende Familien, die gewaltsam aus ihrenWohnungen vertrieben worden waren, warte-ten noch immer auf Entschädigung. Im Juni2011 hatte die Regierung versprochen, dass inLuanda mehr als 450 Familien, deren Wohnun-gen im Zeitraum 2004–06 abgerissen wordenwaren, bis April 2012 eine neue Bleibe erhaltenwürden. Bis Jahresende hatte jedoch nichteine einzige Familie eine neue Wohnung be-kommen. Im September gab das Programm

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der Vereinten Nationen für menschliche Sied-lungen (UN-Habitat) bekannt, dass es die Un-terzeichnung eines Kooperationsabkommensmit Angola vorbereite, in dessen Rahmen ab2013 technische Berater für Wohnungsbau-maßnahmen in Luanda eingesetzt werden sol-len.

Gewaltlose politische Gefangene undmögliche gewaltlose politischeGefangeneZwei Mitglieder der politischen GruppierungComissão do Manifesto Jurídico Sociológicodo Protectorado da Lunda Tchokwe, die sich fürdie Autonomie des ehemaligen KönigreichsTchokwe einsetzt, wurden am 17. Januar 2012aus dem Gefängnis entlassen. Die beiden Frei-gelassenen, Mário Muamuene und DomingosCapenda, hatten ihre Haftstrafe zwar bereitsam 9. Oktober 2011 verbüßt, waren jedoch imGefängnis von Kakanda inhaftiert geblieben.

Obwohl die UN-Arbeitsgruppe für willkürlicheInhaftierungen im November 2011 die Freilas-sung der Mitglieder der Gruppierung geforderthatte, die im Zeitraum 2009–11 ins Gefängnisgesteckt worden waren, wurden fünf Mitgliederder Gruppierung – Sérgio Augusto, SebastiãoLumani, José Muteba, António Malendeca undDomingos Henrique Samujaia – nicht auffreien Fuß gesetzt. Im Berichtsjahr gingen er-neut Meldungen über Festnahmen von Mit-gliedern der Gruppierung ein.ý Am 12. Februar 2012 wurden Eugénio Ma-teus Sangoma Lopes und Alberto Mulozenofestgenommen und formell wegen Verbrechengegen die Staatssicherheit angeklagt. Wie eshieß, soll die Polizei in Lucapa die beiden Män-ner in ihren Wohnungen aufgesucht und sieangewiesen haben, auf das Polizeirevier zukommen, weil man mit ihnen über die Grup-pierung reden wolle. Laut den Gerichtsunterla-gen wurden sie im Juni wegen Rebellion zu18 Monaten Haft verurteilt.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten das Land

im April.ÿ Angola: Submission to the African Commission on Human

and Peoples’ Rights, 51st Ordinary Session, April 2012,http://www2.ohchr.org/english/bodies/hrc/docs/ngos/AI_An-gola_HRC105.pdf

ÿ Angola: Open letter to Presidential candidates, candidates tothe National Assembly and political party leaders – A hu-man rights agenda for political parties and candidates in thegeneral elections, 17 July 2012, http://www.amnesty.org/ar/library/asset/AFR12/002/2012/en/653621ca-f1a4-4b66-8208-585fef09278b/afr120022012en.pdf

ÄquatorialguineaAmtliche Bezeichnung: ÄquatorialguineaStaatsoberhaupt:

Teodoro Obiang Nguema MbasogoRegierungschef: Vicente Ehate Tomi (löste im Mai

Ignacio Milán Tang im Amt ab)

Im Februar trat die geänderte Verfassungin Kraft, die den Präsidenten mit mehrBefugnissen ausstattet. Es wurde eineÜbergangsregierung ernannt, die dieRegierungsgeschäfte bis zu den Wahlenim Jahr 2013 führen soll. Berichten zu-folge waren Soldaten für widerrechtlicheTötungen verantwortlich. Menschen-rechtsverteidiger, politisch engagierteMenschen und Kritiker der Regierungwurden schikaniert, willkürlich festge-nommen und inhaftiert. Einige der Fest-genommenen wurden gefoltert. Der Prä-sident begnadigte einen gewaltlosenpolitischen Gefangenen und mindestens20 weitere politische Gefangene. DasRecht auf freie Meinungsäußerung unddie Pressefreiheit waren nach wie voreingeschränkt.

HintergrundIm Februar 2012 trat die geänderte Verfassungin Kraft, die im November 2011 in einem Refe-rendum angenommen worden war. Wie in derVerfassung vorgesehen, wurde im Mai eineÜbergangsregierung ernannt, die bis zu den

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Wahlen im Frühjahr 2013 im Amt bleiben soll.Der Übergangsregierung gehören u. a. zwölfAngehörige der Familie von StaatspräsidentTeodoro Obiang Nguema an. Der Präsident er-nannte seinen ältesten Sohn Teodoro »Teodo-rín« Nguema Obiang Mangue zum zweiten Vi-zepräsidenten. Dieses Amt ist in der Verfas-sung allerdings nicht vorgesehen.

Im März 2012 beantragten Ermittlungsrichterin Frankreich im Zusammenhang mit Ermitt-lungen wegen der Veruntreuung öffentlicherGelder und Geldwäsche einen internationalenHaftbefehl gegen den Präsidentensohn. Im Au-gust beschlagnahmte die französische Polizeidessen Anwesen in Paris, weil es mit unter-schlagenen Geldern aus Äquatorialguinea er-worben worden sein soll. Im September for-derte die Regierung von Äquatorialguinea denInternationalen Gerichtshof in Den Haag dazuauf, Frankreich Ermittlungen gegen denStaatspräsidenten und seinen Sohn zu untersa-gen. Ferner seien der Haftbefehl gegen denPräsidentensohn aufzuheben und die be-schlagnahmten Besitztümer zurückzugeben.Im Oktober erließ das Ermittlungsgericht in derHauptstadt Malabo einen Haftbefehl gegenden Direktor der französischen Sektion derNGO Transparency International. Das Gerichtwarf ihm Beleidigung und Verleumdung sowie

die Erpressung des Staates Äquatorialguineaund unrechtmäßige Bereicherung vor.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger waren 2012 wegenihrer beruflichen Tätigkeit und ihrer gewaltlo-sen politischen Aktivitäten Repressalien ausge-setzt und wurden festgenommen.ý Der Menschenrechtsverteidiger und ArztWenceslao Mansogo Alo wurde am 9. Februarauf dem Festland im Polizeipräsidium von Bataohne Haftbefehl festgenommen. Der führendePolitiker der oppositionellen Sozialdemokrati-schen Partei (Convergencia para la Democra-cia Social – CPDS) war freiwillig im Polizeipräsi-dium erschienen, um im Zusammenhang mitdem Tod einer Frau während einer Operationam 1. Februar in seiner Privatklinik eine Aus-sage zu machen. Die Familie der Verstorbenenhatte ihn beschuldigt, den Körper der Frauverstümmelt zu haben. Demgegenüber bestä-tigten zwei Autopsieberichte, dass der Körperder Frau unversehrt geblieben und sie aneinem Herzanfall gestorben war. Der Gesund-heitsminister behauptete, der Herzanfall seidurch einen Narkosefehler ausgelöst worden.Trotz fehlender Beweise und ohne Anklageer-hebung ordnete der Ermittlungsrichter die In-haftierung von Wenceslao Mansogo an. Ver-schiedene Gerichte lehnten die von seinenAnwälten gegen die Festnahme und Inhaftie-rung eingelegten Rechtsmittel ab. WenceslaoMansogo wurde wegen beruflicher Fahrlässig-keit zu drei Jahren Haft und zur Zahlung vonSchmerzensgeld verurteilt. Im Juni kam erdurch einen Gnadenakt des Präsidenten wie-der frei. In einem vor dem Obersten Gerichtshofeingelegten Rechtsmittelverfahren gegen denSchuldspruch und das Urteil fand im Novem-ber eine Anhörung statt. Das Urteil stand zumJahresende jedoch noch aus.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenMutmaßliche Oppositionelle wurden 2012 will-kürlich festgenommen und inhaftiert, z. B. weilsie im August nicht an den Jubiläumsfeierlich-keiten zum Tag der Machtübernahme von Prä-

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sident Obiang teilgenommen hatten. Die meis-ten Festgenommenen wurden nach wenigenTagen oder Wochen ohne Anklageerhebungaus dem Gewahrsam entlassen. Einige vonihnen waren gefoltert oder auf andere Art miss-handelt worden.ý Florentino Manguire Eneme, ein früherer Ge-schäftspartner des ältesten Präsidentensohns»Teodorín« Nguema Obiang Mangue wurde am11. August nach einer telefonischen Vorla-dung auf dem Polizeipräsidium in Bata festge-nommen. Ihm wurde vorgeworfen, Unterlagenüber die Geschäfte von »Teodorín« Nguema anDritte weitergegeben zu haben. Er wurde nachzwei Tagen in das Polizeipräsidium der Haupt-stadt Malabo überstellt und dort bis zu seinerFreilassung am 23. August ohne Anklage in Ge-wahrsam gehalten.ý Am 17. Oktober nahm die Polizei in BataAgustín Esono Nsogo um elf Uhr nachts ohneHaftbefehl in seiner Wohnung fest. Er wurde imGefängnis Black Beach mindestens eine Wo-che ohne Möglichkeit des Kontakts mit der Au-ßenwelt festgehalten und dreimal gefoltert.Man wollte ihn allem Anschein nach zwingenzuzugeben, dass er an »einer Verschwörungzur Destabilisierung des Landes« beteiligt war.Die Inhaftierung von Agustín Esono Nsogowurde erst einen Monat nach seiner Festnahmerichterlich angeordnet. Dies stand im Wider-spruch zu geltendem Recht, nach dem einHaftbefehl spätestens nach 72 Stunden erlas-sen werden muss. Bis Jahresende war gegenihn noch keine Anklage erhoben worden.

Nach der Festnahme von Agustín EsonoNsogo wurden ungefähr zehn weitere Perso-nen, unter ihnen Verwandte und Freunde vonihm, festgenommen. Mindestens drei vonihnen wurden in das Gefängnis Black Beach inMalabo überstellt und dort zusammen mit Fa-bián Nsue, dem Anwalt von Agustín EsonoNsogo, am 30. Oktober ohne Anklage freige-lassen. Fabián Nsue war am 22. Oktober im Ge-fängnis Black Beach ohne Haftbefehl festge-nommen worden, als er einen Mandanten be-suchte, den man seinerseits eine Woche zuvorin Haft genommen hatte.

VerschwindenlassenAntonio Lebán, ein Angehöriger der Spezialein-heiten der Armee, wurde in Bata kurz nachdem 17. Oktober 2012 festgenommen. Seitdemhat man ihn weder gesehen noch etwas vonihm gehört. Seine Festnahme stand anschei-nend im Zusammenhang mit der Festnahmevon Agustín Esono Nsogo.

Außergerichtliche HinrichtungenBerichten zufolge begingen Soldaten und diePolizei außergerichtliche Hinrichtungen.ý Wie es hieß, wurde Blas Engó von einem Sol-daten außerhalb des Gefängnisses in Bata ausnächster Nähe erschossen, als er in der Nachtauf den 14. Mai mit 46 weiteren Gefangenenaus dem Gefängnis auszubrechen versuchte.ý Im Mai erschoss ein Angehöriger der Streit-kräfte den malischen Staatsangehörigen Ou-mar Koné, weil dieser sich geweigert hatte, aneiner routinemäßigen Straßensperre Beste-chungsgeld zu zahlen.

Recht auf freie Meinungsäußerung –JournalistenDie Presse wurde auch 2012 von staatlichenStellen kontrolliert; Kritik war nicht erlaubt.Mitte Oktober wurde im staatlichen Radio eineSendung während eines Interviews mit einerFrau unterbrochen, die 18 Familien vertrat, diein Bata Opfer rechtswidriger Zwangsräumun-gen geworden waren. Die Frau hatte den Vorsit-zenden des Obersten Gerichtshofs kritisiertund ihm vorgehalten, dass er in dieser Sacheaus persönlichen Gründen befangen sei. DieSendung wurde auf unbestimmte Zeit einge-stellt.

Gewaltlose politische GefangeneDer Präsident begnadigte im Juni 2012 einengewaltlosen politischen Gefangenen und min-destens 20 weitere Gefangene, die möglicher-weise aus politischen Gründen inhaftiert wor-den waren.

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Argentinien 57

ArgentinienAmtliche Bezeichnung: Argentinische RepublikStaats- und Regierungschefin:

Cristina Fernández de Kirchner

Obwohl der Oberste Gerichtshof Verge-waltigungsopfern das Recht auf einenlegalen Schwangerschaftsabbruch zu-sprach, sahen sich die Betroffenen wei-terhin mit Schwierigkeiten konfrontiert.Indigenen Bevölkerungsgruppen wur-den auch 2012 ihre Landrechte verwehrt.Die Gerichtsverfahren gegen die Verant-wortlichen für Menschenrechtsverletzun-gen während der Militärherrschaft(1976–83) wurden fortgesetzt.

HintergrundIm Oktober 2012 befasste sich der UN-Men-schenrechtsrat im Rahmen der UniversellenRegelmäßigen Überprüfung mit der Lage derMenschenrechte in Argentinien. Er sprachEmpfehlungen aus, die u. a. sexuelle und re-produktive Rechte, die Rechte indigener Be-völkerungsgruppen, den Schutz vor Folter unddie Rechte von Migranten betrafen.

Eine Untersuchung von Verbrechen gegen dieMenschlichkeit, die während des Spanischen

Bürgerkriegs und des anschließenden Franco-Regimes in Spanien (1936–77) verübt wur-den, dauerte an.

Im Mai 2012 wurde ein Gesetz verabschiedet,wonach jede Person ihren Namen und ihreGeschlechtszugehörigkeit in offiziellen Doku-menten künftig ändern kann, ohne hierfür me-dizinische oder juristische Gutachten zu benö-tigen. Das Gesetz bedeutete einen großenFortschritt bezüglich der Rechte von Transsexu-ellen.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenDer UN-Sonderberichterstatter für die Rechteder indigenen Völker äußerte in einem im Juli2012 veröffentlichten Bericht die Sorge, dassdie Rechte indigener Bevölkerungsgruppenauf Land und natürliche Ressourcen nicht aus-reichend geschützt würden. Er bemängeltevor allem, dass das Notstandsgesetz 26160nicht eingehalten werde, das vorschreibt, dieVertreibung indigener Gemeinschaften so langeauszusetzen, bis die landesweite Registrierungindigener Territorien abgeschlossen ist.

Ende 2012 lag dem Parlament ein Gesetzent-wurf zur Reform des Bürgerlichen Gesetz-buchs vor, der auch die Rechte indigener Be-völkerungsgruppen auf ihr traditionelles Landbetraf. Indigene Gruppen kritisierten, dass sienicht in die Diskussion über die Reform einbe-zogen wurden.ý Die Landansprüche der indigenen Gemein-schaft der Toba (Qom) aus La Primavera in derProvinz Formosa waren im März 2012 Gegen-stand einer öffentlichen Anhörung vor demObersten Gerichtshof. Im November ließ einBundesgericht die Anklagen gegen Félix Díazund Amanda Asikak wegen einer Straßenblo-ckade im Jahr 2010 fallen. Zur Begründunghieß es, die Straßenblockade sei für sie die ein-zige Möglichkeit gewesen, ihren Protest zumAusdruck zu bringen. Félix Díaz und seine Fa-milie waren weiterhin Drohungen und Ein-schüchterungen ausgesetzt. Im August wurdeFélix Díaz bei einer Motorradfahrt von einemLastwagen angefahren. Augenzeugen berichte-ten, es habe sich um einen Lastwagen der Fa-

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58 Argentinien

milie gehandelt, die das Land besitzt, das dieGemeinschaft der Toba (Qom) als ihr tradi-tionell angestammtes Land beansprucht. DerFahrer des Lastwagens flüchtete; bis Ende2012 war der Unfall noch nicht untersucht wor-den.

FrauenrechteIm März 2012 entschied der Oberste Gerichts-hof, dass Vergewaltigungsopfern eine medizi-nisch sichere Abtreibung ohne gerichtliche Ge-nehmigung gewährt werden müsse. Die Um-setzung dieses Urteils war jedoch in Teilen desLandes unzureichend. Im Anschluss an dieEntscheidung des Obersten Gerichtshof verab-schiedete das Stadtparlament von Buenos Ai-res ein Gesetz, wonach Schwangerschaftsab-brüche ohne richterliche Genehmigung legalsind, wenn die Frau vergewaltigt wurde odereine Austragung des Kindes ihr Leben gefähr-den würde. Der Bürgermeister der Stadt legtejedoch ein Veto gegen das Gesetz ein, wasdazu führte, dass in Buenos Aires weiterhin diefrüheren Regelungen Gültigkeit besaßen, dienicht dem Urteil des Obersten Gerichtshofs ent-sprachen.ý Im Oktober 2012 untersagte ein Gericht inBuenos Aires einer 32-jährigen Frau, die Opfervon Menschenhandel und Vergewaltigung ge-worden war, einen Schwangerschaftsabbruch.Das Urteil wurde in der Öffentlichkeit heftig kri-tisiert. Nachdem der Oberste Gerichtshof dieEntscheidung aufgehoben hatte, konnte die be-troffene Frau den Schwangerschaftsabbruchschließlich vornehmen lassen.

Das 2009 verabschiedete Gesetz zur Vorbeu-gung und Bestrafung von Gewalt gegenFrauen wurde nur unzureichend umgesetzt. Sowurden u. a. nicht genügend aussagekräftigeDaten in diesem Bereich erhoben.

Es wurde ein Gesetz verabschiedet, wonachgeschlechtsspezifische Motive bei Tötungsde-likten als erschwerender Umstand zu bewertensind.

StraflosigkeitIn den Gerichtsverfahren gegen die Verantwort-lichen für schwere Menschenrechtsverletzun-

gen während der Militärherrschaft waren 2012weitere Fortschritte zu verzeichnen.ý Im Juni erging ein Urteil wegen Verbrechen inden geheimen Haftzentren des Ersten Heeres-korps (Primer Cuerpo del Ejército) Atlético,Banco und Olimpo. Der ehemalige Armeean-gehörige Alfredo Omar Feito und der ehemaligeBundespolizist Pedro Santiago Godoy wurdenwegen Folter und Freiheitsberaubung von 181Personen für schuldig befunden. AlfredoOmar Feito wurde zu 18 Jahren Haft verurteilt;Pedro Santiago Godoy erhielt eine Freiheits-strafe von 25 Jahren.ý Die ehemaligen argentinischen Staatspräsi-denten Jorge Rafael Videla und Reynaldo Bi-gnone wurden im Juli wegen systematischenKindesraubs schuldig gesprochen. Jorge Ra-fael Videla wurde zu 50 Jahren Haft verurteilt;Reynaldo Bignone erhielt eine 15-jährige Ge-fängnisstrafe.ý Im Oktober wurden drei frühere Marineoffi-ziere im Zusammenhang mit dem »Massakervon Trelew« zu lebenslanger Haft verurteilt.1972 waren in der Marinebasis Trelew 16 poli-tische Gefangene hingerichtet worden, die zu-vor einen Fluchtversuch aus einem Gefängnisin der Provinz Chubut unternommen hatten.

Folter und andere MisshandlungenIm November 2012 wurde die Einrichtung einesNationalen Präventionsmechanismus zumSchutz vor Folter gebilligt.

Im Juli tauchte im Internet ein Video auf, indem zu sehen war, wie mindestens fünf Poli-zisten zwei Inhaftierte auf der Polizeiwache Ge-neral Güemes in der Provinz Salta folterten.Der Film, der 2011 aufgenommen worden seinsoll, zeigt, wie die Gefangenen verprügelt undmit Tüten beinahe erstickt wurden. Die Unter-suchung der Folterungen war Ende 2012 nochanhängig.

Amnesty International: Berichtÿ Argentina: Amnesty International submission to the UN

Universal Periodic Review: 14th session of the UPR workinggroup, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR13/003/2012/en

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Armenien 59

ArmenienAmtliche Bezeichnung: Republik ArmenienStaatsoberhaupt: Serge SarkisjanRegierungschef: Tigran Sarkisjan

Die Öffentlichkeit reagierte feindseligauf Themen, die als unpatriotisch gal-ten. Laut einem Bericht kamen die Haft-bedingungen unmenschlicher Behand-lung gleich.

HintergrundBei den Parlamentswahlen am 6. Mai 2012wurde die Republikanische Partei von Präsi-dent Serge Sarkisjan stärkste Kraft. Zwar blie-ben die Rechte auf freie Meinungsäußerung,Versammlungsfreiheit und Freizügigkeit rundum die Wahlen weitgehend uneingeschränkt,doch berichteten Wahlbeobachter, es habemassive Stimmenkäufe gegeben und aufWähler sei Druck ausgeübt worden.

Recht auf freie MeinungsäußerungDas Recht auf freie Meinungsäußerung war2012 weitgehend uneingeschränkt. Dochmussten Personen, deren Äußerungen als un-patriotisch oder anti-nationalistisch wahrge-nommen wurden, mit feindseligen und teil-weise gewalttätigen Reaktionen der Öffentlich-keit rechnen. In einigen Fällen schien es, alswürden Polizei und lokale Behörden diese An-griffe insgeheim unterstützen. Zudem versäum-ten sie es, die Vorfälle gründlich zu untersu-chen und die Taten öffentlich und entschiedenzu verurteilen.

ý Engagierte Bürger, die ein Festival des aser-baidschanischen Films in Armenien veranstal-ten wollten, wurden tätlich angegriffen undmussten das Festival zweimal abbrechen. Am12. April 2012 blockierten Dutzende Protestie-rende den Veranstaltungsort des Filmfestivalsin Gyumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens.Der Organisator des Festivals und Vorsitzendeder armenischen NGO Caucasus Center ofPeace-Making Initiatives, Giorgi Vanyan,wurde tätlich angegriffen und gezwungen, dasFestival öffentlich abzusagen. Festivalmitar-beiter berichteten, lokale Behörden hätten sieschikaniert und psychologischen Druck aus-geübt, um sie von der Durchführung der Veran-staltung abzubringen.

Am 16. April sorgte der erneute Versuch, dasFilmfestival in den Räumen der armenischenNGO Helsinki Citizens Assembly (HCA) in derStadt Vanadzor zu veranstalten, ebenfalls füröffentliche Proteste und Gewalt. Etwa 200 Per-sonen, darunter Studierende, Mitglieder politi-scher Parteien und Veteranen des Bergkara-bach-Kriegs, versammelten sich vor demHCA-Büro. Sie drangen gewaltsam in das Ge-bäude ein, zerstörten mutwillig die Büroein-richtung, warfen mit Eiern und Steinen und ver-letzten einen Mitarbeiter. Polizeibeamte, dievor Ort waren, unternahmen nichts, um dieSicherheit der Mitarbeiter zu gewährleistenoder die Gewalt zu stoppen. Obwohl die Men-schenrechtsorganisation mehrfach um weiterePolizeikräfte bat, trafen diese erst nach demÜberfall ein. Nach einer Untersuchung desVorfalls wurde gegen eine Frau eine Geldstrafeverhängt, weil sie einen Stein gegen das Ge-bäude geworfen hatte. Es wurden jedoch keinegründlichen und unparteiischen Ermittlungeneingeleitet. Vonseiten der Behörden wurde dieGewalt außerdem nicht klar verurteilt.ý Am 8. Mai 2012 wurde eine schwulenfreund-liche Bar in der Hauptstadt Eriwan angegrif-fen. Eine Sicherheitskamera machte Aufnah-men von zwei Personen, die Molotow-Cock-tails durch die Fenster warfen. Berichten zu-folge traf die Polizei erst zwölf Stunden späterein, um den Angriff zu untersuchen. Im Zugeder Ermittlungen wurden zwei junge Männer

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60 Aserbaidschan

festgenommen. Sie kamen jedoch kurz daraufgegen Zahlung einer Kaution frei, die zwei Par-lamentsabgeordnete der nationalistischenPartei Armenische Revolutionäre Föderationfür sie bezahlten. Die Parlamentarier billigtenden Angriff und sagten, er stehe im Einklangmit »der gesellschaftlichen und nationalenIdeologie«. Der Sprecher der regierenden Re-publikanischen Partei und stellvertretendeParlamentspräsident, Eduard Sharmazanov,wurde in der lokalen Presse mit Äußerungenzitiert, die den gewaltsamen Angriff rechtfer-tigten.

Folter und andere MisshandlungenAm 3. Oktober 2012 veröffentlichte der Europäi-sche Ausschuss zur Verhütung von Folter undunmenschlicher oder erniedrigender Behand-lung oder Strafe einen Bericht über seinen Be-such in Armenien im Dezember 2011. Darinhieß es, das Land habe »praktisch keine derEmpfehlungen, die nach früheren Besuchen inBezug auf Gefangene mit lebenslangen Haft-strafen gegeben wurden, umgesetzt«. DerBericht befand außerdem, dass das Kentron-Gefängnis in Eriwan aufgrund seiner unzumut-baren Bedingungen für längere Gefängnisstra-fen ungeeignet sei. Nach Auffassung des Aus-schusses kamen die Haftbedingungen fürGefangene mit lebenslangen Haftstrafen inKentron unmenschlicher Behandlung gleich.

KriegsdienstverweigererEnde 2012 verbüßten mehr als 30 Männer Haft-strafen, weil sie sich aus Gewissensgründengeweigert hatten, Militärdienst zu leisten. Deralternativ angebotene Zivildienst stand nachwie vor unter der Kontrolle des Militärs. Am27. November entschied der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte im Fall Khacha-tryan und andere gegen Armenien, das Landhabe die Rechte von 17 Zeugen Jehovas aufFreiheit, Sicherheit sowie auf Entschädigungaufgrund rechtswidriger Inhaftierung verletzt.Es war das vierte Urteil des Gerichtshofs gegenArmenien zur Kriegsdienstverweigerung ausGewissensgründen. Die Zeugen Jehovas wa-ren angeklagt und inhaftiert worden, weil sie

den Zivildienst beendet hatten, nachdemihnen klar wurde, dass sie unter der Kontrolledes Militärs standen.

Amnesty International: Mission und Berichtþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte Arme-

nien im Juni.ÿ Armenian authorities must protect free speech and ensure

safety for Azerbaijani film festival organizers,http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR54/001/2012/en

AserbaidschanAmtliche Bezeichnung: Republik AserbaidschanStaatsoberhaupt: Ilham AlijewRegierungschef: Artur Rasizade

Die Regierung ging 2012 weiterhin mitEinschüchterungen und Inhaftierungengegen regierungskritische Personen undGruppen vor. Friedliche Demonstratio-nen im Zentrum der Hauptstadt Bakuwurden verboten und von der Polizei ge-waltsam aufgelöst. Es gab zahlreiche Be-richte über Folter, insbesondere in Poli-zeigewahrsam.

Gewaltlose politische GefangeneAm 26. Dezember 2012 wurden vier gewaltlosepolitische Gefangene nach einer Begnadigungdurch den Präsidenten freigelassen: Die beidenAktivisten Vivadi Isgandarov und Shahin Ha-sanli waren im Zusammenhang mit Demonstra-

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Aserbaidschan 61

tionen im Jahr 2011 festgenommen worden.Taleh Khasmammadov und Anar Bayramli wa-ren 2012 aufgrund konstruierter Anklage-punkte für schuldig befunden worden. DerMenschenrechtler Taleh Khasmammadovhatte eine vierjährige Gefängnisstrafe erhalten,weil er Polizeibeamte auf einer Polizeiwachetätlich angegriffen haben soll. Er hatte kurz zu-vor in mehreren Presseartikeln eine mutmaßli-che Beteiligung der örtlichen Polizei am organi-sierten Verbrechen angedeutet. Der JournalistAnar Bayramli, der für den auf Aserbaidscha-nisch ausgestrahlten iranischen Fernsehsen-der Sahar arbeitete, war am 17. Februar 2012wegen angeblichen Drogenbesitzes festge-nommen worden. Unmittelbar vor seiner Fest-nahme hatten sich die Beziehungen zwischenAserbaidschan und dem Iran verschlechtert.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Regierung reagierte auf die Arbeit von Men-schenrechtsverteidigern und Journalisten2012 mit Drohungen, Schikanen und Festnah-men. Die Behörden nutzten Inhaftierungenund konstruierte Anklagen, um Aktivitäten undDemonstrationen aus Anlass des EurovisionSong Contest in Baku im Mai 2012 zu unterbin-den.ý Am 7. März erhielt Khadija Ismayilova, einebekannte investigative Journalistin des Sen-ders Radio Free Europe, einen Drohbrief mit in-timen Fotos von sich. Zuvor war in ihre Woh-nung eingebrochen und eine versteckte Ka-mera installiert worden. In dem Brief wurde ihrgedroht, man werde sie öffentlich »bloßstellen«,falls sie ihre Arbeit nicht einstellen würde.Nachdem Khadija Ismayilova den Erpressungs-versuch öffentlich gemacht hatte, wurde imInternet ein Video veröffentlicht, das sie in einerintimen Situation zeigte.ý Am 8. April wurde der Menschenrechtsvertei-diger Ogtay Gulaliyev, der für die Umweltorga-nisation Kur Civil Society Organization arbeitet,wegen »Rowdytums« und »Anstiftung zur Ge-walt« festgenommen. Er wurde am 13. Juni ge-gen Kaution freigelassen. Die Anklagepunkte,die mit drei Jahren Gefängnis geahndet werdenkönnen, wurden jedoch aufrechterhalten.

Ende 2012 hatte der Prozess noch nicht begon-nen. Am 8. Juni wurde ein weiterer Mitarbeiterder NGO, Ilham Amiraslanov, wegen illegalenBesitzes von Waffen und Munition festgenom-men. Er beteuerte mehrfach, diese seien ihmuntergeschoben worden. Ilham Amiraslanovwurde am 12. September nach einem unfairenVerfahren zu zwei Jahren Haft verurteilt. So-wohl Ogtay Gulaliyev als auch Ilham Amirasla-nov hatten sich für die Opfer einer Flutkata-strophe eingesetzt und deutliche Kritik an derUnterschlagung von Hilfsgeldern durch lokaleBehörden geübt. Ilham Amiraslanovs Fest-nahme erfolgte wenige Tage, nachdem er sichmit dem für Katastrophen zuständigen Ministergetroffen hatte, um über die Probleme derFlutopfer zu sprechen.ý Am 18. April wurden mehrere Journalistengewaltsam angegriffen, die versuchten, den il-legalen Abriss von Wohnhäusern am Stadtrandvon Baku zu filmen. Der Journalist Idrak Abba-sov wurde dabei von Polizisten und anderenStaatsbeamten bewusstlos geschlagen.ý Am 13. Juni wurden konstruierte Anklagengegen den Aktivisten Mehman Huseynov er-hoben, der sich für demokratische Reformeneinsetzt. Die Anklagen wegen Rowdytumsstanden offensichtlich in Zusammenhang mitseiner journalistischen Arbeit und Kampagnenim Vorfeld des Eurovision Song Contest. Er kamspäter aus der Untersuchungshaft frei, dochwurde weiter gegen ihn ermittelt.ý Am 21. Juni wurde Hilal Mamedov, Redak-teur der talischsprachigen Zeitung Tolyshisado (Talische Stimme) aufgrund konstruierterDrogenvorwürfe festgenommen. Einen Tagspäter ordnete ein Gericht in Baku drei MonateUntersuchungshaft gegen ihn an. Am 3. Juliwurden weitere Anklagen wegen Hochverratsund Anstiftung zu religiösem und nationalemHass gegen ihn erhoben. Ende 2012 hatte derProzess noch nicht begonnen.ý Am 29. September wurde Zaur Gurbanli, dersich für demokratische Reformen einsetzt undVorsitzender der oppositionellen Jugendbewe-gung Nida ist, für 15 Tage inhaftiert. Er hattezuvor in einem Artikel der Regierung Vettern-wirtschaft vorgeworfen und ein Gedicht der

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Tochter von Präsident Ilham Alijew kritisiert, daszur Pflichtlektüre in den Schulen zählt.

Recht auf VereinigungsfreiheitNGOs, die sich für demokratische Reformenund Menschenrechte einsetzten, sahen sich2012 wachsendem Druck und Schikanen aus-gesetzt. Sie hatten Schwierigkeiten, Treffenabzuhalten und ihre Tätigkeiten frei auszu-üben, insbesondere außerhalb von Baku.ý Am 7. Februar 2012 erhielten die Organisa-tion Democracy and NGOs Development Re-source Center, die in der autonomen RepublikNachitschewan ansässig ist, und das Institutfür die Freiheit und Sicherheit von Reporterneinen Brief des Außenministeriums. Darinwurden sie davor gewarnt, auf ihren Internetsei-ten Nakhchivan Human Rights und Mass Me-dia Monitoring »aufrührerische Informationenzu verbreiten«.ý Aftandil Mammadov, der in Guba eine Zweig-stelle des Zentrums für Wahlbeobachtung undDemokratiestudien leitet, gab an, er sei am27. Juli und am 27. August 2012 auf das ört-liche Polizeirevier einbestellt worden. Dorthabe man ihn davor gewarnt, irgendetwasohne Wissen und Erlaubnis der örtlichen Polizeizu organisieren. Er hatte bereits zuvor berich-tet, von der Polizei verfolgt und an der Abhal-tung von Gruppentreffen gehindert worden zusein.ý Das Haus der Menschenrechte in Baku bliebgeschlossen. Die Behörden hatten die Nieder-lassung einer internationalen NGO am 7. März2011 zwangsweise geschlossen, weil sie an-geblich nicht die Anforderungen für eine Regis-trierung erfüllte.

Recht auf VersammlungsfreiheitDemonstrationen waren im Zentrum von Baku2012 weiterhin verboten. Im November wurdedas Strafgesetzbuch geändert und die Strafe fürdie Organisation von »ungenehmigten« oder»verbotenen« Demonstrationen sowie die Teil-nahme daran erhöht. Bei Zuwiderhandlungdrohen jetzt bis zu drei Jahre Gefängnis undeine Geldstrafe in Höhe von umgerechnetrund 7500 Euro.

Die Polizei ging regelmäßig mit exzessiver Ge-walt gegen friedliche Versammlungen vor undlöste sie auf. Personen, die versuchten, anfriedlichen Kundgebungen teilzunehmen, wa-ren Schikanen, Prügeln und Festnahmen aus-gesetzt.ý Im März und April 2012 beendete die Polizeiunter Einsatz von Gewalt mehrere friedlicheProtestkundgebungen von Jugendgruppen undoppositionellen Aktivisten in Baku. Die De-monstrierenden wurden geschlagen und in-haftiert. Die Jugendgruppen hatten vergeb-lich versucht, eine Genehmigung für eine fried-liche Kundgebung an einem Ort zu bekom-men, an dem Demonstrationen offiziell zulässigwaren.ý Am 20. Oktober 2012 löste die Polizei in Bakueine friedliche Kundgebung von etwa 200 De-monstrierenden auf. Sie hatten die Auflösungdes Parlaments gefordert, nachdem ein Videoim Internet das Ausmaß der politischen Korrup-tion und Bestechung im Parlament deutlichgemacht hatte. Mehr als 100 Personen wurdenbei der Demonstration festgenommen, und 13führende Aktivisten erhielten Haftstrafen vonsieben bis zehn Tagen. Ihnen wurde vorgewor-fen, sich »polizeilichen Anweisungen wider-setzt« zu haben und an »illegalen Protesten«beteiligt gewesen zu sein.ý Am 17. November 2012 wurde der ehemaligegewaltlose politische Gefangene Dayanat Ba-bayev wegen Beteiligung an einer Demonstra-tion im Zentrum von Baku festgenommen. Aufder Demonstration waren der Rücktritt des Prä-sidenten und die Auflösung des Parlamentsgefordert worden. Dayanat Babayev wurde zusieben Tagen Verwaltungshaft verurteilt, weiler angeblich polizeilichen Anweisungen nichtFolge geleistet hatte. Nach Ablauf der Haftzeitam 24. November wurden neue Anklagen we-gen Rowdytums gegen ihn erhoben, und erwurde als Verdächtiger in einem Kriminalfallaufs Neue inhaftiert. Am 26. November ließihn das Bezirksgericht von Nasimi frei, die An-klagen wurden jedoch aufrechterhalten.

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Äthiopien 63

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen waren 2012weiterhin an der Tagesordnung, und esherrschte weitgehende Straflosigkeit.ý Die Aktivisten Jamal Ali und Natig Kamilovgaben an, am 17. März in Polizeigewahrsamund später in der Haft geschlagen und ander-weitig misshandelt worden zu sein.ý Am 6. März wurden die Aktivisten Jabbar Sa-valan, Dayanat Babayev, Majid Marjanli undAbulfaz Gurbanly eigenen Angaben zufolge inPolizeigewahrsam und später in der Haft ge-schlagen und anderweitig misshandelt, nach-dem die Polizei eine friedliche Demonstrationim Zentrum von Baku aufgelöst und 16 De-monstrierende festgenommen hatte.ý Der Redakteur der Zeitung Tolyshi sado, HilalMamedov, erhob den Vorwurf, man habe ihnnach seiner Festnahme am 21. Juni in Polizei-gewahrsam gefoltert. Fotos, die Verletzungenan seinen Füßen und Fußgelenken bewiesen,gingen an den Bezirksstaatsanwalt von Ni-zami. Es wurde daraufhin eine Untersuchungeingeleitet, deren Ergebnisse jedoch Ende2012 noch nicht vorlagen.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte

Aserbaidschan im Mai und im November.ÿ Azerbaijan: No more running scared,

http://195.234.175.160/en/library/info/EUR55/001/2012/enÿ Azerbaijan: Authorities determined to silence dissent to en-

sure successful Eurovision, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR55/008/2012/en

ÿ Azerbaijan: Human rights abuses placed under the e-spot-light, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR55/018/2012/en

ÄthiopienAmtliche Bezeichnung:

Demokratische Bundesrepublik ÄthiopienStaatsoberhaupt: Girma Wolde-GiorgisRegierungschef: Hailemariam Desalegn (folgte im

August Meles Zenawi im Amt)

Die Regierung unterdrückte das Rechtauf freie Meinungsäußerung, indem siedie Aktivitäten von unabhängigen Me-dien, Oppositionsparteien und Men-schenrechtsorganisationen stark ein-schränkte. Abweichende Meinungenwurden in keinem Bereich geduldet. DieBehörden inhaftierten tatsächliche undvermeintliche Gegner der Regierung.Friedliche Proteste wurden unterdrückt.Willkürliche Festnahmen und Inhaftie-rungen blieben an der Tagesordnung,und Folter und andere Misshandlungenwaren in Hafteinrichtungen weit ver-breitet. Es gingen sehr viele Berichteüber Zwangsräumungen im ganzenLand ein.

HintergrundIm August 2012 gaben die Behörden den Todvon Ministerpräsident Meles Zenawi bekannt,der Äthiopien 21 Jahre lang regiert hatte. Haile-mariam Desalegn wurde zu seinem Nachfol-ger ernannt. Außerdem wurden drei stellvertre-tende Ministerpräsidenten ins Amt berufen,damit alle ethnisch basierten Parteien in derRegierungskoalition repräsentiert waren.

Die Regierung bot ausländischen Investorenweiterhin große Landflächen zur Pacht an.Dies ging häufig mit dem Villagization-Pro-gramm einher, bei dem HunderttausendeMenschen umgesiedelt wurden. Die Aktivitätenwaren oft von zahlreichen Vorwürfen über großangelegte rechtswidrige Zwangsräumungen be-gleitet.

In mehreren Landesteilen, u. a. in den Regio-nen Somali, Oromia und Afar, fanden nach wievor Gefechte zwischen der äthiopischen Armeeund bewaffneten Gruppen statt.

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64 Äthiopien

Äthiopische Streitkräfte führten weiterhin Mili-täroperationen in Somalia durch. Es gab Be-richte über außergerichtliche Hinrichtungen,willkürliche Inhaftierungen sowie Folter undandere Misshandlungen durch die äthiopi-schen Truppen und Milizen, die mit der soma-lischen Regierung zusammenarbeiteten.

Im März 2012 fielen äthiopische Truppenzweimal in Eritrea ein und berichteten später,dass sie Lager angegriffen hätten, in denenäthiopische Rebellengruppen ausgebildetwürden (siehe Länderbericht Eritrea). Äthiopienbeschuldigte Eritrea, eine bewaffnete opposi-tionelle Gruppe zu unterstützen, die im Januareuropäische Touristen in der Region Afar an-gegriffen hatte.

Recht auf freie MeinungsäußerungMehrere Journalisten und Mitglieder der Oppo-sition wurden zu langen Gefängnisstrafen ver-urteilt. Man beschuldigte sie terroristischer Ver-gehen, weil sie zu Reformen aufgerufen, dieRegierung kritisiert oder Verbindungen zu fried-lichen Protestbewegungen unterhalten hatten.Bei dem Beweismaterial, das gegen sie verwen-det wurde, handelte es sich zum großen Teilum Beispiele der Ausübung ihrer Rechte auffreie Meinungsäußerung und Vereinigungs-freiheit.

Gerichtsverfahren waren von gravierendenUnregelmäßigkeiten gekennzeichnet, u. a.wurden Foltervorwürfe nicht untersucht, unddie Angeklagten hatten nur eingeschränktenoder gar keinen Zugang zu rechtlichem Bei-stand. Zudem ließen die Gerichte unter Zwangerpresste »Geständnisse« als Beweismittel zu.ý Im Januar 2012 wurden die JournalistenReyot Alemu, Woubshet Taye und Elias Kiflesowie der Vorsitzende der oppositionellen Ethio-pian National Democratic Party, Zerihun Ge-bre-Egziabher, und der ehemalige Unterstützerder Opposition, Hirut Kifle, terroristischer Ver-gehen für schuldig befunden.ý Im Juni erhielten der Journalist EskinderNega und der Oppositionsführer AndualemAragie und andere Dissidenten Gefängnisstra-fen zwischen acht Jahren und lebenslangerHaft aufgrund terroristischer Anklagen.ý Im Dezember 2012 wurden die Oppositions-führer Bekele Gerba und Olbana Lelisa wegen»Anstiftung zu Verbrechen gegen den Staat« zuacht bzw. 13 Jahren Gefängnis verurteilt.

Zwischen Juli und November 2012 wurden imganzen Land Hunderte Muslime bei einerReihe von Protestveranstaltungen gegen mut-maßliche Einschränkungen der Religionsfrei-heit durch die Regierung festgenommen. Vieleder Festgenommenen wurden zwar anschlie-ßend wieder freigelassen, doch zahlreiche an-dere befanden sich zum Jahresende weiter inHaft, unter ihnen auch Schlüsselfiguren derProtestbewegung. Die Regierung unternahmerhebliche Anstrengungen, um die Protestbe-wegung niederzuschlagen und eine Berichter-stattung über die Proteste zu verhindern.ý Im Oktober wurden 29 führende Persönlich-keiten der Protestbewegung auf Grundlagedes Antiterrorgesetzes angeklagt, darunter Mit-glieder eines von der muslimischen Gemeindeernannten Ausschusses, der Belange der Ge-meinde gegenüber der Regierung vertretensoll, sowie mindestens ein Journalist.ý Im Mai und im Oktober 2012 wurden eineKorrespondentin und ein Korrespondent derVoice of America vorübergehend inhaftiert undzu Interviews verhört, die sie mit Protestieren-den geführt hatten.

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Die wenigen verbliebenen unabhängigen Me-dien wurden noch stärker in ihrer Arbeit einge-schränkt.ý Im April 2012 verurteilte ein Gericht Temes-gen Desalegn, den Herausgeber der Wochen-zeitschrift Feteh, eines der letzten unabhängi-gen Printmedien, zu einer Geldstrafe wegen»einseitiger Berichterstattung« über das Ver-fahren gegen Eskinder Nega und andere. DieBerichterstattung wurde als Missachtung desGerichts angesehen. Feteh hatte Aussageneiniger Angeklagter veröffentlicht. Im Augustwurde Temesgen Desalegn wegen Artikeln, dieer geschrieben oder veröffentlicht hatte und dieals regierungskritisch eingestuft wurden oderzu friedlichen Protesten gegen die Repressionder Regierung aufriefen, angeklagt. Man ließihn nach wenigen Tagen in Haft wieder frei, unddie Anklagen wurden fallen gelassen.

Im Mai veröffentlichten die Behörden eine Di-rektive, die die Verlagshäuser aufforderte, In-halte aus ihren Publikationen zu streichen, dievon der Regierung als rechtswidrig betrachtetwerden könnten. Die übermäßig weit gefasstenVorgaben des Antiterrorgesetzes hatten zurFolge, dass rechtskonforme Inhalte leicht alsrechtswidrig eingestuft werden konnten.ý Im Juli beschlagnahmten staatliche Behör-den eine Ausgabe von Feteh, nachdem sieEinwände gegen eine Titelgeschichte über mus-limische Proteste und einen anderen Berichtgeäußert hatten, in dem über den Gesundheits-zustand des Ministerpräsidenten spekuliertwurde. Anschließend weigerte sich die staat-liche Druckerei Berhanena Selam, Feteh unddie Publikation der größten OppositionsparteiEinheit für Demokratie und Gerechtigkeit, Fi-note Netsanet, zu drucken. Im November gabdie Partei bekannt, dass die Regierung FinoteNetsanet verboten hatte.

Zahlreiche Nachrichten- sowie politische undMenschenrechts-Websites wurden gesperrt.

Im Juli verabschiedete das äthiopische Parla-ment die Telecom Fraud Offences Proclama-tion, ein Gesetz, das die Bereitstellung und Nut-zung verschiedener Internet- und Telekom-munikationstechnologien behindert.

MenschenrechtsverteidigerDas Gesetz über gemeinnützige Organisationenund Verbände und damit verbundene Vor-schriften schränkte die Tätigkeit von Men-schenrechtsverteidigern erheblich ein, insbe-sondere da es ihnen den Zugang zu dringendnotwendigen Geldern verweigerte.ý Im Oktober 2012 entschied der Oberste Ge-richtshof, dass die Guthaben der zwei führen-den Menschenrechtsorganisationen, des Äthio-pischen Rats für Menschenrechte (EthiopianHuman Rights Council) und der Vereinigungder Äthiopischen Rechtsanwältinnen (Ethio-pian Women Lawyers Association) in Höhe vonrund 1 Mio. US-Dollar weiterhin gesperrt blei-ben. Die Konten waren nach der Verabschie-dung des Gesetzes 2009 eingefroren worden.ý Im August 2012 untersagte die Behörde fürgemeinnützige Organisationen und Verbändedem Rat für Menschenrechte, der ältestenMenschenrechts-NGO Äthiopiens, landesweitdie Sammlung von Spenden.

Berichten zufolge begann die Behörde damit,eine gesetzliche Vorschrift umzusetzen, dieNGOs dazu verpflichtet, sich von einer zustän-digen Regierungsbehörde kontrollieren zu las-sen, und stellte damit die Unabhängigkeit derNGOs eklatant in Frage.

Folter und andere MisshandlungenGefangene wurden vielfach gefoltert oder in an-derer Weise misshandelt, insbesondere beiVerhören und in Untersuchungshaft. Üblicher-weise wurden die Gefangenen dabei mit Hän-den und Fäusten sowie Stöcken und anderenGegenständen geschlagen, ihnen wurdenHandschellen angelegt und man hängte sie ander Wand oder der Decke auf. Ferner wurdensie über lange Zeiträume mit Schlafentzug undEinzelhaft gequält. In einigen Fällen wurdeüber die Anwendung von Elektroschocks sowievorgetäuschtem Ertränken und dem Anbrin-gen von Gewichten an den Genitalien berichtet.Viele Gefangene zwang man zur Unterzeich-nung von Geständnissen. Zudem wurden Ge-fangene dazu genötigt, an anderen Gefange-nen Züchtigungsstrafen vorzunehmen.

Foltervorwürfe von Gefangenen wurden nicht

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untersucht, selbst dann nicht, wenn sie vorGericht vorgebracht wurden.

Die Haftbedingungen waren extrem schlecht.Nahrung und Wasser waren knapp und die sa-nitären Anlagen in sehr schlechtem Zustand.Die medizinische Versorgung war unzurei-chend und wurde den Gefangenen manchmalganz vorenthalten. Berichten zufolge kam esin Gewahrsam zu Todesfällen.ý Im Februar 2012 wurde der inhaftierte Oppo-sitionsführer Andualem Aragie von einem Mit-häftling verprügelt, der einige Tage zuvor inseine Zelle verlegt worden war. Später im Jahrwiderfuhr dem Oppositionsführer Olbana LelisaBerichten zufolge dieselbe Behandlung.ý Im September 2012 wurden zwei schwedi-sche Journalisten, die 2011 wegen terroristi-scher Aktivitäten zu elf Jahren Gefängnis verur-teilt worden waren, begnadigt. Nach ihrer Frei-lassung berichteten die beiden Männer, dassman sie gezwungen habe, sich selbst zu be-lasten, und dass sie einer Scheinhinrichtungausgesetzt worden seien, bevor sie Zugang zuihrer Botschaft bzw. einem Anwalt erhielten.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenDie Behörden nahmen Mitglieder von Opposi-tionsparteien und andere tatsächliche odervermeintliche politische Gegner fest. Willkürli-che Inhaftierungen waren weit verbreitet.

Nach Aussagen von Angehörigen »ver-schwanden« einige Menschen nach ihrerFestnahme. Die Behörden nahmen Familienvon Verdächtigen ins Visier, inhaftierten undverhörten sie. Es gab Berichte über inoffizielleHaftanstalten.ý Im Januar 2012 forderte die All EthiopianUnity Party die Freilassung von 112 Parteimit-gliedern, die, laut Angaben der Partei, im Ja-nuar im Verlauf einer Woche in der RegionSouthern Nations, Nationalities and Peoples(SNNP) festgenommen worden waren.

Hunderte Angehörige der Oromo wurden un-ter dem Vorwurf festgenommen, die Oromo-Befreiungsfront (Oromo Liberation Front – OLF)zu unterstützen.ý Im September 2012 wurden Berichten zu-

folge mehr als 100 Menschen während destraditionellen Irreechaa-Festes der Oromo fest-genommen.

Aus der Region Somali gingen Meldungenein, denen zufolge viele Zivilpersonen unterdem Vorwurf, die Ogaden-Befreiungsfront(Ogaden National Liberation Front – ONLF) zuunterstützen, festgenommen und willkürlich in-haftiert wurden.ý Die Behörden hielten den äthiopischen UN-Mitarbeiter Yusuf Mohammed, der Ende 2010festgenommenwordenwar,nachwie vor in Jijigawillkürlich in Haft. Dem Vernehmen nach solltedamit die Rückkehr seines im Exil lebenden Bru-ders erzwungen werden, dem vorgeworfenwurde, Verbindungen zur ONLF zu haben.

Zwischen Juni und August 2012 wurden zahl-reiche Angehörige der Sidama in der RegionSNNP festgenommen. Dies war Meldungen zu-folge eine Reaktion auf die anhaltenden Forde-rungen nach einem Regionalstaat für die Si-dama in Äthiopien. Während der Feierlichkei-ten zum sidamischen Neujahrsfest Fichee imAugust kam es zu etlichen Festnahmen. Vieleder Festgenommenen wurden kurzzeitig inhaf-tiert und dann wieder freigelassen. Doch eineReihe führender Repräsentanten der Gemein-schaft blieb in Haft und wurde wegen Verbre-chen gegen den Staat angeklagt.

Es gab Berichte über Menschen, die verhaftetwurden, weil sie an friedlichen Protesten teil-genommen und sich öffentlich gegen be-stimmte »Entwicklungsprojekte« ausgespro-chen hatten.

Exzessive GewaltanwendungDie Polizei wurde beschuldigt, im Jahr 2012 beimehreren Vorfällen im Rahmen der muslimi-schen Proteste mit exzessiver Gewalt reagiert zuhaben. Zwei Vorfälle im Juli in Addis Abebaendeten gewalttätig. Dabei soll die Polizei mitscharfer Munition geschossen und Protestie-rende in den Straßen und in Haft geschlagenhaben, wobei es viele Verletzte gab. Bei min-destens zwei weiteren Vorfällen im Zusammen-hang mit den Protesten in anderen Teilen desLandes schoss die Polizei ebenfalls mit scharferMunition und verletzte und tötete mehrere

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Menschen. Keiner dieser Vorfälle wurde unter-sucht.ý Im April erschoss die Polizei Berichten zu-folge mindestens vier Menschen in Asasa inder Region Oromia. Die Berichte der Zeugenund der Regierung widersprachen sich.ý Im Oktober schoss die Polizei auf Bewohnerder Stadt Gerba in der Region Amhara. Sie tö-tete dabei mindestens drei Menschen und ver-letzte weitere Personen. Die Behörden gabenan, dass die Gewalt zuerst von den Protestie-renden ausging. Die Protestierenden hingegenberichteten, die Polizei habe mit scharfer Muni-tion auf Unbewaffnete geschossen.

Die Sicherheitskräfte verübten mutmaßlichaußergerichtliche Hinrichtungen in den Regio-nen Gambela, Afar und Somali.

Konflikt in der Region SomaliIm September 2012 nahmen die Regierung unddie ONLF kurzeitig Friedensverhandlungenauf, um den seit zwei Jahrzehnten andauern-den Konflikt in der Region Somali zu beenden.Im Oktober kamen die Gespräche jedoch zumStillstand.

Der Armee und ihrer Stellvertreter-Miliz, derLiyu-Polizei, wurden wiederholt Menschen-rechtsverletzungen vorgeworfen, darunter will-kürliche Inhaftierungen, außergerichtlicheHinrichtungen und Vergewaltigungen. Es gabverbreitete Berichte über Folter und andereMisshandlungen von Häftlingen. Keiner dieserVorwürfe wurde untersucht, und der Zugangzu der Region war nach wie vor stark einge-schränkt.ý Im Juni 2012 wurde der UN-Mitarbeiter Abdi-rahman Sheikh Hassan wegen vermeintlicherVerbindungen zur ONLF terroristischer Straf-taten für schuldig befunden und zu siebenJahren und acht Monaten Gefängnis verurteilt.Er war im Juli 2011 festgenommen worden,nachdem er mit der ONLF über die Freilassungvon zwei Mitarbeitern des UN-Welternäh-rungsprogramms verhandelt hatte.

ZwangsräumungenMaßnahmen im Zuge der Villagization, einesProgramms, das die Umsiedlung von Hun-derttausenden Menschen umfasst, fanden inden Regionen Gambela, Benishangul-Gumuz,Somali, Afar und SNNP statt. Die Umsetzungdes Programms, das angeblich auf die Verbes-serung des Zugangs zu staatlichen Leistungenabzielt, sollte freiwillig sein. Berichten zufolgehandelte es sich bei vielen der Räumungen umrechtswidrige Zwangsräumungen.

Im Zusammenhang mit der Verpachtung rie-siger Gebiete an ausländische Investoren undStaudammprojekten gab es Berichte über Ver-treibungen der Bevölkerung in großem Stil,dabei soll es sich teilweise um rechtswidrigeZwangsräumungen gehandelt haben.

Der Bau von großen Staudämmen wurde fort-gesetzt. Er war begleitet von ernsthaften Be-denken wegen des Mangels an Konsultationen,der Vertreibung der lokalen Bevölkerung ohneangemessene Schutzmaßnahmen und der ne-gativen Auswirkungen auf die Umwelt.

AustralienAmtliche Bezeichnung: AustralienStaatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten

durch die Generalgouverneurin Quentin BryceRegierungschefin: Julia Gillard

Trotz der Einrichtung eines staatlichenMenschenrechtsausschusses, der alledem Parlament vorliegenden Gesetzent-würfe prüfen soll, wurden Gesetze ver-abschiedet, die die Rechte indigener Völ-ker im Northern Territory einschränken.Es wurde ein Verfahren wieder einge-führt, nach dem auf dem Seeweg ein-treffende Asylsuchende in Nauru oderPapua-Neuguinea interniert werden.

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HintergrundDie Regierung hatte angekündigt, das Zusatz-protokoll zum UN-Übereinkommen gegen Fol-ter im Januar 2011 zu ratifizieren, doch war diesbis Ende 2012 noch nicht geschehen. Im Märzwurde ein Parlamentsausschuss zur Überwa-chung der Menschenrechtslage eingerichtet,der alle neuen Gesetze prüfen und gewähr-leisten soll, dass sie eine Erklärung über ihreVereinbarkeit mit den Menschenrechten ent-halten.

Rechte indigener VölkerJugendliche aus Gemeinschaften der Aborigi-nes und der Torres-Strait-Insulaner waren inden Haftanstalten nach wie vor überrepräsen-tiert. Jugendliche indigener Abstammungmachten 59% aller inhaftierten Jugendlichenaus, während der Anteil der indigenen Ein-wohner an der Gesamtbevölkerung insgesamtnur 2% betrug. Australien stand dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindesweiterhin skeptisch gegenüber und ließ zu,dass Bundesstaaten und Territorien Kinder inHaftanstalten für Erwachsene unterbrachten.ý In Victoria wurde ein 16-jähriger Aboriginevon August bis November 2012 in einem Ge-fängnis für Erwachsene bis zu 22 Stunden amTag in Einzelhaft gehalten.ý Im April 2012 eröffnete die Polizei im StadtteilKings Cross in Sydney das Feuer auf ein ver-meintlich gestohlenes Fahrzeug, in dem ju-gendliche Aborigines saßen. Dabei erlittenzwei Aborigine-Jungen, von denen der eine

14 Jahre alt war, Schussverletzungen. Bis De-zember war zu diesem Vorfall noch kein Berichtder unabhängigen Ombudsstelle veröffentlichtworden.

Im Juni wurde das Stronger-Futures-Geset-zespaket, das die in der umstrittenen und dis-kriminierenden Northern Territory Intervention(eine Reihe von Gesetzen, die u. a. Verän-derungen bei den Sozialleistungen und denPolizeibehörden in indigenen Gemeinschafteneinschließen) enthaltenen Gesetze ausweitet,ohne echte Rücksprache oder Kontrolle durchden Gemischten Parlamentarischen Ausschussfür Menschenrechte (Parliamentary JointCommittee on Human Rights) verabschiedet.Das Gesetzespaket erlaubt weitreichende Ein-griffe in das Leben indigener Gemeinschaftenim Northern Territory.

Im September verschob die Regierung dasReferendum über die verfassungsgemäße An-erkennung der indigenen Einwohner Austra-liens.

Flüchtlinge und AsylsuchendeIm August 2012 wurde ein Gesetz verabschie-det, das die Unterbringung von Asylsuchen-den in Auffanglagern vor der australischenKüste wieder erlaubt. Im Oktober erhöhteAustralien seine jährliche Quote für die Auf-nahme von Flüchtlingen auf 20000.

Nach einem im November verabschiedetenneuen Gesetz sollen auf dem Seeweg eintref-fende Asylsuchende entweder vor der Küstedes Landes untergebracht werden oder inAustralien weniger Rechte besitzen. Asylsu-chende, die mit dem Flugzeug ins Land kom-men, wären diesen Einschränkungen nicht un-terworfen. Am 30. Oktober 2012 waren 7633Asylsuchende und Flüchtlinge in Australien in-terniert, unter ihnen 797 Kinder. Mehr als7000 dieser Asylsuchenden sollten außerhalbdes Landes untergebracht werden, währenddie Verfahren zur Feststellung ihres Flüchtlings-statuses noch nicht begonnen hatten. Im No-vember befanden sich 63 Flüchtlinge, die alsSicherheitsrisiko eingestuft wurden, auf unbe-stimmte Zeit in Haft, darunter ein Mädchen undfünf Jungen.

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Bahamas 69

ý Am 15. Dezember 2012 hatte Australien 385Asylsuchende – ausschließlich Männer – inNauru interniert sowie 47 Asylsuchende auf derzu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Ma-nus, darunter 16 Kinder.

BahamasAmtliche Bezeichnung:

Commonwealth der BahamasStaatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten

durch Generalgouverneur Sir Arthur AlexanderFoulkes

Regierungschef: Perry Gladstone Christie (löste imMai Hubert Alexander Ingraham im Amt ab)

Berichten zufolge tötete die Polizei 2012mindestens sechs Menschen unter un-geklärten Umständen. Haitianische Mi-granten waren weiterhin Diskriminie-rung und Abschiebung ausgesetzt. EinePerson befand sich weiterhin im Todes-trakt.

HintergrundIm August wurde eine Kommission zur Überar-beitung der Verfassung eingesetzt. Sie solltedabei Themen wie die Stärkung von Grund-rechten und Freiheiten sowie die Todesstrafebehandeln.

Die Lage der öffentlichen Sicherheit auf denBahamas gab weiterhin Anlass zu Besorgnis.Die Anzahl der Tötungsdelikte war nach wie vorhoch, obwohl bei den gemeldeten Fällen imVergleich zu 2011 ein Rückgang von 13% zuverzeichnen war. Im Jahr 2012 wurden 111Tötungsdelikte registriert.

TodesstrafeIm August 2012 rief die InteramerikanischeMenschenrechtskommission alle Staaten derRegion auf, »ein Hinrichtungsmoratorium alseinen Schritt hin zu einer graduellen Abschaf-

fung dieser Strafe zu erlassen«. Premierminis-ter Perry Gladstone Christie bekräftigte jedochseine Befürwortung der Todesstrafe und kün-digte an, dass er der Kommission eine Stel-lungnahme vorlegen werde.ý Mario Flower soll zum Jahresende der einzigeTodeskandidat gewesen sein. Er war 2010 we-gen der Ermordung eines Polizeibeamten zumTode verurteilt worden.

Polizei und SicherheitskräfteBerichten zufolge wurden mindestens sechsMenschen unter unklaren Umständen vonPolizisten getötet; mindestens ein Mann starbin Polizeigewahrsam. Es gab nach wie vor Mel-dungen über Misshandlungen und exzessiveGewaltanwendung durch die Polizei. Die Ver-urteilung eines Polizeibeamten wegen des imJahr 2007 in einer Gefängniszelle gestorbenenDesmond Key stellte einen der seltenen Fälledar, in denen ein Polizist wegen derartigerMisshandlungen zur Rechenschaft gezogenwurde.ý Am 5. Juli 2012 schoss die Polizei auf derInsel New Providence in Gegenwart mehrererZeugen ohne ersichtlichen Grund auf RenoRolle. Reno Rolle, der Lernschwierigkeiten ha-ben soll, erlitt schwere Verletzungen an Niereund Bauchspeicheldrüse.

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Flüchtlinge und MigrantenDie Bahamas kamen der Aufforderung der UN,alle unfreiwilligen Rückführungen haitiani-scher Staatsangehöriger zu unterlassen, nichtnach. Im Juni 2012 stellte der UnabhängigeExperte für die Menschenrechtssituation inHaiti fest: »Nach Haiti zurückgeführte Perso-nen sind der Gefahr von Menschenrechtsverlet-zungen, vor allem Verletzungen der Grund-rechte auf Leben, Gesundheit und Familie, aus-gesetzt.«

Es trafen weiterhin Berichte über Gewaltan-wendung bei der Festnahme von Migrantenohne regulären Aufenthaltsstatus ein.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellen (LGBTI)Die Diskriminierung von LGBTI-Personen gabnach wie vor Anlass zu Besorgnis. Die Regie-rung unternahm bisher nichts, um ein Rah-mengesetz zu erlassen, das LGBTI-Personenvor Diskriminierung schützt.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm Juli 2012 äußerte sich UN-Ausschuss für dieBeseitigung der Diskriminierung der Frau(CEDAW-Ausschuss) besorgt über die weit ver-breitete Gewalt, darunter Vergewaltigung undanhaltende häusliche Gewalt.

Amnesty International: Berichtÿ Bahamas: Legislative challenges obstruct human rights pro-

gress: Amnesty International submission to the UN Univer-sal Periodic Review, http://amnesty.org/en/library/info/AMR14/001/2012/en

BahrainAmtliche Bezeichnung: Königreich BahrainStaatsoberhaupt:

König Hamad bin 'Issa Al KhalifaRegierungschef:

Scheich Khalifa bin Salman Al Khalifa

Die Behörden gingen weiterhin mit großerHärte gegen Protestaktionen und Kritikan der Regierung vor. Auf der Grundlagevon Empfehlungen, die eine Kommis-sion im Rahmen einer 2011 durchgeführ-ten größeren Untersuchung von Men-schenrechtsverletzungen abgegebenhatte, leitete die Regierung 2012 einigeReformen ein. Sie unterließ es jedoch,die Verantwortlichen zur Rechenschaftzu ziehen, und kam damit der wichtigstenEmpfehlung der Kommission nichtnach. Zahlreiche Personen saßen nochimmer im Gefängnis oder wurden inhaf-tiert, weil sie Kritik an der Regierung ge-übt hatten. Darunter befanden sich vielegewaltlose politische Gefangene sowieMenschen, die nach unfairen Gerichts-verfahren verurteilt worden waren. Men-schenrechtsverteidiger und andere Akti-visten wurden schikaniert und inhaftiert.Die Sicherheitskräfte gingen nach wievor mit unverhältnismäßiger Gewalt ge-gen Protestierende vor – zum Teil mit To-

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desfolge. Häftlinge wurden Berichten zu-folge von der Polizei gefoltert und ander-weitig misshandelt. Nur gegen einige we-nige Angehörige der Sicherheitskräfteerging aufgrund der im Jahr 2011 began-genen Menschenrechtsverletzungen An-klage. Nach wie vor herrschte ein Klimader Straflosigkeit. Ein Todesurteil wurdeverhängt, es gab jedoch keine Hinrich-tungen.

Hintergrund2012 kam es zu weiteren Protesten gegen dieRegierung. Die Demonstrierenden warenüberwiegend Schiiten. Sie stellen die Mehrheitder Bevölkerung und fühlen sich von der herr-schenden sunnitischen Minderheit politischdiskriminiert. Es gab Berichte über Protestie-rende, die Molotow-Cocktails warfen und Stra-ßen blockierten. Die Sicherheitskräfte gingenbei der Auflösung einiger Protestaktionen mitunverhältnismäßiger Gewalt gegen die De-monstrierenden vor. Der politische Dialog zwi-schen der Regierung und der Oppositionmachte kaum Fortschritte.

Im November berichtete die Regierung, dass»zwei Asiaten« bei Bombenexplosionen in derHauptstadt Manama ums Leben gekommenseien. Ein dritter sei verletzt worden. EinigeTage später entzogen die Behörden 31 Perso-nen die bahrainische Staatsbürgerschaft, weilsie angeblich die Staatssicherheit gefährdethatten.

Die Regierung setzte eine Reihe von Refor-men in Kraft, die von der Unabhängigen Un-tersuchungskommission Bahrains (Bahrain In-dependent Commission of Inquiry – BICI) 2011empfohlen worden waren. Entlassungen vonBeschäftigten wurden zurückgenommen undein Prozess zur Reformierung der Polizei inGang gebracht. Im Oktober 2012 änderte dieRegierung einige Artikel des Strafgesetzbuchsund nahm eine neue Definition von Folter da-rin auf. Viele der wichtigsten Empfehlungen derKommission blieben jedoch unberücksichtigt.Der König von Bahrain hatte die BICI im Jahr2011 eingesetzt. Die Kommission sollte Men-schenrechtsverletzungen untersuchen, die von

Regierungskräften bei der Niederschlagungder Massenproteste in den ersten Monaten desJahres 2011 begangen worden waren. Vor al-lem versäumte es die Regierung, alle gewaltlo-sen politischen Gefangenen aus der Haft zuentlassen, Foltervorwürfen von Gefangenenmittels unabhängiger Untersuchungen nach-zugehen sowie all jene zur Verantwortung zuziehen, die sich Menschenrechtsverletzungenschuldig gemacht hatten. Trotzdem akzeptiertedie Regierung über 140 der im Rahmen derUniversellen Regelmäßigen Überprüfung durchden UN-Menschenrechtsrat unterbreitetenEmpfehlungen, darunter auch die Verpflich-tung, die Empfehlungen der BICI umzusetzen.Andere Empfehlungen, wie beispielsweise dieAbschaffung der Todesstrafe, wurden aller-dings zurückgewiesen.

Im März 2012 verschärfte die Regierung dieVisa-Bestimmungen für ausländische NGOsund verbot im Oktober alle öffentlichen Kund-gebungen und Zusammenkünfte. Dieses Ver-bot wurde im Dezember wieder aufgehoben. ImNovember hob das Ministerium für sozialeEntwicklung das Ergebnis der Vorstandswahlder Anwaltskammer von Bahrain auf undsetzte erneut den vorherigen Vorstand ein.

StraflosigkeitDie geringe Zahl von Anklagen gegen Angehö-rige der Polizei und der Sicherheitskräfte ver-glichen mit dem Ausmaß und der Schwere derim Jahr 2011 begangenen Menschenrechts-verletzungen unterstrich das anhaltende Klimader Straflosigkeit. Die Behörden ordnetenkeine unabhängigen Untersuchungen von Fol-tervorwürfen an. Nur einigen wenigen Sicher-heitskräften niedrigerer Dienstgrade und zweihochrangigen Beamten wurde der Prozess ge-macht. Ihnen wurde zur Last gelegt, 2011 Pro-testierende getötet oder gefoltert sowie Gefan-gene während ihrer Haft auf andere Weisemisshandelt zu haben. Drei Angeklagte wur-den schuldig gesprochen und zu sieben JahrenGefängnis verurteilt, mindestens einer vonihnen blieb aber für die Dauer seines Beru-fungsverfahrens auf freiem Fuß. Drei weitereAngeklagte wurden freigesprochen. Die Staats-

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anwaltschaft legte Rechtsmittel gegen das Ur-teil ein.ý Im September 2012 sprach ein Gericht zweiAngehörige der Sicherheitskräfte vom Vorwurffrei, am 17. Februar 2011 auf dem Perlenplatz inManama zwei Demonstrierende getötet zu ha-ben. Die Aussagen der Sicherheitsbeamten wa-ren Berichten zufolge die einzigen Beweismit-tel, die dem Gericht vorgelegt worden waren.Die Angeklagten waren den Verhandlungenferngeblieben. Die Staatsanwaltschaft legte imOktober Berufung gegen das Urteil ein.

Exzessive GewaltanwendungDie Sicherheitskräfte gingen weiterhin mit ex-zessiver Gewalt gegen Protestierende vor. Siesetzten Gummigeschosse und Tränengas ein,manchmal sogar in geschlossenen Räumen.Berichten zufolge starben vier Menschen – da-runter zwei Kinder –, nachdem sie mit scharferMunition beschossen oder von Tränengasgra-naten getroffen worden waren. Mindestens 20weitere Menschen verloren dem Vernehmennach durch Tränengas ihr Leben. Im Septem-ber teilten die Behörden mit, dass insgesamt1500 Angehörige der Sicherheitskräfte seitJahresanfang bei den Protesten verletzt wordenseien. Zwei Polizeibeamte kamen in der zwei-ten Jahreshälfte ums Leben.ý Hussam al-Haddad starb am 17. August2012, nachdem die Bereitschaftspolizei in al-Muharraq auf den 16-Jährigen geschossenhatte. Die Ermittlungen der Sonderuntersu-chungseinheit kamen zu dem Schluss, dass dieSchüsse auf den Demonstrierenden gerecht-fertigt gewesen seien, um »unmittelbar dro-hende Gewalt abzuwenden«.ý Der 16-jährige Ali Hussein Neama kam am28. September 2012 zu Tode, als ihm Angehö-rige der Bereitschaftspolizei im Dorf Sadad inden Rücken schossen. Seine Familie berich-tete, dass die Polizei sie bedroht und daran ge-hindert habe, sich dem auf dem Boden liegen-den Verletzten zu nähern. Eine Untersuchungs-kommission der Sonderuntersuchungseinheitwiegelte den Vorfall ab und bezeichnete ihn alseinen »Akt der Selbstverteidigung« des betei-ligten Sicherheitsbeamten.

Folter und andere MisshandlungenDie Regierung leitete Schritte zur Verbesserungdes Verhaltens von Polizeibeamten ein. So tra-ten neue Bestimmungen in Kraft, die u. a. einenVerhaltenskodex und Schulungen zum ThemaMenschenrechte beinhalteten. Trotzdem nahmdie Polizei auch weiterhin Personen ohne Haft-befehle fest und inhaftierte sie tage- oder wo-chenlang ohne Kontakt zur Außenwelt oderZugang zu einem Rechtsbeistand. Gefangenesollen zudem gefoltert und auf andere Weisemisshandelt worden sein, u. a. mit Schlägen,Tritten, Beschimpfungen und der Androhungvon Vergewaltigung.ý Hussein Abdullah Ali Mahmood al-Ali wurdeam 26. Juli 2012 im Dorf Salmabad ohne Haft-befehl festgenommen. Er wurde dem Verneh-men nach geschlagen und an einen unbe-kannten Ort gebracht. Er gab an, während sei-ner Haft ohne Kontakt zur Außenwelt gefoltertworden zu sein. Dann musste er ein »Geständ-nis« unterschreiben. Drei Wochen lang wussteseine Familie nicht, wo er sich aufhielt. AuchMonate nach seiner Inhaftierung kannten we-der seine Familie noch seine Rechtsbeiständeden genauen Ort seiner Haft. Er sagte, manhabe ihm Elektroschocks verabreicht und ihmmit Vergewaltigung gedroht.

Zahlreiche Kinder im Alter von 15 bis 18 Jah-ren, die während oder nach Protestaktionenfestgenommen worden waren, wurden in Ge-fängnissen oder Haftanstalten für Erwachsenefestgehalten. Gegen viele von ihnen erging An-klage wegen »illegaler Versammlung« oderRandalierens. In den ersten Stunden nach ihrerFestnahme wurden einige der Kinder geschla-gen und dem Vernehmen nach gezwungen,»Geständnisse« zu unterschreiben. Der Zu-gang zu ihren Familien oder Rechtsbeiständenblieb ihnen versagt. Einige der Kinder erhiel-ten Freiheitsstrafen.ý Der 16-jährige Salman Amir Abdullah al-Aradi wurde zunächst im Februar 2012, dannerneut im Mai festgenommen. Sicherheitskräftebrachten ihn zur Polizeiwache in Al-Hidd, woer geschlagen und mit Vergewaltigung bedrohtworden sein soll. Er sollte in Abwesenheit sei-ner Familie und seines Rechtsbeistands ein

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»Geständnis« unterschreiben. Danach ergingAnklage gegen ihn wegen »illegaler Versamm-lung« und anderer Vergehen. Er wurde schul-dig gesprochen und erhielt im Juli eine einjäh-rige Freiheitsstrafe. Ein Berufungsgericht be-stätigte das Urteil.ý Die 17-jährige Mariam Hassan Abdali al-Kha-zaz sagte aus, die Polizei habe sie nach ihrerFestnahme nach einer Protestaktion in Ma-nama am 21. September 2012 geschlagen undgetreten. Sie musste ein »Geständnis« unter-zeichnen, obwohl weder ihre Familie noch einRechtsanwalt zugegen waren. Danach wurdesie wegen Teilnahme an einer illegalen Ver-sammlung sowie Angriffs auf einen Polizeibe-amten und weiterer Vergehen angeklagt. Am17. Oktober kam sie auf Kaution frei. Zum Endedes Berichtsjahres wartete sie noch auf ihrenProzess.

Menschenrechtsverteidiger undandere AktivistenMenschenrechtsverteidiger und andere Aktivis-ten wurden schikaniert, festgenommen, vonden Behörden verurteilt und in den staatlichenMedien verunglimpft.ý Nabeel Rajab, der Präsident des Menschen-rechtszentrums von Bahrain (Bahrain Centerfor Human Rights – BCHR) geriet 2012 beson-ders ins Visier der Sicherheitskräfte. Er wurdemehrfach festgenommen und strafrechtlichverfolgt. Im Mai wurde er wegen »Verunglimp-fung einer nationalen Einrichtung« angeklagt,nachdem er auf Twitter Kommentare über dasInnenministerium veröffentlicht hatte. Am 9.Juliverurteilte ihn ein Gericht wegen seiner Kritikam Ministerpräsidenten zu drei Monaten Haft.Am 16. August wurde er für schuldig befun-den, an »illegalen Versammlungen« teilgenom-men sowie die »öffentliche Ordnung gestört«zu haben und er erhielt eine Freiheitsstrafe vondrei Jahren. Im Dezember reduzierten die Be-hörden das Strafmaß auf zwei Jahre. Er gilt alsgewaltloser politischer Gefangener.ý Zainab al-Khawaja saß von April 2012 ansechs Wochen lang in Haft, weil sie mit einemSitzstreik gegen die Inhaftierung ihres Vatersund gegen weitere Menschenrechtsverletzun-

gen demonstriert hatte. Im August wurde sie er-neut festgenommen und zu zwei Monaten Ge-fängnis verurteilt, weil sie ein Bild des Königszerrissen hatte. Im Oktober kam sie auf Kau-tion aus der Haft frei, wurde jedoch im Dezem-ber erneut festgenommen und zu einem Mo-nat Gefängnis verurteilt. Es waren noch weitereAnklagen gegen sie anhängig. Ende 2012wurde Zainab al-Khawaja aus der Haft entlas-sen.

Im August 2012 forderten mehrere UN-Son-derberichterstatter gemeinsam die RegierungBahrains auf, die Schikanen gegen Menschen-rechtsverteidiger zu beenden.

Gewaltlose politische GefangeneGewaltlose politische Gefangene, darunterauch diejenigen, die im Zusammenhang mitden Massenkundgebungen im Jahr 2011 verur-teilt worden waren, saßen 2012 noch immer inHaft. Sie waren offenbar wegen ihrer regie-rungskritischen Ansichten ins Visier der Be-hörden geraten.ý Ebrahim Sharif, 'Adulhadi al-Khawaja und elfweitere führende Regierungskritiker verbüßtenweiterhin Gefängnisstrafen von fünf Jahren bislebenslänglich. Ihre Verurteilungen und Stra-fen wurden im September bestätigt. Sie warenfür schuldig befunden worden, terroristischeGruppierungen mit dem Ziel des Regierungs-sturzes und der Änderung der Verfassung ge-bildet zu haben. Außerdem wurden ihnen wei-tere Vergehen zur Last gelegt. Die Angeklagtenhatten alle Anschuldigungen zurückgewiesen.Die Anwendung oder Befürwortung von Ge-walt konnte ihnen nicht nachgewiesen werden.ý Das Urteil gegen den ehemaligen Präsiden-ten der bahrainischen Lehrergewerkschaft,Mahdi 'Issa Mahdi Abu Dheeb, wurde im Okto-ber vom Hohen Berufungsstrafgericht bestä-tigt. Die Freiheitsstrafe wurde allerdings vonzehn auf fünf Jahre herabgesetzt. Im Septem-ber 2011 hatte ihn ein Militärgericht in einemunfairen Verfahren für schuldig befunden, zueinem Lehrerstreik aufgerufen, Hass geschürtund den Versuch unternommen zu haben, dieRegierung gewaltsam zu stürzen. Beweise fürdiese Vorwürfe gab es nicht. Der Gefangene

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sagte aus, er sei im Jahr 2011 nach seiner Fest-nahme gefoltert worden und habe währendseiner Untersuchungshaft keinen Kontakt zurAußenwelt gehabt.ý 'Ali 'Esa Mansoor al-'Ekri und Ghassan Ah-med 'Ali Dhaif wurden zusammen mit sechsBeschäftigten im Gesundheitswesen im Okto-ber festgenommen. Am Tag zuvor hatte dasKassationsgericht ihre Urteile bestätigt und dieim Juni gegen die Angeklagten verhängten re-duzierten Gefängnisstrafen zwischen einemMonat und fünf Jahren bestätigt. Ursprünglichwaren die Angeklagten im September 2011nach einem unfairen Gerichtsverfahren zuFreiheitsstrafen zwischen fünf und 15 Jahrenverurteilt worden. Das Berufungsgericht hobdie Haftstrafen für einige weitere Personen auf.Zwei der sechs Verurteilten wurden inzwi-schen freigelassen, weil sie ihre Strafen abge-sessen hatten. Die anderen vier Gefangenenbefanden sich Ende 2012 noch immer im Ge-fängnis von al-Jaw.

Recht auf VersammlungsfreiheitAm 30. Oktober 2012 verhängte der Innenmi-nister ein Verbot für alle Kundgebungen undZusammenkünfte mit der Begründung, derar-tige Veranstaltungen würden den MenschenGelegenheit zu Kritik an der Regierung gebenund zu Ausschreitungen, Gewalt und Zerstö-rung von Eigentum führen. Der Minister sagteweiter, das Verbot bleibe so lange in Kraft, bisdie »Sicherheit wiederhergestellt« sei. Er kün-digte an, dass jeder Verstoß gegen das Verbotstrafrechtlich verfolgt würde. Im Dezemberwurde das Verbot wieder aufgehoben. Der In-nenminister kündigte eine Vorlage zur Ände-rung des Gesetzes zu öffentlichen Versamm-lungen, Prozessionen und Zusammenkünftenan. Dieses Gesetz schränkt das Recht auf Ver-sammlungsfreiheit ein.ý Der Menschenrechtsverteidiger Sayed YousifAlmuhafda wurde am 2. November 2012 we-gen seiner Teilnahme an einer nicht genehmig-ten Versammlung festgenommen, bei der erdas Verhalten der Polizeikräfte gegenüber Pro-testierenden dokumentieren sollte. Eine Wo-che nach seiner Festnahme kam er wieder frei.

Die Anklage wegen Teilnahme an einer illega-len Versammlung wurde fallen gelassen. Im De-zember nahm man ihn allerdings erneut inHaft und stellte ihn wegen »Verbreitung vonFalschmeldungen« unter Anklage.

TodesstrafeIm März 2012 erging Berichten zufolge ein To-desurteil, das vom Appellationsgericht im No-vember bestätigt wurde. Es gab keine Hinrich-tungen. Zwei Todesurteile, die 2011 von einemMilitärgericht verhängt worden waren, wurdenvom Kassationsgericht aufgehoben. Ein Zivil-gericht rollte das Verfahren gegen die beidenAngeklagten neu auf.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Amnesty International sagte einen für März geplanten

Besuch in Bahrain ab, da die Regierung neue verschärfteVisa-Bedingungen für internationale NGOs erlassen hatte.Im August und September reisten Prozessbeobachter imAuftrag von Amnesty International nach Bahrain.

ÿ Flawed reforms: Bahrain fails to achieve justice for protes-ters, http://amnesty.org/en/library/info/MDE11/014/2012/en

ÿ Bahrain: Reform shelved, repression unleashed,http://amnesty.org/en/library/info/MDE11/062/2012/en

BangladeschAmtliche Bezeichnung:

Volksrepublik BangladeschStaatsoberhaupt: Mohammad Zillur RahmanRegierungschefin: Sheikh Hasina Wajed

Im Jahr 2012 sollen etwa 30 außerge-richtliche Hinrichtungen vollzogen wor-den sein. Die Sicherheitskräfte waren anFolter und anderen Misshandlungen so-wie mindestens zehn Fällen des Ver-schwindenlassens beteiligt. Politischmotivierte Gewalt hatte den Tod von min-destens vier Männern zur Folge. Frauenwaren weiterhin Opfer unterschiedlicher

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Arten von Gewalt. Die Regierung ge-währte indigenen Gemeinschaften kei-nen Schutz vor Angriffen durch benga-lische Siedler. Mindestens 111 Arbeiterstarben bei einem Brand in einer Fabrik.Einige von ihnen sollen ums Leben ge-kommen sein, weil Aufseher der Fabriksie daran hinderten, das Gebäude zu ver-lassen. Mehr als 20 buddhistische Tem-pel und Klöster, ein Hindu-Tempel undviele Häuser und Geschäfte vonBuddhisten wurden während eines reli-giös motivierten Angriffs in Brand ge-setzt. Mindestens 45 Personen wurdenzum Tode verurteilt.

HintergrundIm Januar 2012 erklärte die Regierungschefin,dass in Bangladesch keine Menschenrechts-verletzungen begangen worden seien.

Im Dezember eskalierte die politisch moti-vierte Gewalt, als die oppositionellen Parteienganztägige Generalstreiks zu organisieren ver-suchten. Mindestens vier Personen starben,und zahlreiche Streikende und Polizisten wur-den verletzt. Die islamistische Partei Jamaat-e-Islami forderte die Freilassung ihrer Füh-rungsmitglieder, gegen die zurzeit ein Verfah-ren wegen Kriegsverbrechen läuft. Die Bangla-desh Nationalist Party (BNP) forderte, dass diebevorstehenden allgemeinen Wahlen untereiner Übergangsregierung abgehalten werdensollten. Mitglieder einer Gruppe mit Verbindun-gen zur Regierungspartei griffen Oppositio-nelle gewalttätig an. Dabei wurde ein Passant so

schwer durch Schläge und Messerstiche ver-letzt, dass er starb.

Korruptionsvorwürfe lösten sowohl in Bangla-desch als auch international große Sorge aus.Im Juni zog die Weltbank eine Kreditzusageüber 1,2 Mrd. US-Dollar für den in der Zentral-region Bangladeschs geplanten Bau der Pad-ma-Brücke zurück, nachdem die RegierungBangladeschs nicht in angemessener Form aufKorruptionsvorwürfe reagiert hatte. Eine Un-tersuchung durch die Antikorruptionskommis-sion war Ende 2012 noch nicht abgeschlos-sen.

Bangladeschs Behörden äußerten gegenüberIndien weiterhin Besorgnis wegen der Tötungihrer Staatsangehörigen durch indische Grenz-schutzeinheiten. Indische Grenzwächter töte-ten 2012 mehr als ein Dutzend Bangladescherbeim Überqueren der Grenze nach Indien.

Außergerichtliche HinrichtungenMindestens 30 Personen kamen 2012 durchmutmaßliche außergerichtliche Hinrichtungenums Leben. Die Polizei gab an, die Opfer seienbei Feuergefechten mit den Sicherheitskräftengetötet worden. Familienangehörige widerspra-chen diesen Behauptungen jedoch und er-klärten, dass die Menschen getötet wordenseien, nachdem sie von Personen in Zivil fest-genommen worden waren, die sich als Angehö-rige des Schnellen Einsatzbataillons (RapidAction Battalion – RAB) oder anderer Polizeiein-heiten zu erkennen gaben. Im Berichtsjahrwurde niemand wegen dieser Tötungen zur Re-chenschaft gezogen.ý Am 12. September 2012 sollen RAB-Angehö-rige den Bauern Mohammad Atear Rahman(auch als Tofa Molla bekannt) im Bezirk Kushtiaerschossen haben. Laut Angaben des RABwurde er bei einem »Schusswechsel« getötet,wohingegen Atear Rahmans Familie und an-dere Zeugen aussagten, dass RAB-Angehörigeihn am Abend zuvor in seiner Wohnung fest-genommen hatten. Sein Leichnam wies Mel-dungen zufolge drei Schusswunden auf – zweidavon im Rücken.

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Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen durch Poli-zei, RAB, Armee und Geheimdienste warenweit verbreitet und blieben praktisch straffrei.Die eingesetzten Methoden umfasstenSchläge, Tritte, Aufhängen an der Raumdecke,Nahrungs- und Schlafentzug sowie Elektro-schocks. Die meisten Häftlinge sollen gefoltertworden sein, bis sie »gestanden«, ein Verbre-chen begangen zu haben. Nach vorliegendenInformationen sollen die Polizei und dasSchnelle Einsatzbataillon Unterlagen gefälschthaben. Zu diesem Zweck wurden z. B. auchdie Festnahmedaten verändert.

VerschwindenlassenMindestens zehn Personen »verschwanden«2012. In den meisten Fällen blieben die Opferunauffindbar. Personen, die tot aufgefundenwurden, wiesen Verletzungen auf, von deneneinige durch Schläge verursacht worden waren.ý Am 17. April »verschwand« Ilias Ali, Divisi-onssekretär der Oppositionspartei BNP, zu-sammen mit seinem Fahrer Ansar Ali. Die Re-gierung versprach zwar, den Fall zu untersu-chen, hatte bis Ende 2012 aber noch keine In-formationen vorgelegt.

Gewalt gegen Frauen und MädchenFrauen waren weiterhin unterschiedlichen For-men von Gewalt ausgesetzt. Dazu gehörtenSäureangriffe, Ermordung wegen nicht gezahl-ter Mitgift, Auspeitschen durch illegaleSchiedsausschüsse wegen religiöser Vergehen,häusliche und sexuelle Gewalt.ý Am 9. September 2012 wurden Aleya Begumund ihre Tochter ohne Haftbefehl festgenom-men und Berichten zufolge auf der Polizeista-tion von Khoksa im Bezirk Kushtia gefoltert.Zwei Tage später brachte man sie zur Polizeiwa-che der Stadt Kushtia und sperrte sie in einendunklen Raum. Die Tochter, eine Studentin,wurde nachts von ihrer Mutter getrennt undvon Polizisten sexuell missbraucht. Nachdemdie beiden Frauen vor Gericht erschienen wa-ren, kamen sie am 18. September frei. AleyaBegum und ihre Tochter informierten die Me-dien über ihre Geschichte und wurden am

26. September 2012 erneut festgenommenund inhaftiert.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenWie schon in den vergangenen Jahren trafendie Behörden auch 2012 keine Regelungenbezüglich der von indigenen Bevölkerungs-gruppen geltend gemachten Ansprüche aufLand, das ihnen entweder während des inter-nen bewaffneten Konflikts (1975–97) abge-nommen worden war oder das in jüngster Zeitvon einer steigenden Anzahl bengalischerSiedler besetzt wurde. Spannungen zwischenden beiden Gemeinschaften und das Ver-säumnis der Sicherheitskräfte, die lokalen indi-genen Gemeinschaften gegen Angriffe benga-lischer Siedler zu schützen, führten zu mehre-ren Zusammenstößen mit Verletzten auf bei-den Seiten.ý Am 22. September 2012 wurden bei einemZusammenstoß zwischen Angehörigen der in-digenen Gemeinschaft und bengalischen Sied-lern in Rangamati mindestens 20 Personenverletzt. Angehörige der örtlichen Bevölkerunggaben an, dass die Sicherheitskräfte zwar er-schienen seien, die Gewalt aber nicht unter-bunden hätten.

ArbeitsrechteGewerkschaftsführer, die die Demonstrationender Arbeitnehmer der Textilindustrie gegenniedrigen Lohn und schlechte Arbeitsbedin-gungen unterstützten, wurden 2012 schika-niert und eingeschüchtert; ein Mann wurde ge-tötet.ý Der Gewerkschaftsführer Aminul Islam »ver-schwand« am 4. April 2012. Am nächsten Tagwurde seine Leiche in der Stadt Ghatail nördlichder Hauptstadt Dhaka aufgefunden. Seine Fa-milie entdeckte Folterspuren an seinem Körperund vertrat die Auffassung, dass er von Sicher-heitskräften entführt worden war. Er war zuvorschon einmal von Mitarbeitern des Geheim-dienstes wegen seiner gewerkschaftlichen Akti-vitäten festgenommen und geschlagen wor-den.ý Mindestens 111 Arbeiter starben im Novem-

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ber 2012 bei einem Brand in der TextilfabrikTazreen Fashion in der nördlich von Dhaka ge-legenen Stadt Savar. Einige von ihnen sollenzu Tode gekommen sein, weil Aufseher der Fa-brik es nicht zugelassen hatten, dass die Toregeöffnet wurden, um ihnen die Flucht vor demFeuer zu ermöglichen.

Ethnisch-religiöse GewaltDie Angriffe gegen Angehörige von Minderhei-tengemeinschaften nahmen Ende September2012 eine neue Wendung. Tausende Menschenprotestierten gegen ein auf Facebook veröf-fentlichtes Bild, das ihrer Ansicht nach den Ko-ran beleidigte, und setzten mehr als 20buddhistische Tempel und Klöster, einen Hin-du-Tempel und zahlreiche Häuser und Ge-schäfte von Buddhisten in den südlich gelege-nen Städten Cox’s Bazar und Chittagong inBrand.

TodesstrafeMindestens 45 Personen wurden zum Tode ver-urteilt. Ein Mann wurde im April 2012 hinge-richtet.

BelarusAmtliche Bezeichnung: Republik BelarusStaatsoberhaupt: Alexander LukaschenkoRegierungschef: Michail Mjasnikovich

Gewaltlose politische Gefangene warenweiterhin in Haft; in einigen Fällenwurde ihre Haftdauer wegen Verstößengegen die Gefängnisordnung verlängert.Zivilgesellschaftlich engagierte Bürger,Menschenrechtsverteidiger und Journa-listen sahen sich mit Einschränkungenihrer Rechte auf freie Meinungsäuße-rung, Versammlungs- und Vereinigungs-freiheit konfrontiert. Zwei Männer wur-den hingerichtet.

HintergrundAm 5. Juli 2012 beschloss der UN-Menschen-rechtsrat, einen Sonderberichterstatter für Be-larus einzusetzen. Bereits zuvor hatte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte einenBericht vorgelegt, aus dem hervorging, dasssich die Menschenrechtslage in Belarus seitDezember 2010 gravierend verschlechterthatte.

Bei den Parlamentswahlen am 23. September2012 errang die Opposition kein einziges Man-dat. Die Wahlbeobachtermission der Organisa-tion für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa (OSZE) stellte Verstöße gegen dieRechte auf freie Meinungsäußerung und aufVereinigungsfreiheit fest. Sie gelangte zu derEinschätzung, dass die Wahl weder frei nochunparteiisch war. Am 27. August hatte der Zen-trale Wahlausschuss entschieden, dass Kan-didaten, die zum Wahlboykott aufriefen, keineSendezeit im Fernsehen und im Rundfunk er-halten dürften. Dies führte dazu, dass zwei Op-positionsparteien faktisch keinerlei Medien-präsenz hatten.

Gewaltlose politische GefangeneSechs Personen, die im Zusammenhang miteiner Demonstration in der Hauptstadt Minskam 19. Dezember 2010 festgenommen wordenwaren, saßen Ende 2012 noch immer in Haft.Mindestens vier von ihnen – Mykalau Statke-vich, Pavel Sevyarynets, Zmitser Dashkevichund Eduard Lobau – waren gewaltlose politi-sche Gefangene.

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ý Am 24. Januar 2012 wies das StadtgerichtMinsk die Rechtsmittel von Ales Bialiatski zu-rück, der am 24. November 2011 wegen »Ver-schleierung von Einkünften in erheblichemUmfang« zu viereinhalb Jahren Haft verurteiltworden war. Im September 2012 wurde dieEntscheidung des Stadtgerichts vom OberstenGerichtshof bestätigt. Ales Bialiatski ist Vorsit-zender des Menschenrechtszentrums Viasnaund Vizepräsident der Internationalen Födera-tion für Menschenrechte (Fédération internatio-nale des ligues des droits de l’Homme – FIDH).Seine Verurteilung stand im Zusammenhangmit privaten Bankkonten in Litauen und Polen,die er nutzte, um die Arbeit des belarussischenMenschenrechtszentrums Viasna zu unter-stützen.ý Am 14. April 2012 wurde der Präsident-schaftskandidat der belarussischen Opposi-tion, Andrei Sannikau, aus dem Gefängnis ent-lassen, nachdem Staatspräsident Luka-schenko ihn begnadigt hatte. Berichten zufolgehatte man Andrei Sannikau unter Druck ge-setzt, ein Gnadengesuch zu stellen, und ihmmitgeteilt, sein Strafregister-Eintrag werde erstnach acht Jahren gelöscht. Er hatte 16 Monateseiner fünfjährigen Haftstrafe verbüßt. Am15. April wurde auch Zmitser Bandarenka, einMitglied des Wahlkampfteams von AndreiSannikau, aus der Haft entlassen.ý Am 28. August 2012 wurde Zmitser Dashke-vich zu einem weiteren Jahr Haft verurteilt,weil er gegen die Gefängnisordnung verstoßenhaben soll. Das Verfahren fand unter Aus-schluss der Öffentlichkeit in der Gefängniskolo-nie Glubokoe statt. Zmitser Dashkevich warwegen verschiedener geringfügiger Verstößegegen die Gefängnisregeln wiederholt bestraftworden. Die Gefängnisverwaltung gab an, er seiin einigen Fällen in eine Strafzelle verlegt wor-den, um ihn vor tätlichen Angriffen seiner Mit-häftlinge zu schützen.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Behörden des Landes griffen nach wie vorauf die Straftatbestände »Verleumdung desStaatspräsidenten« und »Beleidigung desStaatspräsidenten« zurück, um gegen Journa-

listen vorzugehen und deren legitime Kritik anden staatlichen Behörden zu unterbinden.ý Am 21. Juni 2012 wurde der JournalistAndrzej Poczobut in seiner Wohnung inGrodno unter dem Vorwurf der »Verleumdungdes Staatspräsidenten« festgenommen. DieAnklage stützte sich auf Artikel, die er in unab-hängigen Presseorganen des Landes publi-ziert hatte. Andrzej Poczobut ist Korrespondentder polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborczaund ein bekannter Vertreter der polnischenMinderheit in Belarus. Am 30. Juni wurde ergegen Kaution aus der Haft entlassen. AndrzejPoczobut war zuvor bereits wegen andererZeitungsartikel zu einer dreijährigen Haftstrafeauf Bewährung verurteilt worden, deren Fristnoch nicht abgelaufen war. Sollte er erneut ver-urteilt werden und beide Strafen verbüßenmüssen, drohen ihm mehr als sieben Jahre Ge-fängnis. Ende 2012 waren die Ermittlungennoch nicht abgeschlossen.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger waren Schikanenunterschiedlicher Art ausgesetzt, dazu zähltenReiseverbote und Verfahren wegen Ordnungs-widrigkeiten wie »Fluchen in der Öffentlich-keit«. Am 11. März 2012 wurde dem stellvertre-tenden Vorsitzenden des Menschenrechts-zentrums Viasna, Valiantsin Stefanovich, dieAusreise nach Litauen verweigert, weil er an-geblich als Reservist der belarussischen Streit-kräfte eine Wehrübung nicht angetreten hatte.Im März teilte man dem Menschenrechtsvertei-diger Oleg Volchek mit, sein Name stehe aufder Liste derjenigen, die das Land nicht verlas-sen dürften.ý Am 26. Juni 2012 wurde Andrei Bondarenkovom Staatsanwalt der Stadt Minsk offiziell ge-warnt, er könne wegen »Verunglimpfung derRepublik Belarus und ihrer Institutionen«strafrechtlich verfolgt werden. Andrei Bonda-renko ist Vorsitzender der NGO Platforma, diesich mit den Haftbedingungen in belarussi-schen Gefängnissen befasst. Die Organisationhatte kurz zuvor zu einem Boykott der Eis-hockey-Weltmeisterschaft 2014 in Minsk auf-gerufen. Am 19. Juli erfuhr Andrei Bondarenko,

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dass sein Name auf der Liste der Personenstehe, die nicht ausreisen dürfen, da gegen ihnwegen Steuerhinterziehung ermittelt werde.Als er sich beim Innenminister darüber be-schwerte, wurden die Ermittlungen eingestelltund sein Name von der Liste gestrichen.ý Am 26. November 2012 wurde das Büro derMenschenrechtsorganisation Viasna in Minskvon den Behörden geräumt und beschlag-nahmt. Die Maßnahme stand in Zusammen-hang mit einem Urteil gegen den Vorsitzendender Organisation, Ales Bialiatski (siehe oben).

Im Jahr 2012 wurden mindestens 15 Men-schenrechtsverteidiger, Journalisten und Op-positionelle wegen der Ordnungswidrigkeit»Fluchen in der Öffentlichkeit« verfolgt.

Recht auf VereinigungsfreiheitDas Gesetz über gesellschaftliche Vereinigun-gen legte für Organisationen weiterhin strikteBestimmungen fest, was ihre Registrierung undihre Tätigkeit betraf. Alle NGOs benötigtennach wie vor eine staatliche Genehmigung, umarbeiten zu können. Sich an Aktivitäten nichtregistrierter Vereinigungen zu beteiligen, galtnach Paragraph 193 Abs. 1 des belarussi-schen Strafgesetzes weiter als Straftat.ý Im Januar 2012 erfuhr die OrganisationHuman Rights Project Gay Belarus, die sichfür die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuel-len, Transgendern und Intersexuellen einsetzt,dass ihr Antrag auf Registrierung abgelehntworden war. Zur Begründung hieß es, die Na-men von zwei der 61 Gründungsmitglieder hät-ten Schreibfehler enthalten und ihre Geburts-daten seien nicht korrekt gewesen.ý Am 9. Oktober 2012 ordnete das Wirtschafts-gericht Minsk die Schließung der NGO Plat-forma an. Die Steuerbehörden des Minsker Be-zirks Sovetskiy warfen der Organisation vor,ihre Steuererklärung verspätet eingereicht undeine Adressänderung nicht mitgeteilt zu ha-ben. Andrei Bondarenko, der Vorsitzende vonPlatforma, erklärte hingegen, er habe dieSteuererklärung fristgerecht abgegeben unddie offizielle Adresse der Organisation seigleich geblieben.

Recht auf VersammlungsfreiheitÖffentliche Versammlungen waren auch 2012durch das Gesetz über Massenveranstaltun-gen in unangemessener Weise eingeschränkt.Die Organisatoren mussten weiterhin ihre »Fi-nanzierungsquellen« angeben und durften fürihre Veranstaltung erst werben, wenn die offi-zielle Genehmigung vorlag, das hieß mituntererst fünf Tage vorher. In der Regel wurden An-träge auf öffentliche Zusammenkünfte austechnischen Gründen abgelehnt.ý Die Stadtverwaltung von Brest verweigertedem Mitglied der unabhängigen GewerkschaftREP, Alexander Denisenko, die Genehmigungeiner öffentlichen Protestveranstaltung gegenhohe Wohnkosten, die am 17. März stattfindensollte. Zur Begründung hieß es, er habe mitder Polizei, den Rettungsdiensten und denlokalen Behörden keine Verträge zur Installa-tion von Sanitäreinrichtungen und bezüglichder Aufräumarbeiten abgeschlossen. Alexan-der Denisenko legte gegen diese EntscheidungRechtsmittel vor dem erstinstanzlichen Ge-richt, dem Berufungsgericht, dem Bezirksge-richt und dem Obersten Gerichtshof ein, verloraber in allen Instanzen.

TodesstrafeIn Belarus wurden nach wie vor Todesurteilevollstreckt. Dies geschah unter strikter Ge-heimhaltung. Weder die zum Tode Verurteiltennoch ihre Angehörigen wurden von der bevor-stehenden Hinrichtung in Kenntnis gesetzt. DerLeichnam wurde der Familie nicht übergeben,und diese erfuhr auch nicht, wo ihr Angehörigerbestattet worden war. Oft dauerte es Wochenoder gar Monate, bevor eine offizielle Todes-nachricht eintraf.ý Im März 2012 wurden Uladzslau Kavalyouund Dzmitry Kanavalau hingerichtet. Die An-klage gegen sie stand im Zusammenhang miteiner Reihe von Bombenanschlägen, darunterdem auf eine Minsker U-Bahn-Station am11. April 2011. Es bestanden erhebliche Zwei-fel an der Fairness des Verfahrens gegen diebeiden Männer. Wie im Fall von Vasily Yuzep-chuk und Andrei Zhuk (beide wurden im März2010 hingerichtet) sowie im Fall von Andrei

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Burdyko (er wurde im Juli 2011 hingerichtet)ignorierten die Behörden auch im Fall vonUladzslau Kavalyou und Dzmitry Kanavalau dieAufforderung des UN-Menschenrechtsaus-schusses, die Todesurteile gegen die beidenMänner nicht zu vollstrecken, solange derAusschuss die Fälle prüfe.

Amnesty International: Berichteÿ Belarus must release bodies of convicts executed over Minsk

metro bombing, http://www.amnesty.org/en/news/belarus-must-release-bodies-convicts-executed-over-minsk-metro-bombing-2012-03-19

ÿ Belarus: Continuing Human Rights Concerns Submission tothe 20th session of the United Nations Human Rights Coun-cil, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR49/006/2012/en

ÿ Still behind bars: The plight of long-term prisoners in Bela-rus, http://195.234.175.160/en/library/asset/EUR49/013/2012/en/0292c5a2-b1ca-460d-adb3-534b89417eee/eur490132012en.html

BelgienAmtliche Bezeichnung: Königreich BelgienStaatsoberhaupt: König Albert II.Regierungschef: Elio Di Rupo

Der Europäische Gerichtshof stellte fest,dass Belgien in einem Strafverfahrengegen das Recht auf ein faires Verfah-ren verstoßen hatte. Die Behörden er-griffen erste Schritte zur Einrichtungeiner nationalen Menschenrechtsinsti-tution.

Unfaire GerichtsverfahrenDie Regierung hat in einem Gerichtsverfahrengegen einen Terrorverdächtigen Beweise be-nutzt, die durch die Anwendung von Folter zu-stande gekommen sein könnten.ý Am 25. September 2012 entschied der Euro-päische Gerichtshof für Menschenrechte,

dass Belgien im Fall El Haski gegen Belgien mitder Verwendung von mutmaßlich durch Foltererpressten »Beweisen« Lahoucine El HaskisRecht auf ein faires Verfahren verletzt habe.Der marokkanische Staatsbürger war 2006 aufGrundlage der Aussagen von Zeugen, die inDrittländern, z. B. Marokko, verhört worden wa-ren, wegen angeblicher Beteiligung an terro-ristischen Aktivitäten zu einer Freiheitsstrafeverurteilt worden. Der Gerichtshof sah ein»reales Risiko«, dass die gegen El Haski ver-wendeten Aussagen in Marokko durch Folteroder andere Misshandlungen erzwungen wor-den sein könnten, und befand, dass die belgi-schen Gerichte sie deshalb nicht als Beweisehätten zulassen dürfen.

HaftbedingungenDie psychiatrischen Einrichtungen für Häftlingemit einer geistigen Behinderung waren nachwie vor unzureichend. Am 2. Oktober 2012 be-fand der Europäische Gerichtshof für Men-schenrechte, Belgien habe im Fall des untereiner psychischen Erkrankung leidenden L. B.gegen das Recht auf Freiheit und Sicherheitverstoßen. Der Mann wurde mehr als siebenJahre unter für seinen Zustand unzureichen-den Bedingungen in verschiedenen Haftan-stalten festgehalten.

Im Dezember äußerte sich der EuropäischeAusschuss zur Verhütung von Folter besorgtüber die Überbelegung und die unzureichen-den sanitären Einrichtungen in zahlreichenbelgischen Gefängnissen.

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DiskriminierungNach wie vor kam es im öffentlichen Bildungs-wesen und am Arbeitsplatz zu Diskriminierun-gen aufgrund der Religion oder der Weltan-schauung. Hiervon waren vor allem Muslimebetroffen. Das generelle Verbot des Tragens vonreligiösen oder kulturellen Symbolen und Klei-dungsstücken in den flämischen öffentlichenBildungseinrichtungen blieb unverändert inKraft.

Dasselbe galt für ein Gesetz, nach dem dasVerhüllen des Gesichts in der Öffentlichkeit alsStraftat gilt. Am 6. Dezember 2012 befand dasVerfassungsgericht, das Gesetz verstoße we-der gegen die belgische Verfassung noch gegendie völkerrechtlichen Verpflichtungen desLandes.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenZwar erhöhten die Behörden im Januar 2012die Zahl der Plätze für Asylsuchende in Auf-nahmezentren, es waren jedoch nach wie vornicht genug. Migrantenfamilien ohne regulä-ren Aufenthaltsstatus erhielten auch weiterhinkeinen Zugang zu Aufnahmeeinrichtungen.Einige unbegleitete Minderjährige wurden inunzureichenden Unterkünften untergebracht,wo sie keine ausreichende juristische, ärztlicheund soziale Unterstützung erhielten.

Recht auf WohnenAm 21. März 2012 befand der EuropäischeAusschuss für soziale Rechte, Belgien habewegen der ungenügenden Bereitstellung vonvorübergehenden und dauerhaften Unter-künften für Nichtsesshafte gegen den in der Eu-ropäischen Sozialcharta verankerten Grund-satz der Nichtdiskriminierung sowie gegen dasRecht der Familie auf sozialen, rechtlichenund wirtschaftlichen Schutz verstoßen.

WaffenhandelIm Juni 2012 verabschiedeten das flämischeund das wallonische Parlament neue Regio-nalgesetze zur Einfuhr und Ausfuhr und zumTransfer von Waffen. Die darin enthaltenenVorschriften zur Überprüfung des endgültigen

Bestimmungsortes der verkauften Waffen sindunzureichend.

Entwicklungen in Justiz, Verfassungund InstitutionenIm Juli 2012 beschlossen die belgischen Behör-den, eine nationale Menschenrechtsinstitutioneinzurichten.

Am 11. September unterzeichnete Belgien dieKonvention des Europarats zur Verhütung undBekämpfung von Gewalt gegen Frauen undhäuslicher Gewalt.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Ein Vertreter von Amnesty International besuchte Belgien im

April und im Juni.ÿ Europe: Choice and prejudice: Discrimination against Mus-

lims in Europe, http://www.amnesty.org/fr/library/info/EUR01/001/2012/en

BeninAmtliche Bezeichnung: Republik BeninStaatsoberhaupt: Thomas Boni YayiRegierungschef: Pascal Koupaki

Im Zusammenhang mit der Diskussionüber eine verantwortungsbewusste Re-gierungsführung und über ein Projekt zurÜberarbeitung der Verfassung versuchtedie Regierung 2012 immer wieder abwei-chende Meinungen zu unterdrücken.Mit der Ratifizierung des 2. Fakultativ-protokolls zum Internationalen Paktüber bürgerliche und politische Rechtevollzog Benin einen weiteren Schritt aufdem Weg zur Abschaffung der Todes-strafe.

Recht auf freie Meinungsäußerungý Im September 2012 konnte der private Fern-sehsender Canal 3 mehrere Tage lang nichtsenden, weil er eine Pressekonferenz von LionelAgbo, einem ehemaligen Berater von Präsi-

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dent Thomas Boni Yayi, ausgestrahlt hatte, inder dieser den Staatschef der Korruption be-zichtigte. Das staatliche Fernsehen rechtfertigtedie Abschaltung von Canal 3 damit, dass derSender sich nicht an die Ausstrahlungsregelngehalten habe. Lionel Agbo wurde wegen Be-leidigung des Staatsoberhaupts angeklagt. DasGerichtsverfahren hatte bis Ende des Jahresnoch nicht begonnen.

HaftbedingungenDie Gefängnisse waren nach wie vor überfüllt.Im Gefängnis von Cotonou waren sechs Mal soviele Menschen untergebracht, wie das Gefäng-nis eigentlich fassen kann. Die Haftbedingun-gen waren daher sehr hart. Offiziellen Angabenzufolge befanden sich von den etwa 2250 In-haftierten 97% in Untersuchungshaft.

TodesstrafeIm Juli 2012 ratifizierte Benin das 2. Fakultativ-protokoll zum Internationalen Pakt über bür-gerliche und politische Rechte. Damit vollzogdas Land einen weiteren Schritt auf dem Wegzur Abschaffung der Todesstrafe. Bis zumJahresende hatte die Regierung jedoch nochkeine Gesetze zur Streichung der Todesstrafeaus dem Strafrecht verabschiedet.

Amnesty International: Berichtÿ Benin ratifies key UN treaty aiming at the abolition of the

death penalty (AFR 14/001/2012)

BolivienAmtliche Bezeichnung:

Plurinationaler Staat BolivienStaats- und Regierungschef: Evo Morales Ayma

Das Recht indigener Bevölkerungsgrup-pen auf vorherige Konsultation und frei-willige, vorab und in Kenntnis der Sach-lage gegebene Zustimmung zu Entwick-lungsprojekten, die sie betreffen, wurdeweiter missachtet. Opfern von Men-schenrechtsverletzungen während derMilitärregierung wurde eine umfas-sende Entschädigung nach wie vor ver-weigert. Die Verzögerungen in der Jus-tizverwaltung setzten sich fort. Es gab imBerichtszeitraum Meldungen über Ver-stöße gegen das Recht auf freie Mei-nungsäußerung.

Hintergrund2012 fanden zahlreiche Demonstrationen zurDurchsetzung wirtschaftlicher und sozialerForderungen und der Rechte der indigenen Be-völkerung statt. In einigen Fällen reagierte diePolizei darauf mit exzessiver Gewaltanwen-dung.

Im September erklärte der UN-Sonderbericht-erstatter über Rassismus nach einem Besuchin Bolivien, dass das Land einige Fortschrittegemacht habe, er äußerte jedoch Besorgnisangesichts der fortdauernden Diskriminierungindigener Bevölkerungsgruppen und anderergefährdeter Gemeinschaften.

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Bolivien 83

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenIm Februar 2012 wurde ein Gesetz verabschie-det, das die vorherige Konsultation der indige-nen Bevölkerung zu dem von der Regierung ge-planten Bau einer Straße durch das Indige-nen-Gebiet Isiboro-Sécure und den dortigenNationalpark (Territorio Indígena y Parque Na-cional Isiboro-Sécure – TIPNIS) vorsieht. ImApril marschierten indigene Bevölkerungs-gruppen, die gegen das Projekt sind, nach LaPaz. Ihrer Ansicht nach verstößt die Befragunggegen eine frühere Rechtsprechung zumSchutz des TIPNIS und gegen internationaleStandards sowie die Verfassung.

Im Juni 2012 kam das plurinationale Verfas-sungsgericht (Tribunal Constitucional Plurina-cional) zu dem Urteil, dass die Konsultation ver-fassungsgemäß ist, die entsprechenden Para-meter jedoch mit allen potenziell betroffenen in-digenen Gemeinschaften abzusprechen sind.Im Juli beschloss die Regierung, die Befragungfortzusetzen, nachdem nur mit einigen der in-digenen Gemeinschaften eine Einigung erzieltwerden konnte. Im Oktober, noch vor Ab-schluss der Befragung, begannen die Arbeitenam ersten Straßenabschnitt außerhalb desNationalparks und des Gebietes der indigenenGemeinschaften. Offizielle Berichte über das

Ergebnis der Konsultation lagen Ende des Jah-res noch nicht vor.

Ende 2012 war von den Polizeibeamten, die2011 bei friedlichen Protesten gegen dieStraße durch das Indigenen-Gebiet exzessiveGewalt eingesetzt hatten, noch niemand zurRechenschaft gezogen worden.

In Mallku Khota im Departamento Potosí kames zu gewalttätigen Unruhen zwischen ört-lichen Gemeinschaften und der Polizei, weil diebolivianische Niederlassung einer kanadi-schen Bergbaugesellschaft es versäumt hatte,die Betroffenen vorher zu einem Minenprojektzu befragen. Im August gab die Regierung dieVerstaatlichung der Mine bekannt, um denProtesten durch Gegner der kanadischen Berg-baugesellschaft ein Ende zu setzen. Die Kon-flikte zwischen Befürwortern und Gegnern desProjekts waren im Dezember noch nicht been-det.

Straflosigkeit und JustizsystemNach wie vor kam es zu Verzögerungen, wennes darum ging, Verantwortliche für unter derMilitärregierung (1964–82) begangene Men-schenrechtsverletzungen vor Gericht zu brin-gen. Verzögerungen in der Justizverwaltungführten in anderen Fällen zu Straflosigkeit. Eswurden Fälle von Missbrauch richterlicher Ge-walt gegen Gegner oder Kritiker der Regierunggemeldet.ý Im April und Mai 2012 wurde eine neue Ge-setzgebung verabschiedet, die Änderungender Entschädigungszahlungen für Opfer politi-scher Gewalt unter der Militärregierung unddie Veröffentlichung der Namen der entschädi-gungsberechtigten Personen vorsieht. Es gabBedenken hinsichtlich der hinreichendenTransparenz und Fairness des Entschädi-gungsprozesses. Nur 1700 der 6200 Antragstel-ler galten als anspruchsberechtigt. Opfer vonMenschenrechtsverletzungen sowie deren An-gehörige protestierten über Monate vor demJustizministerium und forderten u. a. mehrTransparenz.ý Im September 2012 lehnten US-amerikani-sche Behörden einen Antrag auf Auslieferungdes ehemaligen Präsidenten Gonzalo Sánchez

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de Lozada nach Bolivien ab. Dort drohte ihmder Prozess im Zusammenhang mit dem»Schwarzen Oktober« im Jahr 2003. Damalswurden bei Protesten in El Alto bei La Paz ins-gesamt 67 Personen getötet und mehr als 400verletzt.ý Der Prozess wegen des Massakers vonPando im Jahr 2008 wurde mit Verzögerungenfortgesetzt. Bei dem Massaker waren 19 Men-schen getötet und 53 verletzt worden, in derMehrzahl Kleinbauern.ý Im Oktober 2012 begannen die Anhörungenim Fall der 39 Männer, die beschuldigt wur-den, 2009 an einem mutmaßlichen Mordkom-plott gegen Präsident Evo Morales Ayma betei-ligt gewesen zu sein. Zum Jahresende warennoch keine Untersuchungen in die Wege ge-leitet worden, was die Vorwürfe eines unfairenVerfahrens oder den mit dem Fall in Verbin-dung gebrachten Mord an drei Männern imJahr 2009 betraf.

Recht auf freie MeinungsäußerungIm August 2012 wurde gegen zwei Zeitungenund eine staatliche Nachrichtenagentur Klagewegen Anstiftung zum Rassismus und zur Dis-kriminierung eingereicht. Die Regierung führtean, die drei Medieninstitutionen hätten Kom-mentare von Präsident Morales über das Ver-halten der Menschen im Osten des Landesmissbraucht und ihn als Rassisten dargestellt.Es gab Bedenken, dass es sich dabei um eineunverhältnismäßige Einschränkung desRechts auf freie Meinungsäußerung handelnkönnte.

Das plurinationale Verfassungsgericht (Tribu-nal Constitucional Plurinacional) kam im Sep-tember 2012 zu dem Urteil, dass der Straftatbe-stand der »Beamtenbeleidigung« gegen dieVerfassung sowie das Recht auf freie Mei-nungsäußerung verstößt.ý Im Oktober 2012 wurde der RadiojournalistFernando Vidal schwer verletzt, als vier mas-kierte Männer ihn während seiner Sendung inYacuiba nahe der argentinischen Grenze an-zündeten. Fernando Vidal hatte öffentlich Kritikan lokalen Beamten geübt und über den Dro-genhandel in der Region berichtet. Vier Männer

wurden im Zusammenhang mit dem Überfallfestgenommen. Die Untersuchungen waren bisEnde Dezember 2012 noch nicht abgeschlos-sen.

FrauenrechteIm September 2012 wurde ein Gesetz verab-schiedet, das Belästigung und politische Ge-walt gegen Frauen unter Strafe stellt. Das vonFrauenorganisationen begrüßte Gesetz siehtpräventive Maßnahmen und Sanktionen beiFällen von Belästigung und Gewalt gegenWahlkandidatinnen, gewählte Beamtinnen oderin öffentlichen Institutionen arbeitende Frauenvor.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte Bolivien

im März und im Juni.ÿ Open letter to the authorities of the Plurinational State of Bo-

livia in the context of the dispute concerning the Isiboro Sé-cure Indigenous Territory and National Park (TIPNIS),https://www.amnesty.org/en/library/info/AMR18/002/2012/en

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Bosnien und Herzegowina 85

Bosnien undHerzegowinaAmtliche Bezeichnung: Bosnien und HerzegowinaStaatsoberhaupt: Staatspräsidium mit

turnusgemäß wechselndem Vorsitz, bestehendaus Zeljko Komsic, Nebojsa Radmanovic undBakir Izetbegovic

Regierungschef: Vjekoslav Bevanda (löste imJanuar Nikola Spiric im Amt ab)

Im ganzen Land äußerten sich die großenParteien 2012 vermehrt nationalistisch.Die staatliche Einheit wurde zunehmendinfrage gestellt. Die Institutionen aufgesamtstaatlicher Ebene, darunter dasJustizwesen, waren geschwächt. Diestrafrechtliche Verfolgung von Kriegsver-brechen wurde fortgeführt, doch kamendie Prozesse nur schleppend voran, undes herrschte nach wie vor Straflosigkeit.Vielen zivilen Opfern des Krieges warnoch immer der Zugang zu Gerechtig-keit und Entschädigungen verwehrt.

HintergrundDie wirtschaftliche Situation des Landes ver-schlechterte sich 2012 erheblich. Die Arbeits-losigkeit war hoch, und die damit einhergehen-den sozialen Probleme verschärften sich. ImJanuar wurde ein Kabinett gebildet und im Aprilder Staatshaushalt verabschiedet. Damit war

endlich der Stillstand beendet, der seit den Par-lamentswahlen im Jahr 2010 geherrscht hatte.

Nationalistische Äußerungen führender politi-scher Parteien in den verschiedenen Landes-teilen schwächten die Institutionen auf gesamt-staatlicher Ebene, insbesondere das Justizwe-sen. Verantwortlich dafür waren u. a. die Kom-mentare führender Politiker der RepublikaSrpska (Serbische Republik), die immer häufi-ger eine Abspaltung forderten. Der Hohe Re-präsentant der UN in Bosnien und Herzego-wina, der die Umsetzung des Friedensabkom-mens von Dayton überwacht, teilte im Novem-ber mit, es habe kaum Fortschritte bei der eu-ro-atlantischen Integration des Landes gege-ben, und das Allgemeine Rahmenüberein-kommen für den Frieden, einschließlich derSouveränität und territorialen Integrität vonBosnien und Herzegowina, werde deutlich häu-figer infrage gestellt. Die Arbeit des Parla-ments war aufgrund mangelnden politischenWillens wenig effektiv. Die politische Führungder Republika Srpska verstärkte ihre Kritik amFriedensabkommen von Dayton und äußertesich zunehmend separatistisch. Die Kommu-nalwahlen im Oktober erfüllten nach Ansichtvon Wahlbeobachtern im Großen und Ganzendemokratische Standards.

Die internationale Gemeinschaft hielt ihrePräsenz in Bosnien und Herzegowina auf-recht. Sowohl der EU-Sonderbeauftragte fürBosnien und Herzegowina als auch der HoheRepräsentant der UN nahmen weiterhin ihrejeweiligen Mandate wahr. Die Entscheidung,die EU-Militärpräsenz von 1300 auf 600 Per-sonen zu verringern, wurde zum Teil dadurchkompensiert, dass einige EU-Mitgliedstaatenzusätzliche Reservetruppen im Land statio-nierten.

Internationale Strafverfolgung vonKriegsverbrechenEnde 2012 waren fünf Verfahren wegen Kriegs-verbrechen im Zusammenhang mit Bosnienund Herzegowina vor der Verfahrenskammerdes Internationalen Strafgerichtshofs für dasehemalige Jugoslawien anhängig. Drei weitereFälle befanden sich im Berufungsverfahren.

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86 Bosnien und Herzegowina

ý Das Verfahren gegen den ehemaligen Führerder bosnischen Serben, Radovan Karadzic,wurde fortgesetzt. Im Juni verkündete die Ver-fahrenskammer des Gerichts mündlich ihreEntscheidung, den Antrag auf Freispruch inzehn der insgesamt elf Anklagepunkte abzu-lehnen. Das Gericht sprach Radovan Karadzicjedoch bezüglich des ersten Anklagepunktsfrei, der ihm Völkermord in verschiedenen Or-ten von Bosnien und Herzegowina zwischenMärz und Dezember 1992 zur Last gelegt hatte.Nach Ansicht des Gerichts waren die Beweise»nicht ausreichend, um einen vernünftigenFaktenprüfer zu dem Schluss kommen zu las-sen, dass in diesen Gemeinden ein Völkermordverübt wurde«.ý Im Mai begann das Verfahren gegen denehemaligen Oberbefehlshaber der Armee derRepublika Srpska, Ratko Mladic, der 2011 inSerbien festgenommen und an den Strafge-richtshof für das ehemalige Jugoslawien über-stellt worden war. Er wurde persönlich und alsVorgesetzter in zwei Fällen des Völkermords an-geklagt. Außerdem wurden ihm Verfolgung,Ausrottung, Mord, Deportation, unmenschlicheHandlungen, Terror, widerrechtliche Angriffeauf Zivilpersonen und Geiselnahme zur Last ge-legt.

Innerstaatliche Strafverfolgung vonKriegsverbrechenDie Gerichte in Bosnien und Herzegowina wa-ren 2012 weiterhin damit beschäftigt, den gro-ßen Rückstand bei Verfahren wegen Kriegsver-brechen abzuarbeiten.

Anfang 2012 erhielt das Büro des Staatsan-walts von Bosnien und Herzegowina eineÜbersicht über alle Fälle, die bei den Gerichtenim gesamten Land lagen. Die Liste wurde anden Staatsgerichtshof übergeben, der gemäßden in der Nationalen Strategie zur Strafverfol-gung von Kriegsverbrechen genannten Krite-rien entschied, auf welcher Ebene die Fälleweiterverfolgt werden sollten: auf der Ebenedes Gesamtstaats oder auf der Ebene der Ver-waltungseinheiten Föderation Bosnien undHerzegowina und Republika Srpska.

Nach der Durchsicht von 1271 Fällen wurden

592 (47%) an die Staatsanwaltschaften derVerwaltungseinheiten übergeben. 679 (53%)wurden der Staatsanwaltschaft auf gesamt-staatlicher Ebene zugewiesen. Dies stellte einepositive Entwicklung dar. Zuvor war die Um-setzung der Nationalen Strategie zur Strafverfol-gung von Kriegsverbrechen dadurch verzögertworden, dass die genaue Anzahl der Verfahrennicht erfasst war. Die Gefahr paralleler Unter-suchungen und Strafverfahren auf der Ebenedes Gesamtstaats und der Verwaltungseinhei-ten wurde auf diese Weise ebenfalls erheblichverringert.

Etwa die Hälfte der Fälle war allerdings bereitsvor der Überprüfung und Neuzuordnung seitvielen Jahren bei den Staatsanwaltschaften aufder Ebene der Verwaltungseinheiten anhän-gig. Die Tatsache, dass diesen Staatsanwalt-schaften weitere 120 Fälle übertragen wurden,führte ebenfalls nicht zwangsläufig zu einerschnelleren Bearbeitung.

Die Kammer für Kriegsverbrechen am Staats-gerichtshof von Bosnien und Herzegowinaspielte weiterhin eine zentrale Rolle bei derStrafverfolgung von Verbrechen nach demVölkerrecht. Die Bemühungen des Landes,Kriegsverbrechen zu ahnden, wurden jedochvon hochrangigen Politikern nach wie vor unter-graben. In öffentlichen Äußerungen griffen siedie Justizbehörden an, die sich der Untersu-chung und strafrechtlichen Verfolgung vonKriegsverbrechen widmeten, und leugnetenKriegsverbrechen, einschließlich des Völker-mords von Srebrenica im Juli 1995. Im Februarbeantragte eine Koalitionspartei aus der Repu-blika Srpska, den Staatsgerichtshof und dieStaatsanwaltschaft von Bosnien und Herzego-wina abzuschaffen. Das Parlament von Bosnienund Herzegowina wies die Anträge zurück.Doch gaben führende Politiker weiterhin ent-sprechende öffentliche Stellungnahmen abund beeinträchtigten damit die Arbeit des staat-lichen Justizwesens.

Obwohl mehrere mit Menschenrechtsabkom-men befasste internationale Organe geforderthatten, die Definition von sexueller Gewalt imStrafgesetzbuch den Standards und derRechtsauffassung auf internationaler Ebene an-

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Bosnien und Herzegowina 87

zupassen, nahmen die Behörden keine ent-sprechenden Änderungen vor. Nach dem Straf-gesetzbuch von Bosnien und Herzegowinaaus dem Jahr 2003 muss das Opfer Gewalt odereiner unmittelbaren Bedrohung seines Lebensoder seiner körperlichen Unversehrtheit ausge-setzt sein. Die Umstände eines bewaffnetenKonflikts werden dabei außer Acht gelassen,obwohl dieser eine Zwangssituation darstellt,weshalb ein in diesem Rahmen geäußertes Ein-verständnis zum Geschlechtsverkehr als nich-tig zu betrachten ist.

Auf der Ebene der Verwaltungseinheitenwandten die Gerichte bei der Strafverfolgungvon Verbrechen, die während des Krieges zwi-schen 1992 und 1995 begangen wurden, so-gar weiterhin das Strafgesetzbuch der ehemali-gen Sozialistischen Republik Jugoslawien an.Der UN-Menschenrechtsausschuss wies in sei-nen abschließenden Bemerkungen im No-vember darauf hin, dass dieses Strafgesetz-buch schwerwiegende Lücken aufweise. Soseien darin beispielsweise weder »Verbrechengegen die Menschlichkeit« noch »Befehlsver-antwortung« definiert.

Auf gesamtstaatlicher Ebene existierten zwarMaßnahmen zum Zeugenschutz, bei Gerichts-verfahren auf der Ebene der Verwaltungsein-heiten gab es jedoch keine Maßnahmen zurUnterstützung und zum Schutz von Zeugen –ungeachtet dessen, dass etwa die Hälfte alleranstehenden Prozesse wegen Kriegsverbre-chen auf dieser Ebene angesiedelt war.

Die Behörden legten kein umfassendes Pro-gramm zur Entschädigung der Opfer vonKriegsverbrechen auf.

Rechte von FrauenOpfer von Kriegsverbrechen – sexuelle GewaltVon ihrer Gründung im Jahr 2005 bis zumJahresende 2012 schloss die Kammer fürKriegsverbrechen am Staatsgerichtshof vonBosnien und Herzegowina 29 Verfahren ab, indenen es um Verbrechen sexueller Gewalt wäh-rend des Krieges von 1992 bis 1995 ging. Inzwei weiteren Fällen waren noch Rechtsmittelanhängig. Es gab keine verlässlichen Angabenzur Zahl der Ermittlungen und Strafverfahren

wegen des Kriegsverbrechens der Vergewalti-gung und anderer Formen sexueller Gewalt aufder Ebene des Gesamtstaats und der Verwal-tungseinheiten.

Es wurde kein Gesetz bezüglich der Rechtevon Folteropfern und zivilen Kriegsopfern ver-abschiedet. Auch gab es keine Strategie füreine juristische Aufarbeitung der Vergangen-heit (Übergangsjustiz) und kein Programm fürdiejenigen, die während des Konflikts Opfersexueller Gewalt geworden waren. Alle dieseMaßnahmen hätten es den Überlebenden vonsexueller Gewalt erleichtert, ihr Recht auf Wie-dergutmachung geltend zu machen.

Vielen Überlebenden von Kriegsverbrechender sexuellen Gewalt wurde weiterhin ihrRecht auf Wiedergutmachung vorenthalten. Siewurden als Vergewaltigungsopfer stigmatisiert.Den weiblichen Opfern wurde der Zugang zuadäquater Gesundheitsversorgung verwehrt,selbst dann, wenn sie infolge der Vergewalti-gung gesundheitliche Beschwerden hatten.Nur ein kleiner Teil der Frauen, die unter post-traumatischen Belastungsstörungen litten,hatte die Möglichkeit, psychologische Unter-stützung in Anspruch zu nehmen.

VerschwindenlassenEtwa 10000 Personen, die während des Kriegeszwischen 1992 und 1995 »verschwunden«waren, wurden noch immer vermisst. Das 2004verabschiedete Gesetz über vermisste Perso-nen wurde nicht umgesetzt. Dies stellte die Fa-milien der »Verschwundenen« vor Probleme,da ihnen u. a. ihr Anspruch auf Gerechtigkeitund Entschädigung verwehrt wurde. Der indem Gesetz vorgesehene Fonds zur Unterstüt-zung von Angehörigen vermisster Personenwar noch immer nicht eingerichtet. Zudem wur-den viele Urteile des Verfassungsgerichts vonBosnien und Herzegowina zu Fällen des Ver-schwindenlassens nicht umgesetzt.

DiskriminierungMinderheitenDie Behörden setzten das Urteil des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte vomDezember 2009 nicht um. Es betraf eine Klage

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von Dervo Sejdic, der der Gemeinschaft derRoma angehört, und Jakob Finci, der jüdischerHerkunft ist. Die beiden Männer hatten bean-standet, dass man ihnen das Recht verweigerthabe, für politische Ämter zu kandidieren, weilsie keiner der großen ethnischen Gruppen an-gehörten. Die derzeit geltenden gesetzlichenBestimmungen gestehen nur Angehörigen der»konstitutiven Nationen« (Bosniaken, Kroatenund Serben) das passive Wahlrecht zu. Das Ge-richt sah die Kläger durch die Verfassung unddas Wahlrecht diskriminiert und forderte dieBehörden auf, Abhilfe zu schaffen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen,Transgendern und IntersexuellenObwohl das Antidiskriminierungsgesetz Diskri-minierung aufgrund sexueller Orientierungund Geschlechtsidentität verbietet, existiertekein System, um Fälle von Diskriminierung zuerfassen. Angriffe gegen Lesben, Schwule, Bi-sexuelle, Transgender und Intersexuelle wur-den von staatlicher Seite nicht öffentlich verur-teilt. Gegen die Verantwortlichen für die An-griffe auf die Organisatoren und Teilnehmer desSarajevo Queer Festivals im Jahr 2008 wurdenweder Ermittlungen eingeleitet, noch wurdensie strafrechtlich verfolgt.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Bosnien

und Herzegowina zwischen März und April sowie zwischenOktober und November.

ÿ The right to know: Families still left in the dark in theBalkans, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR05/001/2012/en

ÿ Bosnia and Herzegovina: Stankovic arrest – victims of war-time rape must feel safe to testify, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR63/001/2012/en

ÿ Old crimes, same suffering: No justice for survivors of war-time rape in north-east Bosnia and Herzegovina,http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR63/002/2012/en

ÿ BiH should allow individuals to petition the Committee on En-forced Disappearances, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR63/008/2012/en

ÿ Bosnia and Herzegovina: Families of the victims of genocidecommitted in Srebrenica 17 years ago are still waiting fortruth, justice and reparation, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR63/010/2012/en

ÿ Bosnia and Herzegovina: Submission to the UN HumanRights Committee, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR63/011/2012/en

ÿ When everyone is silent: Reparation for survivors of wartimerape in Republika Srpska in Bosnia and Herzegovina,http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR63/012/2012/en

BrasilienAmtliche Bezeichnung:

Föderative Republik BrasilienStaats- und Regierungschefin: Dilma Rousseff

Das Ausmaß an Gewaltkriminalität bliebhoch. Die Behörden reagierten häufigmit exzessiver Gewaltanwendung undFolter. Junge männliche Afro-Brasilia-ner waren nach wie vor unverhältnismä-ßig oft Opfer von Tötungsdelikten. Esgab Berichte über Folter und andereMisshandlungen in den Haftanstalten,in denen grausame, unmenschliche underniedrigende Bedingungen herrschten.Landarbeiter, indigene Bevölkerungs-gruppen und Quilombola-Gemeinschaf-ten (Nachkommen entflohener Sklaven)

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waren Opfer von Einschüchterungsver-suchen und Angriffen. RechtswidrigeZwangsräumungen in städtischen wieländlichen Regionen boten weiterhin An-lass zur Sorge.

HintergrundAufgrund der Verbesserung der sozioökonomi-schen Lage litten 2012 weniger Menschen un-ter extremer Armut. Dennoch waren Unter-künfte und Lebensgrundlage indigener Ge-meinschaften, landloser Landarbeiter, Fischerund Bewohner städtischer Slums auch weiter-hin durch Investitionsprojekte gefährdet.

Im November wurde Brasilien erneut in denUN-Menschenrechtsrat gewählt. Brasilien kri-tisierte Menschenrechtsverletzungen währenddes bewaffneten Konflikts in Syrien, enthieltsich aber bei der Abstimmung der UN-General-versammlung über eine Resolution, mit derBesorgnis über die Menschenrechtssituationim Iran zum Ausdruck gebracht wurde.

Im Mai verabschiedete das Abgeordneten-haus eine Verfassungsänderung, nach derLandbesitzer, die Sklaven für die Arbeit einset-zen, enteignet werden können. Zum Jahres-ende war die Reform noch zur Genehmigungvor dem Senat anhängig.

StraflosigkeitIm Mai 2012 ernannte Präsidentin Dilma Rous-seff die sieben Mitglieder der im November2011 eingerichteten nationalen Wahrheitskom-mission (Comissão Nacional da Verdade) zurUntersuchung der in den Jahren 1946 bis 1988begangenen Menschenrechtsverletzungen.Die Kommission begann im Laufe des Jahresmit der Anhörung von Zeugen und der Unter-suchung von Dokumenten, es wurden jedochBedenken laut, weil einige Anhörungen unterAusschluss der Öffentlichkeit stattfanden. AlsFolge der Gründung der nationalen Wahrheits-kommission wurden auch in zahlreichen Bun-desstaaten Wahrheitskommissionen einge-richtet, so beispielsweise in Pernambuco, RioGrande do Sul und São Paulo. Es wurden je-doch weiterhin Zweifel daran geäußert, dasseine Strafverfolgung von Verbrechen gegen

die Menschlichkeit überhaupt möglich ist, so-lange das Amnestiegesetz von 1979 in Kraftbleibt. Der Interamerikanische Gerichtshof fürMenschenrechte hatte das Amnestiegesetz2010 für »null und nichtig« erklärt.

Bundesstaatsanwälte leiteten strafrechtlicheVerfahren gegen Angehörige der Sicherheits-behörden ein, die während der Militärregierun-gen (1964–85) für Entführungen verantwort-lich gewesen sein sollen. Die Ankläger argu-mentierten, dass es sich in diesen Fällen um»Dauerdelikte« handele, die nicht unter dasAmnestiegesetz fallen würden.

Öffentliche SicherheitDie Bundesstaaten setzten auch weiterhin re-pressive und diskriminierende Polizeimetho-den zur Bekämpfung der bewaffneten Gewalt-kriminalität ein. Zehntausende Menschen ka-men durch Gewalttaten ums Leben. Dabei wa-ren vor allem im Norden und Nordosten desLandes unverhältnismäßig viele der Opfer jungemännliche Afro-Brasilianer.

In einigen Bundesstaaten sank die Anzahl derTötungen. Häufig war dies die Folge lokalerProjekte für die öffentliche Sicherheit. So führtein der Stadt Rio de Janeiro die Ausdehnungder Befriedungseinheiten der Polizei (Unidadesde Policiamento Pacificadores) auf neue Fave-las (städtische Armenviertel) zu sinkenden Tö-tungsraten.

Im Januar kürzte die Bundesregierung dieMittel für das nationale Projekt für öffentlicheSicherheit (Programa Nacional de SegurançaPública com Cidadania) um fast die Hälfte.Obwohl die Regierung die Umsetzung einigerwichtiger Projekte für mehr Sicherheit ver-sprach, darunter der Plan zur Verhinderung vonGewalt gegen jugendliche Afro-Brasilianer(»Juventude Viva«), gab es Bedenken hinsicht-lich ihrer ausreichenden Ausstattung mit fi-nanziellen Mitteln.

In den Bundesstaaten Rio de Janeiro und SãoPaolo wurden durch Polizeikräfte begangeneTötungen nach wie vor als Todesfälle infolgevon »Widerstand gegen die Staatsgewalt« er-fasst. Wenn überhaupt, wurden trotz vorliegen-der Beweise für exzessive Gewaltanwendung

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und mögliche außergerichtliche Hinrichtungennur wenige dieser Fälle untersucht. Im No-vember verabschiedete der brasilianische Men-schenrechtsrat eine Resolution, in der alleBundesstaaten aufgefordert wurden, Tötungendurch Polizeiangehörige nicht länger als To-desfälle infolge von »Widerstand gegen dieStaatsgewalt« zu erfassen. Des Weiteren for-derte die Resolution eine Untersuchung allerTötungen durch Polizeiangehörige, die Siche-rung von forensischem Beweismaterial und dieregelmäßige Veröffentlichung der Anzahl sol-cher Todesfälle. Zum Jahresende lag die Reso-lution noch der Regierung des BundesstaatsSão Paulo zur Prüfung vor, mit der Perspektive,die Änderungen bei der Erfassung von Tötun-gen durch Polizeiangehörige sowie Maßnah-men zur Tatortsicherung im Jahr 2013 umzu-setzen.

Nachdem die Anzahl der Tötungen im Bun-desstaat São Paulo in den vergangenen achtJahren zurückgegangen war, kehrte sich dieseEntwicklung 2012 um, und es kam zu einemdramatischen Anstieg der Tötungen. ZwischenJanuar und September lag die Rate mit 3539gemeldeten Tötungen um 9,7% höher als imvergleichbaren Vorjahreszeitraum. Auch dieAnzahl getöteter Polizeibeamter stieg drastischan: Allein bis November wurden 90 Angehö-rige der Polizei getötet. Polizei, Wissenschaftlerund Medien führten die gestiegenen Zahlenauf die zunehmenden Zusammenstöße zwi-schen der Polizei und der größten kriminellenBande des Bundesstaats, dem Ersten Kom-mando der Hauptstadt (Primeiro Comando daCapital – PCC), zurück. Zur Bekämpfung derGewalt wurde eine gemeinsame bundesstaat-liche Initiative unter der Leitung eines neu er-nannten Staatssekretärs für öffentliche Sicher-heit angekündigt.ý Im Mai 2012 wurden drei Angehörige derSondereinheit ROTA der Militärpolizei (PolíciaMilitar) festgenommen. Sie wurden beschul-digt, im selben Monat während eines Polizei-einsatzes in Penha im Osten von São Paulo einmutmaßliches Mitglied des PCC außergericht-lich hingerichtet zu haben. Einem Zeugenbe-richt zufolge hatten die Beamten einen der

Verdächtigen festgenommen, ihn geschlagenund in einem Polizeifahrzeug erschossen.

Nach wie vor war die Polizei an Korruptionund kriminellen Aktivitäten beteiligt. Zwar gabes in Rio de Janeiro einige Fortschritte bei derGewährleistung der öffentlichen Sicherheit,doch kontrollierten die Milícias (Milizen aus ak-tiven oder ehemaligen Ordnungskräften) wei-terhin zahlreiche Favelas in der Stadt.ý Im Oktober 2012 sollen Angehörige der MilizLiga da Justiça die Eigentümer eines der inof-fiziellen Busunternehmen der Stadt unterMorddrohungen aufgefordert haben, ihre Tä-tigkeit in vier Stadtgebieten einzustellen. Da-durch wurden bis zu 210000 Menschen fak-tisch vom Verkehrsnetz abgeschnitten. Zu denDrohungen kam es im Zusammenhang mitden Versuchen der Miliz, die Kontrolle über dieBeförderungsdienste im Westen der Stadt zuübernehmen.

Folter und andere MisshandlungenIm Juli 2012 äußerte der UN-Unterausschusszur Verhütung von Folter Besorgnis angesichtsder weit verbreiteten Anwendung von Folterund des Versäumnisses der Behörden, effek-tive Ermittlungen und eine strafrechtliche Ver-folgung zu gewährleisten. Im Rahmen des in-tegrierten Aktionsplans zur Verhütung und Be-kämpfung von Folter (Plano de Ações Integra-das para Prevenção e Combate à Tortura) wur-den seitens der Bundesbehörden und einigerBundesstaaten entsprechende Anstrengungenunternommen. Eine zentrale Rolle spielte da-bei ein noch ausstehendes Bundesgesetz zurEinführung nationaler Stellen zur Verhütungvon Folter gemäß den Bestimmungen des Fa-kultativprotokolls zum UN-Übereinkommengegen Folter. Menschenrechtsgruppen warenjedoch besorgt angesichts einer Gesetzesän-derung, die dem Präsidenten die alleinige Be-fugnis übertrug, die Mitglieder des NationalenAusschusses für die Prävention und Beseiti-gung von Folter zu bestimmen. Dies wurde alsVerstoß gegen die Bedingungen des Fakultativ-protokolls sowie gegen die Prinzipien hinsicht-lich des Status nationaler Menschenrechtsinsti-tutionen (Pariser Prinzipien) gewertet.

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Brasilien 91

Der UN-Unterausschuss zur Verhütung vonFolter lobte die staatlichen Präventivmaßnah-men des Bundesstaats Rio de Janeiro wegender Unabhängigkeit der Auswahlkriterien,ihrer Struktur und ihres Mandats. Es gab jedochBedenken, dass die Maßnahmen möglicher-weise nicht in vollem Umfang finanziert wer-den.

HaftbedingungenDie Zahl der Gefängnisinsassen stieg weiter. Damehr als 200000 Gefängnisplätze fehlten, wa-ren grausame, unmenschliche und erniedri-gende Bedingungen in den Haftanstalten ander Tagesordnung. Im Bundesstaat Amazonaswurden Häftlinge in übel riechenden, überfüll-ten und unsicheren Zellen festgehalten. Frauenund Minderjährige waren in denselben Berei-chen untergebracht wie Männer, und es gabzahlreiche Meldungen über Folterungen, da-runter das Überstülpen von Plastiktüten bis fastzum Ersticken, Schläge und Elektroschocks.Laut diesen Berichten waren zumeist Angehö-rige der bundesstaatlichen Militärpolizei andiesen Taten beteiligt.

LandkonflikteHunderte von Gemeinschaften mussten unterentsetzlichen Bedingungen leben, da die Be-hörden es versäumten, der Durchsetzung ihresverfassungsrechtlichen Anspruchs auf Landnachzukommen. Landrechtsaktivisten und Ge-meinschaftssprecher wurden bedroht, ange-griffen und getötet. Indigene und Quilombola-Gemeinschaften waren besonders gefährdet,häufig im Zusammenhang mit Investitionspro-jekten.

Die Veröffentlichung eines umstrittenen Be-schlusses (Portaria 303) durch das Büro derGeneralstaatsanwaltschaft im Juli sorgte fürProteste der indigenen Bevölkerung und vonNGOs in ganz Brasilien. Der Beschluss sah dieMöglichkeit der Errichtung von Bergbau-,Wasserkraft- und militärischen Anlagen auf in-digenem Land ohne vorherige freiwillige undin Kenntnis der Sachlage gegebene Zustim-mung seitens der betroffenen Gemeinden vor.Ende 2012 war der Beschluss in Erwartung

einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofsausgesetzt.

Dem Kongress lag zum Jahresende eine Ver-fassungsänderung vor, mit der die Verantwor-tung für die Demarkation des Landes indigenerund Quilombola-Gemeinschaften von staat-lichen Institutionen an den Nationalkongressübergeben würde. Es wurden Bedenken laut,die Verfassungsänderung könne im Falle ihrerVerabschiedung zu einer Politisierung des De-markationsprozesses und einer Gefährdungverfassungsrechtlicher Schutzmaßnahmenführen.

Auch weiterhin wirkten sich Entwicklungspro-jekte nachteilig auf indigene Gemeinschaftenaus. Jahrelange Bemühungen, angestammtesindigenes Land auszuweisen und zu demar-kieren, machten nach wie vor keine Fort-schritte.ý Trotz zahlreicher Rechtsklagen und Protestewurde der Bau des Staudamms Belo Monte imBundesstaat Pará 2012 fortgesetzt. Im Augustwaren die Bauarbeiten zwischenzeitlich ge-stoppt worden, nachdem ein Bundesgericht zudem Urteil gelangt war, die indigene Bevölke-rung sei nicht angemessen konsultiert worden.Dieses Urteil wurde vom Obersten Gerichtshofjedoch wieder aufgehoben.

Im Bundesstaat Mato Grosso do Sul warenGemeinschaften der indigenen Guarani-Kaiowá nach wie vor Einschüchterungsversu-chen, Gewalt und der Gefahr ausgesetzt, vonihrem angestammten Land vertrieben zu wer-den.ý Im August 2012 wurde die Guarani-Kaiowá-Gemeinschaft Arroia-Korá von bewaffnetenMännern angegriffen, nachdem sie sich wiederauf ihrem angestammten Land in Mato Grossodo Sul angesiedelt hatte. Die Männer verbrann-ten Erntepflanzen, stießen lautstarke Be-schimpfungen aus und gaben Schüsse ab. Au-genzeugen zufolge entführten die MännerEduardo Pires. Über seinen Verbleib war auchzum Jahresende noch nichts bekannt.ý Angesichts eines Räumungsbefehls verfasstedie Gemeinschaft der Pyelito Kue/Mbarakayin Mato Grosso do Sul im Oktober einen offenenBrief an die brasilianische Regierung und die

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Justiz. Darin klagte sie, dass sie sich quasi ineinem Belagerungszustand befinde, umgebenvon bewaffneten Männern und ohne angemes-senen Zugang zu Lebensmitteln und medizini-scher Versorgung. Im Oktober wurde eine Frauder Pyelito Kue /Mbarakay mehrfach von achtbewaffneten Männern vergewaltigt und an-schließend zu der Gemeinschaft befragt. Inder darauffolgenden Woche hob ein Bundesge-richt den Räumungsbefehl bis zum Vorliegeneines anthropologischen Fachberichts auf, indem das angestammte Land der Gemein-schaft offiziell ausgewiesen werden soll.

Gemeinschaften der Quilombolas, die für dieihnen laut Verfassung zustehenden Land-rechte kämpfen, mussten weiter mit Gewaltdurch bewaffnete, von Landbesitzern ange-heuerte Wachleute leben, die ihnen zudem mitVertreibung drohten. Im Bundesstaat Maran-hão blieb die Lage kritisch. Hier wurden min-destens neun Gemeinschaften Opfer gewalttä-tiger Einschüchterungsversuche und zahlrei-che Gemeinschaftssprecher mit dem Tod be-droht.ý Im November wurde die Quilombola-Ge-meinschaft in Santa Maria dos Moreiras in derGemeinde Codó im Bundesstaat Maranhão vonMännern überfallen, die Schüsse auf die Sied-lung abgaben. Der Überfall war Teil eines syste-matischen Versuchs lokaler Landbesitzer, dieGemeinschaft von ihrem Land zu vertreiben.Dabei wandten sie auch Methoden wie dieVernichtung von Erntepflanzen an und spra-chen Morddrohungen gegen Gemeinschafts-sprecher aus.

MenschenrechtsverteidigerAuch im Jahr 2012 wurden Menschenrechts-verteidiger weiterhin wegen ihrer Arbeit be-droht und eingeschüchtert. Besonders gefähr-det waren jene, die gegen wirtschaftliche undpolitische Interessengruppen vorgingen. DieSchutzvorkehrungen für Menschenrechtlerwaren lückenhaft, da das Nationale Programmzum Schutz von Menschenrechtsverteidigernnicht wirksam umgesetzt wurde.ý Nilcilene Miguel de Lima, die sich für dieRechte von Kleinbauern in der Gemeinde Lá-

brea im Bundesstaat Amazonas einsetzt, wurdeim Mai bedroht, geschlagen und aus ihremHaus vertrieben, nachdem sie die illegale Ab-holzung der Wälder in der Region angepran-gert hatte. Sie wurde im Rahmen des Nationa-len Programms zum Schutz von Menschen-rechtsverteidigern unter bewaffneten Schutzgestellt, musste die Region jedoch verlassen,nachdem die Drohungen gegen sie zugenom-men hatten. Seit 2007 wurden mindestenssechs Landarbeiter in der Region bei Landkon-flikten getötet.ý Die Umweltschützerin Laísa Santos Sampaioaus der Siedlung Praia Alta Piranheira in NovaIpixuna im Bundesstaat Pará erhielt weiterhinMorddrohungen. Die Drohungen begannen imAnschluss an die Ermordung ihrer SchwesterMaria do Espírito Santo da Silva und ihresSchwagers José Cláudio Ribeiro da Silva durchAuftragsmörder im Mai 2011. Ende 2012 hatteman ihr wegen der mangelnden Umsetzungdes staatlichen Schutzprogramms noch im-mer keinen bewaffneten Schutz an die Seite ge-stellt.ý In Magé im Bundesstaat Rio de Janeiro er-hielten der Präsident des örtlichen Fischerei-verbandes (Associação de Homens e Mulheresdo Mar – AHOMAR), Alexandre Anderson deSouza, und seine Frau Daize Menezes eineReihe von Morddrohungen. AHOMAR setztsich gegen den Bau einer petrochemischenRaffinerie in der Guanabara-Bucht in Rio deJaneiro ein. Ende Juni 2012 wurden dieLeichen von zwei Fischern und Mitgliedernvon AHOMAR, Almir Nogueira de Amorim undJoão Luiz Telles Penetra, in der Guanabara-Bucht gefunden. Sie waren gefesselt und er-tränkt worden.

Recht auf WohnenIm ganzen Land führten städtische Infrastruk-turprojekte, viele davon in Vorbereitung auf dieFußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympi-schen Spiele 2016 in Rio, während des gesam-ten Jahres zu rechtswidrigen Zwangsräumun-gen von Familien. Die Räumungen wurdendurchgeführt, ohne dass die Bewohner recht-zeitig und umfassend über die Regierungspro-

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jekte in ihren Gemeinden informiert wurden.Ebenso versäumten es die Behörden, ergeb-nisorientierte Verhandlungen mit den Gemein-den über mögliche Alternativen zur Räumungzu führen und im Bedarfsfall angemessene Ent-schädigungen oder alternative Unterkünfte inder Umgebung bereitzustellen. Stattdessenwurden Familien in weit entfernten, unzurei-chenden Unterkünften untergebracht, die häu-fig in Gegenden mit schwerwiegenden Sicher-heitsproblemen liegen und in denen sie nur ein-geschränkten Zugang zu grundlegenden Ver-sorgungsleistungen haben.ý In Providência im Zentrum von Rio de Janeirowurden im Berichtsjahr 140 Häuser im Rah-men eines städtischen Erneuerungsprojekts imHafengebiet abgerissen. Insgesamt sollen hieretwa 800 Häuser abgerissen werden.

Einige der betroffenen Gemeinschaften wur-den weit entfernt von ihren ursprünglichenWohnorten, im westlichen Teil von Rio deJaneiro, untergebracht, wo viele Gebiete vonMilícias beherrscht werden. Familien, die inSiedlungen in den Stadtteilen Cosmos, Rea-lengo und Campo Grande wohnen, berichtetenvon Drohungen und Schikanierungen durchAngehörige der Milícias und dass einige vonihnen gezwungen worden seien, ihre Woh-nung zu verlassen.ý Im Januar 2012 wurden über 6000 Personenaus der als Pinheirinho bekannten Gegend inder Stadt São José dos Campos im BundesstaatSão Paulo vertrieben, wo sie zum Teil bereitsseit 2004 gelebt hatten. Bei der rechtswidrigenZwangsräumung setzte die Polizei Hunde, Trä-nengas und Gummigeschosse ein. Die Räu-mung erfolgte trotz der Aussetzung des Räu-mungsbefehls und noch während mit der Re-gierung des Bundesstaats wegen einer Lösungverhandelt wurde, die es den Bewohnern er-möglichen sollte zu bleiben. Die Bewohnerwaren vorher nicht über die geplante Räumungbenachrichtigt worden und erhielten auchnicht genügend Zeit, um ihr Hab und Gut ausden Häusern zu retten. Die Behörden stelltenden Bewohnern keine angemessenen Alterna-tivunterkünfte bereit, sodass die meisten vonihnen am Jahresende unter erniedrigenden Be-

dingungen in Behelfsunterkünften und ande-ren informellen Siedlungen lebten.

In der Stadt São Paulo wurde eine parlamen-tarische Untersuchung eingeleitet, um diehohe Anzahl von Bränden aufzuklären, die eineReihe von Favelas, von denen viele an wohl-habende Stadtteile grenzten, zerstört hatten. ImSeptember waren 1100 Personen nach demBrand der Favela Morro do Piolho obdachlos.Im November verloren 600 Personen ihre Un-terkünfte, nachdem ein Feuer die Favela Ara-cati zerstört hatte. Etwa 400 Personen wurdenim Juli durch ein Feuer in der Favela Humaitáobdachlos. Bewohner der Favela Moinho klag-ten, die Polizei habe sie am Wiederaufbau derHäuser gehindert, die im September beieinem Brand zerstört worden waren.

Rechte von FrauenDie sexuellen und reproduktiven Rechte vonFrauen waren 2012 nach wie vor gefährdet.

Im März sprach das oberste brasilianischeGericht (Superior Tribunal de Justiça) einenMann frei, dem die Vergewaltigung von dreizwölfjährigen Mädchen vorgeworfen wurde,mit der Begründung, die Mädchen seien Sex-arbeiterinnen gewesen. Das Urteil, das natio-nal und international für Empörung sorgte,wurde im August vom selben Gericht aufgeho-ben.

Amnesty International: Missionþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte den

Bundesstaat Amazonas im März zur Untersuchung vonMisshandlungen in Haft.

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94 Bulgarien

BulgarienAmtliche Bezeichnung: Republik BulgarienStaatsoberhaupt: Rossen Plewneliew (löste im

Januar Georgi Parwanow im Amt ab)Regierungschef: Bojko Borissow

Roma wurden auf Gebieten wie Bildung,Arbeit, Gesundheitsversorgung undWohnen unvermindert diskriminiert. DieHaftbedingungen blieben hinter inter-nationalen Menschenrechtsstandards zu-rück. Homophobe Gewalt war nach wievor verbreitet.

Diskriminierung von RomaIm Januar 2012 äußerte sich der UnabhängigeUN-Experte für Minderheiten besorgt darüber,dass Roma in zentralen Bereichen wie Bildung,Arbeit, Gesundheitsversorgung und Wohnenunverändert am unteren Ende der soziökono-mischen Leiter verblieben. Nach wie vor wa-ren Roma kaum vor rechtswidrigen Zwangsräu-mungen geschützt.ý Am 24. April entschied der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte im Fall Yorda-nova et al. gegen Bulgarien, dass die geplanteVertreibung einer Roma-Gemeinschaft von in-formell besetzten Grundstücken in Batalova Vo-denica deren Rechte auf Privat- und Familien-leben verletzen würde. Der Gerichtshof kriti-sierte Gesetze, die summarische willkürlicheVertreibungen zulassen.

ý Am 26. Juli stellte die Bürgermeisterin derHauptstadt Sofia in einem Interview mit derZeitung Standard in Bezug auf Roma-Siedlun-gen fest, dass »illegale Siedlungen abgerissenwerden müssen und Leute aus anderen Lan-desteilen zurückgeschickt werden sollten, dasie hier keine Wohnungen haben oder in illegalerrichteten Bauten leben«. Die Bürgermeiste-rin erklärte Berichten zufolge, dass ähnlicheMaßnahmen in den Stadtbezirken Ljulin undWasraschdane ergriffen worden seien undman diese Herangehensweise auch in Bezugauf andere Siedlungen in Sofia praktizierenwerde.ý Im November erließ der UN-Menschen-rechtsausschuss im Fall Liliana Naidenova etal. gegen Bulgarien eine dauerhafte Verfügung,um die Zwangsräumung der Gemeinschaftvon Dobri Jeliazkov zu verhindern. Die Gemein-schaft ist seit 70 Jahren in der Stadt beheima-tet und war im Juli 2011 unmittelbar von derVertreibung bedroht. Der Ausschuss wies dieBehörden an, die Gemeinschaft nicht zu ver-treiben, bevor eine Einigung über alternativenWohnraum erzielt wurde.ý Im Oktober entschied der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte im Fall Yotovagegen Bulgarien, dass Bulgarien die Rechte aufLeben und Diskriminierungsfreiheit einer Ro-ma-Frau verletzt hatte. Die Behörden hatten esversäumt, eine effektive Untersuchung des1999 an ihr verübten Mordversuchs vorzuneh-men, durch den sie seither schwerbehindertist. Die Behörden gingen außerdem nicht derFrage nach, ob das Verbrechen rassistischund ethnisch motiviert war, obwohl man vonethnischen Spannungen im Herkunftsort derKlägerin, dem Dorf Aglen, Kenntnis hatte.

Folter und andere MisshandlungenIm Dezember kritisierte der Europäische Aus-schuss zur Verhütung von Folter und un-menschlicher oder erniedrigender Behandlungoder Strafe die in Berichten beschriebenenHaftbedingungen und Misshandlungen in bul-garischen Strafanstalten.ý Im Januar 2012 entschied der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte im Fall Sha-

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Bulgarien 95

hanov gegen Bulgarien, dass ein sieben Jahrelang in Warna inhaftierter Mann aufgrundmangelhafter sanitärer Einrichtungen un-menschlicher und erniedrigender Behandlungausgesetzt war.ý Im Januar erklärte der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte im Fall Stanev gegenBulgarien, dass Bulgarien im Fall eines Man-nes, der seit 2002 unter unmenschlichen Be-dingungen in einer psychiatrischen Einrichtungleben musste, sechs Artikel der EuropäischenMenschenrechtskonvention verletzt habe, da-runter das Recht auf Freiheit und Sicherheit,das Verbot von Folter sowie unmenschlicherund erniedrigender Behandlung und dasRecht auf ein faires Gerichtsverfahren.

Flüchtlinge und AsylsuchendeAsylsuchende waren beim Zugang zu interna-tionalem Schutz nach wie vor mit Hindernis-sen konfrontiert.ý Im Mai 2012 erklärte der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte, dass Bulgariendas Recht des iranischen Staatsbürgers Mo-hammad Madah auf einen wirksamen Rechts-behelf verletzt habe und bei einer Abschiebungin den Iran sein Recht auf Familienleben ver-letzen würde. Der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte stellte fest, dass sein Aus-weisungsbescheid von 2005 auf der in eineminternen Dokument des Nationalen Sicher-heitsdienstes enthaltenen Feststellung beruhte,Mohammad Madah handele mit Drogen, umeine terroristische Organisation zu finanzieren.Zudem wurde er in dem Dokument als natio-nales Sicherheitsrisiko bezeichnet. Der Euro-päische Gerichtshof für Menschenrechte er-klärte, der Antragsteller und seine Familie hät-ten nicht den Mindestschutz vor willkürlicherAbschiebung erhalten.ý Am 11. September 2012 bewilligte das Beru-fungsgericht in Weliko Tarnowo die Ausliefe-rung von Mukhad Gadamouri an die RussischeFöderation, wo ihm Terrorismus, Waffenhan-del und die Mitgliedschaft in einer bewaffnetenGruppierung zur Last gelegt werden, obwohlihm von einem anderen EU-MitgliedstaatFlüchtlingsstatus gewährt worden war. Ende

2012 drohte Mukhad Gadamouri noch immerdie Auslieferung. Er legte beim EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte Rechtsmittelein, woraufhin dieser eine einstweilige Verfü-gung gegen seine Auslieferung erließ, bis überden Fall entschieden ist.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenHomophobe Parolen in der Öffentlichkeit undGewalttaten waren nach wie vor verbreitet. Diebulgarischen Gesetze sehen derzeit keine Stra-fen wegen Hassverbrechen vor, die aufgrundder sexuellen Orientierung oder der geschlecht-lichen Identität verübt werden.ý Am 30. Juni 2012 verlief die fünfte Sofia-Pri-de-Parade ohne Zwischenfälle, obwohl Geg-ner der Veranstaltung zu massiver Gewalt ge-gen Teilnehmer und Unterstützer aufgerufenhatten und sich die Bulgarische Orthodoxe Kir-che und die Heilige Synode diskriminierendgeäußert hatten. Die rechtsextreme BulgarischeNationale Union hielt ein paar Stunden vor derPride-Parade eine Gegendemonstration ab.ý Vier Jahre nach dem Mord an Mihail Stoya-nov im Borisowa-Park in Sofia und mehrereMonate nach Ende der Ermittlungen wurden imDezember 2012 zwei Tatverdächtige ange-klagt, den 25-jährigen Medizinstudenten er-mordet zu haben. Dem Vernehmen nach ge-hörten sie zu einer Gruppe, die behauptete, siewürde den Park von schwulen Männern »säu-bern«.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Bulgarien

im März und im Juni.ÿ Changing laws, changing minds: Challenging homophobic

and transphobic hate crimes in Bulgaria,http://amnesty.org/en/library/info/EUR15/001/2012/en

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Burkina FasoAmtliche Bezeichnung: Burkina FasoStaatsoberhaupt: Blaise CompaoréRegierungschef: Luc Adolphe Tiao

In den Monaten vor den Parlaments- undKommunalwahlen im Dezember 2012kam es zu Demonstrationen und Zusam-menstößen. Auslöser für die Protestewaren die Versuche der Partei von Staats-präsident Blaise Compaoré, die Verfas-sung abzuändern, um ihm eine dritteAmtszeit zu ermöglichen. Bis zu100000 Menschen suchten wegen derKrise in Mali im Norden von BurkinaFaso Schutz. In den Flüchtlingslagernfehlte es am Notwendigsten, und es gabkeine medizinische Versorgung.

Folter und andere MisshandlungenIm Januar 2012 wurden Moumouni Isaac Zongound Ousséni Compaoré, die wegen des Ver-dachts auf Diebstahl festgenommen wordenwaren, von Angehörigen der Einheit für Ver-brechensbekämpfung der Nationalpolizei inBoulmiougou misshandelt.

Im Februar misshandelten Leibwächter des

Ministers für Justiz und die Förderung derMenschenrechte, Jérôme Traoré, einen Mecha-niker, mit dem es zuvor zu einem Streit ge-kommen war. Der Minister wurde wenige Tagespäter entlassen.

Recht auf Gesundheit –MüttersterblichkeitDie Behörden räumten auch 2012 der Mütter-und Kindersterblichkeit Priorität ein. Bei derBewertung von geeigneten Maßnahmen, mitdenen der Zugang zu Gesundheitsleistungenfür Kinder unter fünf Jahren und in einem ge-wissen Umfang auch für Frauen verbessertwerden soll, arbeiteten sie mit zivilgesellschaft-lichen Organisationen zusammen. ErkennbareVerbesserungen hinsichtlich der Qualität vonGesundheitsleistungen für Mütter oder desZugangs zu Maßnahmen der Familienplanungund Verhütung wurden jedoch nicht erzielt.

StraflosigkeitDas Parlament verabschiedete im Juni 2012 einAmnestiegesetz für Staatsoberhäupter, mitdem die Straflosigkeit festgeschrieben wurde.

Amnesty International: Berichtÿ Burkina Faso: La compétence universelle pour mettre fin

à l’impunité (AFR 60/001/2012)

BurundiAmtliche Bezeichnung: Republik BurundiStaats- und Regierungschef: Pierre Nkurunziza

Das Land verharrte weiterhin in Straflo-sigkeit; die Regierung unterließ es, dieaußergerichtlichen Hinrichtungen derVorjahre vollständig zu untersuchenund strafrechtlich zu verfolgen. Vielver-sprechende Anzeichen dafür, dass dieRegierung 2012 eine Wahrheits- undVersöhnungskommission einsetzen

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würde, lösten sich im Verlauf des Jahresin nichts auf. Menschenrechtsverteidi-ger und Journalisten waren aufgrundihrer Aktivitäten Repressalien ausge-setzt.

HintergrundDie Regierungspartei Conseil National pour laDéfense de la Démocratie – Forces pour la Dé-fense de la Démocratie (CNDD-FDD) konntedas Land regieren, ohne auf die schwache Op-position Rücksicht nehmen zu müssen. Einenzielführenden Dialog zwischen der Regie-rungspartei und dem Oppositionsbündnis ADC-Ikibiri, das die Wahlen 2010 boykottiert hatte,gab es nicht.

Als Reaktion auf die steigenden Lebenshal-tungskosten organisierte die burundische Zi-vilgesellschaft eine landesweite Kampagne, umdie Regierung für ihre Wirtschaftspolitik zurRechenschaft zu ziehen.

StraflosigkeitUN-Menschenrechtsbeobachter verzeichnetenim Berichtsjahr 30 außergerichtliche Hinrich-tungen. Die Zahl war niedriger als in den Jahren2010 und 2011, in denen insgesamt 101 Fällegemeldet worden waren. Die meisten Fälleim Jahr 2012 waren dem Anschein nach nicht

politisch motiviert; die herrschende Straflosig-keit verhinderte jedoch auch hier eine straf-rechtliche Verfolgung.

Der Leiter der Anklagebehörde setzte im Juni2012 eine Untersuchungskommission ein. Siehatte den Auftrag, Vorwürfen über außerge-richtliche Hinrichtungen und Folterungennachzugehen, die nationale und internationaleMenschenrechtsorganisationen sowie die UNerhoben hatten. In dem im August veröffent-lichten Kommissionsbericht hieß es zwar, dasses zu Tötungen gekommen sei, doch wurdeverneint, dass es sich dabei um außergericht-liche Hinrichtungen gehandelt habe. Laut demBericht hatte man in einigen von Menschen-rechtsorganisationen gemeldeten Fällen straf-rechtliche Ermittlungen eingeleitet. Nach demBericht wurden zwei Polizisten, ein Armeema-jor, ein Mitarbeiter der Lokalverwaltung undmehrere Imbonerakure (Mitglieder der Jugend-organisation der Regierungspartei) festgenom-men. Gerichtsverfahren fanden jedoch nichtstatt. Die Befürchtung blieb bestehen, dassnicht alle Täter zur Rechenschaft gezogen wor-den waren.

Wahrheit und VersöhnungBei der Untersuchung und Aufklärung der gra-vierenden Menschenrechtsverletzungen, diezwischen 1962 und 2008 in Burundi verübtworden waren, gab es keine Fortschritte. Einüberarbeiteter Gesetzentwurf zur Schaffungeiner Wahrheits- und Versöhnungskommis-sion wurde dem Parlament vorgelegt, dort je-doch nicht behandelt.

Der Gesetzentwurf enthielt kein ausdrück-liches Amnestieverbot für Verbrechen wieVölkermord, Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit, Kriegsverbrechen, Verschwindenlas-sen und außergerichtliche Hinrichtungen. Ersah außerdem für den Sondergerichtshof, derder Wahrheits- und Versöhnungskommissionals strafrechtlicher Mechanismus nachgeord-net werden sollte, keinen unabhängigen An-kläger vor, der in von der Kommission an dasGericht überwiesenen wie auch in neuen Fällenermitteln und diese strafrechtlich verfolgenkönnte.

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JustizsystemDa die Einstellungsverfahren des Justizministe-riums für Richter weder öffentlich noch trans-parent waren, wurden immer wieder Vorwürfelaut, dass dabei Korruption und politische Par-teilichkeit eine Rolle spielten. Laut Gesetz mussdas Justizministerium ein Bewerbungsverfah-ren mit Aufnahmeprüfungen organisieren unddie Bewerber danach auswählen.

Das Justizsystem war nach wie vor schwachund stand unter dem Einfluss der Politik.Außerdem unternahmen die Behörden nichts,um Personen vor Gericht zu stellen, die fürMenschenrechtsverletzungen verantwortlichwaren.ý Im Mai 2012 erging in dem Prozess gegen dieTäter des 2009 ermordeten Menschenrechts-verteidigers und Korruptionsbekämpfers ErnestManirumva ein Urteil, das jedoch keine Ge-rechtigkeit zu schaffen vermochte. Die Anklageignorierte den Rat der US-Bundespolizei FBI,hochrangige Angehörige der Polizei und desGeheimdienstes, die von Zeugen mit demMord in Verbindung gebracht wurden, zu ver-hören und von ihnen DNA-Proben zu nehmen.Die Entscheidung des Berufungsgerichts in derHauptstadt Bujumbura war Ende des Jahresnoch anhängig.

Recht auf freie Meinungsäußerung –Journalisten undMenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger und Journalistenberichteten, dass sie von den Behörden schi-kaniert und eingeschüchtert wurden.ý Im Februar 2012 wurde Faustin Ndikumana,der Vorsitzende der Organisation Wort und Tatfür Gewissens- und Bewusstseinsbildung (Pa-role et Action pour le Réveil des Conscienceset l’Evolution des Mentalités) festgenommen,nur weil er von seinem Recht auf freie Mei-nungsäußerung Gebrauch gemacht hatte. Erwurde zwei Wochen in Gewahrsam gehaltenund kam dann gegen Auflagen frei. Er hattesich vor den Medien geäußert, nachdem erden Justizminister in einem Schreiben aufge-fordert hatte, die Korruption beim Einstel-lungsverfahren von Richtern zu untersuchen

und ihr ein Ende zu setzen. Im Juli befand ihndas für Korruptionsfälle zuständige Gericht we-gen falscher Behauptungen für schuldig.Faustin Ndikumana wurde zu fünf Jahren Haftund der Zahlung einer Geldstrafe von 500000burundischen Francs (etwa 333 US-Dollar) ver-urteilt. Das Urteil war Ende 2012 noch nichtvollstreckt worden.

Es gab Gesetzentwürfe, welche die Rechteauf freie Meinungsäußerung und auf Vereini-gungsfreiheit bedrohen könnten, falls sie in deraktuellen Fassung Rechtskraft erlangen soll-ten. Der Entwurf für ein Gesetz über Demons-trationen und öffentliche Versammlungenwürde den Behörden unverhältnismäßig hoheBefugnisse zur Auflösung öffentlicher Zusam-menkünfte einräumen. Der Entwurf für dieNeufassung des Pressegesetzes beinhaltetBestimmungen, nach denen Journalisten un-ter bestimmten Umständen zur Offenlegungihrer Quellen gezwungen werden können.Weitere Vorschriften sehen eine exzessive Re-gulierung der Presse durch den Staat undextrem hohe Geldstrafen für Journalisten vor,die gegen das Gesetz und das Strafgesetzbuchverstoßen.

HaftbedingungenDie hygienischen Zustände in den Gefängnis-sen waren katastrophal. Bei Tausenden vonInhaftierten handelte es sich um Untersu-chungshäftlinge.

Am 25. Juni 2012 erließ Präsident Pierre Nku-runziza ein Dekret, mit dem er Inhaftierte be-gnadigte, die eine Haftstrafe von bis zu fünfJahren verbüßten. Von der Begnadigung aus-genommen waren Personen, die wegen Verge-waltigung, bewaffneten Raubes, Bandenrau-bes, illegalen Besitzes von Schusswaffen oderder Gefährdung der Staatssicherheit einsaßen.Das Dekret galt auch für Schwangere, stillendeMütter, Häftlinge, die 60 Jahre und älter wa-ren, für Jugendliche unter 18 Jahren, die nochnicht vor Gericht gestellt worden waren, sowiefür unheilbar kranke Inhaftierte. Allen anderenHäftlingen wurde die Hälfte der Strafe erlas-sen. Im April saßen 10567 Häftlinge in elf Ge-fängnissen ein, die insgesamt nur für 4050 In-

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sassen ausgelegt waren. Ende Dezember 2012lag die Zahl der Häftlinge nur noch bei 6581Personen.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Burundi

im Mai.ÿ Burundi: Free activist who spoke out – Faustin Ndikumana

and further information, http://www.amnesty.org/es/library/info/AFR16/001/2012/en

ÿ Burundi: Time for change – A human rights review: Submis-sion to the UN Universal Periodic Review,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR16/003/2012/en

ÿ Burundi: Verdict in activist’s killing fails to deliver justice,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/burundi-verdict-activist-s-killing-fails-deliver-justice-2012-05-23

ChileAmtliche Bezeichnung: Republik ChileStaats- und Regierungschef:

Sebastián Piñera Echeñique

Die Konsultation der indigenen Völkerüber Projekte, die sie betrafen, bliebweiter unzureichend. Es wurde ein Ge-setz zur Verhinderung und Bestrafungvon Diskriminierung verabschiedet. DiePolizei reagierte auf mehrere Protest-kundgebungen mit exzessiver Gewalt.Die Strafverfahren wegen Menschen-rechtsverletzungen in der Vergangenheitwurden fortgesetzt.

HintergrundDas ganze Jahr über fanden zum Teil von Ge-walt begleitete Demonstrationen wegen Refor-men des staatlichen Bildungswesens, Rechtender indigenen Völker und der Lebenshaltungs-kosten statt.

Ein Entwurf für ein Gesetz über die öffentlicheOrdnung gab Anlass zu der Sorge, dass sozialeProteste kriminalisiert werden könnten. Ende

2012 hatte der Kongress das Gesetz nochnicht verabschiedet.

Polizei und SicherheitskräfteBei Protesten gegen das Versäumnis der Regie-rung, die wirtschaftlichen Probleme anzuge-hen, blockierten Einwohner der patagonischenRegion Aysén im Februar Straßen und errich-teten Barrikaden. Die Polizei setzte Tränengas,Gummigeschosse und Wasserwerfer ein, umdie Protestierenden zu zerstreuen, dabei wur-den mehrere Personen verletzt.

Misshandlungen durch die Polizei bei denlandesweiten Bildungsprotesten in den Jahren2011 und 2012 – darunter auch sexuelle Gewaltgegen Frauen und Mädchen – blieben weitge-hend ungeahndet.

DiskriminierungIm Juli 2012 trat das Gesetz gegen Diskriminie-rung in Kraft. Es verbietet Diskriminierung auf-grund von Rasse, ethnischer Zugehörigkeit, Re-ligion, sexueller Orientierung, Geschlechts-identität, Alter, Aussehen und Behinderung.Das Gesetz wurde nach dem brutalen Mord anDaniel Zamudio im März verabschiedet. Er warvermutlich wegen seiner Homosexualität er-schlagen worden. Die Ermittlungen zu seinerErmordung waren Ende des Jahres noch nichtabgeschlossen.

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Im Februar 2012 sprach der Interamerikani-sche Gerichtshof für Menschenrechte ein pro-grammatisches Urteil gegen eine Entscheidungdes Obersten Gerichtshofs von 2003, mit dereiner lesbischen Mutter aufgrund ihrer sexuel-len Orientierung das Sorgerecht für ihre dreiTöchter entzogen worden war.

StraflosigkeitNach einem Besuch in Chile im August be-grüßte die UN-Arbeitsgruppe zur Frage desVerschwindenlassens von Personen Fort-schritte bei der Untersuchung von Menschen-rechtsverletzungen während der Regierung vonGeneral Augusto Pinochet (1973–90). Sie äu-ßerte sich jedoch auch besorgt darüber, dassaufgrund der Kürze der verhängten Strafennur wenige der verurteilten Täter tatsächlicheine Haftstrafe verbüßten. Die Arbeitsgruppeforderte außerdem die Aufhebung des Amnes-tiegesetzes von 1978 sowie ein staatliches Pro-gramm für die Suche nach den »Verschwunde-nen« und die Bereitstellung zusätzlicher Res-sourcen zwecks Beschleunigung der strafrecht-lichen Verfahren.

Im Zusammenhang mit dem Mord an demSänger und Songschreiber Víctor Jara wenigeTage nach dem Militärputsch, mit dem GeneralPinochet 1973 an die Macht kam, ordnete einRichter im Dezember die Festnahme von achtfrüheren Militärangehörigen an.

Laut offiziellen Angaben vom August 2012 wa-ren seit 2002 die Gerichtsverfahren in 150 Fäl-len von Menschenrechtsverletzungen der Ver-gangenheit abgeschlossen worden. In 133 die-ser Fälle war es zu Verurteilungen gekommen.

Rechte indigener VölkerIm April 2012 bestätigte der Oberste Gerichts-hof die Entscheidung eines Berufungsge-richts, ein Bergbauprojekt im Norden Chiles zustoppen, bis im Einklang mit Übereinkommen169 der Internationalen Arbeitsorganisation(ILO) die lokale indigene Gemeinschaft dazukonsultiert worden sei.

Im August lehnte die Mehrheit der Sprecherder indigenen Völker das Vorhaben der Regie-rung ab, das heftig kritisierte Dekret von 2009

über die Konsultation mit den indigenen Völ-kern zu ersetzen. Sie wandten ein, dass dieneuen Regelungen nicht mit den internationa-len Standards für eine effektive Beteiligungübereinstimmten. Im November äußerte sichder UN-Sonderberichterstatter für die Rechteder indigenen Völker besorgt über die Defini-tion von »Konsultation« im Vorschlag der Regie-rung.

Erneut gab es Vorwürfe wegen exzessiver Ge-waltanwendung und willkürlichen Festnah-men bei Polizeieinsätzen gegen Gemeinschaf-ten des indigenen Volks der Mapuche. Außer-dem gingen Berichte über unfaire Gerichtsver-fahren gegen Angehörige der Mapuche ein.Bei Zusammenstößen mit den Sicherheitskräf-ten wurde im April ein Polizeibeamter getötet.ý Im Juli 2012 wurden mehrere Angehörige derMapuche-Temucuicui-Gemeinschaft, darun-ter auch Kinder, verletzt, als die Polizei Gummi-geschosse und Tränengas einsetzte, um sievon Land zu vertreiben, das sie im Zuge derKampagne für die Rückgabe ihres ange-stammten Territoriums in Ercilla (Region Arau-kanien) besetzt hatten.ý Im Oktober 2012 beendeten vier im Gefäng-nis von Angol inhaftierte Mapuche ihren 60-tä-gigen Hungerstreik, nachdem der Oberste Ge-richtshof einem der Männer eine neue Ver-handlung zugesichert und gegen einen ande-ren ein geringeres Strafmaß verhängt hatte –seine Strafe wurde von zehn Jahren Haft aufdrei Jahre auf Bewährung herabgesetzt. BeideMänner waren zunächst wegen versuchtenMordes an einem Polizisten im Jahr 2011 ver-urteilt worden.ý Im August 2012 sprach ein Militärgerichteinen Polizisten vom Vorwurf des Mordes anJaime Mendoza Collio, einem 24-jährigen Ma-puche, im Jahr 2009 frei. Es gab Bedenkenhinsichtlich der Unparteilichkeit der Ermittlun-gen in dem Fall sowie in Bezug auf die Frageder Zuständigkeit von Militärgerichten für Straf-taten, die von Polizei- und Militärangehörigenan Zivilpersonen verübt werden.

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Sexuelle und reproduktive RechteSchwangerschaftsabbrüche standen weiterhinausnahmslos unter Strafe. Im Oktober 2012forderte der UN-Ausschuss für die Beseitigungder Diskriminierung der Frau (CEDAW-Aus-schuss) Chile auf, seine Gesetzgebung zu über-prüfen und Abtreibung bei Vergewaltigung, In-zest oder Gefahr für Gesundheit und Leben derFrau zu entkriminalisieren.

Amnesty International: Berichtÿ Chile: Carta abierta al Presidente de la República de Chile al

cumplir dos años de su mandato, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR22/001/2012/es

ChinaAmtliche Bezeichnung: Volksrepublik ChinaStaatsoberhaupt: Hu JintaoRegierungschef: Wen Jiabao

Die staatlichen Stellen hielten 2012politisch engagierte Bürger, Menschen-rechtsverteidiger und Internetaktivistenweiterhin fest im Würgegriff, indem sieviele von ihnen drangsalierten, ein-schüchterten, willkürlich in Gewahrsamnahmen oder »verschwinden« ließen.Mindestens 130 Personen wurden inHaft genommen oder mit anderen Be-schränkungen belegt, um im Vorfeld desauf dem 18. Parteikongress der Kommu-nistischen Partei Chinas (KPCh) im No-vember eingeleiteten Führungswechselskritische Stimmen zum Schweigen zubringen und Proteste zu vereiteln. VielenMenschen wurde Gerechtigkeit durchdie Justiz verwehrt, was zur Folge hatte,dass sich Millionen von Bürgern wegenBeschwerden über Ungerechtigkeit, dieihnen widerfahren war, und mit der For-derung nach Wiedergutmachung direkt

an die Regierung wandten, ohne den of-fiziellen Rechtsweg zu beschreiten. Mus-lime, Buddhisten und Christen, die ihreReligion außerhalb der staatlich geneh-migten Bahnen ausübten, sowie Falun-Gong-Anhänger wurden gefoltert, schika-niert, willkürlich inhaftiert, ins Gefäng-nis gesteckt oder mussten andereschwere Beschränkungen ihres Rechtsauf Religionsfreiheit erfahren. Kommu-nalregierungen griffen weiter auf Land-verkäufe zur Finanzierung von Projektender Wirtschaftsförderung zurück, wasim ganzen Land zur rechtswidrigenZwangsräumung von Tausenden Men-schen aus ihren Wohnungen oder zurVertreibung von ihrem Land führte. DieBehörden kündigten weitere Verschär-fungen der juristischen Verfahren in To-desstrafenfällen an; ungeachtet dessenwurden im Berichtsjahr Tausende vonTodesurteilen vollstreckt.

HintergrundIn der KPCh kam es auf dem 18. Parteikongressim November 2012 zum ersten offiziellenWechsel an der Führungsspitze seit zehn Jah-ren. Xi Jinping wurde neuer Parteivorsitzenderund Li Keqiang zur Nummer zwei im Ständi-gen Ausschuss des Politbüros der KPCh. Eswird erwartet, dass die beiden im März 2013Staatspräsident Hu Jintao und Ministerpräsi-dent Wen Jiabao in ihren Ämtern ablösen wer-den.

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JustizwesenDer Staat benutzte das Strafrechtssystem wei-terhin dazu, seine Kritiker zu bestrafen. GegenHunderte von Personen und Gruppen ergingenlangjährige Haftstrafen oder sie wurden in dieLager der Umerziehung durch Arbeit gesteckt,weil sie in friedlicher Weise ihre Rechte auffreie Meinungsäußerung und Gewissensfreiheitwahrgenommen hatten. Häufig wurden Ankla-gen wegen »Gefährdung der Staatssicherheit«,»Anstiftung zur Untergrabung der Staatsge-walt« oder »Preisgabe von Staatsgeheimnis-sen« erhoben und langjährige Gefängnisstra-fen gegen Personen verhängt, weil sie Internet-blogs veröffentlicht oder als sensibel einge-stufte Informationen ins Ausland weitergeleitethatten.

Rechtsanwälte, die in kontroversen Fällentätig wurden, mussten mit Drangsalierungenund Drohungen seitens der Behörden rechnen,und in einigen Fällen wurde ihnen die weitereberufliche Tätigkeit verboten. Dies hatte zurKonsequenz, dass der Zugang der Bürger zueinem gerechten Gerichtsverfahren sehr starkeingeschränkt war.

Verstöße gegen das Recht von Angeklagtenauf ein faires Gerichtsverfahren und gegen an-dere ihrer Rechte waren gängige Praxis, darun-ter der verwehrte Zugang zu Anwälten und Fa-milienangehörigen, Inhaftierungen über dierechtlich zulässige Zeitdauer hinaus sowie Fol-ter und Misshandlung in Gewahrsam. Die An-wendung von Folter zur Erzwingung von Ge-ständnissen war nach wie vor weit verbreitet.

Änderungen der Strafprozessordnung, die imMärz 2012 verabschiedet wurden und am1. Januar 2013 in Kraft treten sollen, seheneinen besseren Schutz für jugendliche undpsychisch kranke Straftatverdächtige und An-geklagte vor. Gleichzeitig wurde die Polizei mitder Gesetzesnovelle nun jedoch zum erstenMal bevollmächtigt, bestimmter Straftaten (da-runter »Gefährdung der Staatssicherheit«) ver-dächtigte Personen bis zu sechs Monate inGewahrsam zu nehmen, ohne die Familien derInhaftierten über den Haftort oder die Gründefür die Festnahme zu unterrichten. Diese Ge-setzesänderung könnte also eine Legalisie-

rung des Verschwindenlassens zur Folge ha-ben.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenDie Polizei beraubte Hunderttausende von Per-sonen ihrer Freiheit, indem sie Administrativ-haft u. a. in Lagern der Umerziehung durch Ar-beit gegen sie verhängte, ohne dass diese sichan unabhängige Gerichte wenden konnten.

Die Behörden unterhielten Hunderte vonHafteinrichtungen, so auch geheime soge-nannte schwarze Gefängnisse und Schulungs-zentren für Rechtserziehung, wo Tausendewillkürlich festgehalten wurden und wo Foltereine gängige Methode zur »Korrektur« oderAbschreckung war und manchmal zum Toddes Opfers führte.ý Der blinde Bürgerrechtler Chen Guangchengaus Shandong und Angehörige seiner Familiewurden gefoltert und anderthalb Jahre inrechtswidrigem Hausarrest gehalten, bis esihnen im April 2012 schließlich gelang, in dieUS-amerikanische Botschaft zu flüchten.Nach einer diplomatischen Auseinanderset-zung durften sie im Mai in die USA ausreisen.ý Der im Juni 2011 aus der Haft entlasseneMenschenrechtsverteidiger und Umwelt-schützer Hu Jia befand sich weiterhin unterHausarrest und unter Observierung. Vor demParteikongress der KPCh im November holtenihn Angehörige der Polizeibehörde für innereSicherheit gegen seinen Willen aus seiner Woh-nung in Peking und brachten ihn in ein Hotel,wo er bis zum 16. November 2012 festgehaltenwurde.

MenschenrechtsverteidigerDie Beziehungen zwischen der Zivilgesellschaftund der Regierung waren nach wie vor sehrangespannt. Wissenschaftler und politisch en-gagierte Bürger richteten mehrere offeneBriefe an die Regierung und die neuen politi-schen Führer und forderten darin die Ab-schaffung der Umerziehung durch Arbeit undanderer Vorkehrungen zur willkürlichen Inhaf-tierung, wie »schwarze Gefängnisse« und dieEinweisung in psychiatrische Kliniken.

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Haushaltsmittel in Höhe von über 701 Mrd.Yuan RMB (etwa 112 Mrd. US-Dollar) warenfür die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ord-nung vorgesehen – eine Steigerung gegenüberdem Vorjahr um 30 Mrd. Yuan RMB. Die Pro-vinzregierungen wiesen die Behörden der un-teren Ebenen an, im Vorfeld des Führungs-wechsels in der KPCh die »kommunale Arbeitzu stärken«. Dazu gehörte die Sammlung vonInformationen durch mit der Überwachungauf kommunaler Ebene betraute Personen,Warnungen an Dissidenten und ihre Familiensowie die Verhängung von Gefängnisstrafenoder Hausarrest gegen Regierungskritiker, umsie durch diese Maßnahmen zum Schweigenzu bringen.

Ende 2011 und Anfang 2012 wurden mehrereMenschenrechtsverteidiger, die beständig po-litische Reformen eingefordert hatten, wegender »Anstiftung zur Untergrabung der Staats-gewalt« zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sieArtikel und Gedichte verfasst und verbreitethatten. So wurden der Leiter des Menschen-rechtsforums von Guizhou, Chen Xi, und derAktivist Li Tie zu jeweils zehn Jahren, der Men-schenrechtsverteidiger Chen Wei aus Sichuanzu neun Jahren und das Mitglied der Demokra-tischen Partei in Zhejiang Zhu Yufu zu siebenJahren Freiheitsentzug verurteilt. Zum Jahres-ende verhängte ein Gericht gegen den Inter-netaktivisten Cao Haibo aus Jiangsu eine acht-jährige Gefängnisstrafe. Er hatte im Interneteine Diskussionsgruppe zur Erörterung von Fra-gen des Verfassungsrechts und der Demokra-tie gegründet.

Menschenrechtsverteidiger, die sich auf demGebiet der wirtschaftlichen, sozialen und kul-turellen Rechte engagierten, gerieten ebenfallsins Visier der staatlichen Stellen. Sie wurdenentweder observiert, schikaniert oder wegenvage formulierter Straftatbestände angeklagt.ý Feng Zhenghu, der für die Wohnrechte vonBürgern in Schanghai eintrat, wurde Ende Fe-bruar 2012 unter Hausarrest gestellt und ver-blieb dort das ganze Jahr über.ý Die Frauenrechtlerin und Wohnrechtsaktivis-tin Mao Hengfeng wurde einen Monat vor dem18. Parteikongress der KPCh ein weiteres Mal

wegen »Störung der öffentlichen Ordnung«festgenommen, anschließend verhängte man18 Monate Umerziehung durch Arbeit gegensie.ý Die Wohnrechtsaktivistin und Menschen-rechtsanwältin Ni Yulan wurde zusammen mitihrem Ehemann im Juli 2012 in einem zweitenProzess zu 30 bzw. 24 Monaten Freiheitsent-zug verurteilt, weil sie »Streit vom Zaun gebro-chen und Unruhe gestiftet« haben sollen.ý Am 6. Juni 2012 wurde der langjährige Dissi-dent und Verfechter der ArbeitnehmerrechteLi Wangyang in einem Krankenhaus tot aufge-funden. Wenige Tage zuvor hatte er in einemin Hongkong ausgestrahlten Interview davongesprochen, gefoltert worden zu sein. NachAngaben der Behörden soll er sich erhängt ha-ben, was jedoch von vielen angezweifelt wird.Aufgrund der ihm nach der Niederschlagungder Demokratiebewegung von 1989 im Ge-fängnis zugefügten Folterungen war Li Wang-yang blind und taub und konnte nur mit Hilfeanderer gehen. Er war zweimal ins Gefängnisgesteckt worden und hatte insgesamt über21 Jahre seines Lebens in Haft verbracht.

TodesstrafeAuch im Jahr 2012 wurden wieder Todesurteileals Ergebnis unfairer Gerichtsverfahren ver-hängt. In China wurden mehr Menschen hin-gerichtet als in der gesamten übrigen Welt.Statistiken über Todesurteile und Exekutionenunterlagen nach wie vor der Geheimhaltung.Nach geltendem chinesischen Recht gabes keine Möglichkeit für zum Tode verurteilteGefangene, ein Gnadengesuch zu stellenoder eine Umwandlung der Strafe zu beantra-gen.ý Im Mai 2012 hoben die Behörden das gegendie Geschäftsfrau Wu Ying wegen »betrügeri-scher Finanzbeschaffung« verhängte Todesur-teil wieder auf, wodurch die Debatte über dieAbschaffung der Todesstrafe für Wirtschafts-delikte wieder angeheizt wurde.

Die Novellierung der Strafprozessordnungwird es dem Obersten Volksgericht ermög-lichen, in allen Fällen Änderungen an Todes-urteilen vorzunehmen. Auch wird fortan eine

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Ton- oder Videoaufzeichnung der Verhöre vonVerdächtigen, denen möglicherweise die To-desstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafedroht, zwingend vorgeschrieben. Die Gerichte,Anklagebehörden und die Polizei müssen inZukunft die Rechtshilfebüros benachrichti-gen, damit sie allen Straftatverdächtigen undAngeklagten, denen möglicherweise die To-desstrafe oder eine lebenslange Freiheitsstrafedroht und die noch keinen Rechtsbeistand be-auftragt haben, einen Verteidiger zuweisen.Chinesische Juristen forderten, dass Rechts-hilfe in allen Phasen des Strafverfahrens, indem ein Todesurteil gefällt werden kann, ge-währleistet sein sollte.

Die Behörden gaben im November 2012 be-kannt, dass Anfang 2013 ein landesweites Or-ganspendesystem auf freiwilliger Basis einge-führt werden soll, um künftig nicht mehr aufdie Organe hingerichteter Gefangener angewie-sen zu sein.

Recht auf Wohnraum – rechtswidrigeZwangsräumungenRechtswidrige Zwangsräumungen unter An-wendung von Gewalt und ohne Vorankündi-gung waren weit verbreitet. Ihnen gingen oft-mals Drohungen und Drangsalierungen vor-aus. Eine Konsultierung der betroffenen Ein-wohner fand nur selten statt. Entschädigun-gen, angemessene Ersatzwohnungen und derZugang zu Rechtsbehelfen waren stark einge-schränkt.

In vielen Fällen schlossen korrupte Dorfvor-steher Verträge mit privaten Bauunternehmenund übertrugen ihnen die Nutzungsrechte fürGrund und Boden, ohne dass die dortigen Be-wohner darüber unterrichtet wurden. Wenndiese sich dann mit friedlichen Mitteln derrechtswidrigen Zwangsräumung widersetztenoder auf rechtlichem Wege versuchten, ihreRechte durchzusetzen, liefen sie Gefahr, inhaf-tiert, zu Gefängnisstrafen verurteilt oder in La-ger der Umerziehung durch Arbeit gesteckt zuwerden. Einige ergriffen dann drastische Maß-nahmen und setzten sich selbst in Brand oderentschieden sich für gewaltsame Formen desProtestes.

Die Bestimmungen von 2011 zur Enteignungvon Häusern auf staatlichem Boden und zurEntschädigung wurden nicht ausreichenddurchgesetzt. Gemäß diesen Bestimmungenist die Anwendung von Gewalt bei Zwangsräu-mungen in Städten verboten, und es sind be-grenzte Schutzgarantien für betroffene Hausbe-wohner darin vorgesehen. Der Staatsrat, diechinesische Regierung, legte dem NationalenVolkskongress im November Entwürfe für dieNovellierung des Landverwaltungsgesetzes von1986 vor. Es wird erwartet, dass darin derRechtsschutz vor rechtswidrigen Zwangsräu-mungen und eine höhere Entschädigung fürbetroffene Einwohner auf dem Land enthaltensein werden.ý Die Behörden setzten von April bis August2012 den Abriss von Häusern in dem zurHauptstadt Peking gehörenden Dorf Shiliuzhu-ang fort. Einige der Abrissarbeiten erfolgtenum fünf Uhr morgens und ohne Vorankündi-gung. Auch wurde den Bewohnern kein alter-nativer Wohnraum zur Verfügung gestellt, undeinige erhielten überhaupt keine Entschädi-gung. Nach Angaben der betroffenen Bewoh-ner hatte man sie nicht ordentlich konsultiert,und einige von ihnen sollen vor der Zwangsräu-mung geschlagen und kurzzeitig inhaftiertworden sein.

Autonome Region TibetWeiterhin wurden das Recht von Tibetern, ihreeigene Kultur zu pflegen und zu fördern, sowieihre Rechte auf Religionsfreiheit, freie Mei-nungsäußerung und friedliche Vereinigungs-und Versammlungsfreiheit unterdrückt. Diewirtschaftliche und gesellschaftliche Diskrimi-nierung von Angehörigen der tibetischen Volks-gruppe hielt unvermindert an. Im Laufe desJahres 2012 zündeten sich mindestens 83 tibe-tische Mönche, Nonnen und Laien an, wo-durch sich die Zahl der Selbstverbrennungen inden von Tibetern besiedelten Gebieten Chinasseit Februar 2009 auf mindestens 95 erhöhthat.ý Mindestens drei Männer wurden in getrenn-ten Verfahren zu Haftstrafen von bis zu sie-beneinhalb Jahren verurteilt, weil sie Informa-

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tionen über Selbstverbrennungen an Organi-sationen und Medien im Ausland weitergeleitethatten.

Zahlreiche Personen, die an Protesten gegendie Regierung beteiligt gewesen sein sollen,wurden verprügelt, in Gewahrsam genommen,in unfairen Gerichtsverfahren abgeurteilt oderman ließ sie verschwinden. Es wird angenom-men, dass mindestens zwei Personen an denFolgen der ihnen durch die Polizei zugefügtenVerletzungen gestorben sind.ý Im Januar 2012 eröffneten die Sicherheits-kräfte dem Vernehmen nach bei drei unter-schiedlichen Zwischenfällen das Feuer auf pro-testierende Tibeter in der Provinz Sichuan. Da-bei wurden Berichten zufolge mindestens einePerson getötet und viele weitere Menschenverletzt.

Die Behörden führten Kampagnen der »pa-triotischen« und der »Rechtserziehung«durch, um Tibeter dazu zu zwingen, den DalaiLama zu verurteilen. Behördenvertreter nah-men immer mehr Einfluss auf die Verwaltungvon Klöstern und verwiesen Mönche aus die-sen.

Autonome Uigurische Region XinjiangDie Behörden setzten ihre Kampagne mit derBezeichnung »Hartes Durchgreifen« fort, stuf-ten dabei alle von ihnen als »illegale religiöse«und »separatistische Aktivitäten« bezeichne-ten Handlungen als Straftaten ein und gingenmassiv gegen friedliche Aktionen zum Aus-druck der kulturellen Identität vor.ý Laut Medienberichten vom Januar wurden 16der 20 Uiguren, von denen 19 nach den Unru-hen vom Juli 2009 aus China geflohen und imDezember 2009 von Kambodscha gegen ihrenWillen nach China zurückgeführt worden wa-ren, zu Gefängnisstrafen von 16 Jahren bis le-benslänglich verurteilt.ý Gegen neun Uiguren ergingen im Mai 2012sechs- bis 15-jährige Haftstrafen wegen ihrerTeilnahme an angeblichen »illegalen religiösenAktivitäten«. Der elfjährige Mirzahid starb imJuni 2012 in der Haft, nachdem er wegen desBesuchs einer »illegalen religiösen Schule« inGewahrsam genommen worden war.

ý Im Juli 2012 berichteten mehrere DutzendFamilien gegenüber ausländischen Gruppen,dass sie weiterhin nach ihren Familienangehö-rigen suchten, die seit den massiven Repres-sionen der Behörden im Anschluss an die Un-ruhen vom Juli 2009 verschollen sind. Diejüngste Person unter ihnen war ein Junge, derzum Zeitpunkt seines Verschwindens 16 Jahrealt war.ý Patigul, die Mutter von Imammet Eli, gabausländischen Medien gegenüber an, dass sieseit der Festnahme ihres damals 25-jährigenSohnes am 14. Juli 2009 nach ihm suche.Ehemalige Mitinsassen ihres Sohns berichtetenihr zufolge, dass Imammet Eli in der Haft ge-foltert und im August des Jahres 2009 in einKrankenhaus eingeliefert worden sein soll.Seitdem habe sie kein Lebenszeichen mehr vonihrem Sohn erhalten.

Sonderverwaltungsregion HongkongRechtliche und institutionelle EntwicklungenIm März wurde Leung Chun-ying nicht in direk-ter Wahl durch das Volk, sondern durch einenaus 1193 Mitgliedern bestehenden Wahlaus-schuss zum neuen Chief Executive (Regie-rungschef) von Hongkong gewählt. WenigeTage vor seiner Wahl hatten 220000 Bürgerder Sonderverwaltungsregion aus Protest gegendie Ernennung Leungs durch einen »kleinenKreis« an einer Probeabstimmung teilgenom-men. Nach weit verbreiteter Ansicht wurde derAusgang der Abstimmung im Wahlausschussdurch die chinesische Zentralregierung in Pe-king bestimmt.

Sorgen um die Unabhängigkeit der Justiz undanderer staatlicher Stellen wurden laut, nach-dem die Chief Secretary (Verwaltungschefin),die zweithöchste Regierungsvertreterin Hong-kongs, verlauten ließ, das Amt des Bürgerbe-auftragten und die unabhängige Kommissiongegen Korruption seien eine erhebliche Hürdebei der Durchsetzung der Regierungspolitik.Die frühere Justizministerin von Hongkong kri-tisierte zudem im Oktober die Richter der Son-derverwaltungsregion wegen ihres mangelndenVerständnisses für die Beziehungen zwischenPeking und Hongkong.

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Die Regierung beabsichtigte, ab 2012 einemoralische und nationale Erziehung in denGrundschulen einzuführen. Viele Bürger be-trachteten dieses neue Schulfach als politi-sche Propaganda. Wie es hieß, sollten nicht nurdie Kenntnisse der Schüler benotet werden,sondern auch ihre emotionale Identifizierungmit dem Staat. Über 90000 Menschen ver-sammelten sich am 29. Juli 2012 aus Protestgegen diese Schulreform. Nachdem die Re-gierung den Forderungen der Demonstrieren-den zunächst keine Beachtung schenkte, kames Ende August zu Protestkundgebungen vorder Regierungszentrale, und einige der Teil-nehmer traten in den Hungerstreik. Der Höhe-punkt der Kampagne war eine einwöchigeProtestveranstaltung, an der sich dem Verneh-men nach 100000 Menschen beteiligten. Am8. September gab die Regierung dann bekannt,dass das Unterrichtsfach bis auf weiteresnicht in den Lehrplan aufgenommen werde.

Im November 2012 stellte Cyd Ho Sau-lan,eine Vertreterin des Gesetzgebenden Rats,den unverbindlichen Antrag auf Konsultierungder Öffentlichkeit zu einem neuen Gesetz zumSchutz vor Diskriminierung aufgrund der sexu-ellen Orientierung. Ihr Antrag wurde abge-lehnt.

Rechte von ArbeitsmigrantenIn Hongkong gab es etwa 300000 als Haus-angestellte tätige Arbeitsmigranten, für die dasMindestlohngesetz nicht galt. Sie mussten inder Regel den Gegenwert von drei bis sechsMonatslöhnen als Gebühren an die Rekrutie-rungsagentur zahlen, obwohl nach in Hong-kong geltendem Recht die Agentur eine Gebührvon höchstens 10% des ersten Monatslohnsdes Arbeitnehmers erheben darf. Im Septem-ber hat man den Mindestlohn, der separat fürals Hausangestellte tätige Arbeitsmigrantenfestgelegt wurde, von 3740 HK-Dollar (ca. 483US-Dollar) auf 3920 HK-Dollar (ca. 506 US-Dol-lar) pro Monat erhöht. Ungeachtet dessenwurde vielen von ihnen dieser Mindestlohnnicht ausgezahlt.ý Das Berufungsgericht hob am 28. März 2012ein früheres Urteil des erstinstanzlichen Ge-

richts zugunsten der Philippinin Vallejos Evan-geline Baneo wieder auf. Die Frau war seit1986 in Hongkong als Hausangestellte beschäf-tigt und forderte, dass Arbeitsmigranten, diediesem Beruf nachgehen, einen Antrag aufdauerhaften Aufenthalt und Bleiberecht stel-len dürfen. Die Rechtssache wurde vom Beru-fungsgericht der letzten Instanz zugelassen,das sich voraussichtlich Anfang 2013 damit be-fassen wird.

Sonderverwaltungsregion MacauDer Ständige Ausschuss des Nationalen Volks-kongresses entschied am 29. Februar 2012,dass es 2014 keine Direktwahl des Regierungs-chefs von Macau geben werde. Diese Aufgabewürde weiterhin dem Wahlausschuss übertra-gen, der sich bei der letzten Wahl aus 300 Mit-gliedern zusammensetzte, von denen nursechs direkt gewählt worden waren. Politiker,die sich für Demokratie in Macau einsetzen, for-derten die Regierung nachdrücklich auf, dasbestehende Wahlsystem u. a. durch eine Erhö-hung des Anteils der direkt gewählten Sitze inder gesetzgebenden Körperschaft zu reformie-ren. In einer im April im Internet durchgeführ-ten Meinungsumfrage sprach sich die Mehrheitfür eine Wahlreform aus.ý Am 1. Mai 2012 ging die Polizei gegen fried-liche Demonstrierende vor, darunter Dutzendevon Reportern in schwarzen T-Shirts, die gegenSelbstzensur bei den wichtigsten Medien vonMacau protestierten.

Amnesty International: Berichtÿ Standing their ground: Thousands face violent eviction

in China, http://amnesty.org/en/library/info/ASA17/001/2012/en

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Côte d’IvoireAmtliche Bezeichnung: Republik Côte d’IvoireStaatsoberhaupt: Alassane OuattaraRegierungschef: Daniel Kablan Duncan (löste im

November Jeannot Kouadio-Ahoussou im Amtab, der im März auf Guillaume Soro gefolgt war)

Vor dem Hintergrund der anhaltend pre-kären Sicherheitslage und der Angriffevon unbekannten bewaffneten Kombat-tanten wurden 2012 zahlreiche Men-schen willkürlich inhaftiert und gefoltert.Viele Menschen sahen sich gezwungen,ihre Heimat zu verlassen. Die Pressefrei-heit war eingeschränkt und Zeitungenwurden verboten. Gerichtsverfahren aufnationaler wie auch auf internationalerEbene kamen nur langsam voran. Zahl-reiche Menschen wurden ohne Gerichts-verfahren in Haft gehalten. Die Straflo-sigkeit im Land hielt an. Dies galt vor al-lem für Anhänger der Machthaber, die2011 während der Krise nach den Präsi-dentschaftswahlen von 2010 völkerrecht-liche Verbrechen begangen hatten. DerProzess für Dialog und Versöhnung tratauf der Stelle.

HintergrundDie Sicherheitslage war 2012 während des ge-samten Jahres instabil. Immer wieder griffenunbekannte Kämpfer militärische Ziele an. DieAngriffe forderten Opfer in den Reihen derStreitkräfte wie auch aufseiten der Zivilbevölke-rung und schürten die politischen Spannun-gen zwischen den Sicherheitsdiensten und derZivilbevölkerung. Nachdem Milizen aus Libe-ria im Juni im Südwesten von Côte d’Ivoire sie-ben Soldaten der im Land stationierten UN-Friedenstruppen (UNOCI) und zehn Zivilperso-nen getötet hatten, nahmen die Angriffe zu.Sie lösten die Vertreibung weiterer Teile der Be-völkerung und Wellen von Festnahmen aus.Die Behörden beschuldigten die Partei desehemaligen Präsidenten Laurent Gbagbo, dieIvorische Volksfront (Front Populaire Ivorien –

FPI), hinter den Angriffen zu stecken, und er-klärten, dass es ihnen gelungen sei, mehrerePutschversuche und Verschwörungen zur De-stabilisierung der Regierung zu verhindern. DieFPI wies die Anschuldigungen zurück.

Im Zusammenhang mit der im Dezember2011 begonnenen Reform der Republikani-schen Streitkräfte von Côte d’Ivoire (Forces Ré-publicaines de Côte d’Ivoire – FRCI) wurdeeine Militärpolizei geschaffen, die dafür sorgensollte, dass die Streitkräfte keine Übergriffemehr begingen. In der Praxis inhaftierte die Mi-litärpolizei jedoch willkürlich tatsächliche odervermeintliche Gegner und verübte Folterungen.Außerdem inhaftierten bewaffnete Gruppender Streitkräfte und die vom Staat gefördertenDozo-Milizen auch 2012 willkürlich Menschenund folterten sie, wobei sie keine strafrechtli-chen Konsequenzen befürchten mussten.

Das Verhältnis zwischen der Regierung vonPräsident Alassane Ouattara und der FPI warso sehr von gegenseitigem Misstrauen geprägt,dass die Versuche, den politischen Dialog wie-derzubeleben, fehlschlugen. Die FPI knüpfteihre Beteiligung am politischen Leben weiteran die Bedingung, dass ihre Anhänger – ein-schließlich Laurent Gbagbo –, die im Zuge derKrise nach den Präsidentschaftswahlen verhaf-tet worden waren, freigelassen würden.

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Angehörige bestimmter ethnischer Gruppen,unter ihnen Bété und Guéré, die pauschal be-zichtigt wurden, Anhänger des ehemaligen Prä-sidenten Gbagbo zu sein, wurden aus ethni-schen Gründen zu Opfern von Übergriffen. Dieswar vor allem im Westen des Landes der Fall.Laut Berichten verwehrten dort Angehörige derDozo zurückkehrenden Binnenflüchtlingenden Zugang zu ihrem Land oder pressten ihnenwillkürliche Zahlungen ab.

Willkürliche InhaftierungenMehr als 200 Menschen, die verdächtigt wur-den, die Sicherheit des Staates zu gefährden,waren überwiegend an nicht offiziellen Haftor-ten ohne rechtliche Grundlage inhaftiert. AuchMitglieder der FPI waren unter den Betroffenen.Viele von ihnen befanden sich Ende 2012 im-mer noch in Haft, ohne dass man sie vor Ge-richt gestellt hatte. Andere waren nach derZahlung eines Lösegeldes freigekommen.ý Im März 2012 wurden 77 Angehörige derVerteidigungs- und Sicherheitskräfte FDS, denfrüheren regulären Streitkräften, unter demVerdacht festgenommen, die Staatsgewalt zuuntergraben. Sie wurden in einem Lager derFRCI in Abidjan festgehalten und nach zweiWochen ohne Anklageerhebung freigelassen.ý Im August 2012 wurde in Abidjan ein FPI-Mit-glied von zwei Männern in Zivil festgenommenund beschuldigt, einer Miliz anzugehören. DerMann wurde zwei Tage später freigelassen,nachdem seine Eltern Lösegeld gezahlt hatten.

Folter und Todesfälle in GewahrsamDie FRCI setzten häufig Folter und andere Miss-handlungen gegen Menschen ein, die ver-dächtigt wurden, bewaffnete Angriffe und poli-tische Verschwörungen geplant zu haben. Ver-dächtigte wurden manchmal lange Zeit an nichtoffiziellen Haftorten gefangen gehalten, bevorsie einem Richter vorgeführt und in ein Gefäng-nis überstellt wurden.ý Im März 2012 wurde ein Angehöriger der frü-heren regulären Streitkräfte, der in Abidjan ineinem Lager der FRCI festgehalten wurde, aus-gezogen und mit Handschellen an eine Eisen-stange gefesselt. Dann schlug man auf ihn ein

und goss geschmolzenes Plastik über seinenKörper.ý Im August 2012 wurde der Stabsunteroffizierder Polizei Hervé Kribié festgenommen und imKommandoposten der FRCI von San Pedro mitElektroschocks gequält. Er starb noch am glei-chen Tag. Seine Familie erfuhr erst drei Wochenspäter, was mit ihm geschehen war.

Flüchtlinge und VertriebeneNachdem es in mehreren Ortschaften zwischender Stadt Taı und dem Dorf Nigré an derGrenze zu Liberia zu gewaltsamen Vorfällen ge-kommen war, flüchteten rund 13000 Men-schen aus diesem Gebiet. Ende 2012 belief sichdie Zahl der Flüchtlinge und Binnenvertriebe-nen noch auf ca. 160000. Schätzungen zufolgewaren davon 80000 Binnenvertriebene.Außerdem befanden sich noch fast 60000 ivo-rische Flüchtlinge in Liberia. Bewaffnete An-griffe auf Zivilpersonen und Militärangehörigelösten Kritik an den Sicherheitsmaßnahmensowie auf lokaler Ebene Misstrauen und er-neute Vertreibungen aus; davon war vor allemder Westen von Côte d’Ivoire betroffen.

Menschenrechtsverletzungen imWesten von Côte d’IvoireAuch 2012 blieb die Lage im Westen des Lan-des unsicher. Angehörige von ethnischenGruppen, unter ihnen auch Guéré, die als ehe-malige Anhänger von Laurent Gbagbo angese-hen wurden, gerieten ins Visier von FRCI undDozo-Angehörigen und waren Opfer von au-ßergerichtlichen Hinrichtungen, Prügelangrif-fen, Folter, unrechtmäßigen Festnahmen so-wie des Verschwindenlassens.

Im Juli griffen Angehörige der Dioula ein vonder UNOCI bewachtes Lager für Vertriebene inNahibly bei Duékoué an, in dem rund 4500Menschen Zuflucht gefunden hatten. Kämpferder Dozo und Soldaten der FRCI waren an demAngriff beteiligt. Wie es hieß, handelte es sichbei dem Angriff um einen Racheakt für angeb-lich von Bewohnern des Lagers verübte Ver-brechen, darunter die Ermordung von vier Men-schen in Duékoué. Bei dem Angriff wurdenmindestens 13 Vertriebene getötet. Viele erlitten

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schwere Verletzungen, u. a. weil sie geschla-gen und mit Tropfen geschmolzenen Plastiksgefoltert wurden. Zahlreiche Bewohner des La-gers wurden willkürlich festgenommen. Vielevon ihnen sind immer noch »verschwunden«.

Im Oktober wurde in Duékoué ein Massen-grab entdeckt. Bei den Leichen handelt essich vermutlich um die seit dem Angriff auf dasLager vermissten Menschen. Bis Ende 2012waren bei den aufgenommenen Ermittlungenkaum Ergebnisse erzielt worden.

Recht auf freie MeinungsäußerungEs gab zahlreiche Verletzungen des Rechts auffreie Meinungsäußerung.ý Im September 2012 erließ der Nationale Pres-serat ein sechstägiges Erscheinungsverbot füralle der oppositionellen FPI nahestehenden Ta-geszeitungen. Der Presserat begründete dasVerbot damit, dass Fotos und Bildunterschriftenmit Bezugnahmen auf den früheren Staats-präsidenten Gbagbo und auf ehemalige Minis-ter die Krise nach den Präsidentschaftswahlenverlängern würden.

JustizsystemAuch 18 Monate nach der Krise im Zusammen-hang mit den Präsidentschaftswahlen warenlediglich Personen festgenommen worden, diemit der Regierung des früheren PräsidentenGbagbo in Verbindung gebracht wurden. WederAngehörige der ehemaligen Forces Nouvellesnoch Militärangehörige oder Zivilpersonen, diefür schwere Menschenrechtsverstöße verant-wortlich waren und Präsident Ouattara unter-stützten, waren zur Rechenschaft gezogenworden.

Verzögerungen und Defizite im Zuge der straf-rechtlichen Verfahren gegen Familienangehö-rige und Unterstützer von Ex-Präsident Gbagbolösten Befürchtungen aus, dass die Angeklag-ten über längere Zeiträume hinweg ohne Pro-zess festgehalten würden bzw. ihre Gerichts-verfahren nicht den internationalen Standardsfür faire Prozesse entsprechen könnten.

Von Mai bis Juli 2012 wurden acht Personen,unter ihnen auch Simone Gbagbo, die Ehefraudes Ex-Präsidenten, des Völkermords angeklagt.

Am 20. Dezember wurde die vorläufige Frei-lassung von neun engen Vertrauten des Ex-Präsidenten bekannt gegeben, die vorwiegendim Norden des Landes inhaftiert waren.

Internationale StrafgerichtsbarkeitDie Vorverfahrenskammer des InternationalenStrafgerichtshof (International Criminal Court –ICC) ordnete im Februar Ermittlungen zu weite-ren Verbrechen an, die zwischen September2002 und 2010 begangen worden waren. Zwarwurden beiden Konfliktparteien Verbrechenim Sinne des Völkerrechts zur Last gelegt, dochkonzentrierten sich die Ermittlungen des ICCauf Verbrechen, die der Regierung des ehema-ligen Präsidenten Gbagbo zugeschrieben wur-den.

Die Ermittlungen gegen Laurent Gbagbo, derim November 2011 an den ICC überstellt wor-den war, kamen kaum voran.

Im November erließ der ICC einen Haftbefehlgegen Gbagbos Ehefrau Simone wegen desVerdachts auf Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit, darunter Mord, Vergewaltigung, an-dere Formen sexueller Gewalt sowie andere un-menschliche Handlungen und Verfolgungwährend der Krise nach den Wahlen.

Côte d’Ivoire leitete Schritte zur Ratifizierungdes Römischen Statuts des InternationalenStrafgerichtshofs ein. So verabschiedete dasParlament im Dezember einen Entwurf zurÄnderung der Verfassung und baute damit ge-setzliche Hindernisse ab, die der Ratifizierungdes Statuts entgegenstanden. Eine Woche da-rauf nahm das Parlament einen Gesetzentwurfan, der Ratifizierung genehmigte. Bis Ende desJahres war das Römische Statut aber nochnicht ratifiziert.

StraflosigkeitDie Regierung erklärte wiederholt ihre Bereit-schaft, diejenigen vor Gericht zu stellen, diefür Verbrechen während der Krise nach denWahlen verantwortlich seien. Im August 2012stellte die Kommission, die mit der Untersu-chung der Gewaltakte während der Krise nachden Wahlen beauftragt worden war, ihren Be-richt vor. Darin kam sie zu dem Schluss, dass

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110 Dänemark

beide Seiten Hunderte Menschen getötet hat-ten. Soweit bekannt, waren bei Jahresendenoch keine rechtlichen Schritte gegen die mut-maßlichen Täter eingeleitet worden.

Kommission für Wahrheit, Versöhnungund DialogDie im Juli 2011 geschaffene Kommission fürWahrheit, Versöhnung und Dialog hatte orga-nisatorische und finanzielle Probleme. Siewurde von der UNOCI im Mai aufgefordert,»ihre Tätigkeit zu überprüfen und zu beschleu-nigen«. Im Juni prangerte die Kommission ille-gale Festnahmen an. Die öffentlichen Aufrufeder Kommission zur Versöhnung und zumDialog lösten jedoch keine konkreten Entwick-lungen aus.

UnternehmensverantwortungSechs Jahre nach der illegalen Entsorgung toxi-scher Abfälle im Großraum Abidjan, die Aus-wirkungen auf Tausende Menschen hatte, war-teten viele Opfer noch immer auf Schadener-satzzahlungen. Bis Jahresende hatten die Be-hörden nach wie vor keine Maßnahmen ergrif-fen, um sicherzustellen, dass alle registriertenPersonen, deren Gesundheit beeinträchtigtwar, Zugang zum staatlichen Schadensersatz-programm hatten, das ausgesetzt worden war.Die Ermittlungen im Zusammenhang mit der2010 erfolgten Veruntreuung eines Teils desSchadenersatzbetrags, der vom ErdölkonzernTrafigura für Opfer gezahlt worden war, die dasUnternehmen in Großbritannien verklagt hat-ten, waren bis Ende 2012 nicht vorangekom-men. Zwar wurde der Minister für AfrikanischeIntegration von Staatspräsident Ouattara imMai wegen seiner mutmaßlichen Beteiligung ander Veruntreuung der Gelder entlassen, dochschienen die Behörden keine weiteren Schritteunternommen zu haben, um die verschwun-denen Gelder zurückzuerhalten bzw. um die Er-mittlungen gegen die Beteiligten voranzu-treiben.

Amnesty International: Berichteÿ Côte d’Ivoire: Time to put an end to the cycle of reprisals

and revenge, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-

releases/c-te-d-ivoire-time-put-end-cycle-reprisals-and-revenge-2012-10-26

ÿ The toxic truth: About a company called Trafigura, a ship cal-led the Probo Koala, and the dumping of toxic waste in Côted’Ivoire, http://www-secure.amnesty.org/en/library/info/AFR31/002/2012/en

DänemarkAmtliche Bezeichnung: Königreich DänemarkStaatsoberhaupt: Königin Margrethe II.Regierungschefin: Helle Thorning-Schmidt

In einem Bericht des Europäischen Par-laments wurde Dänemark nahegelegt,die Beteiligung des Landes an von denUSA durchgeführten außerordentlichenÜberstellungen unabhängig untersuchenzu lassen. Die Aussetzung der Überstel-lung von Häftlingen an den afghanischenGeheimdienst durch das dänische Mili-tär wurde aufgehoben, obwohl den Be-troffenen Folter und andere Misshand-lungen drohten. Die Inhaftierungspraxisder Einwanderungsbehörden gab wei-terhin Anlass zu Sorge, insbesondere wasden Umgang mit besonders schutzbe-dürftigen Personen betraf.

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Dänemark 111

Folter und andere MisshandlungenIm April 2012 richtete die Regierung eine Kom-mission zur Untersuchung der Beteiligung Dä-nemarks am Irakkrieg ein. Unter anderem sol-len Vorwürfe untersucht werden, wonach diedänische Armee Häftlinge an die irakischen Be-hörden übergeben haben soll, obwohl sie ver-meintlich wusste, dass ihnen dort Folter oderandere Misshandlungen drohten. Im Oktoberwurde bekannt, dass dänische Armeeangehö-rige im Besitz von Videomaterial waren, dasdie Misshandlung von Häftlingen durch iraki-sche Soldaten zeigen soll.ý Im Dezember 2012 hieß es in Berichten, dasself irakische Staatsbürger de facto daran ge-hindert wurden, ein Gerichtsverfahren gegenDänemark anzustrengen. Grundlage des an-gestrebten Prozesses war der Vorwurf, Däne-mark habe die Männer trotz des Wissens umdie Gefahr der Folter und anderer Misshandlun-gen den irakischen Behörden übergeben. DenMännern wurde rechtlicher Beistand verwei-gert, und als Voraussetzung für ein Verfahrenverlangte man von jedem von ihnen die Zah-lung einer Kaution in Höhe von 40000 Kronen(knapp 5400 Euro) – ein Betrag, den sich keinerder Betroffenen leisten konnte.

Im Oktober 2012 wurde die Aussetzung derÜberstellung von Häftlingen durch die däni-sche Armee an den afghanischen Geheim-dienst National Directorate of Security (NDS)aufgehoben, obwohl die Gefahr von Folter undMisshandlung für NDS-Häftlinge weiter be-stand. So überstellten die dänischen Streit-kräfte in Afghanistan am 20. Oktober und23. November afghanische Häftlinge an denNDS-Stützpunkt in Lashkar Gah.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitIm September 2012 wurde Dänemark in einemBericht des Europäischen Parlaments emp-fohlen, eine unabhängige Untersuchung seinermutmaßlichen Beteiligung an den von der CIAdurchgeführten außerordentlichen Überstel-lungen zu veranlassen. Im Mai wurde eine vonder Regierung in Auftrag gegebene und vomDänischen Institut für Internationale Studien(DIIS) durchgeführte Studie veröffentlicht.

Diese gründete auf der Prüfung von Dokumen-ten einer früheren Untersuchung, die nicht dienötigen Menschenrechtsstandards erfüllte.

Ebenfalls im September legte ein Sachver-ständigenausschuss einen Gesetzentwurf füreine unabhängige Aufsicht über die Erfassungund Speicherung von Daten von Privatperso-nen und Organisationen durch den dänischenGeheimdienst vor. Allerdings wurden Beden-ken laut, dass der Gesetzentwurf keinen geeig-neten unabhängigen und wirksamen Kontroll-mechanismus vorsehe. Zudem enthielt er keinemateriell-rechtlichen Bestimmungen, was dieWeitergabe entsprechender Informationen anausländische Geheimdienste betrifft.

Polizei und SicherheitskräfteIm August 2012 gab der Leiter der unabhängi-gen Beschwerdestelle der Polizei bekannt,dass eine beträchtliche Anzahl von Beschwer-den gegen die Polizei nicht weiter verfolgt wer-den konnte und daher ohne weitere Konse-quenzen bleiben musste, weil die beteiligtenBeamten nicht identifiziert werden konnten.Mehrere Politiker sprachen sich deshalb dafüraus, dass Polizeikräfte auf ihrer Uniform eineKennnummer tragen sollten. Dieser Vorschlagwurde von leitenden Polizeibeamten abgelehnt.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm November 2012 veröffentlichte der ständigeStrafrechtsausschuss seinen Bericht zuSexualdelikten, der mehrere Vorschläge für eineGesetzesreform beinhaltete. So wurde ange-regt, sexuellen Missbrauch durch einen Ehe-partner zum Straftatbestand zu erklären, wennsich das Opfer in einer »hilflosen Lage« befindet.Außerdem solle die Möglichkeit einer Reduzie-rung oder Annullierung der Strafe in Fällen, indenen Täter und Opfer nach einer Vergewalti-gung heiraten oder verheiratet bleiben, abge-schafft werden.

Flüchtlinge und AsylsuchendePersonen, die besonders schutzbedürftigenGruppen angehörten, darunter auch Opfervon Folter, psychisch kranke Menschen undMinderjährige ohne Begleitung eines Erwach-

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112 Deutschland

senen, wurden nach wie vor aufgrund von Zu-wanderungsbestimmungen inhaftiert.

Im Jahr 2012 wurden keine Abschiebungennach Syrien vorgenommen. Die Einwande-rungsbehörde gewährte syrischen Asylsuchen-den in etwa 88% der Fälle Schutzstatus. DieAnträge der übrigen Asylsuchenden aus Syrien,etwa 180 Fälle, wurden jedoch abgelehnt. Zu-dem erhielten sie keine Möglichkeit, in Däne-mark zu arbeiten oder zu studieren.

Einige Asylsuchende aus unterschiedlichenLändern, z. B. Uganda, denen in ihrer Heimataufgrund ihrer sexuellen Orientierung Verfol-gung drohte, erhielten kein Asyl mit der Be-gründung, sie könnten ihre Sexualität in ihremHeimatland »geheim halten«.ý Im Juni 2012 urteilte das Oberste Gericht,dass die Bedingungen, die Elias Karkavandigemäß den Regeln des »geduldeten Aufent-halts« auferlegt wurden, unverhältnismäßigwaren und gegen sein Recht auf Freizügigkeitverstießen. Der iranische Staatsbürger, dessenAsylantrag abgelehnt worden war, war u. a. ver-pflichtet worden, im Zentrum für Asylsu-chende von Sandholm zu bleiben und sich re-gelmäßig bei der Polizei zu melden.

DeutschlandAmtliche Bezeichnung:

Bundesrepublik DeutschlandStaatsoberhaupt: Joachim Gauck (löste im März

Christian Wulff im Amt ab)Regierungschefin: Angela Merkel

Die Behörden richteten auch 2012 keineunabhängige Beschwerdestelle ein, undauch die Kennzeichnungspflicht für Poli-zeibeamte wurde nicht bundesweit um-gesetzt. Die Nationale Stelle zur Verhü-tung von Folter verfügte nach wie vornur über unzureichende finanzielle Mit-tel. Die Behörden schoben weiterhin

Roma, Aschkali und Ägypter in den Ko-sovo und Asylsuchende nach Ungarnab, obwohl den Betroffenen dort Men-schenrechtsverletzungen drohten. DieRegierung lehnte es ab, auf das Einholen»diplomatischer Zusicherungen« zu ver-zichten, mit denen die Abschiebung vonPersonen in Länder, in denen ihnen Fol-ter und andere Misshandlungen drohen,erleichtert wird.

Folter und andere MisshandlungenDie Behörden versäumten es weiterhin, Hinder-nisse für wirksame Untersuchungen von Miss-handlungsvorwürfen gegen die Polizei zu besei-tigen. In allen Bundesländern fehlten nach wievor unabhängige Beschwerdestellen zur Unter-suchung von Vorwürfen über schwere Men-schenrechtsverletzungen durch die Polizei.Außer in Berlin und Brandenburg bestand inkeinem Bundesland eine Kennzeichnungs-pflicht für Polizeibeamte durch Namens- oderNummernschilder. In Brandenburg werden Po-lizeibeamte ab Januar 2013 zum Tragen vonNamens- oder Nummernschildern verpflichtet.

Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter,Deutschlands nationaler Präventionsmecha-nismus gemäß dem Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter, verfügt nachwie vor nur über unzureichende finanzielle Mit-tel und ist nicht in der Lage, ihren Aufgabennachzukommen. Dazu gehört u. a. die regelmä-ßige Inspektion von Hafteinrichtungen. DerVorsitzende sowie ein weiteres Mitglied der Län-

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Deutschland 113

derkommission der Nationalen Stelle zur Ver-hütung von Folter traten im August aufgrund dermangelnden finanziellen Ausstattung zurück.ý Die Ermittlungen zum Einsatz exzessiverPolizeigewalt während einer Demonstration inStuttgart im September 2010 wurden fortge-setzt. Im Oktober 2012 sprach das Amtsge-richt Stuttgart einen Polizisten wegen desSchlagstockeinsatzes gegen einen Demons-tranten der Körperverletzung schuldig und ver-urteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von achtMonaten auf Bewährung.ý Am 10. Oktober bestätigte das Oberlandesge-richt Frankfurt das Urteil des LandgerichtsFrankfurt vom 4. August 2011. Dieses hatteMarkus Gäfgen eine Entschädigung zugespro-chen, weil ihm zwei Polizisten 2002 »erheblicheSchmerzen« angedroht hatten, nachdem erunter dem Verdacht festgenommen wordenwar, einen elfjährigen Jungen entführt zu ha-ben. Das Gericht wertete die Drohung im Sinneder Europäischen Menschenrechtskonventionals »unmenschliche Behandlung«.ý Am 13. Dezember 2012 sprach das Landge-richt Magdeburg einen Polizisten wegen fahr-lässiger Tötung im Zusammenhang mit demTod des Asylsuchenden Oury Jalloh schuldig,der 2005 in einer Zelle auf der PolizeiwacheDessau bei einem Brand ums Leben gekom-men war. Trotz des langwierigen Gerichtspro-zesses konnten die Umstände von Oury Jal-lohs Tod und die Frage, inwieweit die Polizei da-ran beteiligt war, nicht geklärt werden.

Flüchtlinge und AsylsuchendeIm September und Oktober 2012 nahmDeutschland 195 Flüchtlinge aus dem LagerChoucha in Tunesien und 105 irakische Flücht-linge, die in der Türkei lebten, auf. Dies ge-schah im Rahmen des Resettlement-Pro-gramms, eines vom UNHCR begründetenProgramms zur Aufnahme und dauerhaftenNeuansiedlung von besonders schutzbedürfti-gen Flüchtlingen, an dem sich Deutschland seitDezember 2011 beteiligt. Die Flüchtlinge soll-ten dauerhaft in Deutschland bleiben dürfen,erhielten allerdings nicht dieselbe Rechtsstel-lung wie Flüchtlinge im Sinne der UN-Flücht-

lingskonvention. Deshalb wurden ihnen be-stimmte Rechte, insbesondere hinsichtlich derFamilienzusammenführung, verwehrt.

Am 14. Dezember 2012 verlängerte das Bun-desinnenministerium die Aussetzung vonÜberstellungen nach Griechenland gemäß derDublin-II-Verordnung (s. Länderbericht Grie-chenland) bis zum 12. Januar 2014.

Asylsuchende wurden nach Ungarn überstellt(s. Länderbericht Ungarn) trotz der ihnen dortdrohenden Risiken. Sie liefen in Ungarn u. a.Gefahr, in unsichere Drittstaaten abgeschobenzu werden, da es kein angemessenes Verfahrengab, mit dem sie Zugang zu internationalemSchutz erhalten konnten. Asylsuchende, dievon Deutschland nach Ungarn abgeschobenwurden, nachdem sie über Serbien eingereistwaren, liefen bis November Gefahr, in einLand abgeschoben zu werden, in dem ihnenVerfolgung drohte. Erst seit November 2012betrachtet Ungarn Serbien nicht mehr als »si-cheren Drittstaat«.

Mehrere Bundesländer schoben nach wie vorRoma, Aschkali und Ägypter in den Kosovoab, obwohl sie dort der Gefahr vielfacher Diskri-minierung ausgesetzt waren. Im April erließBaden-Württemberg einen Erlass, der einequalifizierte Einzelfallprüfung vorsieht, bevorRoma, Aschkali und Ägypter in den Kosovo ab-geschoben werden können.

Am 18. Juli 2012 entschied das Bundesverfas-sungsgericht, dass die Höhe der Leistungen,die Asylbewerber in Deutschland erhalten, mitdem in Artikel 1 des Grundgesetzes veranker-ten Recht auf ein menschenwürdiges Existenz-minimum unvereinbar ist. Das Gericht beauf-tragte den Gesetzgeber, unverzüglich für denAnwendungsbereich des Asylbewerberleis-tungsgesetzes eine Neuregelung zur Sicherungdes menschenwürdigen Existenzminimumszu treffen.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitIm September 2012 forderte das EU-ParlamentDeutschland und andere EU-Mitgliedstaatenauf, alle relevanten Informationen zu sämt-lichen Flügen offenzulegen, bei denen derVerdacht besteht, dass sie mit dem CIA-Pro-

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114 Dominikanische Republik

gramm für außerordentliche Überstellungenund Geheimgefängnisse in Zusammenhangstehen. Des Weiteren wurden die Staaten auf-gefordert, ihre Rolle bei den CIA-Operationenwirksam zu untersuchen.

Die Regierung gab nach wie vor nicht be-kannt, ob sie weiterhin »diplomatische Zusi-cherungen« einholt, um Terrorverdächtige inLänder abzuschieben, in denen für sie eineernsthafte Gefahr besteht, gefoltert oder auf an-dere Weise misshandelt zu werden. Verwal-tungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz er-laubten weiterhin das Einholen solcher »diplo-matischer Zusicherungen«.

Internationale StrafgerichtsbarkeitVor dem Oberlandesgericht Stuttgart wurde derProzess gegen die ruandischen StaatsbürgerIgnace Murwanashyaka und Straton Musonifortgesetzt. Es ist der erste Prozess auf derGrundlage des 2002 in Deutschland eingeführ-ten Völkerstrafgesetzbuchs. Den Angeklagtenwerden 26 Verbrechen gegen die Menschlich-keit und 39 Kriegsverbrechen zur Last gelegt,die von Januar 2008 bis November 2009 in derDR Kongo verübt worden waren.

Deutschland nahm das Verschwindenlassennicht als eigenen Straftatbestand in das Straf-recht auf, wie es zur Umsetzung des Internatio-nalen Übereinkommens zum Schutz aller Per-sonen vor dem Verschwindenlassen notwendigwäre.

DiskriminierungAm 29. Oktober 2012 urteilte das Oberverwal-tungsgericht Rheinland-Pfalz, dass Beamteder Bundespolizei gegen das im Grundgesetzverankerte Diskriminierungsverbot verstoßenhätten, als sie bei einer Person ausschließlichaufgrund ihrer Hautfarbe eine Ausweiskon-trolle durchführten.

Amnesty International: Berichteÿ Germany: Legal provisions and political practices put per-

sons at risk of human rights violations, http://amnesty.org/en/library/info/EUR23/002/2012/en

ÿ Germany: Submission to the European Commission againstRacism and Intolerance on Germany, http://amnesty.org/en/library/info/EUR23/003/2012/en

DominikanischeRepublikAmtliche Bezeichnung: Dominikanische RepublikStaats- und Regierungschef: Danilo Medina

Sánchez (löste im August Leonel FernándezReyna im Amt ab)

Die Anzahl rechtswidriger Tötungendurch die Polizei war unverändert hoch.Personen haitianischer Herkunft wurdenweiterhin die Ausweispapiere verwei-gert. Fälle von Gewalt gegen Frauen undMädchen gaben nach wie vor Anlass zugrößter Besorgnis. Es wurde befürchtet,dass die vorgeschlagenen Reformen desStrafgesetzbuchs negative Auswirkungenauf Frauenrechte und das Recht auffreie Meinungsäußerung haben könnten.

HintergrundDer von der Partei der Dominikanischen Befrei-ung (Partido de la Liberación Dominicana –PLD) aufgestellte Kandidat Danilo Medina Sán-chez wurde im Mai 2012 zum Präsidenten ge-wählt und trat im August sein Amt an.

Wegen eines Gesetzes zu einer Steuerreform,das im November ratifiziert worden war, kames zu einer landesweiten Demonstrationswelle.Einige der Protestveranstaltungen wurden vonder Polizei gewaltsam niedergeschlagen.

Im elften Jahr in Folge ernannte der Kongressnoch immer keine Ombudsperson für Men-schenrechte.

Am 23. Februar 2012 trat das UN-Überein-kommen gegen Folter und andere grausame,

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Dominikanische Republik 115

unmenschliche oder erniedrigende Behand-lung oder Strafe in der Dominikanischen Re-publik in Kraft.

Im März überprüfte der UN-Menschenrechts-ausschuss den fünften regelmäßigen Berichtder Dominikanischen Republik und gab u. a.Empfehlungen ab zur Reduzierung von Men-schenrechtsverletzungen durch die Polizei, zuMaßnahmen zum Schutz haitianischer Mi-granten und dominikanischer Staatsbürger hai-tianischer Herkunft vor Diskriminierung sowiezum Kampf gegen geschlechtsspezifische Ge-walt.

Polizei und SicherheitskräfteDie Zahl der von der Polizei verübten Tötungenverringerte sich 2012 zwar gegenüber demVorjahr um 18%, war jedoch nach wie vor hoch.Indizien zufolge waren viele dieser Tötungenrechtswidrig.ý Yefri Felizor wurde am 31. Oktober 2012 wäh-rend einer Polizeiaktion im Viertel La Mina inder Stadt Santiago von der Polizei getötet. Au-genzeugen berichteten, dass Polizisten ihn zu-nächst durchsucht und ihm dann befohlen hät-ten wegzulaufen. Als er ihrem Befehl folgte,wurde er von den Ordnungskräften erschossen.Auch Ende 2012 war noch niemand für dierechtswidrige Tötung zur Verantwortung gezo-gen worden.

Die Polizei tötete mehrere Menschen im Zu-sammenhang mit Demonstrationen. Bei vielendieser Vorfälle wurde offensichtlich unnötigeoder unverhältnismäßige Gewalt angewandt.ý Im Juni wurden in Salcedo drei Männer undeine schwangere Frau bei einer Demonstrationgetötet. Sie hatte sich gegen die mangelndenErmittlungsfortschritte im Fall der Tötungeines Sportlers am 12. Mai 2012 gerichtet, fürdie Polizisten verantwortlich sein sollen. ImOktober gab der Generalstaatsanwalt bekannt,dass die Ermittlungen im Fall der vier Tötun-gen vom Juni im Gange seien.

Im November 2012 ernannte der Präsidenteine Kommission, die die Aufgabe hat, gesetz-geberische und politische Maßnahmen für eineumfassende Polizeireform vorzuschlagen.

StraflosigkeitIn vielen Fällen von Verstößen, die der Polizeiangelastet wurden, kam es trotz schlüssigerBeweise nicht zu einer Bestrafung der Täter.ý Die Behörden unternahmen nichts, um dasVerschwindenlassen von Gabriel Sandi Alistarund Juan Almonte Herrera aufzuklären. DieMänner waren zuletzt im Juli bzw. September2009 in Polizeigewahrsam gesehen worden. IhrVerbleib war zum Jahresende 2012 weiterhinunbekannt.

Im Februar 2012 machte der Interamerikani-sche Gerichtshof für Menschenrechte den do-minikanischen Staat für das Verschwindenlas-sen des Journalisten Narciso González Me-dina im Jahr 1994 verantwortlich. Im Oktoberbefand der Gerichtshof, dass der dominikani-sche Staat auch die Verantwortung für die Tö-tung von sieben Migranten aus Haiti durch dieStreitkräfte im Jahr 2000 trage.

Diskriminierung –haitianische Migranten unddominikanische Staatsangehörigehaitianischer HerkunftMehrere Gerichte wiesen den nationalen Wahl-ausschuss (Junta Central Electoral) an, fürHunderte von Dominikanern haitianischer Her-kunft, denen ihr Recht auf den Besitz von Per-sonaldokumenten verweigert worden war, Aus-weispapiere auszustellen. Bis zum Jahres-ende hatte der Wahlausschuss die Entschei-dung der Gerichte jedoch noch nicht umge-setzt.

Im Juli 2012 berichteten lokale Menschen-rechtsorganisationen, dass Personen, dieKlage gegen den Dominikanischen Wahlaus-schuss erhoben hatten, bedroht und einge-schüchtert wurden, als Mitarbeiter des Aus-schusses ihre Wohnviertel besuchten, um sieüber den Aufenthaltsstatus ihrer Eltern zu be-fragen.

Rechte von MigrantenDie Massenausweisung haitianischer Migran-ten wurde fortgesetzt. In vielen Fällen schie-nen die Ausweisungen willkürlich zu sein.

Am 25. Mai 2012 erließ der Direktor für Migra-

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116 Ecuador

tion eine Direktive, in der er den Bildungsmi-nister anwies, keine ausländischen Kinder ohnegültige Ausweisdokumente in den Schulen zuakzeptieren. Nachdem Kritik an der Direktivelaut geworden war, wurde sie im Juni zurück-gezogen.

Gewalt gegen Frauen und MädchenNach Angaben der Generalstaatsanwaltschaftsank die Zahl der im Jahr 2012 von ihrem jetzi-gen oder früheren Partner getöteten Frauen undMädchen gegenüber dem Vorjahr um 19%.

Frauenrechtsorganisationen äußerten die Be-fürchtung, dass die geplanten Änderungendes Strafgesetzbuchs zu einem Rückschritt imKampf gegen die Gewalt, der Frauen undMädchen ausgesetzt sind, führen könnten. Bei-spielsweise ließen die Änderungen das Ver-brechen der geschlechtsspezifischen Gewaltaußer Acht und reduzierten die Strafen für be-stimmte Formen der Gewalt gegen Frauen undMädchen.

Sexuelle und reproduktive RechteDas absolute Verbot von Schwangerschaftsab-brüchen blieb in Kraft. Die geplanten Ände-rungen des Strafgesetzbuchs würden zwar eineAusnahme erlauben, wenn Gefahr für das Le-ben der Frau besteht, doch bezeichneten Frau-enrechtsorganisationen den Wortlaut der dies-bezüglichen Bestimmung als zu vage.ý Im August 2012 starb das an Leukämie er-krankte 16-jährige Mädchen Rosaura wegenKomplikationen bei einer Fehlgeburt. Sie wardaran gehindert worden, einen von mehrerenmedizinischen Fachkräften empfohlenen thera-peutischen Schwangerschaftsabbruch durch-führen zu lassen, weil das Gesetz dem entge-genstand. Auch die Chemotherapie wurdeverzögert, weil die Ärzte befürchteten, dass derFötus dadurch geschädigt werden könnte.

Recht auf freie Meinungsäußerung –JournalistenDie nationale Gewerkschaft der Angestellten imZeitungswesen (Sindicato Nacional de Traba-jadores de Prensa) berichtete, dass zahlreicheJournalisten und andere Medienschaffende

schikaniert oder tätlich angegriffen wurden. Inden meisten Fällen wurden die Täter nicht zurVerantwortung gezogen.

Es wurde mit Sorge zur Kenntnis genommen,dass zu den vorgeschlagenen Reformen desStrafgesetzbuchs auch eine Strafandrohungvon bis zu drei Jahren Gefängnis wegen Kritikan gewählten Volksvertretern oder von der Re-gierung ernannten Beamten gehört.

Recht auf Wohnen –ZwangsräumungenNach Angaben lokaler NGOs wurden 2012mehrere rechtswidrige Zwangsräumungendurchgeführt. Dabei wandte die Polizei in meh-reren Fällen auf widerrechtliche Weise Gewaltan.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten die Domini-

kanische Republik in den Monaten November und Dezem-ber.

ÿ Dominican Republic: Submission to the UN Human RightCommittee, http://amnesty.org.14feb-youth.com/en/library/infoAMR27/001/2012/en

ÿ Dominican Republic: Open letter from Amnesty Internationalto Dominican presidential candidates for the May 2012

elections, http://195.234.175.160/en/library/info/AMR27/005/2012/en

ÿ Towards a successful reform? Proposals for an organic lawto help bring about comprehensive reform of the NationalPolice in the Dominican Republic, www.amnesty.org/en/library/info/AMR27/016/2012/en

EcuadorAmtliche Bezeichnung: Republik EcuadorStaats- und Regierungschef:

Rafael Vicente Correa Delgado

Sprecher indigener Gemeinschaften wa-ren mit fragwürdigen Strafanzeigen kon-frontiert, mit denen ihr Recht auf Ver-sammlungsfreiheit eingeschränkt wer-

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Ecuador 117

den sollte. Die Rechte indigener Bevölke-rungsgruppen auf vorherige Konsulta-tion und eine freiwillige, vorab und inKenntnis der Sachlage gegebene Zu-stimmung wurden nicht erfüllt.

HintergrundIndigenenverbände organisierten 2012 Mas-sendemonstrationen und Blockaden aus Pro-test gegen Regierungsvorschläge für die Nut-zung natürlicher Ressourcen und zur Einfor-derung des Rechts auf Konsultation.

Im August 2012 gewährte Ecuador dem Grün-der von WikiLeaks, Julian Assange, Asyl. Erbefand sich zum Jahresende noch in der ecua-dorianischen Botschaft in Großbritannien, woer nach der Ablehnung seines Rechtsmittelsgegen die drohende Auslieferung an Schwe-den durch den Obersten Gerichtshof Großbri-tanniens Asyl beantragt hatte. In Schwedendroht Assange ein Verfahren wegen sexuellerNötigung. Ecuador gewährte ihm mit der Be-gründung Asyl, dass ihm bei einer Auslieferungan Schweden eine Auslieferung an die USAund damit möglicherweise ein unfaires Verfah-ren, grausame, unmenschliche und erniedri-gende Behandlung, lebenslange Haft oder dieTodesstrafe drohen.

Im Oktober 2012 ordnete ein ecuadoriani-sches Gericht an, dass rund 200 Mio. US-Dol-

lar aus dem Vermögen des ErdölkonzernsChevron in Ecuador eingefroren werden soll-ten, um einem früheren Urteil nachzukommen,mit dem indigenen Gemeinden am AmazonasEntschädigungen in Höhe von 18,2 Mrd. US-Dollar für Umweltschäden zugesprochen wor-den waren. Anfang des Monats war ein vonChevron beim Obersten Gerichtshof der USAeingelegtes Rechtsmittel, mit dem die Klägerdaran gehindert werden sollten, den zugestan-denen Schadenersatz einzufordern, abgelehntworden. Im November verfügte ein Gericht inArgentinien das Einfrieren des Vermögens vonChevron in Argentinien, um dem Urteil desecuadorianischen Gerichtshofs Folge zu leis-ten.

Im September 2012 unterzeichnete Ecuadordie meisten Empfehlungen im Rahmen derUniversellen Regelmäßigen Überprüfung durchden UN-Menschenrechtsrat. Dazu gehörte dieGewährleistung des Rechts auf friedliche Ver-sammlung und Proteste durch Angehörigeund Sprecher indigener Gemeinschaften, dieDurchführung einer Überprüfung der beste-henden und der vorgeschlagenen Gesetzge-bung im Hinblick auf die Meinungsfreiheit so-wie die Aufhebung des Straftatbestands derVerleumdung. Dagegen wurde eine Empfeh-lung zur Gewährleistung des Rechts der indige-nen Bevölkerung auf freiwillige, vorab und inKenntnis der Sachlage gegebene Zustimmungabgelehnt.

VereinigungsfreiheitSprecher von Indigenen- und Kleinbauernver-bänden waren mit haltlosen Anklagen wegenTerrorismus, Sabotage und Mord Strafverfol-gung, willkürlichen Festnahmen und strengenKautionsauflagen konfrontiert, mit denen sie anProtesten gegen Maßnahmen und Gesetze derRegierung gehindert werden sollten. In denmeisten Fällen wurden die Klagen von den Ge-richten als unbegründet abgewiesen. ZumJahresende standen jedoch noch drei Indige-nen- und Kleinbauernsprecher unter Anklage.Sie befanden sich unter Auflagen auf freiemFuß. Drei weitere wurden zu kurzen Haftstrafenverurteilt.

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118 El Salvador

ý Im August 2012 wurden Carlos Pérez, Spre-cher der Organisation für kommunale Wasser-versorgung in der Provinz Azuay, Federico Guz-mán, Vorsitzender des Gemeindevorstands(Junta Parroquial) von Victoria del Portete, undEfraín Arpi, Sprecher der Gemeinde Tarqui,wegen der Errichtung einer Straßensperre beieiner Demonstration gegen ein neues Gesetzin der Provinz Azuay zu einer Haftstrafe vonacht Tagen verurteilt. Die Männer hatten gel-tend gemacht, dass das Gesetz den Zugangihrer Gemeinden zu Wasser beeinträchtigenwürde und sie außerdem nicht angemessen be-fragt worden seien. Federico Guzmán undEfraín Arpi hatten angegeben, nicht direkt andem Protest beteiligt gewesen zu sein. CarlosPérez gab seine Beteiligung zu, führte jedochan, dass der Verkehr alle 30 Minuten fließendurfte und dass auch Rettungsfahrzeuge pas-sieren konnten. Bis Jahresende war noch keinHaftbefehl gegen die Verurteilten erlassen wor-den.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenIm Juli 2012 bestätigte der InteramerikanischeGerichtshof für Menschenrechte, dass Ecua-dor keine Befragung der indigenen Kichwa inSarayaku (Provinz Pastaza) zu einem aufihrem Territorium geplanten Erdölprojektdurchgeführt hatte. Es wies den Staat Ecuadoran, den auf dem Gebiet von Sarayaku deponier-ten Sprengstoff zu entfernen bzw. zu entschär-fen, die Gemeinde vor zukünftigen, sie betref-fenden Entwicklungsprojekten zu befragenund Schritte zu unternehmen, um u. a. dasRecht auf vorherige Konsultation aller indige-nen Bevölkerungsgruppen umzusetzen.

Im November begann die öffentliche Aus-schreibung für die Erdölförderung in der Ama-zonasregion. Dabei gab es Bedenken, dassmöglicherweise betroffene indigene Gemein-den vorher nicht befragt worden waren.

In einem im August 2012 veröffentlichten Be-richt äußerte der UN-Ausschuss für die Besei-tigung der Rassendiskriminierung Bedenkenangesichts des Fehlens eines regulierten, sys-tematischen Verfahrens zur Konsultation der in-

digenen Bevölkerung in sie betreffenden An-gelegenheiten wie der Förderung natürlicherRessourcen.

Recht auf freie MeinungsäußerungEs bestand die Befürchtung, dass Gesetze zuStraftatbeständen wie Beleidigung unter Ver-stoß gegen das Recht auf freie Meinungsäuße-rung gegen Journalisten eingesetzt wurden,wodurch auch andere regierungskritische Stim-men zum Schweigen gebracht werden könn-ten.ý Im Februar 2012 bestätigte der Nationale Ge-richtshof die Verhängung einer dreijährigenHaftstrafe und einer Entschädigungszahlung inHöhe von 40 Mio. US-Dollar wegen Verleum-dung gegen drei Eigentümer und einen Journa-listen der Zeitung El Universo. Sie hatten denPräsidenten in einem Artikel als »Diktator« be-zeichnet und ihn beschuldigt, bei den Polizei-protesten im September 2010 den Schießbefehlauf ein Krankenhaus erteilt zu haben. Alle vierMänner wurden später vom Präsidenten begna-digt.

Amnesty International: Berichtÿ »So that no one can demand anything«: Criminalizing the

right to protest in Ecuador?, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR28/002/2012/en

El SalvadorAmtliche Bezeichnung: Republik El SalvadorStaats- und Regierungschef:

Carlos Mauricio Funes Cartagena

Die Verantwortlichen für Menschen-rechtsverletzungen während des be-waffneten Konflikts (1980–92) bliebenweiterhin straffrei. Das Justizsystem ge-riet in eine Krise, da Parlamentsmitglie-dern vorgeworfen wurde, sie hätten ver-sucht, auf die Auswahl und Ernennung

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El Salvador 119

von Richtern Einfluss zu nehmen. DieVerletzungen der sexuellen und repro-duktiven Rechte gaben nach wie vor An-lass zur Sorge.

HintergrundDie Regierung berichtete zwar, dass die Mord-rate gesunken sei, doch bestimmten Gewalt-verbrechen 2012 weiterhin die politischeAgenda.

StraflosigkeitDie Straflosigkeit in Fällen von Menschen-rechtsverletzungen aus der Vergangenheit gabweiterhin Anlass zu Besorgnis.ý Im Januar 2012 entschuldigte sich der Präsi-dent im Namen des Staates für das Massakeran mehr als 700 Männern, Frauen und Kindernin El Mozote und den umliegenden Dörfern imDepartamento Morazán und kam damit einerim Jahr 2010 von der InteramerikanischenMenschenrechtskommissionausgesprochenenEmpfehlung nach. 1981 hatten Angehörige derStreitkräfte die Betroffenen über einen Zeitraumvon drei Tagen gefoltert und getötet. Im De-zember fällte der Interamerikanische Gerichts-hof für Menschenrechte sein abschließendesUrteil über das Massaker. Darin forderte er dieRegierung auf, Untersuchungen durchzufüh-ren und die Verantwortlichen zur Rechenschaftzu ziehen. Mit dem Urteil wurde die Regierungaußerdem aufgefordert sicherzustellen, dassdas Amnestiegesetz von 1993 nicht zu einerVerhinderung der strafrechtlichen Verfolgungvon Kriegsverbrechern führt, die Erstellungeiner Liste der Opfer fortgesetzt wird, Exhumie-rungen vorgenommen werden und die Famili-enangehörigen Entschädigungen erhalten.

ý Im August 2012 machten Überlebende undAngehörige von Opfern des im Jahr 1982 ver-übten Massakers von El Calabozo mit einemGedenktag darauf aufmerksam, dass 30 Jahredanach noch immer niemand zur Verantwor-tung gezogen worden war. Bei dem Massakerwaren mehr als 200 Frauen, Männer undKinder von Angehörigen der Streitkräfte er-mordet worden. Während einer öffentlichenVeranstaltung im November überreichten Ver-treter der Angehörigen und Überlebendeneine Petition mit mehr als 5000 Unterschrif-ten, mit der sie die Regierung dazu aufriefen,Initiative zu ergreifen und die Forderungender Opfer und ihrer Angehörigen nach Wahr-heit, Gerechtigkeit und Entschädigung zu er-füllen.

Sexuelle und reproduktive RechteAlle Arten von Schwangerschaftsabbrüchengalten weiterhin als Straftat.ý Mery (Name geändert), eine 27-jährige Frau,wollte in der achten Schwangerschaftswochedurch die Einnahme von Medikamenten einenSchwangerschaftsabbruch herbeiführen. Alssie sich nach der Medikamenteneinnahme inärztliche Behandlung begab, wurde sie vonKlinikpersonal bei der Polizei angezeigt. ObwohlMery sich in einer extremen Notlage befandund noch in ärztlicher Behandlung war, wurdesie mit Handschellen an eine Krankentragegekettet und polizeilich bewacht. Im Augustwurde Mery für schuldig erklärt und wegenHerbeiführung einer Abtreibung zu einer zwei-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Wenige Tagenach dem Antritt ihrer Haftstrafe unternahmMery einen Selbstmordversuch. Daraufhinwurde sie aus dem Gefängnis in eine psychiatri-sche Klinik verlegt und dort unter Aufsicht ge-halten. Ende 2012 wartete sie noch auf die Ent-scheidung über die von ihr eingelegtenRechtsmittel.

Internationale StrafverfolgungIm September wurde der ehemalige salvadoria-nische Vizeminister für Öffentliche Sicherheitund frühere Oberst, Inocente Orlando Montano,bei einer Anhörung vor einem US-amerikani-

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schen Gericht beschuldigt, die Einwanderungs-behörden der USA belogen zu haben, um inden USA bleiben zu können. Falls er für schul-dig befunden werden sollte, könnte dies denWeg für seine Auslieferung nach Spanien eb-nen, wo ihn eine Anklage wegen seiner mut-maßlichen Rolle bei dem im Jahr 1989 in El Sal-vador verübten Mord an sechs Jesuitenpries-tern, ihrer Haushälterin und deren 16-jährigerTochter erwartet.

JustizsystemIm April 2012 gaben Mitglieder des Parlaments(Asamblea Legislativa) Erklärungen ab, denenzufolge die Regeln für die Ernennung von Rich-tern – insbesondere von zwei Mitgliedern derVerfassungskammer (Sala de lo Constitucional)des Obersten Gerichtshofs – anscheinend um-gangen wurden. Es bestand die Sorge, dassdurch die Versuche, das Ernennungsverfah-ren für Richter zu umgehen, die Möglichkeitgeschaffen werden könnte, Richter eher auf-grund ihrer parteipolitischen Zugehörigkeit alswegen ihrer fachlichen Eignung auszuwählen.Im November besuchte die UN-Sonderbericht-erstatterin über die Unabhängigkeit von Rich-tern und Anwälten El Salvador, um die Situationim Land zu beurteilen. Am Ende ihres Be-suchs erinnerte sie die Behörden an die Ver-pflichtung des Staates, die Unabhängigkeitder Justiz zu respektieren und von jeglicher Ein-mischung in die Judikative Abstand zu neh-men. Sie empfahl zudem eine Überarbeitungdes Ernennungsverfahrens für Richter. BisEnde 2012 war die empfohlene Überarbeitungdes Verfahrens noch nicht erfolgt.

EritreaAmtliche Bezeichnung: Staat EritreaStaats- und Regierungschef: Isayas Afewerki

Der Militärdienst war obligatorisch undwurde oft auf unbestimmte Zeit ausge-dehnt. Ein militärisches Training für Min-derjährige war ebenfalls zwingend vor-geschrieben. Zum Wehrdienst eingezo-gene Personen wurden zur Verrichtungvon Zwangsarbeit eingesetzt. Nach wievor waren Tausende gewaltlose politi-sche Gefangene und andere aus politi-schen Gründen Inhaftierte unter ent-setzlichen Bedingungen willkürlich in-haftiert. Folter und andere Misshand-lungen waren an der Tagesordnung. Op-positionsparteien, unabhängige Medienoder zivilgesellschaftliche Organisatio-nen waren verboten. Nur vier Religionenwaren vom Staat zugelassen. Alle ande-ren waren untersagt, und ihre Anhängerwurden festgenommen und inhaftiert.Nach wie vor suchte eine große Zahl vonEritreern im Ausland Zuflucht.

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HintergrundDie humanitäre Situation im Land war Berich-ten zufolge ernst, und die Wirtschaft stagniertenach wie vor. Der Bergbau entwickelte sichpositiv, da die bedeutenden Gold-, Kali- undKupfervorkommen ausländische Regierungenund Privatfirmen anzogen. Dieses Interessebestand trotz des Risikos der Mittäterschaft beiMenschenrechtsverletzungen durch den Ein-satz von Zwangsarbeit in den Minen.

Die äthiopische Armee stieß im März 2012zweimal nach Eritrea vor und gab erfolgreicheAngriffe gegen Lager bekannt, in denen Armee-angaben zufolge äthiopische bewaffnete Op-positionsgruppen Trainingseinheiten absolvier-ten. Äthiopien beschuldigte Eritrea, Rebellenzu unterstützen, die im Januar in Äthiopien eineGruppe europäischer Touristen angriffen(siehe Länderbericht Äthiopien). Die Bewaffne-ten, die die Verantwortung für den Vorfallübernahmen, gaben an, keine Lager in Eritreazu unterhalten.

Im Juli 2012 ernannte der UN-Menschen-rechtsrat einen Sonderberichterstatter für Eri-trea und reagierte damit auf »die anhaltenden,weit verbreiteten und systematischen Men-schenrechtsverletzungen . . . durch die eritrei-schen Behörden«. Die eritreische Regierunglehnte die Ernennung als politisch motiviert ab.

Im Juli berichtete die UN-Überwachungs-gruppe für Somalia und Eritrea, dass die Un-terstützung Eritreas für Al-Shabab in Somaliazurückgegangen sei, Eritrea aber weiterhin be-waffnete Oppositionsgruppen der Nachbarlän-der, insbesondere aus Äthiopien, bei sich auf-nehme. Im Bericht hieß es weiter, dass eritrei-sche Beamte in den Handel mit Waffen undMenschen verwickelt seien.

Etwa Mitte des Jahres gab es Berichte, die da-rauf hindeuteten, dass die Regierung aus un-bekannten Gründen Waffen an die Zivilbevölke-rung ausgab.

Gewaltlose und andere politischeGefangeneIn Eritrea befanden sich 2012 nach wie vor Tau-sende gewaltlose und andere politische Ge-fangene unter entsetzlichen Bedingungen in

Haft. Unter ihnen waren Politiker, Journalistenund Menschen, die ihren Glauben praktizier-ten. Auch Personen, die sich dem Militär-dienst entziehen, das Land verlassen oder sichohne Erlaubnis frei im Land bewegen wollten,gehörten dazu. Einige gewaltlose politische Ge-fangene waren bereits über ein Jahrzehntohne Anklage inhaftiert.

In der Öffentlichkeit bekannte Gefangenedurften keine Besuche empfangen, und inden meisten Fällen wussten ihre Familien nicht,wo sie sich befanden und wie es ihnen ge-sundheitlich ging. Die Regierung weigerte sichnach wie vor, Meldungen zu bestätigen oderzu dementieren, denen zufolge eine Reihe vonGefangenen in Haft verstorben war.ý Laut Berichten sollen die Journalisten DawitHabtemichael, Mattewos Habteab und SahleTsegazab, die seit ihrer Festnahme im Jahr2001 willkürlich inhaftiert waren, in den ver-gangenen Jahren in der Haft gestorben sein.Die Regierung bestätigte diese Berichte je-doch nicht.

ReligionsfreiheitLediglich den Mitgliedern der staatlich aner-kannten Religionsgemeinschaften – der eri-treisch-orthodoxen, der römisch-katholischenund der evangelisch-lutherischen Kirche – so-wie Anhängern des Islam war es gestattet, ihreReligion auszuüben. Mitglieder verbotenerGlaubensrichtungen waren weiterhin Festnah-men, willkürlichen Inhaftierungen und Miss-handlungen ausgesetzt.ý Im April 2012 wurden zehn Zeugen Jehovasim Zusammenhang mit dem Besuch einesBegräbnisses in der Stadt Keren festgenom-men. Ende des Jahres befanden sich 56 Zeu-gen Jehovas wegen ihres Glaubens im Gefäng-nis.

Folter und andere MisshandlungenFolterungen und anderweitige Misshandlungenvon Gefangenen waren weit verbreitet. Gefan-gene wurden geschlagen, in schmerzhaften Po-sitionen gefesselt und extremen Witterungsbe-dingungen ausgesetzt sowie über lange Zeit-räume in Einzelhaft gehalten. Die Haftbedin-

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gungen kamen grausamer, unmenschlicherund erniedrigender Behandlung gleich. Einegroße Anzahl von Gefangenen war in Schiffs-containern aus Metall eingesperrt oder in un-terirdischen Zellen untergebracht, die sich viel-fach in Wüstenregionen befanden, wo sie ex-tremer Hitze und Kälte ausgesetzt waren. DieGefangenen erhielten weder ausreichendeNahrung noch sauberes Trinkwasser. Häufigwar die medizinische Versorgung unzurei-chend oder wurde den Gefangenen ganz ver-weigert.ý Die Journalistin Yirgalem Fisseha Mebrahtu,die im Februar 2009 festgenommen wordenwar, wurde Berichten zufolge im Januar 2012 inein Krankenhaus eingeliefert. Dort stand sieunter ständiger Überwachung und durfte kei-nen Besuch empfangen. Ihrer Familie wurdenicht mitgeteilt, warum sie in ein Krankenhausverlegt worden war.ý Der ehemalige Außenminister – ein Mitgliedder G-15-Gruppe, zu der elf bekannte, seit2001 willkürlich inhaftierte Politiker gehören –wurde Berichten zufolge im Juli wegen schwe-rer Krankheit in ein Krankenhaus eingeliefert.Eine angemessene medizinische Versorgungstand in Eritrea jedoch nicht zur Verfügung.Sein Schicksal war Ende 2012 ungewiss.

Es gab Berichte über eine Reihe von Todesfäl-len in Gewahrsam.ý So soll im August 2012 der seit September2008 inhaftierte Zeuge Jehovas, YohannesHaile, im Me’eter-Gefängnis an den Folgen ex-tremer Hitze gestorben sein. Er war seit Okto-ber 2011 unterirdisch eingesperrt gewesen.Drei weitere Gefangene befanden sich demVernehmen nach in einem kritischen Zustand.Ihr Schicksal war Ende des Jahres ungewiss.

MilitärdienstDer Militärdienst war für Frauen und Männerüber 18 Jahren obligatorisch. Alle Schülermussten das letzte Schuljahr im militärischenAusbildungslager Sawa verbringen. DieseMaßnahme betraf schon Jugendliche im Altervon 15 Jahren. In Sawa litten die Minderjähri-gen unter den schlechten Bedingungen undharten Strafen für Regelübertretungen.

Der Militärdienst dauerte eigentlich 18 Mo-nate, wurde aber häufig auf unbestimmte Zeitverlängert. Den Militärdienstleistenden wurdengeringe Löhne gezahlt, die nicht zur Deckungder Grundbedürfnisse ihrer Familien ausreich-ten. Sie mussten häufig Zwangsarbeit in Re-gierungsprojekten, z. B. in der Landwirtschaftoder in privaten Firmen im Besitz des Militärsoder der Eliten der Regierungspartei, leisten.Die Strafen für Deserteure und Militärdienst-verweigerer umfassten Folter und andere Miss-handlungen.

Flüchtlinge und AsylsuchendeTausende Eritreer verließen 2012 das Land,überwiegend um dem unbefristeten Militär-dienst zu entgehen. Bei Versuchen, die Grenzenach Äthiopien zu überqueren, wurde weiter-hin auf die Flüchtigen scharf geschossen. Aufder Flucht in den Sudan gefasste Personenwurden willkürlich inhaftiert und heftig mitSchlägen traktiert. Familienangehörige derGeflohenen mussten Geldstrafen zahlen oderwurden inhaftiert.

Für Asylsuchende aus Eritrea, die in ihr Hei-matland abgeschoben wurden, bestand dieakute Gefahr, willkürlich inhaftiert und gefoltertzu werden. Dennoch wurden zahlreiche Eri-treer aus Staaten wie Ägypten, Sudan, Schwe-den, Ukraine und Großbritannien nach Eritreazurückgeführt.ý Am 24. Juli 2012 führte der Sudan neun Asyl-suchende und einen Flüchtling nach Eritreazurück. Sie waren von einem sudanesischenGericht wegen illegaler Einreise schuldig ge-sprochen worden.

MenschenhandelDer Bericht der UN-Überwachungsgruppe fürSomalia und Eritrea vom Juli stellte fest, dasseritreische Beamte, darunter auch hochrangigeMilitärs, Waffenschmuggel und Menschen-handel durch kriminelle Netzwerke im Sudanund auf dem Sinai kontrollierten. Dem Berichtzufolge deutete der Umfang der Aktivitäten aufeine Beteiligung der eritreischen Regierunghin.

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Fidschi 123

EstlandAmtliche Bezeichnung: Republik EstlandStaatsoberhaupt: Toomas Henrik IlvesRegierungschef: Andrus Ansip

Etwa 100000 überwiegend russischspra-chige Menschen blieben staatenlos undverfügten somit nur über eingeschränktepolitische Rechte. Nationale Menschen-rechtsinstitutionen entsprachen nichtden internationalen Standards. Die Be-dingungen bei der Aufnahme von Asyl-suchenden und Flüchtlingen waren un-angemessen.

Diskriminierung – ethnischeMinderheitenEtwa 100000 Personen (ca. 7% der Bevölke-rung) blieben staatenlos. Die große Mehrheitvon ihnen war russischsprachig. In Estland ge-borene Kinder staatenloser Eltern erhieltennach wie vor nicht automatisch die estnischeStaatsbürgerschaft, sie hatten aber Zugang zueinem vereinfachten Einbürgerungsverfahren.Staatenlose kamen weiterhin nicht in den Ge-nuss aller politischen Rechte. Berichten zufolgewaren sie überproportional von Armut und Ar-beitslosigkeit betroffen. Der Nachweis vonKenntnissen der estnischen Sprache stellte fürrussischsprachige Personen offensichtlicheines der Haupthindernisse beim Erwerb derStaatsangehörigkeit und anderer Rechte dar.

Gesetzliche, verfassungsrechtlicheund institutionelle EntwicklungenDer Justizkanzler, der gleichzeitig die Aufgabeneiner Ombudsperson und des nationalen Prä-ventionsmechanismus gemäß dem Fakultativ-protokoll zum UN-Übereinkommen gegen Fol-ter übernimmt, erfüllte nicht die Anforderun-gen, die die Pariser Prinzipien an unabhängigenationale Menschenrechtsinstitutionen stellen.

Die Definition von Folter und das für diesesVerbrechen im Strafgesetzbuch vorgeseheneStrafmaß entsprachen noch immer nicht denAnforderungen des UN-Übereinkommens ge-gen Folter.

Flüchtlinge und AsylsuchendeDie Bedingungen bei der Aufnahme der weni-gen Asylsuchenden, die jedes Jahr ins Landkommen, waren 2012 weiterhin unangemes-sen. Berichten zufolge erschwerte die zu ge-ringe Anzahl zur Verfügung stehender Dolmet-scher die Antragstellung und die Kommunika-tion zwischen den Asylsuchenden und den Be-hörden insgesamt.

Die Maßnahmen zur Sicherstellung der sozia-len und wirtschaftlichen Integration vonFlüchtlingen waren unzureichend.

FidschiStaatsoberhaupt: Ratu Epeli NailatikauRegierungschef: Josaia Voreqe Bainimarama

Die Rechte auf freie Meinungsäußerungsowie auf Versammlungs- und Vereini-gungsfreiheit waren unter der Militär-herrschaft weiter eingeschränkt. Wich-tige Politiker und Menschenrechtsvertei-diger wurden unter dem Vorwurf, einschweres Verbrechen begangen zu ha-ben, festgenommen und einige vonihnen zu Haftstrafen verurteilt. Fehlende

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124 Fidschi

Rechtsstaatlichkeit und Unabhängig-keit der Justiz gaben nach wie vor Anlasszu Besorgnis.

HintergrundIm Juli 2012 wurde per Erlass ein Verfahren zurErarbeitung einer neuen Verfassung festge-legt. Mit dem Verfahren wurde Teilnehmern amPutsch von 2006 volle Immunität vor Strafver-folgung eingeräumt. Die im April eingerichteteVerfassungskommission äußerte sich besorgtüber dieses Vorgehen, und auch von andererSeite verlautete Kritik. Entgegen der früherenPraxis öffentlicher Konsultationen wurde derÜberarbeitungsprozess im November dahin-gehend geändert, dass die Öffentlichkeit nichtmehr zum Verfassungsentwurf konsultiertwerden muss, bevor er der Verfassunggeben-den Versammlung vorgelegt wird.

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Versammlungs- undVereinigungsfreiheitIm Januar 2012 wurden die Notstandsbestim-mungen (Public Emergency Regulations)durch eine Verordnung zur Änderung des Ge-setzes über die öffentliche Ordnung (PublicOrder Act [Amendment] Decree) ersetzt, die je-doch ähnliche Einschränkungen des Rechtsauf freie Meinungsäußerung und des Rechtsauf friedliche Versammlung enthält. EineReihe von seit 2009 erlassenen Verordnungenwurde dazu verwendet, Regierungskritikerzum Schweigen zu bringen, friedliche Proteste

zu verhindern und Versammlungen aufzulö-sen.ý Im Mai 2012 zog die Polizei die Genehmigungfür einen Marsch zum Internationalen Tag ge-gen Homophobie und Transphobie am Tag derVeranstaltung zurück.ý Am 11. Juli 2012 nahm die Polizei den Funk-tionär der Arbeiterpartei Vyas Deo Sharma und14 seiner Anhänger wegen eines Treffens ineiner Privatwohnung fest und hielt alle überNacht in Gewahrsam.

Die anscheinend politisch motivierte Strafver-folgung mehrerer Menschenrechtsverteidigersowie früherer wichtiger Politiker führte 2012 zueiner Einschränkung der Meinungsfreiheit.ý Im Juli wurde gegen das nicht staatliche Citi-zens’ Constitutional Forum wegen eines imApril im Newsletter der Organisation veröffent-lichten Artikels mit dem Titel »Fidschi: Rechts-staatlichkeit am Ende« der Vorwurf der Miss-achtung des Gerichts erhoben.ý Im August wurde der im Jahr 2006 abge-setzte Ministerpräsident Laisenia Qarase we-gen vermutlich politisch motivierter Korrupti-onsvorwürfe zu einer Gefängnisstrafe vonzwölf Monaten verurteilt.

Die Regierung stand einer Prüfung der Men-schenrechtssituation in Fidschi durch externeInstitutionen weiter kritisch gegenüber.ý Im September 2012 wurde eine Delegationder Internationalen Arbeitsorganisation (ILO)aus Fidschi ausgewiesen.

Folter und andere MisshandlungenDer Polizei und den Sicherheitskräften des Lan-des wurden Folterungen und andere Miss-handlungen (z. B. in Form von Schlägen) sowiedie Bedrohung und Einschüchterung vor al-lem regierungskritischer Bürger vorgeworfen.ý Im September wurden fünf aus dem Gefäng-nis entflohene Männer von den Sicherheits-kräften aufgegriffen und Berichten zufolge ge-foltert. Alle fünf wurden ins Krankenhaus ein-geliefert, einem der Männer musste als Folgeder erlittenen Verletzungen ein Bein amputiertwerden.

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Justizsystem und fehlendeRechenschaftspflichtDie fehlende Möglichkeit zur gerichtlichenÜberprüfung von Regierungsentscheidungenund die Unabsetzbarkeit der Richter beein-trächtigten die Rechtsstaatlichkeit und denZugang zu den Gerichten. Für Fälle von Men-schenrechtsverletzungen aus der Vergangen-heit herrschte nach wie vor Straffreiheit.ý Im Juli 2012 reichte Felix Anthony vom Ge-werkschaftsbund Fiji Trades Union Congress(FTUC), der im Februar 2011 von Militärange-hörigen misshandelt worden war, eine formelleBeschwerde ein. Die Polizei weigerte sich, zuden von ihm erhobenen Vorwürfen gegen denMinisterpräsidenten und Militärchef Josaia Vor-eqe Bainimarama Ermittlungen aufzunehmen.ý Im Januar 2012 erklärte die gemeinnützigebritische Organisation Law Society Charity ineinem Bericht, in Fidschi herrsche »keineRechtsstaatlichkeit« und auf die Unabhängig-keit der Justiz könne man sich nicht verlassen.

FinnlandAmtliche Bezeichnung: Republik FinnlandStaatsoberhaupt: Sauli Niinistö (löste im März

Tarja Halonen im Amt ab)Regierungschef: Jyrki Katainen

Asylsuchende waren in ungeeignetenEinrichtungen inhaftiert. HinsichtlichFinnlands Beteiligung am CIA-Programmfür außerordentliche Überstellungenund Geheimgefängnisse wurde eine Un-tersuchung eingeleitet. Kriegsdienstver-weigerer aus Gewissensgründen musstenHaftstrafen verbüßen.

Migranten und AsylsuchendeMindestens 1300 Migranten und Asylsuchendewurden 2012 inhaftiert. Entgegen internationa-len Standards waren mehr als 65% von ihnen

zusammen mit Straftatverdächtigen in Haft-einrichtungen der Polizei untergebracht. Siehatten keinen Zugang zu Therapieangebotenfür Folteropfer, zu Bildungseinrichtungen undanderen Dienstleistungen. Ein minderjährigerJugendlicher ohne Begleitung wurde drei Mo-nate lang ohne Zugang zu Bildung gemeinsammit Erwachsenen in einer Hafteinrichtung inMetsälä festgehalten.

Das finnische Asylverfahren sah nach wie vorkein Berufungsrecht mit aufschiebender Wir-kung vor. Dadurch stieg das Risiko, dass Perso-nen in Länder zurückgeführt wurden, in de-nen ihnen Folter oder andere Misshandlungendrohten.ý Im August 2012 sollte ein tschetschenischerAsylsuchender nach Russland abgeschobenwerden, obwohl sein Rechtsmittel noch vordem Obersten Verwaltungsgericht anhängigwar. Eine Stunde nach seiner Abreise erließder UN-Ausschuss gegen Folter eine einstwei-lige Verfügung, um seine Rückführung zu ver-hindern. Die Behörden schoben ihn dennochab.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm September 2012 teilte der Menschenrechts-kommissar des Europarats mit, Gewalt gegenFrauen stelle in Finnland weiterhin ein ernsthaf-tes Problem dar. Frauen und Mädchen seiennach wie vor nur unzureichend vor Vergewalti-gung und anderen Formen sexueller Gewaltgeschützt. Es wurde noch immer zwischen ver-schiedenen Kategorien von Vergewaltigung

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unterschieden, je nach Ausmaß der vom Täterausgeübten oder angedrohten körperlichenGewalt. Nur wenige Fälle kamen vor Gerichtund endeten mit einer Verurteilung.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitDer Ombudsmann des Parlaments leitete eineUntersuchung zur Beteiligung Finnlands amCIA-Programm für außerordentliche Überstel-lungen und Geheimgefängnisse ein. Er ist be-fugt, Verschlusssachen einzusehen und Klagegegen Staatsbedienstete zu erheben, die imVerdacht stehen, bei der Ausübung ihrerdienstlichen Pflichten Straftaten begangen zuhaben. Im November richtete der Ombuds-mann detaillierte schriftliche Anfragen an 15Regierungsbehörden mit der Bitte um Informa-tion.

Internationale StrafgerichtsbarkeitDas Berufungsgericht Helsinki bestätigte am30. April 2012 das Urteil gegen François Baza-ramba, der wegen Völkermordes in Ruanda1994 schuldig gesprochen worden war. Am22. Oktober lehnte der Oberste Gerichtshof denAntrag von François Bazaramba auf Zulas-sung eines Rechtsmittels ab.

Exzessive Gewaltanwendungý Am 26. Mai 2012 starb ein 30-jähriger Mannauf der Polizeistation von Vantaa in Gewahr-sam, nachdem Polizeibeamte eine Elektro-schockwaffe gegen ihn eingesetzt hatten. Eswurden Ermittlungen eingeleitet, um festzustel-len, ob sein Tod unmittelbar auf die Elektro-schockwaffe zurückzuführen war.ý Im August 2012 setzte die Polizei in Miehik-kälä eine Elektroschockwaffe gegen einen14-jährigen Jungen ein und verletzte ihn amArm. Eine Untersuchung des Vorfalls wurdevon der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Gewaltlose politische GefangeneKriegsdienstverweigerer mussten nach wie vorHaftstrafen verbüßen, wenn sie den Zivildienstablehnten. Dieser hatte aufgrund seiner Längeweiterhin Bestrafungscharakter und stellteeine Diskriminierung dar.

Amnesty International: Berichtÿ Finland: Limited inquiries into rendition programme fail to

meet obligation of investigation under international humanrights law, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR20/001/2012/en

FrankreichAmtliche Bezeichnung: Französische RepublikStaatsoberhaupt: François Hollande (löste im Mai

Nicolas Sarkozy im Amt ab)Regierungschef: Jean-Marc Ayrault (löste im Mai

François Fillon im Amt ab)

Zu Vorwürfen wegen Todesfällen in Poli-zeigewahrsam sowie wegen Folterungenund anderen Misshandlungen durchPolizeibeamte wurden nur ungenü-gende Ermittlungen durchgeführt, diekeine ausreichende Wirkung zeigten.Tausende Roma wurden durch Zwangs-räumungen von informellen Siedlungenobdachlos. Das beschleunigte Verfahrenfür die Prüfung von Asylanträgen ent-sprach nach wie vor nicht internationalenStandards.

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Tod in PolizeigewahrsamEs bestanden nach wie vor Zweifel daran, dassUntersuchungen zu Todesfällen in Polizeige-wahrsam ausreichend zügig, wirksam und un-abhängig erfolgten. In vier seit langem anhän-gigen Verfahren zu Todesfällen in Gewahrsamwurden die Ermittlungen im Berichtsjahr ein-gestellt:ý Am 26. September 2012 befand der Ermitt-lungsrichter im Fall von Abou Bakari Tandia,es gebe »keinen Beweis dafür, dass ein Polizei-beamter für den Tod des Opfers verantwort-lich« sei. Abou Bakari Tandia war in der Nachtvom 5. auf den 6. Dezember 2004 im Gewahr-sam der Polizei von Courbevoie ins Koma gefal-len und am 24. Januar 2005 gestorben. DerBeamte, der die offenbar für sein Koma ursäch-liche Fixierungstechnik angewandt hatte, warEnde des Jahres auf einer anderen Polizeiwa-che weiter im Dienst. Ein Rechtsmittelverfah-ren in dem Fall war noch anhängig.ý Am 15. Oktober 2012 befand das Gericht vonPontoise im Fall des 69-jährigen Algeriers AliZiri, der zwei Tage nach seiner Ingewahrsam-nahme auf der Polizeiwache Argenteuil imJuni 2009 gestorben war, es sei »keine vorsätz-liche Anwendung von Gewalt erkennbar, diedirekt oder indirekt zum Tod von Ali Ziri geführthaben könnte«. Eine im April 2011 durchge-führte Autopsie hatte jedoch bestätigt, dass AliZiri in Polizeigewahrsam infolge der ange-wandten Fixierungstechniken nach mehrmali-gem Erbrechen erstickt war. Eine richterlicheBefragung der Polizeibeamten, die Ali Ziri undseinen Freund Arezki Kerfali festgenommenund zur Polizeiwache von Argenteuil gebrachthatten, fand nie statt. Ein Rechtsmittelverfah-ren war anhängig.ý Ebenfalls am 15. Oktober 2012 brachte derErmittlungsrichter den Fall von MahamadouMaréga, einem Migranten ohne regulären Auf-enthaltsstatus, zum Abschluss. Der Mann ausMali starb am 30. November 2010, nachdembei seiner gewaltsamen Festnahme in Colom-bes zweimal mit einer Taser-Waffe auf ihn ge-feuert worden war. Am 4. Mai hatte der Défen-seur des droits die Eröffnung eines Disziplinar-verfahrens gegen die beteiligten Polizisten we-

gen unverhältnismäßiger Anwendung von Elek-troschockwaffen gefordert. Ein Berufungsver-fahren war anhängig.ý Im Dezember 2012 wurde im Fall von Moha-med Boukrourou, der am 12. November 2009in einem Polizeitransporter zu Tode gekommenwar, das Verfahren eingestellt. Ein Rechtsmit-telverfahren zu dieser Entscheidung war nochanhängig. Die vier an seiner Festnahme in Va-lentigney beteiligten Polizeibeamten waren Be-richten zufolge Ende des Jahres weiter imDienst. Es waren keine Disziplinarverfahren ge-gen sie eröffnet worden.

In einigen anderen Fällen wurden die Ermitt-lungen fortgesetzt.ý Am 24. Februar 2012 verurteilte das Straf-gericht in Grasse drei der sieben Polizisten,die am Tod von Abdelhakim Ajimi bei seinerFestnahme am 9. Mai 2008 beteiligt waren, zuBewährungsstrafen von sechs, 18 und 24 Mo-naten. Amnesty International äußerte dieSorge, dass diese Strafmaße möglicherweisenicht der Schwere der Tat entsprachen. Diedrei Polizeibeamten legten Berufung ein. Vierweitere beteiligte Beamte wurden freigespro-chen.ý Bei den Ermittlungen zum Fall von LamineDieng, der am 17. Juni 2007 in Paris bei seinerFestnahme zu Tode gekommen war, warenkaum Fortschritte zu verzeichnen. LamineDieng war von Polizeibeamten auf der Straßeaufgegriffen und später in einem Polizeifahr-zeug gewaltsam festgehalten und fixiert wor-den, wo er das Bewusstsein verlor und er-stickte.

Folter und andere MisshandlungenDas französische Strafgesetzbuch enthielt nachwie vor keine mit internationalen Standards inEinklang stehende Definition von Folter. Esmangelte an umgehenden, unabhängigen,unparteiischen und effektiven Ermittlungen zuVorwürfen über Misshandlungen durch Ange-hörige der Ordnungskräfte. Am 19. April 2012forderte der Europäische Ausschuss zur Ver-hütung von Folter und unmenschlicher oder er-niedrigender Behandlung oder Strafe (CPT)eine Politik der »Nulltoleranz« gegenüber Miss-

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handlungen durch die Polizei sowie Beschrän-kungen für den Einsatz von Elektroschockwaf-fen.

Diskriminierung2012 wurden Angehörige ethnischer, religiöserund sexueller Minderheiten (LGBTI) erneutOpfer von Diskriminierung.

Im Dezember legte der Innenminister einenneuen Entwurf des Ethikkodex für die Angehö-rigen der Sicherheitskräfte vor, der zum erstenMal auch Bestimmungen für das Vorgehen beiPersonenkontrollen und Leibesvisitationen ent-hielt. Im September hatte sich der Minister da-gegen ausgesprochen, alle Personenkontrollenoffiziell zu registrieren, um zu verhindern, dassMenschen aufgrund ihrer Hautfarbe, Herkunftoder Religion zum Ziel behördlicher Verfol-gung werden (racial profiling). Mehrere Men-schenrechtsorganisationen bemühten sichweiterhin, alle Personenkontrollen zu doku-mentieren, die aufgrund von ethnischen Krite-rien erfolgten.

Ein Gesetz, das die Verhüllung des Gesichts inder Öffentlichkeit verbietet, blieb 2012 weiterin Kraft. Solche Gesetze stellen eine indirekteDiskriminierung muslimischer Frauen dar, diefreiwillig einen gesichtsverhüllenden Schleiertragen. Im Januar billigte der Senat einen Ge-setzentwurf, mit dem es den Angestellten priva-ter Kinderbetreuungseinrichtungen verbotenwerden soll, im Dienst religiöse und kulturelleSymbole oder Kleidungsstücke zu tragen. EinRundschreiben des früheren Bildungsministe-riums aus dem Jahr 2011, mit dem weiblichenAngestellten bereits das Tragen solcher Klei-dungsstücke bei Schulausflügen verbotenwurde, blieb weiter in Kraft.

Im August 2012 wurde die Gesetzgebung zumSchutz vor sexueller Belästigung dahingehenderweitert, dass nunmehr auch die Diskriminie-rung aufgrund der »sexuellen Identität« alsStraftatbestand geahndet wird. Dieser Passusbezieht sich u. a. auf Hassdelikte und Diskri-minierung am Arbeitsplatz.

Am 5. Oktober 2012 hob der Verfassungsratmehrere Bestimmungen des Gesetzes überNichtsesshafte von 1969 auf. So strich er die

Bestimmung, nach der nicht sesshafte Perso-nen drei Jahre in einer Gemeinde ansässig seinmussten, um wählen zu dürfen, und hob diefür Nichtsesshafte ohne regelmäßiges Einkom-men geltende Vorschrift auf, einen sogenann-ten Reiseausweis (carnet de circulation) mitsich führen und dieses Dokument regelmäßigerneuern lassen zu müssen. Nichtsesshafte mitregelmäßigem Einkommen mussten jedochweiterhin ein neues »Reiseheft« (livret de circu-lation) bei sich haben. Nach wie vor musstensich alle nicht sesshaften Personen bei der Ge-meindeverwaltung anmelden und durftennicht mehr als 3% der Einwohner einer Ge-meinde ausmachen.

Am 7. November 2012 legte der Ministerrateinen Gesetzentwurf über gleichgeschlecht-liche Ehen vor, der im Januar 2013 der Natio-nalversammlung vorgelegt werden sollte.

ZwangsräumungenIm Laufe des Jahres wurden erneut vonRoma bewohnte Lager und Behelfsunter-künfte zwangsgeräumt und aufgelöst. NachSchätzungen von NGOs wurden in den erstenneun Monaten des Jahres 2012 in Frankreich9040 Roma durch rechtswidrige Zwangsräu-mungen aus ihren Unterkünften vertrieben.

Am 26. August gab die Regierung ein intermi-nisterielles Rundschreiben heraus, das Er-messensrichtlinien für die Präfekten hinsicht-lich der Planung und Durchführung von Räu-mungen sowie bezüglich der Unterstützung derBetroffenen beinhaltete. Bei der Umsetzungder Räumungsverfügungen auf lokaler Ebenewurden die internationalen Bestimmungenzum Schutz vor Zwangsräumung jedoch weitermissachtet.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenDas beschleunigte Verfahren für Asylsuchendewurde nicht geändert, obwohl es den Schutzder Grundrechte nicht in angemessener Weisesicherstellte. Nach wie vor wurde es Asylsu-chenden verweigert, ein Rechtsmittel mit auf-schiebender Wirkung vor dem NationalenAsylgerichtshof einzulegen.

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Gambia 129

Am 26. März 2012 hob der Staatsrat die Ent-scheidung der Behörde für den Schutz vonFlüchtlingen und Staatenlosen (OFPRA) vomApril 2011 auf, Albanien und Kosovo in dieListe »sicherer« Herkunftsländer aufzuneh-men. Von Asylsuchenden aus »sicheren« Län-dern eingereichte Asylanträge werden anhandeines beschleunigten Verfahrens bearbeitet,dem zufolge Asylsuchende abgeschoben wer-den können, ohne dass ihr Antrag geprüftwird. Am 3. Oktober bemängelte der Staatsrat,dass OFPRA bei Asylsuchenden, die offenbarihre Fingerabdrücke »vorsätzlich manipuliert«hatten, keine Einzelfallprüfung der Asylan-träge durchführte.

Am 7. Juli empfahl die Regierung in einemRundschreiben für Migrantenfamilien ohneregulären Aufenthaltsstatus mit Kindern stren-gen Hausarrest statt der Unterbringung inHaftzentren.

Am 11. Juli untersagte der UN-Ausschuss ge-gen Folter die Abschiebung einer somalischenFrau, die im »Wartebereich« des FlughafensRoissy Charles de Gaulle festgehalten wurde.Sowohl ihr Asylantrag als auch ein eingelegtesRechtsmittel waren innerhalb einer Woche ab-gelehnt worden, obwohl sich der UN-Hochkom-missar für Flüchtlinge (UNHCR) gegen Ab-schiebungen in bestimmte Regionen Somaliasausgesprochen hatte.

Im Dezember 2012 verabschiedete das Parla-ment ein Gesetz zur Änderung der Einreise-und Aufenthaltsvorschriften von Ausländernund des Asylgesetzes, welches das soge-nannte Solidaritätsvergehen (délit de solidarité)abschafft. Dem Gesetz zufolge kann die Un-terstützung des rechtswidrigen Aufenthaltseines Ausländers nicht mehr mit einer Geld-oder Gefängnisstrafe geahndet werden, solangedie unterstützende Person keine direkten oderindirekten Ausgleichszahlungen erhält.

Entwicklungen in Justiz, Verfassungund InstitutionenIm Dezember 2012 unterzeichnete Frankreichdas Fakultativprotokoll zum InternationalenPakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelleRechte.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Frankreich

im Februar, Mai, Juni, August, September und November.ÿ Choice and prejudice: Discrimination against Muslims in

Europe, http://www.amnesty.org/fr/library/info/EUR01/001/2012/en

ÿ The European Committee for the Prevention of Torturecalls for »zero tolerance« of ill-treatment,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR21/005/2012/en

ÿ Chased away: Forced evictions of Roma in the Ile-de-France,http://www-secure.amnesty.org/en/library/info/EUR21/012/2012/en

GambiaAmtliche Bezeichnung: Republik GambiaStaats- und Regierungschef: Yahya Jammeh

Zum ersten Mal seit fast 30 Jahren wur-den 2012 in Gambia wieder Todesur-teile vollstreckt. Acht Männer und eineFrau, die sich im Todestrakt befanden,wurden ohne vorherige Ankündigung hin-gerichtet. Die Hingerichteten hattennoch nicht alle Rechtsmittel ausge-schöpft. Während des Berichtsjahrswurden abweichende Meinungen vonden Behörden durch Schikanen undEinschüchterungen unterdrückt. Die Si-cherheitskräfte nahmen routinemäßigwillkürliche Festnahmen und Inhaftie-rungen vor. Die Haftbedingungen warenextrem schlecht.

TodesstrafeIm August 2012 wurden neun Häftlinge, die inden Todeszellen vom Zentralgefängnis Mile 2einsaßen – sieben Männer aus Gambia, ein Se-negalese und eine Senegalesin – von einemErschießungskommando exekutiert. Die Hin-richtungen fanden eine Woche nach der An-kündigung von Präsident Yahya Jammeh statt,dass alle ergangenen Todesurteile vollstreckt

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würden. Weder die Inhaftierten noch deren Fa-milien, Anwälte oder die senegalesischen Be-hörden wurden vorher über die Hinrichtungeninformiert. Die Exekutionen lösten internatio-nal Empörung aus und wurden von den Behör-den erst mehrere Tage später bestätigt. Dreider Hingerichteten, Malang Sonko, TabaraSamba und Buba Yarboe, wurden exekutiert,obwohl sie die ihnen zur Verfügung stehendenRechtsmittel noch nicht ausgeschöpft hatten.Dies stellt eine Verletzung der internationalenStandards für einen fairen Prozess dar. Derebenfalls hingerichtete Dawda Bojang war imJahr 2007 wegen Mordes zu einer lebenslan-gen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Als er2010 beim zuständigen BerufungsgerichtRechtsmittel gegen das Urteil einlegte, wurdees in ein Todesurteil umgewandelt. Zum Zeit-punkt seiner Hinrichtung war das vor demObersten Gerichtshof angestrengte Rechtsmit-telverfahren noch nicht abgeschlossen.

Die Verfassung Gambias garantiert allen zumTode Verurteilten ausdrücklich das Recht aufdie Einlegung von Rechtsmitteln beim OberstenGerichtshof.

Im September 2012 kündigte der Präsidentein Hinrichtungsmoratorium an, das er jedochvon der Verbrechensrate abhängig machte. Da-mit knüpfte er das Leben der Menschen inden Todeszellen an äußere Faktoren.

Im Oktober bestätigte der Oberste Gerichtshofdie Urteile gegen sieben Männer, denen diePlanung eines Umsturzversuchs zur Last gelegtworden war. Die Betroffenen waren im Juni2010 wegen Verrats zum Tode verurteilt worden.Ausländische Beobachter wurden des Ge-richtssaals verwiesen.

Bei Jahresende befanden sich mindestens 36Menschen weiter in den Todeszellen.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenDer Nationale Geheimdienst (National Intelli-gence Agency – NIA) und die Polizei nahmenregelmäßig willkürliche Festnahmen vor. In Ge-wahrsam genommene Personen wurden oftüber die legale Frist von 72 Stunden hinausohne Anklage festgehalten. Dies verstieß ge-gen die Verfassung, die vorsieht, dass ein Straf-tatverdächtiger binnen 72 Stunden nach derFestnahme einem Richter vorzuführen ist.ý Im April 2012 wurden bei einer Razzia ineinem Nachtclub 18 Männer und zwei Frauenfestgenommen, die Lesben, Schwule, Bisexu-elle oder Transgender waren bzw. dafür gehal-ten wurden. Gegen sie wurde Anklage wegen»versuchter Unzucht« und »Verabredung zurBegehung schwerer Straftaten« erhoben. We-gen Mangels an Beweisen wurden die Vor-würfe im August fallen gelassen.ý Im Oktober 2012 berichteten die Medien,dass der NIA den ehemaligen Minister Mam-bury Njie festgenommen und inhaftiert habe.Angehörige des Ministers bestätigten die Be-richte. Er befand sich länger als die maximal zu-lässige Zeit von 72 Stunden in Haft, und seineFamilie wurde nicht über den Grund der Fest-nahme informiert. Mambury Njie wurde einigeTage später gegen Kaution freigelassen. Im De-zember wurde er dann jedoch erneut festge-nommen, nachdem er sich bei der Polizei ge-meldet hatte, wie es seine Kautionsauflagenvorschrieben. Der ehemalige Minister wurdevor Gericht gestellt und wegen Wirtschaftsver-brechen und Amtsmissbrauchs angeklagt,ohne dass man ihn näher über die Hinter-gründe dieser Anklagen informierte. Anschlie-ßend nahm man ihn im Zentralgefängnis Mile 2

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Gambia 131

in Untersuchungshaft. Mambury Njie wurdevor Gericht nicht von einem Rechtsbeistandvertreten, und man setzte ihn nicht über seinRecht auf einen Anwalt in Kenntnis. Ende2012 befand sich Mambury Njie noch immerin Haft. Medienberichten zufolge soll er sich imAugust, als er noch Außenminister war, gegendie Anweisung zur Hinrichtung der Todeskan-didaten ausgesprochen haben.

Unterdrückung abweichenderMeinungený Der ehemalige Minister für Information undKommunikation Dr. Amadou Scattred Jannehwurde im Januar zu lebenslanger Haft mitZwangsarbeit verurteilt, nachdem er des Ver-rats für schuldig befunden worden war. ModouKeita, Ebrima Jallow und Michael Ucheh Tho-mas wurden wegen Staatsgefährdung zu je-weils drei Jahren Gefängnis mit Zwangsarbeitverurteilt. Die vier Männer waren im Juni 2011festgenommen worden, weil sie T-Shirts besa-ßen, auf denen »Für ein sofortiges Ende derDiktatur!« stand. Im Juli starb Michael UchehThomas im Gefängnis an einer Krankheit. Be-richten zufolge war er nicht medizinisch ver-sorgt worden. Im September wurde Dr. Jannehvom Präsidenten begnadigt und des Landesverwiesen. Modou Keita wurde im Oktober ausdem Gefängnis entlassen, Ebrima Jallow bliebdagegen in Haft.ý Im September 2012 wurden die beiden Jour-nalisten Baboucarr Ceesay und AbubacarrSaidykhan willkürlich festgenommen, nachdemsie bei der Polizei eine Genehmigung für einefriedliche Kundgebung beantragt hatten, mitder gegen die Hinrichtungen von neun Perso-nen im August protestiert werden sollte. Beidewurden willkürlich inhaftiert, wegen Staatsge-fährdung angeklagt und dann gegen Kautionfreigelassen. Auf Anweisung von Staatspräsi-dent Jammeh wurden die Vorwürfe gegen sieim Oktober fallen gelassen. Wenige Tage spä-ter erhielten die Journalisten Morddrohungen.Zwar sicherte die Polizei zu, den Drohungennachzugehen, bis Ende 2012 waren diesbezüg-lich jedoch noch keine Fortschritte gemachtworden.

Recht auf freie MeinungsäußerungDer unabhängige Radiosender Teranga FMwurde im Januar 2012 ohne Begründung ge-schlossen. Wenige Monate, nachdem TerangaFM wieder auf Sendung gegangen war, ordne-ten Beamte des NIA im August erneut dieSchließung des Senders an. Der Radiosenderhatte seine Tätigkeit schon 2011 vorüberge-hend einstellen müssen.

Im September 2012 erschienen Männer inZivil in den Redaktionen der Zeitungen TheStandard und Daily News und ordneten die Ein-stellung der beiden Zeitungen an. Es wurdevermutet, dass es sich bei den Männern umBeamte des NIA handelte. Die Männer legtenweder eine gerichtliche Anweisung oder einrichterliches Dokument vor, noch wurde denHerausgebern der beiden Blätter eine Begrün-dung für das Verbot genannt. Die Zeitungenwaren bei Jahresende weiter geschlossen.

Ebenfalls im September wurde ein BBC-Jour-nalist, der französischer Staatsangehörigerwar, länger als fünf Stunden am Flughafen derHauptstadt festgehalten. Er wurde ohne Erklä-rung aufgefordert, Gambia binnen 48 Stundenzu verlassen, obwohl er zuvor eine Genehmi-gung bekommen hatte, aus dem Land zu be-richten. Er war nach Gambia gereist, um überdie Hinrichtungen vom August zu berichten.

VerschwindenlassenIm Mai 2012 erklärte der Generalinspektor derPolizei, dass der Journalist Ebrima Manneh,der im Jahr 2006 »verschwand«, als er sich inGewahrsam der Polizei befand, nach Informa-tionen von Interpol in den USA gesehen wordensei. Diese Information wurde von Interpol nichtbestätigt. Ebrima Manneh steht weiterhin alsvermisst auf der Website von Interpol. Die an-gebliche Sichtung Ebrima Mannehs wurde vonseiner Familie energisch dementiert.ý Am 3. Dezember 2012 nahmen zwei Angehö-rige des NIA den bekannten muslimischenGeistlichen und MenschenrechtsaktivistenImam Baba Leigh fest. Er hatte öffentlich dieHinrichtungen von Insassen des Zentralgefäng-nisses Mile 2 vom August verurteilt. Er nanntedie Hinrichtungen »unislamisch« und forderte

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die Regierung auf, die Leichname der Hinge-richteten für eine angemessene Beerdigung anderen Angehörige zu übergeben. Der Imamwurde nach seiner Festnahme nicht vor Gerichtgestellt. Der NIA bestätigte seine Inhaftierungnicht, und seiner Familie und seinem Rechts-beistand lagen keine Informationen über sei-nen Verbleib und sein Schicksal vor. Somitwurde Imam Baba Leigh Opfer des Verschwin-denlassens und befand sich in Gefahr, gefoltertoder anderweitig misshandelt zu werden.Ende 2012 ging Amnesty International davonaus, dass Imam Baba Leigh von Staatsbeam-ten festgehalten wird und betrachtete ihn alsgewaltlosen politischen Gefangenen.

HaftbedingungenDie Haftbedingungen in den Gefängnissen wa-ren von mangelhaften sanitären Einrichtun-gen, Krankheiten, schlechter medizinischerVersorgung, Überbelegung, extremer Hitzeund unzureichender Ernährung gekennzeich-net. Externe Beobachter durften die Gefäng-nisse nicht besuchen. Mängel bei der Sicher-heitsausstattung, wie z. B. das Fehlen vonFeuerlöschern, gefährdeten das Leben derHäftlinge.

Die Insassen des Todestrakts durften keinenBesuch von Angehörigen oder Freunden er-halten. Das Essen in den Gefängnissen war vonschlechter Qualität; ausschließlich Untersu-chungshäftlinge durften sich Essen ins Gefäng-nis bringen lassen. Es gab keine Resozialisie-rungsprogramme.

Im Oktober 2012 wurde berichtet, dass vierHäftlinge an Krankheiten gestorben waren,unter ihnen Abba Hydara und der aus Guinea-Bissau stammende Sulayman Ceesay, die sichbeide im Todestrakt befanden. Es gab keineweiteren Informationen zu den Todesfällen.Quellen zufolge wurde der unter dem NamenNjagga bekannte Häftling Amadou Faal im Ok-tober von einem Gefängnisbeamten brutal ver-prügelt. Obwohl er dabei ein Auge verlor, ver-weigerte man ihm tagelang eine ärztliche Be-handlung. Gegen den Gefängnisbeamten wur-den weder disziplinarische noch strafrechtlicheMaßnahmen eingeleitet.

Amnesty International: Berichteÿ The Gambia must release four activists jailed for distributing

anti-government T-shirts, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR27/001/2012/en

ÿ Gambia: Statement for 52nd Ordinary Session of the AfricanCommission on Human and Peoples’ Rights,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR27/011/2012/en

ÿ Gambia: Two Gambian journalists receive death threats,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR27/012/2012

ÿ The Gambia: Government must stop intimidation andharassment of human rights defenders, journalists,lawyers and government critics, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR27/015/2012/en

GeorgienAmtliche Bezeichnung: GeorgienStaatsoberhaupt: Micheil SaakaschwiliRegierungschef: Bidsina Iwanischwili (löste im

Oktober Wano Merabischwili im Amt ab, der imJuli Nika Gilauri abgelöst hatte)

Nach den Parlamentswahlen im Oktober2012 vollzog sich erstmals ein fried-licher demokratischer Machtwechsel impostsowjetischen Georgien. Vor undnach den Wahlen kam es jedoch zu zahl-reichen Verletzungen des Rechts auffreie Meinungsäußerung.

HintergrundIm Oktober 2012 gewann das ParteienbündnisGeorgischer Traum des Milliardärs BidsinaIwanischwili die Parlamentswahlen. Damit en-dete die neunjährige Vorherrschaft der ParteiVereinigte Nationale Bewegung von PräsidentMicheil Saakaschwili. In den Monaten vor denWahlen trafen Berichte über Schikanen gegenMitglieder und Unterstützer des BündnissesGeorgischer Traum ein. Nach den Wahlen wur-den zahlreiche hochrangige Funktionäre undMitglieder der Partei Vereinigte Nationale Be-wegung vernommen und verhaftet, u. a. ein

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Georgien 133

ehemaliger Verteidigungs- und Innenminister,der Generalstabschef und der Vizebürger-meister von Tiflis. Man warf ihnen u. a. illegalenDrogen- und Waffenbesitz, Amtsmissbrauch,rechtswidrige Inhaftierungen und Folter vor. DieVerhaftungen lösten international Kritik aus,und die neue Regierung wurde aufgefordert,das gezielte Vorgehen gegen politische Gegnerzu unterlassen.

Recht auf VereinigungsfreiheitIm Vorfeld der Parlamentswahlen trafen Be-richte ein, wonach Mitglieder und Unterstützerder Opposition schikaniert, eingeschüchtert,behindert und mit unfairen Strafen belegt wur-den. Gegen Unterstützer des Bündnisses Geor-gischer Traum sowie Organisationen und Ein-zelpersonen, die man mit dem Wahlbündnis inVerbindung brachte, wurden häufig unge-rechtfertigte Geldstrafen verhängt. Dem Ver-nehmen nach kam es zu Angriffen auf Unter-stützer der Opposition, die von Drohungen bishin zu Schlägen und gewalttätigen Übergriffenreichten. Die Angriffe nahmen zu, je näher dieParlamentswahl rückte.

Es wurden zahlreiche Angestellte des öffent-lichen Dienstes und privater Unternehmenentlassen, denen nachgesagt wurde, füh-rende Vertreter der Oppositionsparteien zu un-terstützen oder mit ihnen verwandt zu sein.Dies betraf insbesondere Lehrkräfte an Schu-len in den verschiedenen Regionen des Lan-des. In den meisten Fällen kam es zur Entlas-sung, nachdem die betroffenen Personenoder ihre Angehörigen Erklärungen über ihreparteipolitische Zugehörigkeit abgegeben hat-ten.

ý Am 7. März 2012 wurden die vier LehrerinnenWenera Iwanischwili, Nana Iwanischwili, Ma-rina Nadiradse und Lela Churtsilawa entlassen,die an einer Schule in Samtredia in der RegionImeretien unterrichtet hatten. Ihre Verträgewurden ohne Angabe von Gründen gekündigt.Die Lehrerinnen nahmen an, dass sie ent-lassen wurden, weil sie im Februar eine Peti-tion unterschrieben hatten, die für die Wieder-herstellung der georgischen Staatsbürger-schaft von Bidsina Iwanischwili und seiner Frauplädierte.ý Im März 2012 bestellte die Staatliche Finanz-aufsicht, die befugt ist, die Finanzierung politi-scher Parteien zu untersuchen, zahlreiche Mit-glieder und mutmaßliche Unterstützer derpolitischen Opposition zu Befragungen ein.Die zahlreichen Vorladungen und Befragun-gen zogen sich über mehrere Wochen hin. Siewaren oft mit Einschüchterungen verbundenund verstießen gegen rechtmäßige Verfahren.In den verschiedenen – hauptsächlich länd-lichen – Gebieten Georgiens wurden etwa370 Bürger einbestellt und 295 Personen be-fragt.ý Mamuka Kardawa, der Leiter des Regional-büros Khobi des Wahlbündnisses GeorgischerTraum, wurde am 20. Mai 2012 von vier unbe-kannten Männern angegriffen und geschla-gen. Obwohl die Verletzungen auf seinem Rü-cken dafür sprachen, dass er geschlagenwurde, leitete man zunächst Ermittlungen ge-gen Mamuka Kardawa selbst ein wegen Ver-stoßes gegen die Straßenverkehrsordnung. Am29. Mai wurde ein förmliches Ermittlungsver-fahren bezüglich des tätlichen Angriffs aufge-nommen. Ende 2012 lagen jedoch noch keineErkenntnisse vor.ý Am 27. Juni 2012 wurde Ioseb Elkanaschwili,Mitglied des Bündnisses Georgischer Traum inGori, von fünf unbekannten Männern angegrif-fen und geschlagen, von denen einer einePolizeiuniform getragen haben soll. Bis zumJahresende war die Untersuchung dieses Fallsnoch nicht abgeschlossen.

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Recht auf freie MeinungsäußerungJournalisten von Medien, die der Oppositionnahestanden, wurden mehrfach angegriffen,während sie über Wahlkampfveranstaltungenberichteten. Regierungsfreundliche Journalis-ten meldeten ebenfalls gewalttätige Angriffeund Beschimpfungen. Es wurden Ermittlun-gen eingeleitet und mehrere Personen, darun-ter ein Lokalpolitiker, wegen Ordnungswidrig-keiten angeklagt.ý Journalisten, die für die Sender Info 9, Chan-nel 9 und Trialeti arbeiteten, gaben an, am26. Juni 2012 in Mereti in der Region Innerkart-lien beschimpft und tätlich angegriffen wordenzu sein, als sie über ein Treffen von Oppositi-onsvertretern mit Bürgern des Ortes berichtenwollten.ý Bei einem Zusammenstoß zwischen führen-den Vertretern der georgischen Oppositionund Unterstützern der Regierung wurden am12. Juli 2012 im Ort Karaleti in der Region In-nerkartlien zehn Reporter so schwer verletzt,dass sie ins Krankenhaus eingeliefert werdenmussten. Die Journalisten arbeiteten für natio-nale und lokale Nachrichtenagenturen, wiebeispielsweise Trialeti und Shida Kartli Informa-tion Centre. Einer der verletzten Journalisten,Saba Tsitsikaschwili, gab an, unter den Angrei-fern lokale Verwaltungsangestellte erkannt zuhaben.

Recht auf VersammlungsfreiheitDas Recht auf Versammlungsfreiheit war 2012im Wesentlichen gewährleistet. Vertreter derPartei Vereinigte Nationale Bewegung wie auchdes Wahlbündnisses Georgischer Traum hiel-ten im Vorfeld der Parlamentswahl friedlicheGroßkundgebungen in der Hauptstadt Tiflisund in den verschiedenen Regionen des Lan-des ab. Es gab jedoch auch Berichte übereinige gewaltsame Vorkommnisse und Störun-gen bei kleineren Kundgebungen, vor allem inden Regionen.ý Im Mai setzte die Stadtverwaltung von KutaisiWasserwerfer ein, um Mitglieder der Opposi-tion daran zu hindern, am städtischen Feiertageine friedliche Mahnwache mit Kerzen abzu-halten.

ý Am 26. Juni brach vor einem geplanten Tref-fen von Vertretern des Bündnisses Georgi-scher Traum mit Bürgern von Mereti eineSchlägerei aus, mit der die Versammlung ver-hindert werden sollte. Es gab mehrere Verletzte,darunter einige Journalisten. Zwei Unterstüt-zer des Bündnisses Georgischer Traum wurdenzur Behandlung ins Krankenhaus gebracht.Auf einer Videoaufnahme soll zu sehen sein,dass mehrere Angestellte des öffentlichenDienstes in den Vorfall verwickelt waren.

DiskriminierungIn ländlichen Gemeinden gab es 2012 Zusam-menstöße zwischen der christlich-orthodoxenBevölkerungsmehrheit und der muslimischenMinderheit. Nachdem die Polizei eingeschrit-ten war, konnten die Muslime ihre Gebete un-gestört verrichten. Die Behörden versäumtenes jedoch, die religiös motivierte Gewalt klar zuverurteilen.ý Am 26. Oktober drohten Angehörige derchristlichen Bevölkerungsmehrheit im DorfNigvziani in der Region Gurien muslimischenBewohnern mit Vertreibung und körperlicherGewalt. Sie verlangten von ihnen, ihre religiösenVersammlungen und gemeinsamen Gebete zuunterlassen.ý Am 30. November bedrohten und be-schimpften christliche Bewohner des DorfesTsintskaro in der Region Niederkartlien Ange-hörige der muslimischen Minderheit. Sie for-derten die muslimischen Gläubigen auf, ihregemeinsamen Gebete zu unterlassen und denBau einer Moschee einzustellen.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenIn Tiflis griffen orthodoxe Christen Angehörigesexueller Minderheiten an.ý Im Zentrum von Tiflis wurde am 3. Mai 2012eine friedliche Kundgebung zum Internationa-len Tag gegen Homophobie und Transphobieangegriffen. Eine Gruppe orthodoxer Christenund Mitglieder der Vereinigung Orthodoxer El-tern beleidigten und bedrohten Demonstrie-rende der georgischen Organisation Identoba,

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die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern und Intersexuelleneinsetzt. Als es zu einer Schlägerei zwischenbeiden Seiten kam, griff die Polizei ein. FünfPersonen wurden festgenommen und kurz da-rauf wieder freigelassen.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Georgien

im Juni, September und November.ÿ Georgia: A lot to contest: Rights abuses in the run-up to

Georgia’s 2012 Parliamentary Election,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR56/005/2012/en

GhanaAmtliche Bezeichnung: Republik GhanaStaats- und Regierungschef:

John Dramani Mahama (löste im DezemberJohn Evans Atta Mills im Amt ab)

In der Hauptstadt Accra wurden über1000 Menschen Opfer von rechtswidri-gen Zwangsräumungen, Tausenden wei-teren drohte die Zwangsräumung. Per-sonen, denen eine gleichgeschlechtlicheBeziehung nachgesagt wurde, erlittennach wie vor gewalttätige Übergriffe undfanden nur sehr schwer rechtlichenSchutz. 2012 wurden keine Hinrichtun-gen vollzogen. Die Regierung hat zwarEmpfehlungen zur Abschaffung der To-desstrafe angenommen, doch beiJahresende war sie im Gesetz noch im-mer vorgesehen. Die Strafjustiz arbei-tete nach wie vor zu langsam.

HintergrundNach dem Tod von Präsident John Atta Mills imJuli 2012 wurde sein Stellvertreter John Dra-mani Mahama unverzüglich als neuer Präsidentvereidigt. Im Dezember 2012 wurden allge-meine Wahlen abgehalten und John Dramani

Mahama zum Sieger erklärt. Auf den Ab-schlussbericht der Kommission für die Revisionder Verfassung (Constitutional Review Com-mission – CRC) reagierte die Regierung im Junimit einem Weißbuch. Der Abschlussberichtselbst wurde nicht veröffentlicht. Der Gesetz-entwurf zur Informationsfreiheit war bis Ende2012 noch nicht verabschiedet.

JustizsystemDie Gerichtsverfahren verliefen schleppendund dauerten lange. Der Zugang zu recht-lichem Beistand war unzureichend oder fehlteganz, und viele Häftlinge mussten jahrelangauf ihr Verfahren warten. Die Gefängnissewaren überfüllt, und die Grundversorgung derHäftlinge einschließlich ihrer medizinischenVersorgung war nicht gewährleistet. Im Märzwurden 200 Gefangene in das Hochsicher-heitsgefängnis Ankaful verlegt, um die Über-belegung in anderen Gefängnissen zu redu-zieren.

Recht auf WohnenIm Januar 2012 ließ die Accra Metropolitan Au-thority rund 500 an einer Bahnlinie liegendeHäuser und Behelfsunterkünfte abreißen. EinerSchätzung zufolge wurden dadurch 1500

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136 Griechenland

Menschen obdachlos. Sie hatten nur drei TageZeit, das Gebiet zu verlassen, und erhieltenweder eine andere Bleibe noch eine Entschädi-gung. Tausende weitere Menschen waren vonZwangsräumungen bedroht.

Gewalt gegen Frauen und MädchenDie Rate der Gewalt gegen Frauen und Mäd-chen blieb in Griechenland unverändert hoch.Im Jahr 2012 wurden bei der Polizeidienststelle,die für die Unterstützung von Opfern familiärerGewalt zuständig ist, fast 10000 Fälle dieser Artgemeldet. Die Dunkelziffer soll erheblich hö-her liegen. Dennoch ergriffen die Behördenkeine angemessenen Gegenmaßnahmen.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenNach wie vor wurden einvernehmliche sexuelleAktivitäten zwischen gleichgeschlechtlichenErwachsenen strafrechtlich verfolgt.

Auch im Berichtszeitraum kam es zu Ge-waltakten gegen mutmaßliche Lesben undSchwule. Im März 2012 wurde im BezirkJamestown der Hauptstadt Accra eine Trau-ungszeremonie von zwei Frauen von Jugend-lichen gestört, die das Paar und seine Gästeangriffen. Später wurden die beiden Frauenfestgenommen und in der Polizeistation vonJamestown wegen »illegaler Praktiken« festge-halten. Nach Einschreiten ihrer Verwandtenkamen sie wieder frei.

Die Kommission für die Revision der Verfas-sung empfahl in ihrem Abschlussbericht, derOberste Gerichtshof solle über die Legalisierunggleichgeschlechtlicher sexueller Handlungenentscheiden. Die Regierung nahm diese Emp-fehlung »zur Kenntnis«.

Flüchtlinge und AsylsuchendeIm Juni gab die Flüchtlingsbehörde Pläne fürdie Schließung des Flüchtlingszentrums Bu-duburam in Accra bekannt. Laut Angaben derBehörde waren etwa 11000 Flüchtlinge aus Li-beria und Sierra Leone für die Rückkehr in ihreHeimatländer registriert worden.

Todesstrafe27 Männer wurden zum Tode verurteilt. Ende2012 saßen 166 Personen in den Todeszellen,darunter vier Frauen, es gab jedoch keine Hin-richtungen. Im Juni nahm die Regierung dieEmpfehlung der Kommission für die Revisionder Verfassung an, die Todesstrafe abzu-schaffen. Bis Jahresende war jedoch nochkeine entsprechende Gesetzesänderung er-folgt.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Ghana

im April.ÿ ›Prisoners are bottom of the pile‹: The human rights of in-

mates in Ghana, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR28/002/2012/en

ÿ Ghana: Human rights shortcomings in law and in practice:Submission to the UN Universal Periodic Review,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR28/003/2012/en

GriechenlandAmtliche Bezeichnung: Hellenische RepublikStaatsoberhaupt: Karolos PapouliasRegierungschef: Antonis Samaras (löste im Juni

Panagiotis Pikrammenos im Amt ab, der im MaiLoukas Papadimos abgelöst hatte)

Vorwürfe über Menschenrechtsverletzun-gen durch die Polizei wie Folter und ex-zessive Gewaltanwendung hielten dasganze Jahr über an. Migranten und Asyl-suchende sahen sich Behinderungen beider Einreichung ihrer Asylanträge ge-genüber und wurden oft unter Bedingun-gen in Haft gehalten, die nicht den in-ternationalen Standards für die Behand-lung von Gefangenen entsprachen. Ras-sistisch motivierte Übergriffe eskaliertenin dramatischer Weise.

HintergrundDie griechische Wirtschaft befand sich in derKrise. Die Arbeitslosigkeit erreichte im Oktober

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Griechenland 137

26,8%. Weitere Sparmaßnahmen wurden unterProtesten in Athen und anderen Städten imFebruar und November vom Parlament bewil-ligt. Im Mai stellte der Europäische Ausschussfür soziale Rechte fest, dass die Gesetzgebungzu den Sparmaßnahmen, die Arbeitnehmer imöffentlichen Dienst betrafen, gegen verschie-dene Vorgaben der Europäischen Sozialchartaverstößt.

Chrysi Avgi (Goldene Morgendämmerung),eine rechtsextreme Partei mit aggressiv mig-rantenfeindlicher Rhetorik, erhielt bei den Par-lamentswahlen im Juni 18 von 300 Sitzen.

Exzessive GewaltanwendungEs kam weiterhin zu Vorwürfen gegen die Poli-zei wegen der exzessiven Gewaltanwendungbei Demonstrationen.ý Im April 2012 griff die Bereitschaftspolizeiwährend einer Protestveranstaltung in Athen,bei der eines 77-jährigen pensionierten Apothe-kers gedacht wurde, der Selbstmord began-gen hatte, mehrere Journalisten und Fotografenan. Der Fotojournalist Marios Lolos erlitt eineernste Schädelfraktur, als Bereitschaftspolizis-ten ihm mit einem Schlagstock auf den Hinter-kopf schlugen. Kein Polizist wurde aufgrunddes Angriffs festgenommen oder angeklagt.ý Am 5. August 2012 setzte Bereitschaftspolizeiin exzessiver Weise Reizmittel ein und feuerteBerichten zufolge Gummi- und andere Ge-schosse direkt auf friedliche Demonstrie-rende, die gegen den Goldabbau in der RegionChalkidiki demonstrierten.

Folter und andere MisshandlungenDie Vorwürfe über Folter und andere Misshand-lungen von gefährdeten Gruppen wie Migran-ten und Asylsuchenden in Hafteinrichtungenfür Zuwanderer hielten an. Strukturelle Pro-bleme, die dazu führten, dass solche Tatenstraffrei blieben, bestanden auch 2012 fort, soz. B. das häufige Versagen der Behörden beider Durchführung umgehender, umfassenderund unparteiischer Untersuchungen und derGewährleistung wirksamer Rechtsmittel. ImJanuar stellte der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte fest, dass die Vergewaltigungeines Migranten ohne regulären Aufenthaltssta-tus mit einem Stock durch einen Beschäftig-ten der Küstenwache im Jahr 2001 (Zontul ge-gen Griechenland) mit Folter gleichzusetzensei. Im August stellte der UN-Menschenrechts-ausschuss fest, dass Griechenland die Be-schwerde eines griechischen Roma wegenMisshandlung und Diskriminierung durch diePolizei im Jahr 1999 (Katsaris gegen Griechen-land) nicht untersucht hatte.ý Im März 2012 sprach das Gemischte Ge-schworenengericht Athen im Berufungsver-fahren zwei Polizeibeamte vom Vorwurf der Kör-perverletzung an zwei Flüchtlingen auf der Po-lizeiwache in Aghios Panteleimon in Athen imDezember 2004 gemäß den Vorgaben überFolter im Strafgesetzbuch frei. Die beiden Be-amten waren in erster Instanz schuldig ge-sprochen worden.ý Im Oktober 2012 wurde bekannt, dass 15 an-tifaschistische Protestierende am 30. Septem-ber auf dem Polizeipräsidium in Athen schwereFoltervorwürfe gegen Angehörige der Polizeierhoben hatten. Unterstützer der Protestieren-den, die am 1. Oktober festgenommen wordenwaren, äußerten ebenfalls Anschuldigungen,wonach sie im Polizeipräsidium einer Behand-lung unterworfen wurden, die der Folter gleich-kam. Die Behörden stritten die Vorwürfe ab,doch ein Untersuchungsrichter forderte eineAnklageerhebung der Staatsanwaltschaft ge-gen die Polizeibeamten, die an den mutmaß-lichen Menschenrechtsverletzungen gegendie Protestierenden beteiligt waren.

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138 Griechenland

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenTrotz Berichten über Verbesserungen im Be-reich der Berufungsverfahren von Asylanträ-gen machte Griechenland kaum Fortschrittebei der Einrichtung eines fairen und wirksa-men Asylverfahrens. Ende des Jahres hatte derneue Asyldienst aufgrund ernster Rekrutie-rungsprobleme noch nicht damit begonnen,Asylanträge zu bearbeiten. Die Behinderun-gen, denen sich Asylsuchende gegenübersa-hen, wenn sie versuchten, Asylanträge einzu-reichen, bestanden 2012 fort. So wurden z. B.in der Ausländerabteilung der PolizeidirektionAttika jede Woche nur etwa 20 Anträge entge-gengenommen.

Personen, die Griechenland von der Türkeiaus über den Fluss Evros zu erreichen ver-suchten, berichteten, dass sie von den grie-chischen Behörden in die Türkei zurückge-drängt wurden. Im Dezember wurde entlangder Grenze zur Türkei in der Region Evros ein10,5 km langer Zaun fertig gestellt. Es bestanddie Sorge, dass er Menschen, die internationa-len Schutz suchen, daran hindern würde, in Si-cherheit zu gelangen, was sie veranlassenkönnte, unsichere Grenzüberquerungen zu ver-suchen.

Asylsuchende und Migranten ohne regulärenAufenthaltsstatus, darunter auch unbegleiteteKinder, wurden routinemäßig und über langeZeiträume hinweg inhaftiert. Im April 2012wurde eine neue gesetzliche Regelung einge-führt, die es ermöglichte, Migranten ohne re-gulären Aufenthaltsstatus und Asylsuchendeaufgrund des Verdachts auf ansteckendeKrankheiten wie HIV zu inhaftieren. Das polizei-liche Vorgehen gegen Migranten, das im Au-gust begann, ließ Besorgnis über die Diskrimi-nierung von Personen aufgrund ihrer vermute-ten ethnischen Herkunft aufkommen und be-fürchten, dass dies Fremdenfeindlichkeit för-dern würde.

Im Oktober ermöglichte eine Zusatzbestim-mung der Gesetzgebung zum Asylanerken-nungsverfahren der Polizei, die maximaleDauer von drei bzw. sechs Monaten, die Asyl-suchende festgehalten werden können, um

weitere zwölf Monate zu verlängern. Dieschlechten Haftbedingungen in mehrerenHafteinrichtungen für Einwanderer sowie Poli-zeistationen, in denen Asylsuchende und Mig-ranten ohne regulären Aufenthaltsstatus fest-gehalten wurden, bestanden fort. Die Bedin-gungen in der Elliniko-Hafteinrichtung inAthen waren unmenschlich und erniedrigend.Von August bis zum Jahresende wurden vieleAsylsuchende und Migranten ohne regulärenAufenthaltsstatus, darunter zahlreiche syri-sche Staatsangehörige, die vor dem Konfliktin Syrien geflohen waren, Berichten zufolgeunter sehr schlechten Haftbedingungen aufPolizeiwachen festgehalten oder waren ob-dachlos.

DiskriminierungHassverbrechenDie Zahl rassistisch motivierter Angriffe stieg2012 in dramatischer Weise an. Im Oktoberberichtete das Netzwerk zur Kontrolle rassisti-scher Gewalt (Racist Violence Recording Net-work), dass über die Hälfte der 87 verzeichne-ten Vorfälle mit rechtsextremen Gruppen inVerbindung standen, die organisiert und ge-plant vorgegangen waren.

Im Dezember 2012 wurde ein Präsidialerlassunterzeichnet, der in Athen und Thessaloníkidie Schaffung spezieller Polizeieinheiten zurUntersuchung rassistisch motivierter Verbre-chen vorsieht. Der Erlass enthielt jedoch keineBestimmungen zum Schutz von Opfern ohnePapiere vor Festnahme und Abschiebung wäh-rend der Dauer der Strafverfolgungsverfah-ren.ý Im August 2012 wurde über eine Serie vongewalttätigen Angriffen gegen Migranten, Asyl-suchende und inoffizielle Gotteshäuser inAthen und anderen Städten berichtet. Am13. August erlitt ein irakischer Staatsangehöri-ger bei einem Angriff tödliche Messerstiche.Es wurde eine kriminaltechnische Untersu-chung angeordnet, doch ein Täter wurde nichtermittelt.ý Am 24. September 2012 verschob ein Athe-ner Gericht zum siebten Mal ein Verfahren ge-gen drei griechische Staatsangehörige, darun-

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ter eine Parlamentskandidatin der ParteiChrysi Avgi. Sie wurden beschuldigt, im Jahr2011 drei afghanische Asylsuchende geschla-gen und einen von ihnen mit einem Messer an-gegriffen zu haben. Dies war einer der weni-gen Fälle rassistisch motivierter Gewalt, die vorGericht kamen.ý Im Oktober hob das Parlament die Immunitätvon zwei Abgeordneten der Partei Chrysi Avgiauf, die mit zwei Angriffen auf Marktstände vonMigranten in Verbindung gebracht wurden.Diese hatten am 9. September in den StädtenRafina und Messolongi stattgefunden. Im No-vember wurde der Abgeordnete, der mit demVorfall in Messolongi in Verbindung gebrachtwurde, angeklagt.ý Am 3. November 2012 griffen dem Verneh-men nach rechtsextreme Gruppen Migrantenund Asylsuchende und ihre Läden und Häuserin dem Viertel Agios Panteleimon in Athen an.

Menschen mit HIV / AidsIm Mai 2012 nahmen die griechischen Behör-den mehr als 100 vermeintliche Sexarbeiterund Sexarbeiterinnen fest und unterzogen sieBerichten zufolge zwangsweise einem HIV-Test. Ernste Bedenken wurden wegen der Stig-matisierung von 29 der Festgenommenen ge-äußert, nachdem ihre persönlichen Daten, da-runter ihr HIV-Status und ihr Foto, von der Po-lizei veröffentlicht worden waren und gegen sieAnklage wegen vorsätzlicher schwerer Körper-verletzung erhoben wurde. Ende des Jahres2012 befanden sich zwölf der Frauen in Erwar-tung ihres Gerichtsverfahrens weiterhin in Haft.

RomaLaut Angaben der NGO Greek Helsinki Monitorwurden Roma-Kinder nach wie vor getrenntvon anderen Kindern unterrichtet oder ganzvom Bildungssystem ausgeschlossen. Darü-ber hinaus wurden Roma-Familien aus ihrenSiedlungen vertrieben oder waren vonZwangsräumung bedroht, ohne dass manihnen alternative oder angemessene Ersatz-unterkünfte zur Verfügung stellte.ý Im Dezember 2012 befand der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte, dass das

Versagen der griechischen Behörden, Roma-Kinder in Aspropyrgos in reguläre Schulen zuintegrieren, einer Diskriminierung gleichkomme(Sampani und andere gegen Griechenland).Damit wurde Griechenland zum zweiten Malder Verletzung der Europäischen Menschen-rechtskonvention für schuldig befunden, weiles Roma-Kinder in Aspropyrgos von regulärenGrundschulen ausschloss.

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender undIntersexuelle (LGBTI)Im November 2012 berichteten LGBTI-Aktivis-ten, dass Vorfälle homophober Gewalt in dergriechischen Hauptstadt Athen stark zugenom-men hätten. Die Betroffenen gaben an, dassdie Angreifer Mitglieder rechtsextremer Grup-pierungen seien und sich darunter auch ein-zelne Mitglieder der rechtsextremen ParteiChrysi Avgi befunden hätten.

Kriegsdienstverweigerer ausGewissensgründenDie wiederholte strafrechtliche Verfolgung vonKriegsdienstverweigerern aus Gewissensgrün-den setzte sich fort.ý Im Februar 2012 verurteilte das Militärgerichtin Athen den 49 Jahre alten Avraam Pouliasis,einen der ersten griechischen Militärdienstver-weigerer, zu sechs Monaten Gefängnis miteiner dreijährigen Bewährung. Avraam Poulia-sis war nach dem Gesetz nicht länger zur Ab-leistung des Militärdienstes verpflichtet, da erälter als 45 Jahre war.

Haftbedingungen2012 befand der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte Griechenland in drei Fällendes Verstoßes gegen die Europäische Men-schenrechtskonvention für schuldig. Es han-delte sich bei den Verstößen um die schlechtenHaftbedingungen in den Gefängnissen von Io-annina, Korydallos und der Hafteinrichtung desPolizeipräsidiums von Thessaloniki.

Recht auf freie MeinungsäußerungDas Recht auf freie Meinungsäußerung war2012 in mehreren Fällen bedroht.

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ý Im November wurde der Journalist und Zeit-schriftenherausgeber Kostas Vaxevanis inAthen vor Gericht gestellt. Man beschuldigteihn der Verletzung der Privatsphäre, nachdemer die Namen von 2000 Griechen, die privateBankkonten in der Schweiz unterhielten, ver-öffentlicht und eine Untersuchung hinsichtlicheiner möglichen Steuerflucht gefordert hatte.Nach einer eintägigen Anhörung wurde er frei-gesprochen. Das Büro des Staatsanwalts desAthener Gerichts erster Instanz legte jedochBerufung gegen den Freispruch ein. Der FallKostas Vaxevanis wurde an das Athener Gerichtfür Bagatellfälle verwiesen.ý Im Oktober versuchten extrem christlicheGruppen und die extrem rechte Partei ChrysiAvgi, darunter auch einige Abgeordnete, diePremiere des Theaterstücks Corpus Christi zuverhindern, indem sie die Schauspieler undTeile des Publikums beschimpften und be-drohten. Im November wurden die Personen,die das Stück auf die Bühne gebracht hatten,wegen »Gotteslästerung« angeklagt.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Griechen-

land im Januar, Juli und Oktober.ÿ Police violence in Greece: Not just ›isolated incidents‹,

http://www.amnesty.org/zh-hant/library/info/EUR25/005/2012/en

ÿ Greece: The end of the road for refugees, asylum-seekersand migrants, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR25/011/2012/en

GroßbritannienAmtliche Bezeichnung: Vereinigtes Königreich

Großbritannien und NordirlandStaatsoberhaupt: Königin Elizabeth II.Regierungschef: David Cameron

Die Behörden gaben bekannt, in zweiFällen mutmaßlicher außerordentlicherÜberstellungen strafrechtliche Ermitt-lungen einzuleiten. Diese Ermittlungenführten dazu, dass eine Untersuchungs-kommission zur Beteiligung britischerStaatsangehöriger an der Misshandlungvon Gefangenen im Ausland (DetaineeInquiry) ihre Arbeit vorzeitig beendete.Die Regierung veröffentlichte einen Ge-setzentwurf, der vorsieht, dass sich dieZivilgerichtsbarkeit in Fällen, die dienationale Sicherheit betreffen, auf Ge-heimdokumente stützen kann. Das Mo-ratorium bei der Überstellung von Gefan-genen an die afghanischen Behördenwurde beibehalten.

Folter und andere MisshandlungenAm 12. Januar 2012 erklärten Vertreter derPolizei (Metropolitan Police Service – MPS)und der Generalstaatsanwaltschaft, die Ermitt-lungen zu zwei mutmaßlichen Fällen der Miss-handlung von Gefangenen im Ausland durchbritische Geheimdienstmitarbeiter hättenkeine ausreichende Grundlage für eine An-

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klageerhebung ergeben. Der erste Fall bezogsich auf den Vorwurf der Folter und Misshand-lung von Binyam Mohamed. Der zweite Fallbetraf eine namentlich nicht genannte Person,die sich im Januar 2002 im Gewahrsam derUS-Behörden auf dem LuftwaffenstützpunktBaghram in Afghanistan befand. Der MPS er-klärte jedoch, es lägen noch weitere Vorwürfevor und man erwäge weitere strafrechtliche Er-mittlungen.

Bezüglich der Beteiligung Großbritanniens ander mutmaßlichen außerordentlichen Über-stellung von Sami al-Saadi und Abdel HakimBelhaj nach Libyen im Jahr 2004 wurden straf-rechtliche Ermittlungen angekündigt. Die bei-den Männer waren nach ihrer ÜberstellungBerichten zufolge in Libyen gefoltert und miss-handelt worden. Im Dezember 2012 akzeptier-ten Sami al-Saadi und seine Familie ein finan-zielles Angebot der britischen Regierung, umdie Angelegenheit außergerichtlich beizulegen.Im Fall von Abdel Hakim Belhaj war Ende 2012noch eine Entschädigungsklage gegen die briti-schen Behörden anhängig.

Am 18. Januar 2012 gab die Regierung be-kannt, dass die 2010 eingerichtete Untersu-chungskommission ihre Arbeit angesichts derneuen strafrechtlichen Ermittlungen bezüglichder mutmaßlichen Überstellungen nach Libyenvorzeitig beenden werde. Das Gremium sollteüberprüfen, ob Großbritannien an Menschen-rechtsverletzungen beteiligt war, die im Zugevon Antiterrormaßnahmen an Gefangenen imAusland verübt wurden. Die Vorgehensweiseder Kommission erfüllte jedoch nicht die inter-nationalen Menschenrechtsstandards fürwirksame, unabhängige und gründliche Unter-suchungen. Am 27. Juni legte die Untersu-chungskommission der Regierung einen Be-richt vor, der jedoch Ende 2012 noch nicht ver-öffentlicht worden war.

Im September 2012 forderte das EuropäischeParlament Großbritannien und andere Länderdazu auf, sämtliche notwendigen Informationenüber alle verdächtigen Flüge zugänglich zumachen, die mit dem CIA-Programm für außer-ordentliche Überstellungen in Zusammen-hang standen und ihr Staatsgebiet betrafen.

Der High Court of Justice wies Versuche derRegierung ab, eine Klage von drei keniani-schen Staatsbürgern zu verhindern, die vonVertretern der britischen Kolonialbehörde inden 1950er Jahren gefoltert worden waren. DasGericht entschied, trotz der seither vergange-nen Zeit seien die Beweise so umfangreich,dass ein faires Verfahren möglich sei.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitPersonen, die mutmaßlich eine Gefahr für dienationale Sicherheit darstellten, wurden wei-terhin auf Grundlage unzuverlässiger und nichteinklagbarer »diplomatischer Zusicherungen«in Länder abgeschoben, in denen ihnen Folterund andere schwere Menschenrechtsverlet-zungen drohten.ý Im Januar 2012 fällte der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte (EGMR) ein Ur-teil im Fall des jordanischen StaatsbürgersOmar Othman (auch bekannt als Abu Qa-tada), den die britische Regierung aus Sicher-heitsgründen abschieben wollte. Nach An-sicht des EGMR boten die diplomatischen Zusi-cherungen Jordaniens zwar einen ausreichen-den Schutz gegen Folter und Misshandlungen,die Omar Othman bei seiner Rückkehr mög-licherweise drohten, es bestehe jedoch die Ge-fahr, dass sein Recht auf einen fairen Prozessverletzt werden könnte, da in Jordanien auchunter Folter erzwungene Zeugenaussagen zu-lässig seien. Im November entschied die Beru-fungskommission für Einwanderungsfragen,die Abschiebung dürfe nicht weiter betriebenwerden, da trotz der Bemühungen der briti-schen Regierung um weitere Zusicherungennach wie vor die Gefahr bestehe, dass unterFolter erzwungene Aussagen verwendet wür-den. Ende 2012 legte die Regierung Rechts-mittel gegen das Urteil ein.ý Im April 2012 entschied der EGMR, dass fünfmutmaßlichen Terrorverdächtigen bei einerAuslieferung an die USA auch dann keine Ge-fahr der Folter und Misshandlung drohe, wennsie verurteilt würden und ihre Haftstrafe imHochsicherheitsgefängnis in Florence, Colo-rado, verbüßen müssten. Die fünf Männer wur-den am 5. Oktober an die USA ausgeliefert.

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142 Großbritannien

Ab Januar 2012 wurde das im Dezember 2011verabschiedete Instrument der »Überwa-chungsverfügungen« durch eine Reihe neuerAntiterrormaßnahmen (Terrorism Preventionand Investigation Measures – TPIMs) ange-wandt. Zwar sind die neuen Beschränkungennicht ganz so weitreichend wie die Überwa-chungsverfügungen, doch erlauben sie Ein-schränkungen der Freiheit, der Bewegungsfrei-heit und der Aktivitäten terrorismusverdächti-ger Personen auf Grundlage geheimer Unterla-gen. Ende November waren gegen zehn Per-sonen TPIMs in Kraft.

Rechtliche und politischeEntwicklungenIm Mai 2012 veröffentlichte die Regierung einenGesetzentwurf (Justice and Security Bill), derdie Geheimhaltung von Unterlagen auch auf Zi-vilprozesse ausdehnt, die nach Ansicht derRegierung die nationale Sicherheit berühren.Demnach kann die Regierung dem Gerichthinter verschlossenen Türen geheimes Beweis-material vorlegen, das weder dem Angeklag-ten noch seinem Rechtsbeistand oder der Öf-fentlichkeit zugänglich ist. Außerdem sieht derGesetzentwurf vor, dass Gerichte künftig keineOffenlegung von »sensiblen« Informationenmehr anordnen können, z. B. von Informatio-nen über mutmaßliche Menschenrechtsverlet-zungen, die Personen in Verfahren gegen Drittehelfen könnten. NGOs, Rechtsanwälte undMedien äußerten schwerwiegende Bedenken,weil der Gesetzentwurf den Grundsätzen derFairness und der offenen Justiz zuwiderlaufe.Zudem würden die Bemühungen der Opfervon Menschenrechtsverletzungen zunichte ge-macht, vor Gericht eine Offenlegung geheimerDokumente bezüglich dieser Straftaten zu er-wirken. Der Gesetzesvorschlag enthielt auchBestimmungen, die vorsahen, die Aufsicht derGeheimdienste in begrenztem Umfang zu ver-stärken.

Vertreter der Zivilgesellschaft und NGOs zeig-ten sich besorgt über die Auswirkungen einesGesetzes zur Rechtshilfe und zur Verurteilungund Bestrafung von Straftätern (Legal Aid,Sentencing and Punishment of Offenders Act),

das im Mai in Kraft trat. Sie befürchteten, dassdadurch der Zugang zur Justiz erschwert wer-den könnte, dies galt insbesondere für die Op-fer von Menschenrechtsverletzungen, die Un-ternehmen mit Sitz in Großbritannien im Aus-land verübten.

Eine Kommission, die prüfen sollte, ob an dieStelle der bisherigen Menschenrechtsgesetz-gebung eine neue Grundrechtecharta für dasVereinigte Königreich (UK Bill of Rights) tretensolle, kam in ihrem im Dezember 2012 veröf-fentlichten Bericht zu keinem eindeutigen Er-gebnis.

StreitkräfteIm Juli 2012 wurde 169 irakischen Staatsbür-gern die Möglichkeit eingeräumt, ihre Be-schwerden gerichtlich überprüfen zu lassen.Ihrer Auffassung nach besaß das Gremium,das Vorwürfe der Folter und Misshandlung vonirakischen Staatsbürgern durch britische Sol-daten untersuchen sollte (Iraq Historical Allega-tions Team), noch immer nicht die notwendigeUnabhängigkeit – obwohl die britische Regie-rung strukturelle Veränderungen vorgenom-men hatte. Die Rechtsanwälte der Betroffenensetzten sich für eine öffentliche Untersuchungein, um den Vorwürfen, britische Soldaten hät-ten im Irak Menschenrechtsverletzungen be-gangen, gründlich nachzugehen.

Am 29. November erklärte das Verteidigungs-ministerium, man werde bis auf Weitereskeine Gefangenen an die afghanischen Behör-den überstellen, da neue Informationen bestä-tigt hätten, dass ihnen in Afghanistan »schwereMisshandlung« drohe. Das Ministerium gabdiese Erklärung in einem Verfahren vor demHigh Court ab, das sich mit dem Fall des af-ghanischen Staatsbürgers Serdar Mohammedbefasste. Er war 2010 von britischen Soldatenfestgenommen und anschließend an den af-ghanischen Geheimdienst übergeben worden.Serdar Mohammed gab an, nach seiner Über-stellung in afghanischem Gewahrsam gefoltertund in einem äußerst unfairen Gerichtsverfah-ren verurteilt worden zu sein.ý Im Oktober 2012 gab das Oberste Berufungs-gericht (Supreme Court) der Klage von Yunus

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Rahmatullah auf Haftprüfung statt. Er war imFebruar 2004 von den britischen Streitkräftenim Irak gefangen genommen und an die US-Streitkräfte übergeben worden. Diese brach-ten ihn nach Afghanistan und hielten ihn dortohne Anklageerhebung fest. Das Gericht er-klärte, die Inhaftierung von Yunus Rahmatullahstelle eine Verletzung der Genfer Konventio-nen dar, und Großbritannien müsse seineRücküberstellung fordern. Gleichzeitig stelltedas Gericht jedoch fest, die Weigerung der USA,Yunus Rahmatullah wieder in britischen Ge-wahrsam zu überstellen, mache ausreichenddeutlich, dass Großbritannien nicht für seineFreilassung sorgen könne.

Polizei und SicherheitskräfteIm Januar 2012 wurden zwei Männer wegendes rassistisch motivierten Mordes an StephenLawrence im Jahr 1993 schuldig gesprochen.Bereits 1999 hatte eine Untersuchung desFalls ergeben, dass die polizeilichen Ermittlun-gen aufgrund »einer Kombination aus fach-licher Inkompetenz, institutionalisiertem Ras-sismus und einer Führungsschwäche der lei-tenden Beamten« fehlerhaft waren.

Im Fall von Ian Tomlinson, der im April 2009bei Demonstrationen gegen den G20-Gipfel inLondon getötet worden war, wurde im Juli einPolizist vom Vorwurf des Totschlags freigespro-chen. 2011 hatte eine Untersuchung festge-stellt, es habe sich um eine widerrechtlicheTötung gehandelt, da Ian Tomlinson an innerenBlutungen gestorben war, nachdem ihn einPolizist mit einem Schlagstock angegriffen undzu Boden gestoßen hatte. Im September be-fand eine Disziplinarkommission des MPS, derbetreffende Polizist habe sich groben Fehlver-haltens schuldig gemacht.

NordirlandIn Nordirland verübten paramilitärische Grup-pen weiterhin Gewalttaten. Am 1. November2012 wurde der Vollzugsbeamte David Black er-schossen; zu dem Anschlag bekannte sicheine republikanische Splittergruppe. Eine Reihevon Volksvertretern und Journalisten erhieltenDrohungen loyalistischer paramilitärischer

Gruppen und anonyme Drohungen. Bei Unru-hen wurden im Laufe des Jahres mehrere Poli-zeibeamte und andere Personen verletzt.

Im Oktober 2012 nahm eine von der nordiri-schen Regierung eingesetzte Untersuchungs-kommission ihre Tätigkeit zum Missbrauch vonHeimkindern in den Jahren 1922–95 auf.

Im November begann die Polizei-Aufsichtsbe-hörde (Her Majesty’s Inspectorate of Consta-bulary – HMIC), die Arbeit des historischen Er-mittlungsteams (Historical Enquiries Team –HET) zu überprüfen, das alle mutmaßlich mitdem Nordirland-Konflikt zusammenhängen-den Todesfälle erneut untersuchen sollte. DieÜberprüfung sollte vor allem klären, ob die Er-mittlungen des HET in Fällen, die Angehörigeder britischen Streitkräfte betrafen, Men-schenrechtsstandards und Standards für diePolizeiarbeit entsprachen.ý Im Dezember 2012 bestätigte die nordirischePolizeibehörde, dass die strafrechtlichen Er-mittlungen zu den Vorfällen am 30. Januar1972, der als Bloody Sunday in die Geschichteeinging, im Jahr 2013 aufgenommen würden.Damals waren 13 Menschen von britischenSoldaten erschossen worden.ý Im Dezember kassierte der High Court ofNorthern Ireland einen 2011 erstellten Berichtdes Polizei-Ombudsmanns für Nordirland. DerBericht betraf einen Anschlag paramilitäri-scher Gruppen auf einen Pub in Loughinisland,County Down, bei dem im Juni 1994 sechsMänner getötet worden waren. Im Juli nahm einneuer Ombudsmann für die Polizei seine Tä-tigkeit auf. Er leitete Reformen ein, um bei Er-mittlungen zu mutmaßlichem Fehlverhaltender Polizei in früheren Jahren bessere, gründ-lichere und unabhängigere Ergebnisse zu er-zielen.ý Im Dezember gelangte ein Bericht über dieTötung des Anwalts Patrick Finucane im Jahr1989 zu dem Schluss, dass mehrere staatlicheStellen auf verschiedenen Ebenen in denMord verwickelt waren. Eine »übergreifendestaatliche Verschwörung« konnte jedoch nichtfestgestellt werden. Der britische Premierminis-ter bot der Familie des Opfers seine Entschul-digung an. Die Untersuchung war jedoch kei-

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144 Guatemala

neswegs so unabhängig, gründlich und effek-tiv, wie dies der Familie versprochen wordenwar.

Gewalt gegen FrauenIm Mai 2012 stellte die Regierung eine neue Ini-tiative in Aussicht, um sexuelle Gewalt inKriegs- und Nachkriegssituationen zu bekämp-fen. Sie kündigte an, dass sie dies auch zueinem Schwerpunktthema der britischenG8-Präsidentschaft im Jahr 2013 machenwolle.

Im Juni unterzeichnete Großbritannien dasÜbereinkommen des Europarats zur Verhü-tung und Bekämpfung von Gewalt gegenFrauen und häuslicher Gewalt.

Um die Sicherheit der Bevölkerung zu erhö-hen, wurden im November in England undWales neue Gesetze eingeführt, die Stalking zurStraftat erklären.

Flüchtlinge und AsylsuchendeIm Juli 2012 erklärte die Staatsanwaltschaft, esgebe keine hinreichenden Beweise für eineAnklageerhebung im Zusammenhang mit demTod des Angolaners Jimmy Mubenga. Er war2010 während seiner Abschiebung nach An-gola in einem Flugzeug zusammengebrochenund gestorben, nachdem Angestellte einer pri-vaten Sicherheitsfirma gegen ihn vorgegangenwaren. Laut Zeugenaussagen hatten die Mitar-beiter der Firma ihn auf gefährliche Weise fi-xiert. Es wurden Zweifel an der sachgerechtenSchulung des privaten Sicherheitspersonalslaut.

Im Oktober versuchten die Behörden entge-gen einer Empfehlung des UN-Hochkommis-sars für Flüchtlinge (UNHCR), einen Syrerzwangsweise in sein Heimatland zurückzufüh-ren. Die Maßnahme wurde erst durch eine An-ordnung des High Court gestoppt. Im Dezem-ber veröffentlichte die Berufungsinstanz fürAsyl- und Einwanderungsverfahren eineRichtlinienentscheidung, der zufolge Asylsu-chende angesichts der aktuellen Gefähr-dungslage nicht nach Syrien zurückgeführtwerden sollten.

Auch 2012 wurden Flüchtlinge aus Sri Lanka

in ihr Heimatland abgeschoben, obwohlglaubhafte Beweise dafür vorlagen, dass ihnendort Folter und andere schwere Menschen-rechtsverletzungen drohten.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten im März,

September und Dezember Nordirland und nahmen dasganze Jahr über an verschiedenen Gerichtsverfahren in Eng-land teil.

ÿ UK: Detainee Inquiry closure presents an opportunity for realaccountability, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR45/005/2012/en

ÿ United Kingdom: Submission to the Joint Committee onHuman Rights – The Justice and Security Green Paper,http://amnesty.org/en/library/info/EUR45/006/2012/en

ÿ UK: Abu Qatada still at risk of torture and unfair trial,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR45/010/2012/en

ÿ Left in the dark: the use of secret evidence in the United King-dom, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR45/014/2012/en

ÿ USA must respect rights of individuals extradited from theUK, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AMR51/086/2012/en

ÿ UK ordered to continue moratorium on detainee transfersin Afghanistan, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA11/020/2012/en

ÿ Libyan rendition case shows it’s time for UK to come clean,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/libyan-rendition-case-shows-it-s-time-uk-come-clean-2012-04-18

GuatemalaAmtliche Bezeichnung: Republik GuatemalaStaats- und Regierungschef: Otto Pérez Molina

(löste im Januar Álvaro Colom Caballeros imAmt ab)

Es wurden weiterhin große Bergbau- undWasserkraftprojekte durchgesetzt, ohnedie Angehörigen der betroffenen länd-lichen Gemeinschaften vorab anzuhörenoder mögliche negative Auswirkungen

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Guatemala 145

der Vorhaben auf die Menschenrechtezu berücksichtigen. Die strafrechtlicheVerfolgung von Menschenrechtsverlet-zungen, die während des internen be-waffneten Konflikts (1960–96) verübtwurden, machte in einigen Fällen Fort-schritte. Die Armee weigerte sich je-doch, in irgendeiner sinnvollen Weise zurAufarbeitung der Vergangenheit beizu-tragen. Menschenrechtsverteidiger wur-den aufgrund ihrer Arbeit angegriffenund bedroht.

HintergrundDie öffentliche Sicherheitslage in Guatemalawar 2012 nach wie vor besorgniserregend.Auseinandersetzungen zwischen rivalisieren-den Drogenkartellen und Straßenbanden führ-ten zu einem hohen Maß an Gewaltkriminalität;dabei wurden 4614 Männer und 560 Frauengetötet.

Im April wurde Guatemala Vertragsstaat desRömischen Statuts des Internationalen Straf-gerichtshofs. Der UN-Menschenrechtsaus-schuss forderte die Regierung im April drin-gend auf, die strafrechtliche Verfolgung derjeni-gen, die für Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit während des internen bewaffnetenKonflikts verantwortlich sind, nicht zu unter-graben. Staatspräsident Otto Pérez Molina hattezuvor erklärt, während des Konflikts habe eskeinen Völkermord gegeben.

Im Oktober appellierte der UN-Menschen-rechtsrat an die Regierung, die Todesstrafe ab-zuschaffen, sich stärker für Frauenrechte ein-zusetzen und die Haftbedingungen zu verbes-sern. Außerdem forderte das Gremium, die Re-gierung solle Menschenrechtsverteidiger bes-

ser schützen und gewährleisten, dass indigeneBevölkerungsgruppen im Zusammenhang mitBergbau- und Infrastrukturprojekten in ihrenGebieten vorab konsultiert würden.

UnternehmensverantwortungIm Berichtsjahr gab es zunehmend Spannun-gen, weil die Bevölkerung ländlicher Gebieteim Zusammenhang mit Bergbauvorhaben,Wasserkraftwerken und anderen Projektennicht vorab befragt wurde. Trotz mehrfacherAufforderung kamen die Behörden Guatema-las ihren völkerrechtlichen Verpflichtungennicht nach, die betroffene Bevölkerung in an-gemessener Weise einzubeziehen. Gleichzeitighielten die internationalen Unternehmen völ-kerrechtliche Standards bezüglich Unterneh-mensverantwortung und Menschenrechtennicht ein.ý Im Mai 2012 wurde bei einem Überfall inCruz Barillas im Departmento Huehuetenangoein Mann getötet und ein weiterer schwer ver-letzt. Bei den Tätern soll es sich um Wachleutedes Elektrizitätsunternehmens Hidro SantaCruz gehandelt haben, einer Tochtergesell-schaft des spanischen Unternehmens HidraliaEnergía. Die Tötung löste Protestaktionen undweitere Zusammenstöße aus. Es kam zur Be-setzung einer Militärkaserne vor Ort und zurAusrufung des Ausnahmezustands. Die lokaleBevölkerung machte geltend, sie sei vor derErrichtung eines Wasserkraftwerks nicht ange-hört worden.ý Im Departamento Santa Rosa sahen sich po-litisch aktive Bürger, die gegen Vorhaben desSilberbergbau-Unternehmens Minera San Ra-fael, einer Tochtergesellschaft des kanadi-schen Unternehmens Tahoe Resources Inc.,protestierten, mit fragwürdigen Strafanzeigenkonfrontiert. Auf diese Weise sollte offensicht-lich ihr Widerstand gebrochen werden. Im Ok-tober kündigte der Gemeinderat von San Rafaellas Flores an, aufgrund von rechtlichenSchwierigkeiten und Verfahrensunregelmäßig-keiten werde es keine kommunale Bürgeran-hörung zu dem Bergbauprojekt geben.

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146 Guinea

StraflosigkeitEinige ehemalige Soldaten und Offiziere niedri-gen Ranges wurden 2012 wegen ihrer Beteili-gung an den Massakern in Plan de Sánchezund Dos Erres im Jahr 1982 schuldig gespro-chen, bei denen insgesamt mehr als 500 Men-schen getötet worden waren. Die Armee stelltekeinerlei sachdienliche Informationen zurVerfügung, um die laufenden Ermittlungenund Bemühungen zur Auffindung von Opferndes Verschwindenlassens zu unterstützen. ImMai schloss die Regierung das Friedensarchiv,das Polizei- und Militärakten aus der Zeit desinternen bewaffneten Konflikts aufbewahrthatte.

Im Januar wurde ein Gerichtsverfahren gegenden ehemaligen Staatschef General a.D.EfraínRíos Montt wegen Völkermordes und Verbre-chen gegen die Menschlichkeit eröffnet. Erwird beschuldigt, als De-facto-Staatschef vonMärz 1982 bis August 1983 die Befehlsverant-wortung für die »Politik der verbrannten Erde«und Hunderte von Massakern zu tragen, diesich gezielt gegen indigene Bevölkerungsgrup-pen richteten. Der Prozess war Ende des Jah-res noch nicht abgeschlossen.

Im Oktober urteilte der InteramerikanischeGerichtshof für Menschenrechte, der guate-maltekische Staat sei für eine Reihe von Massa-kern verantwortlich, die zwischen März 1980und Mai 1982 in Río Negro im DepartamentoBaja Verapaz verübt wurden.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenDie Diskriminierung indigener Bevölkerungs-gruppen hatte zur Folge, dass ihr Anteil an derin Armut lebenden Bevölkerung überproportio-nal hoch war.

Indigenen-Organisationen protestierten dage-gen, dass keine Anhörungen stattfanden, be-vor Bergbau- und Wasserkraftprojekte in länd-lichen Gemeinden umgesetzt wurden.

Im Oktober wurden acht Angehörige der MayaK’che’ bei einer Protestkundgebung gegensteigende Stromkosten und geplante Verfas-sungsänderungen in der Stadt Totonicapán imDepartamento Totonicapán getötet. Ein Armee-

offizier und acht Soldaten wurden im Zusam-menhang mit den Tötungen angeklagt.

MenschenrechtsverteidigerBerichten zufolge gab es 2012 mindestens 305Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger. ImMärz rief die UN-Hochkommissarin für Men-schenrechte die Regierung auf, effektive Maß-nahmen zum Schutz von Menschenrechtsver-teidigern zu beschließen und umzusetzen.ý Im Juni 2012 wurde Yolanda Oquelí, die sichgegen Bergbauaktivitäten einsetzt, auf demHeimweg von einer Protestveranstaltung ange-schossen. Ihr Protest richtete sich gegen dieGoldmine El Tambor auf dem Gebiet der Ge-meinden San José del Golfo und San PedroAyampuc.ý Im März wurde Luis Ovidio Ortíz Cajas er-schossen. Er war Vorstandsmitglied der Natio-nalen Gewerkschaft der Beschäftigten im Ge-sundheitswesen (Sindicato Nacional de Traba-jadores de la Salud de Guatemala) und hattesich gegen Korruption im Gesundheitsweseneingesetzt. Bis zum Jahresende war niemandfür den Mordanschlag zur Verantwortung ge-zogen worden.

TodesstrafeEnde 2012 befand sich ein Gefangener im To-destrakt. Neue Todesurteile wurden währenddes Jahres nicht verhängt, und es fanden auchkeine Hinrichtungen statt.

GuineaAmtliche Bezeichnung: Republik GuineaStaatsoberhaupt: Alpha CondéRegierungschef: Mohamed Saıd Fofana

Die für 2012 anberaumten Parlaments-wahlen wurden auf 2013 verschoben.Die Sicherheitskräfte waren für Men-schenrechtsverletzungen wie exzessive

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Guinea 147

Gewaltanwendung, außergerichtlicheHinrichtungen, Folter und andere Miss-handlungen verantwortlich. Die Rechteauf Versammlungsfreiheit und freie Mei-nungsäußerung waren auch im Berichts-jahr stark eingeschränkt. Eine unabhän-gige Journalistin war Einschüchterungs-versuchen und Schlägen ausgesetzt.

HintergrundBei Jahresende hatte der Nationale Übergangs-rat, der im Rahmen der im Januar 2010 getrof-fenen Vereinbarungen von Ouagadougou ge-schaffen worden war, die Macht nach wie vornicht an eine gewählte Nationalversammlungabgegeben. Im April verschob StaatspräsidentAlpha Condé die für Juli angesetzten Parla-mentswahlen. Als Grund gab er an, es müssesichergestellt sein, dass die Wahlen transparentund demokratisch verliefen. Die Oppositionzweifelte die Neutralität und Transparenz derUnabhängigen Wahlkommission an. Die Kom-mission wurde im Oktober umgebildet. DieWahlen sollen nun im Juli 2013 stattfinden.

Gerichtsverfahren – Angriff auf denPräsidentenpalastIm Februar 2012 begann der Prozess gegen 48Angeklagte, denen man den Angriff auf denAmtssitz von Präsident Condé im Juli 2011 zurLast legte. 17 Angeklagte wurden im März vonallen Vorwürfen freigesprochen und auf freienFuß gesetzt. Im Juli legte der Staatsanwalt ge-gen die Entscheidung des zuständigen Gerichtsin Conakry beim Obersten Gerichtshof Beru-fung ein. Im November revidierte das Beru-fungsgericht von Conakry die Entscheidung,die Vorwürfe gegen 15 Angeklagte fallen zu las-sen, und verwies die Verfahren an ein Militär-gericht sowie an ein Schwurgericht. Einige Häft-linge wurden bei ihrer Festnahme gefoltertoder auf andere Weise misshandelt.

Exzessive Gewaltanwendung undaußergerichtliche HinrichtungenIm gesamten Berichtsjahr unterdrückten Si-cherheitsorgane Demonstrationen, die von derOpposition, einschließlich der Union der demo-

kratischen Kräfte in Guinea (Union des ForcesDémocratiques de Guinée – UFDG) organisiertwurden. Dabei kamen mindestens acht Men-schen zu Tode.

Im Mai 2012 fanden in der Hauptstadt Cona-kry weitere von der UFDG organisierte Protestestatt, bei denen freie und transparente Parla-mentswahlen gefordert wurden. Mehrere Per-sonen wurden verletzt, darunter ein Mann, demBerichten zufolge von den Sicherheitskräftenin den Rücken geschossen wurde.

Anfang August wurde die Baustelle eines bra-silianischen Bergbauunternehmens verwüs-tet. Zu den Ausschreitungen kam es nacheinem Streik von Arbeitern, die in der Umge-bung – u. a. in der Ortschaft Zogota – wohnten.Noch am gleichen Tag marschierten Sicher-heitskräfte in Zogota ein und erschossen dortmindestens fünf Menschen. Weitere Personenwurden festgenommen, geschlagen und gefol-tert. Der Ort liegt 900 km von Conakry entfernt.

Im September eröffneten die Sicherheits-kräfte das Feuer, nachdem es in Koloma,einem Stadtteil von Conakry, zu Unruhen ge-kommen war. Bei diesem Vorgehen handeltees sich um einen unverhältnismäßigen Akt derVergeltung. Mamadou Alpha Barry wurde er-schossen, und mehr als 40 Menschen wurdenverletzt.

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148 Guinea

Folter und andere MisshandlungenAuch 2012 wurden den SicherheitskräftenFolter und andere Misshandlungen zur Lastgelegt.ý Im Februar wurden drei Männer wegendes Verdachts auf einen bewaffneten Raub-überfall festgenommen und auf der Polizei-wache von Bambeto, einem Vorort von Cona-kry, gefoltert. Einer der Männer wurde mitStromstößen gequält, ein anderer vier Stun-den lang geschlagen, wobei seine Hände aufdem Rücken gefesselt waren. Diese Methodewird als »chinoise« (»chinesisch«) bezeichnet.Als er sich weigerte ein Geständnis abzule-gen, rissen seine Peiniger ihm vor den Augenseiner Familie die Kleidung vom Leib, tratenihn und schlugen mit Gewehrkolben auf ihnein. Beide Männer wurden an die mobile Ein-heit Escadron Mobile No. 2 in Hamdallayeüberstellt. Dort fügte man ihnen mit ZigarettenVerbrennungen zu und hielt sie in einer Stel-lung, die als »brochette« (»Fleischspieß«) be-zeichnet wird. Bei dieser Foltermethode wer-den die Opfer mit einem Stück Holz zwischenKnien und Ellbogen in einer Hockpositionaufgehängt. Der dritte Festgenommene galteine Woche lang als vermisst, bevor seinLeichnam im Leichenschauhaus des Donka-Krankenhauses in Conakry gefunden wurde.Er soll an den Folgen der Folter gestorbensein.

Recht auf freie Meinungsäußerung –JournalistenDie Einschränkung der Rechte auf freie Mei-nungsäußerung und auf Pressefreiheit sowiedie Übergriffe gegen bestimmte Journalistengaben auch 2012 Anlass zur Sorge.ý Im Februar wurde die Journalistin KounkouMara, die für das private guineische Presseun-ternehmen Le Lynx – La Lance arbeitet, vonGendarmen geschlagen. Der Vorfall ereignetesich, als sie auf dem Weg zu einer von der gui-neischen Zentralbank organisierten Veranstal-tung war. Sie befand sich für kurze Zeit ineinem Krankenhaus. Aus Angst vor Repressa-lien reichte die Leitung des Unternehmenskeine Klage ein. Bis Jahresende wurde keiner

der verantwortlichen Gendarmen zur Rechen-schaft gezogen.

Im August schlossen die Behörden in der Re-gion N’Zerekore (Südwest-Guinea) den priva-ten Radiosender Liberté FM. Dem Vernehmennach sollte damit unterbunden werden, dassder Sender über Proteste, die am nächsten Tagstattfinden sollten, berichten konnte.

StraflosigkeitBei den im Februar 2010 aufgenommenen Er-mittlungen wegen des Massakers, das am28. September 2009 im Stadion von Conakryverübt worden war, gab es gewisse Fort-schritte.

Im Februar und im September wurden in Co-nakry mehrere Personen, unter ihnen auchRegierungsbeamte, wegen Menschenrechts-verletzungen und wegen ihrer mutmaßlichenRolle bei dem Massaker angeklagt. Unter denAngeklagten befanden sich auch OberstMoussa Tiegboro Camara, der noch immer einRegierungsamt bekleidete, sowie Oberst Ab-doulaye Chérif Diaby, der 2009 Gesundheitsmi-nister gewesen war.

In den Monaten April und Mai 2012 reichtenvier Menschen vor einem Gericht in Conakryzwei Klagen wegen Folter ein. Die Vorwürfe be-zogen sich auf zwei Vorfälle aus den Jahren2011 und 2012. Beide Male hatten Gendarmenwährend der Untersuchung von Raubüberfäl-len Folter eingesetzt, um »Geständnisse« zu er-pressen. Die sieben in die Sache verwickeltenGendarmen waren Ende 2012 noch nicht vorGericht gestellt worden. Ein Folteropfer erlagden erlittenen Verletzungen, ein weiteres Opferwurde schwer verletzt.

TodesstrafeMindestens zwei Personen wurden 2012 inGuinea zum Tode verurteilt.

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Guinea-Bissau 149

Guinea-BissauAmtliche Bezeichnung: Republik Guinea-BissauStaatsoberhaupt: Manuel Serifo Nhamadjo (löste

im Mai Raimundo Pereira im Amt ab, der imJanuar Malam Bacai Sanhá im Amt gefolgt war)

Regierungschef: Rui Duarte de Barros (löste imMai Carlos Gomes Júnior im Amt ab)

Der Tod von Präsident Malam BacaiSanhá im Januar 2012 führte zu einerdrastischen Verschärfung der politischenSpannungen im Land. Mit einem Mili-tärputsch im April erreichten diese Span-nungen ihren Höhepunkt. Nach demmutmaßlichen Angriff auf eine Militärka-serne spitzte sich die Lage in Guinea-Bissau im Oktober zu, was eine weitereVerschlechterung der Menschenrechts-lage und der humanitären Situation zurFolge hatte. Die Streitkräfte verübtennach wie vor Menschenrechtsverletzun-gen, darunter willkürliche Festnahmenund Inhaftierungen, Misshandlungendurch Schläge sowie außergerichtlicheHinrichtungen, ohne dafür strafrecht-liche Konsequenzen befürchten zu müs-sen. Die Rechte auf Versammlungsfrei-

heit und freie Meinungsäußerung, u. a.die Pressefreiheit, waren stark einge-schränkt. Niemand wurde im Berichts-jahr für die seit 2009 begangenen politi-schen Morde an Politikern und hochran-gigen Militärangehörigen strafrechtlichbelangt.

HintergrundPräsident Malam Bacai Sanhá starb im Januar2012 nach langer Krankheit. Zwar gewann derfrühere Regierungschef Carlos Gomes Júniordie erste Runde der Präsidentschaftswahlenim März, da er aber die absolute Mehrheitknapp verfehlte, wurde für Ende April eineStichwahl angesetzt. Zehn Tage vor der Stich-wahl putschte das Militär, brachte Bissau, dieHauptstadt des Landes, unter seine Kontrolleund nahm den früheren Regierungschef sowieden Übergangspräsidenten fest. Beide wurdenzwei Wochen später aus dem Militärgewahr-sam entlassen und ins Exil geschickt.

Die selbsternannte Militärjunta, die die Kon-trolle übernommen hatte, verhängte repres-sive Maßnahmen zur Unterdrückung von Kritik.Jegliche Kundgebungen waren verboten.Friedliche Spontandemonstrationen wurdenvon Soldaten unter Einsatz von Gewalt aufge-löst. Das Militär behauptete, dass es dabei aufVeranlassung der angolanischen Militärmis-sion handele. Die Mission war Teil eines bilate-ralen Abkommens mit Guinea-Bissau undsollte das Land bei der Ausbildung und der Re-form der Sicherheitsorgane unterstützen. An-fang Mai einigten sich die Junta und ihre zivilenVerbündeten mit der Westafrikanischen Wirt-schaftsgemeinschaft (Economic Community OfWest African States – ECOWAS) auf eine ein-jährige Übergangszeit und die Entsendung vonSoldaten der ECOWAS nach Bissau. Zwei Wo-chen später wurden ein Übergangspräsidentund eine Übergangsregierung ernannt, dieaber von der internationalen Gemeinschaftnicht anerkannt wurden.

Im Oktober gaben die Behörden an, dass eineGruppe von Soldaten und Zivilpersonen in denAußenbezirken von Bissau eine Militärkaserneangegriffen hätte und sechs Angreifer getötet

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150 Guinea-Bissau

worden seien. Sie beschuldigten den ehemali-gen Regierungschef der Verwicklung in denAngriff. Auf der Suche nach den mutmaßlichenVerantwortlichen für den Angriff verübten An-gehörige des Militärs schwere Menschen-rechtsverletzungen.

Recht auf freie Meinungsäußerung –JournalistenWährend des Militärputschs wurden private Ra-diosender geschlossen. Sie durften ihre Tätig-keit erst nach zwei Tagen wieder unter strengenZensurauflagen aufnehmen, weshalb sichdie Betreiber mindestens eines Radiosendersentschlossen, nicht wieder auf Sendung zugehen. Journalisten wurden an ihrer Arbeit ge-hindert, schikaniert oder festgenommen. DerKorrespondent des staatlichen portugiesischenRadio- und Fernsehsenders Radio TelevisãoPortuguesa wurde im Oktober wegen seiner kri-tischen Berichterstattung über die Regierungund die Militärbehörden ausgewiesen.

Rechtswidrige Tötungen undaußergerichtliche HinrichtungenEs trafen Berichte ein, die Anlass zu der An-nahme gaben, dass sechs Menschen, die an-geblich bei dem Angriff auf die Militärkaserneim Oktober getötet worden waren, außerge-richtlich hingerichtet wurden. Bei den Totenhandelte es sich um vier Zivilpersonen undzwei Militärangehörige. Dem Vernehmen nachrichteten Soldaten in Bolama auf den Bijagos-Inseln fünf Menschen außergerichtlich hin, de-nen sie vorwarfen, Komplizen von PansauNtchama, dem mutmaßlichen Anführer desAngriffs auf die Kaserne, zu sein. Andere wur-den rechtswidrig getötet, weil sie Verbindungenzu abgesetzten Amtsträgern der Regierunghatten.

Luis Ocante da Silva, ein enger Freund desfrüheren Generalstabschefs der Streitkräfte,José Zamora Induta, starb an den Folgen derSchläge, mit denen ihn Soldaten traktiert hat-ten. Er war am 6. November 2012 von einerGruppe Soldaten aus seiner Wohnung ver-schleppt, zusammengeschlagen und an einenunbekannten Ort gebracht worden. Zwei Tage

später brachten Soldaten seinen Leichnam indie Leichenhalle des Zentralkrankenhauses.Die Familie durfte lediglich sein Gesicht sehen,es wurde ihr aber nicht erlaubt, den Toten mit-zunehmen und zu bestatten.

Es erfolgten keine Ermittlungen, um festzu-stellen, wer aus den Reihen der Streitkräfte fürdiese Tötungen und für andere Menschen-rechtsverletzungen verantwortlich war. Straflo-sigkeit bestand nach wie vor auch für die seitdem Jahr 2009 begangenen politischenMorde.

Folter und andere MisshandlungenNach dem Umsturz im April 2012 verprügeltenSoldaten auf der Suche nach abgesetzten Re-gierungsvertretern deren Familien, Freunde so-wie Mitarbeiter und verwüsteten ihre Wohnun-gen. Die meisten Minister tauchten mehrereMonate lang unter, einige flüchteten außerLandes. Mitglieder zivilgesellschaftlicher Grup-pen gerieten ebenfalls in das Visier der Sicher-heitskräfte. Einige erhielten Morddrohungenund flüchteten daraufhin in ausländische Bot-schaften. Unter ihnen waren mehrere Mitgliederder NGO Guineische Menschenrechtsliga (LigaGuineense dos Direitos Humanos – LGDH).

Am Tag nach dem Angriff auf die Militärka-serne wurde Iancuba Indjai, Vorsitzender deroppositionellen Partei für Solidarität und Arbeit(Partido da Solidariedade e Trabalho – PST)und Sprecher des Frente Nacional Anti-Golpe,eines Bündnisses aus politischen Parteienund zivilgesellschaftlichen Gruppen, die gegenden Putsch vom April waren, von Soldatenfestgenommen und verprügelt. Iancuba Indjaiwurde ungefähr 50 km außerhalb von Bissauam Straßenrand liegen gelassen. Dort fandenihn Ortsansässige, die seine Familie benach-richtigten. Er wurde in ein Krankenhaus im Aus-land gebracht.

Zu einem späteren Zeitpunkt am gleichen Taggingen Soldaten in Bissau zur Kanzlei desRechtsanwalts Silvestre Alves, dem Vorsitzen-den der Partei Demokratische Bewegung (Mo-vimento Democrático – MD). Sie schlugen aufihn ein und nahmen ihn mit. Silvestre Alveswurde später bewusstlos an einer Straße 40 km

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Guyana 151

außerhalb der Stadt von Ortsansässigen auf-gefunden, die ihn in ein Krankenhaus brach-ten. Auch er wurde zur ärztlichen Behandlungins Ausland gebracht.

Amnesty International: Berichtÿ Guinea-Bissau: Amnesty International’s concerns following

the coup in April 2012, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR30/001/2012/en

GuyanaAmtliche Bezeichnung:

Kooperative Republik GuyanaStaats- und Regierungschef: Donald Ramotar

Nach wie vor gab es Meldungen überrechtswidrige Tötungen durch die Poli-zei. Im Jahr 2012 wurden mindestensfünf Menschen zum Tode verurteilt. Esfanden jedoch keine Hinrichtungen statt.

HintergrundGemäß den während der Universellen Regel-mäßigen Überprüfung vor dem UN-Men-

schenrechtsrat im Jahr 2010 eingegangenenVerpflichtungen gab die Regierung im August2012 bekannt, öffentliche Befragungen zurAbschaffung der Todesstrafe und zur Entkri-minalisierung einvernehmlicher gleichge-schlechtlicher Beziehungen durchführen zuwollen. Die Befragungen zu beiden Themenhatten bis Ende 2012 jedoch noch nicht be-gonnen.

Polizei und SicherheitskräfteAm 18. Juli 2012 sollen in der Stadt Linden beiProtesten gegen steigende Strompreise dreiPersonen von der Bereitschaftspolizei erschos-sen worden sein. Weitere 17 Personen muss-ten wegen Schuss- und Schrotkugelverletzun-gen behandelt werden. Berichten zufolge be-warfen Demonstrierende die Sicherheitskräfte,die Tränengas gegen sie einsetzten, mit Fla-schen und Steinen. Zur Untersuchung des Vor-falls wurde eine fünfköpfige Untersuchungs-kommission eingerichtet, die ihre Ergebnisseim Februar 2013 veröffentlichen soll.

Am 11. September 2012 kam in der OrtschaftAgricola der 17-jährige Shaquille Grant durchSchüsse der Polizei zu Tode, ein weiterer Mannwurde verletzt. Anwohner wehrten sich gegendie offizielle Version, nach der die Polizei auf dieMeldung eines Raubüberfalls reagiert hatteund unter Beschuss geraten war. Das Verfahrengegen drei Polizeibeamte, die man im Oktoberwegen Mordes angeklagt hatte, war Ende 2012noch anhängig.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm Juli wies der UN-Ausschuss für die Beseiti-gung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) darauf hin, dass Gewalt gegenFrauen sehr verbreitet, die Zahl gemeldeterFälle jedoch sehr gering sei. Er empfahl u. a. dievollständige Umsetzung des Gesetzes zu Se-xualverbrechen (Sexual Offences Act), eine ob-ligatorische Schulung für Gerichtsbedienstete,den Ausbau der Kapazitäten von Frauenhäu-sern und Beratungsstellen, Maßnahmen zurSensibilisierung der Öffentlichkeit, eine umfas-sendere Erhebung statistischer Daten zuhäuslicher und sexueller Gewalt und eine Ver-

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152 Haiti

einfachung des Zugangs zu Rechtshilfeleis-tungen.

Im August kam das Obere Gericht (HighCourt) zu dem Urteil, dass sogenannte papercommittals – Anhörungen zur Prüfung, ob ge-nügend Beweismaterial vorliegt, um einen Fallvor Gericht zu bringen – bei Sexualstraftaten ge-gen die Verfassung verstoßen, da die Beschul-digten in diesem Stadium keine Gelegenheit zuihrer Verteidigung erhalten. Es wurde befürch-tet, dass sich das Urteil negativ auf die bereitssehr niedrigen Verurteilungsraten bei Sexual-straftaten auswirken könnte.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenGegenstand eines im März 2012 veröffentlich-ten Berichts der Universität der WestindischenInseln waren die sozialen Auswirkungen vonGesetzen, die Lesben, Schwule, Bisexuelle,Transgender und Intersexuelle betrafen. DemBericht zufolge zeigte sich die Mehrzahl derBefragten nicht bereit, gegen sie begangeneVerbrechen zu melden, da sie befürchteten,aufgrund ihrer sexuellen Orientierung angeklagtzu werden.

Recht auf Gesundheit – HIV / AIDSIm Mai 2012 kritisierte der nationale AIDS-Aus-schuss, ein unabhängiges Beratungsgre-mium, die Regierung, weil sie gleichgeschlecht-liche Beziehungen nicht entkriminalisiert undnur geringe Fortschritte bei der Bekämpfungder Stigmatisierung von Menschen mit HIV /AIDS gemacht habe. Ferner habe es die Regie-rung versäumt, den Zusammenhängen zwi-schen sexueller Gewalt und der Verbreitung vonHIV unter Frauen und Mädchen nachzugehenund genügend Augenmerk auf die indigene Be-völkerung als besonders gefährdete Gruppezu richten.

TodesstrafeMindestens fünf Personen wurden 2012 zumTode verurteilt. 30 Personen befanden sichEnde des Jahres im Todestrakt. Im Juni wurdenvier Todesurteile in lebenslange Haftstrafen

umgewandelt mit der Begründung, dass dielange Inhaftierung (zwischen 16 und 24 Jah-ren) der vier Männer im Todestrakt eine grau-same und unmenschliche Behandlung dar-stelle.

HaitiAmtliche Bezeichnung: Republik HaitiStaatsoberhaupt: Michel Joseph MartellyRegierungschef: Laurent Lamothe (löste im Mai

Gary Conille im Amt ab)

Mehr als 320000 Menschen, die durchdas schwere Erdbeben im Januar 2010obdachlos geworden waren, lebten 2012noch immer in Notunterkünften. Tau-sende Binnenflüchtlinge wurden vonlokalen Behörden und privaten Grund-besitzern rechtswidrig vertrieben.Frauen, die geschlechtsspezifische Ge-walt zur Anzeige brachten, erhielten nurgeringe Entschädigungen. Es wurdenkeine Maßnahmen ergriffen, um gegendie Straflosigkeit bei Menschenrechts-verstößen vorzugehen, die in der Vergan-genheit verübt worden waren.

HintergrundZunehmende politische Spannungen zwischendem Parlament und dem Präsidenten führtenim Februar 2012, nur vier Monate nach seinemAmtsantritt, zum Rücktritt des Premierminis-

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Haiti 153

ters Garry Conille. Sein vom Präsidenten ausge-wählter Nachfolger Laurent Lamothe trat seinAmt im Mai an. Während der letzten drei Mo-nate des Berichtsjahres kam es in verschiede-nen Landesteilen zu Demonstrationen gegendie anscheinende Unfähigkeit der Regierung,die sozialen und wirtschaftlichen Probleme zulösen. Die Protestierenden forderten PräsidentMichel Martelly zum Rücktritt auf.

Im August setzte Präsident Martelly den Stän-digen Wahlrat ein. Da das Parlament aberkeine Einigung über seine drei Vertreter im Raterzielen konnte, wurden nur sechs der neunvorgesehenen Mitglieder ernannt. Die dreidurch den Obersten Justizrat (Conseil Supé-rieur du Pouvoir Judicaire – CSPJ) erfolgten Er-nennungen wurden wegen Verstoßes gegendie Auswahlbestimmungen angefochten. ImOktober ernannte der CSPJ drei neue Reprä-sentanten. Die Schaffung eines StändigenWahlrats, einer Schlüsselinstitution bei der Or-ganisation lokaler und allgemeiner Wahlen, warseit Annahme der Verfassung im Jahr 1987anhängig gewesen.

Im Oktober 2012 erneuerte der UN-Sicher-heitsrat das Mandat der UN-Stabilisierungs-mission in Haiti (MINUSTAH) für das neunteJahr in Folge und empfahl die graduelle Ver-ringerung der Zahl ihrer militärischen und poli-zeilichen Mitarbeiter. In der Öffentlichkeitwurde zunehmend Unzufriedenheit überMINUSTAH laut, insbesondere weil ein nepale-sisches Bataillon der UN-Friedenstruppe fürden Ausbruch der Cholera in Haiti verant-wortlich gemacht wurde und Soldaten vonMINUSTAH in etliche Fälle sexueller Gewaltverwickelt gewesen sein sollen.

Die Tropenstürme Isaac und Sandy, die EndeAugust bzw. Ende Oktober 2012 Haiti trafen,verschärften die Cholera-Epidemie, vergrößer-ten die Nahrungsmittelknappheit und ließendie Anzahl obdachloser Familien weiter anstei-gen. Mehr als 15000 Haushalte in den Über-gangslagern für Binnenflüchtlinge wurden vonden Stürmen in Mitleidenschaft gezogen.

Die humanitäre Lage in Haiti war nach demErdbeben in mehreren Bereichen weiterhinbesorgniserregend: Schutzmaßnahmen, Unter-

künfte, Gesundheitsversorgung, Verfügbarkeitvon Trinkwasser und der Zustand der Sanitär-anlagen waren unzureichend. Der Ausbruchder Cholera, durch die im Berichtsjahr etwa 900Menschen starben, verschlimmerte die Lagenoch. Gleichzeitig behinderte das Fehlen finan-zieller Mittel die in dieser Situation benötigtehumanitäre Hilfe. Die nach dem Erdbeben er-forderlichen Wiederaufbaumaßnahmen ka-men nur langsam voran. Gründe dafür warenu. a. die politische Instabilität, die Schwächeder öffentlichen Institutionen und die Verzöge-rung bei der Auszahlung der finanziellen Hilfe,die die internationale Gemeinschaft zugesagthatte. Bis September waren nur 279 Mio. US-Dollar der zugesagten 553 Mio. US-Dollar aus-gezahlt worden.

Im Mai wurde der Internationale Pakt überwirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechteper Gesetz ratifiziert. Bis Ende 2012 hatte derPräsident das Gesetz jedoch noch nicht ver-kündet.

BinnenflüchtlingeMehr als 320000 Personen, die durch das Erd-beben im Januar 2010 obdachlos gewordenwaren, lebten Ende 2012 noch immer in provi-sorischen Lagern. Mit Unterstützung durchdie Internationale Organisation für Migrationund deren Partner verfolgte die Regierung wei-terhin die Umsetzung von Rückkehr- und Um-siedlungsplänen für obdachlose Erdbebenop-fer, die in den am stärksten dem Risiko von Na-turkatastrophen ausgesetzten Lagern lebten.Im Verlauf des Jahres erhielten etwa 134000Familien Hilfe, um die Lager verlassen zu kön-nen. Dazu zählten Mietbeihilfen oder die Bereit-stellung temporärer Unterkünfte.

Die Lebensbedingungen in den Lagern warenweiterhin katastrophal. Zwar wurden die sani-tären Anlagen in einigen Lagern verbessert,doch herrschte Besorgnis über die schlechteQualität des Trinkwassers, auf die möglicher-weise der Anstieg der registrierten Fälle vonCholera während der Regenzeit und der Hurri-kansaison (April bis November) zurückzufüh-ren war.

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154 Haiti

Recht auf Wohnen –ZwangsräumungenIn Port-au-Prince und anderen vom Erdbebenbetroffenen Gebieten wurden die rechtswidri-gen Zwangsräumungen der Unterkünfte vonBinnenflüchtlingen fortgesetzt. TausendeMenschen wurden wieder obdachlos, nachdemihre behelfsmäßigen Unterkünfte während derZwangsräumungen, die ohne ordentliches Ver-fahren und angemessene vorherige Ankündi-gung oder Anhörung stattfanden, zerstört wor-den waren. Den Menschen, die ihre Unter-künfte verloren, wurden keine alternativenWohnmöglichkeiten angeboten. Die Zwangs-räumungen wurden von Nötigung, Schikanie-rung und Gewalt begleitet.

Die Zwangsräumungen trugen dazu bei, dassdie Anzahl der Personen, die in provisorischenLagern lebten, insgesamt abnahm und viele La-ger geschlossen wurden. Zwischen Januarund Juni wurden nach Zwangsräumungenmehr als 30 Lager geschlossen, wovon mehrals 2140 Personen betroffen waren. Über75000 Menschen lebten unter der ständigenBedrohung, Opfer einer Zwangsräumung zuwerden.ý Im Mai 2012 führten örtliche Beamte, die vonbewaffneten Mitgliedern der kommunalenStraßenkontrollbrigade und der nationalen Poli-zei begleitet wurden, im Lager Mozayik in Port-au-Prince eine Zwangsräumung der Unter-künfte von 131 Familien durch. Ehemalige Be-wohner des Lagers sagten aus, dass Beamteihre Häuser niedergerissen und ihre Habselig-keiten zerstört hätten. Niemand erhielt eine al-ternative Unterkunft oder wurde vorher überdie Räumung informiert.ý Im Juli 2012 versuchten die Behörden 142Familien zu vertreiben, die einer Gemeinschaftangehörten, die sich in den 1980er Jahren imNationalpark La Visite, einem Naturreservat imDépartement Sud-Est, angesiedelt hatte. Au-genzeugenberichten zufolge waren 30 Polizei-beamte und 20 bewaffnete Zivilpersonen ange-rückt, um die Zwangsräumung durchzufüh-ren. Mitglieder der Gemeinschaft bewarfen diePolizisten mit Steinen, als diese damit began-nen, Häuser zu zerstören. Daraufhin eröffneten

die Polizisten das Feuer und töteten vier Män-ner. Die Behörden bestritten jede Beteiligungan diesen Straftaten. Bis zum Jahresendewurden keinerlei Ermittlungen zur Aufklärungder Todesschüsse durchgeführt.

Die Regierung legte im April 2012 erstmalseinen Konzeptentwurf für eine nationale Woh-nungspolitik vor. Kritisiert wurde daran u. a.,dass in dem Entwurf menschenrechtliche Fra-gen unberücksichtigt blieben und auch nichtauf rechtswidrige Zwangsräumungen einge-gangen wurde.

Gewalt gegen Frauen und MädchenFrauen und Mädchen waren nach wie vor sexu-eller Gewalt ausgesetzt. Berichten von Frauen-rechtsorganisationen zufolge waren insbeson-dere die in Lagern für Binnenflüchtlinge le-benden Frauen gefährdet, Opfer sexueller Ge-walt oder sexueller Ausbeutung zu werden.Getrieben von Armut, boten Frauen und Mäd-chen weiterhin sexuelle Handlungen gegenGeld oder Waren an, um ihr Überleben sicher-zustellen. Haitis Polizei und Justizwesen er-zielte zwar gewisse Fortschritte im Kampf gegensexuelle Gewalt, den Frauen, die Opfer sexuel-ler Straftaten geworden waren, wurde aberkaum eine Möglichkeit geboten, Gerechtigkeitund Entschädigung zu erlangen.

StraflosigkeitDie Verantwortlichen für die während der ver-gangenen vier Jahrzehnte verübten schwerenMenschenrechtsverletzungen, darunter Ver-schwindenlassen, Folter, Vergewaltigung undaußergerichtliche Hinrichtungen, entzogen sich2012 weiterhin der Justiz.

Im Januar wies ein Ermittlungsrichter Klagenwegen Verbrechen gegen die Menschlichkeitab, die von 22 Opfern gegen den früheren Prä-sidenten Jean-Claude Duvalier erhoben wor-den waren. Der Richter vertrat die Ansicht, dassgegen Jean-Claude Duvalier nur wegen Kor-ruption und Veruntreuung von öffentlichen Gel-dern verhandelt werden könne. Im Wider-spruch zu Haitis völkerrechtlichen Verpflichtun-gen führte der Richter in seinem Bericht aus,dass Haitis Gerichte keine Befugnis besäßen,

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Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu un-tersuchen und strafrechtlich zu verfolgen. Biszum Jahresende war über Rechtsmittel, dievon den Opfern und ihren Familienmitgliederneingelegt worden waren, noch keine Entschei-dung gefallen.

Justizwesenlm Juli 2012 wurde schließlich der Oberste Jus-tizrat eingerichtet. Interne Spaltungen, diezum zeitweiligen Ausscheiden von zwei seinerMitglieder führten, darunter der Repräsentantdes Menschenrechtssektors, behinderten je-doch seine Funktionsfähigkeit. Der Rat ist eineSchlüsselinstitution für die Reform und Unab-hängigkeit des Justizwesens. Eine seinerHauptaufgaben ist die Bestätigung der Ernen-nung neuer Richter. Nach Informationen hai-tianischer Menschenrechtsorganisationen wur-den jedoch Richter weiterhin ohne Zustim-mung des Rates ernannt.

Am 28. September wurde der Generalstaats-anwalt von Port-au-Prince, Jean Renel Séna-tus, entlassen. In einem Interview, das er einemlokalen Radiosender gab, sagte er, dass er ausseinem Amt entfernt worden sei, weil er sich ge-weigert habe, die ministerielle Anordnung zubefolgen, 36 Mitglieder der politischen Opposi-tion festzunehmen, darunter der Menschen-rechtsanwalt Mario Joseph und die auf Fällevon Korruption spezialisierten Anwälte NewtonSt-Juste und André Michel. Im Oktober wurdeLucman Delille zum Generalstaatsanwalt vonPort-au-Prince ernannt. Es handelte sich umdie achte Besetzung dieses Postens seit demAmtsantritt von Präsident Martelly.

Die Behörden ergriffen keine wirksamen Maß-nahmen, um das Problem der übermäßig lan-gen Untersuchungshaft anzugehen.

Amnesty International: Missionenþ Delegierte von Amnesty International besuchten Haiti in den

Monaten Mai und Juli 2012.

HondurasAmtliche Bezeichnung: Republik HondurasStaats- und Regierungschef: Porfirio Lobo Sosa

Menschenrechtsverteidiger wurden auch2012 bedroht, tätlich angegriffen undgetötet. Die Haftbedingungen boten wei-terhin Anlass zu Besorgnis. Dies wurdebesonders deutlich, als bei einem Brandim Gefängnis von Comayagua mindes-tens 360 Häftlinge ums Leben kamen.Es gab die Befürchtung, dass ein Gesetzden Zugang zu Verhütungsmitteln alsStraftat definieren könnte. Die Unab-hängigkeit der Justiz geriet in den Blick-punkt, nachdem mehrere Richter desObersten Gerichtshofs ihrer Ämter entho-ben worden waren.

HintergrundDas Ausmaß an Gewaltkriminalität war 2012weiterhin sehr hoch und spielte in der politi-schen Debatte eine zentrale Rolle. Die Regie-rung versuchte, die Polizei zu »säubern«. Siereagierten damit auf Korruptions- und Miss-handlungsvorwürfe gegen die Polizei. Polizei-beamten wurde u. a. vorgeworfen, als Tatbetei-ligte oder Mitwisser für den Tod von Menschenverantwortlich zu sein, so z. B. für die Tötungvon zwei Studierenden im Jahr 2011.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger wurden weiterhinaufgrund ihrer Arbeit eingeschüchtert, tätlichangegriffen oder sogar getötet.

Sprecher von Kleinbauern und Menschen-

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156 Honduras

rechtsverteidiger, die Kleinbauern im Zusam-menhang mit dem fortdauernden Landrechts-konflikt in der Region Bajo Aguán vertraten,wurden bedroht und attackiert.ý Im September 2012 wurde der Menschen-rechtsanwalt Antonio Trejo Cabrera in derHauptstadt Tegucigalpa von Unbekannten mitfünf Schüssen getötet. Antonio Trejo hatte dreiKleinbauernkooperativen vertreten und Bauerngeholfen, ihre Rechte an Grundstücken wie-derzuerlangen. Er wollte kurze Zeit später in dieUSA reisen, um dort an Anhörungen der Inter-amerikanischen Menschenrechtskommissionzu dem Landkonflikt in Bajo Aguán teilzuneh-men. Antonio Trejo hatte berichtet, er habe imLaufe des Jahres Morddrohungen erhalten.Ende 2012 war noch niemand wegen seiner Er-mordung zur Rechenschaft gezogen worden.

Die Regierung unternahm nichts, um Men-schenrechtsverletzungen, die sich gegenMenschenrechtsverteidiger richteten, zu ver-hindern und zu bestrafen. Die UN-Sonderbe-richterstatterin über die Lage von Menschen-rechtsverteidigern äußerte sich im Februar be-sorgt darüber, dass nach wie vor kein Schutz-programm für Menschenrechtsverteidiger inHonduras existierte. Im November kündigte diestellvertretende Ministerin für Justiz und Men-schenrechte einen Gesetzentwurf an, derSchutzmaßnahmen für Menschenrechtsver-teidiger, Journalisten und Beschäftigte im Jus-tizwesen vorsieht (Ley para la Protección delos Defensores de Derechos Humanos, Periodi-stas y Operadores de Justicia). Ende 2012 lagder Gesetzentwurf noch nicht vor.ý Bertha Oliva und Nohemí Pérez vom Komiteeder Familienangehörigen von Inhaftierten undVerschwundenen in Honduras (Comité de Fa-miliares de Detenidos Desaparecidos en Hon-duras – COFADEH) wurden im März und April2012 mündlich bedroht.ý Im Februar 2012 erhielt Dina Meza, ebenfallsMitarbeiterin von COFADEH, telefonische undschriftliche Nachrichten, in denen ihr Folterund Vergewaltigung angedroht wurden. EineMitteilung lautete: »Wir werden deine Muschimit Kalk verätzen, bis du schreist, und dieganze Gruppe wird ihren Spaß haben . . . CAM.«

Die Abkürzung steht für Comando ÁlvarezMartínez und nimmt Bezug auf Gustavo ÁlvarezMartínez, der 1982–84 Oberkommandieren-der der Streitkräfte von Honduras war. In dieserZeit wurden schwere Menschenrechtsverlet-zungen verübt; nach Ansicht von Menschen-rechtsgruppen hatte der General Verbindun-gen zu paramilitärischen Todesschwadronen.

Sexuelle und reproduktive RechteIm Februar 2012 entschied der Oberste Ge-richtshof, es sei verfassungskonform, die Not-fallverhütung (sogenannte Pille danach) perGesetz zu verbieten. Das Urteil erfolgte trotzdes schwerwiegenden Einwands, dass das Ver-bot internationale und nationale rechtlicheVerpflichtungen zum Schutz der Menschen-rechte von Frauen und Mädchen verletze.Sollte das Parlament das Urteil des OberstenGerichtshofs umsetzen, wäre Honduras daserste Land weltweit, das die Anwendung einerVerhütungsmethode zur Straftat erklärt.

HaftbedingungenBei einem Brand im Gefängnis von Comayaguastarben im Februar 2012 mindestens 360Häftlinge, viele weitere erlitten schwere Verlet-zungen. Die Behörden übernahmen die Ver-antwortung für die Todesfälle und kündigtenumfangreiche Reformen des Strafvollzugssys-tems an, um die unhaltbaren Zustände zu ver-bessern und die Ursachen der Brandkatastro-phe zu beseitigen.

Positiv zu verzeichnen war, dass gemäß demFakultativprotokoll zum Übereinkommen ge-gen Folter und andere grausame, unmensch-liche oder erniedrigende Behandlung oderStrafe ein Nationaler Präventionsmechanismusgegen Folter eingesetzt wurde. Doch gab esBefürchtungen, die neue Stelle habe nicht ge-nügend finanzielle Mittel und Personal, um ef-fektiv arbeiten zu können.

Im Dezember 2012 wurde das Strafvollzugs-gesetz (Ley del Sistema Penitenciario) verab-schiedet. Weil die Gefängnisse jedoch weiterhinüberfüllt und die Haftbedingungen schlechtwaren, liefen die Inhaftierten vermehrt Gefahr,Opfer von Misshandlungen zu werden.

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JustizsystemIm Dezember 2012 entschied das Parlament,vier der fünf Richter des Obersten Gerichts-hofs ihrer Ämter zu entheben. Die Richter, dieder Verfassungskammer des Gerichtshofs an-gehörten, hatten zuvor ein Gesetzesvorhabendes Parlaments blockiert, das eine »Säube-rung« der Polizei ermöglichen sollte. Nach An-sicht der Richter waren Teile des Gesetzesnicht verfassungskonform. Die Interamerikani-sche Menschenrechtskommission kritisiertedie Entlassung der Richter. Sie forderte die Re-gierung nachdrücklich auf, die Unabhängig-keit der Justiz zu achten und zu garantieren.

Amnesty International: Berichtÿ Honduras: Public letter to the Honduran government:

No more killings, attacks or threats against journalistsand human right defenders, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR37/009/2012/en

IndienAmtliche Bezeichnung: Republik IndienStaatsoberhaupt: Pranab Kumar Mukherjee (löste

im Juli Pratibha Patil im Amt ab)Regierungschef: Manmohan Singh

Auch 2012 setzten sich Folter und an-dere Misshandlungen, außergericht-liche Hinrichtungen, Tod im Gewahrsamund willkürliche Inhaftierungen fort.Betroffene von Menschenrechtsverlet-zungen, die Gerechtigkeit zu erlangenversuchten, erreichten nur wenig. Dieswar vor allem ineffizienten Institutionenund einem Mangel an politischem Willengeschuldet. Im November fand die ersteHinrichtung in Indien seit 2004 statt.Mindestens 78 Männer und Frauen wur-den 2012 zum Tode verurteilt. Die Behör-den versagten immer wieder darin, dieGewalt gegen Frauen und Mädchen ein-

zudämmen. Ein weithin bekannt gewor-dener Vergewaltigungsfall löste im De-zember landesweite Proteste und dieForderung nach rechtlichen und anderenReformen aus. Mindestens 340 Men-schen, darunter auch Zivilpersonen, ka-men bei Zusammenstößen zwischen be-waffneten Maoisten und Sicherheitskräf-ten ums Leben. Die Frage der Rechen-schaft bei völkerrechtlichen Verbrechenfand keinen Eingang in die anhaltendenFriedensinitiativen in Nagaland und As-sam. Mindestens 65 Menschen wurdenbei Zusammenstößen verschiedener Eth-nien und anderer Bevölkerungsgruppenin Assam getötet. Die Auseinanderset-zungen führten außerdem zur vorüber-gehenden Vertreibung von 400000 Men-schen innerhalb des Landes. Die indige-nen Adivasi, Fischer und andere margi-nalisierte Gemeinschaften protestiertenweiterhin gegen die Vertreibung vonihrem Land und aus ihren Lebensräu-men. Währenddessen schritten die offi-ziellen Untersuchungen für die Landzu-teilung für Bergbauvorhaben weiter vor-an. Menschenrechtsverteidiger wurdenvon staatlichen und nicht staatlichen Ak-teuren bedroht und schikaniert; einigewurden zu langjährigen Haftstrafen ver-urteilt. Die Regierung versuchte, Inter-netseiten zu zensieren und Andersden-kende in sozialen Medien zu unterdrü-cken, was zu Protesten gegen Einschrän-kungen im Internet führte.

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HintergrundDie Regierung sah sich 2012 im Kontext der glo-balen Rezession, die Indiens Wirtschaft harttraf, Korruptionsvorwürfen gegenüber, da siebei der Gewährleistung inklusiven Wachstumsversagte. In Armut lebende und bereits margi-nalisierte Gemeinschaften, die zwischen 30und 50% der Bevölkerung ausmachen, warenvon den Preissteigerungen besonders getrof-fen.

Die Regierungsgespräche mit dem benach-barten Pakistan, auch zu Kaschmir, wurdenfortgesetzt. Im März unterstützte Indien die Re-solution 19 /2 des UN-Menschenrechtsrats,die Sri Lanka dazu drängte, die Verstöße gegendas Völkerrecht zu thematisieren, zeigte sichjedoch zurückhaltend, wenn es darum ging, zuanderen Menschenrechtskrisen Stellung zubeziehen. Der UN-Sonderberichterstatter überaußergerichtliche, summarische oder willkür-liche Hinrichtungen besuchte Indien im März.Im Mai wurde Indien im Rahmen der Univer-sellen Regelmäßigen Überprüfung durch denUN-Menschenrechtsrat bewertet. Die Regie-rung kam weder der Empfehlung nach, Be-suche des UN-Sonderberichterstatters überFolter und der Arbeitsgruppe zu willkürlichenInhaftierungen zu erleichtern, noch der Emp-fehlung, die Sicherheitskräfte wegen Men-schenrechtsverletzungen zur Verantwortungzu ziehen. Das Parlament reformierte das Ge-setz zur Verhütung ungesetzlicher Aktivitätenbei der Finanzierung des Terrorismus, brachtees jedoch nicht in Einklang mit internationalenMenschenrechtsstandards.

Gewalttätige Auseinandersetzungenzwischen Sicherheitskräften, Milizenund MaoistenDie Kampfhandlungen zwischen bewaffnetenMaoisten und Sicherheitskräften in Ost- undZentralindien setzten sich fort. Beide Seitennahmen regelmäßig Zivilpersonen ins Visier.Die Morde, Entführungen und Brandstiftungengriffen auf den Bezirk Gadchiroli im Bundes-staat Maharashtra über. Dort töteten Maoisten19 Zivilpersonen, unter ihnen acht derzeitigeund ehemalige Mitglieder der Lokalregierung.

Im Bundesstaat Chhattisgarh stieg die Zahlder seit 2005 getöteten Personen, einschließ-lich Angehöriger der Sicherheitskräfte und be-waffneter Maoisten, auf 3200 an. Gut 25000Menschen waren weiterhin Binnenflüchtlinge –5000 lebten in Lagern und 20000 verstreut inden Nachbarbundesstaaten Andhra Pradeshund Orissa. Hunderte Mitglieder der staatlichfinanzierten Salwa-Judum-Miliz stellten weiter-hin einen Teil der 6000 Mann umfassendenHilfspolizei, trotz der Bedenken, die hinsichtlichihrer Beteiligung an Menschenrechtsverlet-zungen bestanden.ý Im März und April 2012 entführten Maoistenzwei italienische Touristen im BundesstaatOrissa und ließen sie im Austausch gegensechs von den Sicherheitskräften gefangengenommene Maoisten frei. Einen Abgeordne-ten aus Orissa ließen Maoisten nach 33 Tagenfrei.ý Im April und Mai 2012 erschossen Maoistenzwei Wächter und entführten den Leiter derBezirksverwaltung von Sukma in Chhattisgarh.Sie ließen ihn 13 Tage später wieder frei, nach-dem die bundesstaatlichen Behörden verspro-chen hatten, die Freilassung von 300 tatver-dächtigen Maoisten gegen Kaution in Erwägungzu ziehen.ý Im Juni 2012 behaupteten paramilitärischeKräfte aus Zentralindien, in Chhattisgarh 17Maoisten »im Kampf« getötet zu haben, dochMenschenrechtler fanden heraus, dass dieOpfer unbewaffnete örtliche Adivasi waren, un-ter ihnen drei Teenager. Ein Ermittlungsverfah-ren zu den Tötungen wurde erst fünf Monatespäter aufgenommen.

UnternehmensverantwortungIm August 2012 ordnete der Oberste Gerichts-hof von Indien an, dass der Giftmüll in und umdie Fabrikruine von Union Carbide in Bhopal in-nerhalb von sechs Monaten durch die bun-desstaatliche und die Bundesregierung ent-sorgt werden müsse. Er forderte zudem einebessere medizinische Beobachtung sowie Kon-troll- und Überweisungsmechanismen, um diemedizinische Versorgung der Opfer zu verbes-sern. Das Gericht entschied darüber hinaus,

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dass die Regierung des Bundesstaats für dieBereitstellung von sauberem Wasser für dieMenschen im Umkreis der Fabrik sorgenmüsse.

Das in Großbritannien ansässige Unterneh-men Vedanta Resources schaffte weiterhinkeine Abhilfe hinsichtlich der Auswirkungenihrer geplanten Aluminiumraffinerie in Lanji-garh auf die indigenen und anderen örtlichenGemeinschaften. Das Unternehmen führteaußerdem zu dem gemeinsam mit der OrissaMining Corporation (OMC) geplanten Berg-bauprojekt in den Niyamgiri-Bergen keine Kon-sultationen durch. Die Rechtsmittel der OMCgegen die Weigerung der Zentralregierung, dieRodung von Wald für das Bergbauprojekt zugestatten, waren Ende 2012 weiter vor demObersten Gerichtshof anhängig.ý Adivasi in den Gebieten von Mahan undChhatrasal im Bundesstaat Madhya Pradeshund dem Saranda-Gebiet des BundesstaatsJharkhand protestierten gegen vorbereitendeSchritte zur Vergabe von Land für Bergbaupro-jekte. Durch die Projekte würden ihre Ansprü-che auf Land missachtet, das ihnen per Gesetz(Forest Rights Act) zusteht.

TodesstrafeMit der Hinrichtung des pakistanischenStaatsangehörigen Ajmal Kasab, der durchden Strang starb, nahm Indien nach einerachtjährigen Unterbrechung am 21. Novem-ber 2012 die Vollstreckung von Todesurteilenwieder auf. Ajmal Kasab war die Beteiligungan den Bombenanschlägen in Mumbai imJahr 2008 zur Last gelegt worden. Über dasJahr hinweg wurden mindestens 78 Männerund Frauen zum Tode verurteilt, womit dieGesamtzahl an Gefangenen im Todestrakt aufüber 400 anstieg. Zehn Todesurteile warendurch einen Präsidialerlass umgewandelt wor-den. Fünf weitere Gefangene, die gegen dieAblehnung des Gnadengesuchs durch denPräsidenten Rechtsmittel eingelegt hatten,warteten auf die Entscheidung des OberstenGerichtshofs.

Im Juli sprachen sich 14 ehemalige Richtervor dem Präsidenten für die Umwandlung der

Todesurteile von 13 Gefangenen aus, da derOberste Gerichtshof sie fälschlicherweise auf-rechterhalten habe. Im November forderte derOberste Gerichtshof angesichts der Inkonsis-tenz bei der Verhängung von Todesurteilen eineÜberprüfung der Strafmaßprinzipien. DerOberste Gerichtshof stimmte gegen die obliga-torische Verhängung der Todesstrafe beimEinsatz verbotener Schusswaffen mit Todes-folge. Im Dezember stimmte Indien gegen dieResolution 67 /176 der UN-Generalversamm-lung, die zu einem weltweiten Hinrichtungs-moratorium aufruft, mit dem Ziel, die Todes-strafe ganz abzuschaffen.

Gewalt gegen Frauen und MädchenDie Behörden versagten bei der Eindämmungder hohen Anzahl sexueller und anderer Ge-walttaten gegen Frauen und Mädchen – selbstdann noch, als ein Anstieg dieser Vorfälle zuverzeichnen war.ý Im Dezember 2012 wurden elf Männer we-gen eines sexuellen Angriffs auf eine Frau inder Stadt Guwahati im Bundesstaat Assam fürschuldig befunden.ý Fünf Männer und ein Junge wurden im De-zember wegen der Gruppenvergewaltigungeiner jungen Frau mit Todesfolge in Neu-Delhifestgenommen. Der Angriff führte zu landes-weiten Protesten, bei denen die Demonstrieren-den eine Überprüfung der Gesetze zu Gewaltgegen Frauen forderten.

StraflosigkeitEs herrschte nach wie vor weit verbreitete Straf-losigkeit bei Menschenrechtsverletzungen.Weder das Sonderermächtigungsgesetz für dieStreitkräfte von 1958 (Armed Forces SpecialPowers Act) noch das Gesetz über Unruhege-biete (Disturbed Areas Act) wurden 2012 auf-gehoben. Beide Gesetze geben den Sicher-heitsorganen in bestimmten Regionen über-mäßige Befugnisse und gestehen ihnen beimutmaßlichen Verbrechen eine De-facto-Im-munität zu. In Jammu und Kaschmir und imNordosten des Landes kam es zu Protestengegen diese Gesetze, und auch der UN-Son-derberichterstatter über außergerichtliche,

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summarische oder willkürliche Hinrichtungengab bei seinem Besuch im März seiner Be-sorgnis darüber Ausdruck, ebenso wie derUN-Menschenrechtsrat im September. Mut-maßliche Verantwortliche für Fälle von Ver-schwindenlassen und außergerichtliche Hin-richtungen in Assam (1998 und 2001), Mani-pur, Nagaland, Punjab (1984–94) und ande-ren Bundesstaaten befanden sich nach wie vorauf freiem Fuß.ý Im Januar 2012 ordnete der Oberste Ge-richtshof neue Untersuchungen zu 22 mut-maßlichen außergerichtlichen Hinrichtungenvon überwiegend muslimischen Jugendlichenin den Jahren 2003 bis 2006 in Gujarat an.ý Im April 2012 schloss die staatliche Men-schenrechtskommission (National HumanRights Commission – NHRC) die Untersuchungder rechtswidrigen Tötungen und Massenver-brennungen durch die Polizei während desPunjab-Konflikts ab, ohne strafrechtliche Un-tersuchungen zu empfehlen. Sie sprach denFamilien von 1513 der 2097 Toten eine Ent-schädigung von insgesamt 279,4 Mio. indi-schen Rupien (etwa 5,78 Mio. US-Dollar) zu.Die Ergebnisse einer Untersuchung des Zentra-len Ermittlungsbüros zu den Tötungen wurdennicht veröffentlicht.ý Zwischen 2007 und 2012 zahlte die NHRCden Familien von 191 der 1671 im Land getö-teten Menschen finanzielle Entschädigungenaus, nachdem die Kommission zu demSchluss gekommen war, dass die Menschenaußergerichtlich hingerichtet worden waren.Bei den strafrechtlichen Untersuchungen derMehrheit dieser Tötungen wurden keine ent-scheidenden Fortschritte erzielt.

Jammu und KaschmirEs herrschte nach wie vor weit verbreitete Straf-losigkeit bei Menschenrechtsverletzungen, dieseit 1989 während des bewaffneten Konflikts inKaschmir begangen wurden, darunter rechts-widrige Tötungen, außergerichtliche Hinrich-tungen, Folter und Verschwindenlassen vonTausenden von Menschen. Auch die meistender mehr als 100 während Protestaktionen imJahr 2010 von Sicherheitskräften verübten Tö-

tungen von Jugendlichen wurden nicht um-fassend untersucht.ý Der Oberste Gerichtshof ermöglichte es imMai 2012 acht Angehörigen der Streitkräfte,die der Beteiligung an der außergerichtlichenHinrichtung von fünf Dorfbewohnern aus Pa-thribal im Jahr 2000 verdächtigt wurden, wir-kungsvoll zivile Gerichte zu umgehen. Statt-dessen erhielten die Armeeangehörigen Verfah-ren vor Militärgerichten, die später von den Fa-milien der Opfer boykottiert wurden.ý Im Juli 2012 berief sich das Hohe Gericht vonJammu und Kaschmir auf das Pathribal-Ur-teil, als es in einem ähnlichen Fall entschied –der außergerichtlichen Hinrichtung von dreiDorfbewohnern 2010 in Machil.ý Im August 2012 wiesen die Behörden desBundesstaats die Empfehlung der Menschen-rechtskommission von Jammu und Kaschmirzurück, moderne forensische Methoden ein-zusetzen, um die Leichen aus über 2700 nichtgekennzeichneten Gräbern im Norden Kasch-mirs zu identifizieren.ý Im Dezember 2012 legte ein Bericht von zweiin Srinagar ansässigen Menschenrechtsorga-nisationen zu 214 Fällen von Verschwindenlas-sen, Folter, außergerichtlichen Hinrichtungenund anderen Menschenrechtsverletzungen seit1989 nahe, dass die Behörden nicht willenswaren, die schwerwiegenden Anschuldigungengegen 470 Sicherheitsleute und 30 Angehö-rige der vom Staat geförderten Miliz zu untersu-chen.

Die begrenzten Änderungen des Gesetzesüber die öffentliche Sicherheit (Public SafetyAct – PSA) vom April standen nicht in Einklangmit den internationalen Menschenrechtsver-pflichtungen Indiens. Zuvor waren Forderun-gen nach einer Abschaffung des Gesetzes er-hoben worden. Unter dem PSA wurden politi-sche Führungspersönlichkeiten und Separa-tismusaktivisten weiter ohne Anklage oder Ge-richtsverfahren in Haft gehalten.ý Im Dezember 2012 bestätigten die Behörden,dass sich 219 Personen, darunter 120 auslän-dische Staatsangehörige und sieben Personen,deren Haftanordnungen von den Gerichtenbereits aufgehoben worden waren, unter dem

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PSA in Haft befanden. Die Teenager MushtaqSaleem Beigh, Mohammed Mubarak Bhat undDanish Farooq kamen aus der Verwaltungs-haft frei.

Vorschläge für eine Änderung des Jugend-strafrechts des Bundesstaates Jammu undKaschmir, die eine Anhebung der Volljährigkeitvon 16 auf 18 Jahre vorsehen, waren Ende2012 vor der Gesetzgebenden Versammlunganhängig.

Ethnische und religiöse GewaltIm Juli und August 2012 wurden 75 Dorfbewoh-ner bei Zusammenstößen zwischen der Volks-gruppe der Bodo und muslimischen Gemein-schaften in Assam getötet. Insgesamt 400000Menschen wurden vertrieben; sie waren vorü-bergehend in 270 Lagern untergebracht. DieBeteiligung bewaffneter Gruppen ließ die Span-nungen und Gewalttätigkeiten eskalieren. DieBehörden wurden wegen ihrer unangemesse-nen Reaktion kritisiert.

Zehn Jahre nach den Gewalttätigkeiten imBundesstaat Gujarat, bei denen im Jahr 2002insgesamt 2000 Menschen, in der MehrzahlMuslime, zu Tode kamen, hatten die Mehrheitder Opfer und ihre Familien noch keine Gerech-tigkeit erfahren. Mindestens 78 Verdächtigewurden für schuldig befunden, darunter dieehemalige Ministerin Maya Kodnani, und etwa90 Personen freigesprochen. Drei der Fälle wur-den unter Beteiligung des Obersten Gerichts-hofs verhandelt.ý Im Februar 2012 fand ein vom Obersten Ge-richtshof eingesetztes Ermittlungsteam zurUntersuchung von zehn Gujarat-Fällen keineBeweismittel, um den Ministerpräsidenten vonGujarat Narendra Modi und 62 weitere hohePolitiker und Beamte vor Gericht zu stellen.Zakia Jaffri, die den Ministerpräsidenten undandere beschuldigt hatte, das Leben ihresMannes Ehsan Jaffri und 68 weiterer Personennicht geschützt zu haben, reichte ein Rechts-mittel bei Gericht ein, in dem sie die Grundlagefür die vom Team gezogenen Schlüsse inFrage stellte.

Angehörige der Dalit-Gemeinschaften sahensich nach wie vor Diskriminierung und Angrif-

fen ausgesetzt. Sondergesetze zur Strafverfol-gung mutmaßlicher Täter wurden selten ange-wandt.ý Im November 2012 wurden 268 Dalit-Häuserin Natham Colony im Bundesstaat Tamil Naduvon Kasten angehörenden Hindus geplündertund beschädigt. Sie waren wegen des Selbst-mords eines Mannes aufgebracht, dessenTochter einen Dalit geheiratet hatte.

Exzessive GewaltanwendungBei mehreren Gelegenheiten setzte die Polizei2012 unnötige oder exzessive Gewalt ein, umProteste niederzuschlagen. Zu den meistenVorfällen dieser Art führten die Behördenkeine umgehenden, unparteiischen und wirk-samen Untersuchungen durch.ý Im März und April wurden mindestens zehnFrauen und Männer verletzt, als die Polizei ex-zessive Gewalt einsetzte, um Slumbewohneraus dem Gebiet Nonadonga in Kalkutta zu ver-treiben. Das Land sollte für städtische Infra-strukturprojekte genutzt werden.ý Im September tötete die Polizei einen Protest-teilnehmer, als sie eine Demonstration gegendas geplante Kernkraftwerk Kudankulam in Ta-mil Nadu auflöste. Über 60 weitere Protestteil-nehmer wurden verletzt.ý Im November kam bei Protesten über dieHöhe der Entschädigung für Land im DorfLoba in Westbengalen ein Mensch zu Tode;fünf weitere Personen wurden von der Polizeiverletzt. Das Land war für eine private Kohle-mine erworben worden.

Gesetze gegen AufruhrDie Proteste gegen die archaischen Anti-Auf-ruhrgesetze, die angewandt wurden, um fried-liche Demonstrierende zu inhaftieren, nahmenzu.ý Mehr als 50 Personen, die friedlich gegen dasgeplante Kernkraftwerk in Kudankulam pro-testiert hatten, darunter Dr. Udayakumar undM. Pushparayan, wurden wegen Aufruhrs unddes »Schürens von Krieg gegen den Staat« an-geklagt.ý Im August 2012 ließ das Hohe Gericht von Al-lahabad die Aktivistin Seema Azad und den

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162 Indien

Aktivisten Vishwa Vijay gegen Kaution frei.Beide setzen sich für soziale Belange ein. DieFreilassung erfolgte im Zuge des Rechtsmittel-verfahrens gegen ihre Verurteilung aufgrundvon Anklagen wegen Aufruhrs, der ihnen we-gen der Zusammenarbeit mit bewaffnetenMaoisten vorgeworfen wurde.

MenschenrechtsverteidigerPersonen, die die Rechte marginalisierter Ge-meinschaften verteidigten, wurden von staat-lichen und nichtstaatlichen Stellen ins Visier ge-nommen. Darauf wies auch die UN-Sonderbe-richterstatterin über Menschenrechtsverteidi-ger im Februar hin.ý Im Juli 2012 wurde der Umweltschützer Ra-mesh Agrawal, der auf Umweltschäden undMenschenrechtsverletzungen an Adivasi im Zu-sammenhang mit Bergbauprojekten aufmerk-sam gemacht hatte, im Bezirk Raigarh im Bun-desstaat Chhattisgarh angeschossen.ý Im September 2012 wies der Oberste Ge-richtshof den Antrag auf Bewährung des ge-waltlosen politischen Gefangenen und Adivasi-Sprechers Kartam Joga zurück, der seit Sep-tember 2010 inhaftiert war.ý Im September 2012 willigte der Oberste Ge-richtshof ein, den medizinischen Bericht überdie Adivasi-Lehrerin Soni Sori ins Verfahren ein-zubeziehen, nachdem diese wegen Folter, ein-schließlich sexueller Gewalt, durch die Polizeivon Chhattisgarh während ihres Polizeige-wahrsams im Oktober 2011 Anzeige erstattethatte.ý Im Oktober 2012 wurde Dayamani Barla, eineAktivistin für die Rechte der Adivasi, wegeneines Vorfalls aus dem Jahr 2008 zwei Monateinhaftiert. Sie soll zur Zielscheibe der Behör-den von Jharkhand geworden sein, weil sie ge-gen die Zwangsräumung von Bauern in Nagriprotestiert hatte.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Behörden setzten 2012 weit gefasste undvage formulierte Gesetze ein, um mindestenssieben Männer und Frauen festzunehmen, diein Internetkommentaren die Regierung kriti-siert hatten.

ý Im April nahm die Polizei in Kalkutta denAkademiker Ambikesh Mahapatra fest, weil ereinen Cartoon im Netz veröffentlicht hatte, indem die westbengalische MinisterpräsidentinMamata Banerjee kritisiert wurde.ý Im September nahm die Polizei in MumbaiAseem Trivedi fest, weil er eine Reihe von Car-toons veröffentlicht hatte, die im Rahmen vonProtesten gegen die Korruption die nationalenSymbole Indiens parodierten.ý Im Oktober nahm die Polizei in PuducherryRavi Srinivasan fest, weil er auf Twitter überKorruptionsvorwürfe geschrieben hatte, in dieder Sohn des Finanzministers mutmaßlichverstrickt war.ý Im November nahm die Polizei in Mumbaidie beiden Frauen Shaheen Dhada und RenuSrinivasan fest, weil sie auf Facebook Kommen-tare veröffentlicht hatten, in denen sie eine öf-fentliche Protestveranstaltung in Frage stellten,zu der die Unterstützer einer kurz zuvor ver-storbenen wichtigen politischen Persönlichkeitaufgerufen hatten.

Amnesty International: Berichteÿ Human rights defenders in India need effective protection:

Amnesty International’s written statement to the 19thsession of the UN Human Rights Council,http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA20/005/2012/en

ÿ India: Vedanta’s perspective uncovered – policies cannotmask practices in Orissa, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA20/029/2012/en

ÿ Amnesty International urges India to promptly ratify the Con-vention against Torture and invite the Special Rapporteuron torture to visit India, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA20/034/2012/en

ÿ India: Still a »lawless law« – detentions under the Jammuand Kashmir Public Safety Act, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA20/035/2012/en

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IndonesienAmtliche Bezeichnung: Republik IndonesienStaats- und Regierungschef:

Susilo Bambang Yudhoyono

Immer wieder wurden Anschuldigungengegen Sicherheitskräfte wegen Men-schenrechtsverletzungen erhoben, da-runter Folter und andere Misshandlun-gen sowie unverhältnismäßiger Einsatzvon Gewalt und Schusswaffen. 2012 be-fanden sich nach wie vor mindestens76 gewaltlose politische Gefangene inHaft. Religiöse Minderheiten litten unterDiskriminierung in Form von Einschüch-terungen und Angriffen. Frauen undMädchen wurden durch diskriminie-rende Rechtsvorschriften und politischeMaßnahmen in ihren Rechten einge-schränkt, dies betraf insbesondere ihresexuellen und reproduktiven Rechte.Auch 2012 wurden keine Fortschrittehinsichtlich der Strafverfolgung der Ver-antwortlichen für vergangene Menschen-rechtsverletzungen erzielt. Es gab keineMeldungen über Hinrichtungen.

HintergrundIm Mai 2012 wurde die MenschenrechtsbilanzIndonesiens im Rahmen der Universellen Re-gelmäßigen Überprüfung durch den UN-Men-schenrechtsrat bewertet. Die indonesische

Regierung hat die Umsetzung einiger der wich-tigsten Empfehlungen hinsichtlich der Über-prüfung bestimmter Gesetze und Dekrete, wel-che die Rechte auf freie Meinungsäußerungund Gedanken-, Gewissens- und Religionsfrei-heit einschränken, abgelehnt. Im Juli hat In-donesien dem UN-Ausschuss für die Beseiti-gung der Diskriminierung der Frau (CEDAW)seinen Bericht vorgelegt. Im November verab-schiedete Indonesien die ASEAN-Menschen-rechtserklärung trotz weitverbreiteter Beden-ken, dass sie internationalen Standards nichtentspricht.

Das gesetzliche Rahmenwerk Indonesiens er-möglichte es auch weiterhin nicht, Vorwürfenwegen Folter und anderen Misshandlungen an-gemessen nachzugehen. In der Provinz Acehwurden Stockschläge weiter als gerichtlich an-geordnete Bestrafung bei Verstößen gegen dieScharia angewandt. An mindestens 45 Perso-nen wurde wegen verschiedener Delikte diePrügelstrafe vollzogen, dazu gehörten Glücks-spiel und das »Vergehen«, mit einer Persondes anderen Geschlechts, die weder Ehepart-ner noch Angehöriger ist, allein gewesen zusein (khalwat).

Polizei und SicherheitskräftePolizeibeamten wurden wiederholt Menschen-rechtsverletzungen vorgeworfen, darunter derunverhältnismäßige Einsatz von Gewalt undSchusswaffen sowie Folter und andere Miss-handlungen. Sowohl interne als auch externeMechanismen zur Rechenschaftslegung beipolizeilicher Willkür erwiesen sich als unzu-reichend. Nur selten wurden Untersuchungenzu Menschenrechtsverletzungen durchge-führt.ý Im März 2012 wurden 17 Männer aus derProvinz Nusa Tenggara Timur wegen des Mor-des an einem Polizeibeamten willkürlich festge-nommen. Polizisten des Subdistrikts West-Sabu sollen die Männer während ihres zwölf-tägigen Gewahrsams ausgezogen, gefesseltund geschlagen haben. Einige Männer erlittenStichverletzungen und Knochenbrüche, an-dere wurden Berichten zufolge von der Polizeigezwungen, ihren eigenen Urin zu trinken.

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Alle 17 Männer wurden Ende Juni aus Mangelan Beweisen ohne Anklage freigelassen.

Angehörigen der indonesischen Sicherheits-kräfte, wie Polizeibeamten und Militärperso-nal, wurde vorgeworfen, in Papua Menschen-rechtsverletzungen begangen zu haben. Esgab Berichte über Folter und andere Misshand-lungen, unverhältnismäßigen Einsatz von Ge-walt und Schusswaffen sowie mögliche rechts-widrige Tötungen. In den meisten Fällen wur-den die Verantwortlichen nicht vor Gericht ge-stellt. Die Opfer erhielten nur selten Entschädi-gungen.ý Im Juni 2012 wurde Mako Tabuni, politischerAktivist und stellvertretender Vorsitzender derUnabhängigkeitsbewegung Komite NasionalPapua Barat, von Polizeibeamten in Waenanahe Kota Jayapura, der Hauptstadt der Pro-vinz Papua, erschossen. Die Polizisten be-haupteten, er habe sich seiner Festnahme wi-dersetzt. Es wurde keine unparteiische undunabhängige Untersuchung des Falls durchge-führt.ý Im Juni 2012 griffen Soldaten ein Dorf im Be-zirk Wamena in der Provinz Papua an. Dieswar ein Vergeltungsschlag dafür, dass Dorfbe-wohner einen ihrer Kameraden erstochen undeinen zweiten verletzt hatten. Die Soldaten sol-len das Feuer ohne Vorwarnung eröffnet undmit Bajonetten auf Dutzende Dorfbewohnereingestochen haben; dabei kam ein Menschums Leben. Berichten zufolge steckten die Sol-daten außerdem zahlreiche Gebäude undFahrzeuge in Brand.ý Im August 2012 lösten Polizeibeamte und An-gehörige des Militärs eine friedliche Demons-tration auf der Insel Yapen in der indonesischenProvinz Papua gewaltsam auf. Die Demons-trierenden hatten sich anlässlich des Internatio-nalen Tags der Indigenen Völker versammelt.Sicherheitskräfte gaben Schüsse in die Luft abund nahmen mindestens sechs Protestie-rende willkürlich fest. Einige von ihnen sollenbei ihrer Festnahme geschlagen worden sein.ý Polizeibeamte aus dem RegierungsbezirkJayawijaya in Papua nahmen im August fünfMänner willkürlich fest. Berichten zufolge ver-suchten die Polizisten, die Männer mit Schlä-

gen und Tritten dazu zu zwingen, einen Mordzu gestehen. Eine Untersuchung des Vorfallswurde nicht eingeleitet.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Regierung kriminalisierte die friedliche poli-tische Meinungsäußerung weiterhin mithilferepressiver Gesetze. Mindestens 70 Personenaus den Regionen Papua und Maluku befan-den sich wegen der gewaltfreien Äußerung ihrerMeinung in Haft.ý Im März 2012 wurden fünf politische Aktivis-ten aus Papua auf der Grundlage von Artikel106 des Strafgesetzbuchs wegen »Rebellion«zu drei Jahren Haft verurteilt. Grund für dieVerurteilung war ihre Beteiligung am drittenVolkskongress von Papua, einer gewaltfreienVersammlung in Abepura im Oktober 2011.ý Im Juli 2012 wurde der gewaltlose politischeGefangene Johan Teterissa, der aus aus Ma-luku stammt und eine 15-jährige Haftstrafe ver-büßt, aus dem Madiun-Gefängnis in die Straf-vollzugsanstalt von Batu auf der indonesischenInsel Nusakambangan verlegt. Dort wurde ergetreten und mit Elektrokabeln geschlagen.Nach dem Vorfall erhielt er keine medizinischeVersorgung.

Menschenrechtsverteidiger und Journalistenwurden aufgrund ihrer Arbeit immer wiedereingeschüchtert und angegriffen. InternationaleBeobachter wie NGO-Mitarbeiter und Journa-listen hatten weiterhin keinen ungehindertenZugang zu der Region Papua.ý Im Mai 2012 wurde Tantowi Anwari, ein Akti-vist der indonesischen Journalistenvereini-gung für Vielfalt, von Angehörigen der islamisti-schen Gruppe Front Pembela Islam in Bekasiin der Provinz Jawa Barat getreten und geschla-gen. Tantowi Anwari erstattete bei der PolizeiAnzeige. Bis Ende des Jahres waren keine Fort-schritte bei der Untersuchung seines Falles er-zielt worden.ý Im September 2012 erhielt die Menschen-rechtsanwältin Olga Hamadi aus Papua Dro-hungen, nachdem sie Anschuldigungen überFolter und Misshandlungen durch die Polizeiim Rahmen von Mordermittlungen in Wamena,Provinz Papua, nachgegangen war. Es wurde

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keine Untersuchung zu den Drohungen durch-geführt, und Olga Hamadi war weiterhin in Ge-fahr.

ReligionsfreiheitDie Regierung hat Gesetze über Anstiftung undBlasphemie angewandt, um die Ausübung derRechte auf Religions-, Meinungs-, Gedanken-und Gewissensfreiheit zu kriminalisieren. Min-destens sechs gewaltlose politische Gefangenebefanden sich aufgrund von Anklagen wegenAnstiftung und Blasphemie weiter in Haft.ý Im Juni 2012 wurde der Atheist AlexanderAan wegen Anstiftung zu zweieinhalb JahrenHaft und einer Geldstrafe von 100 Mio. indone-sischen Rupiah (etwa 80000 Euro) verurteilt.Er hatte Beiträge und Bilder im Internet veröf-fentlicht, die von einigen Personen als eineBeleidigung des Islam und des Propheten Mo-hammed empfunden wurden.ý Im Juli 2012 wurde Tajul Muluk, ein religiöserFührer der Schiiten aus Jawa Timur, festge-nommen und vom Bezirksgericht von Sampangnach Artikel 156(a) des Strafgesetzbuchs we-gen Blasphemie zu zwei Jahren Haft verurteilt.Örtliche Menschenrechtsorganisationen undRechtsexperten äußerten Zweifel daran, dass erein faires Verfahren erhalten hatte. Im Sep-tember wurde sein Strafmaß in einem Rechts-mittelverfahren auf vier Jahre angehoben.

Es gab zahlreiche Fälle von Diskriminierung,Einschüchterung und Gewalt gegen religiöseMinderheiten, u. a. gegen schiitische, christ-liche und Ahmadiyya-Gemeinschaften. In vie-len Fällen leiteten die Behörden weder ange-messene Schutzmaßnahmen für die Betroffe-nen ein noch brachten sie die Verantwortlichenvor Gericht.ý Im August 2012 wurde eine schiitische Ge-meinschaft in Sampang, Provinz Jawa Timur,von einer aufgebrachten Menschenmenge an-gegriffen. Ein Mann kam dabei ums Leben,und zahlreiche Menschen wurden verletzt. Lautder Nationalen Menschenrechtskommission(Komnas HAM) hatte die Polizei keine ange-messenen Maßnahmen eingeleitet, um denAngriff zu verhindern bzw. die Sicherheit derGemeinschaft zu gewährleisten.

ý Mindestens 34 Familien der Ahmadiyya-Gemeinschaft in der Provinz Nusa TenggaraBarat lebten weiterhin in Behelfsunterkünftenin Mataram auf der Insel Lombok. Die Ahma-diyya waren 2006 wegen ihres Glaubens voneiner aufgebrachten Menschenmenge ange-griffen und vertrieben worden. Die Verantwort-lichen sind bisher nicht strafrechtlich verfolgtworden.ý Die Regierung widersetzte sich Urteilen desObersten Gerichtshofs aus den Jahren 2010und 2011, wonach das Gotteshaus der indone-sischen christlichen Kirche Taman Yasminund das der christlich-protestantischen KircheFiladelfia Huria Kristen Batak Protestan in Be-kasi wieder eröffnet werden sollten. Die beidenGotteshäuser waren 2010 von den örtlichenBehörden geschlossen worden. Die Mitgliederbeider Gemeinden waren weiterhin gezwun-gen, ihre Gottesdienste auf dem Gehweg vorden geschlossenen Kirchen abzuhalten, unddaher noch immer der Gefahr ausgesetzt, vonradikalen Gruppen drangsaliert und einge-schüchtert zu werden.

FrauenrechteFrauen und Mädchen wurden weiterhin darangehindert, ihre sexuellen und reproduktivenRechte uneingeschränkt auszuüben. Im Juliempfahl der CEDAW-Ausschuss der indonesi-schen Regierung, das Verständnis für sexuelleund reproduktive Gesundheit und Rechte zufördern und dabei auch unverheiratete Frauenund Hausangestellte zu berücksichtigen.Außerdem solle Frauen unabhängig von derEinwilligung ihres Ehemanns der Zugang zuVerhütungsmitteln ermöglicht werden.

Eine 2010 erlassene Bestimmung, mit der dieweibliche Beschneidung legitimiert wurde,blieb weiter in Kraft. Die Bestimmung verstößtgegen internationale Menschenrechtsbestim-mungen, zu deren Einhaltung sich Indonesienverpflichtet hat. Der CEDAW-Ausschuss for-derte die Regierung auf, die Bestimmung auf-zuheben und die weibliche Genitalverstüm-melung per Gesetz unter Strafe zu stellen.

Im dritten Jahr in Folge unternahm das Parla-ment keine Anstrengungen, ein Gesetz zum

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rechtlichen Schutz von Hausangestellten zu de-battieren und zu verabschieden. Damit blie-ben Hausangestellte, in der Mehrzahl Frauenund Mädchen, weiterhin dem Risiko ausge-setzt, wirtschaftlich ausgebeutet und in derWahrnehmung ihrer Rechte auf faire Arbeits-bedingungen, Gesundheit und Bildung einge-schränkt zu werden. Obwohl Indonesien imMai die Internationale Konvention zum Schutzder Rechte aller Wanderarbeitnehmer undihrer Familienangehörigen aus dem Jahr 1990ratifiziert hat, waren die meist weiblichenHausangestellten aufgrund des fehlenden ge-setzlichen Schutzes weiterhin Menschenhan-del, Zwangsarbeit und anderen Menschen-rechtsverletzungen in Indonesien sowie imAusland ausgesetzt.

StraflosigkeitMenschenrechtsverletzungen, die in der Ver-gangenheit in Aceh, Papua, Timor-Leste undandernorts begangen wurden, blieben weitest-gehend unaufgeklärt und straffrei. Die Betrof-fenen wurden nur in seltenen Fällen entschä-digt. Überlebende gewalttätiger sexuellerÜbergriffe hatten nach wie vor weder Zugang zuangemessener medizinischer und psychologi-scher Versorgung noch zu Dienstleistungen imBereich der psychischen, sexuellen und re-produktiven Gesundheit. Im September gab dieindonesische Regierung vor dem UN-Men-schenrechtsrat die Einführung eines neuen Ge-setzes zur Gründung einer Wahrheits- undVersöhnungskommission bekannt. Über wei-tere diesbezügliche Fortschritte wurde jedochnichts bekannt. Ein interdisziplinäres Team, dasder Präsident 2011 zur Entwicklung einer Stra-tegie zur Aufklärung vergangener Menschen-rechtsverletzungen ins Leben gerufen hatte,hat bislang keinerlei konkrete Ergebnisse vor-gelegt.ý Im Juli 2012 legte die Komnas HAM derStaatsanwaltschaft ihren Bericht über mög-liche Verbrechen gegen die Menschlichkeit anAngehörigen der Kommunistischen Partei In-donesiens und mutmaßlichen Unterstützerndes Kommunismus während des fehlgeschla-genen Putschs im Jahr 1965 vor. Die Kommis-

sion forderte den Staatsanwalt auf, eine offi-zielle Untersuchung einzuleiten, die Verant-wortlichen vor ein Menschenrechtsgericht zustellen und eine Wahrheits- und Versöhnungs-kommission einzurichten. Nach vorliegendenInformationen hatte es bis Ende 2012 keineFortschritte bei der Umsetzung dieser Forde-rungen gegeben.ý Im September 2012 kündigte das Parlamentder Provinz Aceh Verzögerungen bei der Bil-dung einer lokalen Wahrheits- und Versöh-nungskommission an. Somit stand denjeni-gen, die während des dortigen Konflikts Opfervon Menschenrechtsverletzungen wurden,und ihren Familien kein offizieller Mechanis-mus zur Wahrheitsfindung oder zur Aufklä-rung des Verbleibs ihrer getöteten oder »ver-schwundenen« Angehörigen zur Verfügung.ý Der Präsident kam Empfehlungen des Parla-ments aus dem Jahr 2009 nicht nach, wonachdie Verantwortlichen für das Verschwindenlas-sen von 13 politischen Aktivisten in den Jah-ren 1997 und 1998 vor Gericht gestellt, unver-züglich die Suche nach den »Verschwunde-nen« eingeleitet und deren Familienangehöri-gen Rehabilitation und Entschädigung ge-währt werden sollte.ý Die Regierung setzte Empfehlungen der vonIndonesien und Timor-Leste gemeinsam ein-gerichteten bilateralen Kommission für Wahr-heit und Freundschaft nicht um, darunterauch die Empfehlung, eine Kommission für»verschwundene« Personen zu gründen, umden Verbleib aller Kinder aus Timor-Leste, dievon ihren Eltern getrennt wurden, ausfindig zumachen und die betroffenen Familien entspre-chend zu informieren.

TodesstrafeIm vierten Jahr in Folge lagen keine Berichteüber die Vollstreckung von Hinrichtungen vor.In mindestens zwölf Fällen wurde jedoch dieTodesstrafe verhängt, und gegen mindestens130 Menschen waren Todesurteile anhängig.Laut im Oktober veröffentlichten Berichtenhatte der Oberste Gerichtshof im August 2011das Todesurteil gegen einen Drogenhändlerumgewandelt und die Todesstrafe als eine Ver-

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letzung der Menschenrechte und der Verfas-sung bezeichnet. Ebenfalls im Oktober wurdebekannt gegeben, dass der Präsident bereitszwischen 2004 und 2011 insgesamt 19 Todes-urteile in andere Strafen umgewandelt hatte.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Indonesien

in den Monaten April, Mai und Oktober.ÿ Stalled reforms: Impunity, discrimination and security force

violations in Indonesia – Amnesty International Submissionto the UN Universal Periodic Review, May–June 2012,http://amnesty.org/en/library/info/ASA21/003/2012/en

ÿ Excessive force: Impunity for police violence in Indonesia,http://amnesty.org/en/library/info/ASA21/010/2012/en

ÿ Indonesia: Briefing to the UN Committee on the Elimination ofDiscrimination against Women, http://amnesty.org/en/library/info/ASA21/022/2012/en

IrakAmtliche Bezeichnung: Republik IrakStaatsoberhaupt: Jalal TalabaniRegierungschef: Nuri al-Maliki

Tausende von Menschen waren inhaf-tiert. Es ergingen Hunderte von Todes-urteilen nach häufig unfairen Verfahrenund wegen Anklagen im Zusammen-hang mit Terrorismus. Folter und andereMisshandlungen von Gefangenen warenweiterhin an der Tagesordnung, die Ver-antwortlichen gingen straffrei aus. Hun-derte Gefangene saßen in den Todestrak-ten. Mindestens 129 Menschen wurdenhingerichtet, darunter mindestens dreiFrauen. Bewaffnete Gruppen, die gegendie Regierung kämpften, waren weiterhinfür schwere Menschenrechtsverstößeverantwortlich. Sie verübten zahlreicheSelbstmordattentate und Bombenan-schläge, bei denen Hunderte von Zivil-personen ums Leben kamen. Nach wievor gingen Meldungen über Drangsalie-

rungen, Einschüchterungen und Gewaltgegen Journalisten und andere Medien-schaffende ein. Über 67000 Flücht-linge aus Syrien suchten Zuflucht imIrak.

HintergrundDie politische Pattsituation im Parlament behin-derte auch 2012 das Gesetzgebungsverfah-ren. So konnte u. a. ein Amnestiegesetz nichtverabschiedet werden. Die politischen Span-nungen wurden verschärft durch die Fest-nahme zahlreicher Personen aus dem Umfeldvon Vizepräsident Tariq al-Haschimi, der ausBagdad geflohen war, nachdem ihm eine An-klage wegen des Organisierens von Todes-schwadronen drohte. Im Dezember 2011 hattedas irakische Fernsehen »Geständnisse« vonGefangenen ausgestrahlt, die als Leibwächterfür ihn tätig gewesen sein sollen. Sie sagtenaus, sie hätten für den Vizepräsidenten be-zahlte Auftragsmorde verübt. Der Vizepräsidententging einer Festnahme, wurde jedoch zu-sammen mit seinem Schwiegersohn AhmadQahtan wegen Mordes an einer Rechtsanwäl-tin und einem Regierungsbeamten angeklagtund in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Inweiteren Prozessen im November und Dezem-ber 2012 ergingen in Abwesenheit weitere To-desurteile gegen die beiden.

Die Beziehungen zwischen Bagdad und derRegierung der autonomen Region Kurdistanblieben angespannt. Es konnte keine Einigung

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über die Verteilung der Einkünfte aus der Erd-ölförderung erzielt werden. Außerdem gab esweiterhin Differenzen bezüglich des Verlaufsder internen Gebietsgrenzen.

Junge Leute, vor allem solche, die als Non-konformisten gelten, wurden zur Zielscheibeeiner Einschüchterungskampagne. In den Bag-dader Stadtteilen Sadr City, al-Hababiya undHay al-'Amal tauchten im Februar diffamie-rende Flugblätter und Poster auf. Die Kampa-gne richtete sich gegen Jugendliche mit mut-maßlicher homosexueller Orientierung und ge-gen Personen, die einen alternativen Lebensstilvertraten und dies mit auffallenden Frisuren,Kleidung oder ihrem Musikgeschmack zumAusdruck brachten.

Im März 2012 fand zum ersten Mal seit demSturz Saddam Husseins im Jahr 2003 ein Tref-fen der Arabischen Liga in Bagdad statt. Im Vor-feld der Sitzung kam es in Bagdad zu Massen-festnahmen durch die Sicherheitskräfte, an-geblich als »vorsorgliche« Maßnahme. ImApril stimmte das Parlament der Gründungeiner unabhängigen Menschenrechtskommis-sion zu.

Im Dezember begannen zehntausend vor-nehmlich sunnitische Iraker mit täglichenfriedlichen Demonstrationen gegen die Regie-rung. Sie protestierten damit gegen die Miss-handlung von Gefangenen. Ausgelöst wordenwaren die Proteste durch die Inhaftierungmehrerer Leibwächter von FinanzministerRafi’e al-Issawi, einem führenden sunniti-schen Politiker, sowie durch Vorwürfe übersexuelle und andere Misshandlungen vonweiblichen Gefangenen. Ein Parlamentsaus-schuss, der diese Vorwürfe untersuchen sollte,kam zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen.

Verstöße bewaffneter GruppenBewaffnete Gruppen, die die irakische Regie-rung bekämpften, begingen erneut schwereMenschenrechtsverstöße, darunter wahlloseTötungen von Zivilpersonen.ý Am 5. Januar 2012 kamen bei Selbstmordat-tentaten und anderen Anschlägen mindestens55 Zivilpersonen ums Leben, darunter schiiti-sche Pilger, die auf dem Weg nach Kerbala

waren. Zahlreiche weitere Personen trugen Ver-letzungen davon. Hauptziele dieser Übergriffewaren die überwiegend von Schiiten bewohn-ten Viertel in Bagdad wie Sadr City und Khadi-miya sowie ein Polizeikontrollpunkt in der Nähevon al-Nassirya, wo sich Pilger für ihre Reisenach Süden sammelten.ý Mindestens 100 Zivilpersonen und Angehö-rige der Sicherheitskräfte kamen am 23. Juli2012 in einer Welle von Bombenanschlägenund Schusswechseln in Bagdad und anderenStädten wie Kirkuk und Taji ums Leben.ý Mindestens 81 Menschen, darunter viele Zi-vilpersonen, wurden am 9. September 2012 ineiner koordinierten Bombenanschlagsserie inBagdad, Baquba, Samarra, Basra und ande-ren Städten getötet.

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen von Gefan-genen waren insbesondere in den vom Innen-und Verteidigungsministerium kontrolliertenGefängnissen und Haftzentren an der Tages-ordnung. Die Verantwortlichen gingen straffreiaus. Zu den üblichen Foltermethoden zähltendas Aufhängen an Armen oder Beinen überlange Zeiträume hinweg, Schläge mit Kabelnund Schläuchen, Elektroschocks und das Bre-chen von Armen oder Beinen. Häftlinge be-richteten auch davon, mit Plastiktüten fast er-stickt sowie sexuell missbraucht oder mit Ver-gewaltigung bedroht worden zu sein. Mit denFolterungen wollte man die Gefangenen zu»Geständnissen« zwingen, die vor Gericht alsBeweismittel gegen sie verwendet werdenkonnten.ý Nabhan 'Adel Hamid, Mu'ad Muhammad'Abed, 'Amer Ahmad Kassar und Shakir Mah-moud 'Anad wurden Ende März bzw. AnfangApril in Ramadi und Fallujah festgenommen.Sie sollen während ihrer Haft im Amt für Verbre-chensbekämpfung in Ramadi mehrere Wo-chen lang ohne Kontakt zur Außenwelt festge-halten und gefoltert worden sein. Ihre »Ge-ständnisse« wurden anschließend im Lokal-fernsehen ausgestrahlt. Während ihres Pro-zesses vor dem Strafgericht von Anbar gabensie an, man habe sie unter Folter gezwungen,

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ein »Geständnis« über Beihilfe zum Mord abzu-legen. Zeugenaussagen von Mitgefangenenbestätigten ihre Foltervorwürfe. Eine medizini-sche Untersuchung eines der Gefangenen er-gab Verbrennungen und weitere Verletzungen,die auf Folter schließen ließen. Trotzdem ergin-gen gegen die vier Männer am 3. Dezember2012 Todesurteile. Eine unabhängige Untersu-chung ihrer Foltervorwürfe wurde offenbar nichteingeleitet.

Tod in GewahrsamMehrere Gefangene kamen während der Haftums Leben. Die Umstände legen nahe, dassFolterungen der Grund für die Todesfälle warenoder dazu beigetragen haben.ý Der ehemalige Leibwächter von Vizepräsi-dent al-Haschimi, 'Amer Sarbut Zaidan al-Bat-tawi, starb im März 2012 in Gewahrsam. SeineFamilie gab an, sein Leichnam habe Folterver-letzungen aufgewiesen. Die Behörden bestrit-ten, dass sein Tod als Folge von Folter eintrat,und kündigten weitere Untersuchungen an.ý Der Apotheker Samir Naji 'Awda al-Bilawiund sein 13-jähriger Sohn Mundhir wurden imSeptember 2012 an einem Kontrollpunkt in Ra-madi festgenommen. Drei Tage später erfuhrdie Familie der beiden, dass Samir Naji 'Awdaal-Bilawi in Gewahrsam gestorben war. In denirakischen Medien veröffentlichte Bilder des To-ten zeigten Verletzungen am Kopf und an bei-den Händen. Nach seiner Freilassung berich-tete Mundhir, er und sein Vater seien auf derPolizeiwache tätlich angegriffen und zum Amtfür Verbrechensbekämpfung in Ramadi ge-bracht worden. Dort seien sie gefoltert und mitElektroschocks gequält worden. Er berichtete,man habe ihm befohlen, dem Untersuchungs-richter zu sagen, sein Vater habe Verbindun-gen zu einer terroristischen Vereinigung unter-halten. Die Rechtsbeistände der Familie durf-ten den offiziellen Obduktionsbericht lesen, je-doch keine Kopien anfertigen. Berichten zu-folge stand darin, dass Samir Naji 'Awda al-Bi-lawi an den Folgen von Folter und der Verab-reichung von Elektroschocks gestorben sei. DieVerantwortlichen waren bis Ende 2012 nochnicht zur Rechenschaft gezogen worden.

Antiterror- und SicherheitsmaßnahmenDie Behörden verhafteten und inhaftiertenHunderte Personen, denen Taten im Zusam-menhang mit Terrorismus vorgeworfen wurden.Sie sollen an Bombenanschlägen und ande-ren Übergriffen gegen Sicherheitskräfte und Zi-vilpersonen beteiligt gewesen sein. Viele derInhaftierten gaben an, während ihrer Untersu-chungshaft gefoltert oder anderweitig miss-handelt und in unfairen Gerichtsverhandlungenfür schuldig befunden und verurteilt wordenzu sein. In einigen Fällen bekamen irakischeFernsehsender die Genehmigung, Berichteüber die Angeklagten auszustrahlen, in denensie sich noch vor Beginn ihres Prozessesselbst beschuldigten. Damit wurde ihr Rechtauf ein faires Gerichtsverfahren verletzt. Ge-gen einige der Gefangenen ergingen anschlie-ßend Todesurteile. Häftlinge wurden vom In-nenministerium bei Pressekonferenzen vorge-führt und mussten »Geständnisse« ablegen.Das Ministerium lud diese »Geständnisse« re-gelmäßig auf seinen YouTube-Kanal hoch.ý Ende Mai 2012 präsentierte das Innenminis-terium bei einer Pressekonferenz mindestens16 Häftlinge, denen die Zugehörigkeit zu einerbewaffneten Gruppierung mit Verbindungenzu Al-Qaida vorgeworfen wurde. Anschließendgab das Ministerium an einige FernsehsenderAufnahmen weiter, in denen sich mehrere derGefangenen selbst belasteten. Auf der Presse-konferenz protestierte einer der Gefangenen,Laith Mustafa al-Dulaimi, ein Angehöriger desProvinzrats von Bagdad, gegen diese Praxisund rief laut aus, dass er und andere Häftlingemisshandelt worden seien.ý Der 70-jährige Ramzi Shihab Ahmad, dersowohl die irakische als auch die britischeStaatsangehörigkeit besitzt, wurde am20. Juni 2012 vom Strafgerichtshof in Resafazu 15 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Er sollbei der Gründung terroristischer Vereinigun-gen geholfen und religiöse Dekrete (Fatwas)erlassen haben. Das Gericht ließ sein währendder Untersuchungshaft abgelegtes »Geständ-nis« als Beweismittel zu, obwohl vieles dafürsprach, dass es unter Folter erpresst wordenwar.

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Flüchtlinge und AsylsuchendeIm Februar 2012 wurde damit begonnen, rund3200 Exiliraner aus dem Camp New Iraq (ehe-mals Camp Ashraf) in das nordöstlich von Bag-dad gelegene Hurriya-Transitzentrum (CampLiberty) zu verlegen. Zum Ende des Jahres wardie Umsiedlung so gut wie abgeschlossen. DieIraner waren schon seit langem im Irak ansäs-sig. Die meisten von ihnen waren Angehörigeoder Unterstützer der iranischen Volksmu-dschaheddin. Sie beschwerten sich, dass dieirakischen Sicherheitskräfte einige von ihnenwährend ihrer Verlegung tätlich angegriffenhätten und äußerten Kritik an den Lebensbedin-gungen im Camp Liberty. Im Juli forderte derUN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR)die internationale Gemeinschaft öffentlich auf,den Bewohnern von Camp Liberty Siedlungs-raum bereitzustellen oder andere Formen derhumanitären Aufnahme anzubieten.

Der sich verschärfende Konflikt im Nachbar-land Syrien hatte schwerwiegende Auswirkun-gen auf den Irak. Mehr als 67000 syrischeFlüchtlinge überquerten die Grenze, die meis-ten nach dem 18. Juli und mehrheitlich in dieRegion Kurdistan. Tausende irakische Flücht-linge kehrten aus Syrien zurück. Im Oktoberverstießen die irakischen Behörden gegen dasVölkerrecht, indem sie den Grenzübergang al-Qaem für Flüchtlinge aus Syrien schlossenund nur in Notfällen öffneten. Nach einer vor-herigen Grenzschließung im August wareneingeschränkte Grenzübertritte erlaubt worden.

TodesstrafeWie in den Vorjahren wurden auch 2012 zahl-reiche, wahrscheinlich Hunderte Menschenzum Tode verurteilt. Die Zahl der Gefangenen inden Todestrakten erhöhte sich daher beträcht-lich. Die meisten Todesurteile ergingen im Zu-sammenhang mit Terrorismus. Von den 33 To-deskandidaten, die im ersten Halbjahr 2012 imTasfirat-Gefängnis in Ramadi einsaßen, waren27 wegen Straftaten im Zusammenhang mitTerrorismus für schuldig befunden worden.Die Prozesse genügten durchweg nicht den in-ternationalen Standards für faire Gerichtsver-fahren. Viele der Angeklagten gaben an, sie

seien während der Verhöre in der Untersu-chungshaft gefoltert und zum Ablegen von »Ge-ständnissen« gezwungen worden.ý Gegen Muhammad Hussain und SohailAkram, zwei Mitarbeiter des Vizepräsidentenal-Haschimi, ergingen im Oktober Todesurteile,nachdem das Zentrale Irakische Strafgerichtsie wegen der Tötung von Sicherheitsbeamtenschuldig gesprochen hatte.

Mindestens 129 Gefangene wurden hinge-richtet, mehr als in jedem Jahr seit 2005, demJahr der Wiederaufnahme von Hinrichtungen.Manchmal führten die Behörden Mehrfach-exekutionen durch. Im Januar wurden aneinem einzigen Tag 34 Todesurteile vollstreckt.An einem Tag im August fanden die Hinrichtun-gen von 21 Personen statt, darunter dreiFrauen. Im September sollen sich mindestens18 Frauen in den Todeszellen eines Gefängnis-ses im Bezirk al-Kadhemiya in Bagdad befun-den haben.ý Das Todesurteil gegen den früheren Sekretärund Leibwächter Saddam Husseins, 'Abid Ha-mid Mahmoud, wurde im Juni vollstreckt. Erwar im Oktober 2010 vom Obersten IrakischenStrafgericht zum Tode verurteilt worden.

Region KurdistanDas Verhältnis zwischen der kurdischen Regio-nalregierung und der Zentralregierung in Bag-dad blieb unverändert angespannt. Im Juni er-ließ das kurdische Parlament ein Gesetz übereine Generalamnestie, das in der Region Kur-distan Anwendung fand. Das Amnestiegesetzgalt nicht für Gefangene, die wegen sogenann-ten Ehrenmorden, Vergewaltigungen, Terroris-mus oder Drogendelikten schuldig befundenworden waren.

Die kurdischen Behörden gingen weiterhingegen einige Personen vor, die Kritik an derKorruption im Staatsapparat übten oder abwei-chende politische Meinungen äußerten. Auchwurden nach wie vor Fälle von Folter und ande-ren Misshandlungen gemeldet.ý Der Geschäftsmann Hussein Hama Ali Tawfiqwurde am 27. März 2012 festgenommen. Manbrachte ihn zu einer Einrichtung des Sicher-heitsdienstes Asayish in Suleimaniya, wo man

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ihm die Augen verbunden haben soll. Berich-ten zufolge wurde er mit Fäusten traktiert undmit einem Gegenstand geschlagen, währendseine Hände überkreuzt auf dem Rücken ge-fesselt waren. Er sollte gegen andere in einemKorruptionsfall aussagen, weigerte sich je-doch. Später klagte man ihn wegen Beste-chung an. Er blieb bis zu seinem Freispruchim November in Haft. Zu den Foltervorwürfensind nach derzeitigem Kenntnisstand keineUntersuchungen eingeleitet worden.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten den Irak

im September.ÿ Frauen ohne Anklage in Haft, http://www.amnesty.de/

urgent-action/ua-027-2012/frauen-ohne-anklage-haftÿ Haft ohne Kontakt zur Außenwelt, http://www.amnesty.de/

urgent-action/ua-124-2012/haft-ohne-kontakt-zur-aussenwelt

ÿ Iraq: Amnesty International condemns killings of civiliansand calls for investigation, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE14/009/2012

ÿ Iraq must halt executions, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE14/011/2012

IranAmtliche Bezeichnung: Islamische Republik IranStaatsoberhaupt: Ayatollah Sayed Ali KhameneiRegierungschef: Mahmud Ahmadinedschad

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- und Versammlungsfrei-heit waren 2012 weiterhin stark einge-schränkt. Regierungskritiker und Men-schenrechtsverteidiger, Frauenrechtle-rinnen und Personen, die sich für dieRechte von Minderheiten einsetzten,wurden willkürlich festgenommen, ohneKontakt zur Außenwelt in Gewahrsam ge-halten, nach unfairen Gerichtsverfahrenzu Gefängnisstrafen verurteilt und darangehindert, ins Ausland zu reisen. In den

Gefängnissen wurden zahlreiche gewalt-lose politische Gefangene und politischeGefangene festgehalten. Folter und an-dere Misshandlungen an Gefangenenwaren an der Tagesordnung und bliebenfür die Täter straffrei. Frauen, Angehö-rige religiöser und ethnischer Minderhei-ten sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle,Transgender und Intersexuelle (LGBTI)wurden weiterhin durch die Gesetzge-bung und im Alltag diskriminiert. Es wur-den gerichtlich angeordnete grausamePrügel- und Amputationsstrafen voll-streckt. Offizielle Quellen gaben dieZahl der Hinrichtungen mit 314 an, ins-gesamt wurden 544 registriert. Die tat-sächliche Zahl der 2012 vollstrecktenTodesurteile könnte jedoch noch weithöher liegen.

HintergrundDie internationalen Spannungen aufgrund desiranischen Atomprogramms hielten auch imBerichtsjahr an. Die Vereinten Nationen, dieEuropäische Union und andere Regierungensowie die Vereinigten Staaten von Amerika hiel-ten bestehende Sanktionen aufrecht und ver-hängten oft noch zusätzliche Strafmaßnahmen,darunter Reiseverbote für Personen, die mut-maßlich für Menschenrechtsverletzungen ver-antwortlich sind. Es kam zu Engpässen in derVersorgung mit Lebensmitteln, und die wirt-schaftliche Not im Land nahm zu.

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Im März wurden Tausende potenzielle Kandi-daten von der Parlamentswahl ausgeschlos-sen. Ebenfalls im März verlängerten die UN dasMandat des Sonderberichterstatters über dieMenschenrechtssituation im Iran um ein weite-res Jahr. Sowohl der Sonderberichterstatter alsauch der UN-Generalsekretär veröffentlichtenBerichte über weit verbreitete Menschen-rechtsverstöße wie fehlende Rechtsstaatlichkeitund Straflosigkeit.

Im Februar verabschiedete das ParlamentÄnderungen des Strafgesetzbuchs, nach de-nen grausame, unmenschliche und erniedri-gende Strafen weiterhin angewendet werdendürfen. Außerdem wurden Strafen legitimiert,die nicht gesetzlich festgeschrieben sind. Ver-gewaltigung bleibt unter bestimmten Umstän-den straflos. Weder die Todesstrafe für jugend-liche Straftäter noch die Hinrichtung durchSteinigung wurden abgeschafft. Die Änderun-gen des Strafgesetzbuchs waren Ende 2012noch nicht in Kraft.

Im Dezember 2012 verabschiedete die UN-Generalversammlung eine Resolution, mit derdie iranische Regierung aufgefordert wurde, dieMenschenrechtssituation im Land zu verbes-sern.

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Regierung hielt 2012 an den drastischenEinschränkungen der Rechte auf freie Mei-nungsäußerung, Vereinigungs- und Versamm-lungsfreiheit fest. Die Behörden leiteten Maß-nahmen ein, um ein kontrolliertes nationales»Internet« zu schaffen, hörten Telefone ab,blockierten Internetseiten und störten ausländi-sche Fernseh- und Radioprogramme und gin-gen mit äußerster Härte gegen alle Andersden-kenden vor. Medienschaffende und Bloggerwurden schikaniert und inhaftiert. StudentischeAktivisten und Angehörige von Minderheitenkamen in Haft oder wurden schikaniert. Einigevon ihnen wurden der Hochschule verwiesen.Dutzende von gewaltlosen politischen Gefange-nen, die in den Vorjahren festgenommen wor-den waren, blieben in Haft. Gegen weitere Per-

sonen ergingen im Berichtsjahr Freiheitsstra-fen.ý Shiva Nazar Ahari, eine Journalistin, Men-schenrechtsverteidigerin und Angehörige desKomitees der Menschenrechtsreporter (Com-mittee of Human Rights Reporters) trat imSeptember eine vierjährige Haftstrafe an. ImOktober begann sie zusammen mit acht weib-lichen Mitgefangenen einen Hungerstreik, umgegen ihre Misshandlungen durch das Wach-personal im Teheraner Evin-Gefängnis zu pro-testieren.ý Abbas Khosravi Farsani, ein Student der Uni-versität von Isfahan, wurde am 21. Juni festge-nommen. In einem Buch und in seinem Bloghatte er Kritik an den Behörden geäußert. Erwurde zu einem »Geständnis« gezwungen, wo-nach er »gegen die nationale Sicherheit« ge-handelt, »Lügen veröffentlicht sowie öffentlicheUnruhe gestiftet« habe. Die weiteren Anklagenlauteten auf »Beleidigung des Obersten Religi-onsführers« und »Mitgliedschaft in einer Op-positionsgruppe mit Verbindungen zu Israel«.Nach 20 Tagen kam er wieder auf freien Fuß,durfte jedoch sein Hochschulstudium nichtfortsetzen. Ende 2012 wartete er noch auf seinGerichtsverfahren.

Zahlreiche unabhängige Gewerkschafter blie-ben im Berichtsjahr wegen ihres friedlichenEngagements für Arbeitsrechte in Haft.ý Reza Shahabi, der Schatzmeister der unab-hängigen Teheraner Busfahrer-Gewerkschaft(Sherkat-e Vahed), befand sich seit 2010 im Ge-fängnis. Im Februar 2012 erfuhr er, dass er we-gen »Zusammenkunft und Konspiration gegendie Staatssicherheit« sowie wegen »Verbrei-tung von Propaganda gegen das System« zusechs Jahren Gefängnis verurteilt worden war.Berichten zufolge war sein Gesundheitszustandals Folge von Folterungen stark angegriffen.Eine angemessene medizinische Behandlungwurde ihm verweigert.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenSicherheitsbeamte nahmen weiterhin willkür-lich Regierungskritiker und Oppositionellefest. Die Festgenommenen blieben oft über

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lange Zeiträume ohne Kontakt zur Außenweltinhaftiert. Man verweigerte ihnen die notwen-dige medizinische Behandlung. Viele wurdengefoltert oder anderweitig misshandelt. Gegenrund zehn Personen ergingen Freiheitsstrafennach unfairen Gerichtsverfahren.

Zahlreiche friedliche Regierungskritiker, die inden Jahren 2009–11 im Zusammenhang mitden Massenprotesten inhaftiert worden waren,befanden sich im Berichtsjahr noch immer imGefängnis oder standen unter Hausarrest. Vielevon ihnen sind gewaltlose politische Gefan-gene.ý Die Oppositionsführer Mehdi Karroubi undMir Hossein Mussawi sowie dessen FrauZahra Rahnavard befanden sich 2012 noch im-mer unter Hausarrest, der im Februar 2011ohne richterliche Anordnung verhängt wordenwar.ý Mansoureh Behkish, die der unabhängigenMenschenrechtsorganisation Mütter des La-leh-Parks (Mothers of Laleh Park) angehört,wurde im Juli 2012 von einem Berufungsge-richt zu sechs Monaten Haft verurteilt. Manhatte sie für schuldig befunden, die nationaleSicherheit gefährdet zu haben, indem sieeine »Gruppe trauernder Mütter gegründet«und »Propaganda gegen das System verbrei-tet« habe. Darüber hinaus erhielt sie eine42-monatige Freiheitsstrafe auf Bewährung.Ende des Jahres befand sie sich noch auffreiem Fuß.ý Der Blogger Hossein Ronaghi Maleki wurdeim August zusammen mit zahlreichen ande-ren Helfern und Menschenrechtlern in einemLager für Erdbebenopfer in der Provinz Aser-baidschan verhaftet. Sieben Wochen zuvor warder ehemalige gewaltlose politische Gefan-gene aus gesundheitlichen Gründen und nachZahlung einer beträchtlichen Kaution aus demGefängnis entlassen worden, wo er seit 2010eine 15-jährige Freiheitsstrafe verbüßt hatte. Ergab an, nach seiner erneuten Festnahme ineinem Haftzentrum des Ministeriums für Ge-heimdienste und Sicherheit in Täbris gefoltertworden zu sein. Im November 2012 wurde erfreigelassen.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger, Rechtsanwälte,Gewerkschafter, Personen, die sich für dieRechte von Minderheiten eingesetzt hatten, so-wie Frauenrechtlerinnen wurden nach wie vorschikaniert, willkürlich festgenommen und in-haftiert oder erhielten nach unfairen Gerichts-verfahren Freiheitsstrafen. Viele von ihnen,auch die in den vergangenen Jahren in unfai-ren Prozessen verurteilten Personen, sind ge-waltlose politische Gefangene. Die Behördenschikanierten beharrlich die Familien von Akti-visten.ý Mohammad Sadiq Kabudvand, Journalistund Gründer der MenschenrechtsorganisationKurdistan (Human Rights Organisation of Kur-distan), muss weiterhin wegen seiner Tätigkeitals Journalist und Menschenrechtsverteidigereine Haftstrafe von zehneinhalb Jahren verbü-ßen. Im Mai und Juli 2012 trat er jeweils in einenHungerstreik, um gegen das Verbot der Be-hörden zu protestieren, seinen schwerkrankenSohn zu besuchen. Seine eigene Gesundheitwar ebenfalls stark angegriffen. Die notwendigemedizinische Behandlung wurde ihm verwei-gert.ý Die Rechtsanwältin Nasrin Sotoudeh, die frü-her die Friedensnobelpreisträgerin ShirinEbadi vertreten hatte, blieb auch weiterhin in-haftiert. 2011 war sie wegen »Verbreitung vonPropaganda gegen das System« und »Mitglied-schaft in einer verbotenen Gruppe mit demZiel, der nationalen Sicherheit zu schaden« zusechs Jahren Freiheitsentzug verurteilt wor-den. Sie gilt seit 2010 als gewaltlose politischeGefangene. Im Dezember beendete sie einen49-tägigen Hungerstreik, nachdem die Behör-den eingewilligt hatten, Restriktionsmaßnah-men gegen ihre 13-jährige Tochter aufzuheben.ý Die Rechtsanwälte Mohammad Ali Dadkhah,Abdolfattah Soltani und Mohammad Seyfza-deh, die gemeinsam das Ende 2008 von denBehörden geschlossene Zentrum für Men-schenrechtsverteidiger (Centre for HumanRights Defenders – CHRD) gegründet hatten,befanden sich Ende 2012 noch immer als ge-waltlose politische Gefangene in Haft. Die Ge-schäftsführerin des CHRD, Narges Moham-

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madi, durfte das Gefängnis im Juli für einemedizinische Behandlung vorübergehend ver-lassen. Im November wurde die Ehefrau vonAbdolfattah Soltani zu einer einjährigen Bewäh-rungsstrafe verurteilt. Zudem darf sie fünfJahre lang den Iran nicht verlassen. Die Strafenstanden mit einem Menschenrechtspreis inZusammenhang, den ihr Ehemann erhaltenhatte.

Unfaire GerichtsverfahrenAngeklagte, die aus politischen und anderenGründen vor Gericht standen, erhieltenäußerst unfaire Verfahren vor Revolutions- undStrafgerichten. Die Anklagepunkte waren da-bei häufig so vage formuliert, dass sich darinkeine strafbaren Handlungen erkennen lie-ßen. Die Angeklagten hatten häufig keinenRechtsbeistand und wurden aufgrund von»Geständnissen« oder anderen Informationenverurteilt, die offenbar während der Untersu-chungshaft unter Folter erpresst worden waren.Die Gerichte ließen diese »Geständnisse« alsBeweismittel zu, ohne zu untersuchen, wie siezustande gekommen waren.ý Mohammad Ali Amouri und vier weitere An-gehörige der Minderheit der arabischen Ge-meinschaft der Ahwazi wurden im Juli 2012zum Tode verurteilt. Die vage Anklage lauteteu. a. auf »Feindschaft zu Gott und Verdorben-heit auf Erden« (moharebeh). Die Männer hat-ten sich bereits seit fast einem Jahr in Gewahr-sam befunden, weil sie sich für die arabischeGemeinschaft der Ahwazi eingesetzt hatten.Mindestens vier der Gefangenen sollen demVernehmen nach gefoltert worden sein und be-kamen keinen Zugang zu einem Rechtsbei-stand. Die Berufungsverfahren hatten Ende2012 noch nicht stattgefunden.

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen durch dieSicherheitskräfte während der Haft warennach wie vor weit verbreitet; die Verantwort-lichen blieben straffrei. Zu den am häufigstenbeschriebenen Foltermethoden gehörtenSchläge, Scheinhinrichtungen, Drohungen,das Einsperren in winzige Verschläge und die

Verweigerung notwendiger medizinischer Be-handlung.ý Der wegen Drogenvergehen zum Tode verur-teilte Werkstattarbeiter Saeed Sedeghi wurdeim Evin-Gefängnis gefoltert, nachdem seineHinrichtung aufgrund von internationalen Pro-testen verschoben worden war. Am 22. Oktober2012 wurde er dann durch den Strang hinge-richtet.

Mindestens acht Menschen starben im Ge-wahrsam, womöglich an den Folgen der Folter.In keinem der Fälle wurde eine unabhängigeUntersuchung angeordnet.ý Der Blogger Sattar Beheshti starb im Novem-ber 2012 während seiner Haft bei der Internet-polizei, nachdem er eine Beschwerde wegenFolter eingelegt hatte. Widersprüchliche Aus-sagen von Beamten ließen erhebliche Zweifelan der Unparteilichkeit der gerichtlichen Un-tersuchung aufkommen. Seine Familie wurdevon Sicherheitskräften genötigt, Stillschweigenzu bewahren.

Diskriminierung von FrauenFrauen waren nach wie vor sowohl durch dieGesetzgebung als auch im täglichen LebenDiskriminierungen ausgesetzt – im Hinblick aufEheschließung und Scheidung, erbrechtlicheFragen, Sorgerechte für Kinder, Staatsbürger-schaft und Auslandsreisen. Frauen, die gegenstaatlich verordnete Bekleidungsvorschriftenverstießen, drohte der Verweis von der Univer-sität. Einige weiterführende Schulen und Hoch-schulen begannen damit, die Studierendennach Geschlechtern zu trennen. Der Zugangzum Studium einiger Fächer wurde für Fraueneingeschränkt oder ihnen gänzlich untersagt.

Der Entwurf für das sogenannte Gesetz zumSchutz der Familie, das die Diskriminierungvon Frauen noch verschärfen würde, wurde imParlament weiterhin diskutiert. Ein Entwurfdes Strafgesetzes lässt die vorhandene Diskri-minierung der Frauen außer Acht und hält bei-spielsweise daran fest, dass die Aussage einerFrau vor Gericht nur halb so viel Gewicht hatwie die eines Mannes.ý Bahareh Hedayat, Mahsa Amrabadi und sie-ben weitere Frauen, die im Evin-Gefängnis in-

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haftiert waren, traten im Oktober 2012 in einenHungerstreik, um gegen demütigende Leibes-visitationen und die Konfiszierung von persön-lichen Gegenständen durch die Gefängniswär-terinnen zu protestieren. Daraufhin unterzeich-neten 33 weibliche politische Gefangene einenoffenen Brief, in dem sie die Durchsuchung vonKörperöffnungen als eine Form des sexuellenMissbrauchs bezeichneten und eine Entschul-digung der Gefängnisbeamten forderten.Außerdem müsse sichergestellt werden, dassdie Gefangenen in Zukunft nicht mehr derartigmisshandelt würden.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenLesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender undIntersexuelle waren 2012 weiterhin vor demGesetz und im täglichen Leben Diskriminierun-gen ausgesetzt.

Diskriminierung von ethnischenMinderheitenEthnische Minderheiten im Iran litten weiterhinunter systematischer Diskriminierung sowohldurch die Gesetzgebung als auch im Alltag.Dies betraf u. a. Angehörige der arabischenGemeinschaft der Ahwazi, Aserbaidschaner,Belutschen, Kurden und Turkmenen. Der Zu-gang zum Arbeitsmarkt und zum Bildungswe-sen sowie die Ausübung ihrer wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen Rechte waren im Ver-gleich zu anderen iranischen Staatsbürgernstark eingeschränkt. Der Gebrauch ihrer jewei-ligen Muttersprache in Regierungseinrichtun-gen und als Unterrichtssprache in Schulenblieb untersagt. Menschen, die sich für dieRechte von Minderheiten einsetzten, wurdenöffentlich bedroht, festgenommen und inhaf-tiert.ý Jabbar Yabbari und mindestens 24 weitereAngehörige der arabischen Gemeinschaft derAhwazi wurden im April 2012 festgenommen.Sie hatten an Demonstrationen teilgenommen,die an eine Protestaktion gegen Diskriminierungim Jahr 2005 erinnern sollten.

Die Behörden boten afghanischen Flüchtlin-

gen keinen ausreichenden Schutz gegenÜbergriffe und zwangen einige von ihnen, denIran zu verlassen. In Isfahan verweigerten dieBehörden afghanischen Staatsangehörigen denZugang zu einem Stadtpark.

Aserbaidschanische Aktivisten kritisierten dieiranischen Behörden wegen der nur schlep-pend vorangehenden und unzureichendenHilfsmaßnahmen nach dem Erdbeben vom11. August 2012 in Qaradagh in der iranischenProvinz Ost-Aserbaidschan. Außerdem be-zichtigten die Aktivisten die Behörden, dieSachschäden und die Zahl der Todesopfer he-runtergespielt und mehrere Hilfskräfte inhaftiertzu haben. Im September erhielten 16 Angehö-rige von Minderheiten eine Freiheitsstrafe vonsechs Monaten auf Bewährung, weil sie an-geblich während ihrer humanitären Arbeit Ver-gehen gegen die Sicherheit begangen hätten.

ReligionsfreiheitDie Behörden diskriminierten nicht-schiitischeGemeinschaften, darunter andere muslimi-sche Gemeinden, oppositionelle schiitischeGeistliche sowie Sufis und Anhänger der Ge-meinschaft der Ahl-e Haqq und anderer religiö-ser Minderheiten, darunter Personen, die vomIslam zum Christentum konvertiert waren. Be-troffen von Diskriminierungen waren auch phi-losophische Vereinigungen. Die Verfolgung derBaha’i-Glaubensgemeinschaft nahm zu: An-gehörige der Baha’i wurden von Behördenver-tretern und in den staatlich kontrollierten Me-dien öffentlich dämonisiert.ý Der oppositionelle muslimische GeistlicheSayed Hossein Kazemeyni Boroujerdi ver-büßte weiterhin eine im Jahr 2007 gegen ihnverhängte elfjährige Haftstrafe. Die Behördenbestellten zehn seiner Anhänger im April, Maiund Dezember zu Verhören ein. Offenbar er-gingen jedoch keine Anklagen gegen sie.ý Im August 2012 verhafteten die Behörden inder Provinz Khuzestan mindestens 19 sunniti-sche Muslime sowie 13 Personen in West-Aser-baidschan, offenbar aufgrund ihres Glaubens.Weitere acht Menschen wurden im Oktober inKurdistan in Gewahrsam genommen. Es istnicht bekannt, ob Anklage gegen diese Perso-

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nen ergangen ist oder ob weitere Verhöre statt-gefunden haben.ý Pastor Yousef Naderkhani war 2009 verhaftetund zum Tode verurteilt worden, nachdem ihnein Gericht 2010 der »Apostasie« (Abfall vomGlauben) für schuldig befunden hatte. DerOberste Gerichtshof bestätigte das Urteil, wel-ches jedoch aufgehoben wurde, als der Fall anden Obersten Religionsführer verwiesen wurde.Der Pastor kam im September nach Verbü-ßung einer dreijährigen Haftstrafe wegen Mis-sionierung von Muslimen frei.ý Mindestens 177 Anhänger der Baha’i, denendas Recht, ihren Glauben zu praktizieren, un-tersagt wird, befanden sich 2012 wegen ihrerreligiösen Überzeugung im Gefängnis. Siebenim Jahr 2009 festgenommene Religionsführer,fünf Männer und zwei Frauen, mussten wei-terhin ihre Haftstrafen verbüßen. Sie waren we-gen »Spionage für Israel« und »Verleumdungder heiligen Religion« zu 20 Jahren Freiheits-entzug verurteilt worden.

Grausame, unmenschliche underniedrigende StrafenGerichte verhängten weiterhin Prügel- undAmputationsstrafen, die auch vollstreckt wur-den.ý Der Journalist und Blogger Siamak Ghaderisowie 13 weitere politische Gefangene wurdendem Vernehmen nach im August 2012 im Evin-Gefängnis ausgepeitscht. Sie waren wegen an-geblicher »Beleidigung des Präsidenten« und»Verbreitung von Lügen« sowie wegen der2007 erfolgten Veröffentlichung eines Inter-views mit Angehörigen der LGBTI-Gemein-schaft in seinem Blog zu vier Jahren Freiheits-entzug und 60 Peitschenhieben verurteilt wor-den.

TodesstrafeGegen Hunderte von Personen wurden Todes-urteile verhängt. Mindestens 314 Menschenwurden offiziellen Angaben zufolge im Berichts-jahr hingerichtet. Vertrauenswürdige Quellensprachen von mehr als 230 weiteren Hinrich-tungen, womit die Gesamtzahl der vollstreck-ten Todesurteile bei 544 liegen würde. Viele Ge-

fangene wurden im Geheimen hingerichtet.Die tatsächliche Zahl der Hinrichtung im Jahr2012 könnte weit höher liegen, bei über 600.In den Todeszellen befanden sich etwa 100 ju-gendliche Straftäter. Von den offiziell bestätig-ten Hinrichtungen erfolgten 71% nach unfairenGerichtsverfahren aufgrund von Drogendelik-ten. Bei den zum Tode Verurteilten handelte essich vielfach um Menschen, die in bitterer Ar-mut lebten, sowie um Angehörige marginalisier-ter Bevölkerungsgruppen, allen voran afghani-sche Staatsangehörige. Die Todesstrafe kannim Iran wegen Mord, Vergewaltigung, Schuss-waffeneinsatz bei einer Straftat, Spionage,Apostasie, außerehelicher und gleichge-schlechtlicher Beziehungen verhängt werden.Mindestens 63 Hinrichtungen fanden öffent-lich statt. Es gab keine Hinweise auf Steinigun-gen, doch drohte mindestens zehn Gefange-nen weiterhin die Hinrichtung durch Steini-gung. Tausende Gefangene saßen in den To-deszellen.ý Allahverdi Ahmadpourazer, ein Sunnit undAngehöriger der aserbaidschanischen Min-derheit, wurde im Mai 2012 wegen angeblicherDrogenvergehen hingerichtet. Sein Prozessentsprach offensichtlich nicht den internationa-len Standards für faire Gerichtsverfahren.ý Amir Hekmati, der sowohl die iranische alsauch die US-amerikanische Staatsbürger-schaft besitzt, wurde im Januar 2012 wegenSpionage zum Tode verurteilt. Sein angeb-liches »Geständnis« war im staatlichen Fern-sehen ausgestrahlt worden. Im März hob derOberste Gerichtshof das Urteil auf. Amir Hek-mati befindet sich weiterhin in Haft und wartetauf die Wiederaufnahme des Verfahrens.ý Die Familie des kanadisch-iranischen Staats-bürgers Hamid Ghassemi-Shall wurde im April2012 von der bevorstehenden Hinrichtung ihresAngehörigen in Kenntnis gesetzt. Er befandsich jedoch zum Ende des Berichtsjahres nochimmer in der Todeszelle. Er war 18 Monatelang ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Zu-gang zu einem Rechtsbeistand in Haft gehal-ten worden. Nach einem unfairen Gerichtsver-fahren war er im Dezember 2008 zum Todeverurteilt worden. Die Anklage lautete auf

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»Feindschaft zu Gott«, »Spionage« und »Zu-sammenarbeit mit einer verbotenen Opposi-tionsgruppe«.ý Drei Angehörige der kurdischen Minderheitwurden am 20. September 2012 wegen ihrerpolitischen Aktivitäten im Zentralgefängnis vonOroumieh hingerichtet.ý Die Behörden setzten das Todesurteil gegenden Kanadier Saeed Malekpour aus. Ihm war»Beleidigung und Entweihung des Islam« vor-geworfen worden. Eine von ihm entwickelteSoftware zum Hochladen von Fotos war ohnesein Wissen dazu benutzt worden, pornogra-phische Bilder ins Netz zu stellen. Er befandsich seit Oktober 2008 in Haft. Seinen Folter-vorwürfen ist nie nachgegangen worden.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Der Zugang zum Land zum Zweck einer Untersuchung der

Lage der Menschenrechte wird Amnesty International seit1979 verwehrt. Die iranischen Behörden antworteten nurselten auf Briefe der Organisation.

ÿ »We are ordered to crush you«: Expanding repression ofdissent in Iran, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE13/002/2012

IrlandAmtliche Bezeichnung: Republik IrlandStaatsoberhaupt: Michael D. HigginsRegierungschef: Enda Kenny

Es gab heftige Kritik an den Zuständen ineiner Jugendhaftanstalt. Erneut wurdedie Forderung nach gesetzlichen Rege-lungen für legale Abtreibungen laut. Einneues Gesetz stellt die Genitalverstüm-melung von Frauen unter Strafe.

HaftbedingungenIm August 2012 erfolgte die Bekanntgabe einesneuen Verfahrens für die Untersuchung gra-vierender Beschwerden von Gefangenen durchexterne Ermittler. Es beinhaltet die Möglich-

keit, den Inspektor für Gefängnisse und Haft-einrichtungen (Inspector of Prisons and Pla-ces of Detention) einzuschalten. Die Regierungstellte eine mögliche Ausdehnung des Verfah-rens auf weniger gravierende Beschwerden inAussicht. Diese Reform erfüllte aber nochnicht die 2011 vom UN-Ausschuss gegen Folterformulierten Anforderungen an einen unab-hängigen Beschwerdemechanismus.

In einem im Oktober 2012 veröffentlichten Be-richt des Inspektors für Gefängnisse und Haft-einrichtungen über die JugendvollzugsanstaltSt. Patrick in Dublin war von Einschüchterun-gen, harten Bestrafungen und Misshandlungender dort inhaftierten Jungen und jungen Män-ner die Rede. Außerdem seien die Bildungs-möglichkeiten für die Häftlinge und ihre ärzt-liche Versorgung unzureichend. Nach der Ver-öffentlichung des Berichts kündigte die Regie-rung Verbesserungen an, z. B. hinsichtlich derAusbildung der Vollzugsbeamten, sowie eineUntersuchung zum Verhalten einiger Mitarbei-ter der Vollzugsanstalt. Schon ab Anfang Mai2012 wurden keine 16-Jährigen mehr in St. Pa-trick untergebracht. Besorgnis herrschte je-doch darüber, dass 17-Jährige noch dort einsit-zen müssen, da erst 2014 eine spezielle Haft-einrichtung für Kinder und Jugendliche zur Ver-fügung steht.

Recht auf GesundheitsversorgungDie Regierung begann mit einer Überprüfungdes Psychiatriegesetzes (Mental Health Act2001) im Hinblick auf die Frage, ob es den in-

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ternationalen Menschenrechtsstandards ent-spricht. Das Psychiatriegesetz regelt vor allem,unter welchen Umständen eine Zwangsein-weisung und Zwangsbehandlung in einer Klinikzulässig ist.

Im Oktober 2012 starb eine 31-jährige Frau ineinem irischen Krankenhaus an einer Blutver-giftung; eine möglicherweise lebensrettendeAbtreibung war ihr anscheinend verweigertworden. Dieser Fall machte deutlich, wie unklardie Gesetze und Bestimmungen gefasst sind,nach denen eine Abtreibung vorgenommenwerden darf, wenn das Leben einer Schwan-geren in Gefahr ist.

Gewalt gegen Frauen und MädchenBis Ende 2012 war die Regierung noch nichtder Empfehlung des UN-Ausschusses gegenFolter nachgekommen, eine Untersuchung zuden Vorwürfen der Folterung und Misshand-lung von Frauen und Mädchen in den als Mag-dalene Laundries bekannten katholischenHeimen für ledige Mütter in die Wege zu leiten.Auch ein 2011 eingerichteter ressortübergrei-fender Ausschuss zur »Prüfung der Rolle desStaates bei den Vorfällen in den MagdaleneLaundries« hatte noch keinen Bericht vorge-legt.

Im April 2012 wurde das Gesetz zur Ahndungder Genitalverstümmelung von Frauen (Crimi-nal Justice [Female Genital Mutilation] Act) ver-abschiedet, das derartige Eingriffe unter Strafestellt. Danach gilt es auch als Straftat, wenn einMädchen ins Ausland verbracht wird, um denEingriff dort vornehmen zu lassen. Außerdemsieht das Gesetz Maßnahmen zum Schutz derOpfer während des Gerichtsverfahrens vor.

Polizei und SicherheitskräfteIm Oktober 2012 billigte das Parlament (Oire-achtas) eine Verlängerung der Ermittlungendes sogenannten Smithwick-Tribunals um wei-tere neun Monate bis Ende Juli 2013. Das Ge-richt untersucht unter Vorsitz von Richter PeterSmithwick die mutmaßliche Verwicklung vonAngehörigen der irischen Polizei (An Garda Sío-chána) in die Tötung von zwei Beamten dernordirischen Polizei (Royal Ulster Constabulary)

durch die Provisional Irish Republican Armyim Jahr 1989.

Entwicklungen in Justiz, Verfassungund InstitutionenIm März 2012 unterzeichnete Irland das Fakul-tativprotokoll zum Internationalen Pakt überwirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Im Juli wurde eine von der Regierung bestellteVerfassungsversammlung eingerichtet, diesich mit der Prüfung bestimmter Aspekte deririschen Verfassung (Bunreacht na hÉireann)wie der Gleichberechtigung der Frau, derGleichstellung gleichgeschlechtlicher Paareund der Blasphemie befassen soll. Die Prüfungder vollständigen Aufnahme der Menschen-rechte und der wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Rechte in die Verfassung gehörtnicht ausdrücklich zu den Aufgaben der Ver-sammlung.

Im November wurde die Verfassung umeinige Maßnahmen zum Schutz der Rechtevon Kindern ergänzt.

Amnesty International: Berichteÿ Ireland: Amnesty International welcomes the commitments

to respect economic, social and cultural rights and to signthe Council of Europe Convention on Violence against Womenand Domestic Violence, http://195.234.175.160/en/library/info/EUR29/001/2012/en

ÿ Ireland’s candidacy for election to the Human Rights Councilelections: Open letter, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR29/002/2012/en

ÿ Ireland: Follow-up procedure to the forty-sixth session of theUN Committee against Torture, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR29/003/2012/en

ÿ Ireland: Abortion issue must be clarified by Irish government,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/ireland-abortion-issue-must-be-clarified-irish-government-2012-11-16

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Israel und besetztepalästinensischeGebieteAmtliche Bezeichnung: Staat IsraelStaatsoberhaupt: Schimon PeresRegierungschef: Benjamin Netanyahu

Die israelischen Behörden hielten Ende2012 mehr als 4500 Palästinenser inHaft. Mindestens 178 von ihnen befan-den sich ohne Anklageerhebung oderGerichtsverfahren in Verwaltungshaft. Esgab Berichte über Folterungen undMisshandlungen von Häftlingen in Ge-wahrsam und bei Verhören. Die israe-lische Militärblockade des Gazastreifenshatte weiterhin schwerwiegende Folgenfür die 1,6 Mio. Bewohner des Gebiets.Im November ging Israel mit einer acht-tägigen Militäroperation gegen bewaff-nete palästinensische Gruppen im Ga-zastreifen vor, die wahllos Raketen aufIsrael abfeuerten. Dabei wurden min-destens 150 Palästinenser und sechsIsraelis getötet. Unter den Opfern be-fanden sich auch viele Zivilpersonen. Aufbeiden Seiten kam es während des Kon-flikts zu Verstößen gegen das humanitäreVölkerrecht. Die israelischen Behörden

schränkten weiterhin die Bewegungsfrei-heit der palästinensischen Bevölkerungim Westjordanland einschließlich Ost-Je-rusalem empfindlich ein. Der Bau desZauns bzw. der Mauer ging weiter. Un-rechtmäßig errichtete israelische Sied-lungen wurden weiter ausgebaut. Die is-raelischen Behörden unternahmennichts, um Palästinenser und derenEigentum gegen gewaltsame Übergriffeisraelischer Siedler zu schützen. Außer-dem setzten die Behörden die Zerstö-rung palästinensischer Häuser undrechtswidrige Zwangsräumungen fort.Die israelische Armee ging mit exzessiverGewalt gegen Protestierende in den be-setzten palästinensischen Gebieten vor.Mehr als 100 Zivilpersonen wurden vonder israelischen Armee während der Mili-täroffensive im November 2012 im Ga-zastreifen getötet. Weitere 19 Zivilperso-nen wurden von israelischen Streitkräf-ten im Verlauf des Jahres in den besetz-ten palästinensischen Gebieten getötet.Palästinensische Bürger innerhalb Isra-els wurden bezüglich ihrer Rechte aufWohnraum und auf freie Wahl des Wohn-orts diskriminiert. Die Zerstörung ihrerHäuser, vor allem in der Negev-Wüste,ging weiter. Nach dem Inkrafttreteneines neuen Gesetzes im Juni 2012 wur-den Tausende von Menschen, die um in-ternationalen Schutz ersucht hatten, inVerwaltungshaft genommen. Angehö-rige der israelischen Streitkräfte, die fürTötungen und Verletzungen palästinen-sischer Zivilpersonen sowie für Folterund andere Misshandlungen von Häft-lingen verantwortlich waren, wurdennach wie vor nicht zur Rechenschaft ge-zogen.

HintergrundDie Verhandlungen zwischen Israel und der Pa-lästinensischen Behörde (Palestinian Autho-rity – PA) wurden 2012 nicht wieder aufgenom-men. Die Beziehungen zwischen Israel undder PA verschlechterten sich, nachdem die UN-

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180 Israel und besetzte palästinensische Gebiete

Generalversammlung im November 2012 denpalästinensischen Gebieten einen Beobachter-status ohne Mitgliedschaft (non-member ob-server state status) zuerkannte. Als Reaktiondarauf kündigte Israel einen weiteren Ausbauder israelischen Siedlungen in den besetztenGebieten an und behielt erneut Steuerein-künfte ein, die der PA zustanden. Im März 2012beendete Israel seine Zusammenarbeit mitdem UN-Menschenrechtsrat. Das Gremiumhatte zuvor einen Untersuchungsausschusseingesetzt, um die Auswirkungen der israe-lischen Siedlungen auf die Palästinenser inden besetzten Gebieten zu prüfen.

Im Juli kam eine von der israelischen Regie-rung eingesetzte Kommission zu dem Schluss,die israelischen Siedlungen im besetzten West-jordanland würden nicht gegen das Völker-recht verstoßen – ungeachtet des Gewichts in-ternationaler Rechtsgutachten, die das Ge-genteil vertreten. Die Kommission empfahl derRegierung, nicht genehmigte Siedlungsaußen-posten formal anzuerkennen. Zum ersten Malseit sieben Jahren wurden mit Duldung der is-raelischen Behörden 14 neue Außenpostenund Siedlungen errichtet.

Die israelischen Streitkräfte flogen 2012 regel-mäßig Luftangriffe auf den Gazastreifen.Gleichzeitig feuerten palästinensische bewaff-nete Gruppen Raketen auf Israel ab. Israelsetzte weiterhin scharfe Munition ein, um diesogenannte Sperrzone (exclusion zone) aufdem Gebiet des Gazastreifens und vor dessenKüste aufrechtzuerhalten. Dabei wurden dreiZivilpersonen getötet, weitere wurden verletzt.Führende Politiker Israels sprachen sich dafüraus, iranische Atomanlagen zu bombardieren.Im Juni wurde ein israelischer Zivilist nahe derägyptischen Grenze von bewaffneten Militantengetötet.

Blockade des Gazastreifens undEinschränkungen im WestjordanlandDie massenhaften Beschränkungen, mit denendie israelischen Behörden die Bewegungsfrei-heit der Palästinenser einengte, stellten eineKollektivstrafe für die Bevölkerung des Gaza-streifens und des Westjordanlands dar und ver-

stießen gegen das Völkerrecht. Mehr als 600israelische Kontrollpunkte und Absperrungenim Westjordanland sowie der Zaun bzw. dieMauer schränkten die Bewegungsfreiheit derPalästinenser empfindlich ein. Dies betraf inbesonderem Maße Ost-Jerusalem, Teile He-brons, das Jordantal und Landstriche in derNähe von israelischen Siedlungen. Während is-raelische Staatsbürger und Siedler sich in die-sen Gebieten frei bewegen konnten, musstendie Palästinenser bei den israelischen Behör-den Genehmigungen beantragen. Es gab wei-terhin regelmäßig Berichte darüber, dass is-raelische Sicherheitskräfte Palästinenser anden Kontrollpunkten schikanierten und miss-handelten.

Die Einschränkungen der Bewegungsfreiheithinderten die Palästinenser auch beim Zu-gang zu ihren Feldern, zu Wasserstellen und zumedizinischer Versorgung.

Die seit 2007 andauernde israelische Militär-blockade des Gazastreifens hatte gravierendeAuswirkungen auf die Infrastruktur, vor allemdie Strom- und Wasserversorgung sowie dieAbwasserentsorgung. Die Wirtschaft war lahm-gelegt, weil Israel weiterhin die Im- und Ex-porte in bzw. aus dem Gazastreifen stark ein-schränkte, weshalb der Warenschmuggeldurch die gefährlichen Tunnel zwischen demGazastreifen und Ägypten weiterging. Bei Un-fällen in diesen Tunneln kamen erneut mehrerePersonen ums Leben. Trotz anhaltender Ein-schränkungen konnten im Vergleich zu denVorjahren mehr Menschen den Grenzüber-gang Rafah an der Grenze zu Ägypten benut-zen.

Genehmigungen für Reisen in das Westjor-danland waren hingegen schwer zu erlangenund wurden nur selten erteilt. Dies galt selbstfür Patienten, die eine dringende medizini-sche Behandlung benötigten. Im Septemberlehnte Israels Oberster Gerichtshof den Antragmehrerer Frauen aus dem Gazastreifen ab, diean Universitäten im Westjordanland studierenwollten. Das Gericht bestätigte damit die israeli-sche Politik der Trennung zwischen dem Ga-zastreifen und dem Westjordanland.

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Zwangsräumungen und Zerstörungvon WohnraumIm Westjordanland kontrollierte die israelischeArmee in der sogenannten Zone C, die mehrals 60% des Westjordanlands umfasst, die Si-cherheit und die gesamte Planung und Be-bauung. Die Streitkräfte rissen regelmäßig Häu-ser von Palästinensern ab. 2012 zerstörte dieisraelische Armee etwa 550 Bauwerke, ein Drit-tel davon Wohnhäuser, und 36 Zisternen. Da-bei wurden 853 Palästinenser Opfer rechtswid-riger Zwangsräumungen. Mehr als 1600 wei-tere Personen waren in anderer Weise von denZerstörungen betroffen. Israelische Siedlergriffen weiterhin regelmäßig palästinensischeEinwohner des Westjordanlands und derenEigentum an, wurden dafür jedoch nicht zurRechenschaft gezogen. Auch palästinensi-sche Bürger innerhalb von Israel waren vonZerstörungen betroffen, insbesondere diejeni-gen, die in »nicht anerkannten« Dörfern in derNegev-Wüste lebten. Ihre Häuser wurden aufBetreiben der Israelischen Landverwaltung(Israel Land Administration – ILA) sowie kom-munaler Behörden zerstört.ý Im Westjordanland zerstörte die Armee inUmm al-Kheir und anderen Dörfern in densüdlichen Bergen von Hebron wiederholt Häu-ser, Wasserspeicher und Ställe. Den Dörfernal-'Aqaba, Khirbet Tana, Humsa und Hadidiyawurde sogar die vollständige Zerstörung ange-droht.ý Die ILA riss 2012 mindestens 13 Mal Zelteund andere Bauten in al-'Araqib ab, einem»nicht anerkannten« Dorf in der Negev-Wüste.Das Dorf wurde seit Juli 2010 bereits unzähligeMale zerstört.

StraflosigkeitDie Tötungen palästinensischer Zivilpersonenim Westjordanland und im Gazastreifen durchisraelische Soldaten wurden auch 2012 nichtunabhängig untersucht, und die Verantwort-lichen wurden nicht zur Rechenschaft gezogen.Kriegsverbrechen, die von den israelischenStreitkräften im Rahmen der Operation »Gegos-senes Blei« Ende 2008 und Anfang 2009 ver-übt worden waren, blieben weiterhin unge-

sühnt. Auch gab es keine Anzeichen dafür,dass die Verstöße, die im November 2012 wäh-rend der militärischen Auseinandersetzungzwischen Israel und bewaffneten Gruppen desGazastreifens begangen wurden, aufgearbei-tet werden würden. Die polizeilichen Ermittlun-gen nach gewaltsamen Angriffen von israe-lischen Siedlern auf Palästinenser führten nurselten zu strafrechtlicher Verfolgung.ý Im Mai 2012 beendeten die Militärbehördenihre Ermittlungen im Zusammenhang mit derTötung der Familie Samouni während der Ope-ration »Gegossenes Blei«. Die 21 Mitgliederder Familie, darunter Kinder, hatten in einemHaus Schutz gesucht, das ihnen zuvor vonisraelischen Soldaten zugewiesen worden war,und wurden dort – offenbar durch einen Gra-natenangriff – getötet. Die Militärbehörden ka-men zu dem Schluss, dass die Todesfälle nichtauf Fahrlässigkeit seitens der israelischen Ar-mee zurückzuführen seien.ý Im August 2012 erhielt ein Soldat nach einerAbsprache zwischen den Parteien im Strafver-fahren eine Freiheitsstrafe von 45 Tagen wegen»illegalen Waffeneinsatzes«. Er hatte währendder Operation »Gegossenes Blei« zwei Palästi-nenserinnen erschossen, die eine weißeFahne geschwenkt hatten.ý Am 28. August 2012 sprach ein Gericht inHaifa die israelischen Behörden von dem Vor-wurf frei, den Tod der US-amerikanischen Men-schenrechtlerin Rachel Corrie verursacht zuhaben. Sie war 2003 von einem Bulldozer über-fahren worden, als sie in der Stadt Rafah imGazastreifen gegen die Zerstörung von Wohn-raum protestierte.

Militäroperation»Säule der Verteidigung«Am 14. November 2012 begann die israelischeArmee eine groß angelegte Militäroperationgegen den Gazastreifen mit einem Luftangriff,bei dem der Anführer des militärischen Flü-gels der Hamas getötet wurde. Während derachttägigen Militäroperation »Säule der Vertei-digung« wurden etwa 150 Palästinenser getö-tet, darunter mehr als 30 Kinder und ungefähr70 weitere Zivilpersonen, sowie sechs Israelis,

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unter ihnen vier Zivilpersonen. Am 21. Novem-ber trat ein Waffenstillstand in Kraft, der unterVermittlung der ägyptischen Regierung zu-stande gekommen war. Beide Konfliktparteienbegingen Kriegsverbrechen und verstießengegen das humanitäre Völkerrecht. Die israe-lische Luftwaffe griff Wohngebiete mit Bom-ben und Raketen an; viele dieser Angriffe wa-ren unverhältnismäßig und forderten zahlrei-che Opfer unter der Zivilbevölkerung. Bei ande-ren Luftangriffen wurden privates Eigentum,Medieneinrichtungen, Regierungsgebäude undPolizeiwachen zerstört. In den meisten Fällenblieben die israelischen Behörden den Beweisschuldig, dass die zerstörten Objekte militäri-schen Zwecken gedient hatten. Die israelischeMarine beschoss bewohnte Gebiete entlangder Küste wahllos mit Granaten. Der militäri-sche Flügel der Hamas und weitere bewaff-nete palästinensische Gruppen feuerten Rake-ten und andere Waffen auf Israel ab. Dabeiwurden Zivilpersonen getötet und Privateigen-tum beschädigt.ý Am 18. November 2012 starben zehn Mitglie-der der Familie al-Dalu, als ihr Haus bei einemAngriff der israelischen Luftwaffe auf Gaza-Stadt getroffen wurde. Unter den Opfern wa-ren vier Kinder unter acht Jahren und ein16-jähriges Mädchen. Außer den Familienmit-gliedern starben bei dem Angriff auch zweiNachbarn. Sprecher der israelischen Streit-kräfte erklärten, die Bombardierung des Hau-ses sei ein Versehen gewesen, man habe denAngehörigen einer militanten Gruppierung tref-fen wollen. Sie machten allerdings wider-sprüchliche Angaben über das Ziel und konn-ten keine Beweise vorlegen, die ihre Aussagenstützten.ý Am 19. November 2012 wurden der fünfjäh-rige Mohammed Abu Zur und zwei seiner Tan-ten getötet, als ein benachbartes Haus Zieleines israelischen Luftangriffs wurde. Es gabzahlreiche Verletzte.

Haft ohne AnklageerhebungDie israelischen Behörden hielten im Februarund März 2012 mindestens 320 Palästinenseraus den besetzten Gebieten ohne Anklageerhe-

bung oder Gerichtsverfahren in Verwaltungs-haft. Nach einem massenhaften Hungerstreik(siehe unten) verringerte sich die Zahl aller-dings erheblich. Mehrere Palästinenser, die2011 im Rahmen eines Gefangenenaus-tauschs freigekommen waren, wurden auf An-ordnung einer Militärkommission 2012 erneutfestgenommen und über lange Zeit ohne Ankla-geerhebung inhaftiert. Die ursprünglich gegensie verhängten Strafen wurden bisher nicht for-mell aufgehoben.ý Im April 2012 wurde Hana Shalabi, eine Be-wohnerin des Westjordanlands, für mindes-tens drei Jahre in den Gazastreifen gebracht –vermutlich gegen ihren Willen. Sie war zuvor43 Tage lang in den Hungerstreik getreten, umgegen ihre seit Februar dauernde Verwal-tungshaft ohne Anklageerhebung und Gerichts-verfahren zu protestieren.

HaftbedingungenAm 17. April 2012 traten etwa 2000 palästinen-sische Gefangene aus Protest gegen ihre Haft-bedingungen in den Hungerstreik. Der Protestrichtete sich u. a. gegen die Verhängung vonEinzelhaft, Inhaftierungen ohne Anklageerhe-bung und Gerichtsverfahren sowie die Verwei-gerung von Familienbesuchen. Am 14. Mai kames unter ägyptischer Vermittlung zu einer Ver-einbarung, die den Hungerstreik beendete. Dieisraelischen Behörden sicherten u. a. zu, dieEinzelhaft von 19 Gefangenen zu beenden unddas Verbot von Familienbesuchen für Häft-linge aus dem Gazastreifen aufzuheben. Ende2012 befanden sich jedoch noch immer zweipalästinensische Gefangene in Langzeit-Einzel-haft. Kurzzeitige Einzelhaft wurde nach wie vorals Strafmaßnahme verhängt.ý Der Verwaltungshäftling Hassan Shukawurde seit dem 17. September 2010 ohne An-klageerhebung oder Gerichtsverfahren festge-halten. Die einzigen, die ihn im Ketziot-Ge-fängnis im Süden Israels besuchen durften, wa-ren seine beiden acht und 14 Jahre altenSchwestern. Den übrigen Familienmitgliedernwurde die Einreise nach Israel verweigert.

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Folter und andere MisshandlungenPalästinensische Häftlinge berichteten, dass siewährend ihrer Verhöre durch den israelischenSicherheitsdienst (Israel Security Agency – ISA)gefoltert und anderweitig misshandelt wordenseien. Zu den geschilderten Foltermethodenzählten quälende Fesselungen von Gliedma-ßen, das Verharren in schmerzhaften Positio-nen, Schlafentzug, Drohungen und Be-schimpfungen. Während der Verhöre, die sichüber Tage, manchmal sogar über Wochen hin-zogen, durften die Häftlinge keinen Kontakt zueinem Rechtsbeistand aufnehmen. Gefange-nen, die sich lange Zeit im Hungerstreik befan-den, wurde mehrfach der Zugang zu unab-hängigen Ärzten verweigert, und sie wurdenvom israelischen Gefängnisdienst (Israel Pri-son Service) misshandelt.

Die Behörden ließen die Vorwürfe der Häft-linge, sie seien vom Gefängnispersonal gefol-tert worden, nicht unabhängig untersuchenund förderten auf diese Weise ein Klima derStraflosigkeit. Mit der Untersuchung wurde derObmann für Beschwerden von Verhörten be-auftragt, der ein Angestellter des ISA ist. DerGeneralstaatsanwalt hatte dagegen bereits imNovember 2010 angeordnet, diese Stelle demJustizministerium zu unterstellen. Ein Gesetz,das die israelische Polizei und den Sicherheits-dienst ISA davon entbindet, die Verhöre von»Sicherheits«-Häftlingen aufzuzeichnen, wurdeverlängert. Bei diesen Häftlingen handelt essich fast ausschließlich um Palästinenser. DasGesetz trug dazu bei, dass Folter und Miss-handlungen weiterhin straffrei blieben. Obwohlvon 2001 bis 2012 diesbezüglich mehr als 700Klagen eingereicht worden waren, war bis Ende2012 nur ein strafrechtliches Ermittlungsver-fahren eingeleitet worden.ý Samer al-Barq trat seit April 2012 dreimal ineinen Hungerstreik, um gegen seine seit Juli2010 dauernde Verwaltungshaft zu protestie-ren. Sein Protest richtete sich auch gegen dieharten Bedingungen in der Gefängniskranken-station in Ramleh, wo ihm die notwendige me-dizinische Behandlung verwehrt wurde. Außer-dem wurde er vom Gefängnispersonal ge-schlagen und beleidigt.

ý Der aus dem Gazastreifen stammende Inge-nieur Dirar Abu Sisi, der im Februar 2011 ge-gen seinen Willen von der Ukraine nach Israelgebracht worden war, war weiterhin im Shik-ma-Gefängnis in der Nähe der Stadt Ashkeloninhaftiert. Er befand sich in Einzelhaft unddurfte keinen Familienbesuch empfangen. Be-richten zufolge war er krank und erhielt keineangemessene medizinische Behandlung. DerRechtsbeistand und die Familie von Dirar AbuSisi erhoben den Vorwurf, er sei unter Folter zudem »Geständnis« gezwungen worden, dasser für den militärischen Flügel der Hamas Ra-keten entwickelt habe.

Rechte auf freie Meinungsäußerungund VersammlungsfreiheitIm Gazastreifen schossen israelische Soldaten2012 wiederholt mit scharfer Munition auf pa-lästinensische Protestierende. Im Westjordan-land ging die Armee regelmäßig mit exzessiverGewalt gegen Demonstrierende vor, dabei wur-den mindestens vier Demonstrierende getötet.Ortsansässige Menschenrechtsgruppen doku-mentierten, wie israelische Soldaten Tränen-gaskanister auf friedliche Demonstrierendeschleuderten, die dabei ernsthafte Verletzun-gen erlitten. Auch in Israel gingen die Behördenmit unverhältnismäßiger Gewalt gegen Protes-tierende vor.ý Am 30. März 2012 schossen israelische Sol-daten in der Nähe des Grenzübergangs Erezim Gazastreifen mit scharfer Munition auf De-monstrierende. Dabei wurde Mahmoud Za-qout getötet, zahlreiche weitere Personen wur-den verletzt. Anlass der Demonstration warder »Tag des Bodens«. Auch gegen mehrereKundgebungen im Westjordanland sowie inOst-Jerusalem gingen die Soldaten mit exzessi-ver Gewalt vor.ý Sicherheitskräfte nahmen mehr als 100 Per-sonen fest und gingen mit äußerster Härte ge-gen Hunderte von israelischen Demonstrieren-den vor, die sich am 22. und 23. Juni 2012 inTel Aviv versammelt hatten. Sie traten für be-zahlbare Mieten und Verbesserungen im Ge-sundheits- und Bildungssystem ein.ý Im Oktober 2012 wurde der Aktivist Bassem

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184 Italien

Tamimi inhaftiert, weil er sich an friedlichenProtesten gegen die Siedlungspolitik Israels be-teiligt hatte. Es war bereits seine zweite Inhaf-tierung im Berichtsjahr. Nach einem unfairenGerichtsverfahren wurde er im November zuvier Monaten Haft verurteilt.

WehrdienstverweigererIm Berichtsjahr mussten mindestens sechs is-raelische Staatsangehörige Gefängnisstrafenverbüßen, weil sie aus Gewissensgründen denWehrdienst verweigert hatten. Einer vonihnen, Natan Blanc, befand sich Ende 2012noch im Gefängnis.ý Noam Gur wurde am 17. April festgenom-men, weil sie sich geweigert hatte, ihren Mili-tärdienst zu leisten. Sie musste im April undMai jeweils eine Freiheitsstrafe von zehn Tagenverbüßen.

Flüchtlinge und AsylsuchendeMenschen, die internationalen Schutz suchten,hatten weiterhin keinen Zugang zu fairen Ver-fahren, um ihren Flüchtlingsstatus festzustel-len. Sie liefen vielmehr Gefahr, festgenommenund inhaftiert zu werden. Tausende Asylsu-chende wurden gemäß dem »Anti-Infiltrati-ons-Gesetz« (Anti-Infiltration Law) in Gewahr-sam genommen. Das Gesetz war im Januar2012 verabschiedet worden und trat im Juni inKraft. Es stellt einen Verstoß gegen das inter-nationale Flüchtlingsrecht dar. Das Gesetz er-laubt es den Behörden, Asylsuchende ebensowie Personen, die ohne Einreisedokumente dieLandesgrenze Israels überqueren, automa-tisch für mindestens drei Jahre in Gewahrsamzu nehmen. In einigen Fällen kann die Haft-dauer auf unbestimmte Zeit ausgedehnt wer-den. Ende 2012 erweiterten die Behörden dieHafteinrichtungen in der Negev-Wüste, diemehr als 11000 Personen aufnehmen sollen;dort waren etwa 3200 Asylsuchende inhaftiert,viele von ihnen in Zelten.ý Hunderte von Asylsuchenden wurden in denSüdsudan abgeschoben, ohne dass ihnen Zu-gang zu einem individuellen, fairen, einheit-lichen und transparenten Asylverfahren ge-währt wurde.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Israel und

die besetzten palästinensischen Gebiete von Juni bis Juliund von November bis Dezember.

ÿ Israel and the Occupied Palestinian Territories: Stop thetransfer: Israel about to expel Bedouin to expand settle-ments, http://amnesty.org/en/library/info/MDE15/001/2012/en

ÿ Israel and the Occupied Palestinian Territories: Starved ofjustice: Palestinians detained without trial by Israel,http://amnesty.org/en/library/info/MDE15/026/2012/en

ÿ Israel/OPT: Letter to UN Committee against Torture regardingadoption of list of issues by the Committee,http://amnesty.org/en/library/info/MDE15/029/2012/en

ÿ Israel/OPT: International pressure mounts over Gaza blo-ckade, http://amnesty.org/en/library/info/MDE15/033/2012/en

ÿ Israel : Amnesty International urges government to respectthe right to freedom of peaceful assembly,http://amnesty.org/en/library/info/MDE15/037/2012/en

ItalienAmtliche Bezeichnung: Italienische RepublikStaatsoberhaupt: Giorgio NapolitanoRegierungschef: Mario Monti

Auch 2012 wurden Roma diskriminiertund nach der Zwangsräumung ihrerSiedlungen entweder obdachlos oder inspeziellen Lagern untergebracht. DieBehörden schützten die Rechte von

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Italien 185

Flüchtlingen, Asylsuchenden und Mig-ranten nicht ausreichend. Die Bemühun-gen, den Straftatbestand der Folter ein-zuführen und eine unabhängige natio-nale Menschenrechtsinstitution einzu-richten, blieben 2012 erneut erfolglos.Auch wurden keine systematischenMaßnahmen ergriffen, um die Verant-wortlichen für Übergriffe der Polizei zurRechenschaft zu ziehen oder um solcheVorfälle zu verhindern. Gewalt gegenFrauen bis hin zu Mord war nach wie vorweit verbreitet.

DiskriminierungRomaDie Regierung ergriff keine angemessenenMaßnahmen gegen die anhaltenden Men-schenrechtsverletzungen an Roma, insbeson-dere im Hinblick auf das Recht auf angemes-senen Wohnraum. Mehrere Hundert Romawurden aus ihren Siedlungen vertrieben undviele von ihnen dadurch obdachlos. Auch 2012kam es zur Schließung offiziell genehmigteroder »geduldeter« Lager ohne ordnungsgemä-ßes Verfahren oder angemessene Schutzvor-kehrungen. Die Behörden taten nichts, um diekatastrophalen Zustände, die in den meistengenehmigten Lagern herrschten, zu verbes-sern. In den informellen Lagern waren die Le-bensverhältnisse noch schlechter. Ihre Bewoh-ner hatten nur unzureichenden Zugang zusauberem Wasser, sanitären Einrichtungen undelektrischem Strom. In vielen Gemeinden hat-ten Roma keinen Anspruch auf eine Sozialwoh-nung. Die Angehörigen dieser Minderheit wur-den stattdessen weiter in speziellen Lagern un-tergebracht.

Im Februar 2012 wurde eine Nationale Strate-gie für die Integration der Roma vorgestellt,aber nur sehr unvollständig umgesetzt. Der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Rassendis-kriminierung kritisierte im März erneut die ita-lienischen Behörden, weil sie die Wahrung derRechte der Roma nicht sicherstellte; ähnlichäußerte sich im September der Menschen-rechtskommissar des Europarats. Die Roma,deren Rechte während des sogenannten No-

maden-Notstands verletzt worden waren, er-hielten von der italienischen Regierung keineEntschädigung. Der 2008 in fünf Regionen desLandes verhängte »Nomaden-Notstand« warbis November 2011 in Kraft, dann erklärte ihnder Staatsrat für rechtswidrig. Im Februar legtedie Regierung mit der Begründung, der Staats-rat habe seine Kontrollbefugnisse überschrit-ten, Rechtsmittel gegen dessen Entscheidungein. Ende 2012 war der Fall noch beim Obers-ten Gerichtshof anhängig. Im Mai 2012 erklärteder Staatsrat, bis zu einer Entscheidung desGerichtshofs dürften bestimmte während desNotstands begonnene Maßnahmen zu Endegebracht werden.

Die Stadtverwaltung von Rom führte mit derZwangsräumung mehrerer informeller »gedul-deter« oder genehmigter Lager und der Um-siedlung zahlreicher Roma in spezielle »Ro-ma-Lager« ihren »Nomaden-Plan« weiterdurch. Am 25. Juli und 28. September wurdenbei zwei Zwangsräumungsaktionen die Bewoh-ner des Lagers Tor de’ Cenci im Südwestender Stadt ohne vorherige Konsultation und ge-gen den Widerstand mehrerer NGOs, der ka-tholischen Kirche und der nationalen Regierungaus ihren Unterkünften vertrieben. Im Junirichtete die Stadtverwaltung an einem abgele-genen Ort in der Nähe des Flughafens Ciam-pino, ein neues speziell für Roma bestimmtesLager (La Barbuta) ein. Im März erhoben meh-rere NGOs, die die Unterbringung der Roma inLa Barbuta für diskriminierend hielten, Klagevor einem römischen Zivilgericht. Etwa 200 Be-wohner des Lagers Tor de’ Cenci wurden nachLa Barbuta umgesiedelt.

Im Mai 2012 kam es in Pescara zu rassisti-schen Drohungen, Einschüchterungsversu-chen und zur Aufstachelung zu Gewalt gegenRoma, nachdem ein Fußballfan Berichten zu-folge von einem Roma getötet worden war. Ro-ma-Familien berichteten, sie wagten es nichtmehr, das Haus zu verlassen und ihre Kinderzur Schule zu bringen. Kurz nach Beginn derUnruhen machte der Bürgermeister von Pes-cara diskriminierende Bemerkungen überRoma und erklärte, ihr Anspruch auf eine Sozi-alwohnung müsse überprüft werden.

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Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen,Transgendern und IntersexuellenDer Oberste Gerichtshof bestätigte das Rechtgleichgeschlechtlicher Paare auf Familienle-ben, einschließlich der gleichen Behandlungwie heterosexuelle Ehepaare in bestimmtenSituationen. Allerdings befand der Gerichtshofauch, dass im Ausland geschlossene gleich-geschlechtliche Ehen nach italienischem Rechtnicht gültig seien.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenNach wie vor lebten viele Flüchtlinge und Asyl-suchende, darunter auch Minderjährige, inwirtschaftlicher Not und Armut, sodass einigeGerichte in anderen EU-Ländern die Rückfüh-rung nach Italien im Rahmen der Dublin-II-Ver-ordnung aussetzten. Die italienischen Behör-den sorgten oft nur unzureichend für die Ver-sorgung dieser Menschen und für die Wah-rung ihrer Rechte.

Die Lebensbedingungen in den Haftzentrenfür Migranten ohne regulären Aufenthaltssta-tus lagen weit unter den internationalen Stan-dards. Die rechtlichen Schutzvorkehrungenfür die Rückführung von Migranten ohne regu-lären Aufenthaltsstatus in ihr Herkunftslandwurden häufig außer Acht gelassen. Arbeits-migranten wurden oft zu Opfern von Ausbeu-tung und Übergriffen, ihre Möglichkeiten zurWahrnehmung ihrer Rechte vor Gericht warennach wie vor beschränkt. Die italienische Mi-grationspolitik trug den Rechten dieser Men-schen auf Arbeit, angemessene Arbeitsbedin-gungen und Zugang zu den Gerichten nur un-genügend Rechnung. Im September kritisierteder Menschenrechtskommissar des Europa-rats in mehreren Punkten die Behandlung vonFlüchtlingen, Asylsuchenden und Migrantendurch die italienischen Behörden: Er beklagtefehlende Integrationsmaßnahmen und dieVerelendung dieser Menschen, die entwürdi-genden Haftbedingungen von Migranten ohneregulären Aufenthaltsstatus und die Gefahr vonMenschenrechtsverletzungen infolge der Ab-kommen, die Italien mit Ländern wie Libyen,Ägypten und Tunesien geschlossen hat.

Im Februar 2012 befand der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte, dass Italien mitseiner Praxis, afrikanische Migranten und Asyl-suchende auf hoher See abzufangen, gegendie Verpflichtung des Landes aus internationa-len Menschenrechtsabkommen verstoßenhabe, niemanden in ein Land zurückzuschi-cken, in dem er von Menschenrechtsverlet-zungen bedroht ist. Im Fall Hirsi Jamaa und an-dere gegen Italien befasste sich der Gerichts-hof mit der Notlage von 24 Menschen aus So-malia und Eritrea, die im Jahr 2009 zusammenmit ca. 200 weiteren Migranten auf See von deritalienischen Küstenwache abgefangen undgegen ihren Willen nach Libyen zurückgebrachtworden waren. Im September eröffnete derEuroparat ein Verfahren, in dem geprüft werdensoll, inwieweit Italien dem Urteil des Gerichts-hofs nachgekommen ist.

Am 3. April 2012 schloss Italien mit Libyeneine neue Vereinbarung zur Migrationskon-trolle. Die italienischen Behörden ersuchtenLibyen um Hilfe bei der Steuerung der Migrati-onsströme, ohne zu berücksichtigen, dass Mi-granten, Flüchtlinge und Asylsuchende dortnach wie vor von gravierenden Menschen-rechtsverletzungen bedroht sind. Libyen ver-pflichtete sich zur Verstärkung der eigenenGrenzkontrollen, damit Migranten nicht mehrvon der libyschen Küste aus per Boot die See-reise nach Italien antreten können. Italienstellte im Gegenzug die zur besseren Überwa-chung der libyschen Grenze erforderlichenSchulungsmöglichkeiten sowie das benötigteAusrüstungsmaterial zur Verfügung. WirksameMaßnahmen zum Schutz der Menschenrechtewaren nicht vorgesehen. Auch der Anspruchder Migranten auf internationalen Schutz warnicht Gegenstand der Vereinbarung.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitAm 19. September 2012 bestätigte der ObersteGerichtshof die Urteile im Berufungsverfahrengegen 22 CIA-Agenten, einen Angehörigen desUS-Militärs und zwei italienische Sicherheits-beamte wegen der Entführung von UsamaMostafa Hassan Nasr (bekannt als Abu Omar)im Februar 2003 in Mailand und seiner an-

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Italien 187

schließenden Verbringung durch CIA-Beamtenach Ägypten, wo er Berichten zufolge gefoltertwurde.

Das Verfahren gegen die US-amerikanischenBürger wurde in Abwesenheit der Angeklagtendurchgeführt. Bei zwei hochrangigen Beamtendes italienischen Geheimdienstes und dreiweiteren hohen Beamten, denen vorgeworfenwurde, an der Entführung beteiligt gewesen zusein, ordnete der Oberste Gerichtshof die Wie-deraufnahme des Verfahrens an. Das Beru-fungsgericht Mailand hatte im Dezember 2010die Anklage gegen sie fallen gelassen, nach-dem die Regierung die Offenlegung der wich-tigsten Beweismaterialien mit der Begründungverweigert hatte, es handele sich um »Staatsge-heimnisse«. Das Berufungsgericht wurde er-sucht, Tragweite und Abgrenzung von »Staats-geheimnissen« einer Überprüfung zu unter-ziehen und darzulegen, inwieweit dies im Wie-deraufnahmeverfahren Berücksichtigung fin-den werde.

Gleichfalls im September forderte das Euro-päische Parlament Italien und andere Mit-gliedstaaten der EU auf, Informationen über alleverdächtigen Flugzeuge offenzulegen, die imZusammenhang mit dem CIA-Programm füraußerordentliche Überstellungen und Ge-heimgefängnisse eingesetzt worden waren,gründliche Ermittlungen zur Rolle der eigenenRegierung bei den CIA-Operationen durchzu-führen und auf Anfrage Zugang zu allen ent-sprechenden Informationen zu gewähren.

Folter und andere MisshandlungenIm Oktober 2012 stimmte das Parlament für dieRatifizierung des Fakultativprotokolls zum UN-Übereinkommen gegen Folter, ohne jedoch,wie im Übereinkommen vorgesehen, Folter alsStraftat ins italienische Strafgesetzbuch aufzu-nehmen. Es wurden keine systematischenMaßnahmen ergriffen, um die Verantwortlichenfür Übergriffe der Polizei zur Rechenschaft zuziehen oder solche Vorfälle zu verhindern. Invielen Gefängnissen und vergleichbaren Ein-richtungen waren die Haftbedingungen und dieBehandlung der Häftlinge unmenschlich undverstießen gegen Grundrechte der Insassen wie

das Recht auf Gesundheit. Im April veröffent-lichte der Senat einen Bericht über die Zu-stände in den italienischen Gefängnissen undden Haftzentren für Migranten. Er dokumen-tierte die gravierende Überbelegung der Haft-einrichtungen, die fehlende Respektierung derMenschenwürde und die Nichtbeachtung an-derer internationaler Verpflichtungen.

Verfahren zum G8-Gipfel in GenuaAm 5. Juli 2012 bestätigte der Oberste Gerichts-hof die Urteile, die im Berufungsverfahren ge-gen 25 Polizeibeamte und hochrangige Polizei-funktionäre wegen Folterung und Misshand-lung von Demonstrierenden am 21. Juli 2001verhängt worden waren. Mehrere hochrangigeBeamte wurden wegen Fälschung von Verhaf-tungsprotokollen zu Haftstrafen verurteilt, dievon drei Jahren und acht Monaten bis zu fünfJahren reichten. Aufgrund eines Gesetzes,das die Zahl der Gefangenen in den italieni-schen Haftanstalten verringern soll und eineHerabsetzung aller Urteile um drei Jahre er-möglicht, musste keiner der Verurteilten seineFreiheitsstrafe antreten, alle wurden jedoch fürfünf Jahre vom Dienst suspendiert. Die gegenneun Polizeibeamte im Berufungsverfahren er-gangenen Urteile wegen schwerer Körperver-letzung wurden hinfällig, weil vor Abschluss desRechtsmittelverfahrens vor dem Obersten Ge-richtshof die Verjährung eintrat. Die Beamtenwurden daher auch weiter im Dienst belassen.Alle verurteilten Polizeibeamten, auch die, dieunter die Verjährungsregelung fielen, musstenjedoch mit Disziplinarverfahren rechnen.

Rechtswidrige TötungenMangelhafte Ermittlungen zu einer Reihe vonTodesfällen im Gewahrsam der Sicherheits-kräfte hatten zur Folge, dass die verantwort-lichen Polizisten und Strafvollzugsbeamtennicht zur Rechenschaft gezogen werden konn-ten. Es bestand die Befürchtung, dass denkommunalen Polizeikräften ohne angemesseneSicherheitsvorkehrungen Schusswaffen zuge-teilt wurden und die Beamten diese in einerWeise einsetzten, die nicht im Einklang mitdem internationalen Recht stand.

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188 Italien

ý Am 13. Februar 2012 kam der unbewaffnete28-jährige Chilene Marcelo Valentino GómezCortés durch Schüsse eines Beamten derStadtpolizei Mailand zu Tode. Im Oktoberwurde der Polizist in erster Instanz wegen einesTötungsdelikts zu zehn Jahren Haft verurteilt,er legte jedoch Berufung ein. Nach dem Vorfallwar er in den Innendienst versetzt worden undmusste seine Dienstwaffe abgeben.ý Im März 2012 wurde im Fall von Aldo Bian-zino, der im Jahr 2007 in Perugia zwei Tagenach seiner Verhaftung im Gefängnis gestorbenwar, ein Strafvollzugsbeamter wegen unterlas-sener Hilfeleistung und Urkundenfälschung zueiner Bewährungsstrafe von 18 Monaten ver-urteilt. Im Verfahren wurden Mängel bei denunmittelbar nach dem Todesfall durchgeführ-ten Ermittlungen festgestellt. Die Familie desOpfers setzte sich weiter öffentlich für die Wie-dereröffnung des Verfahrens ein.ý Im April 2012 verkündete ein erstinstanz-liches Gericht einen Freispruch gegen einenArzt, der wegen fahrlässiger Tötung des 43-jäh-rigen Giuseppe Uva angeklagt war. Dem Arztwar vorgeworfen worden, dem Mann eine fal-sche medizinische Behandlung verordnet zuhaben. Giuseppe Uva war 2008 in Varese we-nige Stunden nach seiner Festnahme durch diePolizei in einem Krankenhaus gestorben. DasGericht ordnete eine erneute Untersuchunginsbesondere zum Zeitraum zwischen der Fest-nahme und der Ankunft im Krankenhaus an.Gerichtsmedizinische Untersuchungen, die imDezember 2011 durchgeführt worden waren,hatten ergeben, dass Uva möglicherweise ver-gewaltigt und misshandelt worden war.

Gewalt gegen FrauenGewalt gegen Frauen war nach wie vor weit ver-breitet. In 122 Fällen, die im Berichtsjahr ge-meldet wurden, führte sie zum Tod des Opfers.Die UN-Sonderberichterstatterin über Gewaltgegen Frauen stellte im Juni fest, dass unge-achtet aller Verbesserungen in der Gesetzge-bung und bei der Polizei die Zahl entsprechen-der Todesfälle nicht abgenommen hatte. Sieempfahl u. a. die Einrichtung einer unabhängi-gen nationalen Menschenrechtsinstitution mit

einer spezifischen Abteilung für Frauenrechte,die Verabschiedung eines Gesetzes zur Ver-hinderung von Gewalt gegen Frauen und eineÄnderung des Straftatbestands der illegalenEinwanderung, damit auch Migrantinnen ohneregulären Aufenthaltsstatus die italienischenGerichte anrufen können.

Entwicklungen in Justiz, Verfassungund InstitutionenIm Dezember 2012 verabschiedete das italieni-sche Parlament ein längst überfälliges Gesetz,um die Anforderungen im Römischen Statutdes Internationalen Strafgerichtshofs zu erfül-len, das Italien bereits 1999 ratifiziert hat.Außerdem wurden im Jahr 2012 Maßnahmenergriffen, um eine geregelte Grundlage für diejustizielle Zusammenarbeit mit dem Interna-tionalen Strafgerichtshof zu schaffen.

Im selben Monat gelangte der Parlamentsaus-schuss, der den Gesetzentwurf für die Einrich-tung einer nationalen Menschenrechtsinstitu-tion zu prüfen hatte, zu dem Schluss, dass derEntwurf, der bereits eine lange Debatte im Senatdurchlaufen hatte, wegen der bevorstehendenParlamentswahlen nicht mehr in der zu Ende ge-henden Legislaturperiode von der Abgeordne-tenkammer verabschiedet werden könne. Inter-nationale Organe wie das Büro der UN-Hoch-kommissarin fürMenschenrechtehattenbereitskritisiert, dass Italien noch keine nationaleMenschenrechtsinstitution eingerichtet hat, dieinternationalen Standards entspricht.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Vertreter von Amnesty International besuchten Italien im

März, April, Juni, September, November und Dezember.ÿ S.O.S. Europe: Human rights and migration control,

http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR01/013/2012/en

ÿ Italy : Briefing to the UN Committee on the Elimination of Ra-cial Discrimination: 80th session, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR30/001/2012/en

ÿ On the edge: Roma, forced evictions and segregation in Italy,http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR30/010/2012/en

ÿ Exploited labour: Migrant workers in Italy’s agriculturalsector, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR30/020/2012/en

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Jamaika 189

JamaikaAmtliche Bezeichnung: JamaikaStaatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten

durch Sir Patrick Linton AllenRegierungschefin: Portia Simpson Miller (löste im

Januar Andrew Holness im Amt ab)

In Innenstadtvierteln wurden 2012 wei-terhin zahlreiche Menschen durch kri-minelle Banden ermordet oder von derPolizei getötet. Ermittlungen in Fällenmutmaßlicher Menschenrechtsverletzun-gen während des im Jahr 2010 verhäng-ten Ausnahmezustands machten keinenennenswerten Fortschritte. Nach vor-liegenden Informationen wurden Lesben,Schwule, Bisexuelle, Transgender undIntersexuelle in verstärktem Maße ange-griffen und drangsaliert. Todesurteilewurden weder verhängt noch vollstreckt.

HintergrundIm Januar 2012 fand ein Regierungswechselstatt. In ihrer Antrittsrede versprach Premier-ministerin Portia Simpson Miller, einen Prozesszur Umwandlung Jamaikas in eine Republik inGang zu setzen.

Im Juli legte die Regierung dem Repräsentan-tenhaus drei Gesetzentwürfe vor, deren Ziel eswar, statt des in London ansässigen Rechtsaus-schusses des Kronrats (Judicial Committee ofthe Privy Council – JCPC) den Karibischen Ge-richtshof als letzte Berufungsinstanz Jamaikaseinzusetzen. Die Parlamentsdebatte wurde je-doch vertagt, nachdem die Opposition einge-wandt hatte, dass eine derartige Änderungeines Referendums bedürfe.

Das hohe Ausmaß an Gewalt durch kriminelleBanden, vor allem in den marginalisiertenVierteln der Innenstädte, gab nach wie vor An-lass zu Besorgnis. Laut Berichten wurden imJahr 2012 insgesamt 1087 Menschen ermordet.Im April wurden erste Maßnahmen einerneuen nationalen Sicherheitspolitik publik ge-macht.

Polizei und SicherheitskräfteDie Anzahl der von der Polizei getöteten Men-schen war 2012 geringer als im Vorjahr, bliebjedoch besorgniserregend hoch. Mehrere Per-sonen wurden unter unklaren Umständen ge-tötet.

Aufgrund der öffentlichen Empörung über dieAnfang März innerhalb von sechs Tagen vonder Polizei verübten Tötungen von 21 Personenkündigte der Minister für nationale Sicherheitan, dass die Politik der Anwendung von Gewaltdurch die Polizei überprüft werden solle unddie Regierung »den Polizeipräsidenten und denFührungsstab in die Pflicht nehmen werde,um die Fälle von Schusswaffengebrauch mitTodesfolge durch Polizeibeamte zu reduzie-ren«. Zum Jahresende lagen jedoch noch keineInformationen darüber vor, wie diese Ankündi-gungen umgesetzt werden sollen.

Im Juli 2012 wurden drei Soldaten angeklagt,Keith Clarke in der ersten Woche des Ausnah-mezustands von 2010 in seiner Wohnung er-mordet zu haben. Entgegen seiner wiederholtgegebenen Zusagen unterbreitete der Ombuds-mann (Public Defender) dem Parlament bis-her keinen Bericht über seine Untersuchungs-ergebnisse in Fällen mutmaßlicher Menschen-rechtsverletzungen, darunter ungesetzliche Tö-tungen, die während des Ausnahmezustandsbegangen worden waren. Die Regierung er-klärte, dass die Entscheidung über die Einset-zung einer unabhängigen Kommission zur Un-tersuchung der Geschehnisse von den Ergeb-nissen der vom Ombudsmann durchgeführtenUntersuchung abhänge.

Im Juni 2012 legte die Unabhängige Kommis-sion zur Untersuchung mutmaßlicher Über-griffe durch Sicherheitskräfte (Independent

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190 Jamaika

Commission of Investigations into abuses bythe security forces – INDECOM) dem Parlamentihren Bericht vor. Darin stellte sie fest, dasssich geheime Absprachen zwischen Angehöri-gen der Sicherheitskräfte, das Tragen vonMasken und Sturmhauben während der Opera-tionen sowie Verzögerungen beim Erhalt krimi-naltechnischer Beweise als Hauptschwierigkei-ten bei der Untersuchung herausgestellt hät-ten. Nach mehreren Anfechtungsklagen derPolizei gegen INDECOM wurde eine Überprü-fung der Gesetzgebung in Angriff genommenmit dem Ziel, die Befugnisse und das Mandatvon INDECOM zu klären.

Im Oktober kündigte der Minister für nationaleSicherheit an, dass die Regierung beabsich-tige, die Kommission von der Überwachung derPolizeireform zu entbinden. Zivilgesellschaft-liche Organisationen kritisierten diese Entschei-dung.

JustizsystemBerichten zufolge kam es 2012 erneut zu be-trächtlichen Verzögerungen in der Rechtspre-chung. Es wurde insbesondere darauf hinge-wiesen, dass die Justizbehörden nicht ange-messen auf die Abwesenheit von Zeugen rea-gierten und nicht in ausreichender AnzahlBürger für eine Tätigkeit als Geschworene zurVerfügung standen. Das Parlament debattierteweiterhin über den Gesetzentwurf zu gericht-lichen Voruntersuchungen (Committal Pro-ceedings Bill); hierdurch sollen Voruntersu-chungen abgeschafft und somit Verzögerun-gen vermieden werden.

KinderrechteLaut Informationen lokaler Menschenrechtsor-ganisationen wurden Jungen nach wie vor inPolizeistationen festgehalten, oft zusammen mitErwachsenen. Es existierten keine Pläne zurEinrichtung eines separaten Untersuchungsge-fängnisses für Mädchen. Im September gabder Jugendminister bekannt, dass innerhalbeines Monats eine Eingabe an das Kabinettvorbereitet werde mit Empfehlungen, nach de-nen straffällig gewordene Kinder, für die Un-tersuchungshaft angeordnet wurde oder die auf

ihren Gerichtstermin warten, nicht in densel-ben Einrichtungen untergebracht werden sol-len, in denen Erwachsene einsitzen. ZumJahresende lag keine Information darüber vor,ob die Eingabe wie angekündigt dem Kabinettvorgelegt worden war.

Gewalt gegen Frauen und MädchenSexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchengab weiterhin Anlass zu Besorgnis. Am27. September gab das Büro der Premierminis-terin nach einem Treffen mit mehreren Vertre-tern der Regierung und Zivilgesellschaft die Zu-sage, einen Aktionsplan zur Verhinderung vonGewalt gegen Frauen aufzulegen.

Im Juli empfahl der UN-Ausschuss für die Be-seitigung der Diskriminierung der Frau (CE-DAW-Ausschuss) u. a., das Aufgabenspektrumdes Büros für Frauenangelegenheiten um dieErhebung und Auswertung umfassender Datenzur Gewalt gegen Frauen zu erweitern und dieHilfs- und Unterstützungsprogramme für Opferzu verbessern.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellen (LGBTI)LGBTI-Organisationen berichteten, dass LGBTIverstärkt angegriffen, drangsaliert und bedrohtwurden. Viele der Angriffe wurden nicht voll-ständig und umgehend untersucht.

Während des Wahlkampfes im Dezember2011 hatte Premierministerin Portia SimpsonMiller erklärt, dass niemand wegen seiner sexu-ellen Orientierung diskriminiert werden dürfe.Einmal gewählt, unternahm die Regierung je-doch nichts, um diskriminierende Gesetze ab-zuschaffen.

Bei der Interamerikanischen Menschen-rechtskommission wurde eine zweite Be-schwerde gegen Bestimmungen des Gesetzesüber rechtswidrige Handlungen (OffencesAgainst the Person Act) – allgemein als buggerylaw bezeichnet – mit der Begründung einge-legt, dass diese verfassungswidrig seien undHomophobie förderten.

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Japan 191

TodesstrafeTodesurteile wurden 2012 nicht gefällt. SiebenPersonen befanden sich am Jahresende imTodestrakt.

Amnesty International: Berichteÿ Jamaica must tackle shocking wave of police killings,

http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/jamaica-must-tackle-shocking-wave-police-killings-2012-03-07

ÿ Jamaica: One more year without justice,http://amnesty.org.14feb-youth.com/en/library/info/AMR38/002/2012/en

JapanAmtliche Bezeichnung: JapanStaatsoberhaupt: Kaiser AkihitoRegierungschef: Shinzo Abe (löste im Dezember

Yoshihiko Noda im Amt ab)

In Japans Strafjustizwesen kam es zuAmtsmissbrauch durch die Polizei undzu Unregelmäßigkeiten bei polizeilichenVernehmungen. Die Behörden lehntenweiterhin Forderungen nach Gerechtig-keit für die Überlebenden der sexuellenSklaverei durch das japanische Militärab. Nachdem 20 Monate lang keine

Hinrichtungen stattgefunden hatten,nahm Japan die Vollstreckung von To-desurteilen wieder auf. Die Anzahl derPersonen, denen der Flüchtlingsstatusgewährt wurde, war nach wie vor extremniedrig.

HintergrundDie Liberaldemokratische Partei unter der Füh-rung von Shinzo Abe gewann am 16. Dezem-ber 2012 die Parlamentswahlen. Obwohl Japanseit 2007 Vertragspartei des Römischen Sta-tuts des Internationalen Strafgerichtshofs ist,hat das Land seine aus diesem Abkommen re-sultierenden Verpflichtungen noch immernicht erfüllt. Infolge des Erdbebens von 2011in der Tohoku-Region in Ostjapan lebten nachwie vor etwa 160000 Menschen in Notunter-künften oder waren außerhalb der Präfektur Fu-kushima untergebracht. Im Oktober 2012 gabGreenpeace bekannt, dass mehrere Strah-lungskontrollstationen der Regierung dieStrahlungswerte u. a. bei der Überprüfung vondekontaminierten Stellen als zu gering anga-ben. Zehntausende Menschen beteiligten sichan den Protesten gegen die erneute Inbetrieb-nahme von Atomkraftwerken, die über mehrereMonate hinweg im gesamten Land stattfan-den.

JustizwesenDas Untersuchungshaftsystem daiyo kangoku,das es der Polizei gestattet, Straftatverdächtigebis zu 23 Tage lang festzuhalten, begünstigteweiterhin Folterungen und andere Misshand-lungen, die darauf zielten, bei Vernehmungen»Geständnisse« zu erpressen. Der Sonderaus-schuss des Gesetzgebungsrats des Justizminis-teriums debattierte nach wie vor über mög-liche Reformen des Strafjustizwesens.ý Der nepalesische Staatsbürger Govinda Pra-sad Mainali wurde am 7. November 2012 vonder Mordanklage freigesprochen, nachdem er15 Jahre in Haft verbracht hatte. Während sei-ner Inhaftierung nach dem Untersuchungshaft-system daiyo kangoku wurde er misshandeltund erhielt keinen Zugang zu einem Anwalt.Nachdem der Staatsanwaltschaft neue Er-

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192 Jemen

kenntnisse vorlagen, die seine Unschuld bewie-sen, wurde er freigelassen.

Gewalt gegen Frauen und MädchenAls im Oktober 2012 im Rahmen der Universel-len Regelmäßigen Überprüfung des UN-Men-schenrechtsrats die japanische Menschen-rechtsbilanz beurteilt wurde, erklärten Regie-rungsvertreter, dass die Entschädigung für diesogenannten Trostfrauen bereits durch denFriedensvertrag von San Francisco sowie bilate-rale Abkommen und Verträge geregelt sei. Am4. November gehörte Shinzo Abe, seinerzeitOppositionsführer, zu den Unterzeichnerneiner Anzeige in US-amerikanischen Zeitungen,in der bestritten wurde, dass die Kaiserlich-Ja-panische Armee während des Zweiten Welt-kriegs Frauen in die sexuelle Sklaverei für dasMilitär gezwungen habe.

TodesstrafeIm Berichtsjahr wurden sieben Menschen hin-gerichtet, darunter die erste Frau seit über 15Jahren. 133 Gefangenen drohte weiterhin dieVollstreckung der Todesstrafe. Die von derehemaligen Ministerin Keiko Chiba zur Unter-suchung der Todesstrafe im Justizministeriumeingerichtete Arbeitsgruppe wurde im März vonJustizminister Toshio Ogawa aufgelöst, ohnedass sie zuvor eindeutige Empfehlungen gege-ben hatte.ý Am 3. August 2012 wurde Junya Hattori hin-gerichtet. Das Bezirksgericht Shizuoka hatteihn zu lebenslanger Haft verurteilt, doch dasHohe Gericht Tokio verhängte die Todesstrafegegen ihn, nachdem die StaatsanwaltschaftRechtsmittel eingelegt hatte. Das Oberste Ge-richt hatte die Todesstrafe gegen ihn im Februar2008 bestätigt.

Asylsuchende und FlüchtlingeDie Zahl der Asylanträge stieg 2012 auf über2000 an, verglichen mit 1867 im Vorjahr, dochdie Zahl der Personen, denen der Asylstatus ge-währt wurde, blieb niedrig. Die meisten An-tragsteller stammten aus Myanmar. Das japani-sche Pilotprojekt zur dauerhaften Ansiedlungvon Flüchtlingen aus Myanmar, deren Status in

Thailand geklärt worden war, wurde im Märzum weitere zwei Jahre verlängert. Im Berichts-jahr wurde niemand über das Programm auf-genommen, nachdem drei Familien ihren An-trag zurückgezogen hatten.

JemenAmtliche Bezeichnung: Republik JemenStaatsoberhaupt: Abd Rabbo Mansur Hadi (löste

im Februar Ali Abdullah Saleh im Amt ab)Regierungschef: Mohammed Salim Basindwa

Während der Übergangszeit nach denMassenprotesten von 2011, die den da-maligen Präsidenten Ali Abdullah Salehaus dem Amt verdrängt hatten, verbes-serte sich die Menschenrechtslage im Je-men. Trotzdem blieb das Schicksal derMenschen, die 2011 festgenommen wor-den oder »verschwunden« waren, nachwie vor ungeklärt. Ein neues Immunitäts-gesetz schrieb weiterhin Straflosigkeitfür Menschenrechtsverstöße fest, die un-ter der Regierung von Präsident Salehbegangen worden waren. Die meisten Tö-tungen von Protestierenden sowie dieübrigen Menschenrechtsverletzungen

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aus den Jahren 2011 und 2012 wurdennicht untersucht. Keine Gerechtigkeitwurde jenen zuteil, die während der be-waffneten Konflikte in Teilen des Lan-des Opfer von Menschenrechtsverletzun-gen und von Verstößen gegen das huma-nitäre Völkerrecht geworden waren. Über20 Personen, die während der Auf-stände im Jahr 2011 und bei weiterenProtestaktionen willkürlich festgenom-men worden waren, blieben in Gewahr-sam oder galten als »verschwunden«. Esgab erneut Berichte über Folter und an-derweitige Misshandlungen. Als Antwortauf die Unruhen im Süden des Landeswandten Sicherheitskräfte und mitihnen zusammenarbeitende Gruppierun-gen exzessive Gewalt an und tötetenmindestens zwölf Personen. ZahlreicheMenschen, die an Protestaktionen teil-nahmen oder die Abspaltung Südjemensbefürworteten, wurden willkürlich fest-genommen. Ansar al-Shari’a (Partisanender Scharia), eine bewaffnete Gruppie-rung mit Verbindungen zu Al-Qaida aufder Arabischen Halbinsel, kontrolliertebis Juni 2012 Teile der Provinz Abyanund beging Menschenrechtsverstößewie summarische Tötungen oder Zwangs-amputationen. Eine Militäroffensive derRegierung mit dem Ziel, Ansar al-Shari’aaus den von ihr kontrollierten Städtenzu vertreiben, führte auf beiden Seitenzu Menschenrechtsverletzungen undVerstößen gegen das humanitäre Völker-recht und hatte den Tod zahlreicher Zi-vilpersonen zur Folge. Frauen und Mäd-chen blieben weiterhin vor dem Gesetzund im täglichen Leben diskriminiertund wurden Opfer von häuslicher Ge-walt. Es gab Meldungen über Sklaverei ineinigen Teilen des Landes. Die prekärehumanitäre Lage der Bevölkerung er-reichte einen neuen Höhepunkt. Gegenmindestens sieben Personen ergingenTodesurteile, und mehr als 28 Men-schen wurden hingerichtet. Darunter be-

fanden sich mindestens zwei Straftäter,die zur Tatzeit noch minderjährig waren.

HintergrundAm 25. Februar 2012 wurde Abd Rabbo Man-sur Hadi, der ehemalige Vizepräsident desLandes, in das Amt des Präsidenten eingeführt.Bei den vorausgegangenen Präsidentschafts-wahlen war er der einzige Kandidat gewesen.Die Wahl war Bestandteil der Vereinbarungüber die Machtübergabe, die durch die Vermitt-lung des Golfkooperationsrats (Gulf Coopera-tion Council – GCC) zustande gekommen undam 23. November 2011 vom damaligen Präsi-denten Saleh unterzeichnet worden war. Derneue Präsident und die im Dezember 2011 ge-bildete »Regierung der nationalen Versöhnung«wurden mit der Durchführung eines zweijähri-gen Übergangsprozesses beauftragt. Die Regie-rung muss demnach einen Nationalen Dialogins Leben rufen, einen Volksentscheid übereine neue Verfassung organisieren, das Wahl-system reformieren, das Militär und die Sicher-heitskräfte neu aufstellen sowie Maßnahmenzur Sicherung eines Übergangsjustizwesenseinleiten. Im Anschluss müssen allgemeineWahlen durchgeführt werden, die im Einklangmit der neuen Verfassung stehen.

Ein im Mai eingesetztes Komitee für Öffent-lichkeitsarbeit nahm Verbindung mit verschie-denen Parteien auf, um sie in den NationalenDialog einzubinden. Am 14. Juli trat eine Kom-mission zur Vorbereitung des Nationalen Dia-logs zusammen und überreichte PräsidentHadi eine Liste mit 20 Empfehlungen für einenerfolgreichen Ablauf des Vorhabens. Dem-nach sollte sich die Regierung bei den Men-schen im Süden und in der Provinz Sa’dah imNorden des Landes für die in der Vergangenheitbegangenen Menschenrechtsverletzungenentschuldigen. Alle Gefangenen, die im Zusam-menhang mit der Bewegung des Südens so-wie dem Sa’dah-Konflikt und den Protestaktio-nen im Jahr 2011 festgenommen worden wa-ren, seien sofort freizulassen. Bis Ende 2012war noch keine der Empfehlungen umgesetztworden. Im Dezember kündigte Präsident Hadieine Umstrukturierung der Streitkräfte an. Der

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Kommandant der Republikanischen Garde (einSohn des ehemaligen Präsidenten), der Stabs-chef des zentralen Sicherheitsdienstes, einNeffe des ehemaligen Präsidenten, sowie derKommandeur der ersten Panzerdivision der Ar-mee wurden ihrer Ämter enthoben.

Auch wenn sich der Übergangsprozess stabi-lisierend auf das Land auswirkte, blieb dieLage unsicher, und es kam zu Entführungen.Nach der Ermordung des Rechtsanwalts Has-san al-Dawlah im Dezember 2012 bestand dieBefürchtung, dass er wegen seiner Arbeit insFadenkreuz geraten sein könnte.

Die humanitäre Krise im Land verschärfte sichweiter. Die Menschen hatten mit akuten Eng-pässen bei der Lebensmittel- sowie der Wasser-und sonstigen Grundversorgung zu kämpfen.Die Arbeitslosenzahlen und die Lebenshal-tungskosten stiegen, und es kam zu Kürzun-gen bei der Strom- und Ölversorgung. Interna-tionale Geberländer sagten dem Jemen wäh-rend der Übergangszeit Hilfszahlungen vonüber 7 Mrd. US-Dollar zu. Demgegenüber for-derten jemenitische Hilfsorganisationen zielge-richtete Notfallhilfen, um eine Hungersnot ab-zuwenden.

Gegen mindestens 28 Menschen erging imZusammenhang mit einem Überfall auf denPräsidentenpalast am 3. Juni 2011 Anklage. Beidem Angriff waren der damalige Präsident Sa-leh verletzt und weitere Personen getötet oderverletzt worden. Bis Ende 2012 hatte der Pro-zess gegen die Angeklagten noch nicht begon-nen. Einige von ihnen waren dem Vernehmennach gefoltert oder anderweitig misshandeltworden.

StraflosigkeitAm 21. Januar 2012 erließ die Regierung inÜbereinstimmung mit der Vereinbarung zurMachtübergabe das ImmunitätsgesetzNr. 1–2012. Es gewährte dem ehemaligen Prä-sidenten Saleh und allen unter seiner Regie-rung dienenden Personen Immunität vor straf-rechtlicher Verfolgung wegen »politisch moti-vierter Handlungen« im Rahmen der Aus-übung ihrer Dienstgeschäfte. Für die vielenMenschen, die während der langen Regie-

rungszeit Präsident Salehs Opfer von willkür-lichen Festnahmen, Folter, außergerichtlichenHinrichtungen, Verschwindenlassen und ande-ren Menschenrechtsverletzungen gewordenwaren bzw. ihren Angehörigen, wurde es somitunmöglich, Gerechtigkeit, Wahrheit und Wie-dergutmachung einzufordern. Das Immunitäts-gesetz unterläuft Jemens Verpflichtung nachinternationalem Recht, allen Verbrechen gegendas Völkerrecht und anderen Menschen-rechtsverletzungen nachzugehen und straf-rechtliche Maßnahmen gegen die Verantwort-lichen einzuleiten.

Ein Entwurf für ein Gesetz zum Übergangsjus-tizwesen und für nationale Versöhnung wurdenoch beraten. Sollte das Gesetz verabschiedetwerden, könnten Opfer und Überlebende Wie-dergutmachung erhalten. Der Entwurf hebt al-lerdings Vergebung als wichtigen Bestandteilder Versöhnung hervor und gibt Opfern von frü-heren Menschenrechtsverletzungen keineMöglichkeit, ihre Rechte einzuklagen.

Zahlreichen Vorfällen während der Unruhenim Jahr 2011, bei denen Protestierende getötetwurden und bei denen es zu Menschenrechts-verletzungen kam, ist offenbar gerichtlichnicht nachgegangen worden. Es gab auchkeine Untersuchungen zu den Vorwürfen überMenschenrechtsverletzungen und Verstöße ge-gen das Völkerrecht während der bewaffnetenKonflikte in Ta’izz und in anderen Teilen desLandes. Im zweiten Halbjahr 2011 war es wäh-rend der Kämpfe zwischen Regierungstruppenund bewaffneten Anhängern von Sadeq al-Ah-mar, einem Stammesführer in al-Hasaba,einem Vorort von Sana’a, u. a. zu offenbarwahllosen und unverhältnismäßigen Angriffengekommen, bei denen Zivilpersonen ums Le-ben gekommen waren.

Am 22. September erließ der Präsident jedochein Dekret zur Bildung einer Untersuchungs-kommission, die Menschenrechtsverletzungenund Verstößen gegen das humanitäre Völker-recht während der Aufstände im Jahr 2011nachgehen sollte. Bis Ende 2012 hatte dieKommission ihre Arbeit aber noch nicht aufge-nommen.

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Willkürliche Festnahmenund InhaftierungenDie meisten Personen, die sich im Zusammen-hang mit den Protestaktionen gegen die Regie-rung im Jahr 2011 in Haft befanden, kamen An-fang 2012 frei. Viele von ihnen waren willkür-lich über Wochen oder Monate ohne Anklageer-hebung oder Gerichtsverfahren von verschie-denen Gruppierungen der Sicherheitskräfte ininoffiziellen Haftzentren festgehalten worden.Einige der Gefangenen sollen gefoltert und an-derweitig misshandelt worden sein. Mindes-tens 20 Personen gelten nach wie vor als will-kürlich inhaftiert oder sind »verschwunden«,nachdem sie 2011 an Protestaktionen teilge-nommen hatten oder im Jahr 2012 festgenom-men worden waren.ý Der etwa 13-jährige Al-Nahari Mohammed Alial-Nahari kam im Juli 2012 ohne Anklageerhe-bung aus der Haft frei. Er war im Mai 2011 »ver-schwunden«, nachdem er an Protestaktionenin Sana’a teilgenommen hatte. Es wird ange-nommen, dass er sich beim nationalen Sicher-heitsdienst in geheimer Haft befand. Als Folgevon wiederholten Schlägen während seinerHaft ist er auf einem Ohr taub.

Die Protestlager in Ta’izz und Sana’a bliebenweiterhin bestehen. Die Zeltstadt auf dem al-Taghyeer-Platz in Sana’a stand fortgesetzt unterder Bewachung der Ersten Panzerdivision derArmee, die die Proteste zwar unterstützt hatte,laut Berichten aber weiterhin Festnahmen undInhaftierungen ohne Anklageerhebung oderGerichtsverfahren durchführte.

FrauenrechteFrauen und Mädchen wurden weiterhin diskri-miniert, sowohl durch die Gesetze als auch imtäglichen Leben. Dies betraf vor allem ihreRechte bei Eheschließungen, Scheidungen,dem Sorgerecht für die Kinder und Erbschafts-angelegenheiten. Häusliche Gewalt und an-dere geschlechtsspezifische Übergriffe gegenFrauen blieben an der Tagesordnung.

In den Protestlagern traten die Frauen immermehr in den Hintergrund. Einige Frauen waren2011 von Frauen, die offensichtlich der größtenOppositionspartei Islah nahestanden, einge-

schüchtert und geschlagen worden. Damit soll-ten sie davon abgehalten werden, sich ge-meinsam mit Männern an Protestmärschen zubeteiligen und gegen den Kommandeur derErsten Panzerdivision zu demonstrieren.

Exzessive GewaltanwendungDie Sicherheitskräfte wandten vor allem inAden und anderen Städten im Süden des Lan-des weiterhin exzessive Gewalt gegen Protestie-rende an und gingen dabei straffrei aus. Ledig-lich zwei gerichtliche Untersuchungen zu Tö-tungen von Demonstrierenden während derAufstände im Jahr 2011 führten zur strafrecht-lichen Verfolgung der Verantwortlichen.ý Im Juni 2012 ergingen gegen drei Männer inAbwesenheit Todesurteile. Sie hatten Berich-ten zufolge für die örtlichen Behörden gearbei-tet und am 17. Februar 2011 einen Granaten-anschlag auf den Platz der Freiheit in Taizz ver-übt, bei dem ein Protestierender ums Lebenkam und 15 weitere Personen verletzt wurden.ý Gegen 79 Männer erging Anklage im Zusam-menhang mit der Tötung von zahlreichen Pro-testierenden in Sana’a am 18. März 2011. ImJuni teilte der Generalstaatsanwalt mit, dasssich nur noch 14 der Angeklagten in Gewahr-sam befänden. Die anderen seien entwederauf Kaution freigelassen worden oder befändensich noch immer auf der Flucht. Der Prozessvor dem Sonderstrafgericht wurde ausgesetzt.Der Richter wollte sich erst beim Obersten Ge-richtshof bezüglich der Anwendung des Immu-nitätsgesetzes versichern. Außerdem warenZweifel aufgekommen, ob es sich bei den Ange-klagten tatsächlich um die Täter handelte.ý Bei einer im Jahr 2011 eingeleiteten offiziel-len Untersuchung der Tötung von Protestie-renden auf dem Platz der Freiheit in Taizz am29. März 2011 gab es 2012 offenbar keineFortschritte.

Ein Verwaltungsgericht ordnete im Novemberan, dass die Behörden angemessene medizi-nische Behandlung für diejenigen Personen si-cherstellen müssten, die während der Protest-aktionen im Jahr 2011 Verletzungen erlittenhätten. Notfalls müssten sie auch zur Behand-lung ins Ausland gebracht werden. Dies stünde

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im Einklang mit einem Präsidialdekret, dasEnde 2011 erlassen worden sei.

Unterdrückung Andersdenkender –Proteste im Süden des JemenDie Sicherheitskräfte und regierungstreueGruppierungen wandten in Aden und anderenStädten im Süden des Landes auch weiterhinexzessive – auch tödliche – Gewalt gegen Pro-testierende an. Dabei kamen mindestens zwölfMenschen ums Leben, viele weitere wurdenverletzt. Zahlreiche Personen wurden festge-nommen und kurzzeitig inhaftiert. Dies betrafvor allem Anhänger der Bewegung des Südens,einer Gruppierung, die eine Abspaltung desSüdens befürwortet.ý Am 7. Juli 2012 eröffneten Angehörige deszentralen Sicherheitsdienstes in gepanzertenFahrzeugen sowie Scharfschützen das Feuerauf eine friedliche Demonstration in Aden. VierMenschen kamen ums Leben, und 18 Perso-nen erlitten Verletzungen. Als der Protestzugeinen Kreisverkehr erreichte, wurden die Teil-nehmer aus den gepanzerten Fahrzeugen her-aus beschossen. Scharfschützen zielten auf diefliehenden Demonstrierenden.ý Der Student Abdul Raouf Hassan Zain al-Saqqaf, ein Aktivist der Bewegung des Sü-dens, kam am 10. August in Aden zusammenmit vier weiteren Personen in den Gewahrsamder Sicherheitskräfte. Die Gefangenen wurdenauf eine Polizeiwache gebracht und dort mitGewehrkolben und einem Stock geschlagen.Die vier anderen kamen frei. Abdul Raouf Has-san Zain al-Saqqaf wurde jedoch in das Zentral-gefängnis von al-Mansura gebracht, wo er er-neut geschlagen wurde. Anschließend mussteer in einer winzigen Zelle voller Kakerlakenohne Licht und Frischluft in Einzelhaft aushar-ren. Am 13. August kam er frei, wurde jedochmit erneuter Festnahme bedroht. Im Novemberverprügelten ihn unbekannte Männer, die of-fensichtlich der Partei Islah nahestanden, aufbrutale Weise. Als ihn maskierte bewaffneteMänner später entführen wollten, erlitt erSchussverletzungen.

Sicherheitskräfte führten Razzien in Kranken-häusern durch und nahmen verletzte Protes-

tierende fest. Die Hilfsorganisation Ärzte ohneGrenzen schloss im Oktober ihr Hospital inAden, nachdem das Personal während derzahlreichen Razzien von den Sicherheitskräf-ten bedroht worden war.ý Am 27. September wurden zwei von Ärzteohne Grenzen eingestellte Sicherheitskräfte inAden Berichten zufolge geschlagen und mitvorgehaltener Waffe von Unbekannten be-droht.

Bewaffneter Konflikt in AbyanAnsar al-Shari’a beging erneut schwere Men-schenrechtsverstöße in der seit Februar 2011von ihr kontrollierten Stadt Ja’ar in der ProvinzAbyan sowie in anderen Städten der ProvinzShabwa, die später erobert worden waren. Diebewaffnete Gruppierung führte summarischeHinrichtungen durch und verurteilte Personen,denen sie »Verbrechen« zur Last legte, zugrausamen, unmenschlichen und erniedrigen-den Strafen wie Zwangsamputationen derHände. Diskriminierende und repressive so-ziale und religiöse Vorschriften wurden mit Ge-walt oder unter Androhung von Gewalt durch-gesetzt. Angehörige der Gruppierung entführ-ten und schikanierten zudem Personen, diesich für ihre Gemeinschaften einsetzten. DieKämpfe der Regierungstruppen gegen Ansar al-Shari’a hielten während des gesamten Jahresan. Beide Konfliktparteien verletzten das huma-nitäre Völkerrecht. Ansar al-Shari’a setzte dieZivilbevölkerung rücksichtslos Gefahren aus:Munition und Sprengstoff wurde in dicht be-siedelten Wohngebieten gelagert und Angriffein unmittelbarer Nähe von Privathäusern ge-startet; Zivilpersonen wurden festgenommenund misshandelt; der Zugang zu medizini-scher Versorgung war eingeschränkt. Außer-dem setzte die Gruppierung zahlreiche Anti-Personen-Minen und Sprengfallen ein. Die Re-gierungskräfte flogen wahllos und in unange-messener Weise Luftangriffe und rückten mitPanzern, Artillerie und Panzerfäusten gegenAnsar al-Shari’a vor. Dabei kamen zahlreicheZivilpersonen ums Leben oder wurden ver-letzt. Ende Juni 2012 gelang es den Regie-rungsstreitkräften, Ansar al-Shari’a aus Abyan

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und den angrenzenden Gebieten zu vertreiben.Regierungstruppen verweigerten Verwunde-ten die notwendige medizinische Versorgung.Mutmaßliche Ansar-al-Shari’a-Kämpfer fielendem Verschwindenlassen zum Opfer.

Zum Ende des Jahres verübte Ansar al-Scha-ri’a noch immer Bombenattentate und andereAngriffe auf Einrichtungen und Beamte der Re-gierungs- und Sicherheitskräfte.

DrohnenangriffeDie US-Streitkräfte setzten unbemannte Droh-nen ein, um mutmaßliche Anhänger von Al-Qaida in der Provinz Abyan und im übrigenLand anzugreifen. Dies geschah offensichtlichmit Billigung der jemenitischen Regierung. Be-richten zufolge kamen dabei zahlreiche Zivil-personen ums Leben. Es konnte jedoch nichtgeklärt werden, ob sie durch Angriffe von US-Drohnen oder bei Kampfhandlungen der jeme-nitischen Streitkräfte starben. Eine Untersu-chung wurde nicht eingeleitet.

BinnenvertriebeneViele Personen, die wegen des bewaffnetenKonflikts in Abyan und den benachbarten Ge-bieten ihre Häuser verlassen mussten, konntenEnde 2012 in ihre Heimatorte zurückkehren,blieben aber von Anti-Personen-Minen und an-derem von Ansar al-Shari’a zurückgelassenemKriegsmaterial bedroht. Trotzdem gab es nochZehntausende Binnenvertriebene, vor allem inAden.

SklavereiBerichten zufolge wurden und werden in Teilendes Landes seit Generationen Familien alsSklaven gehalten. Offenbar konnte diese Praxisaufgrund fehlender staatlicher Kontrolle unge-hindert weitergeführt werden.

TodesstrafeIm Jahr 2012 ergingen Berichten zufolge min-destens sieben Todesurteile, über 28 Men-schen wurden hingerichtet. Die tatsächlichenZahlen könnten noch weit höher liegen. Min-destens zwei Personen wurden wegen Strafta-ten hingerichtet, die sie im Alter von unter

18 Jahren begangen haben sollen. HundertePersonen saßen dem Vernehmen nach in denTodeszellen, darunter mindestens 25 jugendli-che Straftäter.ý Fuad Ahmed Ali Abdulla wurde am 21. Januar2012 im Gefängnis von Ta’izz wegen einesMordes hingerichtet, den er im Jahr 2004 alsMinderjähriger begangen haben soll.ý Das Todesurteil gegen Hind al-Barati wurdeam 3. Dezember 2012 im Zentralgefängnis vonSana’a vollstreckt. Man legte ihr einen Mord zurLast, den sie im Alter von 15 Jahren begangenhaben soll.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International statteten dem Jemen im

Juni und Juli sowie im Dezember Besuche ab. Davor hattedie Organisation seit Januar 2011 keine Einreiseerlaubnismehr erhalten.

ÿ Yemen’s immunity law: Breach of international obligations,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE31/007/2012/en

ÿ Yemen: Human Rights agenda for change,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE31/012/2012/en

ÿ Conflict in Yemen: Abyan’s darkest hour,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE31/010/2012/en

JordanienAmtliche Bezeichnung:

Haschemitisches Königreich JordanienStaatsoberhaupt: König Abdullah II.Regierungschef: Abdullah Ensour (übernahm das

Amt im Oktober von Fayez Tarawneh, der im MaiAwn al-Khasawneh abgelöst hatte)

Die Sicherheitskräfte setzten exzessiveGewalt ein und nahmen Hunderte meistfriedliche Demonstrierende fest, die Re-formen forderten. Die Rechte auf freieMeinungsäußerung, Vereinigungs- undVersammlungsfreiheit waren weiterhinstark eingeschränkt; für elektronische

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Medien wurden neue Beschränkungeneingeführt. Es gab Berichte über Folte-rungen und andere Formen der Miss-handlung von Häftlingen. Prozesse vordem Staatssicherheitsgericht (State Se-curity Court – SCC) verstießen nach wievor gegen internationale Standards fürfaire Gerichtsverfahren. Hunderte, mög-licherweise Tausende mutmaßlicheStraftäter befanden sich ohne Anklageoder die Aussicht auf ein Gerichtsver-fahren für unbestimmte Zeit in Haft.Frauen sahen sich Diskriminierungenund Gewalt ausgesetzt. Mindestens zehnFrauen sollen im Namen der »Ehre« ge-tötet worden sein. Als Hausangestelltetätige Arbeitsmigranten wurden weiter-hin ausgebeutet und missbraucht. Mel-dungen zufolge wurden einige Flücht-linge gegen ihren Willen nach Syrien zu-rückgeführt. Gegen mindestens 16 Per-sonen ergingen Todesurteile, Hinrichtun-gen fanden jedoch nicht statt.

HintergrundIm gesamten Berichtsjahr fanden erneut De-monstrationen statt, bei denen die Menschenihren Unmut über die schleppenden politi-schen Reformen und über die wirtschaftlicheLage, u. a. die Einschnitte bei den staatlichenZuschüssen für Kraftstoff, zum Ausdruckbrachten. Im November 2012 schlugen die Pro-teste in Gewalt um. Ein Mann kam in Irbid un-

ter ungeklärten Umständen ums Leben. ZweiPolizeibeamte starben an den Folgen vonSchussverletzungen, die sie während der Unru-hen in Karak und Amman erlitten hatten. DerKönig versuchte die Demonstrierenden zu be-schwichtigen und ernannte im Mai sowie er-neut nach der Auflösung des Parlaments imOktober neue Ministerpräsidenten. Für Januar2013 wurden Neuwahlen angesetzt, die im Ein-klang mit dem im Juli per königlichem Dekretverabschiedeten Wahlgesetz stehen sollen. An-gehörige der Opposition beanstandeten, dassregierungstreue Kandidaten in unfairer Weisebevorzugt würden.

Tausende Flüchtlinge überquerten die jorda-nische Grenze, um dem Konflikt in Syrien zuentgehen. Dies bedeutete eine weitere Belas-tung der knappen Ressourcen des Landes.

Im November 2012 verhinderte ein Gericht inGroßbritannien die von der Regierung ge-plante Auslieferung von Abu Qatada nach Jor-danien. Zur Begründung gab das Gericht an,dass es in Jordanien keine Garantien für ein fai-res Gerichtsverfahren gebe (siehe Länderbe-richt Großbritannien).

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Sicherheitskräfte verhafteten Hundertefriedliche Demonstrierende, die sich für politi-sche und andere Reformen einsetzten. Vielevon ihnen wurden bei ihrer Festnahme oderwährend ihrer Haft geschlagen. Im Septemberänderte die Regierung das Presse- und Veröf-fentlichungsrecht und verschärfte die Ein-schränkungen für elektronische Medien. DasGesetz erlaubt es, Internetseiten zu blockierenoder ganz abzuschalten.ý Sechs Angehörige der Reformbewegung FreeTafileh kamen im März 2012 für über einenMonat in Haft. Sie wurden wegen »Beleidigungdes Königs« und anderer Vergehen im Zusam-menhang mit einer gewalttätigen Protestaktionin Tafileh angeklagt, mit der sie offenbar garnichts zu tun hatten. Einem von ihnen, MajdiQableen, wurden dem Vernehmen nach fürdie Dauer seines Verhörs durch Beamte des All-

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gemeinen Geheimdienstes die Augen verbun-den, seine Füße wurden mit Ketten gefesselt,und er wurde geschlagen. Mindestens zweiweitere Gefangene gaben ebenfalls an, in Ge-wahrsam geschlagen worden zu sein. Im Aprilkamen alle Häftlinge ohne Anklageerhebungfrei.ý Ola Saif wurde im November 2012 bei einerfriedlichen Demonstration gegen die Wirt-schaftspolitik in Amman festgenommen. Siesagte, sie sei in der zentralen Abteilung für öf-fentliche Sicherheit von Amman geschlagenworden. Auch habe man ihr keinen Zugang zueinem Rechtsbeistand oder zu ihren Angehöri-gen gewährt. Ihr wurde vorgeworfen, das poli-tische System stürzen zu wollen. Am 5. Dezem-ber kam sie wieder frei.

Folter und andere MisshandlungenAuch 2012 gab es wieder Berichte über Folterund andere Misshandlungen von Häftlingen,die aus Gründen der Sicherheit inhaftiert wa-ren, sowie von Personen, die nach Protestak-tionen, mit denen sie Reformen eingeforderthatten, festgenommen worden waren. Man-che von ihnen wurden über längere Zeiträumehinweg ohne Kontakt zur Außenwelt in Haftgehalten.ý Elf Männer, die am 21. Oktober verhaftet wor-den waren, weil sie angeblich gewalttätigeÜberfälle in Amman geplant hatten, wurdenbeim Allgemeinen Geheimdienst in Ammanmehr als zwei Monate fast ununterbrochenohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten.Der Zugang zu Rechtsbeiständen oder zu ihrenFamilien blieb ihnen versagt. Die meisten ga-ben an, dass sie unter Folter ein »Geständnis«abgelegt hätten.ý Rami al-Sehwal wurde dem Vernehmen nachnackt ausgezogen, gefesselt und zwei Tagelang von Polizisten und Geheimdienstbeamtengeschlagen. Man wollte ihm und weiterenzwölf Männern »eine Lektion erteilen«. DieMänner waren am 30. März 2012 bei einerfriedlichen Protestaktion in Amman festgenom-men worden. Alle 13 Personen kamen ohneAnklageerhebung wieder auf freien Fuß.

Unfaire GerichtsverfahrenDas SSC ging weiterhin strafrechtlich gegen Zi-vilpersonen vor, die angebliche Vergehen ge-gen die Sicherheit begangen hatten. Die Pro-zesse entsprachen nicht den internationalenStandards für faire Gerichtsverfahren. GegenHunderte Menschen, darunter neun Kinder,ergingen Anklagen auf der Grundlage von Arti-keln des Strafgesetzes, welche die friedlicheÄußerung einer anderen Meinung als Straftatdefinieren. Alle Fälle wurden an das SSC zurVerhandlung verwiesen.ý Uday Abu 'Isa wurde im Januar 2012 vomSSC zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe ver-urteilt, weil er bei einer Demonstration ein Bilddes Königs verbrannt hatte. Uday Abu ’Isa galtals gewaltloser politischer Gefangener. SiebenWochen lang wurde er in Haft gehalten unddann im Rahmen einer königlichen Amnestiefreigelassen. Uday Abu ’Isa gab an, die Polizeihabe ihn nach seiner Festnahme geschlagen.

Haft ohne GerichtsverfahrenHunderte, möglicherweise Tausende Men-schen blieben 2012 weiterhin auf der Grund-lage des Gesetzes zur Verbrechensverhütungaus dem Jahr 1954 ohne Anklageerhebungoder Gerichtsverfahren über lange Zeiträumehinweg inhaftiert. Dieses Gesetz gibt Provinz-gouverneuren die Befugnis, Personen, die einerStraftat verdächtig sind oder als »Gefahr fürdie Gesellschaft« angesehen werden, auf unbe-stimmte Zeit und ohne Anklageerhebung zuinhaftieren.

Diskriminierung und Gewalt gegenFrauen und MädchenFrauen wurden weiterhin durch Gesetze und imtäglichen Leben diskriminiert, auch waren sienicht ausreichend gegen sexuelle Gewalt ge-schützt. Berichten zufolge wurden 2012 in Jor-danien mindestens zehn Frauen von männli-chen Familienangehörigen im Namen der»Ehre« getötet.

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung derDiskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss)sowie die UN-Sonderberichterstatterin über Ge-walt gegen Frauen forderten die Regierung

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dringend auf, das Staatsbürgerschafts- undStaatszugehörigkeitsgesetz zu ändern, um esjordanischen Frauen zu ermöglichen, ihreStaatsbürgerschaft an ihre Kinder und ihreEhemänner weiterzugeben, und sie damit jor-danischen Männern gleichzustellen. Außer-dem solle die Regierung ihre Vorbehalte gegenArtikel 9 und 16 des UN-Übereinkommens zurBeseitigung jeder Form von Diskriminierung derFrau (CEDAW) aufgeben. Diese Artikel bezie-hen sich auf die Staatszugehörigkeit und dieDiskriminierung von Frauen in Verwandt-schaftsbeziehungen. Im November ließ der Mi-nisterpräsident verlautbaren, die Regierungwerde sich mit den Vorbehalten befassen.

Rechte von Arbeitsmigrantinnen –HausangestellteEs lagen Berichte vor, wonach in Haushalten tä-tige Arbeitsmigranten, überwiegend Frauen, inden Häusern ihrer Arbeitgeber eingesperrt wur-den, keinen Lohn erhielten und ihre Pässe ab-geben mussten. Oft waren sie physischem, psy-chischem und sexuellem Missbrauch durchihre Arbeitgeber ausgesetzt.

Im Mai 2012 forderte der UN-Ausschuss fürdie Beseitigung der Rassendiskriminierungdie Regierung dringend auf sicherzustellen,dass alle Arbeitnehmer und alle ausländi-schen Arbeitsmigranten und Hausangestelltenohne Ansehen ihrer Nationalität oder ethni-schen Zugehörigkeit in den Genuss aller Ar-beitsrechte kommen.

Flüchtlinge und AsylsuchendeTausende Menschen kamen aus dem benach-barten Syrien nach Jordanien, wo sie Zufluchtvor dem Konflikt in ihrem Heimatland suchten.Laut Angaben des UN-Hochkommissars fürFlüchtlinge (UNHCR) hatten sich im Dezember2012 insgesamt 163088 syrische Flüchtlingeregistrieren lassen oder warteten auf ihre Regis-trierung. Die tatsächliche Zahl der Flüchtlingedürfte noch höher liegen. Meldungen zufolgewurden einige syrische und palästinensischeFlüchtlinge nach Syrien abgeschoben. Am31. August 2012 teilte der jordanische Außen-minister mit, dass rund 200 Syrer vom Flücht-

lingslager al-Za’atari in das Grenzgebiet zwi-schen Jordanien und Syrien gebracht wordenseien, weil sie »randaliert« und zu Gewalt auf-gerufen hätten.

TodesstrafeGegen mindestens 16 Menschen ergingen To-desurteile. Mindestens fünf Todesurteile wur-den in Haftstrafen umgewandelt. Es gab 2012keine Hinrichtungen. Das letzte Todesurteilwurde 2006 vollstreckt.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte Jorda-

nien im Februar und im Juli, um sich ein Bild von der Men-schenrechtslage im Hinblick auf die Situation in Syrien zumachen.

ÿ Jordan: Decision to release two government critics welcomedas positive first step, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE16/001/2012/en

ÿ Jordan: Six pro-reform activists under investigation for»insulting« the King must be released,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE16/002/2012/en

ÿ Jordan: Arbitrary arrests, torture and other ill-treatment andlack of adequate medical care of detained protestors,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE16/003/2012/en

ÿ Jordan: Arrest of 20 pro-reform activists heralds crackdownon freedom of expression, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/jordan-arrest-20-pro-reform-activists-heralds-crackdown-freedom-expression

KambodschaAmtliche Bezeichnung: Königreich KambodschaStaatsoberhaupt: König Norodom SihamoniRegierungschef: Hun Sen

Die Rechte auf freie Meinungsäußerungsowie Vereinigungs- und Versamm-lungsfreiheit wurden 2012 in zunehmen-dem Maße eingeschränkt. Die Behördengingen immer häufiger mit exzessiver Ge-walt gegen friedliche Demonstrierendevor. Menschenrechtsverteidiger sahensich Drohungen, Schikanen, rechtlichen

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Kambodscha 201

Verfahren und Gewalt ausgesetzt. Tau-sende Menschen waren von rechtswidri-gen Zwangsräumungen, Landkonfliktenund Landraub betroffen. Zu den größtenProblemen zählte weiterhin, dass dieje-nigen, die für Menschenrechtsverstößeverantwortlich waren, nicht zur Rechen-schaft gezogen wurden und die Justiznicht unabhängig war, weshalb Tötungennur mangelhaft oder gar nicht unter-sucht wurden. Die Verfahren vor den Au-ßerordentlichen Kammern der Kambod-schanischen Gerichte (ExtraordinaryChambers in the Courts of Cambodia –ECCC) gerieten ins Stocken, währendweiterhin der Vorwurf im Raum stand,die Regierung würde auf das Sondertri-bunal politisch Einfluss nehmen.

HintergrundBei den Kommunalwahlen im Juni 2012 ge-wann die regierende KambodschanischeVolkspartei die Mehrzahl der Mandate. Im Vor-feld der für Juni 2013 angesetzten Parlaments-wahlen schlossen sich zwei Oppositionspar-teien zur Cambodian National Rescue Partyzusammen. Der Vorsitzende der neuen Partei,Sam Rainsy, blieb jedoch im Ausland, umeiner Haftstrafe zu entgehen, die aufgrund poli-tisch motivierter Anklagen gegen ihn verhängtworden war. Der UN-Sonderberichterstatterüber die Lage der Menschenrechte in Kam-bodscha veröffentlichte nach seinem Besuch inKambodscha im Mai zwei äußerst kritischeBerichte. Ein Bericht befasste sich mit dem

Wahlrecht, der zweite behandelte die Frage,wie sich die Vergabe von Landkonzessionen zuökonomischen Zwecken (Economic LandConcessions) auf die Menschenrechte der be-troffenen Gemeinschaften auswirkt. Kambod-scha hatte den Vorsitz des Verbands Südost-asiatischer Nationen (ASEAN) inne. Der Ver-band nahm im November die ASEAN-Men-schenrechtserklärung an, obwohl es Ein-wände gab, dass sie nicht den internationalenStandards entsprach. Der Vater des Königs,Norodom Sihanouk, starb im Oktober im Altervon 89 Jahren.

Exzessive GewaltanwendungDie Behörden gingen immer häufiger gewalt-sam gegen Proteste vor, die mit Landrechts-und Wohnrechtskonflikten oder arbeitsrecht-lichen Auseinandersetzungen in Zusammen-hang standen. Im Januar 2012 eröffneten Si-cherheitskräfte das Feuer auf friedlich De-monstrierende in der Provinz Kratie. Dabei wur-den vier Personen verletzt. Bei einer Demons-tration für bessere Arbeitsbedingungen schossder Gouverneur der Stadt Bavet in der ProvinzSvay Rieng im Februar auf drei Frauen. Im Maiwurde in Kratie ein 14-jähriges Mädchen er-schossen, als Sicherheitskräfte in ein Dorf ein-drangen, um dort eine rechtswidrige Zwangs-räumung vorzunehmen, die 600 Familien be-traf. Im Juli schlugen Polizisten einen Gewerk-schafter und nahmen ihn fest, nachdem eineGruppe von Arbeitern am Sitz des Ministerprä-sidenten eine Petition eingereicht hatte.Zu den genannten Vorfällen wurden keine Un-tersuchungen eingeleitet.

Die Verantwortlichen für tätliche Angriffe ge-gen Menschenrechtsverteidiger gingen nachwie vor straffrei aus.ý Im Dezember 2012 bestätigte das Berufungs-gericht die gegen Born Samnang und Sok SamOeun verhängten Haftstrafen von 20 Jahren.Die beiden Männer waren trotz Mangels anBeweisen und glaubwürdiger Alibis für schuldigbefunden worden, im Jahr 2004 den Gewerk-schaftsführer Chea Vichea ermordet zu haben.Die tatsächlichen Mörder von Chea Vicheablieben auf freiem Fuß.

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Recht auf freie Meinungsäußerung –MenschenrechtsverteidigerDie Behörden drangsalierten Menschenrechts-verteidiger und Angehörige von Gemeinschaf-ten, die sich gegen Zwangsräumungen enga-gieren. Sie drohten ihnen Festnahmen oderstrafrechtliche Verfahren an. Ein Journalist desSenders Radio Free Asia sowie Mitarbeiter derMenschenrechts-NGO Cambodian HumanRights and Development Association und desKambodschanischen Zentrums für Menschen-rechte (Cambodian Center for Human Rights)wurden von einem Gericht vorgeladen. Sie soll-ten Fragen im Zusammenhang mit ihren legi-timen Aktivitäten zu verschiedenen Landrechts-konflikten beantworten. Im März und im No-vember 2012 schikanierten und drangsaliertendie Behörden zivilgesellschaftliche Vereini-gungen und basisdemokratische Netzwerke,darunter auch lokale und regionale NGOs. Da-mit wollten sie offenbar verhindern, dass die Or-ganisationen parallel zu den ASEAN-GipfelnWorkshops und andere Veranstaltungen zuMenschenrechtsthemen abhielten.ý Im Mai 2012 wurden 13 Anwohnerinnen desBoeung-Kak-Sees in der Hauptstadt PhnomPenh festgenommen und in einem Schnellver-fahren zu zweieinhalb Jahren Haft verurteilt.Die Frauen hatten eine friedliche Protestveran-staltung abgehalten, um 18 Familien zu unter-stützen, deren Häuser bei Zwangsräumungenzerstört worden waren. Die Anklagen gegendie Frauen lauteten auf »rechtswidrige Beset-zung öffentlichen Eigentums und Behinde-rung von Beamten unter erschwerenden Be-gleitumständen«. Sie kamen im Juni im Beru-fungsverfahren frei, und ihre Strafen wurdenzur Bewährung ausgesetzt. Eine weitere Akti-vistin, Yorm Bopha, wurde im Dezember auf derGrundlage konstruierter Anklagen zu drei Jah-ren Gefängnis verurteilt.ý Der bekannte Journalist und Regierungskriti-ker Mam Sonando wurde im Oktober 2012 zu20 Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Dem71-Jährigen wurden staatsfeindliche Strafta-ten zur Last gelegt, wie Anstachelung zum»Aufruhr« in der Provinz Kratie. Es ist zu ver-muten, dass die Anklage gegen ihn politisch

motiviert war. Im Gerichtsverfahren wurdenkeine Beweise vorgelegt, die eine Verurteilunggerechtfertigt hätten. Amnesty Internationalbetrachtet Mam Sonando als gewaltlosen politi-schen Gefangenen.

ZwangsräumungenDie Krise im Zusammenhang mit Landansprü-chen setzte sich 2012 fort. Tausende Men-schen waren von rechtswidrigen Zwangsräu-mungen, Landraub und Landkonflikten betrof-fen, die zunehmend zu Protesten führten. ImMai kündigte die Regierung an, die Vergabevon Landkonzessionen zu ökonomischen Zwe-cken vorübergehend auszusetzen. Sie ver-sprach außerdem, die bereits vergebenen Kon-zessionen zu prüfen, um sicherzustellen, dasssie mit den gesetzlichen Bestimmungen über-einstimmten. Doch wurden auch nach Inkraft-treten des Moratoriums noch einige Landkon-zessionen zu ökonomischen Zwecken erteilt.Im Juni startete der Ministerpräsident ein Pro-jekt mit dem Ziel, Besitztitel an Menschen zuvergeben, die in staatlichen Wäldern leben.Auch die Neuzuteilung von Landkonzessionenzu wirtschaftlichen oder anderen Zwecken warTeil des Projekts. Tausende Studierende, diesich freiwillig gemeldet hatten, sollten Landkar-ten erstellen und Informationen über die Nut-zung von Grundstücken sammeln.ý Bei einer rechtswidrigen Zwangsräumungzerstörten Arbeiter eines Bauunternehmensim Januar in Borei Keila im Zentrum vonPhnom Penh die Wohnungen von etwa 300Familien. Sicherheitskräfte gingen mit Tränen-gas und Gummigeschossen gegen die Bewoh-ner vor. Es kam zu Zusammenstößen, bei de-nen Steine, Holzstücke und Flaschen gewor-fen wurden. Mindestens 64 Personen sollenverletzt worden sein, acht Menschen kamen inHaft. Die von der Zwangsräumung Betroffenenwurden an zwei Orte außerhalb von PhnomPenh gebracht, wo es weder angemessene Un-terkünfte noch Sanitäreinrichtungen oder Ar-beitsmöglichkeiten gab. Etwa 125 Familien wei-gerten sich, an diese Orte umzuziehen undblieben unter elenden Bedingungen in derNähe ihrer ehemaligen Wohnorte.

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Internationale StrafverfolgungDie Verfahren vor den Außerordentlichen Kam-mern der Kambodschanischen Gerichte be-züglich der Fälle 003 und 004 gerieten 2012 insStocken, während erneut der Vorwurf der poli-tischen Einflussnahme durch die Regierunglaut wurde. Der Oberste Rat der Richter (Su-preme Council of Magistracy) lehnte im Januardie Ernennung von Ersatzrichter Laurent Kas-per-Ansermet zum internationalen Co-Ermitt-lungsrichter ab, obwohl er von den UN nomi-niert worden war. Anfang Mai legte er sein Amtnieder und begründete dies damit, dass seinkambodschanischer Co-Ermittlungsrichter dieArbeit behindert habe. Nachfolger von LaurentKasper-Ansermet wurde im Oktober der US-amerikanische Richter Mark Harmon, dochwaren in den beiden Verfahren 003 und 004keine Fortschritte zu verzeichnen. Im Fall 002wurden die Anhörungen aufgrund finanziellerEngpässe auf drei Tage pro Woche reduziert.Die Angeklagte Ieng Thirith wurde für verhand-lungsunfähig erklärt und im September ihrerFamilie zur Pflege übergeben. Sie soll an derAlzheimer-Krankheit leiden. Ieng Thirith zähltezu den vier ehemaligen Führungskadern derRoten Khmer, die im Verfahren 002 angeklagtsind.ý Im Februar 2012 bestätigte die Kammer desObersten Gerichts (Supreme Court Chamber)den Schuldspruch gegen den ehemaligen Ge-fängnischef Kaing Guek Eav, alias »Duch«. Erwar wegen Kriegsverbrechen und Verbrechengegen die Menschlichkeit zu 35 Jahren Frei-heitsstrafe verurteilt worden. Im Berufungsver-fahren wurde das Strafmaß auf lebenslangeHaft verschärft. Die Kammer hob außerdem dieEntscheidung auf, Kaing Guek Euv einenRechtsbehelf zu gewähren, weil er auf Anord-nung eines kambodschanischen Militärge-richts acht Jahre ohne Rechtsgrundlage inhaf-tiert war.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Kambod-

scha in den Monaten Februar bis April, im August / Septem-ber und im November / Dezember.

ÿ Cambodia: Imprisoned for speaking out: update on Phnom

Penh’s Boeung Kak Lake, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA23/010/2012/en

ÿ Summit leaders should push Cambodia on human rightsfailures, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA23/019/2012/en

ÿ Cambodia: Convictions of activists demonstrate dire stateof justice, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/cambodia-convictions-activists-demonstrate-dire-state-justice-2012-12-27

KamerunAmtliche Bezeichnung: Republik KamerunStaatsoberhaupt: Paul BiyaRegierungschef: Philémon Yang

Wie schon in den Jahren zuvor, schränktedie Regierung auch 2012 die Aktivitätenvon Regierungsgegnern und Journalistenein. Es wurden Personen festgenom-men, die man verdächtigte, homosexu-elle Beziehungen zu unterhalten. Einigevon ihnen erhielten Gefängnisstrafen.Menschen, die sich für die Rechte vonLesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans-

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204 Kamerun

gendern und Intersexuellen einsetzten,waren Schikanierungen und Misshand-lungen ausgesetzt. Die Behörden unter-nahmen nichts, um Betroffene vor An-griffen zu schützen. In einigen Gefäng-nissen herrschten harte und gelegentlichlebensbedrohliche Bedingungen.

HintergrundIm November 2012 feierte Präsident Paul Biyasein 30-jähriges Regierungsjubiläum. Im Zugedes Jubiläums kam es zu Protestaktionendurch oppositionelle Gruppen, die von der Be-reitschaftspolizei aufgelöst wurden.

Korruption war nach wie vor allgegenwärtig.Bemühungen der Regierung, diese zu unter-binden, waren nur beschränkt erfolgreich. ImSeptember wurde ein ehemaliger Minister we-gen der Veruntreuung von 20 Mrd. US-Dollar zu25 Jahren Gefängnis verurteilt.

Im September legte Amnesty International derRegierung ein Memorandum vor, in dem zahl-reiche Menschenrechtsanliegen angesprochenwurden.

Schikanierung politischer GegnerDie Regierung bediente sich weiterhin desStrafjustizsystems, um oppositionelle politi-sche Gruppierungen zu schikanieren und zumSchweigen zu bringen.ý Zum Jahresende war noch keine Verhand-lung gegen mehrere Dutzend Mitglieder desNationalrats von Südkamerun (Southern Came-roons National Council – SCNC) erfolgt. Sie wa-ren 2008 festgenommen und angeklagt wor-den, weil sie illegale Versammlungen abgehal-ten haben sollen und keine Ausweise mit sichführten. Die Angeklagten waren mehr als 30Mal vor Gericht erschienen, doch die Verhand-lungen wurden stets vertagt, weil die Anklagekeine Zeugen beibringen konnte oder Gerichts-beamte, u. a. vorsitzende Richter, nicht er-schienen waren.ý Felix Ngalim, Ebenezer Akwanga und MakamAdamu, drei Mitglieder des SCNC, wurden imApril 2012 festgenommen und in Verbindungmit ihrer Mitgliedschaft im SCNC und dessenAktivitäten der Sezession und Revolution nach

dem Strafgesetzbuch angeklagt. Im Mai sollenAngehörige des Geheimdienstes Direction de laSurveillance du Territoire den im GefängnisKondengui in der Hauptstadt Yaoundé inhaf-tierten Felix Naglim in ihr Hauptquartier in derStadt gebracht und ihm dort mit einem Schlag-stock Verletzungen an den Fußsohlen, Beinenund anderen Körperteilen zugefügt haben. Am28. Mai wurde er in das Zentralgefängnis inBamenda, der Hauptstadt der Nordwest-Pro-vinz, überführt. Er erschien am 5. und 17. Juniund dann wieder am 3. Juli vor dem zuständi-gen Gericht in Bamenda. Die Verhandlungenwurden jedoch stets vertagt, weil die Zeugender Anklage nicht zur Aussage erschienen wa-ren. Ebenezer Akwanga soll im Mai aus demGefängnis Kondengui entkommen und ausKamerun geflüchtet sein. Felix Ngalim wurdeam 4. Dezember vorläufig freigelassen undwartete zum Jahresende noch auf seinen Pro-zess.ý Im Dezember 2012 wurde Dieudonné EnohMeyomesse, Autor und Kritiker von PräsidentBiya, nach einem unfairen Gerichtsverfahrenvon einem Militärgericht in Yaoundé wegenRaubüberfalls zu sieben Jahren Haft verurteilt.Amnesty International erklärte ihn zu einemgewaltlosen politischen Gefangenen. Er undmehrere Mitangeklagte, die ebenfalls zu Frei-heitsstrafen zwischen zwei und neun Jahrenverurteilt wurden, waren im November 2011festgenommen worden.

Regierungskritiker äußerten die Sorge, dasssich einige Ermittlungsverfahren wegen Kor-ruption gegen Personen richteten, die Kritik ander Regierung geäußert hatten.ý Titus Edzoa und Michel Thierry Atangana, diekurz vor dem Ende der Verbüßung einer15-jährigen Freiheitsstrafe wegen Korruptionstanden, wurden 2012 erneut angeklagt undim Oktober zu 20 Jahren Haft verurteilt. Das Ge-richtsverfahren war wie jenes von 1997 unfairund offenbar politisch motiviert.ý Paul Eric Kingué, der sich wegen Korruptionund der mutmaßlichen Beteiligung an Aus-schreitungen im Februar 2008 im Gefängnisbefand, wurde im Februar 2012 nach weiterenunfairen Gerichtsverhandlungen wegen Kor-

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ruptionsvorwürfen zu lebenslanger Haft verur-teilt. Das Berufungsgericht hob die Strafe auf,führte jedoch einen neuen Prozess und verur-teilte ihn im November zu einer zehnjährigenFreiheitsstrafe.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger und ihre Familien-angehörigen erhielten Morddrohungen undwurden von Personen attackiert, bei denen essich ihrer Vermutung nach um Beauftragteoder Anhänger der Regierung handelte.ý Am 27. März 2012 hinderten Regierungs-kräfte Personen, die sich für die Rechte vonLesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgendernund Intersexuellen einsetzten, in Yaoundé ander Durchführung eines von der EU finanzier-ten Workshops zu den Rechten sexueller Min-derheiten. Dieser Aktion war eine gewaltsameStörung des Workshops durch Angehörige dersich selbst als homosexuellenfeindlich bezeich-nenden Jugendorganisation Rassemblementde la Jeunesse Camerounaise vorausgegangen.Angehörige der Sicherheitskräfte hatten zuvorStéphan Koche, den Organisator des Work-shops, festgenommen und über mehrereStunden festgehalten.ý Im Januar 2012 drohten Männer, die sich alsAngehörige der Sicherheitskräfte ausgaben,der Menschenrechtsverteidigerin MaximilienneNgo Mbe mit Vergewaltigung. Ihre Nichtewurde von Männern entführt und vergewaltigt;die Männer führten dem Opfer gegenüber dieAktivitäten von Maximilienne Ngo Mbe alsGrund für ihren Übergriff an.ý Den Anwälten Michel Togue und Alice Nkomwurde mit Gewalt gedroht, weil sie als Rechts-beistand von Personen tätig waren, die homo-sexueller Handlungen beschuldigt wurden.Die Drohungen richteten sich auch gegen Fa-milienangehörige der beiden Anwälte. Die Be-hörden verurteilten die Drohungen nicht undstellten auch keinerlei Schutz bereit.

Meinungsfreiheit – JournalistenMehrere Journalisten wurden 2012 strafrecht-lich verfolgt.ý Die Fernsehjournalisten Alex Gustave Aze-

baze, Thierry Ngogang und Anani RabierBindji, die im Juni 2008 zusammen mit demUniversitätsdozenten Manassé Aboya festge-nommen worden waren, warteten noch immerauf den Beginn ihres Prozesses. Sie wurdender Verschwörung zur Veröffentlichung einesvertraulichen Dokuments sowie der Verschwö-rung zu einseitiger Berichterstattung beschul-digt. Die Anklagen galten als politisch moti-viert. Die vier Männer waren festgenommenworden, nachdem sie eine Antikorruptionsini-tiative der Regierung und die Festnahme vonzwei Zeitungsjournalisten in einer Fernsehde-batte kritisiert hatten.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenEs kam weiterhin zu Gewalt, willkürlichen Fest-nahmen und Inhaftierungen sowie anderenMenschenrechtsverletzungen wegen der tat-sächlichen oder vermeintlichen sexuellen Ori-entierung von Personen. Die Behörden ver-säumten es, Menschen zu schützen, die inGefahr waren, Opfer von tätlichen oder anderenÜbergriffen durch nichtstaatliche Akteure zuwerden.ý Franky Ndome Ndome, der zusammen mitJonas Nsinga Kimie eine fünfjährige Haftstrafewegen homosexuellen Verhaltens absaß, wurdeim Juni 2012 von Wachpersonal des Gefäng-nisses von Kondengui geschlagen und ander-weitig misshandelt. Die beiden Männer sollenaußerdem wiederholt von Mithäftlingen ange-griffen worden sein. Die Behörden unternah-men nichts, um gegen die Verantwortlichen vor-zugehen oder die beiden Männer zu schützen.ý Am 14. Februar 2012 wurden drei Frauen,Martine Solange Abessolo, Esther Aboa Be-linga und Léonie Marie Djula, in Ambam in derSüdprovinz festgenommen. Sie wurden be-schuldigt, lesbisch zu sein. Berichten zufolgehatte der Ehemann von Léonie Djula den Be-hörden zuvor mitgeteilt, dass seine Frau vonden anderen beiden Frauen zu gleichge-schlechtlichen Handlungen verführt wordensei. Martine Abessolo und Esther Belinga wur-den anschließend vor dem erstinstanzlichen

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206 Kanada

Gericht in Ambam wegen gleichgeschlecht-licher Handlungen und der Entehrung von Léo-nie Djula angeklagt. Sie wurden am 20. Fe-bruar vorläufig freigelassen und legten einRechtsmittel wegen Unregelmäßigkeiten beiihrer Festnahme ein. Das Berufungsgericht vonEbola hatte zum Jahresende noch kein Urteilgesprochen.ý Am 17. Dezember 2012 bestätigte das Beru-fungsgericht das 2011 gegen Jean-Claude Ro-ger Mbede ergangene Urteil wegen homosexu-eller Handlungen. Er war zu drei Jahren Ge-fängnis verurteilt worden.

HaftbedingungenDie harten Bedingungen in den beiden größtenGefängnissen von Kamerun in Yaoundé undDouala erfüllten den Tatbestand der grausa-men, unmenschlichen und erniedrigendenBehandlung und waren in einigen Fällen le-bensbedrohlich. Gefangene, die unter psy-chischen Erkrankungen litten, hatten keinenZugang zu psychiatrischer Versorgung. ZumJahresende überstieg die Anzahl der Häftlingein den beiden Gefängnissen die vorgeseheneKapazität um das Fünffache.

TodesstrafeAnfang 2012 befanden sich laut offiziellen An-gaben 102 Gefangene in den Todeszellen. DieNationale Kommission für Menschenrechteund Freiheiten legte der Regierung die Ab-schaffung der Todesstrafe nahe.

Amnesty International: Missionþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte

Kamerun im Dezember.

KanadaAmtliche Bezeichnung: KanadaStaatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten

durch Generalgouverneur David JohnstonRegierungschef: Stephen Harper

In Kanada wurden die Rechte der indige-nen Bevölkerungsgruppen weiterhinsystematisch verletzt. Reformen der Ein-wanderungs- und Flüchtlingsgesetzeverstießen gegen internationale Men-schenrechtstandards.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenIm Januar 2012 begannen vor einem von derRegierung ernannten Überprüfungsaus-schuss die Anhörungen zu einem Bauprojektfür eine Pipeline zwischen den Ölsanden inder Provinz Alberta und der Küste von BritishColumbia. Das umstrittene Northern-Gateway-Projekt würde durch traditionelle Gebiete zahl-reicher Gemeinschaften der First Nations füh-ren oder an diese grenzen. Viele der indigenenGemeinschaften haben sich öffentlich gegendas Bauvorhaben ausgesprochen.

Im Februar erkannte die Regierung vor demUN-Ausschuss für die Beseitigung der Ras-

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Kanada 207

sendiskriminierung die Rechtmäßigkeit der An-wendung der UN-Erklärung über die Rechteder Indigenen Völker bei der Auslegung kanadi-scher Gesetze an. Es wurden jedoch keineMaßnahmen ergriffen, um die Erklärung ge-meinsam mit indigenen Völkern umzusetzen.

Im Februar verabschiedete die Regierung einGesetz zur Versorgung der First Nations mitsauberem Trinkwasser (Safe Drinking Water forFirst Nations Act). Das Gesetz sieht jedochkeine zusätzlichen Ressourcen für die Wasser-infrastruktur in den Gemeinschaften der FirstNations vor.

Im April hob das Bundesgericht ein Urteil deskanadischen Gerichts für Menschenrechte(Canadian Human Rights Tribunal) aus demJahr 2011 auf. Darin war eine Diskriminie-rungsklage bezüglich der öffentlichen Ausga-ben für den Schutz von Kindern in Gemeindender First Nations im Vergleich zu Gemeindenmit überwiegend nicht indigener Bevölkerungabgewiesen worden. Der Fall war zum Jahres-ende vor dem Bundesberufungsgericht an-hängig.

Gesetzesänderungen im Jahr 2012 führten zudrastischen Einschränkungen hinsichtlich dervon der Regierung durchgeführten Umweltver-träglichkeitsprüfungen. Die Regierung selbsterklärte jedoch, dass diese Prüfungen wesent-lich seien, um ihren verfassungsrechtlichenVerpflichtungen gegenüber der indigenen Be-völkerung nachzukommen.

FrauenrechteIm Februar und Juni 2012 forderten sowohl derUN-Ausschuss für die Beseitigung der Ras-sendiskriminierung sowie der UN-Ausschussgegen Folter Kanada auf, einen staatlichen Ak-tionsplan zu entwickeln, um gegen Gewalt anindigenen Frauen vorzugehen. Dem kam dieBundesregierung jedoch nicht nach.

Im Oktober wurde Videomaterial veröffent-licht, dass die Misshandlung der 19-jährigenAshley Smith in Haft zeigt. Sie war 2007 im Pro-vinzgefängnis von Ontario gestorben. Ein Ver-fahren zur Untersuchung der Todesursachewar zum Jahresende noch anhängig.

Der Abschlussbericht zu einer in British Co-

lumbia durchgeführten Untersuchung zumVerhalten der Polizei in Fällen von verschwun-denen oder ermordeten Frauen, von denenviele den indigenen Bevölkerungsgruppen an-gehörten, wurde im Dezember 2012 veröffent-licht. Amnesty International und andere Organi-sationen kritisierten jedoch, dass es versäumtwurde, die betroffenen Gemeinschaften umfas-send und wirksam in die Untersuchung einzu-binden.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitIn einem im Juni 2012 veröffentlichten Berichtsprach der Beschwerdeausschuss der Militär-polizei einzelne Militärpolizisten von ihnen zurLast gelegtem Fehlverhalten frei, wies jedochauf systematisches Versagen bei der Übergabevon Gefangenen in Afghanistan in den Ge-wahrsam afghanischer Funktionsträger hin.

Im August wurde eine ministerielle Anwei-sung aus dem Jahr 2011 veröffentlicht, nachder die Polizeieinheit Royal Canadian MountedPolice und die kanadische Grenzbehörde (Ca-nadian Border Services Agency) angehaltensind, in Fällen ernsthafter Bedrohung der öf-fentlichen Sicherheit ausländische Geheim-dienstinformationen zu nutzen, auch wenndiese möglicherweise durch Folter erlangt wur-den, und diese Informationen an ausländischeRegierungen weiterzugeben, selbst wenn da-durch ein beträchtliches Folterrisiko ent-stünde.

Im September 2012 wurde Omar Khadr, einkanadischer Staatsbürger, der 2002 in Afgha-nistan im Alter von 15 Jahren von US-Streitkräf-ten festgenommen wurde und seither in Gu-antánamo Bay inhaftiert war, in ein kanadischesGefängnis überführt. Er hatte aufgrund einerstrafmildernden Vereinbarung (plea deal) mitden US-Behörden 2011 seit elf Monaten An-spruch auf eine Überführung.

Flüchtlinge und AsylsuchendeIm Juni 2012 wurde ein Gesetz verabschiedet,das die obligatorische Inhaftierung von Asylsu-chenden vorsieht, die auf nicht regulärem Wegenach Kanada eingereist sind. Das Gesetz ver-weigert diesen Personen sowie Asylsuchenden

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aus anerkannten »sicheren Herkunftslän-dern« die Möglichkeit, ein Rechtsmittel bei derzuständigen Berufungsinstanz (Refugee Ap-peal Division) einzulegen.

Im Juni verabschiedete die Regierung einneues Gesetz, das zahlreichen straffällig ge-wordenen Personen mit Daueraufenthaltsge-nehmigung die Möglichkeit verweigert,Rechtsmittel gegen Ausweisungsbeschlüsseeinzulegen oder diesbezüglich um humanitäreHilfe zu ersuchen.

Außerdem nahm die Regierung im Juni dras-tische Kürzungen am Programm für die be-grenzte medizinische Versorgung (Interim Fe-deral Health Program) von Flüchtlingen vor.Damit haben beispielsweise Asylsuchende ausanerkannten »sicheren Herkunftsländern«nur noch dann Anspruch auf medizinischeLeistungen, wenn sie die Gesundheit anderergefährden.ý Im September 2012 wurde die US-amerikani-sche Bürgerin Kimberly Rivera in die USA aus-gewiesen und dort festgenommen. Ihr Antragauf Anerkennung als Flüchtling, in dem siegeltend machte, aus Gewissensgründen ausder US-Armee desertiert zu sein, war in Ka-nada abgelehnt worden. Sie wird am Militär-stützpunkt Fort Carson festgehalten, wo sie beiJahresende auf ihren Prozess vor dem Kriegs-gericht wartete.

Polizei und SicherheitskräfteIm Mai 2012 führte in der Provinz Quebec dieVerabschiedung eines Notstandsgesetzesnach Massendemonstrationen von Studieren-den zur Einschränkung der Rechte auf freieMeinungsäußerung und Versammlungsfreiheit.Nach einem Regierungswechsel im Septem-ber wurde das Notstandsgesetz wieder aufge-hoben. Die Regierung ging nicht auf Forderun-gen nach einer öffentlichen Untersuchung vonVerstößen durch die Polizei während der De-monstrationen ein.

Im Mai sprach sich das Amt für die unabhän-gige Überprüfung der Polizei (Office of the In-dependent Police Review Director) in der Pro-vinz Ontario für die Einleitung von Disziplinar-verfahren gegen 36 Polizeibeamte aus. Den Be-

amten werden Vergehen im Zusammenhangmit dem polizeilichen Vorgehen bei den De-monstrationen während des G20-Gipfels 2010in Toronto vorgeworfen. Die Disziplinar- undRechtsmittelverfahren dauerten zum Jahres-ende noch an.

UnternehmensverantwortungIm Mai 2012 wurde ein obligatorischer Berichtzur Bewertung der Auswirkungen des im Au-gust 2011 in Kraft getretenen Freihandelsab-kommens zwischen Kanada und Kolumbienauf die Menschenrechte veröffentlicht. Die Re-gierung war der Ansicht, es sei noch zu früh,um die Auswirkungen zu bewerten.

Im November lehnte der Oberste Gerichtshofdie Verhandlung eines Rechtsmittels in einemFall ab, bei dem eine kanadische Bergbauge-sellschaft für Menschenrechtsverletzungen inder Demokratischen Republik Kongo verant-wortlich gemacht wird. Die Vorinstanzen wa-ren zu dem Urteil gekommen, dass Kanadanicht der richtige Gerichtsstand für eine Ver-handlung des Falls sei.

Amnesty International: Berichteÿ Canada: Summary of recommendations from Amnesty Inter-

national’s briefing to the UN Committee on the Eliminationof Racial Discrimination, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR20/003/2012/en

ÿ Canada: Briefing to the UN Committee against Torture,48th Session, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR20/004/2012/en

ÿ Canada: Briefing to the UN Committee on the Rights of theChild: 61st Session, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR20/006/2012/en

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Kasachstan 209

KasachstanAmtliche Bezeichnung: Republik KasachstanStaatsoberhaupt: Nursultan NasarbajewRegierungschef: Serik Achmetow (löste im

September Karim Massimow im Amt ab)

Nach einer strafrechtlichen Untersu-chung der Anwendung tödlicher Gewaltdurch Sicherheitsbeamte während derMassenunruhen in Schanaosen im De-zember 2011 wurde gegen fünf BeamteAnklage erhoben. Mutmaßliche Organi-satoren und Teilnehmer der Ausschrei-tungen wurden im März 2012 vor Ge-richt gestellt. Die meisten der Personen,die beschuldigt wurden, an der Organi-sation und Durchführung gewalttätigerAktionen beteiligt gewesen zu sein,führten an, dass sie gefoltert wordenseien, um Geständnisse von ihnen zuerpressen. Der Vorsitzende einer nichtzugelassenen Oppositionspartei wurdewegen seiner mutmaßlichen Verstrickungin die Gewalttaten von Schanaosennach einem unfairen Gerichtsverfahrenzu einer langjährigen Gefängnisstrafeverurteilt. Unabhängige Medien wurdenals »extremistisch« gebrandmarkt undihre Büros geschlossen. Kasachstan lie-ferte weiterhin Personen in Länder aus,die um ihre Auslieferung ersucht hatten,obwohl ihnen dort Folter und andereMisshandlungen drohten.

Exzessive GewaltanwendungIm Januar 2012 wurden fünf hochrangige Si-cherheitsbeamte wegen Amtsmissbrauchs imZusammenhang mit der Anwendung von Ge-walt in Schanaosen angeklagt. Der Anklageer-hebung war eine Untersuchung zum Einsatztödlicher Gewalt durch die Sicherheitskräftevorausgegangen. Die Anzahl der bei den Vor-kommnissen in Schanaosen Getöteten unddurch Schüsse ernsthaft Verletzten deutete da-rauf hin, dass die Zahl der Sicherheitsbeam-ten, die Schusswaffen benutzt hatten, in Wahr-heit weitaus höher lag. Zu dem Prozess war esnach den gewaltsamen Zusammenstößen zwi-schen Protestierenden und der Polizei gekom-men, die die Feierlichkeiten zum 20. Jahrestagder Unabhängigkeit Kasachstans am 16. De-zember 2011 in Schanaosen, einer Stadt imSüdwesten des Landes, überschattet hatten.Mindestens 15 Personen wurden dabei getötetund mehr als 100 schwer verletzt. Berichtenzufolge hatten die Sicherheitskräfte keine spezi-fische Ausbildung im Gebrauch gewaltfreierund angemessener Methoden zum Umgangmit großen Menschenansammlungen wäh-rend politischer Demonstrationen und Streikserhalten, obwohl sie 2011 mehrere Monate mitstreikenden und protestierenden Arbeitern derErdölindustrie sowie deren Familien und Un-terstützern konfrontiert waren.

In der Öffentlichkeit wurde die Forderungnach weiteren Untersuchungen laut mit demZiel, alle Fälle von Tötungen und Verletzungen –auch die amtlich nicht erfassten – aufzuklä-ren, um die genaue Anzahl von Todesopfernund Verletzten zu ermitteln und alle dafür Ver-antwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. AlsReaktion auf die Forderung versicherte die Ge-neralstaatsanwaltschaft im Oktober, dass dieAbteilung für innere Angelegenheiten der Re-gion alle vorliegenden Beweise sorgfältig ge-prüft habe und deshalb keine Notwendigkeitbestünde, gegen weitere Sicherheitsbeamtestrafrechtlich vorzugehen.ý Ende Januar 2012 wurden fünf hochrangigeSicherheitsbeamte aus der Region Mangistauund der Stadt Schanaosen wegen Amtsmiss-brauchs im Zusammenhang mit dem Ge-

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210 Kasachstan

brauch von Schusswaffen angeklagt. Laut Infor-mationen der Generalstaatsanwaltschaft wa-ren einige von ihnen anhand von Videoaufnah-men identifiziert worden. Sie wurden im Maizu Freiheitsentzug zwischen fünf und siebenJahren verurteilt. Mehrere Polizeibeamte, diewährend der Gerichtsverhandlung als Zeugenauftraten, bestätigten, dass sie mit Schusswaf-fen direkt auf Protestierende geschossen hät-ten. Es wurde jedoch keine Anklage gegen sieerhoben.

Folter und andere MisshandlungenDie meisten der 37 Personen, die im März 2012in der regionalen Hauptstadt Aktau angeklagtwurden, an der Organisation und Durchführunggewalttätiger Aktionen in Schanaosen beteiligtgewesen zu sein, gaben vor Gericht an, sieseien während ihrer Haft von den Sicherheits-kräften gefoltert oder anderweitig misshandeltworden, um »Geständnisse« von ihnen zu er-pressen. Diese widerriefen sie vor Gericht. Dievon den Angeklagten beschriebenen Folter-methoden stimmten mit den Beschuldigungenüberein, die viele der im Dezember 2011 frei-gelassenen Häftlinge vorgebracht hatten: Sieseien zu inoffiziellen Haftzentren oder unterir-dischen Hafteinrichtungen in Polizeistationengebracht worden, wo man sie nackt ausgezo-gen und gezwungen habe, auf dem kalten Be-tonboden zu liegen oder zu hocken. Sie seienmit kaltem Wasser übergossen worden, und Si-cherheitskräfte hätten sie häufig bis zur Be-wusstlosigkeit geschlagen oder getreten. Da-nach seien sie erneut mit kaltem Wasser über-gossen und in regelmäßigen Abständen ge-schlagen worden. Dies habe sich über meh-rere Stunden hingezogen. Zehn Zeugen der An-klage zogen während der Verhandlung ihreZeugenaussagen gegen die Angeklagten zu-rück und beklagten sich darüber, dass sie ge-foltert oder anderweitig misshandelt wordenseien, damit sie Aussagen machten, die dieBeschuldigten belasteten.

Einige Angeklagte identifizierten die Polizei-und Sicherheitsbeamten, die sie gefoltert odermisshandelt hatten. Die Polizei- und Sicher-heitsbeamten, die von den Angeklagten und

ihren Anwälten beschuldigt wurden, das Feuerauf die Demonstrierenden eröffnet und sie inder Haft misshandelt zu haben, traten vor Ge-richt als Opfer oder Zeugen auf, einige vonihnen anonym. Alle Polizei- und Sicherheitsbe-amten beriefen sich darauf, in Selbstverteidi-gung gehandelt zu haben. Auf die Frage, werden Befehl zur Eröffnung des Feuers gegebenhabe, sagten einige der Beamten aus, dass sieweder einen Befehl erhalten hätten, das Feuerzu eröffnen, noch den Befehl, nicht zu schie-ßen. Die Generalstaatsanwaltschaft unter-suchte auf Geheiß des vorsitzenden Richtersdie Foltervorwürfe, wies sie jedoch als unbe-gründet ab. Sieben Angeklagte wurden zu Ge-fängnisstrafen von bis zu sieben Jahren verur-teilt.ý Rosa Tuletaewa, eine für Arbeitnehmerrechteeintretende Aktivistin, die während der Streiksder Arbeiter in der Erdölindustrie 2011 eine derHauptkontaktpersonen von Medien und inter-nationalen Organisationen gewesen war, sagtevor Gericht aus, dass sie bei Verhören an ihrenHaaren aufgehängt worden sei und ihr Sicher-heitsbeamte gedroht hätten, ihrer 14 Jahre al-ten Tochter Schaden zuzufügen. Ferner hätteman ihr eine Plastiktüte über den Kopf ge-stülpt, um sie zu ersticken, und sie sei sexuellerniedrigt und belästigt worden. Rosa Tule-taewa sagte, dass sie sich zu sehr schäme, imGerichtssaal im Beisein ihrer Familie undFreunde die sexuelle Folter zu beschreiben, dersie unterzogen worden sei. Sie wurde zu sie-ben Jahren Gefängnis wegen »Schürens vonsozialem Unfrieden« verurteilt.

Unfaire GerichtsverfahrenZusätzlich zu den 37 Personen, die im Dezem-ber 2011 in Schanaosen festgenommen undim März 2012 vor Gericht gestellt wurden, nah-men die Sicherheitskräfte im Januar drei in Al-maty tätige Vertreter der politischen Oppositionsowie im Juni einen bekannten Theaterregis-seur und einen Vertreter einer oppositionellenJugendorganisation fest und beschuldigtensie, im Zusammenhang mit den Ereignissenvon Schanaosen »sozialen Unfrieden zu schü-ren« und »die Situation in der Region zu desta-

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Kasachstan 211

bilisieren«. Nachdem sie einige Wochen imGewahrsam des Nationalen Geheimdienstes(NSS) verbracht und schließlich zugestimmthatten, »Geständnisse« zu unterschreiben, indenen sie zugaben, nach Schanaosen gefah-ren zu sein, um die streikenden Arbeitnehmerder Erdölindustrie zu unterstützen, wurden mitAusnahme von zwei Personen alle wieder aufBewährung freigelassen.

Belastende Erklärungen, die hochrangige Be-amte in staatseigenen Medien gegen alle imZusammenhang mit den Ereignissen in Scha-naosen angeklagten Personen abgaben, undzahlreiche Verfahrensmängel, so die Beschrän-kung des Zugangs zu rechtlichem Beistandund von Familienbesuchen, verhinderten, dassihr Recht auf einen fairen Prozess gewahrtblieb. Anwälte, die die vom NSS gefangen ge-haltenen Regimekritiker vertraten, wurden ge-zwungen, Geheimhaltungsverpflichtungen zuunterzeichnen, die es ihnen untersagten, ir-gendwelche Informationen über die strafrecht-lichen Ermittlungen gegen ihre Mandanten andie Öffentlichkeit zu bringen.ý Am 23. Januar nahmen NSS-Mitarbeiter Wla-dimir Koslow, den Vorsitzenden der nicht zu-gelassenen Oppositionspartei Alga! (deutsch:Vorwärts!), in seinem Haus in Almaty wegen»Schürens von sozialem Unfrieden« fest. Siedurchsuchten sein Haus, das Parteibüro vonAlga! in Almaty und die Wohnungen mehrereranderer Parteimitglieder. Wladimir Koslow warim Januar als Mitglied einer unabhängigen öf-fentlichen Untersuchungsgruppe nach Scha-naosen gereist, um die Vorwürfe über Folterund andere Misshandlungen in Polizeigewahr-sam zu untersuchen. Danach hatte er dem Eu-ropäischen Parlament über seine Erkennt-nisse berichtet. Er wurde im NSS-Gefängnis inAktau festgehalten und hatte nur einge-schränkten Zugang zu seinen Anwälten undseiner Familie. Am 8. Oktober wurde er vomGericht von Aktau wegen »Schürens von sozia-lem Unfrieden« und versuchten Sturzes derverfassungsmäßigen Ordnung für schuldig be-funden und zu einer Gefängnisstrafe von sie-beneinhalb Jahren verurteilt. Außerdem ord-nete das Gericht die Einziehung seines Vermö-

gens an. Amnesty International betrachtet ihnals gewaltlosen politischen Gefangenen. Un-abhängige Beobachter, denen erlaubt wurde,an dem Prozess teilzunehmen, berichteten,dass es keine Unschuldsvermutung gab unddie gegen Wladimir Koslow vorgelegten Be-weismittel seine Schuld nicht schlüssig nach-wiesen. In seinem Urteil bezeichnete das Ge-richt auch mehrere oppositionelle Medien, dieüber die Streiks im Jahr 2011 und die Unter-suchungen zu den gewaltsamen Auseinander-setzungen in Schanaosen berichtet hatten, als»politische Extremisten«, die zu »sozialemHass« aufgestachelt hätten. Am 19. Novemberbestätigte das Berufungsgericht in Aktau dasUrteil.ý Im März 2012 wurde die gewaltlose politischeGefangene Natalia Sokolowa überraschendaus der Haft entlassen, nachdem die General-staatsanwaltschaft beim Obersten Gericht Be-schwerde gegen ihre Verurteilung eingelegthatte. Natalia Sokolowa hatte die Arbeiter derMineralölgesellschaft KazMunaiGaz in Scha-naosen rechtlich vertreten und war im August2011 vom Gericht in Aktau wegen »Schürensvon sozialem Unfrieden« zu sechs Jahren Ge-fängnis verurteilt worden.

Recht auf freie MeinungsäußerungIm Januar 2012 in Kraft getretene neue Bestim-mungen des Sicherheitsgesetzes sehen Stra-fen für Einzelpersonen und/oder Organisatio-nen vor, wenn diese für schuldig befundenwerden, »das öffentliche oder individuelle Be-wusstsein zum Schaden der nationalen Si-cherheit« durch die Verbreitung von »entstel-lender« oder »unglaubwürdiger« Information»zu beeinflussen«. Es bestand die Befürch-tung, die Behörden könnten die Gesetzge-bung über die nationale Sicherheit für Ein-schränkungen der Redefreiheit und der Frei-heit der Medien benutzen.ý Am 21. November 2012 reichte der Staatsan-walt der Stadt Almaty eine Klage ein, mit der erversuchte, fast alle noch verbliebenen unab-hängigen und oppositionellen Medien zuschließen. Einige dieser Medien waren im Urteilgegen Wladimir Koslow namentlich erwähnt

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212 Katar

worden. Er beschuldigte sie, »extremistisch« zusein, sozialen Unfrieden zu schüren und dienationale Sicherheit zu bedrohen. Die Klage be-traf ungefähr 40 Printmedien, Internetportaleund Rundfunkstationen. Sie forderte auch, diePartei Alga! und die soziale Bewegung KhalykMaydany als »extremistische« Organisationeneinzustufen. Am gleichen Tag ordnete ein Ge-richt in Almaty die sofortige Einstellung aller Ak-tivitäten von Alga! an. Andere Gerichte wiesendie Mehrheit der ins Visier genommenen Me-dienunternehmen an, Publikation, Verteilungund Sendebetrieb zu stoppen.

Flüchtlinge und AsylsuchendeUnter Missachtung einer Entscheidung desUN-Ausschusses gegen Folter und in Verlet-zung seiner Verpflichtungen nach den interna-tionalen Menschenrechts- und Flüchtlingsab-kommen nahm Kasachstan weiterhin Personenfest, um sie an Länder wie Usbekistan auszu-liefern, wo ihnen Folter und andere Misshand-lungen drohten.

Im Juni entschied der UN-Ausschuss gegenFolter, dass Kasachstan das UN-Übereinkom-men gegen Folter verletzt habe, als es 28 usbe-kische Männer, darunter Asylbewerber, an Us-bekistan auslieferte.ý Der Usbeke Sobir Nosirow wurde zwölf Mo-nate lang zum Zwecke seiner Auslieferung inGewahrsam gehalten und schließlich im Juli2012 ohne Anklage freigelassen. Er hatte Us-bekistan zusammen mit seiner Familie im Jahr2005 verlassen, um in Russland zu arbeiten,und hatte sowohl eine gültige zeitweilige Auf-enthaltsgenehmigung als auch eine Arbeitser-laubnis erhalten. Im Juli 2011 war er überra-schend an der Grenze zu Kasachstan festge-nommen worden. Grundlage für die Festnahmewar ein Haftbefehl, den die usbekischen Be-hörden wegen seiner mutmaßlichen Beteili-gung an den gewalttätigen Ausschreitungenim Mai 2005 in Andischan ausgestellt hatten. Erwurde mehrere Tage in Uralsk ohne Kontaktzur Außenwelt in Haft gehalten. Trotz eindeuti-ger Hinweise, dass die im Auslieferungsersu-chen enthaltenen Anschuldigungen einer ge-nauen Prüfung nicht standhalten würden,

setzte ihn das Gericht nicht auf freien Fuß. Am24. Juli wurde er ohne offizielle Erklärung frei-gelassen und von Sicherheitskräften eskortiertan die russische Grenze gebracht.

Amnesty International: Mission und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Kasachstan

im Dezember.ÿ Kazakhstan: Progress and nature of official investigations

called into question 100 days after violent clashes betweenpolice and protester in Zhanaozen,http://195.234.175.160/en/library/info/EUR57/001/2012/en

KatarAmtliche Bezeichnung: Staat KatarStaatsoberhaupt:

Scheich Hamad bin Khalifa Al ThaniRegierungschef:

Scheich Hamad bin Jassim bin Jabr Al Thani

Das Recht auf freie Meinungsäußerungblieb 2012 weiterhin eingeschränkt.Neue Fälle von Folterungen wurden be-kannt. Frauen waren noch immer vordem Gesetz und im täglichen Leben be-nachteiligt und wurden zur Zielscheibevon Gewalt. Ausländische Arbeitsmigran-ten, die den Großteil der Arbeitskräfte

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Katar 213

im Land stellen, genossen nach wie vorkeinen ausreichenden gesetzlichenSchutz gegen Ausbeutung und Miss-handlungen durch ihre Arbeitgeber. ImJahr 2012 wurde mindestens ein Todes-urteil verhängt. Meldungen über Hin-richtungen gab es keine.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Behörden übten eine strenge Kontrolle desRechts auf freie Meinungsäußerung aus undverschärften die Einschränkungen noch durchden Entwurf eines neuen Mediengesetzes.Sollte dieses Gesetz in Kraft treten, müssten alleVeröffentlichungen durch eine von der Regie-rung eingesetzte »zuständige Behörde« geneh-migt werden. Diese Einrichtung hätte dann dieBefugnis, Inhalte zu streichen oder den Ab-druck ganz zu verbieten.ý Der Dichter Mohammed al-Ajami, auch alsMohamed Ibn al-Dheeb bekannt, wurde am29. November 2012 wegen »Anstiftung zumSturz der aktuellen Regierung« und »Beleidi-gung des Emirs« von einem Strafgericht in Dohazu lebenslanger Haft verurteilt. In seinen Ge-dichten hatte er die Unterdrückung in den Golf-staaten angeprangert. Nach seiner Verhaftungim November 2011 war er ohne Kontakt zur Au-ßenwelt in Haft gehalten worden; der Dichterist offenbar ein gewaltloser politischer Gefange-ner. Er legte gegen das Urteil Berufung ein.

Rechte von ArbeitsmigrantenAusländische Arbeitsmigranten, die mehr als90% der Arbeitnehmer Katars stellen, genos-sen weiterhin keinen ausreichenden gesetz-lichen Schutz vor Ausbeutung und Misshand-lungen durch ihre Arbeitgeber. Die Behördenversäumten es, die Schutzvorschriften, die imArbeitsgesetz von 2004 und in weiteren Dekre-ten festgeschrieben sind, angemessen durch-zusetzen. Die Lebensbedingungen der Arbeits-migranten waren oft völlig unzureichend. VieleArbeiter gaben an, sie hätten Überstundenüber das maximale gesetzliche Maß hinausableisten müssen oder einen deutlich geringe-ren Lohn als vertraglich vereinbart bekom-men.

Die überwiegend als Hausangestellte arbei-tenden weiblichen Arbeitsmigranten sowie an-dere Arbeitnehmer blieben von den Schutzbe-stimmungen des Arbeitsgesetzes ausge-schlossen. Damit waren sie ganz besondersAusbeutung und Misshandlungen sowie sexu-ellem Missbrauch ausgesetzt. Die Regierunghatte sich zuvor verpflichtet, Gesetze zur Lö-sung dieses Problems zu erlassen. Bis Ende2012 waren jedoch keine entsprechendenSchritte eingeleitet worden.

Das Sponsorengesetz aus dem Jahr 2009schreibt vor, dass ausländische Arbeitsmig-ranten verpflichtet sind, eine Genehmigungihres Sponsors einzuholen, wenn sie Katarverlassen oder den Arbeitgeber wechselnmöchten. Arbeitgeber nutzten dieses Gesetzaus, um Arbeiter daran zu hindern, im Falle vonMissbrauch bei den Behörden Beschwerdeeinzulegen oder den Arbeitsplatz zu wechseln.Das Sponsorensystem erhöhte für die Arbeiterdas Risiko der Zwangsarbeit. Im Oktober be-richtete die staatliche Nachrichtenagentur,dass das Kabinett einen Untersuchungsaus-schuss zur Frage des Sponsorensystems ein-setzen werde.

Diskriminierung – Recht aufStaatsbürgerschaftRund 100 Menschen, denen in den vergange-nen Jahren ihre katarische Staatsbürgerschaftentzogen worden war, blieb aufgrund ihrerStaatenlosigkeit weiterhin der Zugang zu Ar-beit sowie zum Sozialversicherungs- und Ge-sundheitssystem verwehrt. Davon betroffenwaren vor allem Angehörige der al-Murra-Ge-meinschaft. Sie durften gegen den Entzugihrer Staatsbürgerschaft keinen Einspruch er-heben und konnten die Rechtmäßigkeit derMaßnahme somit nicht anfechten.

Folter und andere MisshandlungenEs gab Berichte über neue Fälle von Folter undanderen Misshandlungen.ý Nach ihrer Freilassung gaben Abdullah al-Khawar und Salem al-Kawari an, dass sie wäh-rend ihrer Haft aus Gründen der Sicherheit imJahr 2011 ohne Anklageerhebung oder Ge-

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214 Kenia

richtsverfahren geschlagen und an den Extre-mitäten aufgehängt worden seien. Sie hättenüber Stunden hinweg stehen müssen, nichtschlafen dürfen, seien in winzigen Zellen inEinzelhaft gehalten worden und über lange Zeitkalten Temperaturen ausgesetzt gewesen. Da-mit wollte das Verhörpersonal »Geständnisse«von ihnen erpressen. Die Behörden leitetenkeine Untersuchungen zu diesen Vorwürfenein. Die Verantwortlichen wurden nicht zur Re-chenschaft gezogen.

Im November fand eine Überprüfung von Ka-tars Umsetzung des UN-Übereinkommens ge-gen Folter statt. Der UN-Ausschuss gegen Fol-ter forderte die Regierung dringend auf, diegrundlegenden Sicherheitsbestimmungen derKonvention in der Praxis für alle inhaftiertenPersonen anzuwenden. Es müsse sichergestelltwerden, dass Vorwürfe über Missbrauch un-verzüglich und unabhängig untersucht würdenund die Gefangenen die Rechtmäßigkeit ihrerHaft und ihrer Behandlung während der Haftüberprüfen lassen könnten.

Diskriminierung und Gewalt gegenFrauen und MädchenFrauen wurden immer noch vor dem Gesetzund im täglichen Leben diskriminiert undwaren nur unzureichend gegen häusliche Ge-walt geschützt. Sie wurden insbesonderedurch das Familienrecht benachteiligt, dases Männern sehr viel leichter machte, dieScheidung einzureichen, als Frauen. Letzterehatten im Falle einer Scheidung oder Tren-nung von ihrem Ehemann mit erheblichenwirtschaftlichen Nachteilen zu rechnen.

Todesstrafe2012 wurde mindestens ein Todesurteil ver-hängt. Ein Mann aus Sri Lanka wurde wegenMordes verurteilt. Es gab jedoch keine Berichteüber Hinrichtungen. Mindestens sechs Män-ner sollen sich zum Jahresende in den Todes-zellen befunden haben. Sie waren 2001 wegenihrer Beteiligung am Putschversuch im Jahr1996 zum Tode verurteilt worden.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Delegierte von Amnesty International statteten Katar

im Oktober einen Besuch ab.ÿ Katar: Briefing to the United Nations Committee against

Torture, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE22/001/2012/en

ÿ Katar should take steps to end use of torture and otherilltreatment, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE22/003/2012/en

KeniaAmtliche Bezeichnung: Republik KeniaStaatschef: Mwai KibakiRegierungschef: Raile Odinga

Die Rechte auf Versammlungsfreiheitund freie Meinungsäußerung waren ein-geschränkt. Sowohl in der Vergangenheitals auch in jüngster Zeit verübte Men-schenrechtsverletzungen, darunterrechtswidrige Tötungen, blieben straf-los. Flüchtlinge und Asylsuchende ausSomalia erfuhren fremdenfeindlicheGewalt und liefen Gefahr, willkürlich von

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Kenia 215

der Polizei festgenommen zu werden. Inden Grenzstädten der Nordost-Provinzsowie in Nairobi gab es mehrere Grana-ten- und Bombenanschläge.

HintergrundDie Umsetzung der Verfassungsreformenwurde 2012 fortgeführt und zog sich über dasganze Jahr hin. Das Parlament verabschiedetemehr als 27 Gesetze. Die Kommission für dieUmsetzung der Verfassung (Commission on theImplementation of the Constitution – CIC) be-anstandete jedoch mehrere der Gesetze alsnicht verfassungskonform. Die Implementie-rung einiger vom Parlament verabschiedeterGesetze, darunter das Polizeigesetz (NationalPolice Service Act), verzögerte sich.

Kenias Sicherheitslage wurde durch Ausbrü-che von Gewalt in allen Landesteilen beein-trächtigt, so in der Nordost-Provinz, der Küsten-provinz und in den Städten Kisumu und Nai-robi.

Straflosigkeit – Gewalt nach denWahlen 2007 / 08Obwohl die Regierung mehrfach erklärte, dassdie Verbrechen und Menschenrechtsverlet-zungen, darunter mutmaßliche Verbrechen ge-gen die Menschlichkeit, die während der ge-walttätigen Ausschreitungen nach den Wahlen2007 /08 begangen worden waren, weiterhinuntersucht würden, wurde bisher nichts unter-nommen, um die Täter zur Verantwortung zuziehen.

Im Februar 2012 richtete der Generalstaats-anwalt eine Arbeitsgruppe ein, die die Aufgabehatte, Entscheidungen über die 5000 noch an-hängigen Rechtsfälle zu treffen. Es war dasdritte Mal, dass eine derartige Gruppe gebildetwurde, um den Rückstand aufzuarbeiten. ImAugust gab die Arbeitsgruppe bekannt, dassdie Beweislage in den meisten Fällen nichtausreichte, um Verfahren in die Wege zu leiten.

Nachdem der UN-Menschenrechtsaus-schuss die von Kenia bei der Implementierungdes Internationalen Pakts über bürgerliche undpolitische Rechte erzielten Fortschritte begut-achtet hatte, brachte er in seinen im Juli veröf-

fentlichten abschließenden Bemerkungen Be-sorgnis darüber zum Ausdruck, dass gegen dieVerantwortlichen der gewalttätigen Ausschrei-tungen keine Ermittlungen und Strafverfolgun-gen durchgeführt wurden.

Menschenrechtsverletzungen durchdie PolizeiAmnesty International erhielt weiterhin Berichteüber eine Vielzahl von Menschenrechtsverlet-zungen, für die die Polizei verantwortlich war.Dazu gehörten u. a. exzessive Gewaltanwen-dung, willkürliche Inhaftierungen und Fälle vonMisshandlungen von Personen in Polizeige-wahrsam. Es gab zudem zahlreiche Berichte,wonach die Polizei landesweit gezielt gegenAngehörige bestimmter Personengruppen, vorallem Menschen somalischer Herkunft, vor-ging.

Von der Polizei verübte Menschenrechtsver-letzungen blieben weiterhin straflos. Die Um-setzung wichtiger Gesetze, die den Rahmen fürdie Polizeireform bildeten, verzögerte sich er-heblich. Das Unabhängige Überwachungsgre-mium für die Polizei (Independent PolicingOversight Authority – IPOA) nahm im Juni seineArbeit auf. Das Gremium hatte die Aufgabe,gegen die Polizei erhobenen Beschwerdennachzugehen sowie disziplinarische Vergehenund Straftaten zu untersuchen, die von Ange-hörigen des Nationalen Polizeidienstes (Natio-nal Police Service) begangen worden waren. Eswurden jedoch Zweifel daran geäußert, dassdas dem IPOA zur Verfügung gestellte Budgetzur Erfüllung seiner Aufgaben ausreicht.ý Im Oktober 2012 nahm die Polizei den Vorsit-zenden des Republikanischen Rats von Mom-basa (Mombasa Republican Council – MRC),Omar Mwamnuadzi, sowie 40 weitere Perso-nen, vermeintliche Mitglieder des MRC, fest.Während der Festnahme tötete die Polizei zweiPersonen und fügte mehreren anderen Verlet-zungen zu. Unter den Verletzten war auchOmar Mwamnuadzi, der geschlagen wordenwar. Die Gruppe wurde beschuldigt, eineReihe von Straftaten begangen zu haben, zudenen Mitgliedschaft in einer verbotenen Ver-einigung, Anstiftung zu Gewalt und Besitz von

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216 Kenia

Schusswaffen zählten. Ihre Verfahren warenzum Jahresende noch anhängig.ý Gleichfalls im Oktober schoss die Polizei mitGummigeschossen in eine Menschenmenge,die vor einer Polizeistation gegen die kritischeSicherheitslage in der informellen SiedlungMathare in Nairobi demonstrierte. Drei der Pro-testierenden wurden festgenommen und be-schuldigt, zu Gewalt angestiftet zu haben. Sie-ben Menschenrechtsverteidiger, darunter einlokaler Mitarbeiter und zwei ehrenamtlicheGruppenmitglieder von Amnesty International,die versucht hatten, ein Treffen mit der Polizeidurchzuführen, um über die Protestaktion zudiskutieren, wurden willkürlich festgenommen,über Nacht ohne Kontakt zur Außenwelt in derPolizeistation Pangani in Gewahrsam gehaltenund geschlagen. Sie wurden beschuldigt, zuGewalt angestiftet, einen Polizeibeamten beider Ausübung seiner Dienstpflichten behin-dert und sich ungebührlich benommen zu ha-ben. Ihr Verfahren war zum Jahresende nochanhängig.

Nach Granaten- und Bombenanschlägenwurden im November und Dezember 2012Hunderte ethnische Somalier willkürlich oder indiskriminierender Absicht von der Polizei undanderen Sicherheitskräften festgenommen. DieFestnahmen erfolgten hauptsächlich im Stadt-viertel Eastleigh in Nairobi. Es wurde vermutet,dass die Attentate von Al-Shabab, einer in So-malia aktiven islamistischen Gruppe ausgingen,die auch einige Operationen in Kenia durchge-führt haben soll. Allerdings sind in Kenia Soma-lier auch systematischer Diskriminierung aus-gesetzt, weil Kenia eine große Anzahl somali-scher Flüchtlinge beherbergt, die als Belas-tung für das Land angesehen werden (siehe un-ten). Im Dezember sollen innerhalb von nurdrei Tagen mehr als 300 Personen festgenom-men worden sein, unter ihnen Flüchtlinge undAsylsuchende aus Somalia und Kenianer soma-lischer Herkunft. Die meisten von ihnen wur-den ohne Anklageerhebung wieder auf freienFuß gesetzt. Viele der Inhaftierten gaben je-doch an, dass die Sicherheitskräfte sie währendder Festnahme oder im Gewahrsam misshan-delt hätten und Geld von ihnen erpresst bzw.

einen diesbezüglichen Versuch unternommenhätten. Die Welle der Festnahmen ohne An-klage gab Anlass zu ernsthaften Befürchtun-gen, dass der Grund für das Verhalten der Poli-zei in der Diskriminierung von Somaliern lag.ý Im Oktober 2012 wurde Shem Kwega, einPolitiker der Partei Orange Democratic Move-ment, in der Stadt Kisumu von Unbekanntengetötet. Sein Tod hatte eine öffentliche De-monstration zur Folge, die in Gewalt umschlug;so wurden Polizisten mit Steinen beworfen. AlsReaktion auf den Protest setzte die Polizeischarfe Munition ein. Berichten zufolge wur-den dabei vier Menschen tödlich getroffen.Einige Personen verloren ihr Leben, als einContainer Feuer fing, in dem sie Zuflucht ge-sucht hatten. Mehrere Zeugen gaben an, dassdas Feuer ausgebrochen sei, nachdem die Po-lizei Tränengasgranaten auf die Container ab-geschossen hatte.

Gewalt zwischen ethnischen GruppenDer zwischen den Volksgruppen der Pokomound Orma bestehende Konflikt um Wasserund Weideland im Distrikt Tana River ver-schärfte sich. Schätzungen zufolge wurden biszum Jahresende etwa 200 Personen bei diesenZusammenstößen getötet und rund 30000vertrieben.

Obwohl im September mehr als 2000 Polizei-beamte im Distrikt Tana Delta entsandt wor-den waren, kam es zu weiteren Zusammenstö-ßen zwischen den beiden ethnischen Grup-pen. Die Ungewissheit hinsichtlich der Reaktionder Sicherheitskräfte auf diese Situation undihrer Fähigkeit, die in Tana lebenden Personenvor Menschenrechtsverletzungen zu schüt-zen, gab Anlass zu ernsthafter Besorgnis. Orts-ansässige Bewohner berichteten, dass sieschon vor August wiederholt versucht hätten,die Polizei und die Sicherheitskräfte auf ihreBefürchtungen angesichts der eskalierendenSituation aufmerksam zu machen, ihre Be-denken seien aber nicht ernst genommen wor-den.

Die Behörden setzten einen Untersuchungs-ausschuss ein, der die Todesfälle und den Vor-wurf, dass die Polizei nicht angemessen reagiert

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Kenia 217

habe, untersuchen sollte. Bis zum Jahresendewar jedoch noch kein Bericht hierüber erstelltworden.

Internationale StrafverfolgungIm Januar 2012 entschied die Vorverfahrens-kammer II des Internationalen Strafgerichts-hofs (ICC), das Verfahren gegen William Ruto,Joshua arap Sang, Uhuru Kenyatta undFrancis Muthaura zuzulassen. Den vier Män-nern wird vorgeworfen, während der Gewalt-ausbrüche nach den Wahlen 2007 /08 Verbre-chen gegen die Menschlichkeit begangen zuhaben. Uhuru Kenyatta, derzeit Vize-Premier-minister, und William Ruto, ehemaliger Bil-dungsminister, hatten erklärt, dass sie für dieWahlen im Jahr 2013 kandidieren wollen. Diekenianische Regierung hat offenbar versucht,die Zuständigkeit des ICC für diese vier Fällezu untergraben. Die Ostafrikanische Gesetzge-bende Versammlung (East African LegislativeAssembly – EALA) nahm im April eine Ent-schließung an, in der der Ministerrat der Ost-afrikanischen Gemeinschaft (East African Com-munity Council of Ministers) dringend aufge-fordert wurde zu beantragen, dass diese Fälleaus der Zuständigkeit des ICC in die des Ost-afrikanischen Gerichtshofs (East African Courtof Justice – EACJ) übertragen werden. Der Ost-afrikanische Gerichtshof ist jedoch für Fälle vonVerbrechen nach dem Völkerrecht nicht zu-ständig. Im Juli kündigte der ICC an, dass dieGerichtsverfahren im April 2013 beginnen wür-den.

Flüchtlinge und AsylsuchendeZum Ende des Jahres 2012 beherbergte Keniamehr als 600000 Flüchtlinge und Asylsu-chende, die überwiegend aus Somalia stamm-ten. Die meisten von ihnen lebten in denFlüchtlingslagern von Dadaab. Das Verfahrenzur Registrierung von Neuankömmlingen inDadaab und auch der Transport Asylsuchendervon der Grenze bis Dadaab waren noch immereingestellt. Dies bedeutete, dass die Menscheneine Strecke von etwa 100 km zu Fuß bewälti-gen mussten, um Asyl beantragen zu können.Die Polizei misshandelte nach wie vor Flücht-

linge in den Lagern von Dadaab. Im Mai 2012nahm die Polizei nach einem Angriff auf einPolizeifahrzeug in einem der Lager willkürlichFlüchtlinge fest, inhaftierte und schlug sie. DiePolizei gab an, nach Sprengstoff gesucht zu ha-ben.

Hochrangige Regierungsbeamte drohten wie-derholt an, die Flüchtlingslager in Dadaab zuschließen und alle Bewohner im Laufe des Jah-res zwangsweise in den Süden Somalias zu-rückzuführen. Sie bezeichneten Dadaab alseine »Sicherheitsbedrohung« und behaupte-ten, dass die Gebiete im Süden Somalias sicherseien. Amnesty International und andere Men-schenrechtsgruppen bestritten dies jedoch(siehe Länderbericht Somalia).

Außer den Personen, die in Kenia in Flücht-lingslagern lebten, waren beim UN-Hochkom-missar für Flüchtlinge (UNHCR) etwa 55000Flüchtlinge und Asylsuchende in Nairobi undanderen städtischen Zentren registriert.

Im Dezember 2012 kündigte die kenianischeRegierung an, dass alle Flüchtlinge und Asyl-suchenden aus städtischen Gebieten in Flücht-lingslager umgesiedelt werden sollten. DerUNHCR drückte seine ernsthafte Besorgnisdarüber aus und forderte die Regierung auf,diese politische Entscheidung nicht umzu-setzen.

BinnenflüchtlingeIm Oktober 2012 verabschiedete das Parlamentdas Gesetz über Binnenflüchtlinge (InternallyDisplaced Persons Act). Das Gesetz verpflichtetdie Regierung und andere Institutionen dazu,Menschen vor Umständen zu schützen, die zuihrer Vertreibung führen können, und Einrich-tungen zur Unterstützung von Binnenflüchtlin-gen zu schaffen.

Recht auf Wohnen –Zwangsräumungený Am 28. Januar 2012 vertrieb die Polizeirechtswidrig zahlreiche Menschen aus ihrenWohnungen in Mukuru Kwa N’jenga im Ostenvon Nairobi. Drei Personen starben bei dieserZwangsräumung. Eine Frau wurde durch einenStromschlag getötet, als ein spannungsfüh-

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rendes Starkstromkabel während der Räu-mungsaktion herunterfiel, und eine andereFrau kam durch ein verirrtes Geschoss zu Tode.Außerdem wurde ein Kind getötet, als Men-schen, die gegen die Vertreibung protestierthatten, in Panik vor der Polizei flüchteten.ý Im August 2012 wurden die Bewohner von 70Wohnungen aus der informellen Kiamaiko-Siedlung in Nairobi vertrieben, obwohl in einemlaufenden Gerichtsprozess das Eigentums-recht an dem Land geklärt werden sollte.ý Die Bewohner der informellen Siedlung DeepSea in Nairobi waren weiterhin dem Risikoausgesetzt, vertrieben zu werden, um für einStraßenbauprojekt der kenianischen Straßen-baubehörde (Kenya Urban Roads Authority –KURA) Platz zu machen. Während KURA be-reits einen Umsiedlungsplan für die betroffenenBewohner entwickelte, sagten diese, dass sieüber den Plan nicht in angemessener Formkonsultiert worden seien und er nicht von derkorrekten Anzahl der tatsächlich von derZwangsräumung betroffenen Personen aus-gehe.

Im Oktober wurde dem Parlament ein Gesetz-entwurf eines Parlamentsabgeordneten vorge-legt, der Richtlinien für Räumungen vorsah undZwangsräumungen verbot. Bis Ende 2012hatte es jedoch keine Debatte über diesen Ge-setzentwurf gegeben. Im Oktober setzte dasMinisterium für Landverwaltung (Ministry ofLands) eine neue Arbeitsgruppe ein, die einenähnlichen Gesetzentwurf überprüfen sollte, dendas Ministerium im Jahr 2011 erarbeitet hatte,der aber noch nicht ins Parlament eingebrachtworden war.

TodesstrafeWährend des ganzen Jahres fällten Gerichte21 Todesurteile, doch fanden in Kenia keineHinrichtungen statt. Das im Jahr 2012 verab-schiedete Gesetz für die kenianischen Vertei-digungskräfte (Kenya Defence Forces Act) siehtvor, dass Angehörige der nationalen Streit-kräfte wegen zahlreicher Straftaten zum Todeverurteilt werden können. Hierunter fallen Ver-rat, Spionage, Kollaboration mit dem Feind, Un-terstützung des Feindes durch Geheimdienst-

informationen und rechtswidrige Agitation füreinen Regierungswechsel.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Kenia

in den Monaten Januar, Oktober und Dezember.ÿ Kenya; Submission to the Human Rights Committee, June

2012, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR32/002/2012/en

KirgisistanAmtliche Bezeichnung: Kirgisische RepublikStaatsoberhaupt: Almasbek AtambajewRegierungschef: Schantoro Satibaldijew (löste

im September Omurbek Babanow im Amt ab)

Folter und andere Misshandlungen warenim ganzen Land weit verbreitet. Dochgingen Polizei und Justizbehörden ent-sprechenden Vorwürfen nicht nach. InBezug auf die gewalttätigen Auseinan-dersetzungen im Juni 2010 und derenFolgen hatten die Behörden nach wie vorkeine unparteiischen und effektivenUntersuchungen eingeleitet. Und denTausenden von Opfern schwerer Strafta-ten und Menschenrechtsverletzungen,darunter auch Verbrechen gegen dieMenschlichkeit, war noch immer keineGerechtigkeit widerfahren. EthnischeUsbeken waren im Zusammenhang mitden gewalttätigen Ausschreitungen vom

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Kirgisistan 219

Juni 2010 weiterhin in unverhältnismäßi-gem Umfang von Inhaftierung undStrafverfolgung betroffen.

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen waren 2012nach wie vor verbreitet, trotz eines umfassen-den staatlichen Programms zur Folterbekämp-fung, das auf der Grundlage von Empfehlun-gen des UN-Sonderberichterstatters über Folterentwickelt wurde, und eines Gesetzes, das dieEinrichtung eines Nationalen Zentrums zur Ver-hütung von Folter und anderen Misshandlun-gen vorsah.

Der UN-Sonderberichterstatter erklärte im Fe-bruar 2012, Fälle von Folter und anderenMisshandlungen zum Erzwingen von Geständ-nissen seien »nach wie vor an der Tagesord-nung«. Außerdem gebe es »praktisch kein kla-res Verfahren, das festlegt, welche Maßnah-men Gerichte zu ergreifen haben, wenn Be-weismittel auftauchen, die durch Folter oderMisshandlungen erlangt wurden«. Zudemscheine es in der Praxis keine Anweisung andie Gerichte zu geben, dieses Grundprinzipauch umzusetzen und bei Verstößen dagegenunverzügliche, unparteiische und effektive Er-mittlungen einzuleiten.

Ferner erklärte der Sonderberichterstatter, imGegensatz zu Maßnahmen und Erklärungendes derzeitigen Staatspräsidenten, der früherenStaatspräsidentin sowie der Generalstaatsan-wältin seien ihm keine Anweisungen der zu-ständigen Beamten des Innenministeriumsbekannt, die Folter und andere Misshandlun-gen verurteilten und unmissverständlich er-klärten, dass man Folter und andere Misshand-lungen durch Polizeibeamte nicht dulde.ý Am 11. September 2012 nahmen PolizistenAnna Ageeva in Bischkek unter Mordverdachtfest. Die schwangere 18-Jährige wurde dreiTage lang in der Polizeiwache des BezirksSwerdlowsk ohne Kontakt zur Außenwelt in Ge-wahrsam gehalten. Anna Ageeva gab an, Poli-zisten hätten sie während dieser Zeit an denHaaren gezogen und mit Handschellen aneinen Heizkörper gefesselt. Außerdem habeman sie in den Bauch und in die Nieren getre-

ten und geschlagen, um sie zu zwingen, denMord an einer anderen jungen Frau zu »geste-hen«. Ein Anwalt der NGO Kylym Shamy erstat-tete wegen der Folterungen Anzeige beim Be-zirksstaatsanwalt von Swerdlowsk. Drei weitereStraftatverdächtige, darunter der 17-jährige Ai-diana Toktasunova, die im Zusammenhang mitderselben Mordsache inhaftiert waren, legtenähnliche Beschwerden bei der Bezirksstaatsan-waltschaft ein. Auch sie gaben an, Polizistenhätten sie gefoltert, um ein »Geständnis« zu er-pressen. Das Innenministerium wies die Fol-tervorwürfe als »absurd« zurück. Untersuchun-gen des Ministeriums hätten keinerlei Beweisefür ein Fehlverhalten der Polizisten ergeben. DieBezirksstaatsanwaltschaft leitete wegen derFoltervorwürfe im Oktober strafrechtliche Er-mittlungen ein.ý Im November 2012 schrieb die Menschen-rechtsorganisation Spravedlivost (Gerechtig-keit) an die Generalstaatsanwältin mit der Bitte,sie persönlich möge die Ermittlungen leitenbezüglich des Vorwurfs, mehr als ein DutzendPolizisten hätten acht Häftlinge im Untersu-chungsgefängnis von Dschalalabat misshan-delt. Mitarbeiter von Spravedlivost hatten dasHaftzentrum besucht, nachdem Angehörigeder Inhaftierten die Organisation auf die Ver-stöße aufmerksam gemacht hatten.

Die Inhaftierten berichteten, Polizisten hättensie ins Gesicht, auf den Kopf und den Körpergeschlagen. Außerdem habe man sie nacktausgezogen und gezwungen zu rennen. ZweiTage nach den Spravedlivost-Mitarbeitern be-suchte die zuständige Ombudsperson das Un-tersuchungsgefängnis und traf alle 42 Häft-linge. 37 von ihnen bestätigten, misshandeltworden zu sein. Daraufhin bat die Ombudsper-son die Bezirksstaatsanwaltschaft, den Vor-würfen nachzugehen. Das Innenministeriumleitete ebenfalls eine interne Untersuchungein, behauptete jedoch, keinerlei Hinweise aufMisshandlungen gefunden zu haben.

Die willkürlichen Festnahmen, die sich insbe-sondere gegen ethnische Usbeken richteten,schienen 2012 abzunehmen. Doch gingen wei-terhin Berichte über schwere Menschen-rechtsverletzungen ein, die an ethnischen Us-

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beken im Zusammenhang mit den laufendenUntersuchungen der gewalttätigen Ausschrei-tungen vom Juni 2010 verübt wurden. Dazuzählten Folter und andere Misshandlungen, er-zwungene »Geständnisse« und unfaire Ge-richtsprozesse. Der UN-Sonderberichterstatterüber Folter zeigte sich in seinem Bericht vomFebruar 2012 besorgt darüber, dass die»schweren Menschenrechtsverletzungen inVerbindung mit diesen Ermittlungen in den ver-gangenen Monaten unvermindert andauer-ten«.

Unfaire GerichtsverfahrenDer UN-Sonderberichterstatter über Folter er-klärte, er habe Zeugenaussagen gehört, wo-nach »bei Gerichtsverhandlungen, die die ge-waltsamen Ausschreitungen vom Juni 2010betrafen, Richter und Staatsanwälte es wieder-holt versäumten, Informationen über Folterund Misshandlungen nachzugehen, die vonAngeklagten oder deren Anwälten vorgebrachtwurden«. Außerdem sei die Entscheidung desObersten Gerichtshofs vom 20. Dezember2011, Azimzhan Askarovs Rechtsmittel abzu-weisen und die gegen ihn verhängte lebens-lange Haftstrafe zu bestätigen, ein »Beispielfür das Versagen des höchsten Gerichts, Vor-würfen wegen Folter und Misshandlung nach-zugehen«. Die Regierung warf dem UN-Son-derberichterstatter Einseitigkeit vor und er-klärte, die Generalstaatsanwaltschaft habe allevon Azimzhan Askarov und seinen Mitange-klagten erhobenen Vorwürfe der Folter und er-zwungener Geständnisse gründlich untersuchtund keine überzeugenden Indizien gefunden,die diese Behauptungen gestützt hätten.ý Der bekannte Menschenrechtsverteidigerund gewaltlose politische GefangeneAzimzhan Askarov befand sich Ende 2012 wei-terhin in Einzelhaft. Laut einem Bericht derNGO Ärzte für die Menschenrechte (Physiciansfor Human Rights – PHR) vom Oktober hattesich sein Gesundheitszustand deutlich ver-schlechtert, insbesondere was seine Sehkraft,sein Nervensystem und seine Atmung betraf.Doch wurde ihm die notwendige ärztliche Ver-sorgung verweigert, was eine Form der Miss-

handlung darstellte. Bei einer Untersuchungim Januar hatten PHR-Experten bei AzimzhanAskarov Anzeichen für eine traumatische Ge-hirnverletzung infolge von Folter festgestellt. ImNovember legte sein Anwalt Beschwerde beimUN-Menschenrechtsausschuss ein.

StraflosigkeitZwar unternahmen die Behörden in den ver-gangenen zwei Jahren Anläufe, um die gewalt-samen Ausschreitungen vom Juni 2010 in denStädten Osch und Dschalalabat aufzuklären –oft gegen erheblichen internen Widerstand,doch gelang es nicht, die Ereignisse und ihreFolgen effektiv aufzuklären und den TausendenOpfern schwerer Straftaten und Menschen-rechtsverletzungen, darunter auch Verbrechengegen die Menschlichkeit, Gerechtigkeit wi-derfahren zu lassen.

Im April 2012 gab der Staatsanwalt der StadtOsch bekannt, dass von 105 Fällen, die im Zu-sammenhang mit den Ausschreitungen vomJuni 2010 vor Gericht verhandelt wurden, le-diglich zwei mit Freispruch geendet hätten. Nurin einem Fall war ein ethnischer Usbeke ange-klagt, und zwar Farrukh Gapirov. Der Sohn desMenschenrechtsverteidigers Ravshan Gapirovkam frei, nachdem das Berufungsgericht fest-gestellt hatte, dass seine Verurteilung aufeinem »Geständnis« beruhte, das unter Foltererpresst worden war. Gegen die Polizisten, diefür die Folter verantwortlich waren, wurden je-doch keine strafrechtlichen Schritte eingelei-tet.

Die erste – und bisher einzige – Verurteilungethnischer Kirgisen wegen Mordes an ethni-schen Usbeken während der Ausschreitungenvom Juni 2010 wurde aufgehoben.ý Im Mai 2012 hob das Bezirksgericht vonDschalalabat den Schuldspruch gegen vierethnische Kirgisen auf, denen die Ermordungvon zwei Usbeken während der Ausschreitun-gen vom Juni 2010 zur Last gelegt wurde. Zweider Angeklagten waren im November 2010 zu25 bzw. 20 Jahren Haft verurteilt worden. DieMänner hatten angegeben, in Haft gefoltertworden zu sein. Die beiden anderen Angeklag-ten hatten dreijährige Bewährungsstrafen er-

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halten. Das Berufungsgericht hob die Urteilegegen die vier Männer auf, verwies den Fallzur weiteren Untersuchung und ließ die Ange-klagten gegen Kaution frei. Drei der Angeklag-ten wurden freigesprochen, während derjenige,der vom erstinstanzlichen Gericht zu 25 Jah-ren Haft verurteilt worden war, unter Auflagenauf freien Fuß kam.

Trotz offizieller Anweisungen der General-staatsanwaltschaft, jedem einzelnen Berichtüber Folter nachzugehen, versäumten es dieStaatsanwälte regelmäßig, entsprechende Vor-würfe gründlich und unparteiisch zu untersu-chen und die Verantwortlichen zur Rechen-schaft zu ziehen. Nach Ansicht des UN-Sonder-berichterstatters über Folter erwiesen sich dieBemühungen der Übergangsregierung zur Auf-klärung und Bestrafung der Menschenrechts-verstöße im Zusammenhang mit den Ereignis-sen vom Juni 2010 als weitgehend ineffektiv.ý Im März 2012 wurde ein Verfahren gegen vierPolizeibeamte, die wegen Folter vor Gerichtstanden, nach Dschalalabat zurückverlegt. DenAngeklagten wurde die Folterung von Us-monzhon Kholmirzaev zur Last gelegt, der imAugust 2011 an den Folgen gestorben war. DerVorsitzende Richter am Bezirksgericht vonDschalalabat forderte weitere Ermittlungenund ließ zwei der angeklagten Polizisten gegenKaution frei. Vor Beginn der Verhandlung imSeptember 2011 hatten Angehörige und An-hänger der beschuldigten Polizisten öffentli-che Protestkundgebungen abgehalten, die teil-weise gewaltsam endeten. Vor dem Gerichts-gebäude und im Verhandlungssaal schüchter-ten sie Zeugen der Anklage sowie die Angehö-rigen und den Anwalt von Usmonzhon Kholmir-zaev ein. Außerdem übten sie Druck auf denRichter aus, die Angeklagten für nicht schuldigzu erklären. Die Verhandlung wurde daraufhinaus Sicherheitsgründen in das 500 Kilometerentfernte Tschüi-Gebiet verlegt. Doch wurdendie Hauptzeugen dennoch mit Gewalt bedroht,und manche änderten ihre Aussage zuguns-ten der Angeklagten ab. Einige sahen sich ge-zwungen, das Land zu verlassen, um die Si-cherheit ihrer Familien zu gewährleisten. TrotzBeschwerden der Witwe von Usmonzhon

Kholmirzaev und ihrer Anwälte hatte die Be-zirksstaatsanwaltschaft von DschalalabatEnde 2012 noch keine Ermittlungen gegen dieAngehörigen und Anhänger der Angeklagteneingeleitet. Am 26. Dezember vertagte das Be-zirksgericht die Verhandlung auf unbestimmteZeit, nachdem drei Verteidiger der Angeklagtennicht zu einer Anhörung erschienen waren.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Kirgisistan

im April, Mai, September und Dezember.ÿ Kyrgyzstan: Dereliction of duty, http://www.amnesty.org/en/

library/info/EUR58/001/2012/en

KolumbienAmtliche Bezeichnung: Republik KolumbienStaats- und Regierungschef:

Juan Manuel Santos Calderón

Im Oktober 2012 wurden in Norwegenformelle Friedensgespräche zwischender Regierung und den RevolutionärenStreitkräften von Kolumbien (FuerzasArmadas Revolucionarias de Colombia –FARC) aufgenommen. Zwischen denbeiden Konfliktparteien hatten derartigeGespräche ein Jahrzehnt lang nichtmehr stattgefunden. Es blieben Zweifeldaran bestehen, ob ein stabiler Friedenohne eine glaubhafte Verpflichtung bei-der Seiten, den Menschenrechtsverstö-ßen ein Ende zu setzen, und die bin-dende Zusage vonseiten der Regierung,die Schuldigen zur Verantwortung zu zie-hen, möglich sein würde.

Im Dezember verabschiedete der Kon-gress ein Gesetz, das dem Militärjustiz-system größere Befugnisse bei Ermitt-lungen in Fällen von Menschenrechts-verletzungen einräumte und damit dieGefahr heraufbeschwor, dass das Recht

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der Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeitund Entschädigung untergraben wird.

Alle Parteien des seit langem andauern-den Konflikts – zum einen die Sicher-heitskräfte, die entweder allein oder imEinvernehmen mit den Paramilitärsagierten, und zum anderen die verschie-denen Guerillagruppen – machten sichweiterhin schwerer Menschenrechtsver-stöße und Verletzungen des humanitä-ren Völkerrechts schuldig. Dazu zähltenrechtswidrige Tötungen, Vertreibungen,Folter, Entführungen oder Verschwinden-lassen sowie sexuelle Gewalt. DieHauptleidtragenden waren indigene Be-völkerungsgruppen, afro-kolumbiani-sche und bäuerliche Gemeinschaften,Menschenrechtsverteidiger und Ge-werkschafter.

Das Gesetz über Entschädigungen fürOpfer und über Landrückgabe trat am1. Januar 2012 in Kraft. Es sieht vor,dass ein Teil des Millionen Hektar um-fassenden, während des Konflikts rechts-widrig und häufig unter Anwendung vonGewalt angeeigneten Landes an seinerechtmäßigen Eigentümer zurückgege-ben werden soll. Als Reaktion darauf be-drohten Nutznießer der unrechtmäßigerworbenen Ländereien Personen, die für

die Landrückgabe eintraten oder auf ihrLand zurückkehren wollten, und schreck-ten auch vor Mord nicht zurück.

Interner bewaffneter KonfliktDie Hauptlast der Menschenrechtsverstößeund Verletzungen des humanitären Völker-rechts, die im Zusammenhang mit dem Konfliktverübt wurden, hatten weiterhin Zivilpersonenzu tragen. Im Jahr 2012 wurden Angaben zu-folge zehntausende Menschen, überwiegendAngehörige indigener Volksgruppen, Afro-Ko-lumbianer und Mitglieder von Kleinbauernge-meinschaften in ländlichen Regionen, aus ihrenWohnorten vertrieben.ý Im Juni 2012 wurden über 130 Personen ausEl Tarra im Departamento Santander und etwa400 Personen aus Leiva im Departamento Na-riño gezwungen, ihre Wohnstätten zu verlas-sen.

Zivile Gemeinschaften wie die Friedensge-meinde San José de Apartadó im Departa-mento Antioquia, die das Recht einfordern, vonden Kampfparteien nicht in ihre bewaffneteAuseinandersetzung hineingezogen zu werden,waren weiterhin schweren Menschenrechts-verstößen ausgesetzt.ý Am 28. Juni 2012 verfolgten 50 bewaffneteParamilitärs der Gruppierung Fuerzas Gaita-nistas de Colombia zwei Bewohner der Frie-densgemeinde und drohten ihnen, den Klein-bauern Fabio Graciano zu töten.ý Am 4. Februar 2012 schossen zwei Paramili-tärs von einem Motorrad aus auf Jesús EmilioTuberquia, den rechtlichen Vertreter der Frie-densgemeinde. Der Angriff erfolgte in derStadt Apartadó, nur etwa 100m von einem Po-lizeikontrollpunkt entfernt.

Bombenanschläge in städtischen Gebietenhatten den Tod von Zivilpersonen zur Folge.ý Am 15. Mai 2012 wurden in der HauptstadtBogotá mehr als 50 Personen durch eine Au-tobombe verletzt. Unter ihnen befand sich derInnenminister Fernando Londoño Hoyos. SeinFahrer und sein Leibwächter wurden getötet.Obwohl die Behörden die FARC beschuldig-ten, bekannte sich keine Guerillagruppe zudem Anschlag.

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Im Juli 2012 ratifizierte Kolumbien das Inter-nationale Übereinkommen zum Schutz allerPersonen vor dem Verschwindenlassen. DasLand weigerte sich jedoch, die Zuständigkeitdes UN-Ausschusses über das Verschwinden-lassen anzuerkennen, und verweigerte damitden Opfern und deren Familien das wichtigeRecht, ihren Anspruch auf Gerechtigkeit gel-tend zu machen. Obwohl es kaum möglich war,genaue Zahlen vorzulegen, wird angenom-men, dass während des Konflikts mindestens30000 Personen Opfer des Verschwindenlas-sens wurden.ý Hernán Henry Díaz, Sprecher des RundenTischs der sozialen Organisationen im Depar-tamento Putumayo und Mitglied des NationalenGewerkschaftsverbands der Beschäftigten inder Landwirtschaft (Federación Nacional Sin-dical Unitaria Agropecuaria – FENSUAGRO),wurde zum letzten Mal am 18. April gesehen.Zur Zeit seines »Verschwindens« koordinierteer die Teilnahme von Delegierten aus Putu-mayo an einer landesweiten politischen De-monstration, die Ende April in Bogotá stattfin-den sollte.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenDie negativen Auswirkungen des Konflikts aufdie indigene Bevölkerung verstärkten sich, alsdie Feindseligkeiten auf den von ihr besiedeltenGebieten, insbesondere in den Departamen-tos Cauca und Valle del Cauca, ausgetragenwurden. Nach Angaben der Indigenenorgani-sation Organización Nacional Indígena de Co-lombia (ONIC) wurden im Jahr 2012 mehr als84 Angehörige der indigenen Bevölkerungs-gruppen getötet, darunter 21 Sprecher indige-ner Gemeinschaften.ý Am 12. August 2012 wurde Lisandro Tenorio,geistlicher Führer der indigenen Gemeinschaftder Nasa, vor seinem Haus in Caloto im Depar-tamento Cauca erschossen. Berichten zufolgewaren Guerilleros der FARC die Täter.

Tausende Angehörige indigener Bevölke-rungsgruppen mussten infolge der Kampf-handlungen ihre Heimatorte verlassen. Im Juli2012 wurden 1500 indigene Einwohner von

ihrem Land in Bagadó im Departamento Chocóvertrieben.

Hochrangige Beamte machten Aussagen, indenen sie indigene Sprecher und Gemein-schaften mit Guerillagruppen in Verbindungbrachten. Im August beschuldigte z. B. derVerteidigungsminister die FARC, die indigeneBewegung zu infiltrieren. Derartige Äußerun-gen trugen zu einem Klima bei, in dem Verstößegegen Angehörige der indigenen Bevölke-rungsgruppen geduldet, ermutigt oder begüns-tigt wurden.

LandrückgabeDas Gesetz über Entschädigungen für Opferund über Landrückgabe provozierte eine Ge-genreaktion vonseiten einiger Nutznießer derwiderrechtlich angeeigneten Ländereien. Per-sonen, die für die Rückgabe des Landes anseine rechtmäßigen Besitzer eintraten, wur-den ermordet oder bedroht, und es gab weiter-hin Zweifel, ob die Behörden in der Lage wa-ren, ihren Schutz sicherzustellen. Es trafen Be-richte ein, denen zufolge in verschiedenen Re-gionen Kolumbiens Paramilitärs agierten, diesich selbst als Anti-Rückgabe-Armee (Ejércitocontra la Restitución) bezeichneten. MehrereMenschenrechtsorganisationen und Perso-nen, die sich für die Rückgabe von rechtswidrigangeeignetem Land einsetzten, erhielten imJahr 2012 von diesen Gruppierungen Morddro-hungen.

Das Gesetz schloss viele Personen, die Opfervon Verstößen durch paramilitärische Grup-pen waren, von der Landrückgabe aus, weildiese Gruppen von der Regierung nicht mehrals Konfliktpartei angesehen wurden. Das Ge-setz enthielt auch Bestimmungen, die die Be-mühungen um Landrückgabe und das Rechtder Opfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Ent-schädigung untergruben. Am 12. September2012 urteilte das Verfassungsgericht, dassTeile des Gesetzes gegen die Verfassung ver-stießen. Dazu gehörten Maßnahmen, die»Strohmänner«, die widerrechtlich angeeigne-tes Land abtraten, von der strafrechtlichenVerfolgung ausnahmen. Das Gericht erklärteauch eine Formulierung als nicht verfassungs-

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konform, nach der eine Landrückgabe ausge-schlossen wurde, wenn anzunehmen war,dass die Opfer »illegale« Maßnahmen ergriffenhatten, um die Rückgabe ihres widerrechtlichangeeigneten Landes zu erreichen.

SicherheitskräfteDie Sicherheitskräfte waren für schwere Men-schenrechtsverletzungen und Verletzungendes humanitären Völkerrechts verantwortlich.Dabei handelten sie manchmal im Einverneh-men mit paramilitärischen Gruppierungen. Esgab nach wie vor Berichte über rechtswidrigeTötungen durch die Sicherheitskräfte, obwohldie Anzahl gegenüber den Vorjahren zurück-ging.ý Am 2. Oktober 2012 übergaben die Sicher-heitskräfte den zivilen Behörden in der StadtCali den Leichnam des 15-jährigen NorbeyMartínez Bonilla mit der Behauptung, es han-dele sich um einen Guerillero, der im Kampfgetötet worden sei. Der Jugendliche war am28. September während Kampfhandlungenzwischen den Sicherheitskräften und Guerilla-gruppen aus seinem Zuhause in Caloto imDepartamento Cauca verschwunden. NorbeyMartínez Bonilla lebte in El Pedregal, einemWeiler, für den im Jahr 2010 die Interameri-kanische MenschenrechtskommissionSchutzmaßnahmen durch den Staat geforderthatte.

Bei der strafrechtlichen Verfolgung von Täternwaren kaum Fortschritte zu verzeichnen. DasMilitärjustizsystem stellte routinemäßig Ermitt-lungen in Fällen von Menschenrechtsverlet-zungen ein, an denen Angehörige der Sicher-heitskräfte beteiligt waren. Ein im Mai 2012vom UN-Sonderberichterstatter über außerge-richtliche, summarische und willkürliche Hin-richtungen veröffentlichter Bericht stellte fest,dass »die kontinuierlichen Versuche des Mili-tärjustizsystems, die Zuständigkeit über Fällezu erhalten, besorgniserregend« seien.

ParamilitärsTrotz ihrer angeblichen Demobilisierung warendie paramilitärischen Gruppierungen, die vonder Regierung als »kriminelle Banden« (Ban-

das criminales – Bacrim) bezeichnet werden,für schwere Menschenrechtsverletzungen ver-antwortlich. Dazu gehörten Morde, Verschwin-denlassen und »soziale Säuberungen« in Stadt-vierteln mit armer Bevölkerung. Einige dieserVerbrechen wurden in Absprache oder mit still-schweigender Billigung der Sicherheitskräftedurchgeführt. Die Opfer waren überwiegendGewerkschafter und Menschenrechtsverteidi-ger wie auch Vertreter indigener Bevölkerungs-gruppen und Gemeinschaften von Afro-Ko-lumbianern und Kleinbauern.ý Am 23. März 2012 verschleppten ParamilitärsManuel Ruíz und dessen 15-jährigen SohnSamir de Jesús Ruíz, die der Gemeinschaft derKolumbianer afrikanischer Herkunft und derAfro-Mestizen in der Gemeinde Apartadocitoangehörten, die am Flussbecken des Curva-radó im Departamento Chocó liegt. Am 24.Märzinformierte ein Mitglied der Paramilitärs dieFamilienangehörigen von Manuel Ruíz, dassdieser und sein Sohn getötet worden seien.Der Leichnam von Manuel Ruíz wurde am27. März aufgefunden, während der Leichnamseines Sohnes, der gefoltert worden war, amTag darauf entdeckt wurde. Die Morde fandenkurz vor einer Regierungsinspektion statt, beider die Eigentumsrechte an Land im Gebietvon Los Piscingos überprüft werden sollten. DieFamilie von Manuel Ruíz und andere Perso-nen waren im Jahr 1996 von Paramilitärs undSicherheitskräften aus diesem Gebiet vertrie-ben worden.

Der Prozess für Gerechtigkeit und Frieden,der im Jahr 2005 begonnen hatte, verweigerteden Opfern von Menschenrechtsverstößendurch Paramilitärs weiterhin ihr Recht aufWahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigung.Angaben der Generalstaatsanwaltschaft zu-folge waren bis 1. Dezember 2012 im Rahmendes Prozesses für Gerechtigkeit und Friedennur vier Paramilitärs wegen Menschenrechts-verstößen verurteilt worden.

Im Dezember stimmte der Kongress einer Re-form des Gesetzes für Gerechtigkeit und Frie-den zu. Irreguläre Kombattanten, die zum Zeit-punkt des Inkrafttretens des Gesetzes ihreWaffen noch nicht niedergelegt hatten, werden

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von den neuen gesetzlichen Regelungen pro-fitieren.

GuerillagruppenDie FARC und die Nationale Befreiungsarmee(Ejército de Liberación Nacional – ELN) verüb-ten schwere Menschenrechtsverstöße und Ver-letzungen des humanitären Völkerrechts.Dazu gehörten Morde, Geiselnahmen, Vertrei-bungen, Rekrutierung von Kindern und derGebrauch von Waffen mit undifferenziertenAuswirkungen. In den ersten sieben Monatendes Jahres 2012 wurden 125 Zivilpersonen und122 Angehörige der Sicherheitskräfte durchLandminen getötet, die hauptsächlich von Gue-rillagruppen gelegt worden waren.

Im Februar 2012 kündigten die FARC an, dasssie die Geiselnahme von Zivilpersonen zwecksEintreibung von Lösegeld beenden würden. DieGuerillagruppe verpflichtete sich jedoch nichtzur Beendigung aller Menschenrechtsverstöße.Im Jahr 2012 wurden insgesamt mehr als 305Personen von kriminellen Banden, aber auchvon Guerillagruppen entführt.ý Am 24. Juli 2012 wurden die JournalistinÉlida Parra Alfonso und die Ingenieurin GinaPaola Uribe Villamizar in Saravena im Departa-mento Arauca von der ELN gekidnappt. BeideFrauen kamen einige Wochen später wiederfrei.ý Im April 2012 ließen die FARC sechs Polizei-beamte und vier Soldaten frei, die die Guerilla-gruppe seit den 1990er Jahren gefangen gehal-ten hatte.

Die FARC waren für willkürliche Angriffe ver-antwortlich, durch die Zivilpersonen in Gefahrgerieten.ý Im Juli 2012 töteten die FARC bei einem An-griff auf ein Ölfeld im Departamento Putumayofünf Zivilpersonen.

StraflosigkeitEinige Bemühungen, die Verantwortlichen fürMenschenrechtsverstöße zur Rechenschaft zuziehen, verliefen erfolgreich.ý Im August 2012 verurteilte ein Gericht der zi-vilen Justizbehörden den General a.D. RitoAlejo del Río wegen der Ermordung eines Klein-

bauern durch Paramilitärs zu 26 Jahren Ge-fängnis. Das Gericht stellte fest, dass Rito Alejodel Río zwar nicht direkt an diesem Mord undvielen weiteren Tötungen beteiligt war, die indem Gebiet begangen wurden, das unter sei-nem Kommando stand, dass er aber enge Kon-takte zu Paramilitärs unterhielt und ihnen er-möglichte, straflos Menschenrechtsverstöße zuverüben.

Die große Mehrheit der für Menschenrechts-verstöße Verantwortlichen entzog sich jedochweiterhin den Justizbehörden. In Menschen-rechtsfälle involvierte Personen, wie Zeugenund Rechtsanwälte, wurden bedroht und sogargetötet.ý Am 10. Oktober 2012 zielte ein Mann miteinem Gewehr auf Alfamir Castillo und drohteihr, sie und ihre Anwälte Jorge Molano und Ger-mán Romero zu erschießen. Sie ist die Muttereines Mannes, der im Jahr 2009 im Departa-mento Valle del Cauca von Soldaten getötetwurde. Der Angriff auf sie erfolgte einige Tagevor einer gerichtlichen Anhörung, bei der esum die Beteiligung von vier Armeeangehörigenan der Tat ging. Sieben Soldaten waren wegendes Mordes bereits zu langen Gefängnisstrafenverurteilt worden.

Mit dem Erlass von zwei neuen Gesetzen stiegdie Gefahr, dass sich das Problem der Straflo-sigkeit noch verschärfen könnte. Im Juni 2012nahm der Kongress den sogenannten Rechts-rahmen für den Frieden (Marco Legal para laPaz) an, mit dem die Möglichkeit geschaffenwurde, dass sich Verantwortliche für Men-schenrechtsverstöße der Justiz entziehen. ImDezember verabschiedete der Kongress eineVerfassungsreform, die dem Militär größereBefugnisse bei strafrechtlichen Ermittlungen inFällen von Menschenrechtsverletzungen ge-währt, mit denen Angehörige der Sicherheits-kräfte in Verbindung gebracht werden. Zudemkönnte die Reform dazu führen, dass unter Ver-letzung internationaler Menschenrechtsstan-dards viele Fälle von Menschenrechtsverletzun-gen an das Militärjustizsystem übergeben wer-den. Im Oktober 2012 verurteilten elf UN-Son-derberichterstatter und unabhängige Expertendie Reform.

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MenschenrechtsverteidigerObwohl die Regierung Angriffe auf Menschen-rechtsverteidiger öffentlich verurteilt hatte,wurden diese weiterhin angegriffen, bedrohtund rechtswidrig mit Verfahren überzogen;auch kam es zum Diebstahl sensibler Informa-tionen über Fälle von Menschenrechtsverlet-zungen. 2012 wurden in Kolumbien mindes-tens 40 Menschenrechtsverteidiger und Ge-meindesprecher sowie 20 Gewerkschaftsmit-glieder getötet.ý Am 28. Februar 2012 schickte die paramilitä-rische Gruppierung Águilas negras – Bloquecapital Morddrohungen an mehrere Men-schenrechts-NGOs, darunter Frauenrechtsor-ganisationen und Organisationen, die sich fürdie Landrückgabe einsetzten. Sie wurden be-schuldigt, »die Vertriebenen einer Gehirnwä-sche zu unterziehen und so zu agieren, alsseien sie Menschenrechtsverteidiger«. Sie soll-ten »damit aufhören, wegen des Themas derLandrückgabe Schwierigkeiten zu bereiten«.

Menschenrechtsverteidigerinnen standenhauptsächlich im Visier paramilitärischerGruppen. Einige wurden vergewaltigt, um sie zubestrafen und zum Schweigen zu bringen.ý Am 29. Januar 2012 wurde Cleiner María Al-manza Blanco von einer Gruppe unbekannterMänner gezwungen, in ein Taxi zu steigen. Siewar Repräsentantin von Frauen, die aus ihrenWohnorten vertrieben worden waren, undsetzte sich aktiv für deren Rechte ein. Ihre Ent-führer brachten sie an einen unbekannten Ort,wo sie über Personen, die sie kannte und mitdenen sie arbeitete, befragt wurde. Die Männertraten sie und stießen sie gegen das Taxi. Einerder Männer vergewaltigte Cleiner María Al-manza Blanco. Im Jahr 2010 hatte die Inter-amerikanische Menschenrechtskommissiondie Behörden aufgefordert, für Cleiner MaríaAlmanza und 13 weitere gefährdete Frauen, vondenen vier gleichfalls vergewaltigt worden wa-ren, Schutzmaßnahmen zu ergreifen.

Gewalt gegen FrauenAlle Konfliktparteien setzten sexuelle Gewalt ge-gen Frauen ein, darunter Vergewaltigung undandere Formen geschlechtsbasierter Gewalt.

ý Am 18. Mai 2012 wurde eine indigene Frauvon einem Soldaten am Rande einer Straße imDepartamento Putumayo vergewaltigt. Berich-ten zufolge befand sich die Armeeeinheit, derder Soldat angehörte, zu diesem Zeitpunkt nur100m entfernt.ý Am 16. März 2012 drangen acht schwerbe-waffnete maskierte Männer in Zivilkleidung,von denen angenommen wird, dass es sich umParamilitärs handelte, in ein von Afro-Kolum-bianern bewohntes Viertel in Tumaco im Depar-tamento Nariño ein. Sie bedrohten und schlu-gen die Bewohner, vergewaltigten zwei Frauenund missbrauchten ein 16-jähriges Mädchen.

Nur sehr wenige für derartige Verbrechen Ver-antwortliche wurden vor Gericht gestellt. Ineinem der seltenen Erfolgsfälle wurde am27. August Unterleutnant Raúl Muñoz Linareszu 60 Jahren Gefängnis verurteilt – wegen Ver-gewaltigung und Tötung der 14-jährigen JenniTorres Jaimes, der Ermordung ihrer beidenneun- bzw. sechsjährigen Brüder und der Ver-gewaltigung eines weiteren Mädchens in Tameim Departamento Arauca im Oktober 2010.

Ende 2012 lag dem Kongress ein Gesetzent-wurf vor, der darauf abzielt, »für Opfer sexuel-ler Gewalt, insbesondere sexueller Gewalt imKontext des bewaffneten Konflikts, den Zu-gang zur Justiz sicherzustellen«. Die Annahmedes Gesetzes würde u. a. auch die Änderungdes Strafgesetzbuchs nach sich ziehen und be-stimmte Formen konfliktbezogener sexuellerGewalt – Zwang zur Nacktheit, Abtreibung oderSchwangerschaft – als eigene Straftatbe-stände definieren.

Die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekre-tärs für sexuelle Gewalt in Konflikten besuchteKolumbien im Mai 2012. Während ihres Be-suchs erklärte sie, dass noch mehr getan wer-den müsse, um sicherzustellen, dass Überle-bende konfliktbezogener sexueller Gewalt Zu-gang zu den Justizbehörden erhalten.

US-amerikanische HilfeIm Jahr 2012 stellten die USA etwa 482 Mio.US-Dollar an militärischer und nichtmilitäri-scher Hilfe für Kolumbien bereit. Darin waren281 Mio. US-Dollar für die Sicherheitskräfte

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enthalten. Im September wurden ungefähr12 Mio. US-Dollar Hilfsgelder für Sicherheits-aufgaben aus dem Jahr 2011 freigegeben,nachdem das US-Außenministerium beschei-nigt hatte, dass Kolumbien beträchtliche Fort-schritte bei der Verbesserung der Menschen-rechtssituation gemacht habe.

Internationale KontrolleDer im Januar 2012 veröffentlichte Kolumbien-Bericht der UN-Hochkommissarin für Men-schenrechte würdigte, dass »wichtige Initiati-ven in Gesetzgebung und Politik auf den Weggebracht (und) Menschenrechtsverletzungen(von den Behörden) verurteilt wurden«, dassaber »diese Bemühungen erst noch die er-wünschten Resultate auf der lokalen Ebene er-bringen müssen«. Der Bericht stellte überdiesfest, dass »noch immer in großem AusmaßVerletzungen der Menschenrechte und des hu-manitären Völkerrechts – hauptsächlich durchillegale bewaffnete Gruppen, aber wohl auchdurch im staatlichen Auftrag handelnde Ak-teure – begangen werden« und dass diese Si-tuation zu »schwerwiegenden humanitärenKonsequenzen für Zivilpersonen« führt. NachAnsicht des Büros der UN-Hochkommissarinfür Menschenrechte stellt die Straflosigkeit wei-terhin »ein strukturelles Problem« dar.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Kolumbien

in den Monaten Januar, März, April, Juni, Oktober undNovember.

ÿ Colombia: The Victims and Land Restitution Law – anAmnesty International analysis, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR23/018/2012/en

ÿ Colombia: Hidden from Justice – Impunity for conflict-related sexual violence, a follow-up report,http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR23/031/2012/en

Kongo(DemokratischeRepublik)

Amtliche Bezeichnung:Demokratische Republik Kongo

Staatsoberhaupt: Joseph KabilaRegierungschef: Matata Ponyo Mapon

(löste im April Adolphe Muzito im Amt ab)

Die bereits prekäre Sicherheitslage imOsten der Demokratischen RepublikKongo (DR Kongo) verschlechterte sichin bedenklichem Ausmaß. Gründe dafürwaren die zunehmende Ausbreitung be-waffneter Gruppen wie der neu gegrün-deten Gruppe 23. März (Mouvement du23-Mars – M23), der einfache Zugangzu Waffen und Munition sowie die vonden kongolesischen Streitkräften verüb-ten Menschenrechtsverletzungen. So-wohl die bewaffneten Gruppen als auchdie Sicherheitskräfte der Regierung be-drohten und schikanierten Menschen-rechtsverteidiger, Journalisten sowie An-

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gehörige der politischen Opposition undnahmen sie willkürlich fest.

HintergrundAm 28. April 2012 ernannte der neugewähltePräsident Joseph Kabila nach monatelangemStreit über die Wahlergebnisse eine neue Re-gierung.

Die Armee (Forces Armées de la RépubliqueDémocratique du Congo – FARDC) führteihren Prozess der Neuausrichtung fort, derauch die teilweise Integration bewaffneterGruppen in die Armee vorsah. Die Restrukturie-rung verlief unkoordiniert und führte schließ-lich dazu, dass bewaffnete Gruppen die Kon-trolle über Gebiete übernahmen, die von derFARDC geräumt worden waren.

Im April 2012 gründeten Deserteure derFARDC in Nord- und Südkivu die bewaffneteGruppe M23. Zuvor hatte General BoscoNtaganda, der vor dem Internationalen Straf-gerichtshof wegen Verbrechen gegen dieMenschlichkeit und Kriegsverbrechen unterAnklage steht, zur Meuterei aufgerufen. DieM23 behauptete, sie kämpfe dafür, dass dieRegierung der DR Kongo das Friedensabkom-men vom 23. März 2009 vollständig respek-tiere.

Zusammenstöße zwischen der FARDC undbewaffneten Gruppen führten zu einer Ver-schlechterung der Sicherheitslage und triebenTausende von Menschen zur Flucht aus ihrenWohnorten. Gewaltsame Auseinandersetzun-gen zwischen Soldaten der FARDC und Kämp-fern der M23 fanden zwischen April und Sep-tember und nochmals im November statt, alsGoma, die Hauptstadt von Nordkivu, elf Tagelang unter die Kontrolle der M23 fiel. Auch an-dere bewaffnete Gruppen sollen an den Aus-einandersetzungen beteiligt gewesen sein. Da-bei verübten alle Konfliktparteien zahlreicheMenschenrechtsverstöße.

Übergriffe der bewaffneten Gruppen auf dieZivilbevölkerung nahmen zu.

Die von den Vereinten Nationen zur Friedens-sicherung entsandte Mission (United NationsOrganization Stabilization Mission in the DRCongo – MONUSCO) ergriff mehrere Maßnah-

men, um die Sicherheit wiederherzustellen,und verstärkte ihre Präsenz in den von derFARDC geräumten Gebieten. Aufgrund ihrerbereits überstrapazierten Ressourcen warenihre Möglichkeiten, die Sicherheit der Zivilbe-völkerung in ausreichendem Maße zu gewähr-leisten, jedoch stark limitiert.

Im Jahr 2012 dokumentierten die UN-Exper-tengruppe für die DR Kongo, Amnesty Interna-tional und mehrere internationale NGOs die Hil-festellung, die Ruanda der M23 gewährte. Soermöglichte und unterstützte Ruanda auf sei-nem Territorium die Rekrutierung von Kämp-fern für die M23 und belieferte die Gruppe mitWaffen und Munition.

Nachdem es im November erneut Kämpfezwischen der M23 und der FARDC gegebenhatte und Goma zeitweilig durch die M23 er-obert worden war, begannen am 9. DezemberVerhandlungen zwischen den Ländern der Re-gion unter der Schirmherrschaft der Interna-tionalen Konferenz der Region der GroßenSeen.

Menschenrechtsverstöße bewaffneterGruppenMit der Truppenverlegung der FARDC zur Be-kämpfung der M23 in der östlichen DR Kongoentstand ein Sicherheitsvakuum in anderen Ge-bieten. Dies ermöglichte es mehreren bewaff-neten Gruppen, während der Ausdehnung ihrermilitärischen Operationen auf diese Gebieteschwere Menschenrechtsverstöße zu begehen.Zu diesen Gruppen gehörten u. a. Raia Mu-tomboki, Nyatura, Forces Démocratiques deLibération du Rwanda (FDLR), Forces Natio-nales de Libération (Burundi), Mayi Mayi Shekaund Alliance des Patriotes pour un Congo Li-bre et Souverain.

Zu den von diesen Gruppen begangenenMenschenrechtsverstößen zählten rechtswid-rige Tötungen, Massenhinrichtungen, Zwangs-rekrutierungen von Kindern, Vergewaltigun-gen und anderweitige sexuelle Gewalt, umfang-reiche Plünderungen und Zerstörung von Ei-gentum. Dabei wurde extreme Gewalt ange-wandt. In einigen Fällen waren die Verstößeethnisch motiviert. Die Situation wurde durch

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die leichte Verfügbarkeit von Waffen und Mu-nition noch zusätzlich angeheizt.ý In der Nacht des 13. Mai 2012 wurden in Bu-nyakiri im Verwaltungsbezirk Kalehe in derProvinz Südkivu mindestens 20 Zivilpersonenbei einem Angriff, der laut Berichten von derFDLR verübt worden sein soll, rechtswidrig ge-tötet und weitere verletzt. Der Vorfall fand nurwenige Kilometer von einem MONUSCO-Stand-ort entfernt statt.

Andere bewaffnete Gruppen waren weiterhinim Nordosten des Landes aktiv, darunter dieLord’s Resistance Army (LRA), die Mayi MayiLumumba und die Allied Democratic Forces /National Army for the Liberation of Uganda(ADF /NALU).

Gewalt gegen Frauen und MädchenFrauen und Kinder waren die Leidtragendender verschärften Kampfhandlungen und wur-den in vielen Fällen Opfer von Vergewaltigungund anderen Formen sexueller Gewalt. Täterwaren sowohl Angehörige der FARDC als auchder bewaffneten Gruppen. Frauen und Mäd-chen in Dörfern, in denen die bewaffnetenGruppen und die Armee Plünderungen undOperationen zur Einschüchterung durchführ-ten, waren besonders gefährdet. Das Gleichegalt für diejenigen, die in Lagern für Vertrie-bene lebten und häufig lange Wege zurückle-gen mussten, um zu ihren Feldern zu gelan-gen.ý Zwischen April und Mai 2012 sollenM23-Kämpfer im Gebiet von Jomba im Verwal-tungsbezirk Rutshuru in Nordkivu, wo dieGruppe ihre Basis errichtet hatte, zahlreicheMädchen und Frauen vergewaltigt haben. Diemeisten der Opfer waren durch den bewaffne-ten Konflikt aus ihren Heimatorten vertriebenworden.

Sexuelle Gewalt war insbesondere dort, wo dieArmee in der Nähe der Bevölkerung stationiertwar, stark verbreitet.ý Ende November 2012 berichteten die UN,dass Angehörige der FARDC für mindestens126 Fälle von Vergewaltigung verantwortlichseien, die in einem Zeitraum von wenigen Ta-gen in Minova verübt wurden. Die Armee hatte

sich nach dem Fall von Goma am 20. Novem-ber dorthin zurückgezogen.

Auch in anderen Teilen des Landes begingenAngehörige der Polizei und anderer Sicher-heitskräfte weiterhin Vergewaltigungen und an-dere sexuelle Gewalttaten.

Vergewaltigungsopfer wurden gesellschaftlichstigmatisiert und erhielten keine ausreichendeUnterstützung oder Hilfe.

KindersoldatenSowohl bewaffnete Gruppen als auch dieFARDC rekrutierten Kinder. Viele von ihnenwaren sexueller Gewalt und grausamer und un-menschlicher Behandlung ausgesetzt, wäh-rend sie als Kämpfer, Träger, Köche, Späher,Spione oder Boten eingesetzt wurden.ý Im März und April 2012 – vor der Gründungder bewaffneten Gruppe M23 – entführten de-sertierte FARDC-Soldaten Kinder zum Zweckder Zwangsrekrutierung. Dies geschah insbe-sondere im Verwaltungsbezirk Massisi in Nord-kivu.

Am 4. Oktober 2012 unterzeichnete die Regie-rung der DR Kongo einen im Rahmen der Re-solutionen 1612 (2005) und 1882 (2009) desUN-Sicherheitsrats angenommenen Aktions-plan zur Beendigung der Rekrutierung von Kin-dern. Der Plan sah konkrete Schritte für dieFreilassung und Reintegration der von denstaatlichen Sicherheitskräften eingesetztenKinder und die Verhinderung erneuter Rekru-tierungen vor.

MONUSCO führte weiterhin Maßnahmen zurDemobilisierung, Entwaffnung, Repatriierung,Wiederansiedlung und Reintegration von Solda-ten der FDLR, einschließlich Kindersoldaten,durch.

BinnenvertriebeneTeilweise als Folge der Ausweitung der Kampf-handlungen im Osten der DR Kongo seit April2012 stieg die Zahl der Binnenvertriebenen imBerichtsjahr auf mehr als 2,4 Mio. an. Das warseit 2009 die höchste Zahl von innerhalb desLandes vertriebenen Menschen. Am 1. No-vember 2012 gab es allein in den ProvinzenNord- und Südkivu etwa 1,6 Mio. Binnenver-

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triebene. Viele der Personen, die ihre Heimat-orte verlassen hatten, waren Zivilpersonen, dievor der Zwangsrekrutierung durch bewaffneteGruppen geflohen waren.ý Im Juli 2012 wurden Tausende Personen, vorallem Frauen, Kinder und ältere Menschenvertrieben, als die M23 gegen die nationale Ar-mee kämpfte und die Stadt Bunagana im Ver-waltungsbezirk Rutshuru einnahm.

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen waren imganzen Land verbreitet und wurden von denSicherheitskräften häufig während rechtswidri-ger Festnahmen und Inhaftierungen ange-wandt.

TodesstrafeMilitärgerichte sprachen weiterhin Todesurteileaus – auch gegen Zivilpersonen. Es gab keineMeldungen über Hinrichtungen.ý Am 30. Mai 2012 verurteilte ein Militärgerichtin Uvira zwei Soldaten in Abwesenheit zumTode und mehrere weitere Militärangehörige zulebenslanger Haft, weil sie im April dem Aufrufzur Meuterei von General Bosco Ntaganda ge-folgt waren.

StraflosigkeitDie Straflosigkeit leistete weiteren Menschen-rechtsverstößen Vorschub. Die Bemühungender Justizbehörden, die Kapazitäten der Ge-richte zu erhöhen, um Verfahren – auch sol-che, in denen es um Menschenrechtsverstößegeht – effizienter und zügiger durchzuführen,waren wenig erfolgreich; in vielen älteren Fällenwurden keine Fortschritte erzielt. Die im Jahr2011 vom Justizministerium ergriffene Initiativezum Kampf gegen die Straflosigkeit für zu-rückliegende und aktuelle Völkerrechtsverbre-chen kam zum Stillstand, und den Opfernwurde weiterhin der Zugang zu Wahrheit, Ge-rechtigkeit und Wiedergutmachung verwehrt.Gerichtsbeschlüsse wurden nicht umgesetzt,und in wichtigen Fällen wie den in den Jahren2010 und 2011 in Walikale, Bushani und Ka-lambahiro verübten Massenvergewaltigungenwurden keine weiteren Fortschritte erzielt.

Obwohl das Ministerium für Justiz und Men-schenrechte die zivilen und militärischen Jus-tizbehörden im Februar 2012 aufgeforderthatte, Ermittlungen über Vorwürfe der Gewalt-anwendung im Zusammenhang mit den Wah-len aufzunehmen, gab es während des Be-richtsjahrs kaum Anzeichen dafür, dass es beiden Ermittlungen Fortschritte gegeben hatte.

Unfaire GerichtsverfahrenMangelnde Unabhängigkeit der Gerichte, Ver-letzungen der Rechte von Angeklagten, feh-lende Verfügbarkeit von Rechtsbeiständen undKorruption waren einige der Faktoren, die dieDurchführung fairer Gerichtsverfahren behin-derten.

Das äußerst mangelhafte kongolesische Mili-tärjustizsystem hatte weiterhin die alleinigeZuständigkeit für Fälle von Völkermord, Verbre-chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsver-brechen inne, auch wenn es sich bei den Ange-klagten um Zivilpersonen handelte.

HaftbedingungenDas Strafvollzugssystem war weiterhin stark un-terfinanziert, sodass es nicht möglich war, diemaroden Gebäude instand zu setzen, gegen dieÜberbelegung vorzugehen und die extremschlechten Hygienebedingungen zu verbes-sern. Zahlreiche Insassen starben in Gefäng-nissen oder Krankenhäusern infolge von Man-gelernährung und unzureichender medizini-scher Versorgung. Die unsichere Lage für Häft-linge wurde noch dadurch verstärkt, dassFrauen nicht von Männern, Untersuchungs-häftlinge nicht von verurteilten Insassen undMilitärangehörige nicht von Zivilpersonen ge-trennt untergebracht waren.

MenschenrechtsverteidigerDie Sicherheitslage für Menschenrechtsvertei-diger im Osten des Landes verschlechtertesich 2012 immer weiter. Menschenrechtsvertei-diger waren in zunehmendem Maße Ein-schüchterungen ausgesetzt. Oft wurden siewillkürlich festgenommen oder erhieltenMorddrohungen von Angehörigen der Sicher-heitskräfte, der bewaffneten Gruppe M23 oder

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von unbekannten bewaffneten Männern, wo-durch ihre Arbeit stark beeinträchtigt wurde.

Ab Juli, als die M23 die Kontrolle über dieStadt Rutshuru in Nordkivu übernahm, muss-ten Menschenrechtsverteidiger ihre Bürosschließen. Viele flohen, nachdem sie wieder-holt in Textmitteilungen und anonymen Telefon-anrufen oder bei nächtlichen Besuchen vonbewaffneten Männern Morddrohungen erhal-ten hatten. Ende November, als die M23 diezeitweilige Kontrolle über Goma übernahm, flo-hen ebenfalls viele in der Stadt ansässigeMenschenrechtsverteidiger, um sich in Sicher-heit zu bringen.

Am 6. Dezember billigte die Nationalver-sammlung das Gesetz zur Einrichtung einerNationalen Menschenrechtskommission. Nachihrer Gründung soll die Kommission die Be-hörden dabei unterstützen, ihren Menschen-rechtsverpflichtungen nachzukommen.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenIm ganzen Land kam es weiterhin zu willkür-lichen Festnahmen und Inhaftierungen. Si-cherheitskräfte, vor allem die Polizei, die Ge-heimdienste, die Armee und die Migrations-polizei führten willkürliche Festnahmen durchund nötigten Zivilpersonen während der Straf-vollzugsmaßnahmen oder an Kontrollposten zurHerausgabe von Geld oder anderen Wertge-genständen. Vor allem in den westlichen Pro-vinzen führten Sicherheitskräfte willkürlicheFestnahmen zum eigenen Nutzen und zurrechtswidrigen Erpressung von Geldzahlun-gen durch.

Mitglieder der politischen Opposition wurdennach den Wahlen willkürlich festgenommen.Im Februar 2012 nahmen Sicherheitskräfteeinen führenden Oppositionspolitiker in Ge-wahrsam. Bevor sie ihn nach einigen Tagenwieder freiließen, sollen sie ihn gefoltert undanderweitig misshandelt haben.ý Am 27. Juni 2012 »verschwand« der Opposi-tionspolitiker Eugène Diomi Ndongala, als erauf dem Weg zur Unterzeichnung eines Koali-tionsabkommens mit anderen politischen Par-teien war. 100 Tage später kam er wieder frei,

nachdem er vom Geheimdienst (Agence Na-tionale de Renseignements) in Kinshasa ohneKontakt zur Außenwelt und ohne Zugang zuseiner Familie und einem Anwalt festgehaltenworden war. Ihm wurde auch eine ärztlicheBehandlung verweigert, obwohl er an einerchronischen Erkrankung litt.

Recht auf freie MeinungsäußerungDas Recht auf freie Meinungsäußerung war er-heblich eingeschränkt, vor allem in der Zeitnach den Wahlen und nach der zunehmendenKontrolle des Ostens durch die M23. Bevor-zugte Angriffsziele waren politische Gegner undJournalisten, die bedroht oder willkürlich fest-genommen wurden. Die Behörden legten denBetrieb von TV-Kanälen, Radiostationen undZeitungsverlagen willkürlich still. Zudem verüb-ten unbekannte Täter Brandanschläge auf dieGebäude der Sendeanstalten und Verlage oderbeschädigten sie auf andere Weise.ý Am 30. November 2012 legte die Oberste Be-hörde für audiovisuelle Medien und Kommu-nikation (Conseil Supérieur de l’Audiovisuel etde la Communication – CSAC) den Sender Ra-dio Okapi in Kinshasa ohne vorherige Ankündi-gung still, nachdem im Hörfunk ein Interviewmit einem Sprecher der M23 gesendet wordenwar.

Internationale StrafverfolgungAm 10. Juli 2012 verurteilte der InternationaleStrafgerichtshof (International Criminal Court –ICC) Thomas Lubanga Dyilo zu einer Freiheits-strafe von 14 Jahren. Thomas Lubanga Dyilowar mutmaßlicher Gründer und Präsident derUnion Kongolesischer Patrioten (Union desPatriotes Congolais – UPC) sowie Kommandeurder Patriotischen Kräfte zur Befreiung desKongo (Forces Patriotiques pour la Libérationdu Congo – FPLC), dem bewaffneten Flügelder UPC. Er war am 14. März wegen des Kriegs-verbrechens für schuldig befunden worden,Kinder unter 15 Jahren rekrutiert und eingezo-gen und sie bei Kampfhandlungen im BezirkIturi aktiv eingesetzt zu haben.

Am 13. Juli 2012 erließ der ICC einen Haftbe-fehl gegen den mutmaßlichen Kommandeur

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232 Kongo (Republik)

des bewaffneten Flügels der DemokratischenKräfte für die Befreiung Ruandas (Forces Dé-mocratiques de Libération du Rwanda – FDLR),Sylvestre Mudacumura. Ihm wurden neunFälle von Kriegsverbrechen vorgeworfen, diezwischen Januar 2009 und September 2010 imOsten der DR Kongo verübt worden sein sollen.

Ein zweiter Haftbefehl erging im Juli gegenBosco Ntaganda. Ihm werden Verbrechen ge-gen die Menschlichkeit in drei Fällen sowieKriegsverbrechen in vier Fällen zur Last gelegt.Die kongolesischen Behörden hatten es abge-lehnt, Bosco Ntaganda vor seiner Desertionaus der kongolesischen Armee im April festzu-nehmen und auszuliefern.

Am 18. Dezember 2012 sprach der ICC Ma-thieu Ngudjolo Chui, den mutmaßlichen ehe-maligen Führer der Front für Nationale Integra-tion (Front des Nationalistes et Intégrationnis-tes – FNI), von den Vorwürfen frei, im Februar2003 im Dorf Bogoro verübte Verbrechen be-gangen zu haben.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten die DR Kongo

in den Monaten Februar, Mai und September.ÿ Democratic Republic of Congo: The Congolese government

must arrest and surrender Bosco Ntaganda to the ICC,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR62/004/2012/en

ÿ »If you resist, we’ll shoot you« The Democratic Republic ofthe Congo and the Case for an effective Arms Trade Treaty,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR62/007/2012/en

ÿ Petition containing 102,105 signatures delivered by AmnestyInternational to the Minister of Justice and Human Rights,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR62/008/2012/en

ÿ The Human Rights Council must act for better protection ofcivilians and an end to threats and intimidation againsthuman rights defenders, journalists and political opponents,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR62/011/2012/en

ÿ Democratic Republic of Congo: Letter to the five permanentmembers of the Security Council, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR62/015/2012/en

ÿ Democratic Republic of Congo: ICC acquits Congolese armedgroup leader, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR62/017/2012/en

ÿ Canada: Court decision in Kilwa Massacre case denies rightto remedy for victims of corporate human rights abuses,http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR20/002/2012/en

ÿ DRC urged to stop violence as it plays host to FrancophonieSummit in Kinshasa, 10 October 2012,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/drc-urged-stop-violence-it-plays-host-francophonie-summit-kinshasa-2012-10-10

Kongo (Republik)Amtliche Bezeichnung: Republik KongoStaats- und Regierungschef:

Denis Sassou-Nguesso

Es gingen Berichte über Folter und an-dere Misshandlungen durch Angehörigeder Sicherheitskräfte ein, die in einigenFällen den Tod der Opfer zur Folge hat-ten. Drei Asylsuchende aus der Demokra-tischen Republik Kongo (DR Kongo), dieseit 2003 ohne Anklage und Gerichtsver-fahren in der Republik Kongo in Ge-wahrsam gehalten worden waren, kamenfrei. Kritiker der Regierung durftennicht von ihrem Recht auf freie Mei-nungsäußerung Gebrauch machen undwaren monatelang inhaftiert.

HintergrundAm 4. März 2012 forderten Explosionen ineinem Waffendepot des kongolesischen Pan-zerregiments in der Hauptstadt Brazzaville300 Tote und etwa 2000 Verletzte. Fast 20000Menschen wurden obdachlos. Zur Untersu-chung der Ursachen für die Katastrophe undzur Ermittlung der Verantwortlichen setzte dieRegierung eine Untersuchungskommissionein. Ende März wurden mehr als 20 Menschenfestgenommen. Sie befanden sich Ende 2012noch in Haft, ohne vor Gericht gestellt wordenzu sein. Die Festgenommenen, unter ihnenMarcel Ntsourou, Oberst der Armee und stell-vertretender Generalsekretär des NationalenSicherheitsrats, befanden sich zunächst im Ge-wahrsam des Sicherheitsdienstes Direction dela sécurité du territoire (DGST), wurden aber

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Kongo (Republik) 233

später in das Zentralgefängnis von Brazzavilleüberstellt. Der ehemalige VerteidigungsministerCharles Zacharie Bowao, der bei der im Sep-tember erfolgten Kabinettsumbildung aus derRegierung ausgeschieden war, stand wegen»Ungeschicklichkeit, Unvorsichtigkeit, Unacht-samkeit und Fahrlässigkeit, die zu den Ereig-nissen des 4. März mit Toten, Verletzten undgroßen materiellen Schäden geführt haben«unter Anklage. Bis Jahresende hatte weder derProzess gegen die im Zusammenhang mit derExplosion angeklagten Männer begonnen, nochhatte die Untersuchungskommission ihre Er-gebnisse veröffentlicht.

Im Juli und im August 2012 fanden Parla-mentswahlen statt, aus denen die regierendekongolesische Arbeiterpartei (Parti Congolaisdu Travail – PCT) als Sieger hervorging. Oppo-sitionsparteien und Menschenrechtsgruppenkritisierten, dass weniger als 20% der Wahlbe-rechtigten an der Wahl teilgenommen hätten.

Folter und andere MisshandlungenAngehörige der Sicherheitskräfte folterten Ge-fangene oder misshandelten sie anderweitig.In einigen Fällen starben die Opfer infolge die-ser Misshandlungen, ohne dass die Verant-wortlichen strafrechtlich belangt wurden.

ý Delly Kasuki starb am 26. Mai 2012, nach-dem er von Angehörigen der Polizeisonderein-heit Groupe de répression contre le banditisme(GRB) brutal zusammengeschlagen wordenwar. Die Polizisten brachten seine Leiche in dasUniversitätskrankenhaus von Brazzaville,ohne die Familie des Toten zu verständigen.Eine kongolesische Menschenrechtsorganisa-tion berichtete, dass Delly Kasuki zusammen-geschlagen wurde, als er sich der Festnahmewidersetzte, weil er sie für unrechtmäßig hielt.ý Im Juli 2012 wurde François Batchelli vonzwei Leibwächtern eines Ministers und Kandi-daten der PCT für die Nationalversammlunggeschlagen. Die Leibwächter beschuldigtenihn, einen Gegenkandidaten zu unterstützen.Weil die Leibwächter auch Felix Wamba fürden Anhänger eines Kandidaten der Opposi-tion hielten, nahmen sie ihn vorübergehend inHaft und schlugen seine Frau und seine Kin-der.

Flüchtlinge und AsylsuchendeDrei Asylsuchende aus der DemokratischenRepublik Kongo (DR Kongo), die seit März2003 ohne Anklage und Gerichtsverfahren inder Republik Kongo in Gewahrsam gehaltenworden waren, kamen frei. Médard MabwakaEgbonde erlangte im Juni 2012, Germain Nda-bamenya Etikilome im September und BoschNdala Umba im November die Freiheit wieder.Médard Mabwaka Egbonde beantragte inSchweden Asyl. Die Zukunft der beiden ande-ren Männer und der Familie von Germain Nda-bamenya Etikilome blieb ungewiss, weil ihnennach wie vor Asyl in der Republik Kongo odereinem Drittland verweigert wurde.

Ab Mai 2012 kehrten Tausende Flüchtlinge,die 2009 aus der DR Kongo in den Norden derRepublik Kongo geflüchtet waren, in die DRKongo zurück.

Fast 300 kongolesische Staatsangehörige, de-ren Flüchtlingsstatus erloschen war, wurdenaus Gabun abgeschoben. Ungefähr 100 Men-schen kehrten freiwillig zurück. Einige der Ab-geschobenen gaben an, dass sie von den gabu-nischen Behörden misshandelt worden seienund ihren Besitz verloren hätten.

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234 Korea (Nord)

Gewaltlose politische GefangenePaul Marie Mpouele, Kandidat für die National-versammlung und stellvertretender Vorsitzen-der der Kongolesischen Volkspartei (Parti dupeuple congolais – PPC), wurde am 17. Aprilfestgenommen. Die Behörden warfen ihm vor,den Präsidenten beleidigt und Morddrohungengegen ihn ausgesprochen zu haben. Die An-schuldigungen hatten mit einer Eingabe zu tun,die Paul Marie Mpouele initiiert hatte und inder Präsident Denis Sassou-Nguesso aufgefor-dert wurde, wegen der Explosion des Waffende-pots im März zurückzutreten. Paul MarieMpouele befand sich zunächst im Gewahrsamder DGST, wurde später jedoch in das Zentral-gefängnis von Brazzaville überstellt. Im Septem-ber wurde er vorläufig auf freien Fuß gesetzt.Ende 2012 war er noch nicht angeklagt worden.Er durfte das Land nicht verlassen, und jeglichepolitische Betätigung war ihm untersagt.ý Am 9. April 2012 wurden Ambroise HervéMalonga und Gabriel Hombessa, zwei Rechts-anwälte, die Oberst Marcel Ntsourou und an-dere Personen vertraten, die im Zusammen-hang mit den Explosionen vom März verhaftetworden waren, festgenommen. Die beiden An-wälte hatten versucht, eine Pressekonferenz zuorganisieren, in der sie dagegen protestierenwollten, dass sie ihre Mandanten nicht besuch-ten durften. Die Behörden beschuldigten dieAnwälte der Gefährdung der Staatssicherheit,weil sie die Pressekonferenz in der Wohnungvon Marcel Ntsourou abhalten wollten, die sichin einer Kaserne befand. Ambroise Hervé Ma-longa wurde außerdem vorgeworfen, als Vertei-diger tätig zu sein, ohne die dafür erforderlicheGenehmigung zu besitzen. Die Anwälte warendaran gehindert worden, die Pressekonferenz,wie ursprünglich geplant, in einem Hotel abzu-halten. Gabriel Hombessa wurde im Juli undAmbroise Hervé Malonga im August aus demGefängnis entlassen.

Korea (Nord)Amtliche Bezeichnung:

Demokratische Volksrepublik KoreaStaatsoberhaupt: Kim Jong-unRegierungschef: Choe Yong-rim

Systematische Menschenrechtsverlet-zungen waren auch 2012 weit verbrei-tet. Die Nahrungsmittelkrise hielt an,und chronische Unterernährung warnach wie vor ein großes Problem. DieErnährung von Millionen Menschen warweiterhin nicht gesichert, sodass sie aufNahrungsmittelhilfe angewiesen waren.Zwar soll ein politisches Straflager ge-schlossen worden sein, aber nach wievor befanden sich Zehntausende vonMenschen in solchen Lagern und warendort Menschenrechtsverletzungen wieZwangsarbeit, außergerichtlichen Hin-richtungen, Folter und anderen Miss-handlungen ausgesetzt. Es gab Berichteüber Hinrichtungen, darunter auchExekutionen im Zusammenhang mitdem Machtwechsel. Die eklatanten Ein-schränkungen der Rechte auf freieMeinungsäußerung, Vereinigungs- undVersammlungsfreiheit bestanden fort.Die Medien standen unter strikter Kon-trolle.

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Korea (Nord) 235

HintergrundKim Jong-un, seit dem Tod seines Vaters imJahr 2011 Nordkoreas Staatsoberhaupt,wurde am 11. April in die neu geschaffenePosition des Ersten Sekretärs der Arbeiterpar-tei Koreas gewählt und im Juli in den Rang einesMarschalls der Koreanischen Volksarmee er-hoben. Am 12. Dezember beförderte die Demo-kratische Volksrepublik Korea nach mehrerengescheiterten Versuchen einen Satelliten miteiner Unha-3-Rakete erfolgreich ins All.

Die staatlichen Medien verkündeten im Ja-nuar 2012 eine Amnestie für Häftlinge, die abdem 1. Februar, dem Geburtstag des verstorbe-nen Staatsoberhaupts Kim Jong-il, umgesetztwerden sollte. Es lagen jedoch keine Informatio-nen über Freilassungen vor.

Im Juli führte eine Überschwemmung zuschweren Schäden an Wohnhäusern, der In-frastruktur und öffentlichen Gebäuden. LautRegierungsangaben wurden dabei mindes-tens 212000 Menschen obdachlos und 169Personen starben.

NahrungsmittelkriseTrotz Berichten, dass es im zweiten Jahr inFolge zu besseren Ernten gekommen sei,herrschte in weiten Teilen Nordkoreas Ernäh-rungsunsicherheit. Laut UN-Bericht der Er-nährungs- und Landwirtschaftsorganisation,des Welternährungsprogramms (WFP) undder Mission Ernährungssicherheit vom Novem-ber hatte sich zwar die Nahrungsmittelversor-gung der Haushalte verbessert, »doch bestan-den weiter ernste Lücken zwischen der emp-fohlenen und tatsächlichen Nährstoffauf-nahme«. Noch immer plage chronische Man-gelernährung die meisten Menschen, vieleseien dem Verhungern nahe.

Willkürliche Festnahmen und HaftHunderttausende Menschen waren weiterhinwillkürlich inhaftiert oder wurden auf unbe-stimmte Zeit ohne Anklageerhebung oder Ge-richtsverfahren in politischen Straflagern undanderen Hafteinrichtungen festgehalten. DieGefangenen waren systematischen und anhal-tenden Verletzungen ihrer Menschenrechte

ausgesetzt, dazu zählten außergerichtlicheHinrichtungen und lange Tage anstrengenderZwangsarbeit ohne Ruhetage. Folter und an-dere Misshandlungen waren nach vorliegendenInformationen in den Straflagern weit verbrei-tet. Viele Gefangene starben aufgrund der ge-fährlichen Bedingungen, unter denen sie ar-beiten mussten. Sie erhielten u. a. nur unzurei-chenden Zugang zu Nahrung und medizini-scher Versorgung.

Im Oktober wurde über die Schließung desStraflagers Camp 22 in Hoeryong in der Pro-vinz Nord-Hamkyung berichtet. Es war jedochnicht klar, wann das Lager geschlossen wurdeund wohin man die 20000–50000 Gefangenengebracht hatte. Das Straflager, eins von fünfdieser Art, war ein Bereich absoluter Kontrolle,in dem Insassen lebenslang ohne die Möglich-keit einer Begnadigung festgehalten wurden.Viele der in politischen Straflagern festgehalte-nen Menschen haben keinerlei Verbrechen be-gangen. Weil sie aber mit Personen in Verbin-dung gebracht werden, die dem System angeb-lich feindlich gegenüberstehen, hält man sieim Rahmen einer Art Kollektivstrafe fest.ý In Beantwortung einer Anfrage der UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierungengab die Regierung im April 2012 an, dass ShinSook-ja, die dem Vernehmen nach zuletzt zu-sammen mit ihren beiden Töchtern im Strafla-ger Camp 15 Yodok festgehalten worden war,an Komplikationen im Zusammenhang miteiner Hepatitis gestorben war. Die Regierungerklärte weiter, dass die beiden Töchter keiner-lei Kontakt mit ihrem Vater Oh Kil-nam, der in-zwischen in Südkorea lebt, wollten. Diese Infor-mation konnte nicht bestätigt werden, und eswar auch nicht klar, wo und wann Shin Sook-jagestorben war. Das Schicksal und der Verbleibihrer beiden Töchter waren ebenfalls unbe-kannt.ý Im Dezember 2012 gab Nordkorea bekannt,dass Kenneth Bae (Bae Jun-ho), ein US-ame-rikanischer Staatsangehöriger koreanischerHerkunft, aufgrund von Anklagen wegen»staatsfeindlichen Handlungen« inhaftiertwurde. Kenneth Bae ist Inhaber eines Reise-unternehmens, das sich darauf spezialisiert

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236 Korea (Süd)

hat, Touristen und mögliche Investoren nachNordkorea zu bringen. Er war am 3. Novemberins Land eingereist und wurde Berichten zu-folge inhaftiert, nachdem Sicherheitsbeamtebei ihm eine Festplatte gefunden hatten, vonder sie annahmen, dass sie sensible Informatio-nen über das Land enthielt.

VerschwindenlassenDie nationalen Behörden weigerten sich weiter-hin, Fälle zu bestätigen, in denen nordkoreani-sche Agenten auf ausländischem Boden Men-schen aus Ländern wie Japan, dem Libanon,Südkorea oder Thailand entführt hatten.ý Im Juli 2012 nahm Fujita Takashi an einemTreffen der UN-Arbeitsgruppe zur Frage desVerschwindenlassens von Personen teil undbrachte dort den Fall seines Bruders Susumuzur Sprache, der Befürchtungen zufolge 1976von den nordkoreanischen Behörden aus Ja-pan entführt worden war.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Behörden schränkten die Rechte auf freieMeinungsäußerung und Versammlungsfrei-heit stark ein. Offenbar unterlagen die Medienwährend des Regierungswechsels strengenKontrollen, um Anfechtungen der Regierung zuverhindern. Allem Anschein nach gab es keineunabhängigen zivilgesellschaftlichen Organisa-tionen oder politischen Parteien.

Recht auf FreizügigkeitDie Behörden weiteten Berichten zufolge dieKontrollen entlang der Grenze zu China weiteraus und drohten Einzelpersonen, die dieGrenze ohne Erlaubnis überquerten, bei ihrerRückkehr mit schweren Strafen.ý Im Februar 2012 wurden 31 Menschen, dieNordkorea ohne Erlaubnis verlassen hatten,von den chinesischen Behörden inhaftiert. LautNachrichtenmeldungen schob China im Märzeinige von ihnen nach Nordkorea ab, wo ihnenInhaftierung, Folter und andere Misshandlun-gen sowie Zwangsarbeit und der Tod drohten.

TodesstrafeEs gab Berichte, wonach politische Gegner hin-gerichtet wurden. Diese Informationen konn-ten aber nicht bestätigt werden.ý Laut unbestätigten Berichten vom Oktoberwurde der stellvertretende Verteidigungsmi-nister, Kim Chol, Anfang 2012 wegen Trunken-heit und unangemessenen Verhaltens in deroffiziellen Trauerzeit für den früheren HerrscherKim Jong-il hingerichtet.

Internationale KontrolleIm Oktober 2012 erklärte die UN-Hochkommis-sarin für Menschenrechte, dass »die Existenzpolitischer Straflager, häufige öffentliche Hin-richtungen und eine extreme Lebensmittel-knappheit in Verbindung mit der großenSchwierigkeit, Zugang zum Land zu erhalten,Nordkorea einzigartig problematisch machen«.Zum ersten Mal verabschiedeten sowohl derUN-Menschenrechtsrat als auch der Dritte Aus-schuss der UN-Generalversammlung jeweilsim März und im November Resolutionen, überdie nicht abgestimmt wurde. In beiden Reso-lutionen wurde ernste Besorgnis über anhal-tende Berichte zu systematischen, weit ver-breiteten und schweren Verletzungen der bür-gerlichen, politischen, wirtschaftlichen, sozia-len und kulturellen Rechte in Nordkorea zumAusdruck gebracht.

Korea (Süd)Amtliche Bezeichnung: Republik KoreaStaatsoberhaupt: Lee Myung-bakRegierungschef: Kim Hwang-sik

Das Gesetz über Nationale Sicherheit(National Security Law – NSL) wurde2012 zunehmend und willkürlich heran-gezogen, um die Rechte auf Vereini-gungsfreiheit und freie Meinungsäuße-rung einzuschränken. Dies betraf auch

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Korea (Süd) 237

das Internet; dort wurden insbesondereOnline-Debatten über die Demokrati-sche Volksrepublik Korea (Nordkorea)scharf überwacht. Medienmitarbeitertraten in den Streik, um dagegen zu pro-testieren, dass ihnen die Regierung dasRecht auf freie Meinungsäußerung vor-enthielt. Die Arbeitnehmerrechte warenweiterhin bedroht, und lang anhaltendeArbeitskonflikte blieben ungelöst. Ar-beitsmigranten wurden nach wie vor dis-kriminiert und ausgebeutet. Es fandenkeine Hinrichtungen statt.

HintergrundBei den Präsidentschaftswahlen im Dezember2012 wurde mit Park Geun-hye zum erstenMal eine Frau zum Staatsoberhaupt der Repu-blik Korea (Südkorea) gewählt. Ihr Amtsantrittwar für Februar 2013 vorgesehen. Im April ge-wann die Saenuri-Partei bei den Parlaments-wahlen 152 der insgesamt 300 Sitze, währendauf die wichtigste Oppositionspartei VereinteDemokratische Partei 127 Sitze entfielen. ImAugust wurde Hyun Byung-chul erneut zumVorsitzenden der Nationalen Menschenrechts-kommission von Korea ernannt. Die Ernen-nung erfolgte ohne vorherige Konsultation derrelevanten Interessensgruppen, sodass Zwei-fel an der Unabhängigkeit und Glaubwürdigkeitder Kommission aufkamen. Im Oktober begut-achtete der UN-Menschenrechtsrat die Men-schenrechtslage in Südkorea im Rahmen derUniversellen Regelmäßigen Überprüfung.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Strafverfolgungsbehörden beriefen sich2012 weiterhin auf vage formulierte Artikel desNSL, um Personen zu inhaftieren oder anzukla-gen. Insgesamt waren davon 41 Personen be-troffen. Das Gesetz wurde auch dazu benutzt,um Debatten über Nordkorea im Internet zuunterbinden.ý Am 22. Februar 2012 verurteilte ein Beru-fungsgericht Kim Myeong-soo wegen Versto-ßes gegen das NSL zu einer sechsmonatigenGefängnisstrafe, die für zwei Jahre zur Bewäh-rung ausgesetzt wurde. Der Internetbuchhänd-ler war im Mai 2011 freigesprochen worden,doch hatte die Staatsanwaltschaft gegen dasUrteil Rechtsmittel eingelegt. Kim Myeong-soolegte seinerseits gegen die Entscheidung desBerufungsgerichts Rechtsmittel beim Obers-ten Gerichtshof ein.ý Am 21. November 2012 wurde Park Jeong-geun wegen Verletzung des NSL zu einer Ge-fängnisstrafe von zehn Monaten verurteilt, diefür zwei Jahre zur Bewährung ausgesetztwurde. Gegen ihn war seit September 2011 er-mittelt worden, nachdem er in satirischer Ab-sicht einzelne Zeilen von einer verbotenennordkoreanischen Internetseite über denKurznachrichtendienst Twitter weitergeleitethatte. Obwohl das Gericht den parodistischenCharakter einiger Beiträge einräumte, kam eszu dem Schluss, dass die Handlungen insge-samt den Tatbestand der »Unterstützung undZusammenarbeit mit einer staatsfeindlichenKörperschaft« erfüllten.

In einigen Fällen wurde Personen die Einreisenach Südkorea verweigert, um sie an Mei-nungsäußerungen zu hindern.ý Im April und im Oktober 2012 wurde sechsMitgliedern von Greenpeace auf dem Interna-tionalen Flughafen Incheon die Einreise ver-wehrt. Im Dezember strengte Greenpeaceeine Klage gegen die Regierung an wegen ihrer»Versuche, Kritik an der Atomkraft zu unter-binden«.

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238 Korea (Süd)

Journalisten und andereMedienschaffendeIm Januar 2012 legten Mitarbeiter des Rund-funksenders Munhwa Broadcasting Corpora-tion (MBC) die Arbeit nieder und forderten re-daktionelle Unabhängigkeit. Mitarbeiter derRundfunkanstalt Korea Broadcasting System(KBS), des Nachrichtenkabelkanals YTN undder Nachrichtenagentur Yonhap schlossen sichdem Streik an. Die Arbeitnehmer von KBS undYonhap beendeten ihren Ausstand im Juni. DerStreik bei MBC dauerte jedoch bis Juli und wardamit der längste in der Geschichte des Unter-nehmens.

KriegsdienstverweigererMindestens 750 Kriegsdienstverweigerer ausGewissensgründen befanden sich im Dezem-ber 2012 im Gefängnis. Der Militärdienst ist inSüdkorea obligatorisch.ý Im April 2012 wurde der Menschenrechtsver-teidiger Yoo Yun-jong zu einer Freiheitsstrafevon 18 Monaten verurteilt, weil er den Militär-dienst aus Gewissensgründen verweigerthatte.

Recht auf VersammlungsfreiheitDie Proteste gegen den Bau eines Marinestütz-punkts in dem Dorf Gangjeong auf der InselJeju hielten 2012 an. Gegen zahlreiche Bewoh-ner und Aktivisten wurden Zivil- und Straf-rechtsklagen erhoben. Zwischen Juli 2009 undAugust 2012 nahm die Polizei 586 Demons-trierende fest. Nach dem Beginn ganztägigerBauarbeiten im Oktober wurden mindestenssechs Demonstrierende ins Krankenhaus ein-geliefert, die von der Polizei nachts gewaltsamvon der Baustelle vertrieben worden waren. ImMai richteten drei UN-Sonderberichterstattereinen gemeinsamen Brief an die RegierungSüdkoreas und äußerten schwerwiegende Be-denken. Der Sonderberichterstatter über dieFörderung und den Schutz der Meinungsfrei-heit und des Rechts der freien Meinungsäuße-rung, die Sonderberichterstatterin für Ver-sammlungs- und Vereinigungsfreiheit und dieSonderberichterstatterin über die Lage vonMenschenrechtsverteidigern bezogen sich da-

bei auf Berichte, denen zufolge friedlich Pro-testierende schikaniert, eingeschüchtert undmisshandelt wurden.

ArbeitnehmerrechteLang anhaltende Arbeitskonflikte blieben 2012ungelöst. Die Behörden gingen weiterhin mitstrafrechtlichen Sanktionen gegen Gewerk-schaften und streikende Arbeiter vor. In zu-nehmendem Ausmaß wurden Gerichtsverfah-ren angestrengt und hohe Schadenersatzfor-derungen erhoben.ý Am 20. September führte der Parlamentsaus-schuss für Umwelt und Arbeit eine Anhörungdurch, die den seit langem andauernden Ar-beitskonflikt beim Automobilhersteller Ssang-yong Motors betraf. Dabei hatten ungefähr 2600Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze verloren. ImNovember starteten drei Mitglieder der Gewerk-schaft Ssangyong Workers’ Union eine Pro-testaktion auf einem Strommast in 9m Höhe inder Nähe des Werks von Ssangyong Motors inPyongtaek.ý Im Juli sollen etwa 200 Mitarbeiter der priva-ten Sicherheitsfirma Contactus Berichten zu-folge rund 150 Arbeiter mit scharfen Eisenteilenbeworfen und geschlagen haben. Dabei wur-den 34 Personen verletzt. Die Polizei unter-nahm nichts, um die Arbeiter zu schützen. Siehatten in einer Fabrik des Autozulieferers SJMim Industriegebiet Banwol in Ansan einen Sitz-streik abgehalten.

Rechte von MigrantenDie Behörden gingen 2012 weiterhin mit Raz-zien gegen Arbeitsmigranten ohne Aufent-haltsgenehmigung vor, nahmen sie fest undschoben sie ab.ý Im November 2012 starb der indonesischeStaatsbürger Suweto in einem Krankenhausan Verletzungen, die er bei einem Sturz erlittenhatte. Der Arbeitsmigrant hatte keine ord-nungsgemäßen Papiere und war bei einernächtlichen Razzia auf der Flucht vor den Be-amten der Einwanderungsbehörde gestürzt.

Im August 2012 äußerte sich der UN-Aus-schuss für die Beseitigung der Rassendiskri-minierung besorgt darüber, dass Arbeitsmi-

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granten in Südkorea »Diskriminierung undAusbeutung erleiden, nur geringe Löhne erhal-ten oder gar nicht bezahlt werden«.

Todesstrafe2012 wurden weiterhin Todesurteile verhängt,doch fanden keine Hinrichtungen statt. Im De-zember befanden sich mindestens 60 Personenin Todeszellen. Drei Gesetzentwürfe, die eineAbschaffung der Todesstrafe zum Ziel hatten,wurden mit dem Ende der Legislaturperiodedes Parlaments hinfällig. Die letzte Hinrichtungin Südkorea fand im Dezember 1997 statt.

Amnesty International: Missionenþ Delegierte von Amnesty International besuchten Südkorea

in den Monaten April, Juni und November.

KroatienAmtliche Bezeichnung: Republik KroatienStaatsoberhaupt: Ivo JosipovicRegierungschef: Zoran Milanovic

Bei der strafrechtlichen Verfolgung völ-kerrechtlicher Verbrechen, die währenddes Kriegs von 1991 bis 1995 begangenwurden, gab es 2012 zwar Fortschritte,doch wurde die Straflosigkeit nicht ent-

schieden genug bekämpft. Viele dermutmaßlich von Angehörigen der kroati-schen Armee und der Polizei an kroati-schen Serben und anderen Minderheitenbegangenen Verbrechen blieben unge-ahndet. Roma und kroatische Serbenwaren von Diskriminierung betroffen,ebenso wie Lesben, Schwule, Bisexuelle,Transgender und Intersexuelle.

Innerstaatliche Verfolgung vonKriegsverbrechenIm Oktober 2012 stellte die Europäische Kom-mission fest, Kroatien habe die Umsetzungder Strategie zur Untersuchung und Verfolgungvon Kriegsverbrechen in Angriff genommen.Dies habe zu weiteren Verhaftungen, Anklage-erhebungen und Gerichtsurteilen geführt.Weitere Fälle seien an die Sondergerichte fürKriegsverbrechen in Osijek, Rijeka, Split undZagreb verwiesen worden.

Die Kommission betonte jedoch erneut, dassdie Bekämpfung der Straflosigkeit für in derVergangenheit begangene Kriegsverbrechennoch immer eine enorme Herausforderungdarstelle. Außerdem müsse die Regierung Maß-nahmen ergreifen, um Zeugen die Anwesen-heit in den Gerichtsverhandlungen zu erleich-tern, insbesondere in Fällen, die an die Son-dergerichte verwiesen wurden.

Die Straflosigkeit für Kriegsverbrechen wurdedadurch verschärft, dass die Gerichte bei Ver-brechen, die während des Kriegs zwischen1991 bis 1995 begangen wurden, das Strafge-setzbuch von 1993 anwandten, das nicht deninternationalen Standards entsprach. Grund-legende strafrechtliche Sachverhalte, wie dasPrinzip der Befehlsverantwortung, sexuelleGewalt als Kriegsverbrechen oder Verbrechengegen die Menschlichkeit, waren darin nichtdefiniert. Diese gesetzlichen Lücken führtendazu, dass zahlreiche Verbrechen ungeahn-det blieben.

Es gab gewisse Fortschritte bei der psycholo-gischen Unterstützung von Zeugen. Die Zeu-genschutzmaßnahmen waren jedoch weiterhinunzureichend. Diejenigen, die für die Ein-schüchterung von Zeugen verantwortlich wa-

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240 Kroatien

ren, wurden nicht vor Gericht gestellt. Im Be-zug auf den Tod des Zeugen Milan Levar gab eszwölf Jahre nach dem Beginn der Ermittlun-gen immer noch keine Fortschritte.

Die Behörden ließen den Opfern von Kriegs-verbrechen und ihren Familien keine Entschä-digungen zukommen.

Die 490 seit Kriegsende in Kroatien registrier-ten mutmaßlichen Kriegsverbrechen hattenEnde 2012 zur Einleitung von insgesamt 1090Strafverfahren geführt. In 316 Fällen vonKriegsverbrechen konnten mutmaßliche Täteridentifiziert werden, was zu 849 Strafverfahrenführte. Doch schlossen die kroatischen Ge-richte nur 112 Fälle ab, was 10% aller regis-trierten Fälle entsprach. Bei 174 Kriegsverbre-chen, die zu 241 Strafverfahren führten, konn-ten die mutmaßlichen Schuldigen nach wie vornicht identifiziert werden.ý Im Juli 2012 wurde Tomislav Mercêp, derehemalige Berater des Innenministers undKommandant einer Sondereinheit des Ministe-riums, freigelassen. Er hatte sich seit 2010 inHaft befunden und war 2011 im Zusammen-hang mit dem Tod bzw. dem Verschwindenlas-sen von 43 kroatisch-serbischen Zivilpersonenin Zagreb und in der Pakracka Poljana ange-klagt worden.ý Vorwürfen gegen den stellvertretenden Parla-mentspräsidenten Vladimir Seks hinsichtlichseiner Befehlsverantwortung für 1991 in Ostsla-wonien begangene Verbrechen wurde nichtnachgegangen, obwohl es diesbezüglich öffent-lich zugängliche Informationen gab. So lagenmehrere Zeugenaussagen aus Strafverfahrenvor, in denen Verbrechen in Ostslawonien ver-handelt wurden. Außerdem waren Anweisun-gen des damaligen Präsidenten des Landesund Aussagen, die Vladimir Seks selbst vor Ge-richt gemacht hatte, dokumentiert.ý Der ehemalige kroatische General Davor Do-mazet-Loso musste sich auch weiterhin kei-nen Ermittlungen stellen. Sein Name war im Ur-teil gegen General Rahim Ademi und GeneralMirko Norac im Mai 2008 genannt worden.Demnach trug Davor Domazet-Loso als Be-fehlshaber die Verantwortung für Verbrechenim Zuge militärischer Operationen im soge-

nannten Medak-Kessel 1993. Das Gericht hatteRahim Ademi von der Verantwortung für dieseVerbrechen freigesprochen, nachdem es zudem Schluss gelangt war, dass die tatsäch-liche Befehlsgewalt bei Davor Domazet-Losogelegen hatte.

Internationale Strafverfolgungvon KriegsverbrechenVor dem Internationalen Strafgerichtshof fürdas ehemalige Jugoslawien (ICTY) in DenHaag waren 2012 mehrere Verfahren anhängig,die Kroatien betrafen.

Das Verfahren gegen Jovica Stanisic undFranko Simatovic, die wegen Kriegsverbre-chen und Verbrechen gegen die Menschlich-keit angeklagt waren, wurde fortgesetzt.

Im Oktober 2012 begann das Verfahren gegenGoran Hadzic, der 2011 in Serbien verhaftetund anschließend an den ICTY überstellt wor-den war. Der Präsident der selbst ernanntenRepublik Serbische Krajina war wegen Verbre-chen gegen die Menschlichkeit und Kriegsver-brechen angeklagt.

Im Fall des ehemaligen GeneralstabschefsMomcilo Perisic begann im Oktober das Beru-fungsverfahren, das Ende 2012 noch nicht ab-geschlossen war. Der ICTY hatte ihn 2011 we-gen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegendie Menschlichkeit zu 27 Jahren Haft verur-teilt. Das Gericht sprach ihn aufgrund seiner in-dividuellen strafrechtlichen Verantwortlichkeitin Bosnien-Herzegowina und seiner Vorgesetz-ten-Verantwortlichkeit in Kroatien schuldig,Letzteres im Zusammenhang mit der Bombar-dierung von Zagreb.

Im November 2012 sprach die Berufungs-kammer des ICTY die beiden ehemaligen Ge-neräle Ante Gotovina und Mladen Markac frei.Die Kammer hob das erstinstanzliche Urteilauf, das Ante Gotovina und Mladen Markacwegen Kriegsverbrechen und Verbrechen ge-gen die Menschlichkeit zu Haftstrafen von24 bzw. 18 Jahren verurteilt hatte. Die Ent-scheidung der Berufungskammer führte inKroatien und Serbien zu heftigen Reaktionenund löste eine Welle nationalistischer Äußerun-gen in beiden Ländern aus. Die Generäle wur-

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den bei ihrer Rückkehr von kroatischen Re-gierungsvertretern in Empfang genommen.Unterdessen betonten Menschenrechtsvertei-diger vor Ort einmal mehr, dass diejenigen,die für Verbrechen an der serbischen Zivilbe-völkerung in den Jahren 1991–95 verantwort-lich seien, zur Rechenschaft gezogen werdenmüssten.

DiskriminierungAngehörige der Roma wurden bezüglich ihrerwirtschaftlichen und sozialen Rechte weiterhindiskriminiert, dies betraf u. a. ihren Zugang zuBildung, Beschäftigung und Wohnraum. Dievon den Behörden ergriffenen Maßnahmen zurAbhilfe blieben unzureichend. Ein Urteil desEuropäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte, das die Abschaffung der separatenKlassen für Roma-Kinder vorsah, wurde vonden Behörden nicht umgesetzt.

Kroatische Serben sahen sich weiterhin mitDiskriminierung konfrontiert, vor allem wasden Zugang zu angemessenem Wohnraum undBeschäftigung betraf.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenDer rechtliche Schutz gegen Hassverbrechenaus homophoben oder transphoben Motivenwurde verbessert. Im Zuge einer 2012 ver-abschiedeten Reform wurde die Geschlechts-identität einer Person als Grund für ein Hass-verbrechen in das Strafgesetzbuch aufgenom-men. Da es jedoch keine speziellen Richtlinienfür die Polizei gab, wurden tätliche Angriffe aufLesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender undIntersexuelle in einigen Fällen als Bagatellde-likte eingestuft und mögliche Hassmotive nichtuntersucht.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte Kroatien

im Februar, März und Juni.ÿ The right to know: Families still left in the dark in the Bal-

kans, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR05/001/2012/en

ÿ Inadequate protection: Homophobic and transphobic hate

crimes in Croatia, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR64/001/2012/en

ÿ Protection of LGBT people must go beyond the Pride,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR64/004/2012/en

ÿ Medak Pocket arrests: Senior officials must be investigated,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/medak-pocket-arrests-senior-officials-must-be-investigated-2012-03-05

KubaAmtliche Bezeichnung: Republik KubaStaats- und Regierungschef: Raúl Castro Ruz

Die Unterdrückung unabhängiger Jour-nalisten, Oppositionsführer und Men-schenrechtsverteidiger nahm 2012 zu.Es wurde von durchschnittlich 400kurzfristigen Festnahmen pro Monat be-richtet. Aktivisten, die aus den Provin-zen nach Havanna reisten, wurden häufiginhaftiert. Gewaltlose politische Gefan-gene wurden nach wie vor aufgrund kon-struierter Anklagen verurteilt oder inUntersuchungshaft gehalten.

Rechte auf Meinungs-, Versammlungs-und VereinigungsfreiheitFriedliche Demonstrierende, unabhängigeJournalisten und Menschenrechtsverteidigerwurden routinemäßig inhaftiert, weil sie ihreRechte auf Meinungs-, Versammlungs- undVereinigungsfreiheit wahrgenommen hatten.

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242 Kuba

Viele wurden inhaftiert, und andere musstenFeindseligkeiten durch Unterstützer der Regie-rung erdulden.ý Im März 2012 kam es vor und nach dem Be-such von Papst Benedikt XVI. zu einer Wellevon Festnahmen lokaler Menschenrechtsvertei-diger. Kubanische Organisationen berichtetenvon 1137 Inhaftierungen.

Die Behörden griffen zu einer Reihe von Maß-nahmen, um Aktivisten davon abzuhalten,über Menschenrechtsverletzungen zu berich-ten, u. a. wurden ihre Wohnhäuser umstelltund ihre Telefonanschlüsse gekappt. Organisa-tionen wie die Kubanische Kommission fürMenschenrechte und Nationale Versöhnung(Comisión Cubana de Derechos Humanos yReconciliación Nacional – CCDHRN), die bis-lang von den Behörden toleriert worden wa-ren, wurden 2012 ins Visier genommen. Unab-hängige Journalisten, die über die Aktivitätenvon Dissidenten berichteten, wurden inhaftiert.

Die Regierung übte nach wie vor Kontrolleüber alle Medien aus, und der Zugang zu In-formationen im Internet stellte aufgrund der be-grenzten technischen Möglichkeiten und in-haltlichen Einschränkungen eine Herausforde-rung dar.ý Im Juli 2012 kam Oswaldo Payá Sardiñas, einangesehener Menschenrechtsverteidiger undDemokratieverfechter, bei einem Autounfall inder Provinz Granma ums Leben. Einige Jour-nalisten und Blogger, die über die Anhörung zudem Unfall berichteten, wurden mehrereStunden lang festgehalten.ý Roberto de Jesús Guerra Pérez, der Gründerder unabhängigen Nachrichtenagentur Hable-mos Press, wurde im September 2012 in einAuto gezwungen und Berichten zufolge ge-schlagen, während man ihn zu einer Polizeiwa-che fuhr. Bevor man ihn freiließ, wurde er ge-warnt, dass er zum »Dissidenten Nummer einsunter den Journalisten« erklärt worden sei undins Gefängnis käme, wenn er seine Aktivitätenfortsetzen würde.

Die kubanischen Behörden setzten eineReihe von Maßnahmen ein, um die Aktivitätenvon Oppositionellen zu beenden oder zu bestra-fen. Viele, die an Treffen oder Demonstratio-

nen teilnehmen wollten, wurden inhaftiert oderdaran gehindert, ihr Haus zu verlassen. Oppo-sitionellen unabhängigen Journalisten undMenschenrechtsverteidigern wurden routine-mäßig Visa für Reisen ins Ausland verweigert.ý Zum 19. Mal seit Mai 2008 verweigerten dieBehörden der oppositionellen Bloggerin YoaniSánchez Cordera das Ausreisevisum. Sie wolltein Brasilien der Aufführung eines Dokumen-tarfilms über Bloggen und Zensur beiwohnen,in dem sie vorgestellt wurde.ý Im September 2012 wurden etwa 50 »Damenin Weiß« (Damas de Blanco) auf ihrem Wegnach Havanna, wo sie an einer Demonstrationteilnehmen wollten, festgenommen. Die meis-ten schickte man umgehend in ihre Heimatpro-vinzen zurück und ließ sie dort frei; 19 wurdenjedoch mehrere Tage lang ohne Kontakt zur Au-ßenwelt in Haft gehalten.

Im Oktober kündigte die Regierung Reformendes Migrationsgesetzes an, die Auslandsrei-sen erleichtern würden, darunter auch die Ab-schaffung des obligatorischen Ausreisevi-sums. Doch eine Reihe von Anforderungen,über die die Regierung die Entscheidungsge-walt hat, könnte die Reisefreiheit weiterhin ein-schränken. Die Änderungen sollten im Januar2013 in Kraft treten.

Gewaltlose politische GefangeneVier Männer und drei Frauen, die im Verlauf desJahres in Haft kamen, erklärte Amnesty Inter-national zu gewaltlosen politischen Gefange-nen; drei von ihnen ließ man ohne Anklagewieder frei.ý Antonio Michel Lima Cruz wurde nach Verbü-ßen seiner zweijährigen Haftstrafe im Oktober2012 freigelassen. Er war wegen »Verunglimp-fung von Heimatsymbolen« und »Unruhestif-tung« für schuldig befunden worden, weil er re-gierungskritische Lieder gesungen hatten.Sein Bruder Marcos Máiquel Lima Cruz, derwegen desselben Vergehens eine höhere Haft-strafe erhalten hatte, befand sich Ende des Jah-res weiter in Haft.ý Ivonne Malleza Galano und Ignacio MartínezMontejo wurden im Januar 2012 zusammenmit Isabel Haydee Álvarez freigelassen, die fest-

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genommen worden war, nachdem sie die Frei-lassung der beiden gefordert hatte. Ivonne Mal-leza Galano und Ignacio Martínez Montejo wa-ren 52 Tage lang ohne Anklage festgehaltenworden, nachdem sie im November 2011 aneiner Demonstration teilgenommen hatten. Beiihrer Freilassung drohten ihnen Beamte mit»harten Strafen«, wenn sie weiterhin als Dissi-denten aktiv wären.ý Die Journalistin und Vertreterin der »Damenin Weiß« in der Provinz Santa Clara, YasmínConyedo Riverón, und ihr Ehemann YusmaniRafael Álvarez Esmori wurden nach fast dreiMonaten Gefängnis im April 2012 gegen Kau-tion aus der Haft entlassen. Ein Staatsbeamterhatte ihnen vorgeworfen, ihn eingeschüchtertund tätlich angegriffen zu haben. Er nahm dieVorwürfe später zurück.

Willkürliche InhaftierungenAuch 2012 kam es zu kurzzeitigen willkürlichenInhaftierungen, und es gingen häufig Berichteüber kurzzeitige Inhaftierungen ohne Kontaktzur Außenwelt ein.ý Im Februar wurde der ehemalige gewaltlosepolitische Gefangene José Daniel Ferrer Gar-cía inhaftiert und drei Tage ohne Kontakt zurAußenwelt festgehalten. Während der Haftwurde ihm mit einer Gefängnisstrafe gedroht,sollte er seine systemkritischen Aktivitäten mitder Patriotischen Union Kubas fortsetzen. ImApril wurde er unter dem Vorwurf der »Störungder öffentlichen Ordnung« erneut inhaftiert und27 Tage später unter der Bedingung freigelas-sen, dass er seine politischen Aktivitäten ein-stellen würde.ý Die »Damen in Weiß« Niurka Luque Álvarezund Sonia Garro Alfonso sowie Sonia GarrosEhemann Ramón Alejandro Muñoz Gonzálezwurden im März ohne Anklage inhaftiert. Ni-urka Luque Álvarez kam im Oktober wieder frei.Sonia Garro Alfonso und ihr Ehemann befan-den sich zum Jahresende weiter in Haft, warenaber nicht angeklagt worden.ý Andrés Carrión Álvarez wurde festgenom-men, weil er bei einer Messe von Papst Bene-dikt XVI. »Freiheit« und »Nieder mit dem Kom-munismus!« gerufen hatte. Nach 16 Tagen

ließ man ihn frei. Drei Tage später inhaftierteman ihn für fünf Stunden und warf ihm einweiteres Mal vor, die »öffentliche Ordnung« ge-stört zu haben. Er wurde unter der Bedingungfreigelassen, dass er sich einmal wöchentlichbei der Polizei meldet, seine Heimatgemeindenicht ohne vorherige Genehmigung verlässtund sich nicht mit Regierungsgegnern zusam-menschließt.

Das US-Embargo gegen KubaIm September 2012 verlängerte die US-Regie-rung das Gesetz »Handel mit dem Feind«, dasfinanzielle und wirtschaftliche Sanktionen ge-gen Kuba festschreibt und US-Bürgern unter-sagt, nach Kuba zu reisen und Wirtschaftsakti-vitäten mit dem Land zu unterhalten. Im No-vember verabschiedete die UN-Generalver-sammlung zum 21. Mal eine Resolution, mitder die USA dazu aufgefordert wurden, das seit1961 bestehende Handelsembargo gegenKuba aufzuheben.

In Kuba tätige UN-Agenturen wie WHO,UNICEF und UNFPA berichteten auch 2012von den negativen Auswirkungen des US-Em-bargos auf die Gesundheit der kubanischenBevölkerung, vor allem der Menschen aus be-nachteiligten Gruppen. 2012 hatten die kuba-nische Gesundheitsbehörde und UN-Agentu-ren keinen Zugang zu medizinischem Gerät,Medikamenten und Labormaterialien für nachUS-Patenten gefertigte Erzeugnisse.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Seit 1990 verweigern die kubanischen Behörden Vertretern

von Amnesty International die Einreise.ÿ Routine repression: Political short-term detentions and

harassment in Cuba, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR25/007/2012

ÿ Amnesty International submission for the Universal PeriodicReview of Cuba, October 2012

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244 Kuwait

KuwaitAmtliche Bezeichnung: Staat KuwaitStaatsoberhaupt:

Scheich Sabah al-Ahmad al-Jaber al-SabahRegierungschef: Scheich Jaber al-Mubarak

al-Hamad al-Sabah

Die Rechte auf freie Meinungsäußerungund Versammlungsfreiheit wurden 2012empfindlich eingeschränkt. Angehörigeder Bereitschaftspolizei gingen mit ex-zessiver Gewalt gegen friedliche De-monstrierende vor. Tausende staaten-lose Bidun mit Wohnsitz in Kuwait er-hielten weiterhin keine Staatsbürger-schaft und hatten damit auch keinengleichberechtigten Zugang zum Ge-sundheits- und Bildungssystem sowiezum Arbeitsmarkt. Frauen wurden wei-terhin durch Gesetze sowie im täglichenLeben diskriminiert. Arbeitsmigrantin-nen, die als Hausangestellte tätig waren,wurden von ihren Arbeitgebern ausge-beutet und misshandelt. Mindestens einHäftling starb in Gewahrsam, nachdemer offenbar gefoltert und anderweitigmisshandelt worden war. Von den neunim Jahr 2012 verhängten Todesurteilenwurden vier in Haftstrafen umgewan-delt. Hinrichtungen fanden nach vorlie-genden Informationen nicht statt.

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Behörden verschärften 2012 die Einschrän-kungen der Rechte auf Versammlungsfreiheitund freie Meinungsäußerung. So nahmen siez. B. die Strafverfolgung einiger Nutzer sozialerMedien auf. Die Bereitschaftspolizei setzte ex-zessive Gewalt, Tränengas und Blendgranatengegen friedlich demonstrierende Regierungs-gegner und Bidun ein.

Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 1. De-zember 2012 organisierten Regierungskritikereine Reihe von Demonstrationen unter der Be-zeichnung »Würdemarsch«. Zum Teil wolltensie damit gegen geplante Änderungen des Ge-setzes über die Parlamentswahlen protestie-ren.

Nach einer großen Zusammenkunft im Okto-ber 2012 verboten die Behörden Versammlun-gen von mehr als 20 Menschen und beriefensich dabei auf ein Gesetz aus dem Jahr 1979.Einige Demonstrationen konnten zwar dennochstattfinden, doch andere, darunter auch eineProtestveranstaltung am 27. Dezember 2012,wurden gewaltsam aufgelöst.

Unter den bei Demonstrationen festgenom-menen Personen befanden sich ehemaligeParlamentsabgeordnete, politisch aktive Bürgerund Minderjährige. Die meisten kamen nachwenigen Tagen wieder frei, gegen einige wurdeAnklage erhoben.

Der Emir legte ein Veto gegen den Vorschlagein, das Blasphemiegesetz dahingehend zuändern, dass die »Beleidigung Gottes, seinerPropheten und seiner Gesandten« mit demTode zu bestrafen sei.ý Der gewaltlose politische Gefangene Hamadal-Naqi, der zur schiitischen Minderheit ge-hört, wurde im April 2012 festgenommen undim Juni zu zehn Jahren Haft mit Zwangsarbeitverurteilt. Er wurde schuldig gesprochen, kriti-sche Äußerungen über die Staatsoberhäuptervon Saudi-Arabien und Bahrain über Twitterverbreitet und den Islam »verunglimpft« zuhaben. Ende 2012 war sein Berufungsverfahrennoch nicht abgeschlossen.ý Der Oppositionsführer und ehemalige Parla-

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Kuwait 245

mentsabgeordnete Musallam al-Barrak wurdeam 29. Oktober 2012 festgenommen. Die An-klage warf ihm vor, er habe mit Äußerungenbei einer Demonstration am 15. Oktober »dieStellung des Emirs untergraben«. Am 1. No-vember wurde er gegen Kaution freigelassen.Ende 2012 war der Prozess noch nicht been-det. Sollte er verurteilt werden, drohen ihm biszu fünf Jahre Haft.

Folter und andere MisshandlungenIm Juli 2012 trat ein Gesetz in Kraft, das die ma-ximal zulässige Haftdauer in Polizeigewahr-sam ohne richterliche Überprüfung von vier aufzwei Tage herabsetzt.

Es gingen Berichte über fünf Todesfälle in Ge-wahrsam ein. Im Fall von Nawaf al-Azmi lagenInformationen vor, die darauf hindeuteten, dasssein Tod u. a. auf Folter und Misshandlungenzurückzuführen war.ý Im Zusammenhang mit dem Tod von Mo-hammad Ghazzai al-Maimuni al-Mutairi, der2011 in Gewahrsam gestorben war, hielt ein Be-rufungsgericht am 24. Dezember die Urteile,darunter zwei lebenslange Haftstrafen, gegenPolizeibeamte aufrecht. Zwei weitere Beamteerhielten Geldbußen, und alle wurden aus demPolizeidienst entlassen.

Diskriminierung – BidunMehr als 100000 staatenlosen Bidun, die be-reits seit vielen Jahren in Kuwait leben, wurdedie Staatsbürgerschaft weiterhin vorenthalten.Hunderte hielten regelmäßig friedliche De-monstrationen ab. Bisweilen lösten die Sicher-heitskräfte die Protestaktionen gewaltsam aufund nahmen zahlreiche Demonstrierende will-kürlich fest. Mehr als 150 demonstrierende Bi-dun standen vor Gericht.

Am 18. Oktober 2012 teilte der kuwaitischeMinisterpräsident Amnesty International mit,die Regierung würde 34000 Bidun die Staats-bürgerschaft zuerkennen und den Status derübrigen in den kommenden fünf Jahren klären.

Im Februar 2012 empfahl der UN-Ausschussfür die Beseitigung der Rassendiskriminierung(CERD) der Regierung, allen Menschen in Ku-wait Personaldokumente auszustellen und

den Bidun Zugang zu Sozialfürsorge, Bildung,Wohnraum und Beschäftigung zu gewähren.Auch müssten sie das Recht erhalten, ihren Be-sitz und ihre Unternehmen eintragen zu las-sen.

FrauenrechteFrauen wurden 2012 weiterhin durch Gesetzesowie im täglichen Leben diskriminiert. ImSeptember kündigte der Oberste Justizrat an,Frauen könnten sich auf eine Reihe von Stel-len bei der Staatsanwaltschaft und im Justiz-wesen bewerben. Er reagierte damit auf Kla-gen gegen das Justizministerium, die Jura-Absolventinnen 2011 eingereicht hatten. DasMinisterium hatte Stellen mit dem Hinweis aus-geschrieben, sie seien Männern vorbehalten.

Rechte von ArbeitsmigrantenDie kuwaitische Arbeitsgesetzgebung bot aus-ländischen Arbeitsmigranten weiterhin keiner-lei Schutz. Ausländische Hausangestellte wur-den von ihren Arbeitgebern ausgebeutet undmisshandelt. Das Sponsorensystem (kafala) botArbeitsmigranten in Arbeitsverhältnissen kei-nen angemessenen Schutz, und Nicht-Kuwaitisdurften sich nicht gemeinschaftlich organisie-ren.

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung derRassendiskriminierung empfahl Kuwait, spe-zielle Gesetze zu erlassen, um ausländische Ar-beitskräfte und Hausangestellte zu schützenund ihre Rechte gemäß internationalen Stan-dards zu gewährleisten. So müssten u. a. dieÜbereinkommen der Internationalen Arbeitsor-ganisation (ILO) erfüllt werden, deren MitgliedKuwait ist.

Todesstrafe2012 wurden neun Todesurteile verhängt, vierdavon wurden in Haftstrafen umgewandelt. Inanderen Fällen wurden die Todesurteile vomBerufungsgericht bestätigt. Drei weitere To-desurteile, die 2011 gegen zwei iranische undeinen kuwaitischen Staatsangehörigen wegen»Spionage für den Iran« verhängt worden wa-ren, wurden im Berufungsverfahren in lebens-lange Haftstrafen umgewandelt. Drei zum Tode

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246 Laos

verurteilte Personen wurden von den Familiender Opfer begnadigt. Es lagen keine Berichteüber Hinrichtungen vor.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Kuwait im

Mai. Im Oktober traf der Internationale Generalsekretär vonAmnesty International den kuwaitischen Ministerpräsiden-ten, ehemalige Parlamentsabgeordnete, Vertreter der Oppo-sition und der Bidun sowie Menschenrechtsverteidiger inKuwait zu Gesprächen.

ÿ Kuwait: Joint open letter to His Highness the Amir of Kuwaitregarding the Bidun, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE17/004/2012/en

LaosAmtliche Bezeichnung:

Demokratische Volksrepublik LaosStaatsoberhaupt: Choummaly SayasoneRegierungschef: Thongsing Thammavong

Es bestanden 2012 weiterhin Einschrän-kungen der Rechte auf Meinungs-, Ver-einigungs- und Versammlungsfreiheit.Drei gewaltlose politische Gefangeneund zwei gleichfalls aus politischenGründen inhaftierte Hmong befandensich nach wie vor in Haft. Berichten zu-folge wurden in mehreren ProvinzenChristen drangsaliert. Zu wachsender Be-sorgnis führten Auseinandersetzungen

um Landrechte, verursacht durch Ent-wicklungsprojekte, die die Lebens-grundlagen der davon betroffenen Men-schen beeinträchtigten.

HintergrundIm Februar bekundete der UN-Ausschuss fürdie Beseitigung der Rassendiskriminierungseine Sorge über den fehlenden Zugang inter-nationaler Beobachter zu Angehörigen derethnischen Minderheit der Hmong, die gegenihren Willen aus Thailand repatriiert wordenwaren. Im September ratifizierte Laos das UN-Übereinkommen gegen Folter. Im Novembernahm Laos die ASEAN-Menschenrechtserklä-rung an, obwohl es ernsthafte Vorbehalte gab,weil die Deklaration hinter den internationalenMenschenrechtsstandards zurückblieb. Füreinige Drogendelikte war die Todesstrafe weiter-hin zwingend vorgeschrieben; es wurden je-doch keine Statistiken über die Verhängungoder Vollstreckung der Todesstrafe veröffent-licht. Die Schikanierung von Christen in länd-lichen Gebieten hielt an. Man beschlag-nahmte Besitz, schloss Kirchen, hielt Men-schen kurzzeitig in Haft und zwang Personen,ihrem Glauben abzuschwören.

Recht auf freie MeinungsäußerungDas Recht auf freie Meinungsäußerung warweiterhin stark eingeschränkt. Die Medien wa-ren gezwungen, sich der staatlichen Politik un-terzuordnen und Selbstzensur zu üben. Im Ja-nuar 2012 ordnete der Minister für Information,Kultur und Tourismus die Einstellung des in-teraktiven Radioprogramms Talk of the Newsan. Es handelte sich um ein populäres Pro-gramm, bei dem sich Anrufer über Landraubund Korruption beschwerten.ý Die gewaltlosen politischen GefangenenThongpaseuth Keuakoun, BouavanhChanhmanivong und Seng-Aloun Phengphanhbefanden sich 2012 noch immer im Gefäng-nis, obwohl die Behörden im September 2011angekündigt hatten, zwei der Männer freizu-lassen. Sie sind seit Oktober 1999 wegen desVersuchs, eine friedliche Protestkundgebungdurchzuführen, in Haft.

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Lettland 247

ý Den Angehörigen der ethnischen Gruppe derHmong, Thao Moua und Pa Fue Khang, wur-den neun Monate ihrer 12- bzw. 15-jährigen Ge-fängnisstrafe erlassen. Sie waren im Jahr 2003festgenommen worden, weil sie zwei ausländi-schen Journalisten dabei geholfen hatten, In-formationen über Gruppen der Hmong zu be-schaffen, die sich im Urwald versteckt hielten.

Auseinandersetzungen um LandrechteAngesichts zunehmender Besorgnis über denAnstieg der Auseinandersetzungen um Land-rechte kündigten die Behörden im Juni 2012ein vierjähriges Moratorium für neue Bergbau-investitionen und Konzessionen für Kautschuk-plantagen an, um Umweltbelange und sozialeAspekte zu berücksichtigen. Berichten zufolgebeeinträchtigten großangelegte Entwicklungs-projekte, die sich auf das Land der Dorfbewoh-ner ausdehnten, deren Lebensgrundlagen,ohne dass die Betroffenen adäquat entschädigtwurden.ý Im Juni wurden acht Dorfbewohner festge-nommen, weil sie bei den Behörden Be-schwerde wegen einer Auseinandersetzung umLandrechte mit einem vietnamesischen Unter-nehmen eingelegt hatten. Dem Unternehmenwar im Jahr 2006 eine Kautschuk-Konzessionerteilt worden, die negative Auswirkungen aufdie Bewohner des Dorfes Ban Yeup im BezirkThateng der Provinz Sekong hatte. Mit Aus-nahme eines Mannes, der ungefähr zwei Wo-chen lang in Gewahrsam gehalten und vor sei-ner Freilassung misshandelt worden sein soll,kamen alle Festgenommenen nach einigen Ta-gen wieder frei.

VerschwindenlassenAm 15. Dezember 2012 nahmen UnbekannteSombath Somphone, ein angesehenes Mit-glied der laotischen Zivilgesellschaft, der fürseinen Einsatz für die Förderung der Bildungund nachhaltige Entwicklung bekannt ist, ineinem Lastwagen mit, nachdem er in derHauptstadt Vientiane von der Polizei angehaltenworden war. Er war an der Organisation desasiatisch-europäischen Volksforums im Okto-ber in Vientiane beteiligt.

LettlandAmtliche Bezeichnung: Republik LettlandStaatsoberhaupt: Andris BerzinsRegierungschef: Valdis Dombrovskis

Opfer von Hassverbrechen, die aufgrundvon Geschlecht, einer Behinderung oderder sexuellen Orientierung begangenwurden, waren durch das Gesetz nichtgeschützt. Asylsuchende hatten keinenangemessenen Zugang zu Verfahren zurFeststellung der Flüchtlingseigenschaft.Die Todesstrafe wurde für alle Delikteabgeschafft. Über 300000 Menschenblieben weiterhin staatenlos.

DiskriminierungDie Gesetze gegen Hassverbrechen beinhalte-ten keinen Schutz für Lesben, Schwule, Bise-xuelle, Transgender und Intersexuelle, Behin-derte oder Opfer geschlechtsspezifischerHassverbrechen. Das Strafrecht sah aus-schließlich Strafen für die Anstiftung zumHass aus rassistischen, ethnischen oder religiö-sen Motiven vor und erkannte lediglich rassis-tische Motive als erschwerenden Umstandeines Hassverbrechens an.

Im Juni 2012 fand in Riga die vierte jährlicheBaltic Pride Parade mit mehr als 600 Teilneh-menden in guter Zusammenarbeit mit derPolizei statt; Parlamentsmitglieder und der

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248 Libanon

Außenminister waren bei der Veranstaltungzugegen.

Laut Angaben des UN-Hochkommissars fürFlüchtlinge (UNHCR) waren mehr als 300000Personen weiterhin staatenlos, dies entsprachetwa einem Sechstel der Bevölkerung. Diemeisten der Staatenlosen waren russischerHerkunft. Die Behörden betrachteten diesePersonen allerdings als »Nicht-Bürger« (»non-citizens«) mit einem Anrecht auf einen besse-ren Schutz und Zugang zu Rechten, als siestaatenlosen Personen nach dem Überein-kommen über die Rechtsstellung der Staatenlo-sen von 1954 und dem Übereinkommen zurVerminderung der Staatenlosigkeit von 1961 ge-währt werden. Ihnen standen aber keine poli-tischen Rechte zu.

Flüchtlinge und AsylsuchendeAsylsuchende waren bei der Wahrnehmungihres Rechts auf internationalen Schutz oft mitSchwierigkeiten konfrontiert. Potenzielle Asyl-suchende erhielten bei ihrer Ankunft nur un-zureichende Informationen über ihre Rechte. Inmanchen Fällen führte dies dazu, dass sie alsMigranten ohne regulären Aufenthaltsstatus inGewahrsam genommen wurden. Außerdembeeinträchtigte der Mangel an Übersetzern denZugang zu Verfahren zur Feststellung derFlüchtlingseigenschaft.

Internationale KontrolleDie Europäische Kommission gegen Rassismusund Intoleranz (ECRI) veröffentlichte im Fe-bruar 2012 ihren vierten Bericht über Lettland.Er enthielt u. a. folgende Empfehlungen:Sämtliche noch existierenden Sonderklassenfür Roma-Kinder sollten geschlossen und dieKinder in normale Klassen integriert werden;Kinder, deren Eltern »Nicht-Bürger« sind unddie nach Lettlands Unabhängigkeit im Jahr1991 geboren wurden, sollten automatisch dielettische Staatsbürgerschaft erhalten; die Politikeiner Staatssprache sollte überprüft werden,um sicherzustellen, dass die Verpflichtung,diese anzuwenden, nur in klar definierten Fäl-len besteht, in denen ein berechtigtes öffentli-ches Interesse vorliegt.

TodesstrafeDurch Gesetzesänderungen, die am 1. Januarin Kraft traten, wurde die Todesstrafe für alleDelikte abgeschafft. Darauf folgte die Ratifizie-rung des Protokolls Nr. 13 zur EuropäischenMenschenrechtskonvention.

LibanonAmtliche Bezeichnung: Libanesische RepublikStaatsoberhaupt: Michel SuleimanRegierungschef: Najib Mikati

Es gab erneut Berichte über Folter undandere Misshandlungen, darunter auchdemütigende körperliche Untersuchun-gen von Gefangenen. PalästinensischeFlüchtlinge litten weiterhin unter Diskri-minierung und hatten weder Zugangzum Arbeitsmarkt noch zum Bildungs-und Gesundheitssystem sowie zu ange-messenem Wohnraum. Arbeitsmigrantenwurden von ihren Arbeitgebern undmanchmal von den Sicherheitskräftenmisshandelt. ZahlreicheFlüchtlingeundAsylsuchende, die zum Teil aus dembenachbarten Syrien geflohen waren,befanden sich in willkürlicher Haft. Wäh-

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Libanon 249

rend des Jahres 2012 suchten mindes-tens 170000 Flüchtlinge aus Syrien Zu-flucht im Libanon. Frauen waren weiter-hin vor dem Gesetz und im täglichen Le-ben benachteiligt. Der Sondergerichts-hof für den Libanon (Special Tribunal forLebanon – STL) gab für 2013 einen Ver-handlungstermin bekannt. Die libanesi-schen Behörden versäumten es jedocherneut, das Schicksal der seit vielen Jah-ren vermissten und »verschwundenen«Menschen aufzuklären. Militärgerichteverhängten in unfairen Gerichtsverfah-ren Haftstrafen und Todesurteile gegenZivilpersonen. Im Jahr 2012 wurdenmindestens neun Todesurteile verhängt,Hinrichtungen fanden jedoch nicht statt.

HintergrundDie Spannungen zwischen den verschiedenenReligionsgemeinschaften im Libanon ver-schärften sich. Es wurde befürchtet, dass derKonflikt in Syrien auch auf den Libanon über-greifen könnte. Aus Syrien kamen große Flücht-lingsströme ins Land. Bei sporadischen ge-walttätigen Zusammenstößen entlang der sy-risch-libanesischen Grenze wurden Zivilperso-nen getötet oder verletzt. Besonders rund umTripoli kam es häufig zu Auseinandersetzun-gen zwischen Alawiten, die die syrische Regie-rung unterstützten, und sunnitischen Anhän-gern der syrischen Opposition. Im August undNovember kam es auch zu bewaffneten Zu-sammenstößen in Sidon. In Beirut und an an-deren Orten des Landes brachen Proteste aus,vor allem nachdem der Chef des libanesischenInneren Sicherheitsdienstes (Internal SecurityForces – ISF) am 19. Oktober in Beirut einemAutobombenanschlag zum Opfer gefallen war.Zahlreiche Menschen, darunter auch Kinder,kamen während der gewaltsamen Unruhenums Leben oder wurden verletzt. Mindestens20 Syrer und ausländische Staatsangehörigewurden entführt und von bewaffneten Mitglie-dern des Meqdad-Klans über einen Monatlang festgehalten. Damit sollte eine bewaffnetesyrische Gruppierung zur Freilassung einesAngehörigen des Meqdad-Klans gezwungen

werden. Im Dezember wurde der Entwurfeines Nationalen Aktionsplans für Menschen-rechte im Libanon dem Parlament vorgestellt.Bis Ende 2012 hatte das Parlament dem Planjedoch noch nicht zugestimmt.

Folter und andere MisshandlungenAuch 2012 gab es Berichte über Folter und an-dere Misshandlungen von Gefangenen, dieaus Sicherheitsgründen inhaftiert waren, sowievon Straftatverdächtigen. In mindestenseinem Fall sollen bewaffnete nichtstaatliche Ak-teure eine Person aus Gründen der Sicherheitergriffen, geschlagen und bedroht und schließ-lich an den Militärischen Geheimdienst zumVerhör überstellt haben. Während dieses Ge-wahrsams soll die Person erneut misshandeltworden sein.

Die Regierung leitete Maßnahmen ein, umFolter und anderen Misshandlungen entge-genzutreten, und wurde dabei vom Büro derUN-Hochkommissarin für Menschenrechteunterstützt. Im Januar 2012 erließ die Regie-rung einen Verhaltenskodex für den InnerenSicherheitsdienst. Eine unabhängige Kommis-sion zur Inspektion von Gefängnissen undHaftzentren wurde jedoch entgegen LibanonsVerpflichtung gegenüber internationalen Ab-kommen nicht geschaffen. Daher ließ sich nurschwer beurteilen, ob es durch den Verhal-tenskodex zu Verbesserungen gekommen war.

Unfaire GerichtsverfahrenZivilpersonen, die wegen Spionage für Israeloder anderer Straftaten im Zusammenhangmit der Gefährdung der nationalen Sicherheitangeklagt waren, wurden vor Militärgerichtegestellt, die weder unabhängig noch unpartei-isch waren. Die Prozesse entsprachen nichtden internationalen Standards für faire Ge-richtsverfahren. Militärgerichte leiteten gene-rell keine Untersuchungen von Beschwerdenvon Angeklagten ein, die angaben, sie seienwährend der Untersuchungshaft gefoltert oderanderweitig misshandelt worden, um »Ge-ständnisse« von ihnen zu erpressen.

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Recht auf freie MeinungsäußerungJournalisten und andere Medienschaffendewurden von Sicherheitskräften und zivilenGruppen wegen ihrer tatsächlichen oder mut-maßlichen politischen Ansichten angegriffenund schikaniert.ý Im Juni schleuderten mindestens drei Män-ner brennende Gegenstände in den Eingangs-bereich des Fernsehsenders Al-Jadeed, nach-dem von dort ein umstrittenes Interview miteinem salafistischen Geistlichen ausgestrahltworden war.

Sondergerichtshof für den Libanon –STLDer in den Niederlanden angesiedelte STL kün-digte für März 2013 den Beginn des Prozessesgegen vier Männer an, die 2011 angeklagt wor-den waren, an der Ermordung des ehemaligenMinisterpräsidenten Rafiq Hariri im Jahr 2005sowie an anderen Verbrechen beteiligt gewe-sen zu sein. Es wird davon ausgegangen, dassdas Verfahren in Abwesenheit der Angeklag-ten stattfindet.

Straflosigkeit – Verschwindenlassenund EntführungenDas Schicksal Tausender Menschen, diewährend des libanesischen Bürgerkriegs inden Jahren 1975 bis 1990 und danach inhaf-tiert oder entführt wurden oder die dem Ver-schwindenlassen zum Opfer gefallen waren,blieb weiterhin ungeklärt. Viele von ihnen wa-ren offenbar nach Syrien gebracht worden. DerEntwurf eines Erlasses, in dem der Justizmi-nister ein unabhängiges nationales Komitee zurAufklärung des Schicksals der Verschwunde-nen und Vermissten vorschlug, wurde heftigdiskutiert und war bis Ende 2012 noch nichtin Kraft getreten. Die Freilassung von YacoubChamoun aus einem syrischen Gefängnisnach fast 27 Jahren Haft gab den Familien derVerschwundenen neue Hoffnung, dass einigeihrer Angehörigen noch am Leben sein könn-ten.

FrauenrechteFrauen wurden noch immer vor dem Gesetzund im täglichen Leben diskriminiert. Ein Ent-wurf für ein Gesetz, nach dem es libanesischenFrauen – so wie libanesischen Männern – er-laubt sein würde, ihre Staatsangehörigkeit anihre Kinder weiterzugeben, wurde im Kabinettdiskutiert, jedoch noch nicht verabschiedet.Das Parlament setzte seine Beratungen übereinen Gesetzentwurf gegen häusliche Gewaltfort.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenTausende palästinensische Flüchtlinge, die seitvielen Jahren im Libanon leben, waren weiter-hin per Gesetz von der Arbeit in bestimmtenBerufen ausgeschlossen, und Rechte, die li-banesischen Staatsbürgern zustehen, werdenihnen vorenthalten.

Zehntausende Flüchtlinge aus Syrien über-querten 2012 die Grenze zum Libanon. Damitverschärften sich die Probleme bezüglichWohnraum, Bildungs- und Gesundheitssys-tem sowie anderer begrenzter Ressourcen imLibanon. Der UN-Hochkommissar für Flücht-linge (UNHCR) hatte zum Ende des Jahres über170000 syrische Flüchtlinge im Libanon regis-triert. Die tatsächliche Zahl dürfte indes nochwesentlich höher liegen. Die meisten Flücht-linge hielten sich im Beka-Tal im Norden des Li-banon auf. Palästinensische Flüchtlinge, dieSyrien verlassen mussten, sahen sich diskrimi-nierenden Einreiseformalitäten durch die liba-nesischen Behörden ausgesetzt. Libanon hatdas UN-Abkommen über die Rechtsstellungder Flüchtlinge aus dem Jahr 1951 sowie dasZusatzprotokoll aus dem Jahr 1967 nicht rati-fiziert.

Mehrere Flüchtlinge, Asylsuchende und Ar-beitsmigranten gaben an, sie seien von den Si-cherheitskräften vor allem während ihrer Fest-nahme und Inhaftierung misshandelt worden,wobei die Festnahme in einigen Fällen willkür-lich bei Razzien in ihren Stadtvierteln oder anihren Arbeitsplätzen erfolgt war. Rund 70 Ar-beitsmigranten, überwiegend Syrer, Ägypteroder Sudanesen, sagten aus, sie seien im Okto-

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ber während einer Razzia im Geitawi-Viertel inBeirut von Soldaten geschlagen worden. Weib-liche ausländische Hausangestellte, die unterdem offiziellen Sponsorensystem arbeiteten,waren besonders von Misshandlungen durchihre Arbeitgeber bedroht.ý Menschenrechtsexperten der Vereinten Na-tionen forderten eine Untersuchung desSelbstmords einer Frau aus Äthiopien im März2012. Der mutmaßliche Eigner ihrer Arbeits-agentur war dabei gefilmt, worden, wie er dieFrau mit Gewalt in sein Auto gezerrt hatte, umsie daran zu hindern, das äthiopische Konsulatin Beirut zu betreten.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellen (LGBTI)Angehörige der LGBTI-Gemeinschaften sahensich Diskriminierungen und Misshandlungenausgesetzt.ý Im Juli 2012 wurden 36 Männer, die währendeiner Filmvorführung festgenommen wordenwaren, zwangsweise einer rektalen Untersu-chung unterworfen. Damit sollte festgestelltwerden, ob sie Analverkehr gehabt hatten. Da-raufhin forderte der nationale Medizinerver-band alle Ärzte im Land auf, sich nicht an sol-chen missbräuchlichen Maßnahmen zu betei-ligen, und kündigte bei Nichtbeachtung diszi-plinarische Schritte an.

TodesstrafeGegen mindestens neun Menschen wurde2012 die Todesstrafe verhängt. Es fanden je-doch keine Hinrichtungen statt. Das letzteTodesurteil war 2004 vollstreckt worden. Dervorgeschlagene Nationale Aktionsplan fürMenschenrechte empfahl, die Todesstrafe inder gesamten libanesischen Gesetzgebungdurch eine lebenslange Haftstrafe zu er-setzen.ý Mindestens fünf Personen wurden wegenSpionage für Israel zum Tode verurteilt.ý Im April forderte ein Militärrichter die Todes-strafe für 26 Männer, denen die Entführungund Gefangenhaltung einer Gruppe von estni-schen Staatsangehörigen im Jahr 2011 zur

Last gelegt wurde. Das Gerichtsverfahren dau-erte Ende 2012 noch an.

Amnesty International: Missionenþ Delegierte von Amnesty International besuchten den Libanon

in den Monaten Mai, August / September und November /Dezember, um sich ein Bild von der Lage der Menschenrechteim Libanon und in Syrien zu machen.

LiberiaAmtliche Bezeichnung: Republik LiberiaStaats- und Regierungschefin:

Ellen Johnson-Sirleaf

Das Justizwesen war nach wie vor ineffi-zient. Der Zugang zu Hafteinrichtungenwurde erschwert. Heterosexuelle und les-bische Frauen, Schwule, Bisexuelle,Transgender und Intersexuelle sahensich nach wie vor mit Diskriminierungenkonfrontiert. 41 Personen wurden ohneordnungsgemäße Verfahren an Côted’Ivoire ausgeliefert.

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252 Liberia

HintergrundDer Sondergerichtshof für Sierra Leone sprach2012 den ehemaligen liberianischen Staats-präsidenten Charles Taylor wegen in SierraLeone begangener Verbrechen schuldig undverurteilte ihn zu 50 Jahren Haft. Die Bevölke-rung Liberias wartete allerdings immer nochdarauf, dass diejenigen, die während des be-waffneten Konflikts in Liberia Menschen-rechtsverletzungen begangen hatten, vor Ge-richt gestellt wurden.

StraflosigkeitDie meisten Empfehlungen, die die liberiani-sche Wahrheits- und Versöhnungskommis-sion 2009 vorgelegt hatte, warteten nach wie vorauf ihre Umsetzung. Dies betraf u. a. die Ein-richtung eines Sondergerichtshofs für die Ver-folgung von Verbrechen unter dem Völker-recht sowie weitere rechtliche und institutio-nelle Reformen und auch Empfehlungen zurRechenschaftspflicht und zu Entschädigungen.

TodesstrafeObwohl Liberia 2005 dem 2. Fakultativprotokollzum Internationalen Pakt über bürgerlicheund politische Rechte beigetreten war und da-her verpflichtet ist, auf die Abschaffung derTodesstrafe hinzuarbeiten, wurden auch imJahr 2012 Todesurteile verkündet. Hinrichtun-gen gab es jedoch nicht. Die Todesstrafe wurdefür bewaffnete Raubüberfälle, Terrorismusund Entführungen mit Todesfolge beibehalten.

JustizsystemDas Justizsystem war nach wie vor ineffizient,schlecht ausgestattet und korrupt. Verzöge-rungen bei Gerichtsverfahren führten dazu,dass viele Menschen über lange Zeiträumehinweg in Untersuchungshaft saßen. Ungefähr80% der Gefängnisinsassen waren Untersu-chungshäftlinge. Ende 2012 standen in jedemBezirk staatlich bestellte Verteidiger zur Verfü-gung. Zivilgesellschaftliche Organisationen be-richteten, dass es dennoch sehr schwer sei,einen kostenfreien Rechtsbeistand zu finden.

HaftbedingungenIm Berichtsjahr war eine gewisse Verbesserungder medizinischen Versorgung in den Gefäng-nissen zu verzeichnen, da das Ministerium fürGesundheit und Soziales hier für eine regel-mäßige Betreuung sorgte. Es gab aber weiter-hin zu wenige Medikamente und andere me-dizinische Artikel.

Mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen undschlechte Haftbedingungen führten landes-weit zu mindestens zwölf Gefängnisausbrü-chen. Nach Informationen aus verschiedenenQuellen reagierten die Behörden auf die Aus-brüche mit einer Verkürzung der Hofgängeund der sportlichen Betätigung. Im Januar 2012fand der Spatenstich für den Bau eines neuenZentralgefängnisses in der Region Montserradostatt. Mit dem Bau soll die Überbelegung re-duziert und eine verbesserte Unterbringung derHäftlinge ermöglicht werden. Bis Jahresendekamen die Bauarbeiten jedoch kaum voran. Dieeigentlichen Ursachen für die hohe Zahl vonUntersuchungshäftlingen können nach Ansichtvieler kritischer Stimmen aber nicht durch denBau des neuen Gefängnisses beseitigt wer-den.

Nachdem Amnesty International 2011 einenBericht über die Zustände in den liberiani-schen Gefängnissen veröffentlicht hatte,schränkte die Regierung die Zugangsmöglich-keiten für Beobachter aus dem In- und Auslandzu den Gefängnissen und zu Informationenüber die Gefängnisse ein.

Die Regierung hielt einen Bericht des UN-Ausschusses gegen Folter 2012 weiterhin un-ter Verschluss. Der Ausschuss hatte 2011 inLiberia Hafteinrichtungen besucht.

Flüchtlinge und AsylsuchendeIm Juni 2012 wurden 41 Personen auf Ersu-chen der ivorischen Regierung an Côte d’Ivoireausgeliefert. Sie waren 2011 unter dem Vorwurffestgenommen worden, sie hätten – unter Mit-führung von Waffen – die Grenze von Liberianach Côte d’Ivoire zu überqueren versucht.Die liberianischen Behörden ignorierten die vonUN-Agenturen, Menschenrechtsorganisatio-nen und anderen geäußerte Befürchtung, dass

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die ausgelieferten Personen in Côte d’Ivoiregefoltert oder auf andere Weise misshandeltwerden könnten und dass ihnen möglicher-weise unfaire Gerichtsverfahren drohten oderihre Menschenrechte auf andere Weise miss-achtet werden könnten. Bei dem Auslieferungs-prozess wurde zudem gegen das Prinzip desVölkergewohnheitsrechts des Non-Refoule-ment (Abschiebungsverbot) verstoßen. Da-nach ist eine Person nicht an ein Land auszulie-fern, in dem ihr schwere Menschenrechtsver-letzungen drohen. Einigen Betroffenen wurdedas Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfah-ren verwehrt. Während des Auslieferungsver-fahrens hatten viele der Angeklagten keinenZugang zu Dolmetschern. Außerdem warenzum Zeitpunkt der Auslieferung Rechtsmittel-verfahren sowie ein Antrag auf Haftprüfung an-hängig. Mindestens elf Betroffene waren regis-trierte Flüchtlinge. Anderen, die angaben, Asylbeantragen zu wollen, wurde die Einleitungdes Asylverfahrens verweigert. Die Betroffenendurften weder von Mitarbeitern des UN-Hoch-kommissars für Flüchtlinge (UNHCR) noch vonAnwälten oder anderen Personen besuchtwerden, um ihre Identität festzustellen bzw. ihremöglichen Ansprüche auf Asyl zu prüfen.

Im Dezember stellte Côte d’Ivoire ein weiteresAuslieferungsersuchen für acht ivorischeStaatsangehörige. Es handelte sich um siebenerwachsene Männer und ein Kind. Die ivo-rische Regierung warf ihnen vor, im Juni 2012einen Anschlag verübt zu haben, bei dem sie-ben Blauhelmsoldaten und ein ivorischer Sol-dat getötet wurden. Die Gruppe war in Liberiaebenfalls wegen mehrerer Verbrechen ange-klagt, u. a. Mord, Vergewaltigung und Söldner-tum. In beiden Fällen bestand Anlass zu großerSorge, weil die Beweislage dürftig war. Solltendie Männer und das Kind ausgeliefert werden,besteht die Gefahr, dass sie gefoltert oder aufandere Weise misshandelt werden könnten undihnen unfaire Gerichtsverfahren, willkürlicheInhaftierung sowie Verschwindenlassen drohenoder sie außergerichtlich, willkürlich odersummarisch hingerichtet werden könnten.

Gewalt gegen Frauen und MädchenFamiliäre Gewalt war noch immer kein Straftat-bestand und blieb auch 2012 weit verbreitet,ebenso wie Vergewaltigungen und andere For-men sexueller Gewalt, einschließlich weib-licher Genitalverstümmelung und Frühverheira-tung.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenVor dem Hintergrund weit verbreiteter Homo-phobie in der liberianischen Öffentlichkeit undin den Medien wurden in der Legislaturperiodezwei Gesetze eingeführt, mit denen gleichge-schlechtliche sexuelle Handlungen noch stär-ker unter Strafe gestellt wurden und die somitdie Diskriminierung verstärkten. Im Julistimmte der Senat geschlossen für eine Ände-rung des Familienrechts, nach der gleichge-schlechtliche Ehen als Verbrechen zweitenGrades gelten sollen. Das Repräsentantenhaushatte Ende 2012 noch nicht über den Gesetz-entwurf abgestimmt. Durch einen zweiten Ge-setzentwurf sollen die »Förderung« der Homo-sexualität unter Strafe gestellt und lange Haft-strafen für die Aufnahme einvernehmlichergleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungenverhängt werden können. Dieser Entwurfstand Ende 2012 im Repräsentantenhaus nochzur Abstimmung an und soll dann dem Senatvorgelegt werden. Durch die zweideutige For-mulierung der Klausel, in der es um die »För-derung« von Homosexualität geht, könnte dieArbeit von Menschenrechtsverteidigern krimi-nalisiert werden.

Zahlreiche Angehörige sexueller Minderhei-ten berichteten über Beispiele von Diskrimi-nierung und Schikanen wegen ihrer sexuellenOrientierung. Viele gaben auch an, dass siedurch die Einführung der genannten Gesetz-entwürfe, mit denen die Stigmatisierunggleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungenfestgeschrieben wurde, immer mehr um ihreSicherheit fürchteten und sie Angst davor hät-ten, staatliche Leistungen wie Gesundheits-und Sozialleistungen oder den Schutz der Poli-zei in Anspruch zu nehmen.

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254 Libyen

Amnesty International: Mission und Berichtþ Delegierte von Amnesty International hielten sich von

September bis Oktober in Liberia auf.ÿ Liberian police must take immediate action to protect journa-

list, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR34/001/2012/en

LibyenAmtliche Bezeichnung: LibyenÜbergangspräsident: Mohammed Magarief (löste

im August Mustafa Mohammed Abdul Dschalilim Amt ab)

Regierungschef: Ali Zeidan (löste im OktoberAbdelrahim al-Kib im Amt ab)

Bewaffnete Milizen begingen 2012 er-neut schwere Menschenrechtsverstöße,wie willkürliche Festnahmen und Inhaf-tierungen, Folter und rechtswidrige Tö-tungen, und gingen dabei straffrei aus.Tausende mutmaßliche Unterstützerder 2011 gestürzten Regierung Mu’am-mar al-Gaddafis blieben ohne Anklage-erhebung oder Gerichtsverfahren im Ge-fängnis und hatten keine Möglichkeit,die Rechtmäßigkeit ihrer Haft anzufech-ten. Die Mehrzahl der Häftlinge wurdein Gewahrsam geschlagen oder anderwei-tig misshandelt; zahlreiche Menschenstarben infolge von Folter. ZehntausendeMenschen, die 2011 aus Orten vertrie-ben worden waren, die als Gaddafi-treugalten, waren noch immer Binnen-flüchtlinge. Ihnen drohten Vergeltungs-maßnahmen und andere Übergriffe.Ausländische Staatsbürger ohne Aufent-haltsgenehmigung wurden willkürlichund auf unbestimmte Zeit inhaftiert,ausgebeutet, gefoltert und anderweitigmisshandelt. Vereinzelte bewaffneteAuseinandersetzungen zwischen Mili-zen forderten im ganzen Land HunderteTodesopfer, unter ihnen Kinder und an-

dere unbeteiligte Zivilpersonen. Die inden vergangenen Jahrzehnten verübtenschwerwiegenden Menschenrechtsverlet-zungen wurden ebenso wenig geahndetwie die fortdauernden Menschenrechts-verstöße bewaffneter Milizen. Frauenwurden nach wie vor durch die Gesetzge-bung sowie im täglichen Leben diskri-miniert. Die Todesstrafe blieb weiterhinin Kraft, es gab jedoch keine Hinrich-tungen.

HintergrundAm 7. Juli 2012 fanden die Wahlen zum Allge-meinen Nationalkongress statt, der 200 Sitzeumfasst. Er hat die Aufgabe, Gesetze zu verab-schieden, die nächsten Parlamentswahlenvorzubereiten, eine Regierung einzusetzen undmöglicherweise die Ausarbeitung der neuenVerfassung zu überwachen – der ersten desLandes seit mehr als 40 Jahren. Der NationaleÜbergangsrat, der am 27. Februar 2011 gebil-det worden war und die Opposition gegenMu’ammar al-Gaddafi angeführt hatte, übergabam 8. August 2012 formell seine Amtsge-schäfte an den Allgemeinen Nationalkongress.

Mehreren aufeinander folgenden Regierun-gen gelang es nicht, die Hunderte von Milizenin den Griff zu bekommen, die sich nach dem

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Libyen 255

Sturz Gaddafis im Jahr 2011 gebildet hatten,als ein Sicherheitsvakuum herrschte. Viele die-ser Milizen setzten sich weiterhin über Rechtund Gesetz hinweg und weigerten sich, ihreWaffen abzuliefern und sich der Polizei oderder Armee anzuschließen. Ehemalige Kämpfergegen Gaddafi konnten nicht in das ObersteSicherheitskomitee (Supreme Security Commit-tee – SSC) des Innenministeriums eingeglie-dert werden, da es an systematischen Überprü-fungen mangelte. Somit konnte nicht ausge-schlossen werden, dass Personen, die für Folterund andere Verbrechen im Sinne des Völker-rechts verantwortlich waren, in Positionen ge-langten, in denen sie erneut Verstöße begehenkönnten.

Die Internationale Untersuchungskommissionfür Libyen stellte auf der Sitzung des UN-Men-schenrechtsrats im März 2012 fest, dass wäh-rend des Konflikts im Jahr 2011 sowohl An-hänger als auch Gegner Gaddafis Kriegsverbre-chen, Verbrechen gegen die Menschlichkeitund Menschenrechtsverstöße verübt hatten.Nach Erkenntnissen der Kommission begin-gen nach dem Ende der Kampfhandlungen be-waffnete Milizen schwerwiegende Menschen-rechtsverstöße, dazu zählten willkürliche Inhaf-tierungen und Folter. Der UN-Menschen-rechtsrat verabschiedete eine Resolution zur»Unterstützung Libyens auf dem Gebiet derMenschenrechte«. Die libysche Regierunglehnte es jedoch ab, eine Überwachung derMenschenrechte in die Resolution aufzuneh-men und die anhaltenden Menschenrechts-verletzungen in irgendeiner Weise zu erwäh-nen.

Bewaffnete Milizen zerstörten im August 2012religiöse Heiligtümer der Sufis in den StädtenTripolis und Zliten. Soweit bekannt, wurde nie-mand wegen dieser Angriffe festgenommenoder strafrechtlich verfolgt. Insbesondere in Li-byens zweitgrößter Stadt Bengasi kam es zuBombenanschlägen und anderen Angriffen aufRegierungsgebäude, Justizeinrichtungen undPolizeiwachen sowie auf diplomatische Vertre-tungen und Büros internationaler Organisatio-nen.

Bei einem Angriff auf das US-Konsulat in Ben-

gasi wurden am 11. September der Botschaf-ter der USA, J. Christopher Stevens, sowie dreiweitere US-Bürger getötet. Die libysche Regie-rung verurteilte die Tat und kündigte Festnah-men an. Ende 2012 war jedoch noch niemandzur Verantwortung gezogen worden.

Willkürliche Festnahmenund InhaftierungenIm Mai 2012 verabschiedete der NationaleÜbergangsrat das Gesetz 38 zur Regelung vonVerfahren während der Übergangsperiode. Esräumte dem Innen- und dem Verteidigungs-ministerium eine Frist von maximal 60 Tagenein, um Fälle von Inhaftierten, die von bewaff-neten Milizen festgehalten wurden, an die zivileoder militärische Gerichtsbarkeit zu überge-ben. Dennoch befanden sich weiterhin Tau-sende mutmaßliche Unterstützer oder Solda-ten Gaddafis im Gewahrsam von Milizen und in-offiziellen Sicherheitsorganen. Obwohl mehrals 30 Gefängnisse offiziell den Justizbehördenunterstellt wurden und das Justizministeriumim Dezember ein Konzept erarbeitete, um diewirksame Kontrolle über die Einrichtungen zuübernehmen, waren in vielen Haftanstaltenweiterhin Angehörige der Milizen als Aufseheroder Verwaltungskräfte tätig. Ende 2012 saßendie meisten der während der Kampfhandlun-gen 2011 inhaftierten Personen noch immerohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfah-ren in Haft. Manche durften keinen Besuch vonihren Familien erhalten. Nur wenige hattenZugang zu einem Rechtsbeistand.

Bewaffnete Milizen nahmen weiterhin mut-maßliche Unterstützer von Mu’ammar al-Gad-dafi gefangen, entführten sie aus ihren Häu-sern, ergriffen sie an ihren Arbeitsplätzen, aufoffener Straße oder an Kontrollpunkten. Vielewurden bei ihrer Festnahme geschlagen, ihreHäuser wurden geplündert und zerstört. Vor al-lem die Einwohner von Orten, die als Gaddafi-treu galten, gerieten ins Visier der Milizen. Be-sonders betroffen waren die Bewohner von Ta-wargha. Häftlinge wurden häufig von einemprovisorischen Haftort zum nächsten ge-bracht, bevor sie an offizielle und oder halboffi-zielle Gefängnisse oder Haftzentren überstellt

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wurden. Erst dann konnten Angehörige denAufenthaltsort der Inhaftierten in Erfahrungbringen. Das Schicksal einiger Personen, dievon Milizen entführt worden waren, blieb imDunkeln.ý Bashir Abdallah Badaoui, der ehemalige Lei-ter der Kriminalpolizei von Tripolis, und sein19-jähriger Sohn Hossam Bashir Abdallah wur-den am 13. April 2012 in der Nähe ihrer Woh-nung in Tripolis von bewaffneten Milizangehöri-gen entführt. Hossam Bashir Abdallah wurdenach fünf Tagen wieder auf freien Fuß gesetzt.Der Aufenthaltsort seines Vaters blieb jedochunbekannt, obwohl die Familie alles daransetzte, ihn zu finden.

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen waren vorallem in den von Milizen kontrollierten Haft-zentren weit verbreitet. Die Gefangenen solltenauf diese Weise bestraft und zu »Geständnis-sen« gezwungen werden. Besonders gefährdetwaren die Häftlinge während der ersten Tageihrer Haft und bei Verhören. Viele unterzeichne-ten »Geständnisse«, die unter Folter oderZwang erpresst worden waren. Artikel 2 des Ge-setzes 38 gewährte Richtern einen weiten Er-messensspielraum, was die Verwendung vonVerhörprotokollen bewaffneter Milizen betraf.

Viele Gefangene wurden immer wieder mitGummischläuchen, Gewehrkolben, Elektroka-beln, Wasserleitungsrohren und Gürteln ge-schlagen. Dabei wurden sie häufig inschmerzhaften Positionen aufgehängt. Häft-linge erhielten Elektroschocks, sie wurden mitZigaretten oder heißen Metallteilen verbranntund mit heißem Wasser verbrüht. Außerdemdrohte man ihnen mit Ermordung oder Verge-waltigung und führte Scheinhinrichtungendurch. Zahlreiche Menschen starben im Ge-wahrsam der Milizen, des SSC und in offiziel-len Gefängnissen unter Umständen, die daraufschließen ließen, dass Folter zu ihrem Tod bei-getragen oder ihn verursacht hatte.ý Tarek Milad Youssef al-Rifa’i, ein ehemaligerPolizeibeamter aus Tawargha, starb am 19. Au-gust 2012, nachdem man ihn vom Wehda-Ge-fängnis an den SSC in Misrata zum Verhör

überstellt hatte. Im Oktober 2011 war er von be-waffneten Milizen aus Misrata aus seiner Woh-nung in Tripolis entführt worden. Die Angehöri-gen von Tarek Milad Youssef al-Rifa’i fandenseinen mit Blutergüssen übersäten Körper ineinem Leichenschauhaus in Misrata. Laut Ob-duktionsbericht wurde er erschlagen. Seine Fa-milie legte bei den Behörden Beschwerde ein,doch wurden bisher keine gründlichen Ermitt-lungen eingeleitet, um die Todesumständeaufzuklären.ý Die Familie von Ahmed Ali Juma’ fand des-sen Leiche im Juli in einer Leichenhalle in Tri-polis. Er war wenige Tage zuvor zu einem Verhörbeim Militärrat von Abu Salim einbestellt wor-den. Ein Obduktionsbericht stellte »mehrfacheBlutergüsse am ganzen Körper, am Kopf, amRumpf, an Armen und Beinen sowie an den Ge-nitalien« fest und kam zu dem Schluss, dasser »erschlagen« worden sei. Niemand wurdefür seinen Tod zur Verantwortung gezogen.

Bewaffnete AuseinandersetzungenBei vereinzelten Zusammenstößen zwischenbewaffneten Milizen wurden sowohl Kämpferals auch unbeteiligte Passanten und Anwohnergetötet oder erlitten Verletzungen. Zu Ausein-andersetzungen dieser Art kam es im Februar,April und Juni in Kufra, im März in Sabha, imJuni in den Nafusa-Bergen, im September inBarak al-Shat und im Oktober in Bani Walid.Milizen feuerten mit »Grad«-Raketen, Mörsernund Flugabwehrgeschützen auf Wohngebieteund verletzten dabei Menschen und beschä-digten oder zerstörten ihr Eigentum. Im Junisetzten bewaffnete Milizen in Sgeiga Berichtenzufolge weiße Phosphormunition ein, trotz derdamit verbundenen lebensbedrohlichen Gefahrfür die Bevölkerung.

Am 24. Oktober 2012 endeten die wochen-lange Belagerung und ein bewaffneter Angriffauf Bani Walid durch die Armee und Milizen.Bei den Auseinandersetzungen wurden offi-ziellen Angaben zufolge 22 Menschen getötet.Die tatsächliche Zahl der Todesopfer dürfte je-doch höher sein. Zu den Opfern zählten auchBewohner Bani Walids, die nicht an denKämpfen beteiligt gewesen waren, darunter

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Kinder. Der neunjährige Mohamed MustafaMohamed Fathallah erlitt tödliche Verletzungendurch Granatsplitter, als das Haus seiner Fa-milie am 10. Oktober von Granaten getroffenwurde. Am 30. Oktober räumte Verteidigungs-minister Osama al-Juwaili ein, die Armee habedie Lage nicht unter Kontrolle. Für die zahlrei-chen Verstöße machte er Milizen verantwort-lich. Die Behörden setzten eine Kommissionein, die einige der bewaffneten Auseinanderset-zungen untersuchen sollte. Bis Ende 2012 wa-ren jedoch noch keine Ergebnisse veröffentlichtworden. Außerdem war keiner der Verantwort-lichen zur Rechenschaft gezogen und keinesder Opfer entschädigt worden.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenObwohl in der »Verfassungserklärung« vom Au-gust 2011 das Recht auf Asyl verankert war,hatte die libysche Regierung die Genfer Flücht-lingskonvention noch immer nicht ratifiziert.Sie hatte außerdem weder eine Vereinbarungmit dem UN-Hochkommissar für Flüchtlingeunterzeichnet noch ein Asylgesetz erlassen.

Bewaffnete Milizen und Polizeikräfte nahmennach wie vor ausländische Staatsangehörigeohne Aufenthaltsgenehmigung willkürlich fest.Ihnen wurden »Verstöße« im Zusammenhangmit Migration zur Last gelegt, wie z. B. die »ille-gale« Einreise in das Land. Dies betraf auchMenschen, die internationalen Schutz benötig-ten. Ende 2012 waren Tausende Menschen inüberfüllten Haftzentren unter unzumutbarenhygienischen Bedingungen auf unbestimmteZeit inhaftiert und warteten auf ihre Abschie-bung. Sie hatten keine Möglichkeit, die Recht-mäßigkeit ihrer Inhaftierung oder ihrer Behand-lung sowie der Haftbedingungen prüfen zulassen. Personen, die der »illegalen« Einreiseverdächtigt wurden, waren in Gewahrsam re-gelmäßig Beschimpfungen, Schlägen und an-deren Misshandlungen ausgesetzt, die in eini-gen Fällen Folter gleichkamen. Mindestenszwei ausländische Staatsbürger starben imGewahrsam der Milizen.ý Am 13. September 2012 schlugen elf Männerin Zivil im Tweisha-Haftzentrum in Tripolis mit

Gummischläuchen und anderen Gegenstän-den auf eine Gruppe nigerianischer Frauenein, die dort inhaftiert waren. Einige der Frauenwurden mit Elektroschocks gequält. Die Be-hörden leiteten keine Verfahren gegen die Täterein.

BinnenflüchtlingeDie Regierung unternahm 2012 keine ernsthaf-ten Anstrengungen, um die sichere Rückkehrganzer Gemeinden zu ermöglichen, die wäh-rend des Konflikts im Jahr 2011 vertriebenworden waren. Dies betraf u. a. die Einwohnervon Tawargha, Mashashiya, Gawalish und an-deren Orten, die als Gaddafi-treu galten. Be-waffnete Milizen richteten in diesen Gebietenweitere Verwüstungen an, um sie unbewohnbarzu machen. Sie inhaftierten und misshandel-ten willkürlich Personen aus diesen Orten, ins-besondere Einwohner Tawarghas.ý Am 6. Mai 2012 wurden am Flughafen vonTripolis vier Männer aus Tawargha festgenom-men, die aus Bengasi zurückkamen. EinemVerwandten, der sie begleitete, sagte man, dieMänner kämen bald wieder frei. Ende 2012 wa-ren sie jedoch noch immer ohne Gerichtsver-fahren in Misrata inhaftiert.

Berichten zufolge gab es Ende 2012 rund58000 Binnenflüchtlinge im Land. Tausendewaren in Lagern in Tripolis und Bengasi unter-gebracht, die völlig unzureichend ausgestattetwaren.

StraflosigkeitDie Behörden versprachen, die schwerwiegen-den Menschenrechtsverletzungen zu untersu-chen, die während der Regierungszeit Mu’am-mar al-Gaddafis verübt worden waren. Es wur-den strafrechtliche Ermittlungen gegen eineReihe ehemaliger hochrangiger Beamter undmutmaßlicher Anhänger Gaddafis eingelei-tet. Die andauernden Verstöße bewaffneterMilizen wurden jedoch nicht untersucht, unddie dafür Verantwortlichen gingen straffreiaus.

Im Mai 2012 erließ der Nationale Übergangs-rat das Gesetz 17, das die Bildung einer Unter-suchungs- und Versöhnungskommission vor-

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258 Libyen

sieht. Es war nicht klar ersichtlich, ob dasMandat der Kommission lediglich die Aufklä-rung von Verbrechen der Regierung Gaddafisumfasste oder auch Menschenrechtsverletzun-gen, die von anderen begangen worden wa-ren. Ende 2012 gab es keine Hinweise darauf,dass die Kommission mit wirksamen Untersu-chungen begonnen hatte.

Der Nationale Übergangsrat verabschiedeteim Mai das Gesetz 35 über Amnestie. Es stehtim Widerspruch zu Libyens völkerrechtlicherVerpflichtung, Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit, Kriegsverbrechen, das Verschwinden-lassen von Personen und außergerichtlicheHinrichtungen zu untersuchen und die Verant-wortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Das ebenfalls im Mai verabschiedete Gesetz38 gewährt Angehörigen von Milizen eine um-fassende strafrechtliche Immunität für alle Ta-ten, die angeblich zum »Schutz der Revolutionvom 17. Februar« begangen wurden.

Es gab keine nennenswerten Untersuchun-gen mutmaßlicher Kriegsverbrechen undschwerer Menschenrechtsverstöße, wie Folterund rechtswidrige Tötungen, die Milizangehö-rige während und nach dem bewaffneten Kon-flikt verübt hatten. Die Behörden veröffentlich-ten keine Untersuchungsergebnisse bezüglichder allem Anschein nach außergerichtlichenHinrichtung von Mu’ammar al-Gaddafi, seinemSohn Mu’tassim und anderen mutmaßlichenAnhängern und Soldaten Gaddafis nach ihrerErgreifung im Jahr 2011.

Die libyschen Behörden lehnten es ab, Saif al-Islam al-Gaddafi und den am 5. September2012 von Mauretanien nach Libyen ausgeliefer-ten ehemaligen Sicherheitschef Abdallah al-Senussi an den Internationalen Strafgerichtshof(International Criminal Court – ICC) zu über-stellen. Der ICC hatte gegen die beiden Männereinen Haftbefehl wegen mutmaßlicher Verbre-chen gegen die Menschlichkeit ausgestellt. ImJuni wurden vier Mitarbeiter des ICC bei einemBesuch in Sintan von Milizen festgenommenund mehr als drei Wochen inhaftiert. Man warfihnen vor, die nationale Sicherheit gefährdet zuhaben. Ende 2012 hatte die zuständige Vorun-tersuchungskammer des ICC noch nicht über

den Antrag der libyschen Regierung vom1. Mai entschieden, den Prozess gegen Saif al-Islam al-Gaddafi in Libyen führen zu können.

Rechte auf freie Meinungsäußerungund VersammlungsfreiheitDie Anzahl neuer Medienerzeugnisse wie auchneuer zivilgesellschaftlicher Gruppen stieg2012 stark an. Libysche und ausländische Jour-nalisten sowie andere Personen, die Kritik anden bewaffneten Milizen äußerten, wurden be-droht, eingeschüchtert, schikaniert und inhaf-tiert. Es bestand eine wachsende Gefahr vonSelbstzensur.ý Am 25. August 2012 wurde Nabil Shebani,der Direktor des Fernsehsenders al-Assema,mehrere Stunden lang vom SSC in Tripolis ver-hört. Anlass war die Berichterstattung desSenders über die Zerstörung religiöser Stättender Sufis in Tripolis. Er kam ohne Anklageer-hebung wieder frei.ý Am 19. Juli 2012 nahmen bewaffnete Milizio-näre die britische Journalistin Sharron Ward inTripolis fest. Die freie Journalistin hatte Binnen-flüchtlinge aus Tawargha gefilmt, die in derMarineakademie in Janzour, am Rande von Tri-polis, untergebracht waren. Am 21. Juli wurdesie erneut inhaftiert und am 24. Juli gezwun-gen, das Land zu verlassen. Teile ihrer Ausrüs-tung wurden beschlagnahmt.

Im Juni erklärte der Oberste Gerichtshof das2012 verabschiedete Gesetz 37, das die »Ver-herrlichung von Gaddafi« unter Strafe stellteund unzulässige Einschränkungen des Rechtsauf freie Meinungsäußerung enthielt, für verfas-sungswidrig.

Im November verabschiedete der AllgemeineNationalkongress das Gesetz 65 über De-monstrationen aus dem Jahr 2012. Durch die-ses Gesetz wurde das Recht auf friedliche Ver-sammlung in unzulässiger Weise einge-schränkt.

FrauenrechteFrauen wurden in Libyen nach wie vor durchdie Gesetzgebung sowie im täglichen Lebendiskriminiert.

Der Übergangsregierung von Ministerpräsi-

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dent Ali Zeidan gehörten zwei Frauen an. Beiden Wahlen zum Libyschen Allgemeinen Natio-nalkongress errangen Frauen 33 von insge-samt 200 Sitzen: 32 Frauen wurden über Listenvon Parteien gewählt, eine Frau aus Bani Wa-lid kandidierte unabhängig. Bei der Übergabeder Amtsgeschäfte an den Allgemeinen Natio-nalkongress am 8. August wurde eine Modera-torin gezwungen, die Bühne zu verlassen, weilsie keinen Schleier trug.

Mächtige Milizenführer und andere einfluss-reiche Personen kritisierten im Februar öffent-lich kleinere Protestaktionen von Frauen in Tri-polis und Bengasi. Die Demonstrierenden hat-ten die rechtliche Gleichstellung von Frauen ge-fordert und sexuelle Belästigung und Gewaltgegen Frauen angeprangert. Einige der Organi-satorinnen erhielten Drohungen und stelltenihre öffentlichen Aktivitäten daraufhin ein.

JustizwesenEs gab nach wie vor kein funktionierendes Jus-tizwesen. Tausende von offenen Fällen konn-ten nicht bearbeitet werden, weil Polizeiwachenund Gerichtsgebäude in Teilen des Landesweiterhin geschlossen blieben. In einigen Fäl-len, bei denen ein großes öffentliches Inte-resse bestand, wurden Verfahren in die Wegegeleitet. Sie wurden dann jedoch vertagt, weilkein faires Verfahren gewährleistet werdenkonnte. Dies betraf beispielsweise den Fall desehemaligen Chefs des Geheimdienstes für äu-ßere Sicherheit, Abdelaziz Dorda.

Staatsanwälte, Kriminalbeamte, Mitarbeiterder Justizbehörden und Rechtsanwälte, diemutmaßliche Gaddafi-Anhänger verteidigten,waren Einschüchterungen, Bedrohungen undGewalt von Milizen ausgesetzt.ý Im August 2012 tauchte in der Gegend vonMisrata ein Plakat mit den Namen von 34Rechtsanwälten auf, denen vorgeworfen wurde,mutmaßliche Gaddafi-Anhänger vor Gerichtzu vertreten. Den Rechtsanwälten wurde vorge-worfen, sie würden ihr Geld damit verdienen,»auf Kosten des Blutes der Märtyrer, der Ver-letzten und der Vermissten« die Freilassungvon »Dregs« (Schimpfwort für Gaddafi-Anhän-ger) zu erwirken. Nachdem u. a. der Anwalts-

verband gegen das Plakat protestiert hatte,wurde es entfernt. Einige der 34 Rechtsan-wälte erhielten jedoch anonyme Drohungen.

Es gab keine Bemühungen um eine Justizre-form. Außerdem stand die Einführung einersystematischen Sicherheitsüberprüfung vonRichtern aus, um diejenigen ihres Amtes zuentheben, die während der RegierungszeitMu’ammar al-Gaddafis in unfaire Gerichtsver-fahren, willkürliche Festnahmen und andereMenschenrechtsverstöße verwickelt waren.

TodesstrafeDie Todesstrafe blieb weiterhin für eine großeAnzahl von Vergehen in Kraft. Mindestens fünfMenschen wurden im November 2012 in Abwe-senheit zum Tode verurteilt. Es gab jedochkeine Hinrichtungen.

Rechtswidrige TötungenIm Osten des Landes wurden zahlreiche Si-cherheitsbeamte, darunter Angehörige derehemaligen Regierung von Mu’ammar al-Gad-dafi, erschossen oder Opfer von Sprengstoff-anschlägen. Die offensichtlich politisch moti-vierten Anschläge fanden hauptsächlich inBengasi und Derna statt. Soweit bekannt, wur-den keine ernsthaften Untersuchungen dieserTodesfälle eingeleitet.ý Am 30. Oktober erschossen in Derna unbe-kannte Attentäter Khaled al-Safi al-Adli. Erhatte Gaddafis Revolutionskomitee angehört.

NATOEs wurden keine Einzelheiten über zivile Opferder NATO-Luftangriffe gegen die Truppen Gad-dafis im Jahr 2011 veröffentlicht. Die NATOblieb bei ihrer Auffassung, dass die Verantwor-tung für mögliche Entschädigungszahlungenan die Opfer bei den libyschen Behörden liege.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegationen von Amnesty International besuchten Libyen im

Januar / Februar, im Mai / Juni und im August / September.ÿ Libya: The forgotten victims of NATO strikes,

http://amnesty.org/en/library/info/MDE19/003/2012/enÿ Libya: Rule of law or rule of militias?, http://amnesty.org/en/

library/info/MDE19/012/2012/en

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260 Litauen

ÿ Libya: 10 steps for human rights: Amnesty International’shuman rights manifesto for Libya, http://amnesty.org/en/library/info/MDE19/017/2012/en

ÿ »We are foreigners, we have no rights.« The plight ofrefugees, asylum-seekers and migrants in Libya,http://amnesty.org/en/library/info/MDE19/020/2012/en

LitauenAmtliche Bezeichnung: Republik LitauenStaatsoberhaupt: Dalia GrybauskaiteRegierungschef: Algirdas Butkevicius (löste im

Dezember Andrius Kubilius im Amt ab)

Über Litauens Rolle bei den von den USAdurchgeführten Programmen für außer-ordentliche Überstellungen und Geheim-gefängnisse erfolgte auch im Jahr 2012keine Rechenschaftslegung. Es kam wei-terhin zu Diskriminierungen von Les-ben, Schwulen, Bisexuellen, Transgen-dern und Intersexuellen, u. a. wenn sieihre Rechte auf freie Meinungsäußerungund Versammlungsfreiheit wahrnah-men.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitDie Behörden nahmen die Untersuchung zurBeteiligung Litauens an den CIA-Programmenfür außerordentliche Überstellungen und Ge-

heimgefängnisse nicht wieder auf, obwohl esneue Ermittlungsansätze gab und NGOs neueDaten über außerordentliche Überstellungs-flüge nach Litauen vorgelegt hatten. Die Behör-den versäumten es auch, strafrechtlicheSchritte gegen Personen einzuleiten, die fürmöglicherweise auf litauischem Hoheitsgebietverübte Menschenrechtsverletzungen wie Fol-ter und Verschwindenlassen verantwortlichwaren.

Im April 2012 besuchten Delegierte des Euro-päischen Parlaments das Land und kamen zudem Schluss, dass Litauen keine unabhängige,unparteiische, gründliche und wirksame Un-tersuchung seiner Beteiligung an den CIA-Pro-grammen durchgeführt hatte. In einem imSeptember vom Europäischen Parlament ange-nommenen Bericht wurde Litauen aufgefor-dert, eine Untersuchung zu seiner Mitverant-wortung für diese Programme durchzuführen,die mit den international geltenden Menschen-rechtsstandards in Einklang steht.

Diskriminierung – Lesben, Schwule,Bisexuelle, Transgender undIntersexuelleDiskriminierende gesetzliche Bestimmungensowie andere Vorschriften, die in diskriminie-render Weise gegen Personen aufgrund ihrersexuellen Orientierung angewendet werdenkönnen, blieben weiterhin in Kraft. Dies betrafspeziell die Rechte von Lesben, Schwulen, Bi-sexuellen, Transgendern und Intersexuellen so-wie von Personen, die stellvertretend für dieseBevölkerungsgruppen für die Rechte auf freieMeinungsäußerung und Versammlungsfrei-heit eintraten. Darüber hinaus lagen Vorschlägefür weitere diskriminierende Bestimmungenvor.ý Im Juni 2012 wurde der jüngste Versuch zurÄnderung des Gesetzes über Ordnungswidrig-keiten, mit der das »Propagieren von Homose-xualität« in der Öffentlichkeit verboten werdensollte, von einer Mehrheit im Parlament abge-lehnt.

Das Parlament prüfte einen Vorschlag zurVerfassungsänderung, der vorsah, die Defini-tion von »Familie« auf ein miteinander verheira-

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tetes Paar von Mann und Frau zu beschrän-ken. Dies könnte zur Diskriminierung aufgrunddes Familienstatus und der sexuellen Orientie-rung führen.

Internationale KontrolleAm 16. März 2012 nahm der UN-Menschen-rechtsrat das Ergebnis der Universellen Regel-mäßigen Überprüfung Litauens an. Litauen ak-zeptierte die Empfehlungen des UN-Men-schenrechtsrats zum Schutz von Menschen vorDiskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Ori-entierung. Ferner sagte es zu, weitere Untersu-chungen über die Auswirkungen von Antiter-rormaßnahmen – einschließlich der Programmefür außerordentliche Überstellungen und Ge-heimgefängnisse – auf die Menschenrechtedurchzuführen. Ende 2012 war die diskrimi-nierende Gesetzgebung jedoch noch immer inKraft, und die Behörden hatten keine Maß-nahmen zur Umsetzung der Empfehlungen er-griffen.

Im Juli rief der UN-Menschenrechtsaus-schuss Litauen auf sicherzustellen, dass seineGesetzgebung nicht dahingehend ausgelegtoder angewendet werden kann, dass Perso-nen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oderGeschlechtsidentität diskriminiert werden. Esmüsse garantiert sein, dass diese Personen-gruppen ihre Menschenrechte wahrnehmenkönnen, einschließlich ihrer Rechte auf freieMeinungsäußerung und Versammlungsfrei-heit. Der Ausschuss forderte Litauen zudemauf, die Untersuchungen über Menschen-rechtsverletzungen, die Folge von Antiterror-maßnahmen waren, fortzusetzen und die da-für Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

Amnesty International: Berichteÿ Lithuania: Amnesty International urges the reopening of the

criminal investigation into Lithuania’s involvement in theUS-led rendition and secret detention program,http://amnesty.org/en/library/info/EUR53/001/2012/en

ÿ Europe: »What is new on the alleged CIA illegal detention andtransfers of prisoners in Europe?«, http://amnesty.org/en/library/info/EUR01/006/2012/en

MadagaskarAmtliche Bezeichnung: Republik MadagaskarStaatsoberhaupt: Andry Nirina RajoelinaRegierungschef: Jean Omer Beriziky

Gravierende Menschenrechtsverletzun-gen, darunter Hunderte rechtswidrigeTötungen sowie willkürliche Festnahmenund Inhaftierungen durch die Sicher-heitskräfte, waren an der Tagesordnung.Dabei gingen die Täter auch 2012 fastimmer straffrei aus. Führende Politiker,Journalisten, Priester und Rechtsan-wälte sowie andere, die den Behördenkritisch gegenüberstanden, waren Ein-schüchterungsversuchen ausgesetzt undwurden in einigen Fällen in unfairen Ge-richtsverfahren zu Freiheitsstrafen verur-teilt.

HintergrundDie politische und soziale Lage in Madagaskarblieb angespannt. Vor allem im Süden, aberauch in anderen Landesteilen war die Sicher-heitslage äußerst kritisch. Wichtige Regelun-gen aus dem »Fahrplan zur Beendigung derpolitischen Krise« wurden nicht umgesetzt.

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262 Madagaskar

Der Plan war auf Vermittlung der Entwicklungs-gemeinschaft des südlichen Afrika zustandegekommen und im September 2011 von derMehrheit der politischen Akteure in Madagas-kar unterzeichnet worden. Zu den nicht umge-setzten Vorhaben gehörten u. a. die Beendi-gung politisch motivierter Rechtsverfahren, derSchutz und die Förderung der Menschen-rechte, die Achtung der Grundfreiheiten sowiedie Rückkehr derer, die aus politischen Grün-den im Exil lebten. Vertreter der internationalenGemeinschaft und der Regierung bestätigten,dass im Mai 2013 ein neuer Präsident gewähltwerden soll. Mitte April 2012 wurde von bei-den Kammern des Parlaments ein Amnestie-gesetz verabschiedet, das den Zeitraum vonJanuar 2002 bis zum 31. Dezember 2009 um-fasst.

Im September unterzeichnete Madagaskardas 2. Fakultativprotokoll zum InternationalenPakt über bürgerliche und politische Rechte,dessen Ziel die Abschaffung der Todesstrafeist, sowie das Zusatzprotokoll zum UN-Überein-kommen über die Rechte des Kindes.

Nachdem Amnesty International am 20. No-vember in einer Pressemitteilung über die gra-vierenden Menschenrechtsverletzungen be-richtet hatte, die von den Sicherheitsorganenim Süden des Landes begangen worden waren,und eine unabhängige Untersuchung derÜbergriffe gefordert hatte, beschloss der Minis-terpräsident, eine Untersuchungskommissioneinzusetzen, die unter Federführung der UN ar-beiten soll. Ende 2012 wurden die Vorberei-tungen für die Arbeit der Kommission aufge-nommen.

Rechtswidrige TötungenVor allem in der Region Anosy gab es zahlreichedurch Sicherheitskräfte verübte Tötungen vonZivilpersonen wegen Viehdiebstahls; HunderteMenschen waren ethnischer Gewalt und Mas-senmorden schutzlos ausgeliefert. Im Septem-ber begann die Militäroperation »Tandroka«.Zeugen berichteten Amnesty International,dass Sicherheitskräfte im Rahmen der Opera-tion wahllos Dörfer in Brand gesetzt hätten unddass diejenigen, die nicht flüchten konnten,

bei lebendigem Leib in ihren Häusern ver-brannt seien.ý Sicherheitskräfte sollen im September 2012im Bezirk Elonty mindestens elf Menschen,unter ihnen ein sechs Jahre altes Mädchen, ge-tötet und 95 Häuser niedergebrannt haben.Bei den Angriffen wurde die Ernte zerstört undmindestens eine Schule dem Erdbodengleichgemacht. In offiziellen Stellungnahmenhieß es, dass die Sicherheitskräfte nur Canna-bisplantagen zerstört hätten.ý Bei einem weiteren Vorfall, der sich ebenfallsim September in der Ortschaft Numbi ereig-nete, wurden mutmaßliche Rinderdiebe, soge-nannte Dahalo, von den Sicherheitskräften au-ßergerichtlich hingerichtet. Einer der Hingerich-teten war körperbehindert. Im Oktober wurdendie Eltern und die Frau eines prominenten Ver-dächtigen im Bezirk Mahaly außergerichtlichhingerichtet.ý Im Verlauf des Jahres wurden in der Umge-bung von Fort-Dauphin, einer Stadt im Südenvon Madagaskar, mindestens 250 Menschenbei Vorfällen getötet, die von den Behörden alsZusammenstöße zwischen Rinderdieben undEinwohnern bezeichnet wurden. Amnesty In-ternational befürchtet, dass die tatsächlicheZahl der Opfer noch viel höher sein dürfte.Nach Zeugenberichten hatten in einem FallEinwohner die Behörden über einen unmittel-bar bevorstehenden Überfall auf ein Dorf infor-miert. Diese hätten jedoch nichts unternom-men, um das anschließende Massaker, bei demmindestens 86 Menschen mit Macheten getö-tet wurden, zu verhindern.

StraflosigkeitAngehörige der Sicherheitskräfte und bewaff-neter Gruppen, die für gravierende Men-schenrechtsverletzungen wie rechtswidrige Tö-tungen verantwortlich waren, mussten nachwie vor keine strafrechtlichen Konsequenzenbefürchten.ý Die Untersuchung des Todes von Staatsan-walt Michel Rahavana war ein Jahr nach Be-ginn noch nicht abgeschlossen. Michel Raha-vana war im Dezember 2011 von mehrerenPolizisten in Toliara getötet worden, als diese

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Malawi 263

versuchten, einen Kollegen aus dem Gefäng-nis zu befreien. Der Staatsanwalt hatte ihn imZusammenhang mit einem Diebstahl inhaftie-ren lassen. Der für die Polizei zuständige Minis-ter für Innere Sicherheit, der sich zum Zeit-punkt der Ermordung von Michel Rahavana inder Stadt aufgehalten hatte, soll von der bevor-stehenden Tat Kenntnis erhalten, diese abernicht verhindert haben. Ende 2011 hatte derJustizminister eine Untersuchung des Vorfallsangekündigt.ý Im Fall des getöteten Taxifahrers Hajaharima-nanirainy Zenon »Bota« wurde entgegen derZusage des Justizministers keine offizielle Un-tersuchung des Todes eingeleitet. Er war am17. Juli von Angehörigen der Eingreiftruppe derPolizei (Forces d’Intervention de Police) im Be-zirk 67 ha von Antananarivo festgenommenund zu Tode gefoltert worden. Die Familie vonHajaharimananirainy Zenon hatte am 30. Au-gust 2011 Klage eingereicht.

Recht auf freie Meinungsäußerung –JournalistenMehrere Sender, darunter Radio Fahazavana,blieben geschlossen. Im Februar wurden min-destens fünf weitere Radiosender geschlossen.Nach wie vor griffen Behörden auf die Justizzurück, um Journalisten einzuschüchtern undzu schikanieren.ý Am 13. November 2012 verurteilte ein Gerichtin Antananarivo die Journalistin Lalatiana Ra-kotondrazafy und ihren Kollegen Fidèle RazaraPierre zu jeweils drei Monaten Gefängnis aufBewährung und einer Geldstrafe von 1 Mio.Ariary (etwa 500 US-Dollar). Die beiden für Ra-dio Free FM tätigen Journalisten waren am3. Mai nach 24 Stunden aus der Haft entlas-sen worden. Im Juni wurden sie von den Behör-den daran gehindert, Madagaskar zu verlas-sen. Das Urteil gegen sie erging, weil sie vonRavatomanga Mamy, Geschäftsmann und offi-zieller Berater des Präsidenten, wegen Ver-leumdung und der Verbreitung von Falschin-formationen verklagt worden waren. Da sie umihre Sicherheit fürchteten, hielten sich die bei-den Journalisten und ein Techniker des Radio-senders seit dem 1. August mehr als zwei Mo-

nate lang auf dem Gelände der südafrikani-schen Botschaft in Antananarivo auf.ý Am 8. und am 9. November 2012 wurden vierZeitungsjournalisten auf die Wache der Gen-darmerie von Betongolo, Bezirk Antananarivo,vorgeladen. Es handelte sich um Zo Rakotose-heno, Herausgeber von Midi Madagasikara,Rocco Rasoanaivo, Herausgeber von La Na-tion und Vorsitzender der madagassischenJournalistengewerkschaft, sowie um Fidy Rob-son und Herivonjy Rajaonah, Herausgeber bzw.Chefredakteur der Zeitung Gazetiko. Ravato-manga Mamy hatte die Journalisten verklagt,weil sie Auszüge aus der Erklärung eines Kom-munalpolitikers veröffentlicht hatten, in der die-ser den Geschäftsmann und Präsidentenbera-ter beschuldigte, in den Schmuggel von Rosen-holz verwickelt zu sein. Die Journalisten muss-ten am 12. November beim Staatsanwalt er-scheinen. Sie wurden zwar nicht verhaftet,aber die Ermittlungen gegen sie dauerten Ende2012 noch an.

Amnesty International: Mission und Berichtþ Ein Delegierter von Amnesty International hielt sich im

November in Madagaskar auf.ÿ Madagascar must end mass killings and investigate security

forces, http://www.amnesty.org/en/news/madagascar-must-end-mass-killings-and-investigate-security-for-ces-2012-11-20

MalawiAmtliche Bezeichnung: Republik MalawiStaats- und Regierungschefin: Joyce Banda (löste

im April Bingu wa Mutharika im Amt ab)

Personen, die der Regierung kritisch ge-genüberstanden, sahen sich in den ers-ten Monaten des Jahres 2012 noch Ein-schüchterungsversuchen und Schika-nen ausgesetzt. Nachdem Staatspräsi-dentin Joyce Banda im April ihrenAmtseid abgelegt hatte, war jedoch

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264 Malawi

schnell eine Verbesserung des Klimasfür bürgerliche und politische Rechtefestzustellen. Zwei Untersuchungskom-missionen stellten ihre Ergebnisse vor.Eine der Kommissionen hatte den Todvon 20 Männern und Frauen während derlandesweiten Proteste im Juli 2011, diezweite den Tod eines politisch engagier-ten Studenten untersucht. Mehrere Ge-setze, die eine Gefährdung der völker-rechtlich garantierten Menschenrechtedarstellten, wurden außer Kraft gesetzt.

HintergrundZwei Tage nach dem plötzlichen Tod von Präsi-dent Bingu wa Mutharika am 5. April 2012wurde die bisherige Vizepräsidentin JoyceBanda als Staatspräsidentin vereidigt.

Präsidentin Banda forderte die AfrikanischeUnion (AU) im Mai auf, den sudanesischenPräsidenten Omar al-Bashir vom Gipfeltreffender AU, das vom 9. bis. 16. Juni 2012 in dermalawischen Hauptstadt Lilongwe stattfindensollte, auszuladen. Gegen den sudanesischenPräsidenten liegt ein Haftbefehl des Internatio-nalen Strafgerichtshofs (International CriminalCourt – ICC) vor. Die AU lehnte das Ansinnender Präsidentin jedoch ab. Daraufhin weigertesich Malawi, das Gipfeltreffen auszurichten.

Das Treffen wurde verschoben und in dieäthiopische Hauptstadt Addis Abeba verlegt.Banda nahm an dem Gipfeltreffen nicht teil.

Als Anerkennung der Reformbemühungenvon Banda nahmen wichtige Geldgeber desLandes, unter ihnen die EU, der InternationaleWährungsfonds (IWF) und die Weltbank, diezuvor eingestellte Budgethilfe für Malawi wiederauf.

GesetzesreformenIm Mai 2012 wurden mehrere Gesetze, die trotzverbreiteter Kritik unter Präsident MutharikaRechtskraft erlangt hatten, außer Kraft gesetzt.Dazu gehörte auch die Neufassung von Para-graph 46 des Strafgesetzbuchs, die dem Infor-mationsminister die Befugnis gegeben hatte,Publikationen nach eigenem Ermessen zu ver-bieten, »wenn der Minister berechtigtenGrund zu der Annahme hat, dass die Publika-tion dem öffentlichen Interesse zuwiderläuft«.

MenschenrechtsverteidigerAm 13. Februar 2012 wurde Ralph Kasambara,ein Rechtsanwalt, der Menschenrechtsvertei-diger und andere Andersdenkende vertrat, zu-sammen mit seinen fünf Leibwächtern inBlantyre festgenommen. Die Festnahmen stan-den im Zusammenhang mit einem Zwischen-fall in Kasambaras Kanzlei, bei dem der Anwaltund seine Leibwächter gegen eine Gruppe vonMännern tätlich geworden sein sollen, die mut-maßlich zur Kanzlei geschickt worden waren,um diese mit Molotowcocktails in Brand zu set-zen. Am Tag vor dem Zwischenfall hattenmehrere Zeitungen kritische Äußerungen Ka-sambaras über die Regierungsführung vonPräsident Mutharika zitiert. Ralph Kasambaraund seine Leibwächter wurden festgenommenund wegen Entführung sowie Körperverletzungangeklagt. Alle wurden ins Chichiri-Gefängnisin Blantyre überstellt. Kasambara wurde am15. Februar aus der Haft entlassen, aber amselben Tag erneut festgenommen. Am 17. Fe-bruar ordnete das zuständige Gericht (HighCourt) seine sofortige Freilassung an. Kasam-bara war immer noch in Haft, als er am 17. Fe-bruar in ein Krankenhaus gebracht wurde, weil

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er ärztlich behandelt werden musste. Die Poli-zei ließ ihn am 21. Februar auf Kaution frei. DerFall wurde nicht vor Gericht gebracht.

Institutionelle EntwicklungenAm 10. Juli 2012 wurde der Bericht einer Kom-mission veröffentlicht, die die Umstände un-tersucht hatte, unter denen im Juli 2011 bei De-monstrationen 20 Menschen getötet wordenwaren. In dem Bericht hieß es, dass die Polizeiexzessive Gewalt angewandt habe und dass eskeine Toten und Verletzten geben hätte, wenndie Polizei keine scharfe Munition eingesetzthätte. Die Präsidentin bat den Generalstaatsan-walt um Rat, ob die Schlussfolgerungen derKommission hinreichenden Grund für die Ein-leitung von Strafverfahren boten.

Im April setzte Präsidentin Banda eine Kom-mission zur Untersuchung des Todes von Ro-bert Chasowa ein. Die Leiche des politisch en-gagierten Studenten war am 24. September2011 aufgefunden worden. Die Kommissionkam zu dem Schluss, dass der Student wider-rechtlich getötet worden war und die Polizei be-wusst versucht hatte, die Wahrheit über dietatsächliche Todesursache zu unterdrücken.Im Zusammenhang mit dem Tod von RobertChasowa wurden zehn Personen verhaftet. Daszuständige Gericht (High Court) erhob An-klage gegen sie, ließ sie aber gegen Kaution frei.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenAm 18. Mai 2012 kündigte Präsidentin Bandaan, dass Gesetze, die die Menschenrechteeinschränkten – darunter auch Gesetze, dieHomosexualität unter Strafe stellen –, so raschwie möglich abgeschafft werden sollten. Zwargab es mehrere Gesetzesreformen, die Ge-setze aber, nach denen Homosexualität strafbarist, blieben in Kraft.

MalaysiaAmtliche Bezeichnung:

Persekutuan Tanah MalaysiaStaatsoberhaupt:

König Abdul Halim Mu’adzam ShahRegierungschef: Najib Tun Razak

Gesetze aus der Kolonialzeit, die willkür-liche Inhaftierungen erlaubten und dieMeinungsfreiheit einschränkten, wurdendurch neue gesetzliche Regelungen er-setzt. Diese entsprachen allerdings nichtden internationalen Menschenrechts-standards. Die Polizei ging mit exzessiverGewalt und Massenfestnahmen gegenfriedliche Demonstrierende vor, dieWahlreformen forderten. Mindestens14 Personen blieben auf der Grundlagedes Gesetzes zur Inneren Sicherheitohne Anklage oder Prozess in Haft.

HintergrundDie Regierungskoalition von MinisterpräsidentNajib Tun Razak und die parlamentarischeOpposition bereiteten sich auf die Parlaments-wahlen vor, die der Ministerpräsident bis März2013 anberaumen muss. Im Januar 2012wurde der Oppositionsführer Anwar Ibrahim,der in einem politisch motivierten Strafverfah-ren wegen homosexueller Handlungen ange-klagt war, freigesprochen. Im Falle einer Ver-urteilung hätten ihm Haft und ein fünfjährigespolitisches Betätigungsverbot gedroht.

Recht auf freie MeinungsäußerungIm Juli 2012 kündigte die Regierung die Ab-schaffung des Gesetzes gegen staatsgefähr-dende Aktivitäten (Sedition Act) an, das zur Un-terdrückung abweichender Meinungen einge-setzt worden war. Das stattdessen vorgeseheneGesetz für Nationale Harmonie (National Har-mony Act) enthielt jedoch neue Einschränkun-gen der Meinungsfreiheit. Im Juli trat eine Er-gänzung des Beweismittelgesetzes (Evidence[Amendment] Act) in Kraft. Gemäß Paragraph114A dieses Gesetzes sind Personen, die Inter-

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netdienste anbieten oder Internetseiten betrei-ben, auf denen Beiträge eingestellt werdenkönnen, wie z. B. Onlineforen, für etwaige an-stößige Inhalte verantwortlich, die über dieseDienste bzw. auf diesen Internetseiten veröf-fentlicht werden.ý Im Mai 2012 verboten die Behörden dasBuch »Allah, Liberty and Love« der kanadi-schen Autorin Irshad Manji, weil es »die Moralund öffentliche Ordnung« gefährde. Nik RainaNik Abdul Aziz, die Leiterin einer Filiale derBuchladenkette Borders, die das Buch im Sor-timent hatte, wurde auf der Grundlage des isla-mischen Rechts (Scharia) wegen Verbreitungeines islamfeindlichen Buches angeklagt. Ihrdrohten zwei Jahre Gefängnis.

Recht auf VersammlungsfreiheitZivilgesellschaftliche Organisationen, die Kritikan den Behörden äußerten, wurden von staat-licher Seite schikaniert. Das 2012 in Kraft getre-tene Gesetz über friedliche Versammlungen(Peaceful Assembly Act 2012) erlaubte öffent-liche Versammlungen, ohne dass hierfür einepolizeiliche Genehmigung erforderlich war,doch konnten diese später als »Straßenpro-teste« verboten werden.ý Im Mai 2012 wurden drei Oppositionspoliti-ker, darunter Anwar Ibrahim, wegen Verstoßesgegen das Gesetz über friedliche Versammlun-gen angeklagt. Grund war ihre Teilnahme aneiner Kundgebung der Bersih-Bewegung, dieals »Straßenprotest« betrachtet wurde.ý Die Regierungsbehörden setzten ihre Schika-

nierungs- und Einschüchterungskampagnegegen die Menschenrechtsgruppe Suara Ra-kyat Malaysia (SUARAM) fort, die sich erfolg-reich für ein juristisches Verfahren in Frank-reich eingesetzt hatte. Die Gruppe hatte derfranzösischen Marine-Werft DCNS vorgeworfen,Schmiergelder an malaysische Beamte ge-zahlt zu haben, um einen Auftrag für den Bauvon zwei U-Booten zu erhalten.ý Im März 2012 wies das zuständige Gerichtein vom Bündnis Seksualiti Merdeka eingeleg-tes Rechtsmittel ab. Die Koalition verschiedenerNGOs hatte sich an das Gericht gewandt, umein polizeiliches Verbot des Festivals SeksualitiMerdeka überprüfen zu lassen. Das jährlicheFestival für sexuelle Rechte hatte seit 2008 un-gehindert stattgefunden.

Exzessive GewaltanwendungDie Polizei setzte exzessive Gewalt gegen fried-liche Demonstrierende ein. Die Behördenlehnten es erneut ab, eine unabhängige Kom-mission für Beschwerden gegen die Polizeiund deren Fehlverhalten (Independent PoliceComplaints and Misconduct Commission –IPCMC) einzusetzen. Diese war bereits 2005von der Königlichen Kommission zur Untersu-chung des Verhaltens und der Führung der Po-lizei empfohlen worden.ý Bei der Bersih-3.0-Demonstration am28. April 2012 ging die Polizei in Kuala Lumpurmit Tränengas und Wasserwerfern gegen Zehn-tausende friedliche Demonstrierende vor, dieWahlreformen forderten. Die Polizei schlug auffriedlich Protestierende ein und nahm mindes-tens 471 von ihnen fest.ý Im Oktober gab Innenminister HishammudinHussein vor dem Parlament bekannt, dass diePolizei von 2007 bis August 2012 insgesamt 298Straftatverdächtige erschossen habe, darunter151 indonesische Staatsangehörige.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenIm Juli 2012 ersetzte die Regierung das Gesetzzur Inneren Sicherheit (Internal Security Act –ISA), das eine unbefristete Inhaftierung ohneAnklage oder Verfahren ermöglichte, durch

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ein neues Sicherheitsgesetz (Security Offences[Special Measures] Act). Es erlaubt der Poli-zei, Verdächtige 48 Stunden lang ohne Kontaktzur Außenwelt und bis zu 28 Tage ohne An-klage oder richterliche Überprüfung festzuhal-ten.ý Trotz der Abschaffung des ISA waren im No-vember noch mindestens 14 Personen – aus-nahmslos ausländische Staatsangehörige – biszum Ablauf der 28-tägigen Frist auf Grundlagedieses Gesetzes inhaftiert.

Flüchtlinge und MigrantenFlüchtlinge wurden systematisch inhaftiert, undArbeitsmigranten litten unter ausbeuterischenArbeitsverhältnissen. Im Juni hob Indonesiendas Verbot auf, Arbeitsmigranten als Hausan-gestellte nach Malaysia zu entsenden. Das Ver-bot war zwei Jahre zuvor verhängt worden,nachdem indonesische Hausangestellte in Ma-laysia misshandelt worden waren.ý Mit der Abschiebung des Bloggers HamzaKashgari nach Saudi-Arabien am 12. Februar2012 verstieß Malaysia gegen den internationa-len Grundsatz des Non-Refoulement (Ab-schiebungsverbot). In Saudi-Arabien könnteihm wegen Apostasie (Abfall vom Glauben) dieTodesstrafe drohen, weil er über Twitter Bemer-kungen über den Propheten Mohammed ver-schickt hatte.ý Der nigerianische Student Onochie MartinsNwankwo wurde am 30. März 2012 von Ange-hörigen des Freiwilligenkorps RELA (Ikatan Re-lawan Rakyat) getötet. Das mit Polizeibefug-nissen ausgestattete zivile Korps wird zur Kon-trolle von Migranten eingesetzt. Am 20. Aprilverabschiedete das Parlament ein Gesetz zumFreiwilligenkorps (Malaysia Volunteers CorpsBill 2012), das den RELA-Angehörigen die Be-fugnis aberkennt, Personen zu inhaftieren undSchusswaffen zu tragen.

TodesstrafeNach Angaben der Strafvollzugsbehörde befan-den sich Ende Februar mindestens 860 Häft-linge in den Todeszellen. Die Behörden gabenjedoch nicht bekannt, wie viele Hinrichtungen2012 vollstreckt wurden.

ý Im Oktober 2012 kündigte JustizministerNazri Aziz an, die Regierung erwäge, die zwin-gende Todesstrafe durch Freiheitsstrafen zu er-setzen, allerdings nur für Drogenvergehen undunter bestimmten Umständen.

Amnesty International: Berichteÿ Malaysia: End harassment of anti-corruption campaigners,

http://amnesty.org/en/library/info/ASA28/002/2012/enÿ Malaysia should broaden its proposal to scrap the death

penalty, http://amnesty.org/en/library/info/ASA28/003/2012/en

ÿ Malaysia: Anwar case shows why sodomy law must bescrapped, http://www.amnesty.org/en/news/malaysia-anwar-case-shows-why-sodomy-law-must-be-scrapped-2012-01-09

MaledivenAmtliche Bezeichnung: Republik MaledivenStaats- und Regierungschef: Mohamed Waheed

Hassan (löste im Februar Mohamed Nasheed imAmt ab)

Auf den umstrittenen Rücktritt des Präsi-denten Anfang Februar 2012 folgtenmonatelange Proteste und politische Re-pressionen auf der gesamten Insel-gruppe. Sicherheitskräfte gingen mit un-verhältnismäßiger Gewalt vor und setz-ten u. a. Schlagstöcke und Pfefferspray

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ein, um weitgehend friedliche Demons-trationen aufzulösen. Anhänger der Ma-ledivischen Demokratischen Partei(MDP) des ehemaligen Präsidenten wa-ren im Februar das Ziel von Angriffen.Häftlinge litten unter Folter und anderenMisshandlungen. Mängel im Justizsys-tem sorgten für anhaltende Straflosigkeitbei Menschenrechtsverletzungen.

HintergrundDem Rücktritt von Präsident Mohamed Nas-heed am 7. Februar 2012 waren monatelangeParteistreitigkeiten und Unruhen sowie ein Po-lizeiaufstand vorausgegangen. Am Tag nachseinem Rücktritt erklärte Nasheed in einerRede an seine Anhänger, er sei mit vorgehalte-ner Waffe zum Rücktritt gezwungen worden.

Ab dem 7. Februar setzte die Polizei übermehrere Tage gezielt Gewalt gegen Anhängerder MDP von Mohamed Nasheed ein undstürzte das Land in eine Menschenrechts-krise. Obwohl die Proteste der MDP weitgehendfriedlich verliefen, führten am 8. Februar Poli-zeiübergriffe auf MDP-Anhänger in Malé am sel-ben Tag zu gewalttätigen Reaktionen in der imäußersten Süden gelegenen Stadt Addu.

Ein im Februar von Präsident Mohamed Wa-heed eingerichteter nationaler Untersu-chungsausschuss kam im August zu demSchluss, dass Mohamed Nasheed freiwillig zu-rückgetreten sei, und griff damit den Wortlauteiner offiziellen Erklärung auf, die PräsidentWaheed kurz nach dem Rücktritt abgegebenhatte. Der Ausschuss verwies auf »Vorwürfevon Polizeibrutalität und Einschüchterungsver-suchen« und forderte, »Untersuchungendurchzuführen und zu veröffentlichen und dieVerantwortlichen zur Rechenschaft zu zie-hen«.

Exzessive GewaltanwendungWährend des gesamten Jahres kam es zu An-griffen der Sicherheitskräfte auf friedliche De-monstrierende, darunter Abgeordnete, Journa-listen und unbeteiligte Passanten in derHauptstadt Malé sowie in Addu, beides Hoch-burgen der MDP. Die Beamten schlugen und

traten Protestierende und sprühten ihnen mitPfefferspray direkt in die Augen. Vom 7. bis9. Februar 2012, den Tagen um den Rücktrittvon Mohamed Nasheed, nahm die Polizei beiihren Übergriffen gezielt führende Mitgliederder MDP ins Visier und verfolgte verletzte De-monstrierende bis ins Krankenhaus.ý Am 7. Februar griffen Sicherheitskräfte denAbgeordneten Ahmed Esa an und schlugenihn mit Metallstäben und Schlagstöcken, wobeisie ihn vor allem am Kopf verletzten.ý Am 29. Mai wurde Mana Haleem, die Ehefraueines ehemaligen Ministers im Kabinett vonMohamed Nasheed, auf dem Heimweg von derPolizei angehalten. Sie war durch die Majeed-hee-Magu-Straße gegangen, wo gerade eineKundgebung der Opposition stattfand. Die Po-lizei schlug ihr wiederholt mit Schlagstöckenauf Arme, Rücken und Hüfte und nahm siedann in Gewahrsam.

Folter und andere MisshandlungenFolterungen erfolgten bei Festnahmen und aufdem Weg zum Polizeirevier. Zu den gängigenMethoden gehörten Schläge, Sprühen von Pfef-ferspray in Augen und Mund, die Verweige-rung von Trinkwasser und, in Addu, die Unter-bringung in Hundezwingern.

MenschenrechtsverteidigerAktivisten und Befürworter religiöser Toleranzwurden angegriffen. Polizei und Justizbehör-den versäumten es, die Verantwortlichen zurRechenschaft zu ziehen.ý Am 5. Juni 2012 schlitzten unbekannte Män-ner Ismail »Hilath« Rasheed den Hals auf. Is-mail Rasheed, der den Angriff überlebte, warbereits im Dezember 2011 angegriffen wor-den, als er sich auf einer kleinen Kundgebungin Malé für religiöse Toleranz einsetzte.ý Am 2. Oktober 2012 wurde der AbgeordneteAfrasheem Ali vor seinem Haus in Malé ersto-chen. Er genoss großen Respekt als muslimi-scher Gelehrter, der sich für das Recht auf un-terschiedliche religiöse Ansichten im Islamstark machte.

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Mangelnde RechenschaftDurch schwerwiegende Mängel im Justizsys-tem wurde das Problem der Straflosigkeit wei-ter verschärft. Zu den Mängeln gehörten dasFehlen einer festgeschriebenen Rechtsord-nung, die die Gleichheit vor dem Gesetz ge-währleistet, sowie die Ernennung von Richternohne formelle juristische Ausbildung und ohneernsthafte Prüfung ihrer juristischen Qualifika-tion. Im gesamten Berichtsjahr wurden Behör-den der politischen Befangenheit beschuldigt.Sie sollen die strafrechtliche Verfolgung von An-hängern der Opposition, denen kriminellesVerhalten bei Kundgebungen vorgeworfenwurde, beschleunigt haben, während sie dieStrafverfolgung von Angehörigen der Polizeiund anderen Personen, die bei denselben Pro-testen Menschenrechtsverletzungen begangenhaben sollen, versäumten.

TodesstrafeMindestens zwei Personen wurden zum Todeverurteilt. 2012 kam es jedoch zu keiner Hin-richtung. Der oberste Richter des Strafgerichts-hofs und der Innenminister gaben jedoch Er-klärungen ab, in denen sie andeuteten, dasssich Hinrichtungen unter der aktuellenRechtsordnung nicht ausschließen ließen. Me-dienberichte, denen zufolge die Regierungeinen Gesetzentwurf plante, um die Vollstre-ckung von Todesurteilen zu sichern, nährtenebenfalls die Befürchtung, dass die Vollstre-ckung von Hinrichtungen nach fast sechsJahrzehnten wieder aufgenommen werdenkönnte.

MaliAmtliche Bezeichnung: Republik MaliPräsident der Übergangsregierung:

Dioncounda Traoré (löste im April AmadouToumani Touré im Amt ab)

Ministerpräsident der Übergangsregierung:Diango Cissoko (löste im Dezember ScheichModibo Diarra ab, der im April Cissé MariamKaıdama Sidibé im Amt abgelöst hatte)

Die bewaffneten Auseinandersetzungenim Norden des Landes und der an-schließende Putsch führten dazu, dassdie Sicherheitskräfte gravierende Men-schenrechtsverletzungen wie außerge-richtliche Hinrichtungen, Verschwin-denlassen und Folter verübten. Bewaff-nete Gruppen im Norden Malis warenfür Übergriffe wie z. B. sexuelle Gewalt,vorsätzliche und willkürliche Tötungenund Körperstrafen verantwortlich. BeideSeiten rekrutierten Kindersoldaten.

HintergrundDer im Januar 2012 begonnene Aufstand be-waffneter Gruppen der Tuareg und bewaffne-ter islamistischer Gruppen löste im März in der

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malischen Hauptstadt Bamako einen Militär-putsch aus, durch den der demokratisch ge-wählte Staatspräsident Amadou ToumaniTouré gestürzt wurde. Dies führte im April zueiner faktischen Teilung des Landes. Obwohlim April ein Präsident sowie ein Ministerpräsi-dent der Übergangsregierung ernannt wur-den, blieb der politische Einfluss der Anführerdes Putsches unter Hauptmann AmadouHaya Sanogo ungeschmälert.

Der Konflikt im Norden des Landes forderteOpfer unter den Soldaten und unter der Zivil-bevölkerung. Außerdem mussten mehr als400000 Menschen ihre Heimatorte verlassen.Sie suchten Schutz im Süden des Landes sowiein den Nachbarstaaten Algerien, BurkinaFaso, Mauretanien und Niger.

Die nördliche Hälfte des Landes befand sichseit April 2012 unter der völligen Kontrollemehrerer bewaffneter Gruppen, u. a. der Natio-nalen Bewegung für die Befreiung des Aza-wad (Mouvement National de Liberation del’Azawad – MNLA) sowie dreier islamistischerGruppen: Ansar Eddin, der Bewegung für Ein-heit und Dschihad in Westafrika (MUJAO) so-wie Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM).

Angesichts der Krisenlage bat die Regierungim Juli 2012 den Internationalen Strafgerichts-hof (ICC) um Hilfe, da die Behörden Malis mitder Untersuchung und strafrechtlichen Verfol-gung der Verbrechen überfordert waren. DerICC entsandte ein Team, das im Juli und imAugust Voruntersuchungen durchführte, umüber die Aufnahme von Ermittlungen zu ent-scheiden. Zum Jahresende war nicht bekannt,zu welcher Entscheidung der ICC gekommenwar.

Im Oktober 2012 beschlossen Mitglieder derWirtschaftsgemeinschaft WestafrikanischerStaaten (ECOWAS) die Ausarbeitung einesPlans für eine militärische Intervention. Zielder Intervention sollte die Wiedererlangung derKontrolle über den Norden des Landes sein.Das Vorhaben wurde von den UN und mehre-ren Staaten, unter ihnen Frankreich und dieUSA, unterstützt.

Im Dezember autorisierte der UN-Sicherheits-rat eine Truppe unter afrikanischer Führung,

»alle notwendigen Maßnahmen« zu ergreifen,um den Norden Malis aus den Händen be-waffneter Gruppen zu befreien.

Menschenrechtsverletzungen durchRegierungstruppenIm Kampf gegen die MNLA war die Armee inder Region Kidal für wahllose Angriffe auf zivileZiele verantwortlich.ý Im Februar 2012 beschoss ein Militärhub-schrauber das Lager Kel Essouck bei Kidal.Mindestens zwölf Menschen wurden verletzt.Die vier Jahre alte Fata Walette Ahmedouwurde tödlich getroffen.

Folter und andere Misshandlungen sowieaußergerichtliche HinrichtungenMenschen, denen Verbindungen zu bewaffne-ten Gruppen nachgesagt oder die zur Ziel-scheibe wurden, weil sie Tuareg sind, wurdenvon den Sicherheitskräften gefoltert und aufandere Weise misshandelt oder außergericht-lich hingerichtet.ý Im Januar 2012 nahmen Soldaten zwei Tua-reg fest, die beschuldigt wurden, in Ménakabewaffnete Gruppen mit Benzin beliefert zu ha-ben. Die Soldaten schlugen mit Gewehrkolbenauf die Männer ein.ý Im April 2012 nahmen Soldaten drei Unbe-waffnete – zwei Tuareg und einen weiterenMann – fest und bezichtigten sie, für die MNLAin Sévaré zu spionieren. Die Männer wurdenmit Gewehrkolben geschlagen und dann außer-gerichtlich hingerichtet.ý Im September 2012 nahmen Angehörige derArmee in Diabaly 16 Malier und Mauretanierfest und richteten sie außergerichtlich hin, weilman sie der Unterstützung bewaffneter isla-mistischer Gruppen verdächtigte. Die 16 Hinge-richteten waren Mitglieder der Dawa, einer Be-wegung von muslimischen Predigern, die ausMauretanien gekommen waren, um in dermalischen Hauptstadt Bamako an der Jahres-versammlung der Bewegung teilzunehmen.Es wurde eine Untersuchung eingeleitet, derenErgebnisse bei Jahresende jedoch noch nichtveröffentlicht worden waren.

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Willkürliche Festnahmen und InhaftierungenMenschen, die als Unterstützer der MNLA gel-ten, wurden ohne formelle Anklageerhebungfestgenommen und inhaftiert.ý Im Februar wurden vier Personen, unterihnen die Präsidentin und die stellvertretendePräsidentin der Versammlung der Frauen vonAzawad, in der Region Kidal festgenommenund nach Bamako gebracht. Die vier wurden imApril im Austausch gegen 13 Menschen frei-gelassen, die sich in der Gewalt der MNLA be-funden hatten.

Menschenrechtsverletzungen durchdie MilitärjuntaAußergerichtliche Hinrichtungen,Verschwindenlassen und FolterNach einem versuchten Gegenputsch im Mai2012 wurden Soldaten und Polizeiangehörige,die den ehemaligen Präsidenten Touré unter-stützten, gefoltert, außergerichtlich hingerich-tet oder Opfer des Verschwindenlassens. InKati, einem militärischen Stützpunkt bei Ba-mako, wurden zwei Soldaten von Armeeange-hörigen erstochen, die der Junta ergeben wa-ren. Mehr als 20 weitere Soldaten wurden ausihren Zellen verschleppt und Opfer des Ver-schwindenlassens. Über ihr Schicksal lagenEnde 2012 keine Informationen vor. Einige Sol-daten und Polizeiangehörige wurden sexuellmissbraucht und während der Verhöre und fürdie Dauer ihrer Inhaftierung unter schlechtenHaftbedingungen festgehalten.

Willkürliche InhaftierungenDie Militärjunta nahm politische Gegner, dieden Putsch nicht unterstützten, fest und hieltsie willkürlich in Haft.ý Im März 2012 nahm die Junta mehrere Poli-tiker fest. Unter ihnen befanden sich der Au-ßenminister Soumeylou Boubèye Maıga sowieder Minister für Territoriale Verwaltung Kafou-gouna Koné. Die Festgenommenen waren ohneAnklageerhebung im Militärstützpunkt Kati in-haftiert. Einige mussten 20 Tage in Haft verbrin-gen.ý Im April 2012 wurden mehrere Gegner derJunta, unter ihnen der ehemalige Ministerprä-

sident Modibo Sidibé sowie der frühere Finanz-minister Soumaıla Cissé, festgenommen undauf den Militärstützpunkt Kati gebracht. Siewurden binnen zwei Tagen ohne Anklageerhe-bung aus dem Gewahrsam entlassen.

PressefreiheitAb März 2012 drangsalierte die Junta Journalis-ten, um sie an der Berichterstattung zu hin-dern.ý Im März wurden in Bamako fünf Journalistenvon Soldaten festgenommen und zum Militär-stützpunkt Kati gebracht. Nach einigen Tagenwurden sie wieder auf freien Fuß gesetzt. Derfranzösische Journalist Omar Ouahmane, derbeim Radiosender France Culture arbeitete,wurde von Soldaten, die aufseiten der Juntastanden, festgenommen und misshandelt. DieSoldaten bedrohten ihn außerdem mit demTod.ý Im Juni wurde der private FernsehsenderAfricable TV kurz vor der Ausstrahlung einesInterviews mit einem MNLA-Funktionär zen-siert.

Menschenrechtsverstöße durchbewaffnete GruppenWillkürliche Tötungen und FolterBewaffnete Gruppen begingen 2012 gravie-rende Verstöße gegen das humanitäre Völker-recht, indem sie malische Soldaten, die sie ge-fangen genommen hatten, folterten und hin-richteten.ý Im Januar wurden malische Soldaten, die beiTilemci in einen Hinterhalt geraten waren, ge-fesselt und mit Gewehrkolben geschlagen.ý Angehörige der bewaffneten Gruppe AnsarEddin erschossen im Januar zahlreiche ma-lische Soldaten, die sie in Aguelhoc gefangengenommen hatten, oder schnitten ihnen dieKehle durch.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm Norden Malis wurden zahlreiche Frauenund Mädchen von Angehörigen der bewaffne-ten Gruppen, in einigen Fällen auch von meh-reren Männern, vergewaltigt. Die Vergewalti-gungen wurden während des Vormarschs der

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bewaffneten Gruppen begangen, und auchnachdem diese Gruppen den Norden in ihreGewalt gebracht hatten. Die meisten Frauenwurden aus ihren Wohnungen oder auf offenerStraße entführt und zu einem militärischenStützpunkt verschleppt.ý Ende März und Anfang April 2012 wurden inGao mehrere Frauen überfallen und vergewal-tigt, während sie sich beim Büro für Lebensmit-telsicherheit (OPAM) mit Lebensmitteln ver-sorgten.ý Berichten zufolge überfielen im April MNLA-Angehörige in Ménaka Frauen der ethnischenGruppe der Bambara und vergewaltigten sie.ý Ende Juli und Anfang August wurden inGossi sechs Frauen von Angehörigen einer be-waffneten Gruppe überfallen, die auf Motorrä-dern fuhren. Die Frauen wurden ausgeraubt,und drei von ihnen wurden gefangen genom-men und vergewaltigt.

KörperstrafenMenschen, die sich den neuen Gesetzen undVerhaltensregeln widersetzten, die bewaffneteislamistische Gruppen gemäß ihrer Auslegungdes islamischen Rechts erlassen hatten, wur-den von diesen mit Körperstrafen sowie durchvorsätzliche und willkürliche Tötung bestraft.ý Im Juni 2012 peitschten Angehörige der MU-JAO in Bourem mehrere Männer aus, weil siegeraucht hatten.ý Im Juli wurde ein Mann in Timbuktu beschul-digt, Alkohol getrunken zu haben, und erhieltdafür von Angehörigen der Gruppe Ansar Eddin40 Stockhiebe.ý Angehörige der Ansar Eddin steinigten im Juliin Aguelhoc öffentlich ein unverheiratetesPaar, das ein gemeinsames Kind hatte.

Einer Reihe von Personen, die des Diebstahlsoder Raubes bezichtigt wurden, wurden nachSchauprozessen Hände und Füße amputiert.ý Im August wurde einem Viehbauern der Tua-reg, dem Viehdiebstahl vorgeworfen wurde,die rechte Hand amputiert.ý Im September wurde fünf Personen jeweilsder rechte Fuß und die linke Hand amputiert.Man hatte sie des Raubes beschuldigt.

KindersoldatenGruppen beider Konfliktparteien rekrutiertenKindersoldaten.

In dem Teil Malis, der von der Regierung kon-trolliert wurde, rekrutierten Selbstverteidi-gungsmilizen Kinder und bildeten sie aus. Diesgeschah mit Unterstützung der Behörden imVorfeld einer geplanten Offensive zur Rückge-winnung der Kontrolle über den Norden desLandes.

Die bewaffneten Gruppen, die den Nordendes Landes kontrollierten, rekrutierten eben-falls Kinder. Die Kinder wurden häufig an Kon-trollpunkten zur Durchsuchung von Passan-ten eingesetzt.

Recht auf Bildung und KulturDie AQIM schränkte das Recht auf Bildung imNorden Malis ein. So durfte in den Schulenkein Französisch mehr gelehrt werden, auchdurften Jungen und Mädchen nur noch ge-trennt unterrichtet werden.ý Im März 2012 wurden in Kidal mit Ausnahmezweier madrasas (islamische Schulen) sämt-liche Schulen und Bibliotheken in Brand ge-steckt und geplündert.

Mit der Zerstörung jahrhundertealter Mauso-leen schränkten bewaffnete islamistischeGruppen das Recht auf Kultur ein. Als Grundfür die Zerstörung gaben die Gruppen an, derHeiligenverehrung ein Ende bereiten zu wollen.ý Im Mai begannen Angehörige der AQIM mitUnterstützung von Ansar Eddin, alte Kulturgü-ter zu zerstören. Als Erstes schändeten sie dasMausoleum des muslimischen Heiligen Sidi(Mahmoud Ben) Amar in Timbuktu.

Terrorakte und EntführungenEnde 2012 befanden sich im Norden Malis14 Geiseln in der Gewalt bewaffneter Gruppen,einschließlich der AQIM.ý Im April entführten Angehörige der MUJAOsieben algerische Staatsangehörige, darunterden algerischen Konsul in Gao. Drei der Geiselnwurden im Juli freigelassen.ý Im Juli wurden drei Männer, zwei Spanierund ein Italiener, die im Oktober 2011 von An-gehörigen der MUJAO in Algerien entführt wor-

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den waren, bei Gao freigelassen. Wie es hieß,sollen dafür im Gegenzug in NachbarländernMalis drei Islamisten auf freien Fuß gesetztworden sein.ý Am 20. November wurde der französischeStaatsangehörige Gilberto Rodriguez Leal imWesten Malis entführt. MUJAO übernahm dieVerantwortung für seine Entführung.

TodesstrafeIm Mai und im Juni 2012 verurteilte dasSchwurgericht in Bamako zehn Männer zumTode. Vier Männer wurden wegen der Bildungeiner kriminellen Vereinigung und wegen Rau-bes, Verschwörung und illegalen Schusswaf-fenbesitzes verurteilt, zwei Männer wegen Bei-hilfe zum Mord.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International hielten sich im April,

im Juli sowie von August bis September in Mali auf.ÿ Mali : Five months of crisis. Armed rebellion and military

coup, http://195.234.175.160/en/library/info/AFR37/001/2012/en

ÿ Mali : »We haven’t seen our cellmates since.« Enforceddisappearances and torture of soldiers and police officersopposed to the junta, http://195.234.175.160/en/library/info/AFR37/004/2012/en

ÿ Mali : Civilians bear the brunt of the conflict,http://195.234.175.160/en/library/info/AFR37/007/2012/en

MaltaAmtliche Bezeichnung: Republik MaltaStaatsoberhaupt: George AbelaRegierungschef: Lawrence Gonzi

Asylsuchende und Migranten ohne regu-lären Aufenthaltsstatus wurden 2012nach wie vor routinemäßig bis zu 18 Mo-nate in Gewahrsam genommen. DieRechtsmittelverfahren zur Anfechtungdieser Praxis waren weiterhin unzuläng-lich. Der gesetzliche Schutz gegen Hass-

verbrechen wurde auf Lesben, Schwule,Bisexuelle, Transgender und Intersexu-elle ausgeweitet.

Migranten, Flüchtlinge undAsylsuchende2012 erhöhte sich die Anzahl der Migranten,Flüchtlinge und Asylsuchenden, die auf demSeeweg nach Malta kamen, um 28% gegen-über dem Vorjahr (von 1577 auf 2023 Perso-nen). Die Regierung nahm weiterhin Migrantenohne gültigen Aufenthaltsstatus automatischin Haft, die häufig bis zu 18 Monate dauerte.Damit verletzte sie internationale Verpflichtun-gen zum Schutz der Menschenrechte. Berich-ten zufolge wurden auch unbegleitete Kinder,deren Alter unklar war, in Migrationshaft ge-nommen. Die Verfahren zur Altersbestim-mung waren weiterhin unzulänglich und dauer-ten übermäßig lange.

Die existierenden Rechtsmittelverfahren zurÜberprüfung der Dauer und Rechtmäßigkeitder Inhaftierung und zur Anfechtung der Ableh-nung von Asylanträgen entsprachen nicht deninternationalen Menschenrechtsstandards.Migranten waren weiterhin dem Risiko willkür-licher Inhaftierung ausgesetzt.

Die Bedingungen in den Haftzentren waren2012 weiterhin unzureichend und verschlim-

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274 Marokko und Westsahara

merten sich noch durch die Überbelegung.Hunderte von Personen genossen keinenSchutz ihrer Privatsphäre, hatten keinen ausrei-chenden Zugang zu sanitären Anlagen undWaschgelegenheiten und erhielten nur mangel-hafte Erholungs- und Freizeitangebote. Es gabübereinstimmende und glaubhafte Gutachten,die belegten, dass eine Inhaftierung unter der-artigen Bedingungen die psychische Gesund-heit der Migranten beeinträchtigt. Auch die of-fenen Aufnahmezentren für die aus der Migra-tionshaft entlassenen Flüchtlinge und Migran-ten waren nach wie vor unzureichend.ý Am 30. Juni 2012 starb der 32-jährige Mi-grant Mamadou Kamara aus Mali in Gewahr-sam. Er hatte versucht, aus dem HaftzentrumSafi Barracks zu fliehen, und soll schwer miss-handelt worden sein, nachdem er wieder ge-fasst worden war. Zwei Beamte wurden ange-klagt, ihn ermordet zu haben. Gegen einen wei-teren Beamten wurde Anklage wegen Behin-derung der Justiz erhoben. Am 2. Juli beauf-tragte der Premierminister einen Richter, eineunabhängige Untersuchung zu diesem Falldurchzuführen. Die Untersuchung soll ergrün-den, ob die Personen, die mit dem Tod von Ma-madou Kamara in Zusammenhang gebrachtwerden, fahrlässig gehandelt, gegen geltendeVerfahrensvorschriften verstoßen oder ihreMacht missbraucht haben. Darüber hinaus solldie Frage beantwortet werden, ob die Empfeh-lungen, die bei der Untersuchung zum Tod vonInfeanyi Nwokoye im Jahr 2011 gemacht wor-den waren, umgesetzt wurden.ý Die gerichtliche Untersuchung zum Tod vonInfeanyi Nwokoye im April 2011 wurde 2012fortgesetzt. Der nigerianische Migrant war imKrankenhaus gestorben, nachdem er nacheinem Fluchtversuch aus dem HaftzentrumSafi Barracks wieder festgenommen wordenwar. Er hatte bereits seit 2006 in Malta gelebt,sein Asylantrag war abgelehnt worden. Nach-dem die für seine Abschiebung erforderlichenDokumente ausgefertigt worden waren, war erwieder in das Haftzentrum zurückgebracht wor-den. Eine Zusammenfassung der Empfehlun-gen, die aus einer von der Regierung durchge-führten Untersuchung zur Klärung der Um-

stände seines Todes resultierten, war im Okto-ber 2011 veröffentlicht worden.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenIm Juni 2012 erfolgte eine Änderung des Straf-gesetzbuchs. Sexuelle Orientierung und Ge-schlechtsidentität wurden in den Katalog vonUmständen aufgenommen, die, wenn sie ge-wissen Delikten als Motiv zugrunde liegen, zueiner Verschärfung des Strafmaßes führen.

Ebenfalls im Juni wurde im Gesetz über dieGleichstellung von Männern und Frauen dieDefinition von Diskriminierung erweitert. Sieschließt nunmehr Diskriminierung aufgrundsexueller Orientierung und Geschlechtsidentitätein. Das Mandat des nationalen Gleichstel-lungsgremiums, der Nationalen Kommissionzur Förderung der Gleichstellung, die mit derÜberwachung der Umsetzung der Gleichstel-lungsgesetzgebung beauftragt ist, wurde ent-sprechend erweitert.

Amnesty International: Berichtÿ S.O.S. Europe: Human rights and migration control,

http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR01/013/2012/en

Marokko undWestsaharaAmtliche Bezeichnung: Königreich MarokkoStaatsoberhaupt: König Mohammed VI.Regierungschef: Abdelilah Benkirane

Die Behörden schränkten das Recht auffreie Meinungsäußerung ein. Kritikerder Monarchie und staatlicher Einrich-tungen sowie sahrauische Aktivisten,die sich für eine Selbstbestimmung derWestsahara einsetzten, wurden straf-

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Marokko und Westsahara 275

rechtlich verfolgt. Die Sicherheitskräftegingen mit exzessiver Gewalt gegen De-monstrierende vor. Personen, denen manterroristische oder andere Straftaten imZusammenhang mit der Sicherheit vor-warf, drohten Folter oder andere Miss-handlungen sowie unfaire Gerichtsver-fahren. Es kam zu Angriffen auf Migran-ten, Flüchtlinge und Asylsuchende.Frauen und Mädchen wurden durch Ge-setze und im täglichen Leben diskrimi-niert. Mindestens sieben Personen wur-den zum Tode verurteilt. Hinrichtungenfanden jedoch nicht statt.

HintergrundDer UN-Sicherheitsrat verlängerte im April 2012das Mandat der UN-Mission für einen Volks-entscheid in der Westsahara um ein weiteresJahr. Das Mandat enthält weiterhin keine Be-stimmungen zur Beobachtung der Menschen-rechtslage.

Im Zuge der Universellen RegelmäßigenÜberprüfung befasste sich der UN-Men-schenrechtsrat im Mai mit der Menschen-rechtslage in Marokko. Im Anschluss sagte dieRegierung zu, den Tatbestand »Verschwinden-lassen« in das Strafgesetzbuch aufzunehmenund ein Gesetz gegen häusliche Gewalt einzu-

führen. Die Empfehlungen des UN-Gremiums,ein Hinrichtungsmoratorium zu erlassen unddie Verfahren zur Anerkennung zivilgesell-schaftlicher Organisationen zu verbessern,lehnte sie jedoch ab. Im September besuchteder UN-Sonderberichterstatter über Folter Ma-rokko und die Westsahara.

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Behörden gingen auch 2012 rigoros gegenJournalisten und andere Personen vor, diesich kritisch über die Monarchie oder staatlicheEinrichtungen äußerten. Die Sicherheitskräftesetzten exzessive Gewalt ein, um Demonstratio-nen aufzulösen.ý Im Februar wurde der Student AbdelsamadHaydour wegen »Mäjestätsbeleidigung« ineinem von ihm ins Internet gestellten Video zudrei Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt.ý Das Berufungsgericht in Casablanca bestä-tigte im Juli 2012 die einjährige Gefängnis-strafe, die gegen den Rapper Mouad Belghouatwegen Beleidigung der Polizei verhängt wor-den war. Der Rapper war angeklagt worden,nachdem ein Video mit einem seiner Stückeim Internet zu sehen war. Er wurde im März in-haftiert und befand sich Ende 2012 noch im-mer in Haft.ý Tarek Rouchdi und fünf weitere Aktivisten derBewegung 20. Februar (Mouvement du 20 fé-vrier), die sich für politische Reformen einsetzt,wurden im September 2012 zu Gefängnisstra-fen von bis zu zehn Monaten verurteilt. Mansprach sie wegen Vergehen wie Beleidigungund Gewalt gegen Staatsbedienstete schuldig.Ende 2012 befanden sich zahlreiche Aktivis-ten der Bewegung 20. Februar Berichten zu-folge im Gefängnis.

Im August 2012 ging die Polizei mit exzessi-ver Gewalt gegen Personen vor, die vor demParlamentsgebäude in Rabat gegen die jähr-liche Feier anlässlich der Thronbesteigungdes Königs demonstrierten. Ein Journalist, derüber die Demonstration berichtete, wurdeebenfalls misshandelt. Im November setzte diePolizei unverhältnismäßige Gewalt ein, um

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276 Marokko und Westsahara

eine von der Bewegung 20. Februar geplanteDemonstration vor dem Parlament zu verhin-dern.

Unterdrückung Andersdenkender –Sahrauische AktivistenDie Behörden gingen nach wie vor gezielt gegensahrauische Menschenrechtsverteidiger undAktivisten vor, die eine Selbstbestimmung derMenschen auf dem Gebiet der Westsahara for-derten. Demonstrationen auf dem Gebiet derWestsahara wurden unter Einsatz exzessiverGewalt verhindert oder niedergeschlagen.Außerdem verweigerten die Behörden zivilge-sellschaftlichen Organisationen der Sahrauiweiterhin die rechtliche Anerkennung.ý Am 13. Januar 2012 gab es Berichten zufolgezahlreiche Verletzte, als die Polizei in Laay-oune gegen eine Demonstration zur Unterstüt-zung von 23 sahrauischen Gefangenen vor-ging. Die 23 Häftlinge, die fernab ihrer Heimatim Salé-Gefängnis in der Nähe von Rabat in-haftiert waren, warteten auf ihre Gerichtsverfah-ren. Viele berichteten, dass sie in der Haft ge-foltert und auf andere Weise misshandelt wor-den seien. Man warf ihnen vor, im November2010 an gewalttätigen Ausschreitungen im Pro-testcamp Gdim Izik in der Nähe von Laayounebeteiligt gewesen zu sein. Bei den Zusammen-stößen, die in Gdim Izik begannen und sichspäter auf Laayoune ausweiteten, wurden13 Menschen getötet, darunter elf Angehörigeder Sicherheitskräfte.ý Die Sahrauische Vereinigung für die Opferschwerer Menschenrechtsverletzungen durchden marokkanischen Staat (Association Sah-raouie des Victimes des Violations Graves desDroits de l’Homme Commises par l’Etat du Ma-roc – ASVDH) wurde weiterhin nicht offiziellanerkannt, trotz eines Urteils, das die Verweige-rung der Anerkennung 2006 als rechtswidrigeingestuft hatte. Die im Rahmen der Universel-len Regelmäßigen Überprüfung geäußerteEmpfehlung, das Land solle Organisationen, diesich für das Selbstbestimmungsrecht der Sah-raui in der Westsahara einsetzen, rechtlich an-erkennen, lehnte die marokkanische Regie-rung ab.

Folter und andere MisshandlungenIm Jahr 2012 trafen weiterhin Meldungen überFolterungen und andere Misshandlungen vonGefangenen ein, die vor allem von Angehörigendes Geheimdienstes (Direction de la Surveil-lance du Territoire – DST) begangen wurden.Der UN-Sonderberichterstatter über Folterstellte nach seinem Besuch des Landes im Sep-tember fest, Folter werde besonders häufig an-gewendet, wenn die Behörden die Staatssicher-heit für bedroht hielten. Er wies außerdem da-rauf hin, dass Foltervorwürfe nur in den seltens-ten Fällen zu einer strafrechtlichen Verfolgungder mutmaßlichen Täter führten.

Im Oktober berichtete der Nationale Men-schenrechtsrat (Conseil National des Droits del’Homme), das Gefängnispersonal begehe nachwie vor Menschenrechtsverstöße an Gefange-nen, die jedoch nur selten untersucht würden.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitPersonen, denen man terroristische oder an-dere Straftaten im Zusammenhang mit der Si-cherheit vorwarf, drohten Folter oder andereMisshandlungen sowie unfaire Gerichtsverfah-ren.ý Die Gefängnisstrafe von Ali Aarrass, der imNovember 2011 wegen Mitgliedschaft in einerterroristischen Vereinigung zu 15 Jahren Haftverurteilt worden war, wurde 2012 vom Beru-fungsgericht in Salé auf zwölf Jahre verkürzt.Ein weiteres Rechtsmittel war zum Jahresendenoch anhängig. Spanien hatte Ali Aarrass imDezember 2010 an Marokko ausgeliefert, ob-wohl sich der UN-Menschenrechtsausschussfür vorläufige Maßnahmen ausgesprochenhatte, da ihm in Marokko Folter und Misshand-lung drohten. Berichten zufolge soll er unterFolter zu einem »Geständnis« gezwungen wor-den sein.ý Die UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaf-tierungen erklärte im August 2012 die Inhaftie-rung des Deutsch-Marokkaners Mohamed Ha-jib für willkürlich und forderte die marokkani-schen Behörden auf, ihn freizulassen. Moha-med Hajib war 2010 wegen terroristischer Ver-gehen zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt wor-den. Das Urteil beruhte auf einem Geständnis,

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Mauretanien 277

das er Berichten zufolge unter Folter und ohneZugang zu einem Rechtsbeistand währendder Untersuchungshaft abgelegt hatte. DieStrafe wurde im Januar 2012 auf fünf Jahreverringert. Ende des Jahres befand er sich nochimmer in Haft. Die Behörden hatten keine Un-tersuchung der Foltervorwürfe eingeleitet.

ÜbergangsjustizDie Behörden hatten die Empfehlungen dermarokkanischen Wahrheits- und Versöh-nungskommission (Instance Equité et Réconci-liation – IER) aus dem Jahr 2005 noch immernicht umgesetzt, darunter die Ratifizierung desRömischen Statuts des Internationalen Straf-gerichtshofs. Die Opfer und Überlebenden derschweren Menschenrechtsverletzungen, diezwischen 1956 und 1999 verübt wurden, erfuh-ren weiterhin keine Gerechtigkeit.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenMigranten, Flüchtlinge und Asylsuchende lie-fen vermehrt Gefahr, angegriffen und miss-handelt zu werden. Im September 2012 stellteder UN-Sonderberichterstatter über Folterfest, Migranten ohne Aufenthaltsgenehmigungwürden immer häufiger Opfer von »brutalenPrügeln, sexueller Gewalt und anderen Miss-handlungen«. Er forderte die Behörden mitNachdruck auf, die Gewalttaten gegen Migran-ten aus der Subsahara zu untersuchen undkünftig zu unterbinden.

FrauenrechteFrauen und Mädchen waren weder durch Ge-setze noch in der Praxis vor sexueller Gewaltund Diskriminierung geschützt. Im November2012 begann die marokkanische Regierungden Beitrittsprozess zum Fakultativprotokolldes UN-Übereinkommens für die Beseitigungder Diskriminierung der Frau (CEDAW-Abkom-men). Sie knüpfte jedoch die Verpflichtung,die Diskriminierung von Frauen gemäß demCEDAW-Abkommen abzuschaffen, an die Be-dingung, dass dies nicht mit der Scharia inKonflikt stehen dürfe. Diese Empfehlungwurde von der Regierung jedoch abgelehnt.

Bei einer Vergewaltigung konnte der Täter derStrafverfolgung entgehen, indem er das Opferheiratete.

Polisario-FlüchtlingslagerDie Frente Polisario unternahm weiterhinnichts, um diejenigen Personen zur Rechen-schaft zu ziehen, die in den 1970er und 1980erJahren für Menschenrechtsverstöße in denvon der Frente Polisario verwalteten Flücht-lingslagern verantwortlich waren.

TodesstrafeMindestens sieben Menschen wurden 2012zum Tode verurteilt. Seit 1993 sind in Marokkokeine Todesurteile vollstreckt worden.

MauretanienAmtliche Bezeichnung:

Islamische Republik MauretanienStaatsoberhaupt:

General Mohamed Ould Abdel AzizRegierungschef: Moulaye Ould Mohamed Laghdaf

Die Behörden schränkten die Rechte auffreie Meinungsäußerung, Versamm-lungs- und Vereinigungsfreiheit drastischein. Während des gesamten Jahres2012 wurde bei Demonstrationen derRücktritt von Präsident Mohamed OuldAbdel Aziz gefordert. Die Behörden be-drohten nach wie vor Anti-Sklaverei-Ak-tivisten. Der ehemalige Chef des liby-schen Geheimdienstes Abdullah al-Se-nussi wurde festgenommen und anLibyen ausgeliefert. Dort droht ihm dieTodesstrafe. Mindestens sechs Men-schen wurden 2012 zum Tode verurteilt.

HintergrundIm Oktober 2012 wurde Präsident Aziz von Sol-daten einer Armeeeinheit angeschossen. Die

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278 Mauretanien

Behörden bezeichneten die Tat als Versehen.Der Präsident wurde zur medizinischen Be-handlung nach Frankreich gebracht, während-dessen begannen Gerüchte über einen Staats-streich zu zirkulieren. Im November wurde beiDemonstrationen das durch die Abwesenheitdes Präsidenten herrschende politische undrechtliche Vakuum kritisiert.

Im Oktober ratifizierte Mauretanien das Inter-nationale Übereinkommen zum Schutz allerPersonen vor dem Verschwindenlassen und dasFakultativprotokoll zumÜbereinkommengegenFolter und andere grausame, unmenschlicheoder erniedrigende Behandlung oder Strafe.

VerschwindenlassenDie Behörden gaben weiterhin den Verbleib von14 Gefangenen nicht bekannt, die wegen ter-roristischer Aktivitäten verurteilt und im Mai2011 aus dem Zentralgefängnis in Nouakchottgeholt und an einen unbekannten Ort verbrachtworden waren. Unter ihnen befanden sichMohamed Ould Charbarnou, Sidi Ould Sidina,Maarouf Ould Heiba, Khadim Ould Semane,Mohamed Ould Abdou, Abderrahmane OuldAreda und Mohamed Ould Chbih. Die Behör-den hielten nach wie vor daran fest, dass ihreVerlegung an einen geheimen Ort eine vorü-bergehende Sicherheitsmaßnahme sei.

Recht auf freie MeinungsäußerungMindestens 36 Menschen kamen nach fried-lichen Demonstrationen in Haft.ý Im Februar 2012 wurden friedliche Demons-trationen der Studierenden der Universität vonNouakchott mit Gewalt niedergeschlagen. Über30 Studierende wurden festgenommen. Einigekamen nach wenigen Tagen wieder frei, wäh-rend man andere über eine Woche ohne An-klage oder Gerichtsverfahren festhielt.

Politische Gefangeneý Im April 2012 wurden elf Mitglieder der Anti-Sklaverei-Organisation Initiative pour la Résur-gence du Mouvement Abolitionniste en Mauri-tanie (IRA-Mauritanie) festgenommen, darun-ter Biram Ould Dah Ould Abeid, Yacoub Diarra,Ahmed Hamdy Ould Hamat Fall, Abidine OuldSalem, El Id Ould Lemlih, Oubeid Ould Imijineund Boumediene Ould Bata. Die Männer hat-ten gegen Schriften islamischer Gelehrter pro-testiert, die IRA-Mauritanie als Rechtfertigungder Sklaverei verstand. Man stellte sie wegenBedrohung der Staatssicherheit, Angriffen aufden Anstand und Verwaltung einer nicht geneh-migten Organisation unter Anklage. Der Vorsit-zende von IRA-Mauritanie wurde zudem derApostasie angeklagt. Alle elf Angeklagten ka-men im September nach vier Monaten Haft vor-läufig frei. Das Gerichtsverfahren hatte Ende2012 noch nicht stattgefunden.ý Im Dezember kam der ehemalige Menschen-rechtskommissar Lemine Ould Dadde vorläu-fig frei.

Antiterror- und SicherheitsmaßnahmenIm Jahr 2012 wurden mindestens 17 Männerwegen terroristischer Vergehen zu Gefängnis-strafen oder zum Tode verurteilt. Einige der Ver-fahren entsprachen nicht den internationalenStandards für faire Gerichtsverfahren.ý Mindestens drei wegen terroristischer Verge-hen verurteilte Gefangene, unter ihnen AssadAbdel Khader Mohamed Ali, blieben in Haft,obwohl sie ihre Freiheitsstrafen verbüßt hat-ten. Sie wurden schließlich mit einer Verzöge-rung von vier, zehn bzw. zwölf Monaten ausder Haft entlassen.

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Folter und andere MisshandlungenAus den Hafteinrichtungen des Landes, darun-ter den Polizeiwachen Ksar und Tevragh-Zeinaund dem Frauengefängnis von Nouakchott,wurden immer wieder Folterungen und andereMisshandlungen gemeldet.ý Einem Studenten, der nach einer Demonstra-tion im Februar 2012 auf der PolizeiwacheKsar inhaftiert war, wurden Hände und Füßemit einem Seil zusammengebunden. Währendder Verhöre wurde er geschlagen, und man tratauf ihn ein.ý Zwei Frauen, die im Frauengefängnis in Haftsaßen, gaben an, bei ihrer Festnahme 2010und in Polizeigewahrsam brutal geschlagenworden zu sein.

Zu den Folter- und Misshandlungsvorwürfenin Polizeigewahrsam und während der Verhörewurden keine Untersuchungen eingeleitet.

AuslieferungIm März 2012 wurde der ehemalige Chef des li-byschen Geheimdienstes Abdullah al-Senussifestgenommen, als er aus Marokko ins Landeinreiste. Im Juli ließen die Behörden verlau-ten, er sei illegal ins Land gekommen und siezögen verschiedene Optionen für seine Auslie-ferung in Betracht, darunter auch den Antragdes Internationalen Strafgerichtshofs (Interna-tional Criminal Court – ICC). Der ICC hatte einenHaftbefehl wegen mutmaßlicher Verbrechengegen die Menschlichkeit in Libyen ausgestellt.Die Behörden lieferten Abdullah al-Senussischließlich im September an Libyen aus, woihm die Todesstrafe drohen könnte.

Todesstrafeý Im April 2012 wurden mindestens drei Men-schen – Mohamed Saleck Ould Cheikh, Yous-souf Galissa und Mohamed Lemine OuldMballé – zum Tode verurteilt. Man hatte ihnenzur Last gelegt, eine terroristische Straftat ge-plant zu haben und Mitglieder einer terroristi-schen Vereinigung zu sein.ý Das 2011 ergangene Todesurteil gegen Mo-hamed Abdellahi Ould Ahmednah Ould Moha-med Salem wurde im April in einem Rechtsmit-telverfahren vor dem Strafgericht in Nouak-

chott bestätigt. Er war beschuldigt worden, Mit-glied von Al-Qaida im islamischen Maghreb zusein und die Verantwortung für den Tod einesUS-Staatsangehörigen zu tragen.

Sklavereiý Am 11. Januar 2012 wurden vier Aktivistenvon IRA-Mauritanie festgenommen und fürvier Tage inhaftiert, nachdem sie sich übereinen Fall von Sklaverei in Ayoun, einer Stadtim Süden Mauretaniens, beschwert hatten. Siewurden beschuldigt, Widerstand gegen dieStaatsgewalt geleistet und einen Aufstand pro-voziert zu haben.

Rechte von MigrantenMigranten, von denen die meisten aus den Län-dern der Subsahara wie Mali, Guinea und Se-negal stammten, wurden auch 2012 willkürlichfestgenommen und unter dem Verdacht inhaf-tiert, nach Europa einreisen zu wollen. Mindes-tens 4000 Migranten wurden festgenommenund entweder nach Mali oder in den Senegalzurückgeschickt.ý Im April nahmen Sicherheitskräfte zwischen400 und 800 meist aus Westafrika stammendeMigranten in Nouadhibou fest. Sie wurden ta-gelang in Einwanderungshafteinrichtungen inNouadhibou und Nouakchott festgehalten,dann schickte man die meisten nach Malioder in den Senegal zurück. Sie hatten keineMöglichkeit, die Rechtmäßigkeit ihrer Inhaftie-rung oder ihre Sammelabschiebung anzufech-ten.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Mauretanien

im Juni und Juli.ÿ Mauritania: Amnesty International calls on Mauritania to live

up to their obligations after the ratification of two key inter-national instruments, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR38/009/2012/en

ÿ Mauritania: The families of 14 prisoners subjected to en-forced disappearance for over a year have the right to knowtheir relatives’ whereabouts, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR38/008/2012/en

ÿ Mauritania: Activists held in unknown location,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR38/002/2012/en

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280 Mazedonien

MazedonienAmtliche Bezeichnung:

Ehemalige jugoslawische Republik MazedonienStaatsoberhaupt: Gjorgje IvanovRegierungschef: Nikola Gruevski

Die Beziehungen zwischen den Bevölke-rungsgruppen der ethnischen Mazedo-nier und der ethnischen Albaner ver-schlechterten sich. Den Angehörigenvermisster Personen, die 2001 entführtworden waren, wurde eine juristischeAufarbeitung des Falls verwehrt. DieHaftbedingungen erfüllten nicht einmaldie Mindeststandards.

HintergrundDie Europäische Kommission empfahl im Okto-ber 2012 erneut, EU-Beitrittsverhandlungenmit Mazedonien aufzunehmen. Der EU-Minis-terrat verschob die Gespräche jedoch ein wei-teres Mal, zum Teil wegen des anhaltendenStreits mit Griechenland über den Staatsna-men.

Die Beziehungen zwischen ethnischen Maze-doniern und ethnischen Albanern verschlech-terten sich noch weiter. Ein ethnisch mazedoni-scher Polizist erschoss im Februar 2012 inGostivar außerhalb seiner Dienstzeit zwei ethni-sche Albaner. Im März wurden mehrere eth-nisch motivierte Angriffe aus Tetovo und ausder Hauptstadt Skopje gemeldet. Nachdem

fünf ethnisch mazedonische Männer am Smil-kovci-See außerhalb von Skopje getötet wor-den waren, nahm die Polizei im Mai bei Razzien20 ethnische Albaner fest. Gegen fünf Männerwurde Anklage wegen Mord und Terrorismuserhoben. Tausende ethnische Albaner protes-tierten gegen die Festnahmen und dagegen,dass die Behörden die Männer als Terroristendarstellten.

Die Regierungspartei VMRO-DPMNE (InnereMazedonische Revolutionäre Organisation –Demokratische Partei für die Nationale EinheitMazedoniens) brachte im August 2012 einenGesetzentwurf ins Parlament ein, der für maze-donische Militärangehörige und Polizeikräfte,die im bewaffneten Konflikt von 2001 gekämpftund Verluste erlitten hatten, Entschädigungenvorsah. Auch deren Angehörige sollten an-spruchsberechtigt sein. Im Oktober lehnte derkleinere Koalitionspartner der VMRO-DPMNE,die ethnisch albanische Partei DemokratischeUnion für Integration (DUI), den Gesetzentwurfab, weil er keine Entschädigung für die Kämp-fer der Nationalen Befreiungsarmee (UÇK) vor-sah. Die UÇK war eine bewaffnete Gruppe, diegegen die Regierungstruppen gekämpft hatte.

Strafverfolgung von KriegsverbrechenIm Oktober 2012 wies das Verfassungsgerichteine Beschwerde ab, die Angehörige von Ma-zedoniern eingereicht hatten, die dem Verneh-men nach im Jahr 2001 von der UÇK entführtworden waren. Gegenstand der Beschwerdewar die vom Parlament im Juli 2001 gebilligteneue Auslegung des Amnestiegesetzes von2002. Gemäß der neuen Auslegung hatte derStaatsanwalt vier Fälle von Kriegsverbrechenfür nichtig erklärt, die der Internationale Straf-gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien(ICTY) zur weiteren Verfolgung an Mazedonienzurückverwiesen hatte. Dazu zählten auch dieAnklagen, die sich auf die Entführungen bezo-gen.

Folter und andere MisshandlungenVorwürfe über Folter und andere Misshandlun-gen in Polizeigewahrsam rissen nicht ab. Siewurden auch von zwei Männern erhoben, die

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Mazedonien 281

man nach den Morden am Smilkovci-See fest-genommen hatte. Im Mai 2012 berichtete dieOmbudsstelle in ihrer Funktion als NationalerPräventionsmechanismus zum Schutz vor Fol-ter, die Haftbedingungen in den Polizeistatio-nen hätten 2011 nicht einmal den Mindeststan-dards entsprochen. Dies gelte in besonderemMaße für Jugendliche, die unter unmensch-lichen und »zutiefst entwürdigenden« Bedin-gungen in Einzelhaft gehalten würden. Außer-dem hätten die Inhaftierten nur selten Zugangzu einem Rechtsanwalt oder Arzt. Im Dezemberberichtete der Ausschuss des Europarats zurVerhütung von Folter, dass die Behörden nurgeringe Fortschritte bei der Umsetzung frühe-rer Empfehlungen gemacht hätten. Vor allemim Gefängnis Idrizovo würden Misshandlun-gen durch das Personal und Einschüchterun-gen und Gewalt durch Mitgefangene fortbeste-hen und die Haftbedingungen seien dort nachwie vor »absolut mangelhaft«.

Rechtswidrige TötungIm Januar 2012 wurde Igor Spasov, ein Angehö-riger einer Sondereinheit der Polizei, wegendes Mordes an Martin Neskovski schuldig ge-sprochen und zu einer Freiheitsstrafe von 14Jahren verurteilt. Martin Neskosvki war beieiner Veranstaltung nach den Parlamentswah-len 2011 zu Tode geprügelt worden.

Recht auf freie MeinungsäußerungIn Abstimmung mit dem Mazedonischen Jour-nalistenverband wurde 2012 ein Gesetzent-wurf zur Entkriminalisierung von Verleumdungund übler Nachrede fertiggestellt. Einige Jour-nalisten und Medienschaffende kritisierten je-doch die neuen Bußgelder, die die bisherigenHaftstrafen ersetzen sollen, da diese ihrer An-sicht nach zu einer Selbstzensur der Medienführen könnten. Der Gesetzentwurf sieht eineGeldstrafe von bis zu 2000 Euro für den Ver-fasser eines Textes vor, 10000 Euro für den Re-dakteur, der ihn veröffentlicht, sowie15000 Euro für den Eigentümer des betreffen-den Medienunternehmens.

DiskriminierungDie Regierung unternahm nichts, um das Anti-diskriminierungsgesetz von 2010 so abzuän-dern, dass es auch den Schutz von Lesben,Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und In-tersexuellen vor Diskriminierung umfasst. ImOktober 2012 äußerte sich der Minister für Ar-beit und Soziales diskriminierend über Homo-sexuelle. Kurz darauf wurde ein Zentrum an-gegriffen, das eine NGO eingerichtet hatte, umsexuelle Minderheiten zu unterstützen.

RomaMazedonien hatte zwar bis Juli 2012 den Vorsitzder »Dekade der Roma-Integration« inne,stellte jedoch nicht die notwendigen Mittel zurVerfügung, um seinen eigenen Nationalen Ak-tionsplan und die Nationale Strategie zur Förde-rung von Roma-Frauen und Mädchen umzu-setzen.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenNach Angaben des UN-Hochkommissars fürFlüchtlinge (UNHCR) befanden sich weiterhin1087 Flüchtlinge in Mazedonien, bei denen essich hauptsächlich um Roma und Aschkaliaus dem Kosovo handelte. Da für sie keine dau-erhafte Lösung in Sicht war, kehrten 30 vonihnen freiwillig in den Kosovo und 14 nach Ser-bien zurück.

Auf Drängen der EU beschränkte die Regie-rung das Recht, das Land zu verlassen. Grenz-beamte nahmen vor allem Roma und ethnischeAlbaner ins Visier, deren Pässe gekennzeich-net wurden, um sie an einer erneuten Ausreisezu hindern. Zwischen Januar und Oktober2012 beantragten 8115 mazedonische Staats-bürger Asyl in Ländern der EuropäischenUnion; weniger als 1% wurden als schutzbe-dürftig anerkannt. Österreich und die Schweizführten für mazedonische Staatsbürger ein be-schleunigtes Asylverfahren ein.

In Mazedonien beantragten 638 PersonenAsyl, doch wurden alle Anträge abgelehnt.

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Antiterror- und SicherheitsmaßnahmenIm Dezember 2012 stellte der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte einstimmig fest,dass Mazedonien für die Menschenrechtsver-letzungen, die der deutsche StaatsangehörigeKhaled el-Masri erleiden musste, verantwortlichwar. Khaled el-Masri war 2003 von den maze-donischen Behörden entführt und 23 Tage langohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten wor-den. Anschließend war er an die US-Behördenüberstellt und nach Afghanistan ausgeflogenworden. Der Gerichtshof machte Mazedonienfür die rechtswidrige Inhaftierung von Khaledel-Masri, für sein Verschwindenlassen sowie fürdie ihm zugefügte Folter und andere Miss-handlungen haftbar. Zugerechnet wurde Maze-donien auch Khaled el-Masris Überstellung anOrte, an denen er weitere schwere Menschen-rechtsverletzungen erlitt, und die mangelhaftenachträgliche Untersuchung des Vorgangs. Eswar das erste Mal, dass der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte im Falle einesOpfers des US-Programms für außerordentli-che Überstellungen und Geheimgefängnisseein Urteil fällte.

MexikoAmtliche Bezeichnung:

Vereinigte Mexikanische StaatenStaats- und Regierungschef: Enrique Peña Nieto

(löste im Dezember Felipe Calderón Hinojosa imAmt ab)

Die Regierung von Präsident Felipe Cal-derón ignorierte auch 2012 die Faktenüber die weit verbreiteten Menschen-rechtsverletzungen wie willkürliche In-haftierungen, Folter, Verschwindenlassenund außergerichtliche Hinrichtungendurch die Polizei und die Sicherheits-kräfte. Während der sechsjährigen Prä-sidentschaft von Felipe Calderón, die im

Dezember 2012 endete, kamen 60000Menschen durch Drogengewalt zu Todeund 150000 wurden vertrieben. Dro-genkartelle und andere kriminelle Ban-den hatten die überwiegende Zahl derTötungen und Entführungen zu verant-worten, operierten jedoch häufig in stil-lem Einvernehmen mit staatlichen Be-diensteten. Das Strafrechtssystem wiesgrobe Mängel auf, 98% aller Verbrechenwurden nicht bestraft. Indigene Bevöl-kerungsgruppen waren besonders gefähr-det, unfaire Strafverfolgungsverfahrenzu erleben. Migranten auf der Durchreisedurch Mexiko waren Angriffen ausge-setzt, darunter Entführungen, Vergewal-tigungen und Menschenhandel. Meh-rere Journalisten und Menschenrechts-verteidiger wurden bedroht, angegriffenoder getötet. Im Gesetz wurde einSchutzmechanismus für Menschen-rechtsverteidiger und Journalisten veran-kert. Gewalt gegen Frauen und Mäd-chen war nach wie vor weit verbreitet. DieStraflosigkeit für in den 1960er, 1970erund 1980er Jahren begangene schwereMenschenrechtsverletzungen bestandfort. Der Oberste Gerichtshof (SupremaCorte de Justicia de la Nación – SCJN)brachte menschenrechtliche Verpflich-

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tungen in bahnbrechende Urteile ein,darunter die Einschränkung des Zustän-digkeitsbereichs der Militärjustiz. Dieneue Regierung von Präsident EnriquePeña Nieto unterzeichnete gemeinsammit anderen politischen Parteien einenPakt, der einige menschenrechtlicheVerpflichtungen enthielt, und versprach,die anhaltend hohe Armut zu bekämp-fen.

HintergrundIm Juni 2012 wurde Enrique Peña Nieto, Mit-glied der Partei der Institutionalisierten Revolu-tion (Partido Revolucionario Institucional – PRI),zum Präsidenten gewählt. Im Dezember trat ersein Amt an. Die PRI gewann auch die Gouver-neursämter in mehreren Bundesstaaten undbaute damit ihre Vertretung im Bundeskongressaus. Der erbitterte Wahlkampf wurde von derEntstehung einer sozialen Jugendprotestbewe-gung namens »Ich bin 132#« (YoSoy132#) be-gleitet, die dem Wahlverfahren und dem Kandi-daten der PRI kritisch gegenüberstand.

Unsicherheit und Gewalt als Folge der milita-ristischen Antwort von Staatspräsident Calde-rón auf das organisierte Verbrechen beherrsch-ten die politische Debatte. Ein Drogenkartellwar mutmaßlich für 49 im Mai 2012 in Cader-eyta im Bundesstaat Nuevo León entdecktezerstückelte Leichen verantwortlich. Die Identi-tät der Toten war bis Ende des Jahres nicht ge-klärt. Die Bewegung für Frieden mit Gerechtig-keit und Würde (Movimiento por la Paz conJusticia y Dignidad) forderte weiterhin ein Endeder Gewalt und dass die Verantwortlichen zurRechenschaft gezogen werden müssten. DieRegierung von Präsident Calderón legte einVeto gegen das Allgemeine Gesetz für Opferein. Das Gesetz, das die Bewegung für Friedenmit Gerechtigkeit und Würde vorangetriebenund der Kongress befürwortet hatte, stärktedie Rechte der Opfer von Gewalt, beispielsweisedas Recht auf Entschädigung. Im Dezemberkündigte die neue Regierung von Präsident En-rique Peña Nieto an, das Veto gegen das Ge-setz zurückzunehmen.

Im August 2012 empfahl das US-Außenminis-

terium dem Kongress trotz des Versagens dermexikanischen Behörden, die Menschen-rechtsbedingungen zu erfüllen, die der Kon-gress im Rahmen der Mérida-Initiative (einesregionalen Sicherheitskooperationsabkom-mens) festgelegt hatte, 15% der daran ge-knüpften Geldmittel freizugeben.

Verschiedene UN-Ausschüsse wie der Aus-schuss für die Beseitigung der Rassendiskri-minierung, der Ausschuss für die Beseitigungder Diskriminierung der Frau und der Aus-schuss gegen Folter überprüften die Erfüllungder Vertragsverpflichtungen vonseiten Mexi-kos und sprachen während des Jahres Emp-fehlungen aus. Die Regierung unternahmeinige Schritte, um Urteilen des Interamerika-nischen Gerichtshofs für Menschenrechte zuRosendo Radilla, Inés Fernández, ValentinaRosendo, Rodolfo Montiel und Teodoro Ca-brera Folge zu leisten. Doch die Betroffenenforderten die umfassende Erfüllung der Vor-gaben.

Öffentliche SicherheitAngehörige der Armee und der Marine sowieder Bundes-, bundesstaatlichen und kommu-nalen Polizeikräfte waren für weit verbreiteteund schwere Menschenrechtsverletzungen imZusammenhang mit Operationen zur Verbre-chensbekämpfung und bei einvernehmlichemVorgehen mit kriminellen Banden verantwort-lich. Die Regierung weigerte sich beständig,das Ausmaß und die Schwere der Menschen-rechtsverstöße oder den Mangel an Glaubwür-digkeit offizieller Untersuchungen anzuerken-nen. Straffreiheit war weit verbreitet, wodurchdie Betroffenen wenig oder keinen Zugang zuWiedergutmachungen erhielten.

Bei der Nationalen Menschenrechtskommis-sion (Comisión Nacional de los Derechos Hu-manos – CNDH) gingen 1921 Beschwerden ge-gen die Streitkräfte und 802 Beschwerden ge-gen die Bundespolizei ein. Im Laufe des Jahreswurden 21 Empfehlungen für die Armee unddie Marine sowie neun für die Bundespolizeiausgesprochen. Informationen zur Strafverfol-gung und Verurteilung von Polizeikräften auf-grund von Menschenrechtsverletzungen wa-

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ren nicht öffentlich zugänglich. Lediglich achtAngehörige des Militärs wurden 2012 von derMilitärjustiz verurteilt.

Willkürliche Inhaftierungen sowieFolter und andere MisshandlungenWillkürliche Inhaftierungen sowie Folter und an-dere Misshandlungen bei der Vernehmungvon Tatverdächtigen waren weit verbreitet, umInformationen und Geständnisse zu erhalten.Die CNDH berichtete, dass sie über das Jahr1662 Beschwerden über Folterungen undMisshandlungen erhalten habe. Über Schuld-sprüche als Folge von Foltervorwürfen gab eskeine Berichte.

Die Untersuchungshaft (Arraigo) wurde nachwie vor routinemäßig von Bundes- und bun-desstaatlichen Staatsanwaltschaften einge-setzt, um Tatverdächtige während der Ermitt-lungen bis zu 80 Tage festzuhalten. Durch dieseHaft wurden in eklatanter Weise die Rechteder Gefangenen missachtet, deren Zugang zuAnwälten, Familien und medizinischer Versor-gung stark eingeschränkt war. Dies schuf einKlima, in dem Berichte über Folter und Miss-handlungen an der Tagesordnung waren. ImNovember 2012 forderte der UN-Ausschussgegen Folter die Abschaffung der Arraigo. Dochnur die Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca undYucatán beendeten diese Form der Untersu-chungshaft.ý Am 18. Januar 2012 griff die Polizei in CiudadJuárez im Bundesstaat Chihuahua drei Brüder– Juan Antonio, Jesús Iván und den 14-jährigenLuis Adrián Figueroa Gómez – auf. Sie wurdenBerichten zufolge bedroht, geschlagen und mitElektroschocks gequält, um sie dazu zu brin-gen, die Erpressung von Inhabern örtlicher Ge-schäfte zu gestehen. Ihre Aussagen wurdengefilmt und als Beweismaterial zu den Aktengenommen. Als die drei in den Gewahrsamzurückgebracht wurden, ignorierten die Beam-ten dagegen Anzeichen für Folter. Die Brüdererstatteten Anzeige wegen Folter, doch Ende2012 lagen noch keine Informationen übereine Untersuchung ihrer Foltervorwürfe vor.ý Am 1. Dezember 2012 kam es infolge gewalt-samer Proteste gegen die Amtseinführung des

neuen Präsidenten in Mexiko-Stadt zu 97 Inhaf-tierungen. Die Mehrzahl der Inhaftiertenwurde in den folgenden Tagen aus der Haft ent-lassen. Die Menschenrechtskommission desBundesstaats Distrito Federal (Comisión de De-rechos Humanos del Distrito Federal) doku-mentierte sowohl Fälle von Misshandlung undFolter als auch willkürliche Inhaftierungen. Am27. Dezember wurden die verbliebenen 14 Ge-fangenen gegen Kaution freigelassen. Es wa-ren keine Informationen über die Untersu-chung mutmaßlicher von der Polizei begange-ner Menschenrechtsverletzungen verfügbar.

Exzessive Gewaltanwendung undaußergerichtliche HinrichtungenDie Nationale Menschenrechtskommission(CNDH) verzeichnete mindestens 25 Todes-fälle von Unbeteiligten bei bewaffneten Zusam-menstößen zwischen kriminellen Banden undden Sicherheitskräften. Die Behörden unterlie-ßen es bei der Mehrzahl der Tötungen umfas-sende Untersuchungen durchzuführen undverhinderten so die Identifizierung vieler Op-fer, die Klärung der Umstände der Tötungenund die Strafverfolgung der Täter.ý Am 3. Februar 2012 wurde der indigene Car-men Puerta Carrillo erschossen, als er an einerMilitärbasis in Baborigame in der GemeindeGuadalupe y Calvo im Bundesstaat Chihuahuavorbeifuhr. Augenzeugen berichteten, dass dieSoldaten ohne jede Vorwarnung und ohne An-lass das Feuer eröffneten. Berichten zufolgewarnten Militärs die Familienangehörigen da-vor, ihre Anzeige weiterzuverfolgen.ý Die CNDH veröffentlichte im März 2012 einenBericht, in dem die Tötung von zwei Lehramts-studierenden der Hochschule für Lehrer aufdem Land in Ayotzinapa (Bundesstaat Guer-rero) bei Protesten im Dezember 2011 sowie dieFolter und Misshandlung anderer Studieren-der verurteilt wurden. In dem Bericht wurdenBeamte des Bundes und des Bundesstaatsmit den Vorfällen in Verbindung gebracht. DreiStaatsbeamte befanden sich Ende des Jahresim Gefängnis, doch viele andere waren im Ver-lauf des Jahres nicht zur Verantwortung gezo-gen worden. Im Mai erhielt der an dem Fall ar-

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beitende Menschenrechtsanwalt Vidulfo Ro-sales eine Morddrohung.

VerschwindenlassenIm Dezember 2012 erfuhr die Öffentlichkeit auf-grund eines durchgesickerten Berichts derGeneralstaatsanwaltschaft, dass es währendder Amtszeit von Präsident Calderón im Landmindestens 25000 Fälle von Entführungen,Verschwindenlassen und vermissten Perso-nen gegeben hatte. Kriminelle Banden warendie Hauptverantwortlichen der Entführungen,doch auch Staatsbeamte wurden mit einigenFällen in Verbindung gebracht. Die CNDH un-tersuchte 2126 Berichte über Fälle von Ver-schwindenlassen.

Das Schicksal der Betroffenen blieb in denmeisten Fällen ungeklärt. Die Behörden warenhäufig unwillig, die Fälle zu untersuchen, insbe-sondere Fälle des Verschwindenlassens, undüberließen die Nachforschungen den Angehöri-gen, die oft einem hohen Risiko ausgesetztwaren, Vergeltungsmaßnahmen der Täter zuerleiden. In manchen Bundesstaaten wurdendie Angehörigen der Opfer mit Verachtung be-handelt, da Beamte unbegründete Vorwürfehinsichtlich einer vermeintlichen kriminellenVerbindung der Opfer erhoben. In den Bun-desstaaten Coahuila und Nuevo León verpflich-teten sich örtliche Beamte den Opfern undMenschenrechtsorganisationen gegenüber, dieFälle zu prüfen und bei Meldungen über Fällevon Verschwindenlassen schnelle Such- undErmittlungsmaßnahmen einzuleiten. Zusagenseitens der Bundesregierung zur Einrichtungeiner landesweiten Datenbank über »Ver-schwundene« blieben unerfüllt.

Nach Angaben der CNDH wurden mindestens15921 nicht identifizierte Leichen entdecktund über 1400 sterbliche Überreste aus gehei-men Massengräbern exhumiert. Im März 2012veröffentlichte die UN-Arbeitsgruppe zur Fragedes Verschwindenlassens von Personen einenBericht, in dem sie auf die alarmierend hohenZahlen von Fällen des Verschwindenlassensund das hohe Maß an Straffreiheit in Mexikoaufmerksam machte.

Im November wurde im Bundesstaat Nuevo

León ein Gesetz verabschiedet, das das Ver-schwindenlassen unter Strafe stellt. In prak-tisch allen anderen Bundesstaaten und aufBundesebene war das Verschwindenlassenkein Straftatbestand gemäß internationalenMenschenrechtsstandards. Die neue Regie-rung verpflichtete sich, dies zu korrigieren.ý Im Mai 2012 wurde Moisés Orozco MedinaBerichten zufolge von Angehörigen der ört-lichen Polizei in der Gemeinde Uruapan imBundesstaat Michoacán inhaftiert. Die Behör-den leugneten jede Kenntnis über seine In-haftierung, und sein Schicksal war Ende desJahres noch nicht geklärt. Sein Vater und seinBruder waren bereits 2008 und 2009 von be-waffneten Männern verschleppt worden. IhrSchicksal blieb ungeklärt, und die Behördendes Bundesstaats hatten bis Ende 2012 nochkeine Informationen über eine Untersuchungder Fälle bereitgestellt.

Rechte von MigrantenMigranten auf der Durchreise durch Mexikowaren 2012 weiterhin von Verschleppung,Mord und Zwangsrekrutierung in kriminelleBanden bedroht. Frauen und Kinder warenbesonders der Gefahr von Menschenrechtsver-letzungen ausgesetzt. Staatsbeamte wurdenoft verdächtigt, mit kriminellen Banden zusam-menzuarbeiten und zusätzliche Menschen-rechtsverletzungen an Migranten zu begehenwie Erpressung und willkürliche Inhaftierung.

Trotz der Verpflichtung der Regierung, alleMenschenrechtsverletzungen gegen Migran-ten zu bekämpfen, blieben die Maßnahmen in-effektiv, und die Regierungen der Bundesstaa-ten versagten bei der Vorbeugung und Bestra-fung von Verbrechen an Migranten. Im No-vember traten die Umsetzungsrichtlinien desneuen Migrationsgesetzes in Kraft. Im Oktoberreisten die Mütter von Verschwundenen ausMittelamerika auf der Suche nach ihren Ange-hörigen durch Mexiko. Eine Datenbank übervermisste Migranten war Ende des Jahresnoch nicht eingerichtet worden, und bei derIdentifizierung der sterblichen Überreste mut-maßlicher Migranten wurden keine Fortschritteverzeichnet. Menschen, die sich für die

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Rechte von Migranten einsetzten, waren auf-grund ihrer Tätigkeit weiterhin von Vergel-tungsmaßnahmen bedroht.ý Im Juli schloss die Migrantenunterkunft inLechería im Bundesstaat México nach wieder-holten Drohungen durch kriminelle Banden ge-gen Migranten und Mitarbeiter der Unterkunft.Die Behörden des Bundesstaats stellten keineneffektiven Schutz bereit, und einige Anwohnerprotestierten gegen die Existenz der Unterkunft.Auch in Huehuetoca, wo alternative Unter-künfte eröffnet wurden, kam es weiter zu Dro-hungen und mangelnder Sicherheit bei denMigranten und Menschenrechtsverteidigern.ý Im Oktober berichteten Augenzeugen, dassmindestens 40 Migranten aus einem Güterzugin Medias Aguas im Bundesstaat Veracruz ent-führt worden seien. Eine offizielle Untersu-chung führte nicht zur Klärung des Schicksalsdieser Migranten, und die Behörden leugne-ten, dass die Entführung überhaupt stattgefun-den hatte.

Menschenrechtsverteidigerund JournalistenMenschenrechtsverteidiger und Journalistenwaren weiterhin Angriffen und Drohungen alsFolge ihrer Tätigkeit ausgesetzt. Mindestenssechs Journalisten wurden getötet. Die Son-derstaatsanwaltschaft des Bundes für Verbre-chen an Journalisten (Fiscalía Especial para laAtención de Delitos cometidos contra Periodi-stas) erzielte in den meisten Fällen getöteterJournalisten keine Fortschritte. Die überwie-gende Zahl der Untersuchungen von Angriffenund Drohungen gegen Menschenrechtsvertei-diger blieb ergebnislos. Der Kongress verab-schiedete im April ein von der Zivilgesellschaftbefürwortetes Gesetz zur Einrichtung einesSchutzmechanismus für Menschenrechtsver-teidiger und Journalisten. Die neue Regierungverpflichtete sich, den Mechanismus einzurich-ten und dem Schutz von Menschenrechtsver-teidigern und Journalisten eine hohe Prioritäteinzuräumen.ý Im April und im Mai wurden im BundesstaatVeracruz vier Journalisten getötet: ReginaMartínez, Korrespondentin der investigativen

Zeitschrift Proceso, und die lokalen Fotojour-nalisten Gabriel Huge, Guillermo Luna und Es-teban Rodríguez. Die Verantwortlichen warenEnde 2012 noch nicht zur Rechenschaft gezo-gen worden, obwohl auf bundesstaatlicherund Bundesebene Untersuchungen durchge-führt worden waren.ý Im Februar 2012 wurde Lucila Bettina Cruz inSanta María Xadani im Bundesstaat Oaxacawillkürlich festgenommen, als sie ein Treffenmit Vertretern der mexikanischen Stromgesell-schaft verließ. Sie wurde der Freiheitsberau-bung von Beamten angeklagt und kam spätergegen Kaution frei. Sie hatte zuvor an fried-lichen Protesten örtlicher indigener Gruppenteilgenommen, deren Land vom Bau von Wind-parks betroffen war.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenIndigene Bevölkerungsgruppen in verschiede-nen Teilen des Landes wurden nach wie vor inhohem Maß ausgegrenzt und diskriminiert. Siehatten zu vielen grundlegenden staatlichenLeistungen nur beschränkten Zugang. Die Be-hörden verweigerten ihnen häufig das Rechtauf freie, vorherige und informierte Zustim-mung zu Entwicklungsprojekten und Projek-ten zum Abbau von Bodenschätzen, die ihrLand betrafen. Im Strafrechtssystem wurdenindigenen Bevölkerungsgruppen regelmäßigGarantien für faire Gerichtsverfahren undwirksame Entschädigungen verweigert.

Die Überprüfung symbolträchtiger Fälledurch den SCJN stellte einen Fortschritt dar.ý Im Oktober 2012 hob der SCJN den Schuld-spruch gegen Hugo Sánchez Ramírez, einenjungen indigenen Taxifahrer aus dem Bundes-staat México, auf und ordnete seine Freilas-sung an. Er war wegen einer Entführung imJahr 2007 zu Unrecht inhaftiert worden, nach-dem die Polizei des Bundesstaats und Staats-anwälte konstruiertes Beweismaterial gegenihn vorgelegt hatten.ý Im November 2012 hob der SCJN die Verur-teilungen von José Ramón Aniceto Gómezund Pascual Agustín Cruz auf und ordnete ihreFreilassung an. Die beiden indigenen Men-

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schenrechtsverteidiger und gewaltlosen politi-schen Gefangenen aus Alta im BundesstaatPuebla waren zu Unrecht beschuldigt worden,2009 ein Auto gestohlen zu haben. Man hatteihnen ein faires Verfahren verweigert, und siewaren im Juli 2010 aufgrund konstruierterStrafanzeigen und als Vergeltung für die Aus-weitung des Wasserzugangs ihrer Gemein-schaft verurteilt worden.ý Der wegen der Tötung von sieben Polizistenim Bundesstaat Chiapas im Jahr 2000 fürschuldig befundene indigene Alberto Patishtánbefand sich noch im Gefängnis und warteteauf das Ergebnis seines Rechtsmittels beimSCJN gegen seine Verurteilung. Amnesty Inter-national hatte hinsichtlich der Verurteilung vonAlberto Patishtán dem SCJN gegenüber Be-denken geäußert, da ihm das Recht auf ein fai-res Gerichtsverfahren verweigert worden war.ý Die indigenen Wixárika setzten sich nach wievor öffentlich für ein Verbot weiterer Bergbau-konzessionen in ihren angestammten Pilger-stätten in Wirikuta im Bundesstaat San LuisPotosí ein. Die Regierung versprach ein Natur-schutzgebiet einzurichten, um Teile des Lan-des zu schützen, doch Ende 2012 waren die Wi-xárika zu dem Projekt noch nicht angemessenkonsultiert worden.

Diskriminierung und Gewaltgegen Frauen und MädchenGewalt gegen Frauen und Mädchen wie Prügel,Vergewaltigung, Entführung und Mord warenin vielen Bundesstaaten weit verbreitet. Die be-stehende Gesetzgebung zur Verhütung undBestrafung von Gewalt wurde nicht wirksamumgesetzt, und das Training von Beamtenzum angemessenen Umgang mit geschlechts-spezifischen Verbrechen wurde nicht umfas-send überprüft, um die Einhaltung sicherzustel-len. Trotz der Verpflichtungen, die Untersu-chungen zu geschlechtsspezifischer Gewalt zuverbessern, wurden 2012 keine neuen Polizei-untersuchungsprotokolle eingeführt, und dieTäter entgingen in der Regel der Strafverfol-gung. Schutzanordnungen wurden in vielenBundesstaaten nicht in Kraft gesetzt, und Be-troffene sahen sich einer fortwährenden Bedro-

hung ausgesetzt. Die Sicherheitspolitik der Re-gierung und das hohe Maß an Gewaltkriminali-tät brachten Berichten zufolge einige Behör-den dazu, weniger Aufmerksamkeit auf ge-schlechtsspezifische Gewalt zu verwenden.Einige Bundesstaaten nahmen den »Femizid« –die Tötung von Frauen aufgrund ihres Ge-schlechts – als Straftat in ihre Gesetzgebungauf, doch viele bundesstaatliche Gesetze ent-sprachen nicht den Verpflichtungen internatio-naler Menschenrechtsabkommen.ý In den ersten drei Monaten des Berichtsjah-res fand man die Leichen von mindestens 13jungen Frauen und Mädchen im Bezirk Vallede Juárez außerhalb von Ciudad Juárez. Sie-ben der Leichname wurden Berichten zufolgeals die von 15- bis 17-jährigen Mädchen iden-tifiziert, die im Zentrum von Ciudad Juárezentführt worden waren.

MilitärjustizIm August 2012 überprüfte der SCJN eine Reihevon Fällen, um die Grenzen der Zuständigkeitder Militärjustiz festzulegen. Er reagierte damitauf vier Entscheidungen des Interamerikani-schen Gerichtshofs für Menschenrechte zu die-ser Frage und auf menschenrechtliche Refor-men in der Verfassung vom Juni 2011, in denenfestgelegt worden war, dass die internationa-len Menschenrechtsabkommen Anwendungfinden müssen. Der SCJN entschied, dassFälle, in denen Angehörige des Militärs in ge-wöhnliche Verbrechen verwickelt sind, darun-ter auch Menschenrechtsverletzungen, dienicht spezifisch militärisch sind, von der zivi-len Justiz behandelt werden. Im Fall von Bonfi-lio Rubio Villegas, einem indigenen Lehrer, derbei einer Straßensperre des Militärs 2009 imBundesstaat Guerrero getötet worden war,stellte das Gericht das Recht der Angehörigenfest, die militärische Entscheidung anzufech-ten. Ende des Jahres hatte der SCJN noch nichtdie Zuständigkeit von Gerichten niederer In-stanz in ähnlich liegenden Fällen geklärt, undes bestand weiterhin Unsicherheit über dieZuständigkeit der Militärjustiz.

Im April wurden Reformvorschläge blockiert,die vorsahen, Menschenrechtsverletzungen

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288 Moldau

vom Militärstrafgesetzbuch auszunehmen.Ende 2012 hatte der neue Kongress die Ge-setzentwürfe noch nicht aufgenommen, umdas Strafgesetzbuch mit den Entscheidungendes Interamerikanischen Gerichtshofs und desSCJN in Einklang zu bringen. Die Bundesre-gierung versäumte es, Anweisungen für dieStaatsanwälte zu veröffentlichen, um sicher-zustellen, dass alle Voruntersuchungen aus-schließlich durch zivile Behörden vorgenom-men werden.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Mexiko im

März und November.ÿ Mexico: Documentation of the case of José Ramón Aniceto

Gómez and Pascual Agustín Cruz – prisoners of conscience,http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR41/035/2012/en

ÿ México: Carta abierta a la y los candidatos a la Presidenciade la República, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR41/038/2012/es

ÿ Mexico: Briefing to the UN Committee on the Elimination ofDiscrimination against Women, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR41/041/2012/en

ÿ Known abusers, but victims ignored: Torture and ill-treat-ment in Mexico, http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR41/063/2012/en

MoldauAmtliche Bezeichnung: Republik MoldauStaatsoberhaupt: Nicolae Timofti (löste im März

Marian Lupu im Amt ab)Regierungschef: Vladimir Filat

Es trafen Berichte über straffrei verübteFolterungen und andere Misshandlun-gen durch die Polizei ein. Die Behördenschützten Menschen nicht vor Diskrimi-nierung aufgrund der sexuellen Orientie-rung oder ihres Gesundheitszustands.

Folter und andere MisshandlungenTrotz einiger Gesetzesänderungen herrschtenach wie vor Straffreiheit bei Folter und ande-ren Misshandlungen. Von den 128 Beschwer-den, die im Büro des Generalstaatsanwalts imZusammenhang mit den Vorfällen nach De-monstrationen im April 2009 eingingen, ka-men nur 43 vor Gericht, und nur drei Polizeibe-amte waren bis Ende 2012 verurteilt worden.In allen drei Fällen wurden die Strafen zur Be-währung ausgesetzt.

Im November 2012 verabschiedete das Parla-ment Änderungen des Strafgesetzbuchs undder Strafprozessordnung, um Moldau seinenVerpflichtungen zur Beendigung der Folter nä-her zu bringen. Die Höchststrafe für Folterwurde von zehn auf 15 Jahre angehoben, dieVerjährung für Foltervergehen abgeschafft, undPersonen, die wegen Folter für schuldig befun-den worden waren, konnten nicht längerAmnestie oder Bewährung erhalten. AndereVerfahrensänderungen verpflichten seither diePolizei, den Gesundheitszustand von Ange-klagten bei der Ankunft im Haftzentrum zu do-kumentieren und ihnen eine schriftliche Be-stätigung der Gründe für die Festnahme auszu-händigen.ý Am 8. Mai 2012 wies der Oberste Gerichtshofdie Rechtsmittel von Eugen Fedoruc gegenseine Inhaftierung im psychiatrischen Kranken-haus Chisinau zurück, und im Juli wurde seineInhaftierung um weitere sechs Monate verlän-gert. Eugen Fedoruc war im Zusammenhangmit einer Mordserie am 2. April 2011 erstmals

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Moldau 289

von der Polizei festgenommen worden. Er warfder Polizei vor, ihn während seines Gewahr-sams auf dem Polizeipräsidium von Chisinauin der Zeit vom 16. April bis 17. Juni 2011 gefol-tert zu haben. Er gab an, man habe ihm dieHände und Füße zusammengebunden und ihndaran aufgehängt und man habe ihm Elektro-schocks verabreicht, um ihn zu einem »Ge-ständnis« zu zwingen. Anschließend verlegteman ihn zur psychiatrischen Begutachtung fürzehn Tage in das psychiatrische KrankenhausChisinau. Er befand sich im Dezember noch inHaft. Eugen Fedoruc war zuvor ambulant we-gen Schizophrenie behandelt worden. Dochsein Arzt hatte im Juni 2012 gesagt, dass er ru-hig sei und keine Gefahr für die Öffentlichkeitdarstelle und dass es keinen Grund gebe, ihnstationär zu behandeln. Den Foltervorwürfenwurde nicht nachgegangen.

Grausame, unmenschliche underniedrigende BehandlungAm 24. Mai 2012 sprach sich das Parlamenttrotz eines Vetos durch den Präsidenten imApril für ein Gesetz aus, das die chemischeKastration als Strafe für gewalttätigen Kindes-missbrauch vorschreibt.

DiskriminierungIm Mai 2012 verabschiedete das Parlament einAntidiskriminierungsgesetz, das zum1. Januar2013 in Kraft tritt. Es entspricht jedoch nichtden internationalen Standards, da es keineVorgaben für Diskriminierung aufgrund der se-xuellen Orientierung, der Geschlechtsidentitätoder des Gesundheitszustands enthält. Die Dis-kriminierung einiger Einzelpersonen undGruppen hielt an.ý Im Februar 2012 wurde der 48-jährigen HIV-positiven I. H. eine Operation ihres schwer ge-schädigten Hüftgelenks mit der Begründungverweigert, sie sei HIV-positiv. Am 21. Novem-ber 2011 hatte ihr der stellvertretende Direktordes Traumatologie- und Orthopädiekranken-hauses von Chisinau mitgeteilt, dass eine sol-che Operation an HIV-positiven Patientennicht vorgenommen werden könne. Die NGOInstitut für Menschenrechte und der Men-

schenrechtsvertreter des Entwicklungspro-gramms der UN schritten mit dem Hinweisein, dass auf der ganzen Welt regelmäßig Hüft-operationen an HIV-positiven Patienten vorge-nommen würden und eine solche Operationnicht zu Schädigungen führe, wenn das Im-munsystem nicht schon vorher angegriffen war.Das Krankenhaus weigerte sich dennoch, dieOperation vorzunehmen.ý Im März 2012 ergriffen im Vorfeld der Verab-schiedung des Gleichstellungsgesetzes meh-rere lokale Verwaltungen im ganzen Land dis-kriminierende Maßnahmen gegen verschie-dene Gruppierungen in ihren Gemeinden. Ver-bote »aggressiver Propaganda einer nicht tra-ditionellen sexuellen Orientierung« richtetensich gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle,Transgender und Intersexuelle (LGBTI), auchMuslime wurden diskriminiert, indem sie ihrenGlauben nicht ihn der Öffentlichkeit praktizie-ren durften. Nur eine Verwaltung verwarf dieseEntscheidung nach Einschreiten der Ombuds-person.ý Am 12. Juni 2012 urteilte der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte, dass dasVerbot einer LGBTI-Demonstration im Mai 2005gegen das Recht auf Versammlungsfreiheitund gegen das Recht auf Freiheit von Diskrimi-nierung verstoßen habe. Das Gericht wies diemoldauische Regierung an, den OrganisatorenGender Doc-M innerhalb von drei Monaten11000 Euro Entschädigung zu zahlen.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte Moldau

im April und September.ÿ Unfinished Business: Combating Torture and Ill-treatment in

Moldova, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR59/001/2012/en

ÿ Towards Equality: Discrimination in Moldova,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR59/006/2012/en

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290 Mongolei

MongoleiAmtliche Bezeichnung: MongoleiStaatsoberhaupt: Tsachiagiin ElbegdordschRegierungschef: Norov Altankhuyag (löste im

August Süchbaataryn Batbold im Amt ab)

Die Mongolei trat dem 2. Fakultativproto-koll zum Internationalen Pakt über bür-gerliche und politische Rechte bei undkam dadurch der Abschaffung der To-desstrafe einen Schritt näher. Gerichts-verfahren gegen hochgestellte Persön-lichkeiten, unter ihnen auch Politiker,entsprachen nicht den internationalenStandards für faire Gerichtsverfahren. In-folge des Mangels an ordnungsgemäßenVerfahren kam es in Jurtenbezirken vonUlan-Bator zu rechtswidrigen Zwangs-räumungen.

HintergrundAm 28. Juni 2012 fanden Parlamentswahlenstatt. Die Demokratische Partei, die dabei dieMehrheit errang, bildete zusammen mit der Al-lianz Gerechtigkeit /Mongolische Volksparteiund der Partei Zivilcourage /Grüne eine Koali-tionsregierung.

TodesstrafeEs fanden 2012 keine Hinrichtungen statt. ImMärz wurde die Mongolei Vertragsstaat des 2.Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt

über bürgerliche und politische Rechte, dasdie Abschaffung der Todesstrafe zum Ziel hat.

Unfaire GerichtsverfahrenRechtsanwälte und Regierungsbeamte erklär-ten, dass Gerichtsverfahren unfair verlaufenwürden, insbesondere, wenn Beamte oder Po-litiker in sie verwickelt seien. Rechtsanwältenwurde vor Gerichtsterminen nur wenig Zeit undselten Zugang zu Gerichtsakten eingeräumt.Das Recht der Angeklagten auf vertraulicheKommunikation mit einem Anwalt ihrer Wahlwar eingeschränkt.ý Der ehemalige Präsident NambarynEnkhbayar wurde im August zusammen mitzwei weiteren ehemaligen Beamten und einerPerson, die nicht im Staatsdienst stand, wegenKorruption verurteilt. Die im Mai erfolgte Ableh-nung seines Antrags auf Freilassung gegenKaution mangels Beweisen veranlassteAmnesty International, Zweifel an der Recht-mäßigkeit seiner Inhaftierung zu äußern.Kurz danach kam er frei. Nach Angaben sei-ner Anwälte untergruben Beamte das Rechtdes Ex-Präsidenten auf vertraulichen Zugangzu Rechtsbeiständen. Sie schränkten den Zu-gang der Anwälte zu fallbezogenen Dokumen-ten ein und räumten ihnen vor der ersten Anhö-rung vor Gericht nur sehr wenig Vorberei-tungszeit ein.

ZwangsräumungenFamilien wurden ohne vorherige Anhörung undandere rechtliche Schutzvorkehrungenrechtswidrig aus ihren Unterkünften vertrieben.In einigen Fällen wurden sie von Vertretern lo-kaler Behörden und privater Baufirmen genö-tigt oder bedroht. Manche Familien wurdenOpfer von Absprachen zwischen lokalen Behör-den und privaten Bauunternehmen und soll-ten für die ihnen angebotenen alternativen Un-terkünfte bezahlen.ý Familien im 7. Mikrodistrikt von Ulan-Batorwaren im Jahr 2010 mündlich darüber infor-miert worden, dass ihr Wohngebiet für Bau-maßnahmen vorgesehen sei. Sie wurden da-nach jedoch nicht angehört, und ihr Zugang zuden Bauplänen war eingeschränkt.

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Montenegro 291

Internationale JustizSeit 2002 ist die Mongolei zwar Vertragsstaatdes Römischen Statuts des InternationalenStrafgerichtshofs, hat ihre vertraglichen Ver-pflichtungen aber bisher noch nicht erfüllt.Auch steht die Ratifizierung des im Jahr 2007unterzeichneten Internationalen Übereinkom-mens zum Schutz aller Personen vor dem Ver-schwindenlassen noch aus.

MontenegroAmtliche Bezeichnung: Republik MontenegroStaatsoberhaupt: Filip VujanovicRegierungschef: Milo Djukanovic (löste im

Dezember Igor Luksic im Amt ab)

In Verfahren wegen Kriegsverbrechenwurden Urteile gesprochen, die nichtmit dem Völkerrecht in Einklang stan-den. Unabhängige Journalisten muss-ten weiterhin Einschüchterungen undÜbergriffe befürchten.

HintergrundDas ganze Jahr über kam es zu Demonstratio-nen gegen die Wirtschafts- und Sozialpolitikder Regierung.

Im Juni 2012 begannen die Verhandlungenüber den EU-Beitritt Montenegros. Im Mittel-punkt standen dabei Fragen der Rechtsstaat-lichkeit, darunter die Bekämpfung des organi-sierten Verbrechens und der Korruption aufhöchster Ebene.

Nach den Parlamentswahlen im Oktoberkonnte die seit langem regierende Demokrati-sche Partei der Sozialisten nur mit Unterstüt-zung von Parteien der ethnischen Minderhei-ten eine Koalitionsregierung bilden. Der frühereStaatspräsident Milo Djukanovic wurde zumsechsten Mal Ministerpräsident.

Strafverfolgung von KriegsverbrechenDie Prozesse wegen Straftaten nach dem Völ-kerrecht wurden 2012 fortgesetzt. In einigenFällen entsprachen die Verfahren nicht den in-ternationalen Standards, und die Urteile wa-ren nicht mit dem Völkerrecht vereinbar.ý Nach einem Wiederaufnahmeverfahrenwurden im Januar vier ehemalige Reservistender Jugoslawischen Volksarmee schuldig ge-sprochen, Kriegsverbrechen an kroatischenKriegsgefangenen und Zivilpersonen im LagerMorinj begangen zu haben. Sie erhieltenHaftstrafen von bis zu vier Jahren. Dies warweniger als die gesetzlich vorgeschriebeneMindeststrafe. Im Juli wurden Rechtsmittelzugelassen.ý Im April wies ein Gericht Rechtsmittel derStaatsanwaltschaft gegen den 2011 erfolgtenFreispruch ehemaliger Reservisten und Polizis-ten ab, die wegen unmenschlicher Behand-lung bosnischer Zivilpersonen in Bukovica imJahr 1992 angeklagt waren. Nach Ansicht desGerichts stellte das Vorgehen der Angeklagtenzum damaligen Zeitpunkt »in den Augen desGesetzes keine Straftat dar«. Dabei definiertdas Strafgesetzbuch von 2003 unmenschlicheBehandlung als Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit, was entsprechend den anerkanntenGrundsätzen des Völkerrechts auch rückwir-kend hätte Anwendung finden müssen.ý Im September begann das Wiederaufnahme-verfahren gegen vier ehemalige Angehörigeder Jugoslawischen Armee (vormals Jugoslawi-sche Volksarmee), die wegen Mordes an

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292 Mosambik

sechs Kosovo-Albanern in Kaludjeruski Laz imJahr 1999 angeklagt waren.ý Im November wurden in einem Wiederauf-nahmeverfahren neun ehemalige Polizeibe-amte erneut freigesprochen, denen wegen desVerschwindenlassens von mindestens 79 bos-nischen Flüchtlingen im Mai 1992 Kriegsver-brechen zur Last gelegt wurden. Das Gerichtgab zur Begründung an, die Angeklagten hät-ten die Bosniaken zwar rechtswidrig inhaftiert,seien jedoch nicht an dem internationalen be-waffneten Konflikt in Bosnien und Herzego-wina beteiligt gewesen.

Recht auf freie MeinungsäußerungMinisterpräsident Igor Luksic übte öffentlichKritik an NGOs und regierungskritischen Me-dien. Unabhängige Journalisten wurden auchvon Privatpersonen eingeschüchtert und be-droht.ý Im März 2012 wurde Olivera Lakic, eine Jour-nalistin der unabhängigen Zeitung Vijesti, vorihrem Haus so brutal geschlagen, dass sie inein Krankenhaus eingeliefert werden musste.Nachdem sie über mutmaßlichen Betrug ineinem Unternehmen berichtet hatte, warenstrafrechtliche Ermittlungen eingeleitet worden.ý Im April 2012 antwortete die Generalstaats-anwältin auf eine Anfrage der NGO HumanRights Action aus dem Jahr 2010. Die Organisa-tion hatte um Informationen über den Ermitt-lungsstand in zwölf unaufgeklärten Fällen vonMenschenrechtsverletzungen gebeten, da-runter Morde an Journalisten und andere poli-tisch motivierte Tötungen. Die von der Gene-ralstaatsanwaltschaft übermittelten Teilinforma-tionen ließen erkennen, dass es kaum Ermitt-lungsfortschritte gab.

DiskriminierungLesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender undIntersexuelle wurden weiterhin diskriminiert.

Im September 2012 wurden drei homosexu-elle Männer von Mitgliedern eines Fußball-Fanclubs aus Podgorica tätlich angegriffen.Zwei der angegriffenen Männer, ein Schau-spieler und ein Regisseur, waren an der Pro-duktion eines Videos gegen Homophobie be-

teiligt. Obwohl der Schauspieler Todor Vujosevicmehrfach um Polizeischutz bat, wurde er imOktober erneut überfallen.

Flüchtlinge und MigrantenEs befanden sich weiterhin etwa 3200 Roma-und Aschkali-Flüchtlinge aus dem Kosovo inMontenegro. Im Juli 2012 wurden 800 vonihnen obdachlos, nachdem im Lager Konik,wo sie seit 1999 lebten, ein Brand ausgebro-chen war. Die Flüchtlinge protestierten, alsman ihnen Zelte zur Verfügung stellte. Im No-vember wurden sie notdürftig in Metallcontai-nern untergebracht. Langfristige Pläne, anstelledes Lagers dauerhafte Unterkünfte bereitzu-stellen, wurden aufgeschoben.

Montenegro war weiterhin ein Durchgangs-land für Migranten ohne regulären Aufent-haltsstatus: Im Jahr 2012 stellten insgesamt1531 Personen einen Asylantrag, nur in einemFall wurde jedoch Asyl gewährt, in einem weite-ren subsidiärer Schutz.

Amnesty International: Berichtÿ Montenegro: Submission to the UN Universal Periodic Review,

http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR66/004/2012/en

MosambikAmtliche Bezeichnung: Republik MosambikStaatsoberhaupt: Armando Emílio GuebuzaRegierungschef: Alberto Vaquina (löste im Oktober

Aires Bonifácio Baptista Ali im Amt ab)

Die Polizei war für willkürliche Festnah-men und Inhaftierungen verantwortlich.Viele Gefangene wurden über lange Zeit-räume hinweg ohne Anklageerhebungfestgehalten. Es gingen Berichte über ex-zessive Gewaltanwendung durch die Po-lizei ein. Die entsetzlichen Zustände inden Gefängnissen lösten Revolten aus.

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Mosambik 293

HintergrundBei einer Schießerei zwischen der Polizei undrund 300 Anhängern der oppositionellen Na-tionalen Mosambikanischen Widerstandsbewe-gung (Resistência Nacional Moçambicana –RENAMO) kamen am 8. März 2012 in Nampulaein Polizist sowie ein Mitglied der RENAMOums Leben, mehrere Personen wurden ver-letzt – sowohl auf Seiten der Polizei als auchder RENAMO. Die Polizei hatte die Parteizentraleder RENAMO gestürmt, wo Anhänger der Par-tei im Dezember 2011 ein Lager aufgeschlagenhatten und sich seither aufhielten – offenbarum dort auf Anweisungen des Parteivorsitzen-den Afonso Dhlakama für Protestaktionen ge-gen die Regierung zu warten. Ende Oktober zogsich Afonso Dhlakama mit rund 800 Mann aufden ehemaligen Stützpunkt der RENAMO inGorongosa zurück. Er drohte mit Wiederauf-nahme des Krieges, falls die Regierung nicht be-reit wäre, ihn zu empfangen. Im Novembersetzte die Regierung eine Kommission ein, dieGespräche mit der RENAMO aufnehmen sollte.Im Dezember wurden vier RENAMO-Mitgliederim Zusammenhang mit der Schießerei vomMärz für schuldig befunden und zu neun Mo-naten und elf Tagen Haft verurteilt. Sie kamenjedoch umgehend auf freien Fuß, weil sie dieZeit der gegen sie verhängten Freiheitsstrafebereits in Untersuchungshaft verbracht hatten.

Am 11. Mai 2012 wählte das Parlament denfrüheren Justizminister José Abudo zur erstenOmbudsperson der Justiz. Am 5. Septemberwurden elf Mitglieder der neuen NationalenMenschenrechtskommission vereidigt.

Im September wurde Präsident ArmandoEmílio Guebuza auf dem 10. Parteikongressder Frente de Libertação de Moçambique(FRELIMO) erneut zum Parteivorsitzenden ge-wählt.

Polizei und SicherheitskräfteZwischen Februar und November 2012 wurdenin der mosambikanischen Hauptstadt Maputomehr als 20 asiatische Geschäftsmänner undderen Familienangehörige entführt. Die Ent-führer verlangten Lösegeld für die Freilassungder Geiseln. Die asiatischen Geschäftsleute im

Land mutmaßten, dass die Polizei in die Entfüh-rungen verwickelt war. Im September wurdeneinige Personen unter dem Verdacht verhaftet,an den Entführungen beteiligt zu sein. Sie sol-len jedoch aus Mangel an Beweisen aus derHaft entlassen worden sein. Ende Novemberwurden weitere Personen festgenommen. Ende2012 lagen jedoch keine weiteren Informatio-nen zu den Entführungen vor.

Im April widersetzte sich der Oberbefehlsha-ber der Polizei einem Gerichtsbeschluss underklärte Berichten zufolge, dass er bei polizei-disziplinarischen Angelegenheiten nicht andie Entscheidungen der Richterschaft gebun-den sei.ý Im März wurden in Nacala (Provinz Nam-pula) fünf Polizisten einschließlich des ört-lichen Polizeichefs im Zusammenhang mit dermutmaßlichen illegalen Lagerung von Waffenfestgenommen. Ein Richter ordnete an, dassdie Polizisten bis zum Abschluss der Ermitt-lungen vorläufig freizulassen seien. Sie wurdenjedoch von der Polizei erneut festgenommenund inhaftiert und kamen erst nach dem Ein-schreiten von Rechtsanwälten wieder frei. DerOberbefehlshaber der Polizei erklärte, dass diePolizei in Übereinstimmung mit der für sie gel-tenden Disziplinarordnung von 1987 gehandelthabe und nicht an die Entscheidung des Ge-richts gebunden sei. Im September erklärte der

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294 Mosambik

Verfassungsrat, dass die Bestimmung, auf diesich der Oberbefehlshaber der Polizei berufenhabe, bereits annulliert worden sei.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenDie Polizei war für willkürliche Festnahmen undInhaftierungen verantwortlich, die häufig poli-tisch motiviert waren. In einigen Fällen wurdendie Inhaftierten ohne Anklageerhebung ausder Haft entlassen. Offenbar erhielt aber keinervon ihnen eine Entschädigung. Soweit be-kannt, wurden die Polizisten auch nicht zur Re-chenschaft gezogen.ý Die Polizei nahm Mitglieder des Forums derKriegsveteranen (Fórum dos Desmobilizadosde Guerra) fest, darunter Jossías Alfredo Mat-sena, den Sprecher der Organisation. Erwurde insgesamt dreimal festgenommen. Am10. Januar 2012 wurde er festgenommen undkam wenige Stunden später ohne Anklageerhe-bung wieder frei. Am 19. Januar nahm manihn erneut in Haft und stellte ihn wegen Betrugsund Drohungen gegen einen Bezirksvertreterder FRELIMO unter Anklage. Das Gerichtsver-fahren wegen Betrugs führte im März zueinem Freispruch; die Anklagepunkte, die sichauf die mutmaßlichen Drohungen bezogen,wurden im Juni fallen gelassen. Am 14. Februarwurde Jossias Alfredo Matsena ohne Haftbe-fehl festgenommen, als er sich auf dem Wegzur mosambikanischen Menschenrechtsligabefand. Er wurde zunächst einige Stunden aufdem Polizeirevier von Machava (Provinz Ma-puto) in Gewahrsam gehalten und war dannzwei Tage lang im Gewahrsam des 1. Polizeire-viers in Inhambane, bevor man ihn schließlichin das dortige Hochsicherheitsgefängnis ein-lieferte. Er wurde wegen des Versteckens vonWaffen sowie der Aufwiegelung zur Gewalt an-geklagt; nach vier Monaten Haft kam er biszum Beginn des Prozesses auf freien Fuß.ý Am 18. April 2012 wurden 38 Mitglieder deroppositionellen Demokratischen BewegungMosambiks (Movimento Democrático de Mo-çambique – MDM) während der Bürgermeis-ter-Nachwahlen in der Provinz Inhambane fest-genommen. Sie kamen zunächst ohne Ankla-

geerhebung auf freien Fuß, im August stellteman sie jedoch unter Anklage, weil sie vor denWahlbüros illegalen Wahlkampf betrieben ha-ben sollen. Die Betroffenen gaben an, Lebens-mittel und Wasser an die Wahlbeobachter derMDM verteilt zu haben. Sie wurden am 5. Ok-tober wegen mutmaßlicher Verstöße gegen dasWahlgesetz zu jeweils zwei Monaten Gefäng-nis verurteilt. Das Gericht ließ ihnen nicht dieMöglichkeit, statt der Haftstrafe eine Geldbußezu zahlen. Gegen sieben Angeklagte fand dasVerfahren in Abwesenheit statt.

Exzessive Gewaltanwendung undrechtswidrige TötungenIm Juli verurteilte das Verwaltungsgericht inMaputo den Staat zur Zahlung einer Entschä-digung in Höhe von 500000 Meticais (rd.17000 US-Dollar) an die Mutter eines elfjähri-gen Jungen, der im September 2010 bei gewalt-tätigen Demonstrationen in Maputo von einerverirrten Kugel aus einer Polizeiwaffe tödlich ge-troffen worden war. Für den Schuss wurde je-doch kein Polizist zur Rechenschaft gezogen.Im Jahr 2012 gingen weitere Meldungen überexzessive Gewaltanwendung durch die Polizeiein.ý Im Juli erschossen Polizisten in der StadtNampula einen 19-jährigen Mann, dessenName lediglich mit António angegeben wurde.António und ein Freund sollen mit einem Autoein vor dem 2. Polizeirevier in Nampula stehen-des Polizeifahrzeug angefahren und nicht an-gehalten haben. Die Polizei nahm die Verfol-gung auf und gab Schüsse ab. António wurdegetroffen und starb später. Die Polizeibehördenerklärten Delegierten von Amnesty Internatio-nal im November, dass der Vorfall Gegenstandlaufender Ermittlungen sei. Ende 2012 lagenkeine weiteren Informationen über den Fallvor.ý Im August schlug der Chef der Bezirkspolizeiin Ilha de Moçambique (Provinz Nampula)eine schwangere Frau, die daraufhin im Kran-kenhaus behandelt werden musste. Die Poli-zeibehörden gaben an, dass der Chef der Be-zirkspolizei die Frau während eines privatenStreits in seiner Eigenschaft als Privatperson ge-

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Myanmar 295

schlagen habe. Weiter hieß es, dass ein Dis-ziplinarverfahren sowie Ermittlungen eingeleitetworden seien. Bis Ende 2012 waren keine wei-teren Informationen zugänglich.

Haft ohne VerfahrenIn mindestens drei Gefängnissen in Maputound zwei Gefängnissen in Nampula befandensich Hunderte Menschen ohne Gerichtsverfah-ren über den gesetzlich erlaubten Zeitraumhinweg in Haft; in einigen Fällen waren sie nichteinmal angeklagt worden. Landesweit wurdenTausende Menschen unter ähnlichen Umstän-den festgehalten.ý Am 16. Februar 2012 fand eine gemeinsameDelegation von Amnesty International und derMosambikanischen Menschenrechtsliga JoséCapitine Cossa, auch Zeca Capetinho Cossagenannt, im Hochsicherheitsgefängnis von Ma-chava vor. Er saß dort bereits länger als zwölfJahre ein, ohne dass Anklage gegen ihn erho-ben worden oder er vor ein Gericht gestelltworden wäre. Die Behörden gaben an, sie hät-ten nicht gewusst, warum er sich im Gefängnisbefand. Der Generalstaatsanwalt informierteAmnesty International im September, José Ca-pitine Cossa sei am 4. September aus der Haftentlassen worden, da die Inhaftierung rechts-widrig gewesen sei. Der Fall werde gegenwärtiguntersucht. Bis Jahresende war noch nie-mand zur Rechenschaft gezogen worden, undJosé Capitine Cossa hatte noch keine Entschä-digung für die rechtswidrige Festnahme undHaft erhalten.

HaftbedingungenAus Protest gegen die Überfüllung, die misera-ble Versorgung mit Lebensmitteln und dieschlechten hygienischen Zustände kam es imMärz bzw. im September 2012 in den Zentral-gefängnissen von Nampula und Beira zu Häft-lingsrevolten. Bei der Bekämpfung der Kra-walle im Zentralgefängnis von Nampula gingdie schnelle Eingreiftruppe der Polizei mit ex-zessiver Gewalt vor, wofür sie vom Justizminis-ter scharf kritisiert wurde. Die Haftbedingun-gen in dem Gefängnis waren sehr hart. Soherrschten eine extreme Überbelegung und

unhaltbare hygienische Zustände. Außerdemwar die Ernährung unzureichend, und es exis-tierte nur eine rudimentäre medizinische Ver-sorgung. In anderen Gefängnissen waren dieZustände ähnlich.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Im Februar und im November hielten sich Delegierte von

Amnesty International in Mosambik auf.ÿ Locking up my rights: arbitrary arrest, detention and treat-

ment of detainees in Mozambique, http://www-secure.amnesty.org/en/library/info/AFR41/001/2012/en

MyanmarAmtliche Bezeichnung:

Republik der Union von MyanmarStaatsoberhaupt und Regierungschef: Thein Sein

Im Zuge politischer, rechtlicher und wirt-schaftlicher Reformen wurden Hundertevon gewaltlosen politischen Gefangenenfreigelassen, doch viele weitere befan-den sich nach wie vor in Haft. Die Sicher-heitskräfte und andere Staatsorgane be-gingen weiterhin Menschenrechtsverlet-zungen, darunter rechtswidrige Tötun-gen, exzessive Gewaltanwendung, will-kürliche Festnahmen, Folter und andereMisshandlungen sowie rechtswidrige Be-schlagnahme oder Zerstörung von

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296 Myanmar

Eigentum und Vernichtung der Existenz-grundlage von Menschen. Viele Verant-wortliche für frühere Straftaten, darunterVerbrechen gegen die Menschlichkeit,wurden auch im Jahr 2012 nicht zur Re-chenschaft gezogen.

HintergrundDie Nachwahlen im April 2012 verliefen nachAnsicht internationaler Beobachter weitge-hend frei und fair. Die oppositionelle NationaleLiga für Demokratie (National League for De-mocracy – NLD) gewann 43 von 44 angestreb-ten Mandaten, und die Abgeordneten der Par-tei konnten ihre Sitze im Parlament einnehmen.

Im August wurde die ehemalige gewaltlosepolitische Gefangene Aung San Suu Kyi zurVorsitzenden des neu eingerichteten Parla-mentsausschusses für Rechtsstaatlichkeitund Frieden ernannt. Im September wurde dienationale Menschenrechtskommission alsMitglied zum Forum der südostasiatischen na-tionalen Menschenrechtsinstitutionen zuge-lassen und im November als assoziiertes Mit-glied ins Asien-Pazifik-Forum aufgenommen.Nach wie vor gab es jedoch Zweifel, ob dieKommission eine unabhängige Überwachungder Einhaltung der Menschenrechte gewähr-leisten kann.

Im November verabschiedete Myanmar dieErklärung der Südostasiatischen Staatenge-meinschaft (ASEAN) zum Schutz der Men-schenrechte trotz weit verbreiteter Bedenken,dass sie internationalen Standards nicht ent-spricht. Gleichfalls im November gestattetePräsident Thein Sein dem Internationalen Ko-mitee vom Roten Kreuz (IKRK), die Inspektionvon Haftanstalten wieder aufzunehmen, undkündigte Pläne der Regierung zur Einrichtungeines zwischenstaatlichen Überprüfungsme-chanismus für alle gegenwärtig einsitzendenGefangenen an.

Die EU, Australien, Kanada, die Schweiz unddie USA haben in der ersten Jahreshälfte diemeisten ihrer gegen Myanmar verhängtenSanktionen ausgesetzt, das Waffenembargoblieb jedoch in Kraft.

Bewaffneter KonfliktDie Regierung schloss Waffenstillstandsabkom-men bzw. Vereinbarungen über die Einleitungeines Friedensprozesses mit den politischenFlügeln von etwa acht Vereinigungen ethni-scher Minderheiten, darunter die Freiheitspar-tei Arakan, die Karen National Union, die Ar-mee des Shan-Staats /Nord und die Armee desShan-Staats /Süd. Dennoch wurden aus demOsten des Landes wiederholt bewaffnete Aus-einandersetzungen gemeldet. Der Konflikt imUnionsstaat Kachin und im Norden des Uni-onsstaats Shan verschärfte sich, und Endedes Jahres griff die Luftwaffe des Landes gezieltVorposten der Kachin Independence Army(KIA) an. Der Konflikt begann, als die Armee imJuni 2011 den Waffenstillstand mit der KIAbrach. Im Berichtsjahr blieben alle Versuche er-folglos, die Konfliktparteien zu Gesprächen zubewegen. Im Juni unterzeichnete die Regierungeinen Aktionsplan der Internationalen Arbeits-organisation (ILO) zur Bekämpfung der Rekru-tierung von Minderjährigen sowie den gemein-samen Aktionsplan zu Kindern in bewaffnetenKonflikten gemäß Resolution 1612 des UN-Si-cherheitsrats, und im September entließ die Ar-mee öffentlich 42 Kindersoldaten.

Nach wie vor wurden viele Bewohner der Dör-fer im Konfliktgebiet, vor allem im UnionsstaatKachin und im Norden des Unionsstaats Shan,Opfer von Menschenrechtsverstößen wie will-kürlicher Festnahme, rechtswidriger Tötung,sexueller Gewalt, Folter, Verschwindenlassenund Vernichtung ihrer Existenzgrundlage.ý Im Januar 2012 reichten die Anwälte der Fa-milie der verschwundenen Sumlut Roi Ja ausder Minderheit der Kachin eine Klage vor demObersten Gerichtshof in Nay Pyi Taw ein. Be-richten zufolge war Sumlut Roi Ja nach ihrerFestnahme durch die Streitkräfte im Oktober2011 verschwunden. Ihr Ehemann, der nacheigenen Angaben bei ihrer Entführung zuge-gen war, durfte keine Zeugenaussage machen.Im März stellte der Oberste Gerichtshof dasVerfahren aus Mangel an Beweisen ein.ý Im Juni 2012 nahm die Armee vier Viehhirtenaus der Volksgruppe der Kachin fest, weil mansie verdächtigte, Verbindungen zur Kachin In-

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dependence Organization (KIO) und zur KIAzu unterhalten. Glaubwürdigen Berichten zu-folge wurden die Männer gefoltert.ý Am 1. Juli 2012 nahmen Soldaten 27 Bewoh-ner von Kachin-Dörfern wegen angeblicherZusammenarbeit mit der KIA in Gewahrsam.Die meisten der Männer wurden rasch wiederauf freien Fuß gesetzt, doch Galau Bawm Yawblieb in Haft. Am 22. Juli wurde seine Leichegefunden; Berichten zufolge wies sie Spurenvon Folterungen auf.

BinnenflüchtlingeDie Zahl der Menschen, die im Zuge des fort-dauernden Konflikts im Unionsstaat Kachinaus ihrem Wohnort vertrieben wurden, stieg bisEnde 2012 auf über 75000 an. Viele musstenihr Leben in behelfsmäßigen Flüchtlingslagernin den von der KIA kontrollierten Gebieten ander chinesischen Grenze fristen. Dort gab esnur unzureichende sanitäre Einrichtungen,und die ärztliche Versorgung sowie die Versor-gung mit Lebensmitteln waren mangelhaft.Aufgrund der von der Regierung verhängtenBeschränkungen war es humanitären Organi-sationen in den von der KIA und der KIO kon-trollierten Gebieten nicht möglich, Hilfe zuleisten.

Im Osten des Landes konnten 400000 Men-schen immer noch nicht an ihren Wohnort zu-rückkehren. Aufgrund der gewalttätigen Aus-schreitungen und Übergriffe im UnionsstaatRakhine teilten weitere 115000 Muslime ausder Minderheit der Rohingya und anderenVolksgruppen dieses Schicksal. Hilfsorganisa-tionen, die außerhalb der offiziellen Lager le-bende Binnenflüchtlinge unterstützen wollten,sahen sich insbesondere Ende Oktober /An-fang November mit Hindernissen konfrontiert.Die Flüchtlingslager waren überfüllt, und esfehlte an sanitären Einrichtungen.

Religiöse GewaltNach der Vergewaltigung und Ermordung einerBuddhistin am 28. Mai 2012 im UnionsstaatRakhine, die drei muslimischen Männern ange-lastet worden war, und der anschließendenRacheaktion, bei der zehn muslimische Män-

ner zu Tode geprügelt wurden, kam es dortAnfang Juni zu gewalttätigen Auseinanderset-zungen zwischen Buddhisten einerseits undMuslimen aus der Gruppe der Rohingya undanderen Volksgruppen andererseits. Am10. Juni verhängte der Präsident über den ge-samten Unionsstaat den Ausnahmezustand.Auch im Juli und August wurden wiederholt Ge-waltakte gemeldet. Zwischen dem 21. unddem 30. Oktober kam es erneut zu heftigenAusschreitungen, bei denen auch Muslimeaus anderen Volksgruppen wie z. B. der Min-derheit der Kaman angegriffen wurden. Nachoffiziellen Angaben kamen etwa 160 Menschenums Leben. Die tatsächliche Zahl der Todes-opfer kann allerdings wesentlich höher liegen.

Am 17. August richtete die Regierung eineKommission ein, die die Gründe für die Aus-schreitungen im Unionsstaat Rakhine untersu-chen sollte. Die Kommission setzte sich ausAngehörigen der meisten betroffenen Gruppenzusammen; auch ehemalige politische Gefan-gene und sechs Vertreter der muslimischen Be-völkerung gehörten ihr an, jedoch kein Vertre-ter der Minderheit der Rohingya. Im Novemberwurden zwei der Muslim-Vertreter abberufen.Den Abschlussbericht hatte die Kommission bisEnde 2012 noch nicht veröffentlicht.

LandstreitigkeitenIm Verlauf des Jahres kam es zu heftigen Pro-testen gegen Landraub und Landvertreibun-gen. Ein eigens eingerichteter Parlamentsaus-schuss sollte die Landstreitigkeiten untersu-chen. Berichten zufolge befasste sich der Aus-schuss im letzten Quartal des Jahres mit meh-reren Hundert der insgesamt 4000 Fälle vonLandvertreibungen, die ihm vorlagen. Anfang2013 soll er seine Ergebnisse im Parlament vor-stellen.ý In den frühen Morgenstunden des 29. No-vember 2012 löste die Polizei gewaltsam einLager von Demonstrierenden auf, die gegen dieErweiterung der Kupfermine Letpadaung inMonya in der Region Sagaing sowie gegen diedamit verbundenen Landvertreibungen unddie Berichten zufolge bereits eingetretenenUmweltschäden protestierten. Einige der De-

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monstrierenden, darunter auch Mönche, tru-gen erhebliche Verletzungen davon. Im De-zember wurde Aung San Suu Kyi zur Vorsitzen-den einer Kommission ernannt, die den Aus-bau der Kupfermine und das harte Vorgehender Sicherheitskräfte gegen die Protestieren-den untersuchen soll.

Obwohl die Regierung 2012 zwei Gesetze mitRegelungen zum Besitz und zur Nutzung vonlandwirtschaftlich verwertbarem Land sowievon brachliegendem und ungenutztem Landverabschiedete, konnten die Bauern nicht wirk-sam vor der Beschlagnahme ihres Landesdurch die Behörden geschützt werden.

Im März 2012 wurde mit einer Änderung desWard or Village Tract Administration Act derTatbestand der Zwangsarbeit unter Strafe ge-stellt. Im Juli genehmigte die Regierung einenAktionsplan, mit dem bis 2015 jegliche Formvon Zwangsarbeit abgeschafft werden soll.Insbesondere in den vorwiegend von ethni-schen Minderheiten bewohnten Gebietenwurde diese Praxis jedoch weiter fortgesetzt.

Recht auf VersammlungsfreiheitIm Juli 2012 setzte die Regierung das im No-vember 2011 vom Parlament verabschiedeteVersammlungs- und Demonstrationsgesetz inKraft, gemäß dem jede Demonstration min-destens fünf Tage im Voraus beantragt werdenmuss. Darüber hinaus heißt es in dem Gesetz:»Dem Antrag sollte stattgegeben werden, so-fern keine Verstöße gegen die Rechtsstaatlich-keit und die geltenden Gesetze zum Schutz derÖffentlichkeit oder Störungen von Ruhe undOrdnung zu erwarten sind.«

Bei einigen nicht genehmigten gewaltfreienDemonstrationen wurden einzelnen Organisa-toren oder Teilnehmern Verstöße gegen Artikel18 dieses Gesetzes vorgeworfen. Sie müssenmit einer Haftstrafe von einem Jahr für jede Ge-meinde rechnen, durch die die Demonstrationführte.ý Auch die Organisatoren eines nicht geneh-migten Friedensmarschs im September wur-den nach diesem Gesetz belangt. Da er das Ge-biet mehrerer Gemeinden berührte, werdensie auch mehrfach unter Anklage gestellt.

ý Mindestens sechs engagierten Bürgern, dieam 1. Dezember in Yangon an einer nicht ge-nehmigten Demonstration teilnahmen, wurdenVerstöße gegen Artikel 18 des Versammlungs-und Demonstrationsgesetzes zur Last gelegt.Die Demonstrierenden hatten ihre Besorgnisüber das harte Vorgehen der Sicherheitskräftebei den Protesten gegen die Kupfermine inMonya, Region Sagaing, zum Ausdruck bringenwollen.

Recht auf freie MeinungsäußerungAm 20. August 2012 gab das Informationsmi-nisterium die Abschaffung der Vorab-Zensuraller zur Veröffentlichung bestimmten Texte be-kannt und erließ am selben Tag strenge Veröf-fentlichungsleitlinien, nach denen u. a. Kritik ander Politik der Regierung verboten ist. Das Mi-nisterium verlangt weiterhin, dass alle Artikelnach der Veröffentlichung bei einer Prüfstelleeingereicht werden.

Anfang August richtete die Regierung einenneuen Presserat ein, der bis zum Inkrafttreteneines neuen Mediengesetzes für alle Medien-fragen zuständig ist. Aus Journalistenkreisenwurde heftige Kritik an der Zusammensetzungdes Rates, seinem Mangel an Unabhängigkeitund an seinen Befugnissen geäußert. MitteSeptember wurde dann ein neuer Interims-Presserat eingerichtet, dessen Mitglieder mehr-heitlich Journalisten sind.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenHunderte von Menschen, darunter auch Kin-der, wurden ohne rechtliche Grundlage festge-nommen und ohne Kontakt zur Außenwelt undausreichende ärztliche Versorgung in Haft ge-halten und mussten grausame, unmenschlicheund erniedrigende Behandlung ertragen.Auch 2012 gab es einige Berichte über Folterund andere Misshandlungen im Gewahrsamder Sicherheitskräfte, darunter auch Fälle mitTodesfolge.ý Dr. Tun Aung, Arzt und Vorsitzender des Isla-mischen Religionsrates in Maungdaw im Uni-onsstaat Rakhine, wurde am 11. Juni 2012 un-ter dem Vorwurf festgenommen und inhaftiert,

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in Maungdaw gewalttätige Ausschreitungenausgelöst zu haben. In der zweiten Jahres-hälfte wurde er zu elf Jahren Haft verurteilt. Ver-mutlich war er wegen seiner Rolle als Vertreterder muslimischen Gemeinde in Maungdaw insVisier der Sicherheitskräfte geraten. Dr. TunAung gilt als gewaltloser politischer Gefangener.ý Im Juli kam 2012 der 19-jährige Myo MyintSwe auf einer Polizeiwache in Yangon (Ran-gun) ums Leben. Er war der Beteiligung aneinem Mord bezichtigt worden. Seine Leichewies Folterspuren auf.

AmnestienIm Jahr 2012 wurden über 8500 Gefangene ausder Haft entlassen, darunter Hunderte von ge-waltlosen politischen Gefangenen. Die meistenwurden nach Artikel 401 des Strafgesetzbuchsauf Bewährung freigelassen. Bei erneuten Ver-stößen müssen sie auch den Rest ihrer Frei-heitsstrafe absitzen.

TodesstrafeAnfang Januar 2012 wandelte der Präsident dieUrteile aller Häftlinge im Todestrakt in lebens-lange Haftstrafen um. Dennoch wurden im Laufdes Jahres erneut mindestens 17 Todesurteileverhängt.

StraflosigkeitDie nationale Menschenrechtskommissiondurfte keine mutmaßlichen Fälle von Men-schenrechtsverletzungen bearbeiten, die vorihrer Einrichtung am 5. September 2011 be-gangen worden waren. Es gab keinen umfas-senden, unabhängigen Mechanismus für Un-tersuchungen zu möglichen Kriegsverbrechenund Verbrechen gegen die Menschlichkeit;die Opfer und ihre Angehörigen hatten somitkeine angemessene Möglichkeit, ihr Recht aufWahrheit, Gerechtigkeit und Entschädigungdurchzusetzen. Zahlreiche Fälle von schwerenMenschenrechtsverletzungen wurden nicht ge-ahndet.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Vertreter von Amnesty International besuchten Myanmar

im Mai, November und Dezember.

ÿ Revisiting human rights in Myanmar, http://amnesty.org/en/library/info/ASA16/003/2012/en

ÿ Myanmar: Meet immediate humanitarian needs and addresssystemic discrimination, http://amnesty.org/en/library/info/ASA16/008/2012/en

ÿ Myanmar: Open letter to the Minister of Home Affairs,http://amnesty.org/en/library/info/ASA16/016/2012/en

NamibiaAmtliche Bezeichnung: Republik NamibiaStaats- und Regierungschef:

Hifikepunye Pohamba

Der langwierige Hochverratsprozess ge-gen die Caprivi-Häftlinge wurde fortge-setzt. Die meisten dieser Männer habenmehr als zwölf Jahre in Haft verbracht.Mitglieder der regierenden South WestAfrica People’s Organization (SWAPO)genossen weiterhin Straflosigkeit für dieMenschenrechtsverstöße, die sie anihren politischen Gegnern verübt hatten.Ethnische Minderheiten wurden ausge-grenzt und aus Entscheidungsprozessenausgeschlossen.

Prozess gegen Caprivi-Häftlingeý Die letzten der 379 Zeugen im Caprivi-Hoch-verratsprozess machten ihre Aussagen, unddie Staatsanwaltschaft schloss am 7. Februar2012 das Anklageverfahren beim erstinstanz-lichen Gericht (High Court) ab. Gegen die 111Männer, deren Fälle noch vor Gericht verhan-delt werden, wurden insgesamt 278 Anklage-punkte vorgetragen, darunter Hochverrat,Mord in neun Fällen und versuchter Mord in240 Fällen. Die Anklagen stehen im Zusam-menhang mit einer mutmaßlichen Verschwö-rung im Zeitraum von Januar 1992 bis Dezem-ber 2002 mit dem Ziel, die Caprivi-Region vomRest Namibias abzuspalten. Nach Abschlussdes Anklageverfahrens durch die Staatsanwalt-

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schaft wurde einer der Verdächtigen, RodwellKasika Mukendwa, der am 26. August 1999 ver-haftet worden war, am 10. August 2012 freige-lassen.

Amnesty International betrachtet viele der Ca-privi-Häftlinge als mutmaßlich gewaltlose poli-tische Gefangene, weil sie ausschließlich wegenihrer tatsächlichen oder vermeintlichen politi-schen Ansichten, ihrer ethnischen Zugehörig-keit oder ihrer Mitgliedschaft in bestimmtenOrganisationen festgenommen worden waren.Das Verfahren gegen die Gruppe wurde aufder Grundlage der sogenannten Doktrin der ge-meinsamen Absicht (Doctrine of common pur-pose) geführt, die die Staatsanwaltschaft imWesentlichen der Pflicht enthebt, zweifelsfreibeweisen zu müssen, dass das Verhalten einesjeden der Beteiligten kausal zum Straftatbe-stand beigetragen hat. Die Doktrin verlagert dieBeweislast von der Staatsanwaltschaft auf dieAngeklagten und unterminiert damit das Rechtauf die Unschuldsvermutung.

Rechte auf Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Polizei und Mitglieder der SWAPO verletztendas Recht auf Durchführung friedlicher Ver-sammlungen sowie das Recht auf Vereini-gungsfreiheit.

ý Im Oktober 2012 nahm die Polizei in Oshakatisieben Lehrer fest, weil diese gegen schlechteArbeitsbedingungen demonstriert hatten. Siegehörten zu den ca. 300 Lehrkräften, die mitder Forderung nach gerechten Gehältern undbesseren Arbeitsbedingungen im Rahmeneines landesweiten Arbeitskampfes ihres Be-rufsstandes in Streik getreten waren.

HaftbedingungenDie meisten Gefängnisse und Haftzentren wa-ren weiterhin überfüllt. In einigen Haftanstal-ten waren mehr als doppelt so viele Personenuntergebracht wie ursprünglich geplant. ImZentralgefängnis von Windhoek, das für 912 In-sassen ausgelegt war, saßen ca. 2000 Häft-linge und Untersuchungsgefangene ein. Ähn-liche Bedingungen herrschten in den StädtenOndangwa, Swakopmund, Oshakati und Otji-warango.

Gewalt gegen Frauen und MädchenGeschlechtsspezifische Gewalt gab 2012 nachwie vor Anlass zu großer Besorgnis. ZahlreicheFrauen wurden von ihrem Lebenspartner beihäuslichen Streitigkeiten umgebracht.ý Am 1. Februar starb Fransina NdinelagoAmuteka im Dorf Ondukutu bei Ondangwa,nachdem ihr Freund sie mit Messerstichentraktiert und ihr die Kehle durchgeschnittenhatte.ý Am 15. Februar starb Melody Monde Mbo-lolwa in der Stadt Katima Mulilo (Region Ca-privi), Mavuluma Extension Nr. 2, nachdemihr Freund ihr neun Messerstiche zugefügthatte.ý Am 19. Juli wurde die Studentin Letitia Ndes-huulilwe Nghilongwa in der Siedlung Omu-lamba in der Stadt Omusati von ihrem Freunderschossen.ý Am 20. September wurde Tangi NangukaMartin aus dem Dorf Epuku in der RegionOhangwena von ihrem Ehemann getötet.

DiskriminierungIm September 2012 hob der UN-Sonderbericht-erstatter über die Situation der Menschen-rechte und Grundfreiheiten der Angehörigen

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Nepal 301

indigener Bevölkerungsgruppen bei seinemBesuch in Namibia die fortgesetzte Ausgren-zung der Minderheiten des Landes hervor.Kinder der Bevölkerungsgruppen der Sanund Himba und anderer ethnischer Minder-heiten werden durch zahlreiche Beschränkun-gen am Zugang zu Bildung gehindert. Dies istinsbesondere in Opuwo bei den Kindernder Himba der Fall, die gezwungen sind, ihrHaar kurz zu schneiden, um eine öffentlicheSchule besuchen zu können, und dort auchnicht in ihrer traditionellen Kleidung erscheinendürfen.

NepalAmtliche Bezeichnung:

Demokratische Bundesrepublik NepalStaatsoberhaupt: Ram Baran YadavRegierungschef: Baburam Bhattarai

Die Straflosigkeit wurde von der Regie-rung weiter gefördert, indem sie Straf-verfahren gegen mutmaßliche Verant-wortliche für Menschenrechtsverletzun-gen einstellte und sie in führende öffent-liche Ämter beförderte. Außerdem ver-suchte die Regierung eine Instanz zuschaffen, die die Befugnis hat, Amnes-tieempfehlungen für Völkerrechtsverbre-chen auszusprechen. Föderalismusde-batten führten in mehreren Teilen des

Landes zu politischer Gewalt. Im ge-samten Berichtsjahr wurden willkürlicheInhaftierungen, Folter und außerge-richtliche Hinrichtungen gemeldet.

HintergrundDie Verfassunggebende Versammlung wurdeam 27. Mai 2012 aufgelöst, bevor eine neueVerfassung fertiggestellt werden konnte. Trotzvierjähriger Verhandlungen hatten sich die po-litischen Parteien in mehreren wichtigen Fragennicht einigen können. Die politische Auseinan-dersetzung um ein geeignetes Föderalismus-modell und die Forderungen nach mehr Auto-nomie für ethnische Minderheiten und indigeneBevölkerungsgruppen verschärften sich undführten zu gewalttätigen Zusammenstößen so-wie zu Zerwürfnissen zwischen und innerhalbder Parteien. Im Oktober gab die Regierung be-kannt, dass der Prozess zur Integration ehe-maliger maoistischer Kämpfer in die nepalesi-sche Armee gemäß dem Friedensabkommenund der Übergangsverfassung von 2007 abge-schlossen sei. Im Januar verabschiedete dieRegierung ein Gesetz, das eine stärkere staat-liche Kontrolle der Arbeit der nepalesischenMenschenrechtskommission vorsieht.

ÜbergangsjustizAm 28. August 2012 schlug der Ministerrat eineVerordnung zur Einrichtung einer Kommissionfür die Untersuchung von Fällen »verschwun-dener« Personen sowie für Wahrheit und Ver-söhnung vor und kippte damit das Vorhaben,zwei separate Kommissionen für diese Be-lange zu schaffen. Die neue Kommission würdedie Befugnis haben, Amnestien für schwereMenschenrechtsverletzungen zu empfehlen,nicht jedoch eine strafrechtliche Verfolgungfür mutmaßliche Verbrechen. Damit würdenNepals rechtliche Verpflichtungen zur Straf-verfolgung von Verbrechen gemäß dem Völker-recht ignoriert. Im Oktober veröffentlichte dasBüro der UN-Hochkommissarin für Menschen-rechte einen Bericht zu den Verstößen gegeninternationale Menschenrechtsstandards unddas humanitäre Völkerrecht, die während desbewaffneten Konflikts in Nepal begangen wur-

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302 Nepal

den. Zusammen mit dem Bericht wurde eineSammlung von etwa 30000 Dokumenten undFällen vorgelegt.

StraflosigkeitBemühungen, die strafrechtliche Verfolgungvon Menschenrechtsverletzungen sowie dieRechte der Opfer auf Gerechtigkeit, Wahrheitund Entschädigung zu gewährleisten, wurden2012 durch die Regierung unterlaufen, die mut-maßliche Verantwortliche von Menschen-rechtsverletzungen in gehobene Staatsämterbeförderte.ý Im September wurde Kuber Singh Rana, ge-gen den wegen des Verschwindenlassens undder außergerichtlichen Hinrichtung von fünfStudenten im Jahr 2003 im Bezirk Dhanushaermittelt wurde, zum Generalinspektor der Poli-zei befördert.ý Die Beförderung von Raju Basnet, einem derMitschuld an Kriegsverbrechen verdächtigtenOberst, zum Brigadegeneral im Oktober wurdevon Menschenrechtsverteidigern nachdrück-lich verurteilt. Nach einem Beschluss desObersten Gerichtshofs wurde die Beförderungnoch im gleichen Monat ausgesetzt.

Die Regierung forderte auch weiterhin eineRücknahme von Strafanklagen gegen Mitglie-der politischer Parteien und bezog sich dabeiauf eine im Friedensabkommen enthalteneVerpflichtung sowie auf nachfolgende Verein-barungen, denen zufolge Fälle »politischer«Natur zurückgezogen werden sollten. Die ge-naue Definition eines »politischen Falls« bliebjedoch aus. Es wurden zahlreiche Rücknahme-empfehlungen für Fälle von Mord, Entführungund anderen Schwerverbrechen ausgespro-chen.

Rechte von ArbeitsmigrantenNach wie vor wurden Arbeitsmigranten zumZweck der Ausbeutung und Zwangsarbeit ver-mittelt. Die Arbeitsvermittlungen erhoben dabeiVermittlungsgebühren, die über den staatlichfestgelegten Höchstsätzen lagen. Dadurch wa-ren Arbeiter gezwungen, große Darlehen zuhohen Zinssätzen aufzunehmen. Anwerbertäuschten zahlreiche Arbeiter hinsichtlich der

Entlohnung und Arbeitsbedingungen. Nur sel-ten wurden Arbeitsvermittlungen, die gegendas nepalesische Gesetz verstoßen hatten, zurVerantwortung gezogen. Ausgleichs- und Ent-schädigungsmechanismen wurden kaum ge-fördert, waren zentral verwaltet und schwerzugänglich.ý Im August 2012 erließ die Regierung ein Ver-bot, das Frauen unter 30 Jahren untersagte,als Hausangestellte nach Kuwait, Katar, Saudi-Arabien oder in die Vereinigten ArabischenEmirate zu migrieren, nachdem es in diesenLändern wiederholt Beschwerden wegen se-xuellen und anderen physischen Missbrauchsgegeben hatte. Das Verbot erhöhte möglicher-weise die Risiken für Frauen, die nun gezwun-gen waren, auf anderen Wegen Arbeit zu fin-den. Zwei Arbeitsminister wurden wegen Kor-ruptionsverdachts vom Premierminister zumRücktritt gezwungen. Dennoch standen Ver-mittlungsagenturen weiter über dem Gesetz,und nur wenige verloren wegen illegaler Prakti-ken ihre Zulassungen.

Folter und andere MisshandlungenObwohl Nepal seit 1991 Vertragsstaat des UN-Übereinkommens gegen Folter ist, war Folternach nepalesischem Recht noch immer keineStraftat. Im April 2012 gab der MinisterratPläne bekannt, Folter per Gesetz unter Strafe zustellen. Zum Zeitpunkt der Auflösung der Ver-fassunggebenden Versammlung war jedochnoch keine entsprechende Gesetzesvorlageeingereicht worden. Im Juli erinnerte der UN-Menschenrechtsausschuss Nepal an seineVerpflichtungen, ein Gesetz zu erlassen, mitdem Folter definiert und unter Strafe gestelltwird, sowie alle Gesetze aufzuheben, die mut-maßlichen Verantwortlichen von Folter undVerschwindenlassen Straffreiheit gewähren.Nach wie vor waren Folter und anderweitigeMisshandlungen in Polizeigewahrsam weit ver-breitet. Der UN-Ausschuss gegen Folter kamin seinem jährlichen Bericht zu dem Schluss,dass Folter in Nepal gewohnheitsmäßig, weitverbreitet sowie vorsätzlich und somit letztend-lich systematisch angewandt wurde.

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Neuseeland 303

Misshandlungen in der Terai-RegionBerichten zufolge nahmen die Aktivitäten be-waffneter Gruppen in der Terai-Region ab.Aufgrund der fehlenden Verantwortungsüber-nahme für vergangene Verstöße und einerlangjährigen Kultur der Straflosigkeit wurden je-doch weiterhin Verletzungen und Verstöße sei-tens der Bewaffneten Polizei und der PolizeiNepals sowie durch bewaffnete Gruppen ge-meldet. Zu den Verstößen gehörten willkürlicheInhaftierungen, Folter und außergerichtlicheHinrichtungen. Ein hohes Maß an Verunsiche-rung und Angst vor Vergeltungsmaßnahmenstellten für Opfer und Menschenrechtsverteidi-ger in der Region ein großes Hindernis aufdem Weg zu Gerechtigkeit dar.

DiskriminierungEs kam weiterhin zu Diskriminierungen auf-grund der Kastenzugehörigkeit, aus ethni-schen und religiösen Gründen, aufgrund desGeschlechts, der wirtschaftlichen Situationund aufgrund von Behinderungen.ý Im Oktober 2012 wurde Bhim Bahadur, einAngehöriger der Dalit aus dem Distrikt Dai-lekh, Berichten zufolge mit schweren Verlet-zungen ins Krankenhaus gebracht. Er war miteiner Sichel attackiert worden, weil er dieHaupteingangstür eines Hauses berührt hatte,das einem Angehörigen einer herrschendenKaste gehörte. Dalits und in Armut lebendeFrauen und Mädchen aus ländlichen Gebietenwurden diskriminiert, was ihren Zugang zuGerechtigkeit, Bildung und Gesundheitsleistun-gen betraf.

MüttergesundheitDas hohe Vorkommen von Gebärmuttersen-kungen in Nepal war im Wesentlichen auf Fak-toren wie Armut, Geschlechterdiskriminierung,Mangelernährung, das Fehlen erfahrener Ge-burtshelfer und einer gynäkologischen Ambu-lanz sowie auf eine hohe Arbeitsbelastung inund nach der Schwangerschaft zurückzufüh-ren. Insgesamt erlitten etwa 600000 Frauen inNepal eine Gebärmuttersenkung, von denen200000 sofort operativ behandelt werdenmussten. Die Regierung organisierte OP-Camps

zur Behandlung der betroffenen Frauen, vie-len war dies jedoch nicht bekannt. Nepal hattenicht ausreichend in Präventivmaßnahmen,Alternativen zu chirurgischen Eingriffen undNachsorge investiert. Berichten zufolge unter-zogen sich 24498 Frauen zwischen 2008 und2011 einem Uteruseingriff. Über ihren Ge-sundheitszustand lagen jedoch meist keineweiteren Informationen vor.

NeuseelandAmtliche Bezeichnung: NeuseelandStaatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten

durch Jerry MateparaeRegierungschef: John Key

Ein neues Gesetz drohte die Rechte vonAsylsuchenden zu untergraben. Esherrschte weiterhin ein hohes Maß anKinderarmut, von der die Gemeinschaf-ten der indigenen Maori und der Pazifik-Insulaner unverhältnismäßig stark be-troffen waren. Gewalt gegen Frauen warnach wie vor weit verbreitet, die Behör-den versäumten es jedoch, ausreichendDaten darüber zu sammeln, in welchemAusmaß Frauen von Gewalttaten betrof-fen waren. Hierbei fehlten vor allem

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304 Nicaragua

Datenerhebungen zu Frauen, die Minder-heiten angehören.

Rechtliche, verfassungsmäßige undinstitutionelle EntwicklungenEine von der Regierung in Auftrag gegebeneStudie über Verfassungsfragen wurde im Be-richtsjahr fortgesetzt. Thema der Studie waru. a., ob es in Neuseeland eine schriftlich nie-dergelegte Verfassung geben soll. Bis Oktober2012 hatte sich das Gremium für die Revisionder Verfassung (Constitutional Review Panel)mit 56 Organisationen beraten. Bis Ende desJahres hatten diesbezüglich jedoch noch keineöffentlichen Konsultationen stattgefunden.

Im Mai 2012 äußerte sich der UN-Ausschussüber wirtschaftliche, soziale und kulturelleRechte besorgt darüber, dass diese Rechtenoch immer nicht in den GrundrechtekatalogNew Zealand Bill of Rights Act von 1990 aufge-nommen worden waren. Der Ausschuss bean-standete zudem Neuseelands Versäumnis, dieRechte indigener Völker an ihren Gebieten,Territorien, Gewässern, Meeres- und Küstenre-gionen sowie an anderen Ressourcen in aus-reichendem Umfang zu schützen.

KinderrechteKinderarmut war nach wie vor stark verbreitet.Laut einer Studie des Ministeriums für Sozial-entwicklung vom August 2012 lebten bis zu270000 Kinder in Armut, von denen 47% denGemeinschaften der Maori oder der Pazifik-Insulaner angehörten.

FrauenrechteIm Juli prüfte der UN-Ausschuss für die Besei-tigung der Diskriminierung der Frau (CEDAW-Ausschuss) Neuseelands regelmäßigen Berichtund äußerte sich besorgt über das unvermin-dert hohe und weiter zunehmende Maß an Ge-walt gegen Frauen. Der Ausschuss kritisierteNeuseelands Versäumnis, ausreichende statis-tische Daten über Gewalttaten gegen Frauenzu sammeln. Vor allem wurden die fehlendenErhebungen zu Gewalttaten gegen Maori-Frauen, Migrantinnen und Frauen mit Behinde-rungen bemängelt.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenIm August 2012 wurde das Gesetz zur ehe-lichen Gleichstellung (Marriage [Equality]Amendment Bill) in der ersten von drei Lesun-gen mit 80 gegen 40 Stimmen angenommen.Mit dem Gesetz soll die Definition der Ehe, wiesie im Ehegesetz (Marriage Act) von 1955 dar-gelegt ist, näher erläutert werden. Das neue Ge-setz würde eine Ehe zwischen zwei Personenunabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sexu-ellen Orientierung oder ihrer geschlechtlichenIdentität gestatten. Die endgültige Verabschie-dung des Gesetzes steht noch aus.

Flüchtlinge und AsylsuchendeIm April 2012 wurde dem Parlament ein neuesGesetz über in großen Gruppen eintreffendeAsylsuchende (Immigration Amendment [MassArrivals] Bill) zur Abstimmung vorgelegt. Die-ses Gesetz gestattet die zeitlich unbegrenzte In-haftierung von Asylsuchenden, die in Gruppenvon mehr als zehn Personen auf dem Seewegnach Neuseeland einreisen, sowie Beschrän-kungen bei der Familienzusammenführungund dem Zugang zu gerichtlicher Überprü-fung. Das Gesetz verleiht den Behörden zudemneue Befugnisse, um die Bearbeitung vonAsylanträgen auszusetzen. Bis zum Jahresendewar das Gesetz noch nicht verabschiedet wor-den.

NicaraguaAmtliche Bezeichnung: Republik NicaraguaStaats- und Regierungschef:

Daniel Ortega Saavedra

Alle Arten von Schwangerschaftsabbrü-chen standen nach wie vor unter Strafe.Ein neues Gesetz über Gewalt gegenFrauen trat in Kraft. Die meisten Opfer

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Nicaragua 305

von Vergewaltigung und anderer sexuel-ler Gewalt waren Mädchen, die 17 Jahreoder jünger waren.

HintergrundNach den Kommunalwahlen im Novemberwurden drei Personen getötet und zahlreicheweitere verletzt. Vorwürfe von Betrug und Unre-gelmäßigkeiten gegen die regierende Sandi-nistische Nationale Befreiungsfront (FrenteSandinista de Liberación Nacional – FSLN)und gegen kleinere Parteien, die mit ihr ver-bündet sein sollen, verschärften im Vorfeld derWahlen die Spannungen, die Berichten zufolgeauch am Wahltag anhielten.

Willkürliche Inhaftierung, Folterund andere MisshandlungenZwei Wochen nach den Kommunalwahlen führ-ten anhaltende Vorwürfe des Wahlbetrugs zuZusammenstößen zwischen Unterstützern deroppositionellen Konstitutionellen LiberalenPartei (Partido Liberal Constitucionalista – PLC)und Anhängern der regierenden FSLN inNueva Guinea in der autonomen Region Atlán-tico Sur.

Berichten von Menschenrechtsorganisatio-nen zufolge wurden Anhänger der PLC von derPolizei festgenommen und im Gewahrsammisshandelt. Inhaftierte berichteten, dass siegeschlagen worden seien, und Frauen undMädchen sagten aus, dass sie in Polizeige-wahrsam gezwungen worden seien, sich vorPolizisten auszuziehen. Diese hätten sie ge-demütigt und ihnen sexuelle Gewalt ange-droht.

Gewalt gegen Frauen und MädchenWährend der ersten sechs Monate des Jahres2012 erhielt das Polizeikommissariat fürFrauen und Kinder (Comisaría de la Mujer yla Niñez) 1862 Anzeigen wegen sexueller Ge-walt. 1048 der Opfer waren Kinder bis zu einemAlter von 14 Jahren, und 80% aller Opfer wa-ren 17 Jahre alt oder jünger. Zwar enthieltendie Statistiken keine Angaben über das Ge-schlecht der Opfer, doch zeigten frühere regie-rungsamtliche Statistiken, dass hauptsächlichFrauen und Mädchen von sexueller Gewalt be-troffen waren.ý Im Oktober 2012 wurde die Polizei in Mata-galpa im Norden Nicaraguas angewiesen,einen Haftbefehl gegen einen Lehrer zu voll-strecken, der beschuldigt wurde, eine 14-jäh-rige Schülerin sexuell missbraucht zu haben.Der Haftbefehl wurde jedoch nicht ausgeführt,weil dem Vernehmen nach im Gefängnis keinPlatz war und die Polizei nicht über die not-wendigen Kapazitäten verfügte. Berichten zu-folge floh der Lehrer aus der Stadt. ZumJahresende befand sich der Beschuldigte nochimmer auf freiem Fuß.

Das Allgemeine Gesetz über Gewalt gegenFrauen (Ley Integral contra la Violencia hacialas Mujeres – Ley 779) trat im Juni 2012 inKraft. Obwohl das Gesetz ein Schritt nach vornwar, gab der Mangel an Ressourcen, die fürseine Umsetzung erforderlich sind, weiterhinAnlass zu Besorgnis.

Sexuelle und reproduktive RechteAlle Arten von Schwangerschaftsabbrüchenwaren 2012 nach wie vor gesetzwidrig.

Im Mai besuchte die Sonderberichterstatterinfür die Rechte der Frau der Interamerikani-schen Kommission für Menschenrechte Nica-ragua und forderte die Regierung nachdrück-lich auf, das absolute Verbot von Schwanger-schaftsabbrüchen aufzuheben und den Zu-sammenhang zwischen geschlechtsspezifi-scher Gewalt und sexuellen und reproduktivenRechten zu untersuchen.

Im Juli gab das Gesundheitsministerium be-kannt, dass in den Jahren 2000–09 die An-zahl der Kinder, die von Mädchen im Alter von

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306 Niederlande

zehn bis 14 Jahren zur Welt gebracht wurden,um 47,9% zugenommen habe. Geschlechts-verkehr mit einem Kind unter 14 Jahren giltnach nicaraguanischem Gesetz als Vergewalti-gung.

Am 28. September protestierten Menschen-rechtsgruppen und Frauenorganisationen ge-gen die ablehnende Haltung der Regierung ge-genüber einer Aufhebung des ausnahmslosenVerbots von Schwangerschaftsabbrüchen. DieProteste richteten sich auch gegen die immernoch nicht erfolgte Entscheidung des OberstenGerichtshofs über eine bereits im Jahr 2007eingebrachte Verfassungsklage gegen das voll-ständige Verbot.

NiederlandeAmtliche Bezeichnung:

Königreich der NiederlandeStaatsoberhaupt:

Königin Beatrix Wilhelmina ArmgardRegierungschef: Mark Rutte

Die im September 2012 neu gewählteKoalitionsregierung schlug vor, denrechtswidrigen Aufenthalt in den Nieder-landen unter Strafe zu stellen und einTeilverbot für das Tragen von gesichtsver-

hüllender Kleidung zu verhängen. Eskam weiterhin zu unverhältnismäßig vie-len Inhaftierungen von Migranten.

Rechtliche, verfassungsrechtlicheund institutionelle EntwicklungenIm September 2012 bekräftigte die niederländi-sche Regierung ihre Absicht, einen nationalenMenschenrechtsaktionsplan zu entwickeln unddamit einer Empfehlung im Rahmen der Uni-versellen Regelmäßigen Überprüfung durchden UN-Menschenrechtsrat vom Mai nachzu-kommen.

Im Oktober nahm die neu eingesetzte Natio-nale Menschenrechtsinstitution ihre Arbeitauf.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenEs kam weiterhin unverhältnismäßig oft zu In-haftierungen von Migranten, obwohl Pilotpro-jekte für einen alternativen Umgang mit be-stimmten Gruppen von Migranten und Asylsu-chenden eingeführt worden waren. Die Bedin-gungen in den Haftzentren für Migranten ent-sprachen zum großen Teil denen in Gefängnis-sen.

Die Arbeit der Kommission für eine umfas-sende Kontrolle der Rückführung (CommissieIntegraal Toezicht Terugkeer – CITT) war weiter-hin nicht vollständig transparent. Die CITT isteine Einrichtung, die Abschiebungen beobach-tet, und gehört zu den nationalen Präventiv-maßnahmen, die gemäß dem Fakultativproto-koll des UN-Übereinkommens gegen Folter er-griffen wurden. Die von der CITT veröffentlich-ten Jahresberichte enthalten keine spezifi-schen Daten über den Einsatz von Gewalt beieinzelnen Abschiebungsverfahren.

Im Oktober schlug die neue Koalitionsregie-rung Neuregelungen zum rechtswidrigen Auf-enthalt in den Niederlanden vor, die eine Krimi-nalisierung bedeuten würden. Dies rief Be-sorgnis über eine mögliche weitere Marginali-sierung sowie eine erhöhte Schutzlosigkeit vonMigranten ohne regulären Aufenthaltsstatushervor.

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Niger 307

DiskriminierungIm Oktober 2012 schlug die Koalitionsregierungdie Verabschiedung von Maßnahmen zur Be-kämpfung der Diskriminierung aufgrund dersexuellen Orientierung sowie die Ratifizierungdes UN-Übereinkommens über die Rechte vonMenschen mit Behinderungen vor.

Die Regierung empfahl jedoch auch ein Teil-verbot für das Tragen von gesichtsverhüllen-der Kleidung bei Frauen in öffentlichen Trans-portmitteln, Gesundheitszentren, Schulen undRegierungsgebäuden. Befürchtungen wurdenlaut, dass ein solches Verbot die Rechte auffreie Meinungsäußerung und Religionsfreiheitvon Frauen verletzen könnte, die die Burkaoder den Niqab als Ausdruck ihrer Identitätoder ihres Glaubens tragen.

Es bestanden nach wie vor Bedenken wegendiskriminierender Vorgehensweisen und Maß-nahmen der Mitarbeiter der Strafverfolgungsbe-hörden wie z. B. der Erstellung von Persönlich-keitsprofilen nach ethnischen Kriterien.

Internationale StrafverfolgungIm April 2012 fällte der Oberste Gerichtshof derNiederlande ein Urteil zu der Frage, ob dieUN-Schutztruppe für den Tod bosnischer Mus-lime während des Völkermordes in Srebrenicaim Jahr 1995 verantwortlich gemacht werdenkönne. Der Gerichtshof entschied, dass dieUN vor nationalen Gerichten Immunität genie-ßen. Die Familien der Opfer legten gegen dieseEntscheidung Rechtsmittel vor dem Europäi-schen Gerichtshof für Menschenrechte ein.

Amnesty International: Berichteÿ Netherlands: Submission to the UN Universal Periodic

Review, http://amnesty.org/en/library/info/EUR35/001/2012/en

ÿ Europe: Choice and prejudice: Discrimination againstMuslims in Europe, http://amnesty.org/en/library/info/EUR01/001/2012/en

NigerAmtliche Bezeichnung: Republik NigerStaatsoberhaupt: Mahamadou IssoufouRegierungschef: Brigi Rafini

Menschen, die unter Verdacht standen,einer terroristischen Gruppierung anzu-gehören, wurden in der Haft misshan-delt. Eine bewaffnete Gruppe entführtemehrere Mitarbeiter humanitärer Hilfsor-ganisationen und ihren Fahrer und hieltsie drei Wochen lang gefangen.

HintergrundEs gab Zusammenstöße zwischen Regierungs-truppen und bewaffneten politischen Grup-pen, die ihre Stützpunkte in Mali und Nigeriahatten. Die Armee verstärkte die Sicherheits-vorkehrungen im Norden, um bewaffnete Grup-pierungen, die an Geiselnahmen, Drogenhan-del sowie bewaffneten Raubüberfällen beteiligtwaren, besser bekämpfen zu können.

Infolge der Krise nach dem Militärputsch inMali im März 2012 suchten mindestens 50000Menschen in Flüchtlingslagern in Niger Zu-flucht. In den Lagern fehlte es an lebensnot-wendigen Dingen, und es gab so gut wie keinemedizinische Versorgung.

Folter und andere MisshandlungenSieben Männer, unter ihnen auch nigerianischeStaatsbürger, wurden bei bzw. unmittelbarnach ihrer Festnahme misshandelt, weil manvon ihnen Geständnisse erpressen wollte. DieMänner wurden beschuldigt, Mitglieder von Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM) bzw.der bewaffneten islamistischen Gruppe BokoHaram aus Nigeria zu sein, und es wurdenihnen Terrorakte zur Last gelegt.ý Im April 2012 wurde Moustapha Madou AbbaKiari in Diffa an der Grenze zu Nigeria festge-nommen. Er wurde mit Faustschlägen und Trit-ten misshandelt. Ihm wurde vorgeworfen, Mit-glied von Boko Haram zu sein, und er wurdewegen terroristischer Verbrechen angeklagt.

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308 Nigeria

Menschenrechtsverstöße durchbewaffnete GruppenBewaffnete Gruppen entführten mehrere Men-schen, unter ihnen auch Ausländer.ý Im Oktober 2012 wurden fünf Mitarbeiter vonHilfsorganisationen – vier nigrische Staatsan-gehörige und ein Mitarbeiter aus dem Tschad –sowie ihr Fahrer, ein Nigrer, in Dakoro von Be-waffneten entführt und drei Wochen festgehal-ten. Die Geisel aus dem Tschad erlitt bei derEntführung Schussverletzungen, denen sie we-nig später erlag.

Internationale StrafgerichtsbarkeitDie libyschen Behörden forderten Niger auf,mehrere hochrangige Angehörige der Regie-rung des ehemaligen Präsidenten Mu’ammaral-Gaddafi, die nach Niger geflüchtet waren,an sie zu übergeben. Die nigrischen Behördenerklärten sich bereit, die Forderung zu prü-fen.ý Im Februar 2012 wurde Saadi al-Gaddafi, einSohn des ehemaligen libyschen Staatschefs,im Rahmen einer Interpol-Operation in Niameyunter Hausarrest gestellt. Er hatte Libyen zu-vor in einem arabischen Fernsehsender miteinem baldigen Aufstand gedroht. Ende desBerichtsjahres befand er sich weiter unterHausarrest.

Amnesty International: Missionþ Im April besuchten Delegierte von Amnesty International

Flüchtlingslager in Niger, in denen Flüchtlinge aus Maliuntergebracht waren.

NigeriaAmtliche Bezeichnung: Bundesrepublik NigeriaStaats- und Regierungschef: Goodluck Jonathan

Gewalt und Unsicherheit nahmen 2012zu, mindestens 1000 Menschen wurdenbei Angriffen der islamistischen Gruppie-rung Boko Haram in Zentral- und Nord-nigeria getötet. Die Polizei und Soldatenführten straffrei rechtswidrige Tötungendurch. Tausende Menschen im ganzenLand wurden aus ihren Häusern vertrie-ben. Rechtswidrige Inhaftierungen undwillkürliche Festnahmen waren an derTagesordnung.

HintergrundIm Januar 2012 riefen der nigerianische Ge-werkschaftsverband Nigeria Labour Congress,weitere Gewerkschaften und zivilgesellschaft-liche Organisationen aus Protest gegen die an-gekündigten Kürzungen der Benzinsubventio-nen einen landesweiten Streik aus. Die über-wiegend friedlichen Protestveranstaltungen be-gannen am 2. Januar und fanden unter Betei-ligung von Zehntausenden Menschen in ver-schiedenen Bundesstaaten statt. In mehrerenFällen schoss die Polizei auf Protestierende,und in den Bundesstaaten Kaduna, Kano undLagos starben mindestens drei Personen und25 wurden verletzt. Im Januar soll im Zusam-menhang mit dem Einsatz von Gewalt ein Poli-zeibeamter festgenommen und inhaftiert wor-den sein, doch bis Ende des Jahres war nichtsüber die Einleitung weiterer Schritte gegen ihnbekannt.

Am 20. Januar starben mindestens 186 Men-schen in der Stadt Kano, als Mitglieder von

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Nigeria 309

Boko Haram an acht verschiedenen OrtenSicherheitskräfte angriffen. Die Bombenan-schläge zogen einen mehrere Stunden anhal-tenden Schusswechsel zwischen Boko Haramund den Sicherheitskräften nach sich. Unterden Getöteten befanden sich Polizisten, ihreAngehörigen und Anwohner. Auch ein Journa-list des neuen Nachrichtensenders Channels,Enenche Akogwu, wurde dabei erschossen.

Im selben Monat rief Präsident Jonathan in15 Kommunen in vier Bundesstaaten den Aus-nahmezustand aus, der nach sechs Monatenauslief.

Im Nigerdelta kam es erneut zu Spannungen,als ehemalige Mitglieder der bewaffneten Be-wegung für die Emanzipierung des Nigerdeltas(Movement for the Emancipation of the NigerDelta – MEND) angaben, sie erhielten ihre mo-natlichen »Amnestie«-Zahlungen nicht, dieTeil einer Vereinbarung mit der Regierung sind.Die Gruppe gab außerdem an, sie sei unzufrie-den mit der Handhabung von Programmen zurReintegration von ehemaligen Kämpfern in dieGesellschaft.

Zwischen August und Oktober kamen bei derschwersten Überflutung in der Geschichte desLandes mehr als 300 Personen ums Leben, und1 Mio. Menschen in 15 Bundesstaaten muss-ten ihr Zuhause verlassen.

Boko HaramAngriffe von Boko HaramMehr als 1000 Menschen wurden 2012 bei An-griffen der bewaffneten islamistischen Grup-pierung Boko Haram getötet. Die Gruppe be-kannte sich zu Bombenanschlägen und An-griffen mit Schusswaffen in Nord- und Zentral-nigeria. Sie griff Polizeiwachen, Militärkaser-nen, Kirchen, Schulgebäude und Zeitungsre-daktionen an und tötete muslimische undchristliche Geistliche und Gläubige, Politikerund Journalisten sowie Polizisten und Solda-ten. Im November gab die Chefanklägerin desInternationalen Strafgerichtshofs bekannt, esbestehe die begründete Annahme, dass BokoHaram seit Juli 2009 Verbrechen gegen dieMenschlichkeit begangen habe.ý Am Ostersonntag im April kamen mindestens20 Menschen in der Stadt Kaduna ums Leben,als ein Selbstmordattentäter in der Nähe zweierKirchen eine Autobombe explodieren ließ.ý Am 26. April ließ Boko Haram eine Bombe inden Redaktionsräumen der nigerianischen Ta-geszeitung Thisday in Abuja explodieren undsprengte in Kaduna ein Gebäude in die Luft, indem sich drei Zeitungsredaktionen befanden.Mindestens sieben Menschen starben dabei.Am 1. Mai veröffentlichte Boko Haram eineWarnung an elf nigerianische und internatio-nale Medienhäuser.ý Am 17. Juni ließ Boko Haram bei drei Messenin Kaduna Bomben explodieren und tötete da-bei mindestens 21 Menschen. Racheakte zwi-schen Christen und Muslimen führten zumTod von mindestens 70 weiteren Personen.

Reaktionen der Polizei und derSicherheitsbehördenDie nigerianischen Sicherheitsbehörden begin-gen 2012 schwere Menschenrechtsverletzun-gen bei ihren Maßnahmen gegen Boko Haram– dazu gehörten Verschwindenlassen, außer-gerichtliche Hinrichtungen, das Abbrennen vonHäusern und rechtswidrige Inhaftierungen.

Zahlreiche Menschen wurden von der Ge-meinsamen Einsatztruppe (Joint Task Force –JTF) oder von der Polizei getötet. Die JTF setztsich aus Armee, Polizei und anderen Sicher-

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310 Nigeria

heitskräften zusammen und wurde ins Lebengerufen, um auf die Gewalt zu reagieren. Wei-tere Menschen fielen im Gewahrsam der Polizeioder der JTF dem Verschwindenlassen zumOpfer.

Die JTF brannte die Häuser von Menschen inmindestens fünf Gemeinden in Maiduguri nie-der. Dies geschah häufig nach Hausdurchsu-chungen und Festnahmen in der Gegend, undin einigen Fällen schien es eine Strafmaß-nahme zu sein.

Hunderte Menschen, die man beschuldigte,Verbindungen zu Boko Haram zu unterhalten,wurden von der JTF willkürlich inhaftiert. VielePersonen hielt man ohne Kontakt zur Außen-welt über lange Zeit in Haft, ohne dass sie unterAnklage gestellt wurden oder ein Verfahren er-hielten. Sie wurden weder einer Justizbehördevorgeführt, noch hatten sie Zugang zu einemRechtsbeistand. Hunderte Menschen wurdenohne Anklage oder Gerichtsverfahren in derGiwa-Kaserne der 21. Bewaffneten Brigade inMaiduguri unter schlechten Haftbedingungen,die unmenschlicher oder erniedrigender Be-handlung gleichkamen, festgehalten.

Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungendurch die Sicherheitskräfte waren nur seltenGegenstand unabhängiger und unparteiischerUntersuchungen, und wenn es dazu kam,wurden die Ergebnisse nicht veröffentlicht.ý Am 9. März 2012 starben Ali Mohammed Sa-diq, Ahmed Yunusa, Auwalu Mohammed undzwei weitere Personen – allesamt Angestellteoder Kunden der Tankstelle Rijiyar Zaki imBundesstaat Kano – durch Schüsse, als die JTFnach einem Angriff auf eine nahe gelegenePolizeiwache das Feuer eröffnete. Auf Ali Mo-hammed Sadiq wurde fünfmal geschossen,einmal davon in den Kopf. Eine Untersuchungwurde nicht durchgeführt, und soweit be-kannt, wurde auch kein Beamter für die Tötun-gen zur Verantwortung gezogen. Der Befehls-haber der JTF in Borno entschuldigte sich imRadio öffentlich bei den Familien der Opfer.ý Der am 4. Januar ausgestellten gerichtlichenAnordnung zur Beibringung von Goni Ali leis-tete die JTF nicht Folge. Goni Ali war am 16. Ok-tober 2011 bei sich zu Hause in Maiduguri von

Angehörigen der JTF festgenommen, in dieGiwa Kaserne gebracht und seither nicht mehrgesehen worden. Ende 2012 hatte seine Familienoch immer keine Informationen über seinenVerbleib.ý Am 1. Mai veranlassten Soldaten der JTFnach der Tötung eines mutmaßlichen Mit-glieds von Boko Haram in Kawar Maila, in derNähe lebende Frauen und Kinder ihre Häuserzu verlassen, und setzten dann etwa 33 Häuserin Brand. Eine Islam-Schule wurde ebenfallsvon der JTF niedergebrannt. Menschen hieltensich zu der Zeit nicht im Gebäude auf.

Rechtswidrige TötungenIm ganzen Land beging die Polizei rechtswid-rige Tötungen. Im März 2012 teilte der Vorsit-zende des Führungsgremiums der NationalenMenschenrechtskommission NHRC mit, dassjährlich schätzungsweise 2500 Gefangene vonder Polizei summarisch getötet werden.ý Am 8. April erschossen Polizeibeamte derPolizeiwache Mile 1 den 16-jährigen BlessingMonday, der rund um die Überführung amAbali Park in Port Harcourt auf der Straße ge-lebt hatte. Sie hatten ihn verdächtigt, eine Ta-sche gestohlen zu haben. Die Polizei fand spä-ter heraus, dass Blessing Monday die Taschenicht gestohlen hatte.ý Am 24. Mai töteten Angehörige der Sonder-einheit gegen Diebstahl (Special Anti-RobberySquad – SARS) Goodluck Agbaribote, einenehemaligen Bewohner des abgerissenenAbonnema Wharf in Port Harcourt, als er ineinem Gemeindebrunnen badete. Die Polizeibehauptete, er sei ein bewaffneter Dieb.ý Im November teilte die nigerianische Polizeieinem Hohen Gericht in Port Harcourt mit,dass Chika Ibeku, der 2009 nach seiner Fest-nahme und Inhaftierung durch die Polizei»verschwunden« war, tatsächlich von der Poli-zei bei einem »Schusswechsel« getötet wurde.Die Familie erstattete mit Hilfe einer örtlichenNGO Anzeige, um Einsicht in den Autopsiebe-richt zu erhalten.

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Nigeria 311

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere grausame, unmenschlicheund erniedrigende Behandlung von Straftat-verdächtigen und Gefangenen durch Sicher-heitskräfte waren auch 2012 weit verbreitet.ý Am 9. Januar wurde Alexander Nworgu inOwerri im Bundesstaat Imo festgenommenund zur Anti-Entführungs-Einheit der Polizeiim Bundesstaat Rivers gebracht. Er gab an,dass er im Gewahrsam regelmäßig mit einerMachete geschlagen und jeden zweiten Tagan den Füßen an der Decke aufgehängt wurde.Nach über einem Monat in Polizeihaft kam eram 15. Februar in Untersuchungshaft undwurde schließlich am 6. Juli gegen Kautionfreigelassen. Die Anklagen gegen ihn warenwährend seiner Zeit in Polizeihaft in eine An-klage wegen Diebstahl geändert worden.

JustizwesenWeit verbreitete Korruption und die Nichteinhal-tung rechtsstaatlicher Verfahren und Prinzipienbeeinträchtigten nach wie vor das Strafrechts-system des Landes. Viele Menschen wurdenwillkürlich festgenommen und ohne Anklageüber Monate inhaftiert. Die Polizei forderte In-haftierte weiterhin auf, Geld für ihre Freilassungzu bezahlen. Viele Gefangene wurden überlange Zeiträume und unter schlechten Haftbe-dingungen in Untersuchungshaft gehalten. DieVerfahren bei Gericht verliefen weiter schlep-pend und waren nicht vertrauenswürdig. LautAngaben des Geschäftsführers der NHRC war-teten mehr als 70% der Inhaftierten auf ihr Ge-richtsverfahren oder auf ein Urteil. Anordnun-gen des Gerichts wurden von der Polizei undden Sicherheitskräften häufig ignoriert.ý Am 30. April 2012 kam Patrick Okoroafornach 17 Jahren Haft frei. Er war in einem un-fairen Verfahren wegen Diebstahls mit 14 Jah-ren zum Tode verurteilt worden.

KinderZwölf Bundesstaaten setzten das Bundesgesetzüber die Rechte des Kindes nicht in bundes-staatliches Gesetz um. Die Polizei inhaftierte inden Polizeizellen Minderjährige nach wie vorzusammen mit Erwachsenen.

Gewalt zwischen ethnischen undreligiösen GruppenIn der Region Middle Belt hielten die Gewalttä-tigkeiten zwischen den Bevölkerungsgruppenan und kosteten über 100 Menschen das Le-ben.ý Im März 2012 führten die erneuten Zusam-menstöße wegen Landrechtsfragen zwischenethnischen Gruppen im Bundesstaat Benue zurVertreibung von bis zu 15000 Menschen.ý Zwischen dem 6. und 7. Juli 2012 starben Be-richten zufolge mehr als 60 Menschen bei Zu-sammenstößen zwischen Fulani-Hirten undDorfbewohnern in Riyom, Barkin Ladi und an-deren Verwaltungsbezirken im BundesstaatPlateau. Am 8. Juli wurden Trauernde, unterihnen Senator Gyang Dantong und der Vorsit-zende der Mehrheitspartei in der Verfassung-gebenden Versammlung von Plateau, GyangFulani, die das Begräbnis von einigen der Ge-töteten besuchten, von Unbekannten mit Waf-fen angegriffen. Am 10. Juli setzten sich dieZusammenstöße zwischen Christen und Musli-men in neun Gemeinden des BundesstaatesPlateau fort und führten zu 50 Toten.

TodesstrafeIm September 2012 erklärte das Hohe Gerichtim Bundesstaat Lagos die obligatorische Ver-hängung der Todesstrafe in einem 2008 vomRechtszentrum Legal Resources Consortium(LRC) angestrengten und von der nigeriani-schen NGO LEDAP (Legal Defence and Assis-tance Project) unterstützten Fall für verfas-sungswidrig. Doch für eine große Bandbreitevon Verbrechen blieb die Todesstrafe im nige-rianischen Strafrecht zwingend vorgeschrie-ben.

Etwa 1002 Gefangene befanden sich Ende2012 in den Todeszellen, darunter auch Perso-nen, die zur Tatzeit noch minderjährig gewesenwaren. Viele wurden nach grob unfairen Ver-fahren zum Tode verurteilt oder nachdem siebereits über zehn Jahre im Gefängnis ver-bracht hatten. Die Bundesregierung gab 2012an, dass das Hinrichtungsmoratorium, das imVorjahr in Kraft war, »freiwillig« gewesen sei.Gerichte verhängten weiterhin die Todesstrafe.

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312 Nigeria

ý Im Oktober unterzeichnete der Gouverneurdes Bundesstaats Edo die Hinrichtungsanord-nung für zwei zum Tode Verurteilte aus demZentralgefängnis in Benin im BundesstaatEdo, obwohl das Rechtsmittelverfahren nochnicht abgeschlossen war. Bis Ende 2012 wur-den die Hinrichtungen nicht vollstreckt.ý Am 13. Juli kam Olatunji Olaide aus dem Ki-rikiri-Gefängnis in Lagos frei. Nach seiner Ver-urteilung wegen Autodiebstahls hatte er 23Jahre in der Todeszelle verbracht. Das Beru-fungsgericht erklärte ihn am 5. Juni für un-schuldig.

ZwangsräumungenIn ganz Nigeria kam es auch weiterhin zurechtswidrigen Zwangsräumungen undrechtswidrigen Abrissen. 2012 wurden die Häu-ser von Zehntausenden Menschen in vier ver-schiedenen Gemeinden in Port Harcourt, Lagosund Abuja abgerissen. Hunderttausendendrohte die Vertreibung, da die Regierungen derBundesstaaten weiterhin Massenabrisse an-drohten.ý Im Juli wurden zwischen 10000 und 20000Menschen aus ihren Häusern in AbonnemaWharf in Port Harcourt vertrieben, als die Sied-lung ohne angemessene vorherige Benach-richtigung und Konsultation sowie ohne Ent-schädigungszahlungen oder die Bereitstellungalternativer Unterkünfte abgerissen wurde. DieAnwohner mussten in Autos, bei Freundenoder am Straßenrand schlafen. Hunderte wur-den obdachlos.ý Am 16. Juli wurden in der Siedlung Makokoin Lagos zahlreiche Häuser und andere Ge-bäude abgerissen. Dabei wurden nach Anga-ben der nigerianischen NGO SERAC (Socialand Economic Rights Actions Centre) 2000Menschen vertrieben, ohne alternative Unter-künfte oder angemessene Entschädigung zuerhalten. Ein Mensch starb, als die Polizei dasFeuer auf eine friedliche Demonstration gegenden Abriss eröffnete. Der Polizeibeamte sollfestgenommen worden sein.ý Am 16. August riss man ohne angemessenevorherige Benachrichtigung oder Konsultationeinen Teil der Siedlung Mpape in Abuja ab, ob-

wohl beim Hohen Gericht eine Rechtssacheanhängig war, um den Abriss zu verhindern.Mpape ist eine der 19 Gemeinden, die als Teildes Abuja Master Plans abgerissen werden sol-len. Nach Schätzungen von NGOs könnteneine Million Menschen obdachlos werden,wenn das Vorhaben umgesetzt wird.

Recht auf freie MeinungsäußerungEinschüchterungsversuche und Angriffe gegenMenschenrechtsverteidiger setzten sich fort.ý Am 26. Januar 2012 ließ das Hohe Gerichtdes Bundesstaats Enugu den Menschen-rechtsverteidiger und Arbeiterführer OsmondUgwu gegen Kaution frei. Er war am 24. Okto-ber 2011 von einer schwer bewaffneten Gruppevon Soldaten, Polizisten und Angehörigen desStaatssicherheitsdienstes (State Security Ser-vice – SSS) bei einer friedlichen Gebetsveran-staltung der Gewerkschaft in Enugu festgenom-men worden, nachdem er sich für die Umset-zung des Mindestlohngesetzes eingesetzt hatte.Osmond Ugwu wurde dann angeklagt, einMordkomplott geschmiedet zu haben.ý Am 6. September 2012 schlugen Soldateneinen Journalisten der Tageszeitung Leader-ship und beschlagnahmten seine Ausrüstung,weil er über eine Abrissübung im BundesstaatAnambra berichtet hatte.ý Am 24. Dezember nahmen Angehörige desSSS die Journalisten Musa Mohamed Awwalund Aliyu Saleh von der auf Hausa herausgege-benen Tageszeitung Al-Mizan im BundesstaatKaduna fest und inhaftierten sie eine Wochelang.

FrauenrechteIn Nigeria kommt es laut Angaben der Weltge-sundheitsorganisation zu 14% aller Mütter-sterblichkeitsfälle in der Welt. Das Land hat da-mit eine der höchsten Müttersterblichkeitsra-ten weltweit. Gewaltakte gegen Frauen undMädchen, wie Vergewaltigungen, sexuelle An-griffe und häuslicher Missbrauch, waren nachwie vor ein großes Problem.

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Norwegen 313

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenEs kam weiterhin zu Menschenrechtsverletzun-gen gegen Menschen, die verdächtigt wurden,gleichgeschlechtliche Beziehungen zu unter-halten oder eine nicht konventionelle Ge-schlechtsidentität zu haben. Der Gesetzentwurfzum Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen, derim Dezember 2011 von der Nationalversamm-lung verabschiedet worden war, passierte am13. November im Repräsentantenhaus diezweite Lesung. Der Gesetzentwurf sieht 14Jahre Gefängnis für jede Person vor, die »einegleichgeschlechtliche Partnerschaft oder Eheeingeht«. Der Gesetzentwurf würde bei seinerVerabschiedung die Rechte auf Meinungs-,Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit krimi-nalisieren.

Ölverschmutzung im NigerdeltaDie Ölverschmutzung und die Umweltschädenwirkten sich weiterhin verheerend auf das Le-ben und die Sicherung des Lebensunterhaltsder Menschen im Nigerdelta aus. Umweltge-setze und -vorschriften wurden nur sehr unzu-reichend durchgesetzt. Die Empfehlungen zurSäuberung der Region Ogoniland im Nigerdeltain der 2011 veröffentlichten maßgeblichenStudie des UN-Umweltprogramms waren bisEnde 2012 nicht umgesetzt worden.ý Am und um den 21. Juni 2012 herum wurdein der Gemeinde Bodo im Nigerdelta ein Erd-ölleck entdeckt. Das Leck wurde erst am30. Juni repariert. Die Erdölleitung lag in derVerantwortung des MineralölunternehmensShell. Eine Untersuchung der Ursachen desLecks wurde verzögert und war Ende des Jah-res noch nicht abgeschlossen. Auch die Ver-schmutzung durch das Leck war nicht behobenworden.

Am 11. Oktober begann das von einer GruppeBauern angestrebte Verfahren gegen das Mi-neralölunternehmen Shell vor einem Gericht imniederländischen Den Haag.

Am 14. Dezember stellte ECOWAS in einembahnbrechenden Urteil fest, dass die nigeria-nische Regierung es versäumt hatte, dafür zu

sorgen, dass die Operationen der Erdölgesell-schaft die Menschenrechte nicht verletzten,und forderte die Regierung auf, angemesseneVorschriften für Operationen von Erdölgeschäf-ten in Kraft zu setzen.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Nigeria

zwischen Februar und November sieben Mal.ÿ Nigeria: Forced eviction of Abonnema Wharf waterfront:

»Pack and go!«, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR44/034/2012/en

ÿ Nigeria: Another Bodo oil spill: Another flawed oil spill inves-tigation in the Niger Delta, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR44/037/2012/en

ÿ Nigeria: Oil spill investigations in the Niger Delta: AmnestyInternational memorandum, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR44/042/2012/en

ÿ Nigeria: Trapped in the cycle of violence,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR44/043/2012/en

NorwegenAmtliche Bezeichnung: Königreich NorwegenStaatsoberhaupt: König Harald V.Regierungschef: Jens Stoltenberg

Die Bedingungen in den Aufnahmezen-tren für minderjährige Asylsuchende bo-ten nach wie vor Anlass zur Sorge. DerSchutz für Opfer sexueller Gewalt warunzureichend, außerdem hatten die Be-troffenen nicht in erforderlichem MaßeZugang zur Justiz.

Flüchtlinge, Migranten undAsylsuchendeAm 8. Juni 2012 veröffentlichte die RegierungVorschläge für den Umgang mit den Bedürf-nissen von unbegleiteten minderjährigen Asyl-suchenden sowie Kindern von Asylsuchen-den. NGOs kritisierten an den Vorschlägen,dass sie Rückführungen in den Vordergrund

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314 Norwegen

stellten und sich nicht genug auf die Rechte derKinder konzentrierten.

Bis Dezember verschwanden Berichten zu-folge 85 unbegleitete minderjährige Asylsu-chende aus den Aufnahmezentren in Norwe-gen. NGOs äußerten die Befürchtung, dassmanche der Kinder Opfer von Menschenhandelgeworden sein könnten. Sie forderten, denEinwanderungsbehörden die Verantwortung fürunbegleitete Minderjährige zu entziehen unddiese dem Jugendamt zu übertragen.

Internationale JustizAm 25. September 2012 begann vor dem Os-loer Bezirksgericht ein strafrechtliches Verfah-ren gegen einen 47-jährigen ruandischenStaatsbürger wegen seiner Beteiligung am Völ-kermord von 1994 in Ruanda.

Am 10. Oktober entschied das Ministeriumfür Justiz und Öffentliche Sicherheit, dass einanderer ruandischer Staatsangehöriger vonNorwegen nach Ruanda ausgeliefert werdendürfe, um dort wegen Beteiligung am Völker-mord von 1994 vor Gericht gestellt zu wer-den.

Gewalt gegen Frauen und MädchenFrauen waren nach wie vor weder vor dem Ge-setz noch im täglichen Leben ausreichend vorGewalt geschützt. Statistiken über gemeldeteVergewaltigungen und sexuelle Übergriffewurden nicht regelmäßig aktualisiert.

Im März zeigte sich der UN-Ausschuss für dieBeseitigung der Diskriminierung der Frau

(CEDAW-Ausschuss) besorgt über die häufigenFälle von Gewalt gegen Frauen in Norwegen,die hohe Anzahl von Freisprüchen und die mil-den Strafen, die gegen die Täter verhängt wur-den. Der Ausschuss äußerte zudem Bedenkenhinsichtlich der Definition von Vergewaltigungim Allgemeinen Strafgesetzbuch. Danach musszur Erfüllung dieses Tatbestands der Einsatzvon Bedrohung oder Gewalt nachgewiesen wer-den. Im November wiederholte der UN-Aus-schuss gegen Folter viele der genannten Be-denken.

DiskriminierungIm Februar 2012 erklärte die Europäische Kom-mission gegen Rassismus und Intoleranz,dass die norwegischen Behörden ihre Empfeh-lungen von 2009 für ein Vorgehen gegen diePraxis des racial profiling – der Kontrolle undDurchsuchung von Personen aufgrund ihrerHautfarbe, Herkunft oder Religion – durch Poli-zei-, Zoll- und Einwanderungsbeamte nichtumgesetzt hätten.

Rechtliche, verfassungsrechtliche undinstitutionelle EntwicklungenIm Oktober 2012 wurde das Norwegische Zen-trum für Menschenrechte von seinem Statusals Nationale Menschenrechtsinstitution herab-gestuft, weil es nicht vollständig mit den Pari-ser Prinzipien der Vereinten Nationen in Ein-klang stand. Das Parlament erörterte im No-vember Vorschläge für eine stärkere Men-schenrechtskommission.

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Oman 315

OmanAmtliche Bezeichnung: Sultanat OmanStaats- und Regierungschef:

Sultan Qaboos bin Said

Mehr als 30 Menschenrechtsverteidigerund Regierungskritiker befanden sichals gewaltlose politische Gefangene inHaft. Nach ihrer Festnahme war ihnenvorgeworfen worden, in sozialen Netz-werken den Sultan beleidigt und weiteremutmaßliche Straftaten gegen die Si-cherheit begangen zu haben. Sie erhiel-ten Freiheitsstrafen von bis zu 18 Mona-ten.

HintergrundIm Jahr 2012 kam es vereinzelt zu Arbeiterun-ruhen. Arbeitskräfte in der Erdölindustrie undArbeitnehmer auf der Baustelle des neuen in-ternationalen Flughafens von Maskat tratenkurzfristig in den Streik. An den Arbeitsnieder-legungen waren sowohl omanische Staatsan-gehörige als auch ausländische Arbeitskräftebeteiligt.

Die Behörden versuchten, mehr Unabhängig-keit für die Justiz zu schaffen, und beriefenden Justizminister aus dem Obersten Justizratab. Den Vorsitz des Justizrats führte jedochnach wie vor der Sultan.

Rechte auf Meinungs-und VersammlungsfreiheitDie Behörden schränkten das Recht auf Mei-nungsfreiheit ein und gingen gegen mehr als35 Regierungskritiker, Menschenrechtler undBlogger vor. Die Anklagen lauteten u. a. aufBeleidigung des Sultans in sozialen Netzwer-ken.ý Am 31. Mai 2012 nahm die Polizei denRechtsanwalt Yaqoub al-Kharousi sowie FrauHabeeba al-Hina’i und Ismail al-Muqbali – zweiMitglieder der neu gegründeten Menschen-rechtsorganisation Omani Group for HumanRights – auf dem Fohoud-Erdölfeld in Ge-wahrsam. Dort waren Arbeiter ein paar Tagezuvor in einen Streik getreten. Ihre Mobiltele-fone wurden beschlagnahmt, und die Festge-nommenen mussten fünf Tage in Haft ohneKontakt zur Außenwelt verbringen. Yaqoub al-Kharousi und Habeeba al-Hina’i kamen gegenKaution frei. Ismail al-Muqbali blieb in Haft undwurde am 9. September zu einer Freiheits-strafe von 18 Monaten sowie zu einer Geldbußeverurteilt.ý Zwischen dem 2. und dem 8. Juni 2012 wur-den vier Menschen festgenommen, darunterder Schriftsteller Hamoud al-Rashidi und derDichter Hamad al-Kharous. Am 11. Juni kames zur Festnahme von weiteren 22 Menschen,die bei einer friedlichen Kundgebung für dieFreilassung der vier Häftlinge demonstriert hat-ten. Eine der am 11. Juni festgenommenenPersonen war die bekannte RechtsanwältinBasma al-Kiyumi, die bereits während der Pro-testaktionen im Mai 2011 inhaftiert worden war.Nach den Festnahmen unterstrich die Staats-anwaltschaft ihre Absicht, mit aller Härte gegenjene vorzugehen, die »der nationalen Sicher-heit und dem öffentlichen Interesse schade-ten«, indem sie über das Internet »Verleum-dungen und Gerüchte verbreiteten und zu Sitz-streiks und Arbeiteraufständen aufriefen«.

Einer der Inhaftierten, Saeed al-Hashimi,musste Berichten zufolge in einem Kranken-haus behandelt werden, nachdem er aus Pro-test gegen seine andauernde Haft in einenHungerstreik getreten war.

Gegen mindestens 32 Häftlinge erging An-

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klage. Zwischen dem 9. Juli und dem 9. Sep-tember 2012 wurden alle mit Geldstrafen belegtund zu Freiheitsstrafen von bis zu 18 Monatenverurteilt. Die Anklagen lauteten u. a. auf Belei-digung des Sultans, Veröffentlichung von ver-leumderischen Informationen im Internet, Un-terwanderung des Staates, Teilnahme an undAnstiftung zu Protesten und Behinderung desVerkehrs. Eine Reihe von Gefangenen kam fürdie Dauer des Berufungsverfahrens auf Kautionaus der Haft frei.ý Am 5. und 12. Dezember 2012 bestätigte dasBerufungsgericht von Maskat die gegen 28Aktivisten, darunter Nabhan al-Hanashi, ver-hängten Freiheitsstrafen wegen Beleidigungdes Sultans, Veröffentlichung von diffamieren-den Informationen im Internet und Anstiftungzu Protesten oder Beteiligung daran. Die Stra-fen lagen zwischen sechs Monaten und einemJahr.

FrauenrechteFrauen und Mädchen litten weiterhin vor demGesetz und im täglichen Leben unter weitrei-chender Diskriminierung, vor allem im Hinblickauf das Personenstandsrecht sowie auf demArbeitsmarkt und durch ihre Unterordnung un-ter einen männlichen Vormund.

TodesstrafeEs gab weder Berichte über Todesurteile nochüber Hinrichtungen. Im Dezember 2012lehnte Oman eine Resolution der UN-General-versammlung, in der ein Hinrichtungsmorato-rium gefordert wurde, ab. Bei Abstimmungen inVorjahren hatte sich das Land der Stimme ent-halten.

Amnesty International: Berichteÿ Protesters and writers detained in Oman,

http://www.amnesty.se/upload/apps/webactions/urgentaction/2012/06/20/ 52.000.112.pdf

ÿ Peaceful activists face prison in Oman,http://www.amnesty.se/upload/apps/webactions/urgentaction/2012/07/26/52.000.212.pdf

ÿ Oman: Further information: Another 20 activists sentencedto prison, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE20/003/2012/en

ÿ Oman: Further information: More activists face prison

in Oman, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE20/004/2012/en

ÿ Oman: Further information: Six activists’ appeals rejected,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE20/005/2012/en

ÿ Oman: Oman must end assault on freedoms of expressionand assembly, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE20/006/2012/en

ÖsterreichAmtliche Bezeichnung: Republik ÖsterreichStaatsoberhaupt: Heinz FischerRegierungschef: Werner Faymann

Der Tatbestand der Folter wurde in dasösterreichische Strafgesetzbuch aufge-nommen. Nach wie vor bestanden Be-denken über rassistisches Verhalten imStrafjustizwesen. Der Rechtsschutz fürAsylsuchende wurde eingeschränkt.

Internationale StrafverfolgungDie strafrechtlichen Ermittlungen gegen denehemaligen stellvertretenden Polizeichef vonGuatemala, Javier Figueroa, der im Verdachtsteht, an außergerichtlichen Hinrichtungen inGuatemala beteiligt gewesen zu sein, warenEnde 2012 noch nicht abgeschlossen. Die ös-terreichischen Behörden hatten Figueroa im

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Österreich 317

Mai 2011 verhaftet, nachdem ein Ausliefe-rungsersuchen Guatemalas abgelehnt wordenwar.

Folter und andere MisshandlungenIm Dezember 2012 wurde der Tatbestand derFolter in das österreichische Strafgesetzbuchaufgenommen. Die Änderung sollte am 1. Ja-nuar 2013 in Kraft treten.

Der UN-Ausschuss für die Beseitigung derRassendiskriminierung begrüßte die im Au-gust erfolgte Mandatserweiterung der österrei-chischen Volksanwaltschaft, wodurch dieseals nationaler Präventionsmechanismus gemäßdem Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkom-men gegen Folter fungiert. Gleichzeitig äußerteder Ausschuss Bedenken hinsichtlich der Un-abhängigkeit der Mitglieder der Volksanwalt-schaft und empfahl, ihre Ernennung im Ein-klang mit den internationalen Standards vorzu-nehmen.ý Im Mai entschuldigte sich ein Sprecher desInnenministeriums bei dem gambischenStaatsbürger Bakary J., der 2006 nach einemerfolglosen Abschiebungsversuch von vierPolizeibeamten gefoltert worden war. Das ge-gen ihn verhängte Aufenthaltsverbot wurde imJuli aufgehoben. Die Verhandlungen über eineEntschädigung waren Ende 2012 noch nichtabgeschlossen.

Polizei und SicherheitskräfteNach einer sechsjährigen Testphase geneh-migte das Innenministerium den Einsatz vonElektroschockwaffen im Regelbetrieb der Poli-zei. Das Innenministerium stufte Elektro-schockwaffen als grundsätzlich nicht lebensge-fährlich ein. Laut Berichten wurden jedoch inmehreren Ländern Menschenrechtsverletzun-gen mit Elektroschockwaffen begangen, undmehrere hundert Todesfälle standen mit demEinsatz dieser Waffen in Zusammenhang.Deshalb wurde die Forderung erhoben, die Ver-wendung von Elektroschockwaffen strikt aufSituationen zu beschränken, in denen die Poli-zeibeamten ansonsten von ihrer SchusswaffeGebrauch machen müssten.

RassismusIm Jahr 2012 trafen erneut Meldungen überrassistisch motivierte Polizeiübergriffe gegenausländische Staatsbürger und Angehörige eth-nischer Minderheiten ein.

Im August beanstandete der UN-Ausschussfür die Beseitigung der Rassendiskriminierungdas Versäumnis Österreichs, statistische Datenzur ethnischen Zusammensetzung der Bevöl-kerung vorzulegen, und äußerte sich besorgtüber Meldungen zu Ethnic Profiling (krimina-listische Katalogisierung nach Herkunftsmerk-malen), Personenkontrollen und der Durchsu-chung von Angehörigen ethnischer Minderhei-ten. Weitere Kritik betraf das Versagen der Be-hörden, Angehörige der Sicherheitskräfte, diestrafbare Handlungen gegen Personen mit Mi-grationshintergrund begangen hatten, ange-messen strafrechtlich zu verfolgen und zubestrafen. Der Ausschuss kritisierte ferner, dassdie Behörden es versäumten, das Recht aufgleichen Schutz durch das Gesetz sowie diestrafrechtliche Verfolgung aller Verstöße gegendas Verbot der rassistisch motivierten Diskrimi-nierung zu gewährleisten.

Österreich hielt seine Weigerung aufrecht,einen Nationalen Aktionsplan gegen Rassis-mus zu verabschieden, wie er in der Erklärungund dem Aktionsprogramm von Durban ausdem Jahr 2001 gefordert wird.

Rechte von Migranten undAsylsuchendenIm August verabschiedete die Regierung Ände-rungen des Asyl- und Fremdenpolizeigesetzesund schwächte damit den Rechtsschutz fürMenschen, die auf internationalen Schutz an-gewiesen sind. Der Anspruch auf kostenloseRechtsberatung für Asylbewerber und Migran-ten wurde eingeschränkt und für einige Verfah-ren ganz abgeschafft.

Amnesty International: Berichtÿ Austria: Briefing to the UN Committee on the Elimination of

Racial Discrimination, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR13/001/2012/en

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PakistanAmtliche Bezeichnung:

Islamische Republik PakistanStaatsoberhaupt: Asif Ali ZardariRegierungschef: Raja Pervaiz Ashraf

(löste im Juni Yousuf Raza Gilani im Amt ab)

Der Anschlag der pakistanischen Talibanauf eine 15-jährige Menschenrechtsver-teidigerin im Oktober 2012 machte deut-lich, wie gefährlich die Situation imLand für Menschenrechtler und Journa-listen ist. Angehörige religiöser Minder-heiten waren Verfolgung und Übergriffenausgesetzt. Religiöse Führer riefen zuGewalt gegen religiöse Minderheiten auf,und bewaffnete Gruppen töteten Ange-hörige dieser Minderheiten ganz gezielt.In den Stammesgebieten und in derProvinz Belutschistan kam es erneut zuMenschenrechtsverstößen wie Ver-schwindenlassen, Entführungen, Folterund rechtswidrigen Tötungen, für diesowohl die Streitkräfte als auch bewaff-nete Gruppen verantwortlich waren. DieJustiz konnte die Geheimdienste dazuzwingen, einige »verschwundene« Per-sonen vor Gericht vorzuführen, doch ge-lang es nicht, diejenigen in fairen Pro-zessen zur Rechenschaft zu ziehen, diefür das Verschwindenlassen verantwort-lich waren. Im November vollstrecktendie Militärbehörden erstmals seit 2008wieder ein Todesurteil. Angriffe auf Mit-arbeiter im Gesundheitswesen hatten

gravierende Auswirkungen auf die medi-zinische Versorgung von Menschen inentlegenen und von den Unruhen beson-ders betroffenen Landesteilen. Im Fe-bruar und März verabschiedete das Par-lament Gesetze, die die Einrichtungzweier nationaler Kommissionen vorse-hen. Eine soll sich mit dem Status vonFrauen beschäftigen, die andere mitMenschenrechten.

HintergrundPakistan erlebte 2012 mehrere politische Kri-sen, da es bei einer Reihe von Themen zuKonflikten zwischen Militär, Justiz und Regie-rung kam, u. a. was die Bekämpfung von Kor-ruption betraf. Am 19. Juni zwang der ObersteGerichtshof Premierminister Yousuf Raza Gi-lani zum Rücktritt, nachdem er ihn wegen Miss-achtung des Gerichts rechtskräftig verurteilthatte. Die Entscheidung wurde als Zeichen fürdie wachsende Macht der Justiz gewertet. Am23. September befand der Oberste Gerichtshofin einer bahnbrechenden Entscheidung, dassTransgender-Personen nach der pakistani-schen Verfassung die gleichen Rechte zuste-hen wie anderen Bürgern. Indien und Pakistantauschten Tausende von Gefangenen aus. DerAustausch war Teil eines im Mai unterzeichne-ten umfassenderen Abkommens über konsu-larische Angelegenheiten, das auf eine Verbes-serung der Beziehungen zwischen den beidenLändern hindeutete. Die »gezielten Tötungen«durch unbemannte US-Drohnen forderten inden Stammesgebieten eine unbekannte Zahlvon zivilen Opfern, darunter auch Kinder(siehe Länderbericht USA). Gegen Jahresendehatten sich die Beziehungen zwischen Pakis-tan und seinem wichtigsten Verbündeten USAwieder verbessert.

Im Januar 2012 begann die zweijährige Mit-gliedschaft Pakistans im UN-Sicherheitsrat.Zum ersten Mal seit 13 Jahren besuchten eineReihe von UN-Menschenrechtsexperten dasLand: im Mai die Sonderberichterstatterin überdie Unabhängigkeit von Richtern und Anwäl-ten, im Juni die Hochkommissarin für Men-schenrechte und im September die Arbeits-

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gruppe zur Frage des Verschwindenlassens vonPersonen. Im Oktober befasste sich der UN-Menschenrechtsrat im Zuge der UniversellenRegelmäßigen Überprüfung mit der Men-schenrechtslage in Pakistan. Dabei kamenzahlreiche Menschenrechtsanliegen zur Spra-che, wie eine Reform der Blasphemiegesetze,Schritte zur Abschaffung der Todesstrafe undein Ende der Praxis des Verschwindenlassens.Am 12. November wurde Pakistan zum drittenMal in den UN-Menschenrechtsrat gewählt.

Menschenrechtsverletzungen durchSicherheitskräfteDie Sicherheitskräfte mussten nach wie vorkeine strafrechtliche Verfolgung befürchten,wenn sie Menschenrechtsverstöße begingen.Sie wurden für zahlreiche Menschenrechts-verletzungen verantwortlich gemacht, darunterwillkürliche Festnahmen, Verschwindenlas-sen, Folter, Todesfälle in Gewahrsam und au-ßergerichtliche Hinrichtungen. Zu den Opfernzählten politisch engagierte Bürger, Journalis-ten und mutmaßliche Mitglieder bewaffneterGruppen. In den Stammesgebieten im Nord-westen des Landes sorgte die Armee mit Hilfebestehender und neu eingeführter Sicherheits-gesetze dafür, dass Angehörige der Sicher-heitskräfte von den Gerichten nicht belangtwerden konnten.ý Im Juni 2012 wurde ein Mordkomplott gegendie Menschenrechtsanwältin Asma Jahangirenthüllt. Die Behörden sorgten zwar für zusätz-liche Sicherheitsmaßnahmen, schienen abernicht willens oder in der Lage zu sein, dem Ver-dacht nachzugehen, die Anschlagspläne ge-gen die Anwältin seien von Militärbehörden aufhöchster Ebene genehmigt worden.

Rechtswidrige Tötungen2012 gingen Berichte über Hunderte vonrechtswidrigen Tötungen ein, darunter außer-gerichtliche Hinrichtungen und Todesfälle inGewahrsam. Sie wurden insbesondere ausden Stammesgebieten im Nordwesten des Lan-des sowie aus den Provinzen Belutschistanund Sindh gemeldet.ý Das Obere Gericht in Peshawar ordnete 2012

mehrfach Ermittlungen an, da mehr als 100Leichen an verschiedenen Orten in Peshawar,der Hauptstadt der Provinz KhyberPakhtunkhwa, aufgefunden wurden.ý Am 22. Mai 2012 fand man in Bukhari, einemDorf in der Nähe von Hyderabad in der ProvinzSindh, die Leiche von Muzaffar Bhutto. Der Ge-neralsekretär einer regionalen Partei, die füreine größere Autonomie der Provinz Sindh ein-tritt, war im Februar 2011 von mehreren Män-nern in Zivil und Polizisten entführt worden unddanach nicht mehr aufgetaucht. Berichtenzufolge wies seine Leiche Folterspuren undSchusswunden auf. Für seine Entführung undErmordung wurde niemand zur Rechenschaftgezogen.

VerschwindenlassenDer Oberste Gerichtshof erreichte durch einbeispielloses Vorgehen, dass 2012 erstmalseinige Opfer des Verschwindenlassens vor Ge-richt vorgeführt wurden. Im Februar erschie-nen sieben Überlebende der insgesamt elf Ge-fangenen aus dem Adiala-Gefängnis, die2010 entführt worden waren, und im Laufe desJahres mehrere weitere Verschwundene ausBelutschistan. Der Präsident des Obersten Ge-richtshofs drohte den Mitarbeitern der Straf-verfolgungsbehörden mit Haftbefehlen, solltensie keine Rechtsgrundlagen für die Inhaftie-rungen in Belutschistan vorweisen können.Das Obere Gericht in Peshawar übte Druckauf die Behörden aus, die genauen Daten allerHäftlinge anzugeben, die in den nordwestli-chen Stammesgebieten in »Sicherheitshaft«gehalten wurden. Dennoch trafen aus demganzen Land, vor allem aus Belutschistan undden Stammesgebieten, weiterhin Berichteüber Fälle von Verschwindenlassen ein. Keinaktiver oder ehemaliger Angehöriger der Si-cherheitskräfte wurde wegen mutmaßlicherVerwicklung in diese oder andere Menschen-rechtsverletzungen vor Gericht gestellt. ImSeptember besuchte die UN-Arbeitsgruppezur Frage des Verschwindenlassens von Perso-nen zum ersten Mal Pakistan. EntscheidendeAmtsträger waren jedoch nicht bereit, sich mitder Arbeitsgruppe zu treffen, u. a. der Vorsit-

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zende der Untersuchungskommission für Fällevon Verschwindenlassen, der Präsident desObersten Gerichtshofs, die Präsidenten dermeisten Oberen Gerichte der Provinzen so-wie hochrangige Vertreter der Sicherheitskräfteund des Militärs.ý Am 13. Februar 2012 wurde am Stadtrandvon Turbat in Belutschistan die Leiche desVorsitzenden der Republikanischen Partei derBelutschen, Sangat Sana, gefunden. Er warmehr als zwei Jahre zuvor zum letzten Mal ge-sehen worden, als mehrere Männer in Zivil ihnan einer Straßensperre am Bolan-Pass mitnah-men.

Menschenrechtsverstöße bewaffneterGruppenDie pakistanischen Taliban, die GruppeLashkar-e-Jhangvi, die Befreiungsarmee Be-lutschistans und andere bewaffnete Gruppenverübten 2012 gezielte Angriffe auf Sicher-heitskräfte und Zivilpersonen, darunter Ange-hörige religiöser Minderheiten, Mitarbeiter vonHilfsorganisationen, engagierte Bürger undJournalisten. Außerdem verübten sie wahlloseAngriffe mit improvisierten Sprengkörpern undSelbstmordanschläge.ý Die pakistanischen Taliban kündigten an, derEinsatz von medizinischem Personal in denStammesgebieten sei verboten, solange dieUSA ihr Programm des »gezielten Tötens« indem Gebiet nicht einstellten. Im April 2012wurde ein Mitarbeiter des Internationalen Ko-mitees vom Roten Kreuz getötet. Bei koordinier-ten Anschlägen in Peshawar, Nowshera undCharsadda im Nordwesten des Landes und imsüdpakistanischen Karatschi wurden im De-zember an drei Tagen neun Menschen getötet,die an der Durchführung einer Impfkampagnegegen Kinderlähmung beteiligt waren. Diemeisten Opfer waren Frauen.ý Am 28. Juni 2012 wurden bei einem An-schlag auf einen Bus mit schiitischen Pilgern,die von Quetta in den Iran reisen wollten, min-destens 14 Menschen getötet. Zu dem Angriff,der einer regelrechten Hinrichtung glich, be-kannte sich die Gruppe Lashkar-e-Jhangvi. Siewar für mindestens acht Anschläge in ganz Pa-

kistan verantwortlich, bei denen 49 Menschenstarben.ý Ein Selbstmordanschlag der pakistanischenTaliban tötete am 22. Dezember 2012 in Pes-hawar den hochrangigen Politiker der AwamiNational Party, Bashir Ahmed Bilour, und achtweitere Personen. Sie waren auf dem Rückwegvon einer politischen Kundgebung.

Recht auf freie MeinungsäußerungJournalisten mussten 2012 weiterhin Angriffevonseiten der Sicherheitskräfte, der bewaffne-ten Opposition und anderer bewaffneter Grup-pen fürchten. Dies galt vor allem für die Pro-vinzen Belutschistan und Sindh sowie für dieStammesgebiete im Nordwesten des Landes.Mindestens acht Journalisten wurden im Laufedes Jahres getötet. Mehrere Journalisten ga-ben an, sie hätten nach Berichten über das Mi-litär, politische Parteien oder bewaffnete Grup-pen Drohungen erhalten.ý Am 17. Januar wurde der Journalist Mukar-ram Aatif während des Abendgebets in einerMoschee in Charsadda erschossen. Er war ausseinem Heimatort im Stammesgebiet Moh-mand nach Charsadda gezogen, nachdem ihmdie pakistanischen Taliban wegen seiner Be-richterstattung mit dem Tod gedroht hatten. DieTaliban übernahmen die Verantwortung fürseine Ermordung.ý Am 19. Mai fand man am Stadtrand von Tur-bat in Belutschistan die Leiche von RazzaqGul. Der Korrespondent des FernsehsendersExpress News war am Tag zuvor entführt wor-den. Den Behörden gelang es nicht, die Täterzur Verantwortung zu ziehen.ý Im November entging der bekannte Journa-list Hamid Mir nur knapp einem Attentat, weileine Bombe, die unter seinem Wagen ange-bracht war, rechtzeitig entdeckt wurde. Die pa-kistanischen Taliban bekannten sich zu demversuchten Anschlag.

Die Regierung blockierte gelegentlich Websi-tes, u. a. von YouTube und Facebook. In eini-gen Fällen gab sie keine Begründung an, in an-deren Fällen hieß es, die gesperrten Inhalteverletzten religiöse Gefühle. Die Gerichte droh-ten Journalisten, die in ihren Berichten die

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Justiz kritisierten, an, man werde strafrecht-liche Verfahren wegen Missachtung des Ge-richts gegen sie einleiten.

Diskriminierung – religiöseMinderheitenAngehörige religiöser Minderheiten wie Ah-madi, Hindu und Christen waren nach wie vorin großer Gefahr, wegen ihres Glaubens einge-schüchtert und gewaltsam angegriffen zu wer-den. 2012 gab es mindestens 79 Angriffe aufSchiiten – mehr als gegen jede andere Glau-bensgemeinschaft. Fälle, bei denen Privatper-sonen auf Grundlage der sehr vage formulier-ten Blasphemiegesetze die Gerichte anriefen,betrafen unverhältnismäßig oft Angehörige re-ligiöser Minderheiten.ý In der Region Gilgit-Baltistan im Norden desLandes erreichte die sektiererische Gewalt einbislang unbekanntes Ausmaß. Die Justizbehör-den zogen die Täter der mehr als 70 Tötungs-delikte, die nach Zusammenstößen zwischenSunniten und Schiiten im April begangen wur-den, nicht zur Rechenschaft.ý In der Kleinstadt Channigoth in der ProvinzPunjab lynchte eine aufgebrachte Mengeeinen Obdachlosen, der sich in Polizeigewahr-sam befand, und verbrannte seine Leiche.Dem Mann war vorgeworfen worden, er habeeine Ausgabe des Koran verbrannt.ý Am 20. November sprach das Obere Gerichtin Islamabad die 14-jährige Rimsha Masihvom Vorwurf der Blasphemie frei. Die Polizeihatte im August auf Druck der Öffentlichkeitein Verfahren eingeleitet, weil das christlicheMädchen angeblich Koranseiten verbrannthatte. Im September nahm der Fall eine neueWendung, als der Geistliche, der Rimsha Ma-sih beschuldigt hatte, selbst wegen Blasphemieangeklagt wurde. Ihm wurde vorgeworfen,dem Mädchen die verbrannten Seiten unterge-schoben zu haben. Die Freilassung vonRimsha Masih war einer der seltenen Fälle, indenen ein Gericht bei einer Anklage wegenBlasphemie auf Freispruch entschied.ý Die Behörden erteilten religiösen Gruppendie Erlaubnis, Ahmadi den Zugang zu ihrenGotteshäusern zu verwehren. Am 3. Dezember

wurden auf einem Friedhof in Lahore die Grä-ber von mehr als 100 Ahmadi geschändet.ý Die schiitische Hazara-Gemeinschaft in Be-lutschistan wurde von staatlicher Seite nichtausreichend geschützt. Trotz massiver militäri-scher Präsenz in der Provinz töteten bewaff-nete Gruppen dort mindestens 84 Hazara.

Gewalt gegen Frauen und MädchenFrauen und Mädchen wurden weiterhin diskri-miniert und waren im häuslichen Umfeld undin der Öffentlichkeit von Gewalt bedroht. Auchdiejenigen, die sich für Frauenrechte einsetz-ten, wurden bedroht. Menschenrechtsgruppendokumentierten Tausende von Fällen aus demganzen Land, bei denen Frauen und MädchenOpfer von Gewalt wurden. Die meisten Mel-dungen kamen aus der bevölkerungsreichstenProvinz Punjab. Die Berichte reichten vonhäuslicher Gewalt über Vergewaltigung bis hinzu Mord. Es ist davon auszugehen, dass diegemeldeten Fälle nur einen begrenzten Aus-schnitt aller Gewalttaten darstellen, die gegenFrauen und Mädchen verübt wurden.ý Im Mai 2012 ordneten Stammesälteste imBezirk Kohistan in der Provinz KhyberPakhtunkhwa dem Vernehmen nach die Tö-tung von vier Frauen an, weil sie auf einerHochzeit gesungen und geklatscht hatten, mut-maßlich in der Begleitung von zwei Männern.Der Oberste Gerichtshof leitete im Juni eine Un-tersuchung des Falls ein und gelangte an-schließend zu dem Schluss, die Frauen seiennicht getötet worden. Die Untersuchung desObersten Gerichtshofes war aber offensichtlichin hohem Maße fehlerhaft.ý Am 4. Juli 2012 erschossen Motorradfahrerdie Frauenrechtlerin Fareeda Afridi, als sie ihrHaus in Peshawar verließ, um im Stammesge-biet Khyber zu arbeiten. ZivilgesellschaftlicheGruppen vor Ort sagten, sie sei aufgrund ihresEinsatzes für Frauenrechte ermordet worden.Die Täter wurden nicht zur Verantwortung gezo-gen.ý Die pakistanischen Taliban übernahmen dieVerantwortung für den Mordanschlag auf die15-jährige Malala Yousafzai am 9. Oktober, dendas Mädchen nur knapp überlebte. Die Tali-

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322 Palästinensische Gebiete

ban drohten, sie würden weiterhin versuchen,Malala Yousafzai zu töten, weil sie sich für Bil-dung von Frauen und Mädchen einsetze. AlsReaktion auf den Vorfall unterzeichnete derPräsident am 20. Dezember ein neues Gesetz,das für alle Jungen und Mädchen im Alter vonfünf bis 16 Jahren einen obligatorischen kos-tenlosen Schulbesuch vorsieht.

TodesstrafeMehr als 8300 Menschen saßen 2012 weiter inder Todeszelle, einige von ihnen bereits seitzwei bis drei Jahrzehnten. Im Laufe des Jahreswurden 242 Todesurteile ausgesprochen. ImNovember ließen die Militärbehörden im BezirkOkara in der Provinz Punjab Muhammad Hus-sain hinrichten. Ihm wurden drei Morde zurLast gelegt, darunter die Ermordung eines vor-gesetzten Offiziers. Gnadengesuche des Ar-meechefs und des Präsidenten waren abge-lehnt worden. Damit wurde erstmals seit 2008wieder ein Todesurteil in Pakistan vollstreckt.Die Regierung distanzierte sich zwar von derEntscheidung der Militärbehörden, das Todes-urteil zu vollstrecken, Gegner der Todesstrafebefürchteten allerdings, dies könne ein Türöff-ner für die Wiederaufnahme von Hinrichtungenin Pakistan sein.

Im Juli nahm die Regierung Beratungen übereinen Gesetzentwurf auf, der vorsieht, alle To-desurteile in lebenslange Freiheitsstrafen um-zuwandeln.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Pakistan

von Februar / März, von Juli / August und im Dezember.Berater von Amnesty International waren permanent imLand präsent.

ÿ »The hands of cruelty«: Abuses by Armed Forces and Talibanin Pakistan’s tribal areas, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA33/019/2012/en

ÿ Open Letter: Pakistan must resolve the crisis of enforceddisappearances, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA33/012/2012/en

ÿ Pakistan: Human rights and justice – the key to lasting se-curity : Amnesty International submission to the UN Univer-sal Periodic Review, http://www.amnesty.org/en/library/info/ASA33/003/2012/en

PalästinensischeGebieteAmtliche Bezeichnung: Palästinensische GebietePräsident der Palästinensischen Behörde:

Mahmoud AbbasRegierungschef: Salam Fayyad

Sowohl die Palästinensische Behörde(Palestinian Authority – PA) als auch dieDe-facto-Verwaltung der Hamas im Gaza-streifen nahmen 2012 willkürlich Perso-nen fest und inhaftierten sie. Dies betrafvor allem die jeweiligen politischenGegner. In beiden Landesteilen kam eszu Folter und anderen Misshandlungenvon Gefangenen durch Sicherheitskräfte,die dafür nicht zur Rechenschaft gezo-gen wurden. Vier Häftlinge starben unternicht geklärten Umständen in Gewahr-sam – zwei im Gazastreifen, zwei imWestjordanland. Palästinensische be-waffnete Gruppen verübten weiterhinKriegsverbrechen, indem sie wahllosRaketen von Gaza nach Israel abfeuer-ten, insbesondere während einer achttä-gigen militärischen Auseinandersetzungmit Israel im November 2012. Währenddes bewaffneten Konflikts wurden siebenMänner, denen man »Kollaboration« mitIsrael vorwarf, vom bewaffneten Flügel

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der Hamas in Schnellverfahren getötet.Sowohl die PA als auch die De-facto-Ver-waltung der Hamas im Gazastreifenschränkten die Rechte auf freie Mei-nungsäußerung, Versammlungs- undVereinigungsfreiheit empfindlich ein. Inbeiden Landesteilen gingen die Sicher-heitskräfte mit exzessiver Gewalt gegenDemonstrierende vor. Sowohl im West-jordanland als auch im Gazastreifen lit-ten Frauen weiterhin unter Gewalt undDiskriminierung. Mindestens sechsFrauen wurden Berichten zufolge ausGründen der »Familienehre« getötet. ImGazastreifen ergingen mindestens fünfTodesurteile, sechs Menschen wurdenhingerichtet. Im Westjordanland wurdeein Todesurteil verhängt, es fanden je-doch keine Hinrichtungen statt. Israelhielt seine Militärblockade des Gaza-streifens aufrecht. Auch die von ande-ren Staaten gegen die De-facto-Verwal-tung der Hamas verhängten Sanktionenblieben 2012 weiterhin in Kraft. Die1,6 Mio. Bewohner des Gebiets littennach wie vor unter gravierenden Versor-gungsengpässen, obwohl sich die Lageim Vergleich zu den Vorjahren etwas ver-besserte.

HintergrundAm 29. November 2012 beschloss die UN-Ge-neralversammlung, den PalästinensischenGebieten einen Beobachterstatus ohne Mit-gliedschaft (non-member observer state sta-tus) zu gewähren. Israel hielt weiterhin dasWestjordanland, Ost-Jerusalem und den Ga-zastreifen besetzt. Es gab zwei getrennte paläs-tinensische Verwaltungen mit eingeschränk-ten Befugnissen: die der Fatah nahestehendeRegierung der PA im Westjordanland sowie dieDe-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastrei-fen.

Die Bemühungen, eine Versöhnung zwischenFatah und Hamas herbeizuführen und einegemeinsame palästinensische Regierung zu bil-den, wurden unter Vermittlung von Ägyptenund Katar fortgesetzt.

Die PA hielt im Oktober 2012 im Westjordan-land Kommunalwahlen ab. Politische Parteienmit Verbindungen zur Hamas oder zum IslamicJihad stellten sich nicht zur Wahl. Die Behör-den der Hamas im Gazastreifen hinderten Wäh-ler daran, sich dort registrieren zu lassen. DieJustizbehörden im Westjordanland legten imOktober kurzfristig ihre Arbeit nieder, um ge-gen eine mutmaßliche Einflussnahme der Re-gierung zu protestieren. Die seit 2007 andau-ernde israelische Militärblockade des Gaza-streifens wurde aufrechterhalten. Israel übteweiterhin die Kontrolle über die Grenzen, dieKüste und den Luftraum des Gazastreifensaus. Die Blockade wirkte sich verheerend aufdie Bevölkerung aus, insbesondere auf Kin-der, ältere Menschen und Kranke. Im Vergleichzu den Vorjahren konnten allerdings mehrMenschen den Grenzübergang Rafah an derGrenze zu Ägypten nutzen. Etwa 20 Palästi-nenser kamen bei Unfällen in Tunneln ums Le-ben, die dem Warenschmuggel zwischenÄgypten und dem Gazastreifen dienten.

Im Westjordanland schränkte Israel die Bewe-gungsfreiheit der Palästinenser weiterhinempfindlich ein. Gleichzeitig wurden unter Ver-stoß gegen das Völkerrecht neue israelischeSiedlungen auf palästinensischem Territoriumgebaut.

Die israelische Armee unternahm 2012 regel-mäßig Luftangriffe und Artillerieangriffe aufden Gazastreifen. Bei einer achttägigen Militär-operation der israelischen Streitkräfte im No-vember wurden zahlreiche Zivilpersonen getö-tet. Außerdem wurden Wohnhäuser und an-deres privates Eigentum zerstört. Palästinensi-sche bewaffnete Gruppen feuerten vom Gaza-streifen aus wahllos Raketen auf Israel ab –mehr als 1500 allein während des bewaffnetenKonflikts im November.

Übergriffe durch bewaffnete GruppenVor und während der militärischen Auseinan-dersetzung im November 2012 verübten be-waffnete palästinensische Gruppen mit Verbin-dungen zur Hamas, zur Fatah, zum IslamicJihad, zur Volksfront zur Befreiung Palästinas(Popular Front for the Liberation of Palestine –

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PFLP) sowie salafistische Gruppen Kriegsver-brechen. Sie feuerten wahllos Raketen undMörsergranaten auf Israel ab. Einige Raketengingen noch im Gazastreifen nieder und töte-ten mindestens zwei Palästinenser, andere be-schädigten Wohnhäuser und weitere Gebäudein Israel. Während des bewaffneten Konflikts imNovember wurden vier israelische Zivilperso-nen getötet, zahlreiche weitere erlitten Verlet-zungen, außerdem wurde durch den Be-schuss privates Eigentum zerstört. Die Behör-den der Hamas zogen die Verantwortlichennicht zur Rechenschaft.ý Die zweijährige Hadeel Ahmad Haddad starbam 19. Juni 2012, als eine Rakete das Hausihrer Familie in Zeitoun traf, einem Vorort vonGaza-Stadt. Das Geschoss war von einer be-waffneten palästinensischen Gruppe abgefeu-ert worden. Der acht Jahre alte Cousin desMädchens wurde bei dem Angriff schwer ver-letzt.ý Am 15. November 2012 wurden die israe-lischen Zivilpersonen Mirah Scharf, Itzik Am-salem und Aharon Smadja getötet, als ihr Hausin Kiryat Malachi von einer wahllos aus demGazastreifen abgefeuerten Rakete getroffenwurde. Weitere Zivilpersonen erlitten Verlet-zungen.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenSicherheitskräfte der PA im Westjordanlandnahmen 2012 Hunderte von Personen willkür-lich fest und inhaftierten sie, darunter auch Fa-tah-Mitglieder. Die meisten wurden festgehal-ten, ohne dass sie die Möglichkeit hatten, dieRechtmäßigkeit ihrer Haft gerichtlich anzu-fechten. Hunderte Hamas-Anhänger wurdeninhaftiert und zumeist bis zu 48 Stunden fest-gehalten, als Präsident Mahmoud Abbas imSeptember die Vereinten Nationen in NewYork besuchte. Sicherheitskräfte der Hamas imGazastreifen inhaftierten willkürlich Hundertevon Personen mit mutmaßlichen Verbindungenzur Fatah und verweigerten ihnen in der Regelden Zugang zu einem Rechtsbeistand. DieHäftlinge wurden von den Sicherheitskräftender PA bzw. der Hamas häufig geschlagen oder

in anderer Weise misshandelt, ohne dass diesgeahndet wurde.

Die von der PA eingesetzte UnabhängigeKommission für Menschenrechte (Indepen-dent Commission for Human Rights – ICHR) er-hielt 2012 mehr als 685 Beschwerden wegenwillkürlicher Festnahmen im Westjordanlandund über 470 wegen willkürlicher Festnahmenim Gazastreifen.

HaftbedingungenIm Westjordanland verweigerte die PA der ICHRden Zugang zu Haftzentren der PräventivenSicherheitsbehörde. Gefangene protestiertenunterdessen mit einem Hungerstreik gegendie schlechten Haftbedingungen und ihre fort-gesetzte Inhaftierung, obwohl Gerichte ihreFreilassung angeordnet hatten. Im Gazastreifengewährte die Hamas der ICHR im Oktober2012 zum ersten Mal seit fünf Jahren Zugangzu Haftzentren der Internen Sicherheitsbe-hörde.

Folter und andere MisshandlungenHäftlinge wurden 2012 weiterhin gefoltert undanderweitig misshandelt, vor allem von Beam-ten der Kriminalpolizei und der PräventivenSicherheitsbehörde im Westjordanland sowievon Polizisten und Angehörigen der Internen Si-cherheitsbehörde im Gazastreifen. Die Verant-wortlichen wurden nicht zur Rechenschaft ge-zogen. Die ICHR erhielt 142 Beschwerden we-gen Folter und Misshandlungen im Westjordan-land; 129 Beschwerden betrafen Übergriffe imGazastreifen. Die am häufigsten genannten Fol-termethoden waren Schläge, das Aufhängenan Hand- oder Fußgelenken sowie das Stehenoder Sitzen in schmerzhaften Stellungen überlängere Zeiträume hinweg.ý Mohammad Said al-Zaqzouq starb im Okto-ber unter nicht geklärten Umständen, als erauf der Polizeiwache von Khan Younis im Gaza-streifen inhaftiert war. Eine Untersuchung derTodesumstände wurde zwar angekündigt, dieErgebnisse lagen Ende 2012 jedoch nochnicht vor.ý Tareq Khrieshed gab an, er habe im Januarwährend eines Verhörs durch Beamte der Kri-

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minalpolizei in Ramallah mehr als acht Stundenlang stehen müssen. Dabei sei er mit einerHand an eine Wand gekettet gewesen und ge-schlagen worden.

JustizwesenSicherheitskräfte der PA inhaftierten 2012 wei-terhin Personen ohne Anklageerhebung oderGerichtsverfahren über längere Zeiträume hin-weg. Gerichtsbeschlüsse zur Freilassung vonGefangenen wurden mit Verzögerung umge-setzt oder gänzlich ignoriert. Zivilpersonen,deren Verfahren vor Januar 2011 begonnenhatten, mussten sich weiterhin vor Militärge-richten verantworten. Erst zu diesem Zeitpunkthatte die PA entschieden, Zivilpersonen nichtmehr vor Militärgerichte zu stellen. Im Gaza-streifen befanden sich immer noch Gefangeneohne Anklageerhebung oder Gerichtsverfahrenin Haft. Zivilpersonen wurden weiterhin vorMilitärgerichte gestellt.

Es bestanden ernste Zweifel an der Unabhän-gigkeit der zivilen und militärischen Strafver-folgungsbehörden sowohl im Gazastreifen alsauch im Westjordanland. Polizei und Sicher-heitsdienste wurden nach wie vor nicht darangehindert, Personen ohne Haftbefehl festzu-nehmen, zu misshandeln und politisch moti-vierte Anklagen gegen sie zu erheben.ý Abd al-Fatah al-Hassan sollte per Gerichtsbe-schluss bereits 2010 freigelassen werden. Erwar jedoch 2012 noch immer bei der Präventi-ven Sicherheitsbehörde in Ramallah inhaftiert.Im September 2009 hatte ihn ein Militärgerichtzu zwölf Jahren Haft verurteilt. Sein Rechtsan-walt stellte erneut einen Antrag auf Freilassung.Im Oktober lehnte das Palästinensische Ver-fassungsgericht es ab, sich mit dem Antrag zubefassen.ý Isma’il Abd al-Rahman wurde im Septemberin seinem Haus in Gaza-Stadt von Angehöri-gen der Internen Sicherheitsbehörde abgeholtund inhaftiert. Er befand sich ohne Anklageer-hebung oder Gerichtsverfahren in Gewahrsamund hatte keinen Zugang zu einem Rechtsbei-stand. Im Dezember kam er frei.

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie PA im Westjordanland und die De-facto-Verwaltung der Hamas im Gazastreifenschränkten 2012 die Rechte auf freie Mei-nungsäußerung, Vereinigungs- und Versamm-lungsfreiheit weiterhin stark ein. Journalisten,Blogger und andere Regierungskritiker wur-den schikaniert und strafrechtlich verfolgt. So-wohl im Westjordanland als auch im Gazastrei-fen gingen die Sicherheitskräfte mit exzessiverGewalt gegen Demonstrierende vor, nahmenzahlreiche Personen willkürlich fest und hieltensie in Haft.ý Der Journalist Mohammad Qunayta wurde imJuni 2012 in seinem Haus in Gaza von Ange-hörigen der Internen Sicherheitsbehörde fest-genommen und misshandelt. Im August kamer gegen Kaution aus der Haft frei.ý In Ramallah gingen am 30. Juni und am1. Juli 2012 Polizisten der PA in Uniform und inZivil mit unverhältnismäßiger Gewalt gegen De-monstrierende und Journalisten vor. Zahlrei-che Protestierende erlitten Verletzungen, an-dere kamen in Haft. Der Journalist Moham-mad Jaradat wurde in Polizeigewahrsam gefol-tert. Er wurde gewaltsam zu Boden gedrücktund am ganzen Körper mit einem Gummiknüp-pel geschlagen.ý Die Hamas-Behörden hielten Frauen davonab, am 2. Oktober 2012 in Gaza an einer De-monstration für die Einheit Palästinas teilzuneh-men. Fünf Frauen kamen vorübergehend inGewahrsam.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger wurden 2012 vonder PA, den Behörden der Hamas und derenAnhängern schikaniert. Dies reichte in einigenFällen bis hin zu tätlichen Angriffen.ý Mahmoud Abu Rahma, der Leiter des Al Me-zan Center for Human Rights, erlitt Stichverlet-zungen, als ihn eine Gruppe von Unbekanntenim Januar in Gaza-Stadt überfiel. Er hatte zu-vor einen Artikel veröffentlicht, in dem er dieHamas-Verwaltung kritisierte.

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Gewalt gegen Frauen und MädchenFrauen und Mädchen waren 2012 weiterhindurch die Gesetzgebung sowie im täglichenLeben diskriminiert. Sie wurden Opfer ge-schlechtsspezifischer Gewalt, einschließlichMorden, die von männlichen Familienmitglie-dern begangen wurden.

Per Präsidialerlass wurde die Regelung aus-gesetzt, dass vor Gerichten im Westjordanlanddie Verteidigung der »Familienehre« als straf-mildernder Umstand bei Mordfällen gilt.Frauen, die sich wegen häuslicher Gewalt undMorddrohungen an die Polizei wandten, wur-den von dieser nicht geschützt. Im Gazastreifengalt die Verteidigung der »Familienehre« nochimmer als Rechtfertigung für sehr milde Urteilevon unter 24 Monaten, wenn es überhaupt zuSchuldsprüchen kam.ý Randa al-Mahareq aus Samu im Westjordan-land wandte sich monatelang an die Polizeiund andere Behörden mit der Bitte um Schutz,bis ihr Vater und ihr Bruder im Juli 2012 unterdem Vorwurf festgenommen wurden, sie ge-schlagen zu haben. Nach vier Tagen wurdendie Männer wieder freigelassen und tötetenRanda al-Mahareq kurz darauf. Der Grund waroffenbar, dass sie ihre Scheidung missbillig-ten.ý Eine 22-jährige Frau wurde am 23. März 2012im al-Nasser-Krankenhaus in Khan Younis er-schossen. Ihr Onkel und ihr Bruder kamen inHaft. Nach Angaben der Polizei wurde dasVerbrechen aus Gründen der »Familienehre«verübt.

Außergerichtliche HinrichtungenIm November 2012 wurden sieben Männer, diewegen »Kollaboration« mit Israel bei der Inter-nen Sicherheitsbehörde im Gazastreifen inhaf-tiert waren, von Angehörigen des militärischenFlügels der Hamas mitgenommen und getötet.Die Behörden der Hamas sicherten eine Un-tersuchung der Tötungen zu. Doch soweit be-kannt, wurden die Verantwortlichen nicht zurRechenschaft gezogen.

StraflosigkeitDie Behörden der Hamas unternahmen 2012nichts, um mutmaßliche Kriegsverbrechenund mögliche Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit zu untersuchen, die der militärischeFlügel der Hamas und andere bewaffnete pa-lästinensische Gruppen in Gaza während derOperation »Gegossenes Blei« Ende 2008 undAnfang 2009 verübt hatten. Dasselbe galt fürden achttägigen militärischen Konflikt im No-vember 2012. Weder die PA noch die Hamasleiteten glaubwürdige Untersuchungen ein, umFoltervorwürfen und anderen Menschen-rechtsverstößen ihrer Sicherheitskräfte nachzu-gehen und die Verantwortlichen zur Rechen-schaft zu ziehen.

TodesstrafeMilitär- und Strafgerichte im Gazastreifen verur-teilten 2012 mindestens fünf Menschen zumTode, die wegen »Kollaboration« mit Israel undanderer Straftaten schuldig gesprochen wor-den waren. Sechs Personen wurden hingerich-tet. Im Westjordanland wurde ein Mann zumTode verurteilt, es gab aber keine Hinrichtun-gen.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten das West-

jordanland und den Gazastreifen im Juni und Juli. Im No-vember und Dezember fand ein erneuter Besuch des Gaza-streifens statt.

ÿ Palestinian Authority: Three men hanged; more facing execu-tion, http://amnesty.org/en/library/info/MDE21/004/2012/en

ÿ Palestinian Authority: Deliver justice for victims of Ramallahpolice violence, http://www.amnesty.org/en/news/palestinian-authority-deliver-justice-victims-ramallah-police-violence-2012-07-03

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Panama 327

PanamaAmtliche Bezeichnung: Republik PanamaStaats- und Regierungschef:

Ricardo Martinelli Berrocal

Im Jahr 2012 wurden mehrere Menschenbei Protestaktionen getötet oder ver-letzt. Die Behörden sorgten nicht dafür,dass effektive Untersuchungen durch-geführt und die für den Tod von Demons-trierenden Verantwortlichen zur Re-chenschaft gezogen wurden. Bei der Ein-richtung von Mechanismen zur Auffin-dung und Identifizierung von Personen,die Opfer des Verschwindenlassens ge-worden waren, konnte ein gewisser Fort-schritt erzielt werden.

Exzessive GewaltanwendungMutmaßlich exzessive Gewaltanwendung durchdie Sicherheitskräfte gab nach wie vor Anlasszu Besorgnis.ý Bei Protestaktionen, die Angehörige der indi-genen Bevölkerungsgruppe der Ngöbe-Bugléim Januar und Februar 2012 durchführten,wurden zwei indigene Personen getötet und40 Menschen, darunter Polizeibeamte, verletzt.Die Proteste richteten sich gegen Gesetzent-würfe, die Wirtschaftsunternehmen die Reali-sierung von Wasserkraftprojekten auf demLand der Ngöbe-Buglé erleichtern würden. Be-richten zufolge setzte die Polizei Tränengas inunmittelbarer Umgebung medizinischer Zen-tren ein und verwehrte festgenommenen Per-sonen den Zugang zu einem Rechtsbeistand.Der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte

indigener Völker forderte die Regierung im Fe-bruar auf, in einen Dialog mit den betroffenenNgöbe-Buglé zu treten, die Umstände zu unter-suchen, unter denen die Personen zu Tode ge-kommen waren, und sicherzustellen, dass dieVerantwortlichen zur Rechenschaft gezogenwerden.ý Im Oktober 2012 wurden laut Meldungen dreiPersonen, darunter ein neunjähriger Junge,bei Demonstrationen getötet. Die Proteste rich-teten sich gegen den geplanten Verkauf vonstaatseigenem Land in der Freihandelszone derStadt Colón. Die Polizei gab an, dass mehrereBeamte durch Schüsse und Geschosse, die ei-nige Protestierende geworfen hätten, verletztworden seien.

StraflosigkeitDie Bemühungen, Opfern von Menschen-rechtsverletzungen, die während der Militärre-gierungen (1968–89) begangen wurden, Ge-rechtigkeit widerfahren zu lassen, kamen nurschleppend voran. Im Januar 2012 richtete dieRegierung eine Nationale Sonderkommissionein, die bei der Suche nach Opfern des Ver-schwindenlassens und der Identifizierungihrer sterblichen Überreste Unterstützung leis-ten sollte. Eine Wahrheitskommission hatte inihrem 2002 herausgegebenen Bericht ge-schätzt, dass unter den Militärregierungen 207Personen Opfer des Verschwindenlassens ge-worden seien und getötet wurden.

Manuel Noriega (1983–89 Staatschef), der2011 von Frankreich ausgeliefert worden war,blieb 2012 in Erwartung seines Prozesses in Ge-wahrsam. Ihm wurden Menschenrechtsverlet-zungen wie außergerichtliche Hinrichtungenzur Last gelegt.

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328 Papua-Neuguinea

Papua-NeuguineaAmtliche Bezeichnung:

Unabhängiger Staat Papua-NeuguineaStaatsoberhaupt: Königin Elizabeth II., vertreten

durch Generalgouverneur Michael OgioRegierungschef: Peter Charles Paire O’Neill

(de facto seit August 2011, gewählt im August2012)

Die Regierung ließ Maßnahmen zur Be-kämpfung der hohen Gewaltrate gegenFrauen weitgehend vermissen. So blie-ben Tötungen wegen angeblicher Hexe-rei weit verbreitet. Bewohner informellerSiedlungen lebten nach wie vor mit derGefahr willkürlicher und gewaltsamerVertreibung. Die fehlende Rechen-schaftspflicht der Polizei blieb ein ernst-haftes Problem, vor allem in Fällenrechtswidriger Zwangsräumungen.

HintergrundIm Mai 2012 erklärte der Oberste Gerichtshofdie 2011 von der Parlamentsmehrheit unter-stützte Regierung von Peter O’Neill für unrecht-mäßig und ordnete die Wiedereinsetzung desehemaligen Premierministers Michael Somarean. Peter O’Neill kam dem Urteil des OberstenGerichtshofs nicht nach, sodass in der Folgezwei rivalisierende Regierungen die Kontrolleüber das Land für sich beanspruchten. Die fürdas Urteil verantwortlichen Richter des Obers-

ten Gerichtshofs wurden zunächst wegenHochverrats festgenommen, die Anklage ge-gen sie wurde später jedoch fallengelassen.Nach den Wahlen im August bildete Premier-minister O’Neill eine Koalitionsregierung mitdem ehemaligen Premierminister Somare.

Gewalt gegen Frauen und MädchenGewalt gegen Frauen und Mädchen war 2012nach wie vor an der Tagesordnung. FamiliäreGewalt war ein häufiges Problem. Es herrschteein Klima des Schweigens und der Straflosig-keit vor. Zudem wurde häufig von Übergriffen inPolizeigewahrsam berichtet.ý Im Juni wurde ein Polizeibeamter aus PortMoresby in zwei Fällen der Vergewaltigungeiner Frau in Polizeigewahrsam für schuldig be-funden.ý Im August wurde bei gewalttätigen Aus-schreitungen im Zuge der Wahlen ein jungesMädchen mit Behinderung im Hochland ver-brannt. Es wurden auch Befürchtungen laut,dass Frauen in einigen Gegenden an der freienStimmabgabe gehindert wurden.

Im Anschluss an ihren Besuch des Landes imMärz 2012 nannte die UN-Sonderberichter-statterin über Gewalt gegen Frauen diese Formder Gewalt in Papua-Neuguinea ein »allgegen-wärtiges Phänomen«, das alle gesellschaft-lichen Ebenen durchziehe, »zu Hause, in derlokalen Umgebung und im institutionellen Be-reich«. Als einen Faktor, der zur Gewalt in denFamilien beiträgt, nannte sie die Polygamie. Sieforderte die Regierung auf, ihrer Verantwor-tung nachzukommen und Frauen vor Gewalt zuschützen, auch durch die Bekämpfung tradi-tioneller Praktiken, die Frauen Schaden zufü-gen.

Tötungen wegen angeblicher HexereiMeldungen über Tötungen wegen angeblicherHexerei waren an der Tagesordnung, wobeiFrauen stärker als Männer gefährdet waren,Übergriffen dieser Art zum Opfer zu fallen. Bisauf wenige Ausnahmen blieben die Behördenbei diesem Problem untätig.ý Im Juli 2012 nahm die Polizei in der ProvinzMadang acht Frauen und 21 Männer fest und

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Paraguay 329

klagte sie des Mordes und Kannibalismus andrei Frauen und vier Männern an. Die Be-schuldigten gaben an, es habe sich bei den Op-fern um Hexer und Hexen gehandelt.

Rechtswidrige ZwangsräumungenNach wie vor wurden Bewohner informellerSiedlungen aufgrund von Entwicklungsprojek-ten oder unter dem Vorwand der Verbrechens-bekämpfung vor Ort Opfer rechtswidrigerZwangsräumungen. Dabei wandten die Behör-den häufig Gewalt an, um Widerstand zu un-terdrücken.ý Im Mai 2012 führten bewaffnete Polizeikräfteeine Zwangsräumung in Paga Hill durch, einerder ältesten Siedlungen in Port Moresby. Einegerichtliche Verfügung stoppte die Räumung,nachdem bereits einige Häuser zerstört wordenwaren. Die Sprecherin der Opposition, DameCarol Kidu, wurde wegen ihres Widerstands ge-gen die Zwangsräumungen von der Polizei an-gegriffen. Außerdem wurden Schüsse abgege-ben, um eine Menge zu zerstreuen.

ParaguayAmtliche Bezeichnung: Republik ParaguayStaats- und Regierungschef:

Federico Franco Goméz (löste im Juni FernandoLugo Méndez im Amt ab)

Bei der Gewährleistung der Rechte indi-gener Bevölkerungsgruppen waren ge-wisse Fortschritte zu verzeichnen. Eini-gen indigenen Gemeinschaften bliebder Zugang zu ihrem angestammtenLand jedoch weiterhin verwehrt. ImLaufe des Jahres fanden mehrere Pro-teste im Zusammenhang mit Landrech-ten statt. Es bestand weiterhin Besorgniswegen mangelnder Unparteilichkeit undUnabhängigkeit der Justiz.

HintergrundIm Juni 2012 wurde der ehemalige PräsidentFernando Lugo nach Zusammenstößen imöstlichen Departamento Canindeyú, bei denenelf Campesinos (Kleinbauern) und sechs Poli-zeibeamte getötet worden waren, seines Amtesenthoben.

Im Oktober wurde ein Auswahlkomitee (Ór-gano Selector) eingesetzt, das die Mitgliederdes Nationalen Mechanismus zur Verhütungvon Folter (Mecanismo Nacional para la Pre-vención de la Tortura) ernennen sollte. Bis zumJahresende waren die Mitglieder jedoch nochnicht nominiert worden.

Ein Gesetz zur Verhinderung von Diskriminie-rung war Ende 2012 noch vor dem Kongressanhängig. Der Gesetzentwurf, der internationaleStandards in nationales Recht umsetzen soll,wird seit 2007 diskutiert. Es bestand die Be-fürchtung, dass der Kongress beabsichtigenkönnte, sexuelle Orientierung nicht in den Kata-log der Diskriminierungsverbote aufzuneh-men.

Ein Gesetz zur Verhinderung, Beendigungund Bestrafung von Gewalt gegen Frauen,dessen Entwurf dem Kongress seit Novembervorgelegen hatte, war zum Ende des Berichts-jahres noch anhängig.

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330 Paraguay

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenBei der Lösung der Probleme im Zusam-menhang mit Landansprüchen einiger in-digener Bevölkerungsgruppen konnten Fort-schritte erzielt werden, anderen indigenenGemeinschaften wurde das Recht auf ihr an-gestammtes Land jedoch nach wie vor ver-wehrt.ý Die Sawhoyamaxa lebten weiterhin unter er-schreckenden Bedingungen am Rande einerHauptstraße. Obwohl der InteramerikanischeGerichtshof für Menschenrechte im Jahr 2006ein Urteil zu ihren Gunsten gefällt hatte, wurdeihnen ihr angestammtes Land nicht zurückge-geben. Im November 2012 wurden die Ver-handlungen zwischen den Behörden und demLandbesitzer erneut aufgenommen, nachdemdie Gemeinschaft Proteste organisiert undeine Straßensperre errichtet hatte. Bis zumJahresende konnte keine Vereinbarung überdas Land getroffen werden.ý Im Februar 2012 wurde zwischen den Behör-den und einem Landbesitzer ein Abkommenüber die Abtretung von Land getroffen, auf dasdie Yakye Axa Anspruch erhoben. ZumJahresende warteten die Yakya Axa noch im-mer darauf, sich in diesem Gebiet ansiedelnzu können. Die vom Interamerikanischen Ge-richtshof für Menschenrechte in seinem Urteilvon 2005 geforderte Einrichtung eines Gemein-deentwicklungsfonds war bis Ende 2012 nochnicht erfolgt.ý Im August 2012 versuchte die Polizei, einerechtswidrige Zwangsräumung von mehr als30 Familien einer im Bezirk Itakyry lebendenGemeinschaft der Ava Guaraní durchzufüh-ren. Angehörige der Gemeinschaft berichteten,dass die Polizei mehrere Hütten (chozas) nie-dergebrannt hätte. Eine Handelsgesellschafthatte Anspruch auf das Land erhoben, aufdem die Gemeinschaft seit etwa 70 Jahrenlebte. Die Gemeinschaft führte jedoch an,dass sie einen Rechtsanspruch auf das Landhabe.

JustizsystemDas Justizsystem wurde wegen mangelnderUnparteilichkeit und Unabhängigkeit kritisiert,außerdem gab es Vorwürfe wegen dessen un-zulänglicher personeller und finanzieller Aus-stattung. Es gab Meldungen über Verzögerun-gen in der Rechtsprechung.

Im Juni 2012 führten Landkonflikte im BezirkCuruguaty im Departamento Canindeyú zuZusammenstößen zwischen Protestierendenund der Polizei, bei denen 17 Personen – elfCampesinos und sechs Polizisten – zu Tode ka-men. Im Dezember wurden 14 Campesinoswegen Straftaten, u. a. illegaler Landbesetzungund Bildung einer kriminellen Vereinigung,angeklagt; zehn von ihnen wurden außerdemwegen der Tötung der sechs Polizisten be-schuldigt. Es herrschte Besorgnis wegen man-gelnder Unparteilichkeit bei den Untersu-chungen dieser Zusammenstöße, die sich Be-richten zufolge ausschließlich auf die Hand-lungen der Protestierenden konzentrierten. DieGerichtsverfahren gegen die 14 Campesinoswaren zum Jahresende noch anhängig.

Einige der im Zusammenhang mit den Unru-hen Inhaftierten traten in den Hungerstreik,um ihre Unschuld zu demonstrieren. Sie gabenan, dass sie während der Zusammenstößeentweder nicht anwesend oder nicht daran be-teiligt gewesen seien.

Einige der im Zusammenhang mit den Aus-schreitungen in Curuguaty in Gewahrsam ge-haltenen Personen sollen gefoltert worden sein.Ende des Jahres 2012 war nicht bekannt, obaufgrund dieser Vorwürfe Untersuchungen ein-geleitet worden waren.

In den vergangenen Jahren war es wiederholtzu Besetzungen des umstrittenen Landes inCuruguaty gekommen. Zum Jahresende warennoch Gerichtsprozesse anhängig, in denen ge-klärt werden soll, wem dieses Land gehört.

MenschenrechtsverteidigerGegen vier Mitglieder der NGO Iniciativa Amoto-codie waren 2012 weiterhin Gerichtsverfahren,u. a. wegen der Anklage des Vertrauensbruchs,anhängig. Die NGO setzt sich für die Rechteder in der Chaco-Region ansässigen abgeschie-

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Peru 331

den lebenden indigenen Bevölkerungsgruppeder Ayoreo ein.

Gegen die Menschenrechtsorganisation wa-ren Ermittlungen aufgenommen worden,nachdem sie öffentlich ihren Widerstand gegeneine wissenschaftliche Expedition namens»Dry Chaco 2010« erklärt hatte und dies damitbegründete, dass die Rechte der abgeschie-den lebenden indigenen Völker hierdurch be-einträchtigt werden könnten. Die Expeditionwurde daraufhin abgesagt. Während der zweiJahre andauernden Untersuchungen gab esetliche Wechsel in der Staatsanwaltschaft, undAnhörungen wurden mehrmals verschoben.Dem Staatsanwalt gelang es nicht, ausrei-chende Begründungen für eine Anklage zuliefern, und im August beantragte er einen zeit-weiligen Aufschub der Verhandlungen, danoch weitere Informationen eingeholt werdenmüssten. Der Richter entsprach dem Antragdes Staatsanwalts.

Amnesty International: Missionþ Delegierte von Amnesty International besuchten Paraguay

im November.

PeruAmtliche Bezeichnung: Republik PeruStaats- und Regierungschef:

Ollanta Humala Tasso

Bei Protesten gegen Bergbauprojektekam es 2012 zu Zusammenstößen zwi-schen Demonstrierenden und Sicher-heitskräften. Dabei wurden Demonstrie-rende getötet und Menschenrechtsvertei-diger willkürlich inhaftiert und misshan-delt. Es gab kaum Fortschritte bei derAufarbeitung der Menschenrechtsver-letzungen aus der Zeit des internen be-waffneten Konflikts (1980–2000). Dieunzureichende Konsultation indigener

Bevölkerungsgruppen im Zusammen-hang mit geplanten Projekten gab weiter-hin Anlass zur Sorge.

HintergrundDas gesamte Jahr 2012 über kam es zu Mas-sendemonstrationen. Dabei forderten die De-monstrierenden Arbeitnehmerrechte und pro-testierten gegen Vorhaben zur Rohstoffgewin-nung.

Bei gewaltsamen Zusammenstößen mit im-mer noch aktiven Kämpfern der bewaffnetenOppositionsgruppe Leuchtender Pfad (SenderoLuminoso) wurden mindestens 30 Angehörigeder Sicherheitskräfte getötet und zahlreicheweitere verletzt. Im Februar wurde der Anfüh-rer des Leuchtenden Pfads, Florindo EleuterioFlores Hala (alias Camarada Artemio), festge-nommen.

Im September ratifizierte Peru zwar das Inter-nationale Übereinkommen zum Schutz allerPersonen vor dem Verschwindenlassen. Biszum Jahresende hatte das Land jedoch dieZuständigkeit des Ausschusses über das Ver-schwindenlassen für individuelle Beschwer-den noch nicht anerkannt.

Im November begutachtete der UN-Men-schenrechtsrat Perus Menschenrechtsbilanzim Rahmen der Universellen RegelmäßigenÜberprüfung. Peru akzeptierte die meisten

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332 Peru

Empfehlungen des Gremiums. Das Land wurdeu. a. aufgefordert, Folter und andere Miss-handlungen von Inhaftierten zu verhindern undden Opfern von MenschenrechtsverletzungenGerechtigkeit und Wiedergutmachung wider-fahren zu lassen. Außerdem solle Peru Richtli-nien zum Umgang mit Schwangerschaftsab-brüchen verabschieden und die Möglichkeiteiner Legalisierung des Schwangerschaftsab-bruchs nach einer Vergewaltigung prüfen. DieRegierung solle zudem sicherstellen, dass indi-gene Bevölkerungsgruppen bei Vorhaben, dieihre Rechte und ihre Lebensgrundlagen beein-trächtigen könnten, konsultiert werden.

Polizei und SicherheitskräfteDen Sicherheitskräften wurden im Zusammen-hang mit Protestaktionen gegen Projekte zurRohstoffgewinnung willkürliche Festnahmen,Folter und andere Misshandlungen vorgewor-fen. Außerdem gab es Berichte über exzessivenGewalteinsatz gegen Demonstrierende.ý Bei Zusammenstößen in Espinar in der Re-gion Cusco und in Celendín in der Region Ca-jamarca wurden im Mai bzw. Juli 2012 sechsPersonen erschossen, dem Vernehmen nachvon Angehörigen der Sicherheitskräfte. Unterden Toten war auch ein 17-jähriger Junge.ý Bei einer Demonstration in Huaraz in der Re-gion Ancash wurde im September 2012 Ne-mesio Poma Ascate erschossen, viele weiterePersonen wurden verletzt. Nemesio Poma As-cate hatte gemeinsam mit anderen Bewohnernder Gemeinde Mareniyoc gegen ein Bergbau-unternehmen protestiert, das der Gemeindekein sauberes Trinkwasser zur Verfügungstellte.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger wurden bedroht,willkürlich inhaftiert und misshandelt.ý Im Mai 2012 wurden Jaime Cesar Borda Pariund Romualdo Tito Pinto von der Menschen-rechtsorganisation Vicaría de Solidaridad de Si-cuani sowie Sergio Huamani, der Sprechereiner Gemeinde, vor einem Bergbaucamp fest-genommen. Man warf ihnen vor, in ihrem Autoscharfe Munition gelagert zu haben. Die drei

Männer erklärten, die Polizei habe ihnen dieMunition bei einer Durchsuchung des Autosuntergeschoben, bei der sie nicht anwesendwaren. Die Männer hatten sich gemeinsam miteinem lokalen Staatsanwalt einen Eindruckvon der Situation der Häftlinge verschaffen wol-len, die nach gewaltsamen Zusammenstößenbei Protestaktionen in der Gegend festgenom-men worden waren. Alle drei Männer kamenzwei Tage später gegen Kaution wieder frei. DieErmittlungen gegen sie waren Ende 2012 abernoch nicht abgeschlossen.ý Im Juni 2012 schlugen Polizeibeamte in derRegion Cajamarca Berichten zufolge die Men-schenrechtsverteidigerinnen Amparo Abantound Genoveva Gómez. Amparo Abanto arbei-tet als Rechtsanwältin für die lokale NGO Grupode Formación e Intervención para el DesarrolloSostenible (GRUFIDES), die sich für nachhaltigeEntwicklung und Umweltschutz engagiert, so-wie für den Dachverband der peruanischenMenschenrechtsorganisationen CoordinadoraNacional de Derechos Humanos (CNDDHH).Die Anwältin Genoveva Gómez arbeitet für dieperuanische Ombudsstelle (Defensoría delPueblo). Die beiden Frauen hatten versucht,Zugang zu Personen zu bekommen, die beiProtestaktionen gegen ein Bergbauprojekt inCajamarca festgenommen worden waren. Diebetroffenen Gemeinden befürchteten, dasProjekt könnte die örtliche Wasserversorgunggefährden. Ende 2012 war eine Untersuchungder Misshandlungsvorwürfe noch nicht abge-schlossen.ý Im Juli 2012 nahmen Polizeibeamte denGRUFIDES-Mitarbeiter Marco Arana bei Pro-testen gegen das Bergbauprojekt in Cajamarcafest und misshandelten ihn. Am Tag daraufwurde er unter Auflagen freigelassen. Er erstat-tete Strafanzeige wegen Misshandlung undFolter. Nachdem die Behörden entschiedenhatten, seine Anzeige nicht weiterzuverfol-gen, legte er ein Rechtsmittel ein, das zumJahresende noch anhängig war. Marco Aranaerwartete Ende des Jahres ein Gerichtsverfah-ren wegen »Störung der öffentlichen Ord-nung« und »Widerstand gegen die Staatsgewaltbei der Festnahme«. Bezüglich seiner Strafan-

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Philippinen 333

zeige wegen Amtsmissbrauch waren Ende 2012noch keine Ermittlungen aufgenommen wor-den.

Rechte indigenerBevölkerungsgruppenIm April 2012 veröffentlichte das Kulturministe-rium die Ausführungsbestimmungen zum Ge-setz über das Recht auf vorherige Konsultationder indigenen Bevölkerungsgruppen. Das Ge-setz und seine Ausführungsbestimmungenwurden skeptisch beurteilt. So wurde u. a. mo-niert, indigene Bevölkerungsgruppen seien beider Ausarbeitung des Gesetzes nicht in ange-messener Weise einbezogen worden.

Im August 2012 kündigte die Regierung denersten Konsultationsprozess auf Grundlageder neuen gesetzlichen Bestimmungen an.Demnach war vorgesehen, die indigenen Be-völkerungsgruppen der Achuar, Quechua undKichwa im Jahr 2013 zu einem Erdölförderpro-jekt in Loreto im Norden Perus zu befragen.

StraflosigkeitDie Aufarbeitung von Menschenrechtsverlet-zungen, die in der Vergangenheit verübt wur-den, verlief schleppend. Was die Rechte derOpfer auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Wieder-gutmachung betraf, waren 2012 kaum Fort-schritte zu verzeichnen, in einigen Fällen gabes sogar Rückschläge. Anlass zur Sorge botweiterhin, dass das Verteidigungsministeriumnicht zu einer uneingeschränkten Zusammen-arbeit bereit war und entscheidende Informa-tionen nicht zur Verfügung stellte.

Im Mai verabschiedete das Parlament ein Ge-setz, das für alle Opfer sexueller Gewalt einAnrecht auf Entschädigungen vorsah. Das Ge-setz war bis zum Jahresende jedoch nochnicht in Kraft getreten. Folglich blieben Perso-nen, die während des internen bewaffnetenKonflikts nicht vergewaltigt, sondern in andererWeise Opfer sexueller Gewalt geworden wa-ren, Entschädigungen weiterhin versagt.

Sexuelle und reproduktive RechteFrauen und Mädchen wurden nach wie vor ander Ausübung ihrer sexuellen und reprodukti-ven Rechte gehindert. In staatlichen Gesund-heitseinrichtungen wurde keine Notfallverhü-tung (»Pille danach«) zur Verfügung gestellt.Die Behörden unternahmen auch nichts, umdie seit langem überfälligen nationalen Richtli-nien zum Schwangerschaftsabbruch ausgesundheitlichen Gründen auszuarbeiten.

Im November 2012 äußerte der UN-Aus-schuss gegen Folter Bedenken wegen der Kri-minalisierung des Schwangerschaftsabbruchsnach einer Vergewaltigung. Er zeigte sich auchbesorgt bezüglich des Urteils des Verfassungs-gerichts aus dem Jahr 2009, wonach es demStaat untersagt ist, Mittel zur Notfallverhütungzu verteilen.

PhilippinenAmtliche Bezeichnung: Republik der PhilippinenStaats- und Regierungschef:

Benigno S. Aquino III.

Das Leben von Menschenrechtsverteidi-gern und Journalisten war in Gefahr.Tausende Fälle schwerer Menschen-rechtsverletzungen blieben unaufge-

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334 Philippinen

klärt. Den Opfern von Menschenrechts-verletzungen, auch derjenigen, die un-ter dem Kriegsrecht 1972–81 begangenworden waren, wurden weiterhin Ge-rechtigkeit, Wahrheit und Entschädigun-gen versagt. Im April 2012 unterzeich-neten die Philippinen das Zusatzproto-koll zum UN-Übereinkommen gegenFolter, doch das Land richtete den erfor-derlichen Mechanismus zur Überwa-chung der Behandlung von Gefangenenbis zum Jahresende nicht ein. Der Zu-gang zur reproduktiven Gesundheitsver-sorgung war nach wie vor einge-schränkt; im Dezember trat ein Gesetzzur reproduktiven Gesundheit in Kraft.

HintergrundIm Oktober 2012 unterzeichneten die Regie-rung und die Islamische Befreiungsfront derMoro (Moro Islamic Liberation Front – MILF) einRahmenabkommen, das zwar die Grundlagefür eine friedliche Lösung des seit Jahrzehntenandauernden bewaffneten Konflikts in Minda-nao schuf, aber nicht umfassend auf die Men-schenrechte einging. Im Oktober erließ derKongress das Gesetz zur Verhinderung vonComputerkriminalität (Cybercrime PreventionAct), auf dessen Grundlage eine Person, dieMeinungen im Internet veröffentlicht, die alsverleumderisch beurteilt werden, bis zu zwölfJahre inhaftiert werden kann. Nachdem diesin der Öffentlichkeit auf heftige Kritik gestoßenwar, setzte das Oberste Gericht das Inkrafttre-ten des Gesetzes bis zum Abschluss einer ge-richtlichen Überprüfung aus. Im Novembernahmen die Philippinen die Menschenrechts-erklärung der südostasiatischen Staatenge-meinschaft ASEAN an, obwohl ernste Vorbe-halte bestanden, da sie weit hinter internatio-nalen Menschenrechtsstandards zurückbleibt.

Rechtswidrige TötungenMehr als zwölf politisch engagierte Bürger, diesich gegen Bergbauprojekte wehrten, undeinige ihrer Familienangehörigen sowie mindes-tens sechs Journalisten wurden getötet.ý Männer auf Motorrädern erschossen meh-

rere Rundfunkjournalisten aus Mindanao: imJanuar 2012 Christopher Guarin, im April Rom-mel Palma und Aldion Layao sowie im MaiNestor Libaton. Auf die gleiche Weise kam imNovember der Rundfunkjournalist JuliusCauso aus Cabanatuan ums Leben. Im Sep-tember wurde in Maguindanao der Leichnamdes Journalisten und Politikers Eddie Apostolaufgefunden. Er wies Schussverletzungen amKopf auf.ý Im September 2012 schossen Unbekannteauf den Sprecher der indigenen Volksgruppeder Subanen, Timuay Lucenio Manda, als erseinen elfjährigen Sohn Jordan zur Schulebrachte. Timuay Manda, der gegen Bergbauak-tivitäten Widerstand leistet, wurde bei demÜberfall verwundet, sein Sohn Jordan getötet.Es kam zur Festnahme von zwei Tatverdächti-gen.ý Im Oktober nahmen Soldaten in Davao delSur das Haus des lokalen Sprechers der Volks-gruppe der B’laan, Daguil Capion, unter Be-schuss. Er hatte gegen ein Bergbauvorhabenprotestiert. Bei dem Angriff wurden seineschwangere Frau Juvy sowie ihre Kinder, der13-jährige Sohn Jordan und der achtjährigeSohn John, getötet. Die Behörden kündigtenan, dass 13 Soldaten als Tatverdächtige vor einKriegsgericht gestellt würden. Ungeklärt blieb,ob die strafrechtlichen Ermittlungen von einemGericht der zivilen Justiz geführt werden soll-ten.

Drei Jahre nach dem Massaker von Maguin-danao, bei dem von staatlichen Stellen be-waffnete und von Armeeangehörigen geführteMilizen 57 Menschen getötet hatten, hatte diePolizei erst die Hälfte der 197 Tatverdächtigenfestgenommen. Während der fortlaufendenGerichtsverfahren gegen die mutmaßlichenTäter wurden als Kronzeugen vorgesehenePersonen sowie andere Zeugen und derenFamilienangehörige bedroht.ý Im Februar 2012 wurde Alijol Ampatuan ge-tötet. Er war ein nicht öffentlich aufgetretenerZeuge, der sich bereit erklärt hatte, Mitgliederder Zivilen Freiwilligen-Organisation (CivilianVolunteer Organisation), die sich an dem Mas-saker beteiligt hatten, zu identifizieren.

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Philippinen 335

ý Gleichfalls im Februar beging der als Kron-zeuge geltende Polizist Hernanie Decipulo Be-richten zufolge im Polizeigewahrsam Selbst-mord.ý Im Mai 2012 wurde der mit einer Säge zerstü-ckelte Leichnam von Esmail Amil Enog aufge-funden. Er hatte als Zeuge vor Gericht ausge-sagt.ý Im Juni 2012 gab die Polizei bekannt, dassdrei Angehörige von Zeugen im Maguindanao-Verfahren seit dem Massaker getötet wordenseien.

Im Oktober forderte der UN-Menschenrechts-ausschuss die Regierung auf, die Effektivitätihres Zeugenschutzprogramms zu verbessernund »Fälle von Tötungen und mutmaßlicherEinschüchterung von Zeugen vollständig zu un-tersuchen, um das Klima der Angst zu been-den, das die Ermittlung und Strafverfolgung er-heblich belastet«.

Folter und andere MisshandlungenDrei Jahre nach dem Erlass des Antifoltergeset-zes war seine Umsetzung noch immer nichtzufriedenstellend. Bisher wurde noch kein Tä-ter wegen eines Folterdelikts verurteilt. Opfervon Folter, insbesondere Personen, die unterdem Verdacht standen, Straftaten begangenzu haben, nahmen aus Furcht vor Repressalienund lang andauernder strafrechtlicher Verfol-gung davon Abstand, Beschwerde einzurei-chen.ý Das Gerichtsverfahren im Fall von DariusEvangelista wurde fortgeführt. In seinem Fallwaren der Tatbestand der Folter und die Identi-tät der Täter im Jahr 2010 auf Video dokumen-tiert worden. Sieben Polizeibeamte wurden be-schuldigt, aber nur zwei von ihnen angeklagt.Die Tatverdächtigen befanden sich anfänglichin Polizeigewahrsam, doch laut Angaben derPhilippinischen Menschenrechtskommissionverschwanden sie im April 2012 aus dem Poli-zeiarrest und sind seither flüchtig.

VerschwindenlassenEs gab weiterhin Berichte über das Verschwin-denlassen von politisch und sozial engagiertenBürgern, mutmaßlichen Aufständischen und

Personen, die verdächtigt wurden, Straftatenverübt zu haben.ý Im Januar 2012 wurden die Landwirte NajirAhung, Rasbi Kasaran und Yusoph Moham-mad, die mit dem Flugzeug aus ZamboangaCity kamen, bei ihrer Ankunft auf dem Flugha-fen in Manila dem Vernehmen nach von Sicher-heitskräften festgenommen. Sie wurden seit-her nicht mehr gesehen. Die Behörden lehntenes ab, den Anwälten, die die vermissten Män-ner vertreten, die Bänder der Videoüberwa-chung oder eine Liste der Sicherheitskräfte,die während des Verschwindens der Männerauf dem Flughafen Dienst taten, auszuhändi-gen.

Nach mehr als zwei Jahrzehnten Lobbyarbeitder Zivilgesellschaft gab der Kongress im Ok-tober seine Zustimmung zum Gesetz gegen dasVerschwindenlassen (Anti-Enforced or Invo-luntary Disappearence Act of 2012). Das Ge-setz, das Verschwindenlassen zur Straftat er-klärt und dafür ein Strafmaß bis zu lebenslangerHaft vorsieht, wurde vom Präsidenten am21. Dezember unterzeichnet.

StraflosigkeitFolter, Verschwindenlassen und rechtswidrigeTötungen blieben trotz der von der Regierungabgegebenen Verpflichtung, diese Verbrechenzu verfolgen und die Täter vor Gericht zu stel-len, weiterhin straflos. Gerichtsverfahren, dieMenschenrechtsverletzungen zum Gegen-stand hatten, die während des Kriegsrechts(1972–81) begangen worden waren, wurdenentweder eingestellt oder ungebührlich in dieLänge gezogen. Im November ordnete derPräsident die Schaffung eines interinstitutionel-len Ausschusses an, der Fälle von Folter, Ver-schwindenlassen und rechtswidrigen Tötungenuntersuchen soll, die in der jüngeren Vergan-genheit verübt wurden.ý Im Januar 2012 wurde Raymond Manalo, derFolter und Verschwindenlassen überlebt hat,aufgefordert, im Büro des Ombudsmanns alsZeuge auszusagen. Die Aufforderung erfolgtemehr als drei Jahre nach seiner Anzeige gegenseine Peiniger wegen Entführung, willkürlicherGefangennahme und Folter. Er war zusammen

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mit mehreren anderen Personen im Jahr 2006Opfer von Verschwindenlassen und Folter ge-worden. Nach vorliegenden Informationenwurden die Straftaten von Soldaten verübt, dieunter dem Kommando von General Jovito Pal-paran standen, der sich seit dem Jahr 2011 sei-ner Festnahme entzieht.

Recht auf GesundheitIm Juni 2012 gab die Regierung die Ergebnisseihrer im Jahr 2011 durchgeführten Untersu-chung über die Gesundheit in den Familien be-kannt. Danach war die Müttersterblichkeit imZeitraum von 2006 bis 2010 von 162 auf 221 pro100000 Lebendgeburten gestiegen. Auf derGrundlage dieser Daten schätzte der Gesund-heitsminister, dass jeden Tag elf Frauen infolgeleicht vermeidbarer Komplikationen währendder Schwangerschaft oder Geburt gestorbenwaren.

Im Dezember wurde nach zehnjähriger Lob-byarbeit durch zivilgesellschaftliche Organisa-tionen das Gesetz zur reproduktiven Gesund-heit (Reproductive Health Bill) verabschiedet.Das Gesetz führt die proaktive Finanzierungmoderner Methoden der Empfängnisverhü-tung durch die Regierung sowie obligatorischeGesundheits- und Sexualerziehung ein.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte die Phi-

lippinen im September.ÿ Philippines: Torturers evade justice on Aquino’s watch,

http://amnesty.org/en/library/info/ASA35/004/2012/enÿ Philippines: Amnesty International submission to the Human

Rights Committee – 106th session, http://amnesty.org/en/library/info/ASA35/006/2012/en

ÿ Philippines: »Cybercrime« law threatens free speech andmust be reviewed, http://amnesty.org/en/library/info/ASA35/008/2012/en

PolenAmtliche Bezeichnung: Republik PolenStaatsoberhaupt: Bronisław KomorowskiRegierungschef: Donald Tusk

Die Untersuchung der Beteiligung Polensam CIA-Programm für außerordentlicheÜberstellungen und Geheimgefängnissekam nur schleppend voran. Der Öffent-lichkeit wurden nach wie vor Informatio-nen zum Fall von Abd al-Rahim al-Nas-hiri vorenthalten, mit dem sich der Euro-päische Gerichtshof für Menschen-rechte befasste. Es gab weiterhin Diskus-sionen über Gesetzesänderungen zumSchwangerschaftsabbruch. Der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechteentschied, dass Polen das Recht einesMädchens auf einen legalen Schwan-gerschaftsabbruch verletzt habe.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitDas 2008 eingeleitete Ermittlungsverfahren zurBeteiligung Polens am CIA-Programm für au-ßerordentliche Überstellungen und Geheimge-fängnisse wurde im Februar 2012 von derStaatsanwaltschaft Warschau nach Krakau ver-legt. Der Vorgang löste Bedenken aus, wasden Wechsel der Ermittler und weitere Verzöge-rungen anging. Die Staatsanwaltschaft War-schau hatte zuvor Abd al-Rahim al-Nashiri undZayn al-Abidin Muhammad Husayn (auch be-

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kannt als Abu Zubaydah) einen Opferstatus zu-erkannt. Die Männer, die beide nach wie vor inGuantánamo Bay inhaftiert waren, hatten ange-geben, zwischen 2002 und 2003 widerrecht-lich nach Polen überstellt worden und Opferdes Verschwindenlassens geworden zu sein.Sie seien in einem CIA-Geheimgefängnis inhaf-tiert worden, wo man sie gefoltert und ander-weitig misshandelt habe.

Polnische Medien berichteten im März, gegenden ehemaligen polnischen GeheimdienstchefZbigniew Siemiatkowski und seinen Stellvertre-ter sei Anklage erhoben worden wegen Strafta-ten in Verbindung mit der Inhaftierung undMisshandlung von Personen in CIA-Geheimge-fängnissen auf polnischem Staatsgebiet. DieStaatsanwaltschaft wollte diese Meldungenweder bestätigen noch dementieren. Die Ermitt-lungen wurden weiterhin im Geheimen ge-führt. Die Opfer äußerten Besorgnis bezüglichihres Zugangs zu Informationen und ihrer um-fassenden Beteiligung an den Verfahren.

Das Europäische Parlament verabschiedeteim September 2012 einen Bericht zum Vor-wurf der Überstellung und widerrechtlichen In-haftierung von Gefangenen in europäischenLändern durch die CIA. Darin werden alle EU-Mitgliedstaaten, die im Verdacht stehen, aufihrem Territorium geheime CIA-Haftzentren er-laubt zu haben, aufgefordert, ihrer rechtlichenVerpflichtung nachzukommen und unabhän-gige, unparteiische, gründliche und wirksameErmittlungen hinsichtlich ihrer Beteiligung andem CIA-Programm einzuleiten. Der zustän-dige Berichterstatter hatte Polen im Mai be-sucht, um mit den Behörden über die polni-sche Beteiligung an dem Programm zu spre-chen.

Im Juli 2012 setzte der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte die polnischen Be-hörden über den Fall al-Nashiri gegen Polen inKenntnis. Im September übermittelte die Re-gierung ihre Stellungnahme unter Geheimhal-tung an den Gerichtshof, der wiederum dasStrafverteidigerteam al-Nashiris anwies, eben-falls unter Geheimhaltung darauf zu reagieren.Auf diese Weise wurden der Öffentlichkeit Infor-mationen zu dem Fall vorenthalten.

Sexuelle und reproduktive RechteIm Juni 2012 befasste sich der UN-Menschen-rechtsrat im Rahmen der Universellen Regel-mäßigen Überprüfung (UPR) mit der Men-schenrechtssituation in Polen. Das Landwurde aufgefordert, den Zugang zu Dienstleis-tungen im Bereich der reproduktiven Gesund-heit, einschließlich des legalen Schwanger-schaftsabbruchs, zu verbessern. Im Oktoberlehnte das Parlament einen Gesetzentwurf ab,der darauf abzielte, die rechtlichen Vorausset-zungen für einen legalen Schwangerschaftsab-bruch weiter zu fassen, einen umfassendenSexualkundeunterricht einzuführen und Verhü-tungsmittel zu subventionieren.ý Im Oktober 2012 entschied der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte im Fall P. undS. gegen Polen, das Land habe das Recht einer14-Jährigen auf einen legalen Schwanger-schaftsabbruch nach einer mutmaßlichen Ver-gewaltigung verletzt. Obwohl die rechtlichenVoraussetzungen für einen legalen Schwanger-schaftsabbruch erfüllt waren, wurde das Mäd-chen daran gehindert, den Eingriff rechtzeitigvornehmen zu lassen. Das Personal in dreiKrankenhäusern sowie Polizeibeamte und Pri-vatpersonen verhinderten, dass sie die ihr zu-stehende Gesundheitsversorgung in Anspruchnehmen konnte. Stattdessen wurde die14-Jährige Schikanen, Demütigungen und Ein-schüchterungen unterzogen, indem man sieu. a. in einer Jugendeinrichtung inhaftierte.Nach Ansicht des Gerichts verstieß diese Be-handlung gegen das Verbot unmenschlicheroder erniedrigender Behandlung und verletztedas Recht auf Privatleben und das Recht aufFreiheit.

Recht auf freie MeinungsäußerungVerleumdung war nach wie vor ein Straftatbe-stand.ý Im April 2012 stellte der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte im Fall Kaper-zynski gegen Polen fest, dass die polnischenBehörden gegen das Recht auf freie Mei-nungsäußerung eines Journalisten verstoßenhatten. Der Journalist hatte einen Artikel ge-schrieben, in dem er einer lokalen Behörde

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338 Portugal

Mängel beim Umweltschutz vorwarf, die Ent-gegnung der Behörde aber nicht veröffentlicht.Daraufhin wurde er zu einer Strafe von vierMonaten gemeinnütziger Arbeit auf Bewährungverurteilt und erhielt ein zweijähriges Berufs-verbot. Der Gerichtshof befand, das Verhängeneiner Strafe wegen des Versäumnisses, eineErwiderung zu veröffentlichen, sei unverhältnis-mäßig. Zudem sei es einer freien Debatte überThemen von öffentlichem Interesse abträglich.ý Im September 2012 wurde der Betreiber derWebsite Antykomor.pl zu zehn Monaten ge-meinnütziger Arbeit verurteilt, weil er satirischeBeiträge über den polnischen Staatspräsiden-ten veröffentlicht hatte.ý Der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte entschied im September 2012, dassPolen im Fall Lewandowska-Malec gegen Polendas Recht auf freie Meinungsäußerung einerStadträtin verletzt habe. Die Stadträtin hatte imZusammenhang mit einem Fall, bei dem esum mutmaßlichen Betrug städtischer Beamterin Swiatniki Górne ging, öffentlich die Meinungvertreten, der Bürgermeister der Stadt übe wi-derrechtlich Druck auf die Staatsanwaltschaftaus. Nach einer Anzeige des Bürgermeisterswurde die Stadträtin 2006 wegen Verleum-dung schuldig gesprochen. Der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte befand, dieVerhängung einer Strafe – in diesem Fall einerGeldstrafe in Höhe von 1900 Euro – sei unver-hältnismäßig.

Flüchtlinge und MigrantenIm Oktober 2012 erklärte Polen seine Absicht,die Inhaftierung unbegleiteter minderjährigerMigranten unter 13 Jahren zu verbieten. Aller-dings waren Statistiken zufolge die meistenunbegleiteten minderjährigen Migranten in Po-len über 13 Jahre alt. Die Übernahme der vomUN-Menschenrechtsrat im Rahmen der Uni-versellen Regelmäßigen Überprüfung ausge-sprochene Empfehlung, die Inhaftierung min-derjähriger Migranten generell zu verbieten,wies die Regierung im September 2012 zurück.

PortugalAmtliche Bezeichnung: Portugiesische RepublikStaatsoberhaupt: Aníbal António Cavaco SilvaRegierungschef:

Pedro Manuel Mamede Passos Coelho

Es gab Berichte über exzessive Gewalt-anwendung gegen Demonstrierendeund Angehörige der Roma durch diePolizei. Familiäre Gewalt gab unvermin-dert Anlass zu ernster Sorge.

Folter und andere MisshandlungenHinsichtlich der strafrechtlichen Ermittlungenzum Einsatz einer Elektroschockpistole gegeneinen Insassen des Gefängnisses Paços de Fer-reira im Jahr 2010 waren keine Fortschritte zuverzeichnen, obwohl von der Gefängnisauf-sichtsbehörde (Serviço de Auditoria e Inspec-ção da Direcção Geral dos Serviços Prisionais)eingeleitete Untersuchungen ergeben hatten,dass der Einsatz der Waffe durch die beidenAngehörigen der Sondereinheit des Gefäng-niswachpersonals (Grupo de Intervenção e Se-gurança Prisional) unverhältnismäßig gewe-sen war. Die Disziplinarverfahren gegen die bei-den Gefängnisaufseher waren Ende 2012noch anhängig.ý Im Strafprozess gegen drei Polizeibeamte,denen vorgeworfen wurde, Virgolino Borges imMärz 2000 in Polizeigewahrsam gefoltert zu ha-

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Puerto Rico 339

ben, gab es 2012 kaum Fortschritte. Die Ver-handlungen hatten im November 2011 begon-nen.

Exzessive Anwendung von GewaltWährend Protesten gegen Sparmaßnahmen imMärz 2012 soll die Polizei exzessive Gewalt ge-gen friedliche Demonstrierende eingesetzt ha-ben. Am 22. März mussten zwei Journalistenmedizinisch behandelt werden, nachdem sieBerichten zufolge bei einer Demonstration inLissabon von Polizisten geschlagen worden wa-ren.ý Im September 2012 setzten Angehörige derRepublikanischen Nationalgarde (Guarda Na-cional Rebublicana) Berichten zufolge exzes-sive Gewalt ein, als sie einen Angehörigeneiner Roma-Gemeinschaft in Regalde in derStadt Vila Verde festzunehmen versuchten.Mindestens neun Roma, darunter auch Kinder,sollen von etwa 30 Polizeibeamten geschla-gen, tätlich angegriffen und beschimpft wordensein. Mindestens drei der Opfer mussten me-dizinisch versorgt werden.ý Am 14. November 2012 soll die Polizei wäh-rend eines Streiks mit Schlagstöcken gegenfriedliche Demonstrierende vorgegangen sein.Die Medien berichteten von 48 Verletzten.Einige Streikende sollen ohne Angabe vonGründen inhaftiert worden sein. Außerdem hatman ihnen nach vorliegenden Informationennicht rechtzeitig den Zugang zu einem Rechts-beistand gewährt.

Gewalt gegen Frauen und MädchenFamiliäre Gewalt gab nach wie vor Anlass zuernster Sorge. Die portugiesische Vereinigungfür Opferhilfe (Associação Portuguesa de Apoioà Vítima) und der portugiesische Ombuds-mann berichteten von einer Zunahme von Be-schwerden älterer Opfer häuslicher Gewalt.Laut Angaben der Vereinigung für Opferhilfestieg 2012 die Gesamtzahl der Anzeigen überhäusliche Gewalt auf 16970 verglichen mit15724 Anzeigen im Vorjahr.

Bis September 2012 hatte die Frauenrechts-organisation União de Mulheres Alternativa eResposta die Anzahl der Todesfälle infolge

häuslicher Gewalt bereits auf 36 geschätzt, imVorjahr waren es im Vergleich dazu insgesamt27 Todesfälle.

Internationale KontrolleAm 31. Oktober 2012 veröffentlichte der UN-Menschenrechtsausschuss seine abschlie-ßenden Beobachtungen zum vierten regelmäßi-gen Bericht über Portugal. Die darin enthalte-nen Empfehlungen konzentrierten sich auf dieRechte von Personen in Polizeigewahrsam,Haftbedingungen, häusliche Gewalt sowie Dis-kriminierung von Migranten und ethnischenMinderheiten einschließlich Roma.

Nach seinem Besuch in Portugal im Mai 2012äußerte der Menschenrechtskommissar desEuroparats seine Besorgnis über die anhal-tende Diskriminierung von Roma sowie überdie Auswirkung der Wirtschaftskrise und derSparmaßnahmen auf die Rechte von Kindernund älteren Menschen.

Puerto RicoAmtliche Bezeichnung: Freistaat Puerto RicoStaatsoberhaupt: Barack H. ObamaRegierungschef: Luis G. Fortuño

Das seit Juli 2012 geltende Strafgesetz-buch beinhaltet einen Artikel, mit demdas Recht auf freie Meinungsäußerungeingeschränkt wird. Die Überprüfungvon Reformempfehlungen für die

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340 Ruanda

puerto-ricanische Polizei (Puerto RicoPolice Department – PRPD) wurde fort-gesetzt.

Recht auf freie MeinungsäußerungBürgerrechtsgruppen kritisierten eine in derüberarbeiteten Version des Strafgesetzbuchsenthaltene Rechtsvorschrift als Einschränkungdes Rechts auf freie Meinungsäußerung. Dasseit Juli 2012 geltende Strafgesetzbuch beinhal-tet einen Artikel, mit dem Demonstrationenunter Strafe gestellt werden, bei denen öffent-liche Gebäude besetzt oder die örtlichen Be-hörden bei ihrer Arbeit behindert werden. Somitwären Demonstrationen, wie sie in den ver-gangenen Jahren an der Universität von PuertoRico und vor dem Sitz der gesetzgebendenVersammlung (Kapitol) stattgefunden haben,verboten. Ein Rechtsmittel, das die US-ameri-kanische NGO American Civil Liberties Union inPuerto Rico gegen die neue Rechtsvorschrifteingereicht hat, war Ende des Jahres noch an-hängig.

Polizei und Sicherheitskräfte2012 wurde weiter über die Reform der PRPDverhandelt. Das US-Justizministerium hatte2011 einen Bericht veröffentlicht, in dem weit-reichende und systematische Misshandlun-gen durch die puerto-ricanische Polizei doku-mentiert wurden und der zahlreiche Reform-empfehlungen enthielt.

RuandaAmtliche Bezeichnung: Republik RuandaStaatsoberhaupt: Paul KagameRegierungschef: Pierre Damien Habumuremyi

Die Rechte auf freie Meinungsäußerungund Vereinigungsfreiheit waren auch2012 eingeschränkt. Zu Vorwürfen überrechtswidrige Inhaftierungen und Folte-rungen durch Angehörige des ruandi-schen Militärgeheimdienstes wurdenkeine Ermittlungen durchgeführt. Diemilitärische Unterstützung der bewaff-neten Gruppierung M23 in der benach-barten Demokratischen Republik Kongobeschädigte das internationale Ansehendes Landes, dem bislang eine gute öko-nomische Entwicklung und eine geringeKorruptionsdichte zugutegehalten wur-den. Die Unterstützung durch die inter-nationale Gemeinschaft wurde schwä-cher.

HintergrundDer im November 2012 veröffentlichte Ab-schlussbericht der UN-Expertengruppe für dieDemokratische Republik Kongo enthielt Hin-weise auf Verstöße Ruandas gegen das Waf-fenembargo der Vereinten Nationen durch dieLieferung von Waffen, Munition und militäri-schem Gerät an die bewaffnete Oppositions-gruppe M23. Dem Bericht zufolge unterstütztedas ruandische Militär die Gruppe durch dieRekrutierung von Zivilpersonen in Ruandaund durch logistisches Engagement sowiedurch geheimdienstliche und politische Bera-tung.

Bereits in einem Zwischenbericht im Juni hat-ten die Experten die Namen hochrangiger ru-andischer Militärangehöriger veröffentlicht, diebei der Unterstützung der M23 eine Schlüssel-rolle spielten. Unter den Namen war auch derdes ruandischen Verteidigungsministers. DieRegierung veröffentlichte eine ausführliche Ge-gendarstellung, in der sie jegliche Unterstüt-zung bestritt und Zweifel an der Methodik und

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der Glaubwürdigkeit der verwendeten Quellenanmeldete.

Als Reaktion auf diese Berichte beschlossenwichtige Geberländer, darunter die USA, Groß-britannien, die Niederlande, Deutschland undSchweden, ihre Finanzhilfe zu kürzen oderauszusetzen.

Im Oktober 2012 wurde Ruanda für zweiJahre als eines von fünf nichtständigen Mit-gliedern in den UN-Sicherheitsrat gewählt.

Nach wiederholten Verzögerungen schlossendie Gacaca-Gerichte im Jahr 2012 ihre Verfah-ren wegen Völkermord ab und stellten im Juniihre Tätigkeit offiziell ein.

StraflosigkeitDie Behörden versäumten es, in Fällen rechts-widriger Inhaftierung und mutmaßlicher Folterdurch den ruandischen Militärgeheimdienst Er-mittlungen einzuleiten und die Strafverfolgungaufzunehmen. Im Mai und im Oktober veröf-fentlichte Amnesty International Beweismate-rial zu Fällen von Verschwindenlassen und In-haftierung ohne Kontakt zur Außenwelt. DieDokumentation enthielt auch Vorwürfe über dieAnwendung von Folter bei Verhören in denJahren 2010 und 2011 zur Erzwingung von Ge-ständnissen. Es wurden Belege für schwereKörperverletzung, Anwendung von Elektro-

schocks und sensorische Deprivation ange-führt; betroffen waren zumeist Zivilpersonen.

Im Mai 2012 wies die Regierung vor dem UN-Ausschuss gegen Folter alle Vorwürfe überrechtswidrige Inhaftierungen und Folterungendurch den ruandischen Militärgeheimdienstzurück. Im Juni räumte der ruandische Justiz-minister ein, dass es rechtswidrige Inhaftie-rungen gegeben habe, und begründete dies mit»übertriebenem Eifer der ausführenden Per-sonen bei der Durchführung einer ehrenhaftenMission«. Am 7. Oktober gab die Regierungeine Erklärung ab, in der rechtswidrige Inhaftie-rungen bestätigt wurden, jedoch ohne Hin-weise auf Ermittlungen oder strafrechtliche Ver-folgung.ý Der kongolesische Religionsführer SheikhIddy Abassi war am 25. März 2010 in Ruandaentführt worden. Er war ein bekannter Anhän-ger von Laurent Nkunda, dem ehemaligen An-führer der kongolesischen bewaffneten GruppeCongrès National pour la Défense du Peuple(CNDP). Am darauffolgenden Tag hatte seineFamilie ihn bei der Polizei und beim Militär alsvermisst gemeldet. Die stellvertretende Leiterinder Nationalpolizei von Ruanda, Mary Gahon-zire, erklärte gegenüber dem UN-Ausschussgegen Folter, entsprechende Ermittlungenseien im Gang, es gebe aber Hinweise, dasssich Sheikh Iddy Abassi in der Demokrati-schen Republik Kongo aufhalte.

Recht auf freie MeinungsäußerungFür kritischen Journalismus gab es in Ruandaso gut wie keinen Raum. Nach der Repressi-onswelle gegen Journalisten und Oppositions-mitglieder im Jahr 2010 blieben nur noch we-nige unabhängige Stimmen im Land. Zahlrei-che private Medien durften nicht mehr publi-zieren. Die Bemühungen um eine Verbesse-rung der Medienfreiheit durch legislative Re-formen, technische Neuerungen und privateInvestitionen wurden durch die fortdauerndeFestnahme von Journalisten konterkariert, diesich nichts anderes zuschulden kommen lie-ßen, als dass sie ihrer rechtmäßigen Arbeitnachgingen. Verleumdung war auch im Be-richtsjahr weiter ein Straftatbestand.

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Gesetze über »Völkermordideologie«und »Sektierertum«Gesetze mit vagen Inhalten wie »Völkermord-ideologie« und »Sektierertum« wurden dazumissbraucht, legitime Kritik an der Regierungstrafrechtlich zu verfolgen. Ende 2012 lag demParlament eine Neufassung des Gesetzes zur»Völkermordideologie« vor.

JournalistenDas ruandische Parlament verabschiedete imJahr 2012 mehrere Gesetze zum Medienbe-reich. Die amtliche Veröffentlichung dieser Ge-setze war noch nicht erfolgt.

Am 5. April senkte der Oberste Gerichtshofdie Haftstrafen für die Herausgeberin der pri-vaten Zeitschrift Umurabyo, Agnès UwimanaNkusi, und ihre Stellvertreterin Saidati Muka-kibibi auf vier bzw. dreieinhalb Jahre. Die bei-den Frauen waren im Februar 2011 zu 17 bzw.sieben Jahren Haft verurteilt worden, weil sie imVorfeld der Präsidentschaftswahlen von 2010regierungskritische Beiträge und Korruptions-vorwürfe publiziert hatten. Der Oberste Ge-richtshof sprach Agnès Uwimana Nkusi vonden Anklagepunkten »Völkermordideologie«und »Anstiftung zur Spaltung der Bevölkerung«frei, hielt den Schuldspruch in Bezug auf »Ver-leumdung« jedoch aufrecht. Die gegen die bei-den Frauen wegen Bedrohung der Staatssi-cherheit verhängten Haftstrafen wurden redu-ziert.

Unfaire GerichtsverfahrenAm 30. Oktober 2012 wurde Victoire Ingabire,Vorsitzende der Oppositionspartei Forces Dé-mocratiques Unifiées (FDU-Inkingi), zu einerachtjährigen Haftstrafe verurteilt. Sie war nach16 Jahren im Exil im Januar 2010 nach Ruandazurückgekehrt. Sie hatte gehofft, die ParteiFDU-Inkingi vor den Präsidentschaftswahlen imAugust 2010 registrieren lassen zu können,bevor sie im April 2010 zum ersten Mal verhaf-tet wurde. Trotz internationaler Beobachtungwurde in dem Prozess gegen die Grundregelnfür ein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahrenverstoßen. Das Gericht unterließ es, Beweiseder Anklage einer Prüfung zu unterziehen. Be-

lastende Beweise gegen Victoire Ingabire ba-sierten auf Geständnissen von zwei Mitange-klagten, die über einen langen Zeitraum ineinem Militärlager inhaftiert waren. AmnestyInternational liegen Berichte vor, nach denen indiesem Lager Folter eingesetzt wird, um Ge-ständnisse zu erpressen. Ein Zeuge der Vertei-digung gab an, zusammen mit einem der Mit-angeklagten in Militärgewahrsam gewesen zusein. Seinen Angaben zufolge erfolgte das Ge-ständnis des Mitangeklagten unter Zwang.

Im Vorfeld des Verfahrens gaben Vertreter derruandischen Behörden Stellungnahmen ab,die das Recht von Victoire Ingabire auf Un-schuldsvermutung beeinträchtigten. Die ge-gen sie erhobenen Anklagen entbehrten einereindeutigen rechtlichen Grundlage, und einigeAnklagen bezogen sich auf ungenaue und weitgefasste Gesetze, die »Völkermordideologie«und »Diffamierung und Sektierertum« unterStrafe stellen. Die Angeklagte erhielt kein fai-res Verfahren, wurde regelmäßig unterbrochenund war Anfeindungen ausgesetzt.

Recht auf VereinigungsfreiheitNach wie vor wurde es bestimmten politischenParteien verwehrt, sich registrieren zu lassen.Mitglieder von Oppositionsparteien berichtetenvon Schikanen und Einschüchterungsversu-chen, einige wurden in Haft genommen, weilsie ihr Recht auf Versammlungsfreiheit wahr-nahmen.ý Am 27. April 2012 bestätigte der Oberste Ge-richtshof das Urteil gegen Bernard Ntaganda,den Vorsitzenden der Oppositionspartei PS-Im-berakuri. Ntaganda war zu einer vierjährigenFreiheitsstrafe verurteilt worden, nachdem manihn am 11. Februar 2011 der »Anstiftung zurSpaltung der Bevölkerung« für schuldig befun-den hatte, weil er vor der Wahl 2010 in öffent-lichen Reden die Politik der Regierung kritisierthatte. Außerdem waren ihm Verstoß gegen dieStaatssicherheit und versuchte Organisationeiner »nicht genehmigten Demonstration« vor-geworfen worden.ý Acht Mitglieder der Oppositionspartei FDU-Inkingi von Victoire Ingabire, zumeist Leh-rende und Studierende, wurden im September

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2012 festgenommen – Berichten zufolge,nachdem sie in einer Sitzung über Entwick-lungs- und Bildungsfragen diskutiert hatten.Man warf ihnen Anstiftung zum Aufruhr vor undnahm sie in Untersuchungshaft. Einer der Ge-fangenen wurde Ende des Jahres freigelassen.

Internationale RechtsprechungInternationaler Strafgerichtshof für RuandaDie Strafkammer des Internationalen Strafge-richtshofs für Ruanda (International CriminalTribunal for Rwanda – ICTR) übertrug ihr erstesVerfahren – das gegen den ehemaligen PastorJean Uwinkindi – an die ruandische Justiz. ImLaufe des Jahres wurden noch zwei weitereVerfahren an die ruandische Justiz abgegeben.Bis zur Einigung mit der Afrikanischen Kom-mission für Menschenrechte und Rechte derVölker über die Verfahrensbeobachtung wur-den zwei Bedienstete des ICTR mit dieser Auf-gabe betraut. Sie erstellten monatliche Be-richte für den Präsidenten des InternationalenStrafgerichtshofs bzw. für den Präsidenten desInternationalen Residualmechanismus für dieAd-hoc-Strafgerichtshöfe.

Internationale StrafverfolgungIn Belgien, Finnland, Deutschland und denNiederlanden wurden Gerichtsverfahren ge-gen Personen durchgeführt, die der Beteiligungam Völkermord verdächtigt wurden.

Der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte wies die Berufung von Sylvère Ahoru-geze gegen die Entscheidung der schwedi-schen Regierung, ihn nach Ruanda auszulie-fern, zurück. Ende 2012 befand sich Ahorugezeweiterhin in Dänemark.

Die Auslieferung von Charles Bandora an Ru-anda war bis zum Jahresende noch nicht er-folgt. Sein Fall hatte alle Instanzen des norwegi-schen Strafrechtssystems durchlaufen. Seinletztes Rechtsmittel war jedoch noch anhängig.

Straflosigkeit bei Kriegsverbrechen undVerbrechen gegen die MenschlichkeitEs gab keine behördlichen Ermittlungen oderStrafverfolgungsmaßnahmen zu mutmaßlichenKriegsverbrechen und Verbrechen gegen die

Menschlichkeit, die von Angehörigen der ruan-dischen Armee in Ruanda und der Demokrati-schen Republik Kongo begangen wurden undim UN Mapping Report dokumentiert sind.

Flüchtlinge und AsylsuchendeDie Anwendung der vom UN-Hochkommissarfür Flüchtlinge (UNHCR) am 31. Dezember2011 geltend gemachten Beendigungsklauseldes Flüchtlingsstatus für ruandische Staatsan-gehörige wurde auf Juni 2013 verschoben. Ge-mäß dieser Klausel würden Flüchtlinge, dieRuanda bis einschließlich 1998 verlassen ha-ben, ihren Flüchtlingsstatus verlieren, und esmüsste eine Anhörung im Hinblick auf die indi-viduelle Begründung der Furcht vor Verfol-gung in Ruanda durchgeführt werden.

Gewaltlose politische Gefangeneý Am 1. März 2012 wurde Charles Ntakirutinka,ein ehemaliger Minister der ruandischen Re-gierung und gewaltloser politischer Gefangener,nach Verbüßung einer zehnjährigen Haftstrafefreigelassen, die in einem unfairen Gerichtsver-fahren gegen ihn verhängt worden war. Er warim April 2002 bei Unruhen im Vorfeld der Präsi-dentschaftswahlen von 2003 festgenommenund wegen »Anstiftung zu zivilem Ungehor-sam« und »Zusammenarbeit mit kriminellenElementen« für schuldig befunden worden.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Ruanda im

Februar, März und Juni. Ein Beobachter von Amnesty Inter-national war im März und April beim Verfahren gegen VictoireIngabire anwesend.

ÿ Shrouded in secrecy – Illegal detention and torture by militaryintelligence, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR47/004/2012/en

ÿ Rwanda: Briefing to the UN Committee Against Torture,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR47/003/2012/en

ÿ Rwanda urged to end clampdown on dissent as Charles Nta-kirutinka released, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/rwanda-urged-end-clampdown-dissent-charles-ntakirutinka-released-2012-03-01

ÿ Rwanda must investigate unlawful detention and torture bymilitary intelligence, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/rwanda-must-investigate-unlawful-detention-and-torture-military-intelligence

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344 Rumänien

ÿ Rwanda: Ensure appeal after unfair Ingabire trial,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/rwanda-ensure-appeal-after-unfair-ingabire-trial-2012-10-30

RumänienAmtliche Bezeichnung: RumänienStaatsoberhaupt: Traian BasescuRegierungschef: Victor Ponta (übernahm das Amt

im Mai von Mihai Razvan Ungureanu, der imFebruar Emil Boc abgelöst hatte)

Der Polizei wurde vorgeworfen, sie habewillkürliche und unverhältnismäßigeGewalt gegen Demonstrierende ange-wandt, die gegen Sparmaßnahmen undgegen die Regierung protestiert hatten.Die Stadtverwaltungen von Baia Mareund Piatra Neamt gingen 2012 mit großangelegten rechtswidrigen Zwangsräu-mungen gegen Roma vor. Das Europäi-sche Parlament forderte die rumäni-schen Behörden auf, eine neue Untersu-chung zu ihrer Beteiligung am CIA-Pro-gramm für außerordentliche Überstellun-gen und Geheimgefängnisse einzulei-ten.

HintergrundIm Jahr 2012 erfolgten zwei Regierungswech-sel. Nach wochenlangen Demonstrationen ge-gen die Sparpolitik trat die Regierung unter Mi-nisterpräsident Emil Boc von der Liberaldemo-kratischen Partei (Partidul Democrat-Liberal –PD-L) im Februar zurück. Nach einer weiterenProtestwelle stürzte im April die Regierung desparteilosen Ministerpräsidenten Mihai RazvanUngureanu über ein Misstrauensvotum im Par-lament. Präsident Traian Basescu ernanntedaraufhin Victor Ponta von der Sozialdemokra-tischen Partei (Partidul Social Democrat –PSD) zum Interims-Ministerpräsidenten. Im De-zember gewannen die Sozialdemokraten beiden Parlamentswahlen die Mehrheit der Sitze.

Im Juli 2012 stimmte eine Mehrheit im rumä-nischen Parlament für die Amtsenthebungvon Präsident Traian Basescu. Das Verfahrenwar eingeleitet worden, nachdem die Regie-rung dem Präsidenten Verfassungsbruch vor-geworfen hatte. Ein anschließendes Referen-dum zur Absetzung des Präsidenten wurdevom Verfassungsgericht jedoch wegen zu ge-ringer Beteiligung für ungültig erklärt. Der Prä-sident blieb daher im Amt.

Im Juli äußerte die Europäische Kommissionschwerwiegende Bedenken hinsichtlich derWahrung der Rechtsstaatlichkeit und der Un-abhängigkeit der Justiz in Rumänien.

Exzessive GewaltanwendungIm Zusammenhang mit gewalttätigen Aus-einandersetzungen bei den regierungskriti-schen Demonstrationen im Januar 2012 wurdeder Vorwurf laut, die Polizei habe exzessiveGewalt angewandt. Medienberichte und Video-aufnahmen zeigten, wie Polizisten mit extre-mer Gewalt gegen allem Anschein nach fried-liche Demonstrierende vorgingen, die keinerleiWiderstand leisteten. Das rumänische Helsinki-Komitee (Asociatia pentru Apararea Drepturi-lor Omului în România – Comitetul Helsinki –APADOR-CH) dokumentierte mehrere Fällevon Misshandlungen durch die Polizei bei denDemonstrationen. Die NGO kam zu demSchluss, dass das Vorgehen der Ordnungs-kräfte zum Teil willkürlich und unverhältnis-

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mäßig war. Im Februar erklärte das Ministeriumfür Verwaltung und Innere Angelegenheiten,man gehe vier Strafanzeigen im Zusammen-hang mit dem Verhalten von Polizeibeamtenwährend der Demonstrationen nach. Ende2012 war noch keine Anklage erhoben wor-den.

Diskriminierung – RomaRecht auf BildungDer Beratungsausschuss des Europarats fürdas Rahmenübereinkommen zum Schutz na-tionaler Minderheiten stellte im Oktober 2012fest, dass Roma-Kinder immer noch in Schu-len für behinderte Kinder, in Sonderschulenoder in separaten Klassen untergebracht wur-den.

Recht auf WohnenKommunale Behörden vertrieben Roma nachwie vor unter Anwendung von Zwang und sie-delten sie in unzureichenden Unterkünften inabgelegenen Gebieten wieder an.ý Die Wohnverhältnisse von etwa 76 Familien,in der Mehrzahl Roma, die im Dezember 2010das Stadtzentrum von Cluj-Napoca verlassenmussten, waren nach wie vor mangelhaft.Sie lebten in den Außenbezirken der Stadt, inder Nähe der städtischen Mülldeponie undunweit einer ehemaligen Halde für Chemieab-fälle. Bei Treffen mit den vertriebenen Familiensagten die Behörden zu, sie ab 2013 im Rah-men eines Projekts des UN-Entwicklungspro-gramms umzusiedeln. Nähere Angaben zu dergeplanten Umsiedlung machten sie jedochnicht.ý Am 18. April 2012 lehnte das Gericht vonCluj-Napoca ein erneutes Gesuch der Natio-nalen Eisenbahngesellschaft ab, die Unter-künfte von etwa 450 Personen, überwiegendRoma, in einer Siedlung an der Cantonului-Straße am Stadtrand abzureißen. Mit seinerEntscheidung verhinderte das Gericht eineZwangsräumung. Viele der Bewohner warenseit 2002 von der Stadtverwaltung in das Gebietumgesiedelt worden.ý Im April 2012 hob ein Berufungsgericht inCluj eine Entscheidung der Gleichbehand-

lungsstelle des Nationalen Rats zur Bekämp-fung von Diskriminierung auf. Der NationaleRat hatte die Stadtverwaltung von Baia Mare zueiner Geldstrafe verurteilt, weil sie eine Beton-mauer bauen ließ, die von Roma bewohnteHäuserblocks vom übrigen Wohngebiet ab-trennte. Das Gericht vertrat die Ansicht, dieMauer sei eine angemessene Reaktion aufverkehrsbedingte Belästigungen und grenzedie Roma-Bewohner nicht aufgrund ihrer eth-nischen Zugehörigkeit aus. Der Nationale Ratkündigte an, er werde Rechtsmittel gegen dasUrteil einlegen.ý Im Mai und Juni 2012 wurden auf Betreibender Stadtverwaltung von Baia Mare etwa 120Roma-Familien aus Craica, einer der größten in-formellen Siedlungen der Stadt, umgesiedelt.Sie wurden in drei Gebäuden der MetallfirmaCUPROM untergebracht, die jedoch nicht zuWohnzwecken umgebaut worden waren. JedeFamilie bekam jeweils ein oder zwei Räumezugewiesen. Diese besaßen weder eine Hei-zung noch eine angemessene Isolierung. Diesanitären Anlagen waren ebenfalls nicht ausrei-chend.ý Die Stadtverwaltung von Piatra Neamt sie-delte im August 2012 etwa 500 Roma, die inUnterkünften am Stadtrand lebten, in ein völligabgelegenes Gebiet um, das 2 km von dernächsten Bushaltestelle entfernt liegt. DieWohneinheiten dort hatten keine Stromversor-gung, und es gab in dem Gebiet keine ausrei-chende Infrastruktur wie z. B. Straßenbe-leuchtung oder eine richtige Zufahrtsstraße.

Sexuelle und reproduktive RechteIm September 2012 wurde ein Gesetzentwurfins Parlament eingebracht, der eine obligatori-sche Beratung für schwangere Frauen vorsieht.Dies könnte u. a. zu zusätzlichen Kosten undfür Frauen, die einen Schwangerschaftsab-bruch vornehmen lassen wollen, möglicher-weise zu längeren Wartezeiten führen.

Antiterror- und SicherheitsmaßnahmenIm September 2012 nahm das EuropäischeParlament eine Entschließung an, die sich anRumänien und weitere EU-Mitgliedstaaten rich-

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346 Russland

tete, die im Verdacht stehen, auf ihrem Territo-rium geheime CIA-Haftzentren zugelassen zuhaben. Die Staaten wurden darin aufgefordert,ihrer uneingeschränkten rechtlichen Verpflich-tung nachzukommen und unabhängige, un-parteiische, gründliche und wirksame Ermitt-lungen zu ihrer Beteiligung am CIA-Programmfür außerordentliche Überstellungen und Ge-heimgefängnisse einzuleiten. In dem Berichtwurden die Behörden aufgefordert, eine neueUntersuchung einzuleiten, die Bezug nimmtauf die Identifizierung eines Geheimgefängnis-ses in der Hauptstadt Bukarest durch ehema-lige Staatsbedienstete der USA. Die Untersu-chung solle auch die vorliegenden Beweise fürÜberstellungsflüge zwischen Rumänien, Polenund Litauen sowie anderen Staaten, die imVerdacht stehen, geheime CIA-Einrichtungenbeherbergt zu haben, berücksichtigen.ý Im Oktober 2012 setzte der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte die rumäni-schen Behörden über den Fall al-Nashiri gegenRumänien in Kenntnis. Der saudi-arabischeStaatsangehörige hatte den Vorwurf erhoben, ineinem CIA-Geheimgefängnis in Rumänien in-haftiert und gefoltert worden zu sein, bevor erschließlich zur US-Militärbasis GuantánamoBay auf Kuba gebracht wurde.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Rumänien

in den Monaten März, Mai, Oktober und Dezember.ÿ Europe: Policing demonstrations in the European Union,

http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR01/022/2012/en

ÿ Unsafe foundations: Secure the right to housing in Romania,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR39/002/2012/en

ÿ Romania: Forced eviction of Roma and alleged collusionin US-led rendition and secret detention programmes,http://195.234.175.160/en/library/info/EUR39/012/2012/en

RusslandAmtliche Bezeichnung: Russische FöderationStaatsoberhaupt: Wladimir Putin

(löste im Mai Dmitri Medwedew im Amt ab)Regierungschef: Dmitri Medwedew

(löste im Mai Wladimir Putin im Amt ab)

Die Staatsorgane reagierten mit repressi-ven Maßnahmen auf die Zunahme dergewaltfreien politischen Proteste imLand. Neue Gesetze schränkten dieRechte auf freie Meinungsäußerung, Ver-sammlungsfreiheit und Vereinigungs-freiheit ein. Menschenrechtsverteidiger,Journalisten und Rechtsanwälte warenweiterhin Schikanen ausgesetzt, gleich-zeitig wurden gewaltsame Angriffe aufsie nicht gründlich untersucht. Folterund andere Misshandlungen warennach wie vor weit verbreitet, gegen dieVerantwortlichen wurden jedoch nur sel-ten wirksame Strafverfolgungsmaßnah-men eingeleitet. Gerichtsprozesse ent-sprachen nicht den internationalen Stan-dards für faire Verfahren, und die Zahloffensichtlich politisch motivierter Ur-teile nahm zu. Die Sicherheitslage imNordkaukasus war weiterhin instabil,und die Operationen der Sicherheits-kräfte waren durch systematische Men-schenrechtsverletzungen gekennzeich-net. Doch wurden die Täter fast nie zurRechenschaft gezogen.

HintergrundWladimir Putin übernahm nach heftig kritisier-ten Wahlen wieder das Amt des Staatspräsi-denten. Dies führte vor allem in den Tagen rund

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Russland 347

um seine Amtseinführung am 7. Mai 2012 zueiner Welle öffentlicher Proteste, bei denen De-monstrierende mehr bürgerliche und politi-sche Freiheiten forderten. Als Reaktion auf dieProteste wurden weitere Einschränkungenverfügt. Kundgebungen wurden häufig verbo-ten oder aufgelöst. Ungeachtet weit verbreite-ter Kritik und zumeist in großer Eile wurdenmehrere Gesetze verabschiedet, die es erlau-ben, mit härteren Sanktionen für Ordnungswid-rigkeiten und strafrechtliche Verstöße gegenlegitime Proteste, politische und zivilgesell-schaftliche Aktivitäten sowie deren finanzielleFörderung aus dem Ausland vorzugehen.

Russland reagierte aggressiv auf internatio-nale Kritik an der Menschenrechtssituation imLand. In den USA wurde ein Gesetz verabschie-det, das es u. a. ermöglicht, russische Amts-träger, die für den Tod des Rechtsanwalts Ser-gej Magnitzki in einem Moskauer Gefängnisim November 2009 verantwortlich sind, miteinem Einreiseverbot und anderen Sanktionenzu belegen. In mehreren anderen Ländernwurde ein solches Gesetz vorgeschlagen. AlsAntwort darauf verhängten die russischen Be-hörden ebenfalls Sanktionen. Außerdem ver-boten sie US-amerikanischen Bürgern dieAdoption russischer Kinder. Russischen NGOsist es unter vagen Voraussetzungen untersagt,finanzielle Unterstützung aus den USA anzu-nehmen.

Russland verzeichnete 2012 weiterhin einwirtschaftliches Wachstum, das allerdingsdurch sinkende Erdölpreise, die weltweite Kon-junkturabschwächung und fehlende Struktur-reformen gebremst wurde. Gegen Jahresendegab es weniger öffentliche Proteste, Mei-nungsumfragen zufolge nahm jedoch auch dieZustimmung der Bevölkerung zur politischenFührung ab.

Recht auf VersammlungsfreiheitIn ganz Russland löste die Polizei friedliche Pro-teste immer wieder auf, häufig unter Anwen-dung exzessiver Gewalt. Dies galt selbst fürKundgebungen, an denen nur wenige Perso-nen beteiligt waren und bei denen von einerStörung der öffentlichen Ordnung oder Bedro-

hung der öffentlichen Sicherheit keine Redesein konnte. Die Behörden tendierten dazu,jede Art von Kundgebung, wie friedlich und un-bedeutend sie auch sein mochte, als rechts-widrig zu betrachten, wenn sie nicht ausdrück-lich genehmigt war. Versammlungen von An-hängern der Regierung oder der orthodoxenKirche konnten hingegen häufig auch ohneGenehmigung stattfinden. Zahlreiche Berichteschilderten ein brutales Vorgehen der Polizeigegen friedliche Protestierende und Journalis-ten, doch wurden keine wirksamen Ermittlun-gen durchgeführt.ý Am 6. Mai 2012, dem Tag vor der Amtsein-führung von Präsident Putin, stoppte die Poli-zei in Moskau einen genehmigten Protest-marsch auf seinem Weg zum Bolotnaja-Platz.Dabei kam es zu einer Konfrontation zwischenPolizei und Demonstrierenden und zu verein-zelten Handgreiflichkeiten. Die Behörden be-zeichneten die Vorfälle als »Massenunruhen«und erhoben gegen 19 Protestierende Anklage.Einer von ihnen bekannte sich schuldig undwurde zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt; dieübrigen warteten Ende 2012 noch auf ihrenProzess. Die Behörden durchsuchten die Woh-nungen von mehreren führenden politischenAktivisten, die in dem Fall als Zeugen benanntworden waren, und zeigten die Hausdurchsu-chungen ausführlich im staatlichen Fernsehen.Am 6. und 7. Mai 2012 wurden in MoskauHunderte friedlich protestierende Menschenfestgenommen, einige allein deshalb, weil sieals Zeichen des Protests gegen den Wahlbetrugeine weiße Schleife trugen.

Im Juni 2012 wurde das Gesetz über öffent-liche Veranstaltungen geändert und die Listemöglicher Verstöße erweitert. Außerdem wur-den neue Beschränkungen eingeführt und dieStrafen erhöht.

Recht auf freie MeinungsäußerungDas Recht auf freie Meinungsäußerung wurde2012 zunehmend eingeschränkt. Viele Medienund vor allem das Fernsehen standen faktischunter staatlicher Kontrolle. Die beste Sende-zeit wurde landesweit regelmäßig dazu genutzt,Regierungskritiker herabzusetzen.

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348 Russland

Der Tatbestand der Verleumdung wurde achtMonate nach seiner Streichung aus dem Straf-gesetzbuch wieder eingeführt. Außerdem wur-den die Definitionen der Tatbestände Hoch-verrat und Spionage im Strafgesetzbuch ausge-weitet und vager gefasst. So zählt dazu jetztauch, an fremde Staaten sowie ausländischeund internationale Organisationen, deren Akti-vitäten »gegen die Sicherheit Russlands gerich-tet sind«, Informationen weiterzuleiten odersie in sonstiger Weise zu unterstützen.

Neue Gesetze gaben der Regierung die Be-fugnis, Websites zu sperren und auf eineschwarze Liste zu setzen, deren Inhalte ihrerAnsicht nach »extremistisch« waren oder eineGefahr für die öffentliche Gesundheit, Moraloder Sicherheit darstellten. Ende 2012 warenauf Grundlage der neuen Bestimmungen be-reits mehrere Websites gesperrt worden, dieInhalte publiziert hatten, die durch das Rechtauf freie Meinungsäußerung gedeckt waren.ý Im März 2012 wurden drei Mitglieder derPunk-Band Pussy Riot nach einer kurzen undprovozierenden, aber gewaltfreien politischenPerformance in der Christus-Erlöser-Kathe-drale in Moskau in Haft genommen. Im Augustwurden Maria Aljochina, Jekaterina Samuze-witsch und Nadeschda Tolokonnikowa wegen»Rowdytums aus religiösem Hass« zu jeweilszwei Jahren Haft verurteilt. Für Jekaterina Sa-muzewitsch wurde die Strafe im Berufungs-verfahren zur Bewährung ausgesetzt, sodasssie am 10. Oktober frei kam.ý Am 29. November 2012 erklärte ein Mos-kauer Gericht die Videoaufnahmen des Kir-chenauftritts der Band für »extremistisch«. So-mit dürfen sie in Russland nicht mehr ins In-ternet gestellt werden.

DiskriminierungDiskriminierung aufgrund von Abstammung,ethnischer Herkunft, Geschlecht, religiöserÜberzeugung oder politischer Anschauung warnach wie vor weit verbreitet. In mehreren Re-gionen wurden 2012 Gesetze eingeführt, dieSchwule, Lesben, Bisexuelle und Transgenderdiskriminieren. Ein entsprechender Gesetzent-wurf lag auch auf nationaler Ebene vor. Im

April trat in St. Petersburg ein Gesetz in Kraft,das »Propaganda für Homosexualität, Bise-xualität und Transsexualität vor Minderjähri-gen« verbietet. Eine ähnliche Gesetzgebungwurde in den Regionen Baschkirien, Tschu-kotka, Krasnodar, Magadan, Nowosibirsk undSamara eingeführt und in die Duma in Moskaueingebracht. Eine Reihe öffentlicher Veranstal-tungen von Schwulen, Lesben, Bisexuellen,Transgendern und Intersexuellen wurde ver-boten oder von der Polizei aufgelöst.

In ganz Russland wurden Angehörige sexuel-ler und anderer Minderheiten weiterhin Opfertätlicher Angriffe. Die Vorfälle wurden von denBehörden nicht gründlich untersucht, und dieTäter blieben oft im Dunkeln.ý Am 4. August 2012 drangen in Tjumen vierMänner gewaltsam in einen Homosexuellen-Club ein und beschimpften und attackiertenmehrere Gäste. Die Polizei nahm die Angreiferfest. Als die Opfer auf die Polizeiwache gingen,um Anzeige zu erstatten, ließ man sie im sel-ben Raum warten wie die Täter, die sie weiterbedrohten. Die vier Angreifer wurden späterohne Anklage freigelassen.

MenschenrechtsverteidigerAuch 2012 gab es Berichte über die Schikanie-rung von Menschenrechtsverteidigern imNordkaukasus und in anderen Regionen. Enga-gierte Bürger, Journalisten und Rechtsan-wälte, die Opfer von Menschenrechtsverletzun-gen vertraten, mussten mit tätlichen Angriffenu. a. durch Polizeibeamte rechnen.

Bei den Ermittlungen zu früheren Angriffenwie der Ermordung von Natalja Estemirowawurden keine erkennbaren Fortschritte er-zielt.

Neue Gesetze errichteten zusätzliche büro-kratische Hürden für NGOs und erlegten ihnenweitere Verpflichtungen auf: Diejenigen, dieGeld aus dem Ausland erhalten und gemäßeiner weit gefassten Definition »politischen Ak-tivitäten« nachgehen, müssen sich nunmehrals »Organisationen, die Funktionen ausländi-scher Agenten ausüben« registrieren lassen.Die Formulierung deutet nach russischemSprachgebrauch auf Spionagetätigkeit hin. Er-

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füllen die Organisationen die neuen Anforde-rungen nicht, drohen ihren führenden Vertre-tern hohe Geldbußen und Haftstrafen.

Staatliche Funktionäre versuchten immer wie-der, einzelne Menschenrechtsverteidiger, be-stimmte NGOs und generell die Arbeit von Men-schenrechtsorganisationen in Misskredit zubringen.ý Im Oktober 2012 gab ein hochrangiger Ver-treter des Inlandsgeheimdienstes FSB offiziellbekannt, der FSB habe in Inguschetien für dieSchließung von 20 NGOs gesorgt, weil sie Ver-bindungen zu ausländischen Geheimdienstenunterhalten hätten. Er nannte weder eine kon-krete in Inguschetien tätige NGO, gegen die derVorwurf der Spionage erhoben worden war,noch sagte er, welche NGOs aus diesem Grundangeblich geschlossen worden waren. Die ein-zige Organisation, die er namentlich erwähnte,war die bekannte inguschetische Menschen-rechtsorganisation Mashr. Sie sei nach wie vorals »ausländischer Agent« tätig.ý Am 20. Januar 2012 erschossen Sicherheits-beamte in Machatschkala, der Hauptstadt Da-gestans, den Anwalt Omar Saidmagomedovund seinen Cousin. Die Behörden sprachenvon zwei Mitgliedern einer bewaffneten Gruppe,die bei einem Schusswechsel ums Leben ge-kommen seien. Die Kollegen von Omar Saidma-gomedov bestritten diese Darstellung und for-derten eine Untersuchung ihres Verdachts, derAnwalt sei wegen seiner beruflichen TätigkeitOpfer einer außergerichtlichen Hinrichtung ge-worden. Der Ermittlungsbeamte benannte denRechtsanwalt, der Omar Saidmagomedovs Fa-milie vertrat, als Zeugen, offenbar um zu ver-hindern, dass er in dem Fall als Rechtsbeistandauftreten konnte.ý Am 4. April wurde die Journalistin Elena Mi-lashina von der Tageszeitung Nowaja Gazetagemeinsam mit einer Freundin in Moskau aufoffener Straße von zwei Männern angegriffen.Die beiden Frauen trugen schwere Verletzun-gen davon. Der Ermittlungsbeamte identifi-zierte zwei Männer als mutmaßliche Täter. Diebeiden unterschrieben zunächst Geständ-nisse, zogen diese aber wieder zurück, nach-dem ihre Familien unabhängige Rechtsan-

wälte mit dem Fall betraut hatten. Elena Mila-shinas Einwände, die beiden Männer würdennicht zur Täterbeschreibung ihrer Freundinpassen und die wahren Täter seien noch auffreiem Fuß, wurden vom Ermittlungsbeamtenignoriert.ý Dem Vorsitzenden der NGO »Komitee gegenFolter«, Igor Kalyapin, wurde wegen seiner Tä-tigkeit im Fall des tschetschenischen Folterop-fers Islam Umarpashaev Strafverfolgung ange-droht. Am 7. Juli 2012 bestellte ihn ein Ermitt-lungsbeamter zur Vernehmung ein. Igor Ka-lyapin wurde vorgeworfen, vertrauliche Infor-mationen veröffentlicht zu haben. Journalistin-nen, die Igor Kalyapin interviewt hatten, undmehrere Personen, die für ihn Petitionsbriefean die russischen Behörden geschrieben hat-ten, wurden im September ebenfalls zu Verhö-ren einbestellt.

Folter und andere MisshandlungenEs gab 2012 weiterhin zahlreiche Berichte überFolter und andere Misshandlungen; wirksameUntersuchungen der Vorwürfe waren jedochselten. Dem Vernehmen nach umgingen dieOrdnungskräfte die bestehenden Vorkehrun-gen zum Schutz vor Folter häufig mit diversenMitteln. Dazu zählten der Einsatz von Gewaltunter dem Vorwand, die Häftlinge müssten ru-hig gestellt werden, und die Nutzung geheimerHafteinrichtungen, insbesondere im Nordkau-kasus. Außerdem verweigerte man den Häftlin-gen oft den Zugang zu Rechtsbeiständen ihrerWahl und ernannte stattdessen Pflichtverteidi-ger, bei denen man davon ausgehen konnte,dass sie Spuren von Folter ignorieren würden.

Im März berichteten die Medien ausführlichüber einen Fall von Folter in Kasan, nachdemein 52-jähriger Mann im Krankenhaus an inne-ren Verletzungen gestorben war. Er hatte an-gegeben, man habe ihn auf einer Polizeiwachemit einer Flasche vergewaltigt. Mehrere Poli-zisten wurden verhaftet und wegen Machtmiss-brauchs angeklagt. Zwei Polizisten wurdenspäter zu zwei bzw. zweieinhalb Jahren Haftverurteilt. Nachdem die Medien über den Fallberichtet hatten, wurden zahlreiche weitere Fol-tervorwürfe gegen die Polizei in Kasan und in

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anderen Städten erhoben. Der Leiter der Ermitt-lungsbehörde griff die Idee einer NGO auf undließ spezielle Abteilungen einrichten, um Straf-taten zu untersuchen, die von Ordnungskräf-ten begangen wurden. Die Initiative wurde je-doch dadurch untergraben, dass diese Abtei-lungen nicht mit genügend Personal ausgestat-tet waren.ý Der Inguschete Issa Khashagulgov, der ineiner Untersuchungshaftanstalt in Wladikaw-kas in Nordossetien festgehalten wurde, soll am19. Januar 2012 nachts an einen geheimenHaftort verbracht worden sein, wo man ihnschlug und ihm weitere Gewalt androhte,sollte er bei den Ermittlungen nicht kooperie-ren. Berichten zufolge wurde er vom 6. bis8. Februar immer wenn seine Anwälte ihn be-suchen wollten, für mehrere Stunden an einenanderen Ort in Nordossetien gebracht unddort misshandelt. Issa Khashagulgov war alsmutmaßliches Mitglied einer bewaffnetenGruppe wiederholt von einer Hafteinrichtungin eine andere verlegt worden. Seine Angehöri-gen und seine Anwälte wussten oft mehrereTage lang nicht, wo er sich befand. Ermittlun-gen zu seinen Beschwerden wurden nichtdurchgeführt.ý Am 19. Oktober 2012 »verschwand« der rus-sische Oppositionelle Leonid Razvozzhayev inder ukrainischen Hauptstadt Kiew vor demBüro einer Organisation, die mit dem Büro desUN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR)zusammenarbeitet. Am 22. Oktober erklärtedie Ermittlungsbehörde in Moskau, er sei frei-willig in die Russische Föderation zurückge-kehrt und habe sich den Behörden gestellt.Leonid Razvozzhayev widersprach dieser Dar-stellung über seinen Anwalt und erklärte, manhabe ihn entführt und nach Russland ver-schleppt. Dort sei er an einem geheimen Ortfestgehalten und misshandelt worden. Manhabe ihn auf diese Weise zwingen wollen, eineErklärung zu unterschreiben, dass er auf An-weisung aus dem Ausland gemeinsam mit an-deren Oppositionellen Massenunruhen inRussland geplant habe. Die russischen Behör-den weigerten sich, den von ihm erhobenenVorwürfen nachzugehen.

JustizwesenEine Justizreform wurde allgemein als notwen-dig erachtet, selbst auf höherer Verwaltungs-ebene. Doch erfolgten keine wirksamenSchritte, um die Unabhängigkeit der Gerichtesicherzustellen. Es trafen zahlreiche Berichteüber unfaire Verfahren aus dem ganzen Landein. Viele Gerichtsentscheidungen, die z. B. ex-tremistische Straftaten, Wirtschafts- und Dro-gendelikte betrafen, waren von politischen Er-wägungen beeinflusst. Die Zahl der Urteile,die politisch motiviert schienen, wie das gegendie Mitglieder der Punk-Band Pussy Riot(siehe oben), nahm zu.

Häufig wurde der Vorwurf erhoben, Abspra-chen zwischen Richtern, Staatsanwälten, Er-mittlungsbeamten und anderen Vertretern derOrdnungskräfte hätten zu unfairen Strafurtei-len bzw. zu unangemessenen Sanktionen fürOrdnungswidrigkeiten geführt.

Im ganzen Land klagten Rechtsanwälte überVerfahrensmängel, die das Recht ihrer Man-danten auf ein faires Verfahren beeinträchtig-ten. Die Anwälte beschwerten sich u. a. da-rüber, dass ihnen der Zugang zu ihren Man-danten verweigert wurde, dass mutmaßlicheStraftäter in Gewahrsam genommen wurden,ohne umgehend ihre Rechtsbeistände undAngehörigen zu informieren, und dass staat-lich besoldete Pflichtverteidiger benanntwurden, die dafür bekannt sind, Verfahrens-fehler und Misshandlungen nicht zu bean-standen.ý Der Rechtsanwalt Rustam Matsev be-schwerte sich über das Verhalten eines hoch-rangigen Polizeibeamten im Untersuchungs-haftzentrum in Naltschik, der Hauptstadt vonKabardinien-Balkarien. Der Beamte habe ihnam 31. Mai 2012 aufgefordert, er solle seinenMandanten nicht länger »zum Lügen anleiten«,sondern ihn stattdessen dazu bewegen, seineBeschwerde gegen die Polizei wegen Entfüh-rung und Misshandlung zurückzuziehen.Außerdem habe der Polizeibeamte ihm zu ver-stehen gegeben, dass bei Sicherheitseinsät-zen zur »Liquidierung« von Angehörigen be-waffneter Gruppen auch Anwälte auf dieselbeWeise »gestoppt« werden könnten. Die Behör-

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den weigerten sich, die Vorwürfe des Anwaltszu untersuchen.ý Am 27. Oktober 2012 versammelten sich Dut-zende von engagierten Bürgern etwa 50m vonder FSB-Zentrale in Moskau entfernt zu einerMahnwache – eine Form von Protest, für diekeine Genehmigung erforderlich ist. Als spätermehrere bekannte Oppositionelle, die von Re-portern umringt waren, den Ort des Gesche-hens verlassen wollten, wurden sie festgenom-men. Die Regierungsgegner Alexey Navalnyund Sergei Udaltsov erhielten am 30. Oktoberbzw. am 4. Dezember Geldstrafen von je rund1000 US-Dollar wegen Organisation und Teil-nahme an einer nicht genehmigten Kundge-bung, die die öffentliche Ordnung gestörthabe. Das Gericht, vor dem Alexey NavalnysFall verhandelt wurde, lehnte einen Antrag sei-nes Verteidigers ab, die Polizeibeamten, die ihnfestgenommen hatten, ins Kreuzverhör zunehmen. Auch eine Videoaufzeichnung desGeschehens wurde nicht als Beweis zugelas-sen.

NordkaukasusDie Lage im Nordkaukasus war 2012 weiterhinäußerst instabil. Das Vorgehen der Sicher-heitskräfte führte nach wie vor häufig zu Men-schenrechtsverletzungen.

Bewaffnete Gruppen überfielen erneut Ange-hörige der Sicherheitskräfte, örtliche Staatsbe-dienstete und Zivilpersonen. Bei zwei koordi-nierten Bombenanschlägen am 3. Mai 2012 inMachatschkala in Dagestan starben 13 Perso-nen, darunter acht Polizisten. Mehr als 80 Mit-arbeiter der Rettungsdienste wurden bei denAnschlägen verletzt. Am 28. August tötete eineSelbstmordattentäterin in Dagestan den ein-flussreichen muslimischen GeistlichenScheich Said Afandi und fünf Personen, die ihnbesucht hatten. Weitere Angriffe bewaffneterGruppen wurden aus dem gesamten Nordkau-kasus gemeldet.

In einigen Republiken bemühte man sich, derBedrohung durch bewaffnete Gruppen mit de-eskalierenden Strategien zu begegnen. In Da-gestan und in Inguschetien wurden Kommis-sionen zur Wiedereingliederung ins Leben ge-

rufen. Sie sollen dazu beitragen, dass bewaff-nete Kämpfer aufgeben und sich wieder in dieGesellschaft integrieren. Die dagestanischenBehörden nahmen eine tolerantere Haltung ge-genüber salafistischen Muslimen ein.

Im gesamten Nordkaukasus gab es 2012 je-doch weiterhin regelmäßig Sicherheitseinsätzeder Polizeikräfte. Dabei kam es Berichten zu-folge häufig zu Menschenrechtsverletzungenwie Verschwindenlassen, rechtswidriger Inhaf-tierung, Folter und anderen Misshandlungensowie außergerichtlichen Hinrichtungen.

Die Behörden verstießen systematisch gegenihre Verpflichtung, bei Menschenrechtsverlet-zungen durch Polizeikräfte umgehend unpar-teiische und wirksame Ermittlungen einzulei-ten, die Verantwortlichen zu identifizieren undsie vor Gericht zu stellen. In einigen Fällenwurden zwar Strafverfolgungsmaßnahmen er-griffen, meistens konnte im Zuge der Ermitt-lungen jedoch entweder kein Täter identifiziertwerden oder es fanden sich keine Beweise fürdie Beteiligung von Staatsbediensteten oderman kam zu dem Schluss, es habe sich umkeinen Verstoß seitens der Polizeikräfte gehan-delt. Nur in Ausnahmefällen wurden Strafver-folgungsmaßnahmen gegen Polizeibeamte we-gen Amtsmissbrauchs im Zusammenhang mitFolter- und Misshandlungsvorwürfen ergriffen.Kein einziger Fall von Verschwindenlassenoder außergerichtlicher Hinrichtung wurde auf-geklärt und kein mutmaßlicher Täter aus denReihen der Ordnungskräfte vor Gericht gestellt.ý Der in Inguschetien lebende 23-jährige Rus-tam Aushev wurde am 17. Februar 2012 amBahnhof von Mineralnyje Wody in der Nachbar-region Stawropol zum letzten Mal gesehen. EinVerwandter, der sich am nächsten Tag dortnach ihm erkundigte, erfuhr vom Bahnhofs-personal, dass ein junger Mann von Männern inZivil festgenommen und in einem Kleinbus ab-transportiert worden sei, was die Überwa-chungskameras auch aufgezeichnet hätten.Als ein Wachmann den Fahrer des Kleinbussesaufgefordert habe, den Wagen im gekenn-zeichneten Parkbereich abzustellen, sei ihmein FSB-Ausweis gezeigt worden. Obwohl dieAngehörigen von Rustam Aushev den Vorfall

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bei den Behörden in allen Einzelheiten schil-derten und eine Untersuchung verlangten, warEnde 2012 noch immer nichts über dasSchicksal und den Verbleib des jungen Mannesbekannt.ý In Inguschetien wurde erstmals ein Gerichts-verfahren gegen zwei ehemalige Polizeibe-amte abgeschlossen. Bei dem Verfahren in Ka-rabulak ging es um die geheime Inhaftierungund Folterung von Zelimkhan Chitigov, aberauch um andere Anklagepunkte. Nach einermehrmaligen Verschiebung der Urteilsverkün-dung um insgesamt fast drei Monate verur-teilte der Richter schließlich am 7. November2012 einen der Polizisten zu acht Jahren Haft,während er dessen ehemaligen Vorgesetztenvon allen Anklagepunkten freisprach. Die An-geklagten befanden sich während des Prozes-ses auf freiem Fuß. Während des gesamtenVerfahrens wurde immer wieder der Vorwurflaut, Opfer und Zeugen würden eingeschüch-tert. Obwohl Zelimkhan Chitigov mindestensnoch einen weiteren Beamten namentlich ge-nannt hatte und angab, an seiner dreitägigenununterbrochenen Folterung an einem gehei-men Haftort seien noch viele weitere Beamtebeteiligt gewesen, wurde kein weiterer Tätervom Gericht identifiziert.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Vertreter von Amnesty International besuchten Russland

im Mai und im Juni.ÿ Russian Federation: The circle of injustice – Security opera-

tions and human rights violations in Ingushetia,www.secure.amnesty.org/en/library/info/EUR46/012/2012/en

ÿ Russian Federation: Briefing to the UN Committee againstTorture, www.amnesty.org/en/library/info/EUR46/040/2012/en

Saudi-ArabienAmtliche Bezeichnung: Königreich Saudi-ArabienStaats- und Regierungschef:

König Abdullah Bin Abdul Aziz al-Saud

Die Behörden schränkten die Rechte auffreie Meinungsäußerung, Vereinigungs-und Versammlungsfreiheit 2012 emp-findlich ein. Andersdenkende wurdenrücksichtslos unterdrückt. Regierungs-kritiker und politische Aktivisten befan-den sich ohne Anklageerhebung in Haftoder wurden nach äußerst unfairen Ge-richtsverfahren verurteilt. Frauen wurdennach wie vor durch Gesetze und im All-tag diskriminiert. Sie waren außerdemnur unzureichend vor häuslicher Gewaltund anderen Übergriffen geschützt. Aus-ländische Arbeitsmigranten wurden vonihren Arbeitgebern ausgebeutet undmisshandelt. Gerichte verhängten Aus-peitschungsstrafen, die auch vollstrecktwurden. Hunderte Menschen saßenEnde 2012 in Todeszellen, und mindes-tens 79 Personen wurden hingerichtet.

HintergrundIm Januar 2012 kündigte der Präsident der Re-ligionspolizei an, er werde Richtlinien erlas-sen, wonach es Religionspolizisten künftig nichtmehr erlaubt sei, saudi-arabische Staatsange-

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hörige festzunehmen und zu verhören sowie anGerichtsverhandlungen teilzunehmen.

Nach dem Tod von Prinz Naif bin 'Abdul Azizal-Saud wurde im Juni 2012 Prinz Salman binAbdul Aziz al-Saud zum Kronprinzen ernannt.

Die halbstaatliche Nationale Gesellschaft fürMenschenrechte veröffentlichte im Juni ihrendritten Menschenrechtsbericht. Darin fordertesie die Regierung nachdrücklich auf, die Dis-kriminierung zu beenden und die Kontrollfunk-tion des beratenden Shura-Rats zu stärken.Außerdem solle sie dafür sorgen, dass dieStrafverfolgungsbehörden die Strafprozess-ordnung korrekt anwendeten und diejenigenzu Rechenschaft ziehen, die sich nicht daranhielten.

Unterdrückung AndersdenkenderDie Behörden unterdrückten 2012 weiterhinrücksichtslos alle Personen, die für politischeund andere Reformen eintraten, sowie Men-schenrechtsverteidiger und engagierte Bürger.Einige waren ohne Anklageerhebung oder Ge-richtsverfahren inhaftiert. Andere wurden auf-grund vage formulierter Anklagepunkte wie»Ungehorsam gegenüber dem Herrscher«strafrechtlich verfolgt.ý Dr. Abdullah bin Hamid bin Ali al-Hamid undMohammad bin Fahad bin Muflih al-Qahtani,Gründungsmitglieder der nicht genehmigtenMenschenrechtsorganisation Saudi Civil andPolitical Rights Association (ACPRA), wurdenwegen »Bedrohung der Staatssicherheit« und»Anstiftung zu Unruhen« angeklagt. Außerdemwarf man ihnen vor, sie hätten die nationaleEinheit untergraben, sie seien dem Herrschergegenüber ungehorsam und untreu gewesenund hätten die Integrität von Staatsbedienste-ten in Zweifel gezogen. Es ist davon auszuge-hen, dass die Anklagen im Zusammenhang mitder Gründung von ACPRA standen. Die beidenMänner hatten außerdem zu Protesten aufgeru-fen und kritisiert, dass Richter »Geständnisse«als Beweismittel zuließen, die unter Folter oderNötigung zustande gekommen waren. DerProzess begann im Juni und war Ende 2012noch anhängig.ý Mohammed Saleh al-Bajady, ein weiteres

Gründungsmitglied von ACPRA, wurde imApril 2012 zu vier Jahren Haft und einem an-schließenden fünfjährigen Reiseverbot verur-teilt. Er war für schuldig befunden worden, Kon-takt zu ausländischen Organisationen unter-halten und die Sicherheit des Landes untergra-ben zu haben. Des Weiteren warf man ihm vor,er habe über die Medien das Ansehen desStaates beschädigt, Angehörige von Häftlin-gen zu Protestaktionen aufgerufen und verbo-tene Bücher besessen. Aus Protest gegenseine Inhaftierung trat er für fünf Wochen ineinen Hungerstreik.ý Der Menschenrechtsverteidiger Fadhel Makial-Manasif, der im Oktober 2011 inhaftiert wor-den war, wurde im April 2012 wegen Aufruhrund »Aufwiegelung der öffentlichen Meinunggegen den Staat« angeklagt. Außerdem legteman ihm »Störung der öffentlichen Ordnungdurch Teilnahme an Protestmärschen« und an-dere Verstöße zur Last. Die Anklagen standenoffensichtlich in Zusammenhang mit seiner Ar-beit als Menschenrechtsverteidiger. Der Pro-zess war Ende 2012 noch nicht abgeschlossen.ý Der Menschenrechtsverteidiger und Schrift-steller Mikhlif bin Daham al-Shammari musstesich im März 2012 vor dem Sonderstrafgerichtverantworten. Ihm wurde u. a. vorgeworfen, erhabe dem Ansehen Saudi-Arabiens in den in-ternationalen Medien schaden wollen, mit ver-dächtigen Organisationen kommuniziert undstaatliche Einrichtungen der Korruption be-zichtigt. Er war im Februar nach eineinhalb Jah-ren gegen Kaution aus der Haft entlassen wor-den. Nachdem er öffentlich sunnitische Reli-gionsgelehrte wegen ihrer Vorurteile gegen-über der schiitischen Minderheit und derenGlauben kritisiert hatte, wurde er erneut fest-genommen. Im April untersagten ihm die Be-hörden, Saudi-Arabien in den nächsten zehnJahren zu verlassen. Sein Verfahren war Ende2012 noch anhängig.ý Khaled al-Johani, der am »Tag des Zorns«am 11. März 2011 als einziger Demonstrant zueiner geplanten Kundgebung in Riad erschie-nen war, wurde am 8. August 2012 aus derHaft entlassen. Ihm schien kein Verfahren mehrzu drohen; sein genauer rechtlicher Status

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war jedoch unklar. Im Juli hatte er zwei TageHafturlaub bekommen, um seine Familie be-suchen zu können.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitBerichten zufolge überarbeitete der Shura-Ratden Entwurf für ein neues Antiterrorgesetz. BisEnde 2012 war es noch nicht in Kraft getreten.

Die Behörden hielten mutmaßliche Mitgliederund Unterstützer von Al-Qaida und anderenislamistischen Gruppen nach wie vor ohne Kon-takt zur Außenwelt in Haft. Tausende Gefan-gene, die aus Gründen der Sicherheit in denvergangenen Jahren festgenommen wordenwaren, wurden offenbar in geheimer Haft ge-halten und hatten keine Möglichkeit, dieRechtmäßigkeit ihrer Inhaftierung anzufechten.Außerdem hatten sie keinen Zugang zuRechtsbeiständen und ärztlicher Versorgung.Einigen von ihnen verwehrte man auch Kon-takte zu ihren Angehörigen und Familienbesu-che. Die Behörden teilten mit, Hunderte Ge-fangene seien vor Gericht gestellt worden, ohnenähere Angaben zu machen. Dies bot Anlasszu der Befürchtung, dass es sich um geheimeProzesse handelte, die nicht den internationa-len Standards für faire Gerichtsverfahren ent-sprachen.

Es gab mehrere Protestaktionen von Familien,deren Angehörige aus Gründen der Sicherheitfestgehalten wurden. Am 23. September 2012versammelten sich in der Provinz Qassim zahl-reiche Menschen nahe dem al-Tarfiya-Gefäng-nis in der Wüste und forderten die Freilassungihrer inhaftierten Familienangehörigen. Die De-monstrierenden, darunter auch Frauen undKinder, wurden von Sicherheitsbeamten um-stellt und gezwungen, ohne Wasser und Nah-rung bis zum folgenden Tag auszuharren. Meh-rere Männer wurden geschlagen und in Ge-wahrsam genommen.

Im Oktober 2012 teilten die Behörden mit, je-der, der an einer Demonstration teilnehme,werde strafrechtlich verfolgt und müsse mit»harten Maßnahmen« der Sicherheitskräfterechnen. Dennoch hielten Angehörige von Ge-fangenen, die aus Gründen der Sicherheit in-haftiert waren, vor dem Gebäude der Saudi-ara-

bischen Menschenrechtskommission in Riadeine Protestkundgebung ab. Die Sicherheits-kräfte sperrten das Gebiet ab und nahmenmindestens 22 Frauen, acht Kinder und mehrals 20 Männer fest, als die Demonstrierendensich weigerten, die Kundgebung aufzulösen.Angehörige der Sicherheitskräfte schlugeneinen Mann und traten eine Frau. Die meistender Protestierenden kamen frei, nachdem sieErklärungen unterzeichnet hatten, in denen sieversicherten, künftig nicht mehr an Demons-trationen teilzunehmen. 15 Männer blieben je-doch in Haft.

Diskriminierung – SchiitenAngehörige der schiitischen Minderheit in derOstprovinz protestierten, weil sie sich schonseit langem aufgrund ihres Glaubens diskrimi-niert fühlten. Es wurde der Vorwurf laut, die Si-cherheitskräfte seien in einigen Fällen mit ex-zessiver Gewalt gegen die Protestierenden vor-gegangen. Dem Vernehmen nach erschossendie Sicherheitskräfte 2012 etwa zehn Demons-trierende während oder im Zusammenhang mitden Protestaktionen in der Ostprovinz, weiterePersonen erlitten Verletzungen. Nach Angabender Behörden kam es zu den Todesfällen undVerletzungen, als sich die Sicherheitskräfte Per-sonen gegenübersahen, die mit Schusswaffenund Molotow-Cocktails ausgerüstet waren. Esgab jedoch keine unabhängigen Untersu-chungen dieser Vorfälle. Dem Vernehmen nachwaren Ende 2012 noch etwa 155 Männer und20 Minderjährige wegen der Proteste ohne An-klageerhebung in Haft.ý Am 26. September 2012 wurden bei einerHausdurchsuchung zwei Männer unter unge-klärten Umständen getötet, ein dritter erlitt töd-liche Verletzungen. Die Sicherheitskräfte ver-muteten in dem Haus einen Mann, der wegenmutmaßlicher »Unruhestiftung« gesuchtwurde. Soweit bekannt, wurde keine offizielleUntersuchung der Todesfälle eingeleitet.

Berichten zufolge wurden mehrere Männerzu Prügelstrafen verurteilt, weil sie sich an Pro-testaktionen in der Ostprovinz beteiligt hatten.Einigen Personen wurde verboten, ins Auslandzu reisen. Schiitische Geistliche, die sich öffent-

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lich für Reformen aussprachen oder die Regie-rung kritisierten, kamen in Haft und wurden ineinigen Fällen wegen »Ungehorsams gegen-über dem Herrscher« oder anderer Verstößeangeklagt.ý Scheich Nimr Baqir al Nimr, der die Diskrimi-nierung der schiitischen Minderheit häufig kri-tisiert hatte, wurde am 8. Juli 2012 in al-Awwa-miya in der Ostprovinz festgenommen. Anlasswaren offenbar Bemerkungen, die er nach demTod des Innenministers, Prinz Naif bin 'AbdulAziz al-Saud, gemacht haben soll. Während sei-ner Inhaftierung erlitt er unter umstrittenenUmständen eine Schussverletzung. Die Behör-den bezeichneten ihn als »Anstifter zum Auf-ruhr« und gaben an, die Sicherheitskräfte hät-ten an einem Kontrollpunkt auf ihn geschos-sen, als er sich gemeinsam mit anderen Perso-nen einer Festnahme widersetzt und einenFluchtversuch unternommen habe. Seine Fa-milie sagte hingegen, er sei bei seiner Fest-nahme allein und unbewaffnet gewesen. Ende2012 befand er sich noch immer ohne Ankla-geerhebung oder Gerichtsverfahren im Gefäng-nis.ý Scheich Tawfiq al-Amer, ein schiitischerGeistlicher und Befürworter von Reformen,saß seit August 2011 in Haft. Gegen ihn ergin-gen im August Anklagen wegen Aufwiegelungzum Protest gegen die Behörden, Beleidigungdes Ältestenrats islamischer Rechtsgelehrter(Ulama) und anderer Vergehen. Er wurde imDezember zu drei Jahren Haft und einem sichdaran anschließenden fünfjährigen Reiseverbotverurteilt. Zudem darf er keine Predigten oderReden halten.

Folter und andere MisshandlungenBerichten zufolge waren Folter und andereMisshandlungen von Häftlingen und verurteil-ten Straftätern üblich und weit verbreitet. DieVerantwortlichen gingen in der Regel straffreiaus. Die am häufigsten genannten Foltermetho-den waren Schläge, das Aufhängen an denGliedmaßen und Schlafentzug. Unter den Ge-folterten waren dem Vernehmen nach auchPersonen, die an Protestaktionen teilgenom-men hatten. Sie wurden tage- und wochen-

lang ohne Anklageerhebung oder Gerichtsver-fahren und ohne Kontakt zur Außenwelt inHaft gehalten.ý Im August 2012 berichteten Häftlinge desal-Hair-Gefängnisses offenbar ihren Familien,sie seien vom Gefängnispersonal tätlich ange-griffen worden und fürchteten um ihr Leben.

FrauenrechteFrauen litten 2012 weiterhin unter starker Dis-kriminierung sowohl aufgrund von Gesetzenals auch im täglichen Leben. Außerdem warensie nicht ausreichend gegen häusliche undgeschlechtsspezifische Gewalt geschützt.

Zum ersten Mal durften zwei saudi-arabischeFrauen an den Olympischen Spielen teilneh-men – allerdings unter der Bedingung, dass siedie saudi-arabischen Bekleidungsvorschriftenund die ständige Begleitung männlicher Auf-passer akzeptierten.

Frauen benötigten nach wie vor die Erlaubniseines männlichen Vormunds, wenn sie heira-ten, verreisen, eine bezahlte Arbeitsstelle antre-ten oder ein Studium aufnehmen wollten. Sau-di-arabische Frauen, die einen Ausländer heira-teten, durften ihre Staatsbürgerschaft nicht anihre Kinder weitergeben, im Gegensatz zu sau-di-arabischen Männern, die mit Ausländerin-nen verheiratet waren. Frauen war das Autofah-ren noch immer verboten, obwohl Aktivistin-nen das Verbot mit der Kampagne Wo-men2Drive deutlich in Frage gestellt hatten.Diskriminierende Regelungen im Zusammen-hang mit dem Ehe- und Scheidungsrechtmachten es manchen Frauen offenbar unmög-lich, aus Beziehungen auszubrechen, in de-nen sie Gewalt und Missbrauch erfuhren.

Rechte von ArbeitsmigrantenArbeitsmigranten stellten rund ein Drittel derBevölkerung Saudi-Arabiens. Sie genossenweiterhin nur unzureichenden Schutz durchdie Arbeitsgesetzgebung und waren häufigAusbeutung und Misshandlungen durch ihreArbeitgeber ausgesetzt. Vor allem weiblicheHausangestellte liefen Gefahr, sexuell miss-braucht oder anderweitig misshandelt zu wer-den.

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Grausame, unmenschliche underniedrigende StrafenGerichte verhängten weiterhin für viele Verge-hen Körperstrafen als Haupt- oder Zusatzstra-fen, vor allem Auspeitschungen. Sie wurden inGefängnissen vollstreckt. Mindestens fünf An-geklagte wurden 2012 zu 1000 bis 2500 Peit-schenhieben verurteilt.

TodesstrafeDie Gerichte verhängten auch 2012 wieder To-desurteile für eine Reihe von Drogendeliktenund andere Vergehen. Es war davon auszuge-hen, dass sich Hunderte von Personen in denTodeszellen befanden, manche schon seit vie-len Jahren. Mindestens 79 Gefangene wurdenhingerichtet, die Mehrzahl von ihnen öffentlich.Unter den Hingerichteten befanden sich min-destens 52 saudi-arabische Staatsangehörige,mindestens 27 ausländische Staatsangehörigeund mindestens eine Frau. Einige der Gefange-nen wurden wegen Vergehen hingerichtet, diekeine Gewaltverbrechen waren.ý Rizana Nafeek, eine Hausangestellte aus SriLanka, befand sich 2012 noch immer in derTodeszelle. Sie war 2007 schuldig gesprochenworden, das Baby ihrer Arbeitgeberin ermor-det zu haben. Die Angeklagte war zur Tatzeiterst 17 Jahre alt und hatte im Prozess keinenRechtsbeistand. Ein Geständnis, das sie mög-licherweise unter Zwang im Polizeiverhör ab-gelegt hatte, widerrief sie später.ý Der nigerianische Staatsbürger Suliamon Oly-femi saß weiterhin in der Todeszelle. Er warnach einem unfairen Gerichtsverfahren 2004zum Tode verurteilt worden.ý Die saudi-arabischen Staatsbürger Qassembin Rida bin Salman al-Mahdi, Khaled bin Mu-hammad bin Issa al-Qudaihi und Ali HassanIssa al-Buri befanden sich offenbar in unmit-telbarer Gefahr, hingerichtet zu werden. Sie hat-ten alle Berufungsmöglichkeiten gegen ihreVerurteilung wegen Drogendelikten ausge-schöpft. Berichten zufolge hatten sie nachihrer Festnahme im Juli 2004 und währendihrer Untersuchungshaft keinen Zugang zueinem Rechtsbeistand. Mindestens einer derMänner wurde dem Vernehmen nach zu

einem »Geständnis« gezwungen. Ali HassanIssa al-Buri war ursprünglich zu 20 JahrenFreiheitsentzug und 4000 Peitschenhieben ver-urteilt worden. Nachdem ein ordentliches Ge-richt in Qurayyat das Urteil des Kassationsge-richts auf Umwandlung der Urteile gegen diebeiden anderen Häftlinge abgewiesen hatte,wurde er jedoch zum Tode verurteilt. Alle dreiTodesurteile waren vom Obersten Justizrat2007 bestätigt worden.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Die saudi-arabischen Behörden verweigerten Amnesty Inter-

national weiterhin hartnäckig den Zugang zum Land. Somitkonnten keine Recherchen zur Lage der Menschenrechte vorOrt vorgenommen werden.

ÿ Saudi-Arabia’s »Day of Rage«: One year on,www.amnesty.org/en/library/info/MDE23/007/2012/en

ÿ Saudi-Arabia: Dissident voices stifled in the EasternProvince, www.amnesty.org/en/library/info/MDE23/011/2012/en

SchwedenAmtliche Bezeichnung: Königreich SchwedenStaatsoberhaupt: König Carl XVI. GustafRegierungschef: Fredrik Reinfeldt

Ahmed Agiza, der im Jahr 2001 Opfereiner außerordentlichen Gefangenen-überstellung von Schweden nach Ägyp-ten und anschließenden Misshandlun-gen geworden war, konnte 2012 endlichzu seiner Familie nach Schweden zu-rückkehren. Die Behörden setzten im Julidie Abschiebungen von Uiguren nachChina aus angesichts der Gefahr, die Be-troffenen könnten dort Opfer von Verfol-gung werden.

Folter und andere MisshandlungenNachdem die Behörden seinem Antrag auf eineAufenthaltserlaubnis stattgegeben hatten,kehrte Ahmed Agiza im Dezember 2012 zu sei-

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Schweiz 357

ner Familie nach Schweden zurück. Er war imDezember 2001 zusammen mit Mohammed al-Zari in Schweden festgenommen und ineinem von der CIA gemieteten Flugzeugzwangsweise von Schweden nach Ägyptenüberstellt worden. Beide Männer wurden an-schließend in Ägypten im Gewahrsam gefoltertund anderweitig misshandelt. 2008 sprach dieschwedische Regierung beiden Männern fürdie von ihnen erlittenen Menschenrechtsverlet-zungen finanzielle Entschädigungen zu. Ah-med Agiza kam 2011 aus dem Gefängnis inKairo frei, nachdem er im Anschluss an einunfaires Gerichtsverfahren vor einem Militärge-richt mehr als neun Jahre inhaftiert gewesenwar. Die Ahmed Agiza zugesprochene Aufent-haltserlaubnis trug dazu bei, sein Recht aufWiedergutmachung für die erlittenen Men-schenrechtsverletzungen zu gewährleisten.Effektive, unparteiische, umfassende und un-abhängige Ermittlungen in Bezug auf dieseMenschenrechtsverletzungen standen jedochnach wie vor aus.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenEine Reihe von Uiguren wurde zwischen Januarund Juni 2012 nach China abgeschoben, ob-wohl ihnen dort bei der Rückkehr Verfolgungund anderes schwerwiegendes Leid drohte.Die schwedische Einwanderungsbehörde gabjedoch im Juli bekannt, dass sie angesichtsder vertraulichen Informationen, die sie jüngsterhalten habe, sämtliche Abschiebungen von

Uiguren nach China aussetzen werde, undzwar auch in Fällen, in denen die Asylanträgebereits abgelehnt worden waren.

DiskriminierungIm September 2012 veröffentlichte die Europäi-sche Kommission gegen Rassismus und Into-leranz ihren Länderkontrollbericht über Schwe-den. Darin wurde u. a. Besorgnis geäußertüber die anhaltende Diskriminierung vonRoma, vor allem im Hinblick auf den Zugangzu sozialen Rechten, die Zunahme antisemiti-scher und islamophober Bemerkungen –auch vonseiten einiger Parlamentarier – sowiedarüber, dass Juden und Muslime, die sicht-bare Glaubenssymbole trugen, zur Zielscheibe»antisemitischer und islamophober Vorfälle«geworden waren.

SchweizAmtliche Bezeichnung:

Schweizerische EidgenossenschaftBundespräsidentin: Eveline Widmer-Schlumpf

Die Bedingungen für den Zugang zumAsylverfahren wurden 2012 verschärft.Es wurden Maßnahmen zur Einschrän-kung der Anwendung von Gewalt bei Ab-schiebungen eingeführt.

Polizei und SicherheitskräfteIm Kanton Genf gab es Berichte über Miss-handlungen durch die Polizei während odernach Festnahmen, auch von Minderjährigen.Im Oktober 2012 empfahl der EuropäischeAusschuss zur Verhütung von Folter eineVerbesserung der Ausbildung sowie die Ver-stärkung bestehender Maßnahmen zur Be-kämpfung von Misshandlungen durch diePolizei.

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358 Schweiz

HaftbedingungenDer Europäische Ausschuss zur Verhütung vonFolter drängte darauf, dass alle traumatischenVerletzungen, die bei medizinischen Untersu-chungen in Haftanstalten des Kantons Genfentdeckt werden, an eine unabhängige zurDurchführung von Ermittlungen befugte Insti-tution gemeldet werden.

Des Weiteren wurde allen Kantonen empfoh-len, geeignete Betreuungseinrichtungen fürInhaftierte mit psychischen Erkrankungen zuschaffen.

DiskriminierungDie Diskriminierung ethnischer und religiöserMinderheiten sowie von Migranten in Gesetzund Praxis blieb bestehen. Antidiskriminie-rungsgesetze und Entschädigungsmechanis-men entsprachen nicht internationalen Stan-dards.

Im März 2012 äußerte der Menschenrechts-kommissar des Europarats Bedenken ange-sichts bestimmter »Volksinitiativen«, die sichgegen Migrantengemeinschaften richten,diese stigmatisieren und damit gegen interna-tionale Menschenrechtsstandards verstoßen.Das durch eine Volksinitiative eingeführte Mina-rett-Verbot blieb auch 2012 in Kraft.

Im März lehnte der Ständerat eine 2011 vomNationalrat überwiesene Motion (Antrag) ab,die ein Verbot der Gesichtsverhüllung einführenwollte.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenIm September 2012 wurde das Recht auf dieEinreichung von Asylanträgen bei SchweizerBotschaften abgeschafft. Das Parlament ent-schied auch, Militärdienstverweigerern, die inder Schweiz um Asyl nachsuchen, kein Asyl,sondern nur eine vorläufige Aufenthaltsgeneh-migung zu gewähren.

Im Dezember wurden über zehn einschrän-kende Maßnahmen in das Asylgesetz einge-bracht. Dazu gehören u. a. der Ausschluss er-wachsener Söhne und Töchter aus dem Fami-lienasyl sowie die Verschärfung der Bedingun-gen für die Erteilung unbefristeter Aufenthalts-genehmigungen für Flüchtlinge: Solche sollenkünftig erst nach zehn Jahren erteilt werdenund auch dann nur, wenn die Betroffenen alserfolgreich integriert gelten.

Im März 2012 übernahm die Nationale Kom-mission zur Verhütung von Folter die unab-hängige Überwachung von Zwangsrückführun-gen. Positive Schritte wurden unternommen,um Fesselungsmaßnahmen beim Transport vonAbzuschiebenden zum Flughafen, vor undwährend des Einsteigens und während des Flu-ges einzuschränken. Im Oktober äußerte sichdie Kommission besorgt über die restriktivenHaftbedingungen in den Abschiebegefängnis-sen. Im Januar wurden die Ermittlungen zumTod des Nigerianers Joseph Ndukaku Chiakwaeingestellt. Er war bei einer Massenabschie-bung im März 2010 am Flughafen Zürich umsLeben gekommen. Das Beschwerdeverfahrengegen die Einstellung der Ermittlungen warEnde 2012 noch anhängig.

UnternehmensverantwortungIm Dezember 2012 beauftragte das Parlamentdie Regierung, eine nationale Strategie zurUmsetzung der UN-Leitlinien für Wirtschaft undMenschenrechte zu entwickeln.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm Juni 2012 wurde ein Gesetz gegen Zwangs-heirat eingeführt. Unter Zwang geschlosseneEhen müssen damit in Zukunft aufgehobenwerden. Im September verabschiedete die Re-

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Senegal 359

gierung ein auf fünf Jahre angelegtes Pro-gramm zur Bekämpfung von Zwangsheiratund innerfamiliärer Gewalt, das vor allem aufdie verstärkte Zusammenarbeit zwischenSchulen, Fachleuten und Beratungsstellen ab-zielt. Im Juli 2012 gab die Justizministerin dieEinrichtung einer nationalen Stelle für den Zeu-genschutz im Menschenhandel bekannt. ImOktober verabschiedete die Regierung einenNationalen Aktionsplan zur Bekämpfung desMenschenhandels.

Weitere gesetzliche,verfassungsrechtliche undinstitutionelle EntwicklungenIm Dezember 2012 leitete der Bundesrat Kon-sultationen für die Ratifizierung des Internatio-nalen Übereinkommens zum Schutz aller Per-sonen vor dem Verschwindenlassen ein undstimmte einer Unterzeichnung des UN-Über-einkommens über die Rechte von Menschenmit Behinderungen zu.

Amnesty International: Berichtÿ Choice and prejudice: Discrimination against Muslims

in Europe, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR01/001/2012/en

SenegalAmtliche Bezeichnung: Republik SenegalStaatsoberhaupt: Macky Sall (löste im April

Abdoulaye Wade im Amt ab)Regierungschef: Abdoul Mbaye (löste im April

Souleymane Ndéné Ndiaye im Amt ab)

Der Wahlkampf für die Präsidentschafts-wahlen im Januar und Februar 2012 warvon Unruhen überschattet, bei denen eszu schweren Menschenrechtsverletzun-gen wie Folter und anderen Misshand-lungen sowie zu Angriffen gegen dasRecht auf freie Meinungsäußerung kam.

Mehrere Menschen wurden getötet, alsdie Sicherheitskräfte mit exzessiver Ge-walt gegen Demonstrierende vorgingen.Anfang 2012 nahmen die Zusammen-stöße zwischen der Armee und einer be-waffneten Gruppe in der südlichen Re-gion Casamance zu. Im Zuge derKämpfe wurden Zivilpersonen festge-nommen und gerieten ins Visier derKonfliktparteien. Die senegalesische Re-gierung und die Afrikanische Union un-terzeichneten ein Abkommen zur Ein-richtung eines Sondergerichts für denProzess gegen Hissène Habré.

HintergrundPersonen, die sich gegen die Kandidatur desscheidenden Präsidenten Abdoulaye Wade füreine dritte Amtszeit aussprachen, waren im Ja-nuar und im Februar 2012 gewaltsamen Re-pressalien durch die Sicherheitsorgane ausge-setzt. Infolge der exzessiven Gewaltanwen-dung durch die Sicherheitskräfte gab es Toteund Verletzte. Trotz der Unruhen wurde Ma-cky Sall im März zum neuen Präsidenten ge-wählt. Das Wahlergebnis wurde nicht ange-fochten.

Im Oktober fand in Rom unter Vermittlung derkatholischen Gemeinschaft Sant’Egidio ein

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Treffen zwischen Vertretern der senegalesi-schen Regierung und Mitgliedern der Opposi-tionsgruppe Mouvement des Forces Démocrati-ques de la Casamance (MFDC) statt.

Exzessive GewaltanwendungBei den Unruhen vor den Präsidentschaftswah-len töteten Sicherheitskräfte mindestenssechs Menschen.ý In Podor gingen Angehörige der Gendarmerie(Polizeikräfte, die dem Verteidigungsministe-rium unterstehen) im Januar 2012 mit scharferMunition gegen friedliche Demonstrierendevor. Dabei wurden Mamadou Sy und die etwa60 Jahre alte Bana Ndiaye getötet, die garnicht an der Demonstration teilgenommenhatte.ý Im selben Monat wurde Mamadou Diop wäh-rend einer friedlichen Demonstration auf derPlace de l’Obélisque in Dakar von einem Poli-zeiwagen tödlich verletzt. Die eingeleiteten Er-mittlungen waren Ende 2012 noch nicht abge-schlossen.

Folter und andere MisshandlungenMehrere Personen wurden von Angehörigender Sicherheitskräfte gefoltert und anderweitigmisshandelt. Mindestens zwei Menschen sollenim Gewahrsam infolge von Folter gestorbensein.ý Ibrahima Fall wurde im Februar 2012 gefoltertund auf andere Weise misshandelt. Er war inder Stadt Tivavouane festgenommen worden,als er von einer Demonstration gegen die Kan-didatur von Präsident Wade zurückkam. Ange-hörige der Gendarmerie folterten ihn mitSchlagstöcken, Wasserschläuchen und Strom-kabeln.ý Im selben Monat starb Ousseynou Seck,nachdem er im Gewahrsam gefoltert wordenwar. Alle Polizeibeamten, die in den Fall verwi-ckelt waren, wurden festgenommen. Ihr Pro-zess hatte Ende des Jahres noch nicht begon-nen.ý Im August 2012 starb der taubstumme Ké-couta Sidibé in Kédougou im Gewahrsam. Be-richten zufolge war er zuvor von Angehörigender Sicherheitskräfte gefoltert worden. Man

hatte ihn wegen des Konsums von Cannabis In-dica festgenommen. Der stellvertretende Be-fehlshaber der Gendarmerie in Kédougouwurde im Dezember festgenommen, nach-dem ein Gericht in Kaolack ihn des Mordes fürschuldig befunden hatte. Eine Untersuchungder Beteiligung fünf anderer Angehöriger derGendarmerie am Tod von Kécouta Sidibé warbis Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.

Recht auf freie MeinungsäußerungPolitische engagierte Personen und Menschen-rechtsverteidiger wurden angegriffen und in-haftiert, weil sie sich gewaltfrei gegen die Kan-didatur von Präsident Wade aussprachen.ý Im Januar 2012 wurden zwei Journalistinnenund ein Journalist von Polizisten geschlagen.Die beiden Journalistinnen arbeiteten für diesenegalesische Tageszeitung Le Populaire, ihrKollege für die französische Nachrichtenagen-tur Agence France Presse.ý Im Februar 2012 hinderten SicherheitskräfteMitglieder der Bewegung Y’en a marre (Wirhaben es satt) an der Organisation eines Sitz-streiks auf der Place de l’Obélisque in Dakarund nahmen mehrere Menschen fest. Die Fest-genommenen wurden wenig später ohne An-klageerhebung aus dem Gewahrsam entlassen.

Menschenrechtsverletzungen und-verstöße in der Region CasamanceIm Zusammenhang mit dem sich verschärfen-den Konflikt zwischen der Armee und der Op-positionsgruppe Mouvement des Forces Démo-cratiques de la Casamance (MFDC) wurdenmehrere Zivilpersonen festgenommen bzw. ge-rieten ins Visier der Konfliktparteien.ý Im Januar 2012 wurden in der Ortschaft Affi-niam (30 km nördlich von Ziguinchor, derwichtigsten Stadt der Region) acht Menschenvon den Sicherheitskräften festgenommen.Wenige Stunden zuvor hatten mutmaßliche be-waffnete Angehörige der MFDC in der Gegendeinen Angehörigen der senegalesischen Gen-darmerie getötet und drei weitere verletzt. InBerichten hieß es, dass die Festnahmen Teilvon Vergeltungsmaßnahmen der Armee seien.Die acht Festgenommenen wurden wegen Ge-

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Serbien (einschließlich Kosovo) 361

fährdung der Staatssicherheit angeklagt, imJuni aber ohne Gerichtsverfahren freigelassen.ý Im Februar und im März 2012 überfielen be-waffnete Personen, die behaupteten, Mitglie-der der MFDC zu sein, Zivilpersonen und raub-ten sie aus. Die Opfer sollten auf diese Weisevon der Teilnahme an den Präsidentschafts-wahlen abgeschreckt werden.ý Im Dezember 2012 wurden in Gambia achtGeiseln freigelassen, darunter sudanesischeSoldaten. Sie waren über ein Jahr von Angehö-rigen des bewaffneten Arms der MFDC festge-halten worden.

Internationale Rechtsprechung –Hissène HabréIm August 2012 unterzeichneten Senegal unddie Afrikanische Union ein Abkommen, dasdie Einrichtung eines Sondergerichts für denProzess gegen den früheren tschadischenPräsidenten Hissène Habré vorsieht. Das Ge-richt wäre für Prozesse gegen Personen zu-ständig, die sich wegen im Tschad verübter Ver-brechen im Sinne des Völkerrechts in den Jah-ren 1982–90 zu verantworten haben.

Am 19. Dezember 2012 verabschiedete dieNationalversammlung ein Gesetz zur Grün-dung spezieller Kammern innerhalb des beste-henden Gerichtssystems. Es fehlten jedochentscheidende Elemente für die erfolgreicheDurchführung eines fairen Prozesses, wie z. B.ein Opfer- und Zeugenschutzprogramm sowieeffektive, auf Gegenseitigkeit beruhendeRechtshilfeabkommen mit anderen Ländern, indenen unter Umständen Opfer und Zeugen le-ben oder sich Beweise und Vermögenswertebefinden, darunter Frankreich und Tschad.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International hielten sich im Februar,

März und Juni im Senegal auf.ÿ Senegal: The human rights situation – Brief overview

in the run-up to the presidential election,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR49/001/2012/en

ÿ Senegal: An agenda for human rights – An opportunity not tobe missed by the authorities elected in the March 2012 pre-sidential election, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR49/004/2012/en

Serbien(einschließlich Kosovo)Amtliche Bezeichnung: Republik SerbienStaatsoberhaupt: Tomislav Nikolic (löste im Mai

Boris Tadic im Amt ab)Regierungschef: Ivica Dacic (löste im Juli Mirko

Cvetkovic im Amt ab)

Vor dem Internationalen Strafgerichtshoffür das ehemalige Jugoslawien (ICTY)begannen 2012 die Verfahren gegenRatko Mladic und Goran Hadzic. ImApril wurden in Belgrad mehr als 1000Roma Opfer rechtswidriger Zwangsräu-mungen. Im Oktober wurde die BelgraderGay Pride Parade erneut verboten. ImKosovo herrschte weiterhin Straffreiheitfür Kriegsverbrechen, die von der Be-freiungsarmee des Kosovo (UÇK) verübtworden waren. Es kam weiterhin zu ge-waltsamen Zusammenstößen im Nordendes Kosovo. Die Auseinandersetzungenzwischen den verschiedenen Bevölke-rungsgruppen im Kosovo hielten an,und Minderheiten wurden nach wie vordiskriminiert.

HintergrundNach den Parlamentswahlen im Mai 2012wurde eine Koalitionsregierung unter Führungder Serbischen Fortschrittspartei (SNS) und der

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362 Serbien (einschließlich Kosovo)

Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) gebildet.Sie löste eine von der Demokratischen Partei(DS) geführte Koalitionsregierung ab.

Sowohl der im Mai gewählte Präsident Tomis-lav Nikolic als auch sein Amtsvorgänger BorisTadic erklärten, in Srebrenica habe kein Völker-mord stattgefunden.

Im März 2012 bestätigte der Europäische Ratden Status Serbiens als EU-Beitrittskandidat.Im Oktober machte die Europäische Kommis-sion den Verhandlungsbeginn jedoch von der»konstruktiven Teilnahme« Serbiens an Ge-sprächen über eine »Normalisierung« der Be-ziehungen zum Kosovo abhängig. Die Gesprä-che zwischen den Regierungschefs Serbiensund des Kosovo begannen im Oktober.

Internationale Strafverfolgungvon KriegsverbrechenIm Mai 2012 begann das Verfahren gegen denehemaligen General der bosnischen Serben,Ratko Mladic, und im Oktober das gegen denehemaligen Anführer der kroatischen Serben,Goran Hadzic. Beide waren 2011 in Serbienverhaftet und an den Internationalen Strafge-richtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY)im niederländischen Den Haag überstellt wor-den. Der Anführer der Serbischen RadikalenPartei, Vojislav Seselj, der wegen Kriegsverbre-chen und Verbrechen gegen die Menschlich-keit vor Gericht stand, wurde im Juni 2012 we-gen Missachtung des Gerichts zu zwei JahrenHaft verurteilt.

Im November wurde der ehemalige UÇK-Kommandeur und spätere Ministerpräsidentdes Kosovo, Ramush Haradinaj, von der An-klage, Kriegsverbrechen begangen zu haben,freigesprochen. Das Verfahren war auf Anord-nung der Berufungskammer des ICTY teil-weise wiederaufgenommen worden. Die An-klage hatte ihn und die ebenfalls freigespro-chenen Mitangeklagten Idriz Balaj und LahiBrahimaj einzeln und gemeinsam für ein kri-minelles Vorhaben verantwortlich gemacht, dassich gegen Zivilpersonen richtete. Betroffenwaren Serben, Roma, Ägypter und Kosovo-Al-baner, denen nachgesagt wurde, sie würdenmit den serbischen Behörden zusammenarbei-

ten und die UÇK nicht unterstützen. Zu denAnklagepunkten zählten rechtswidrige Inhaftie-rung, Misshandlung, Folter und Mord.

Im Dezember sprach ein schwedisches Beru-fungsgericht einen ehemaligen serbischen Po-lizeibeamten frei, der im Januar für schuldig be-funden worden war, im Jahr 1999 in Cus-ka /Qyshk im Kosovo Kriegsverbrechen began-gen zu haben.

SerbienInnerstaatliche Strafverfolgungvon KriegsverbrechenDie Prozesse vor der Sonderkammer für Kriegs-verbrechen am Bezirksgericht Belgrad gingen2012 weiter. Etwa 37 serbische Angeklagte wur-den in erster Instanz wegen Kriegsverbrechenverurteilt. Es wurden jedoch nur sieben neueAnklagen erhoben. Einige Zeugen wurdendem Vernehmen nach von Beamten bedroht,die den Auftrag hatten, die Zeugen zu schüt-zen.

Zum Jahresende befasste sich das Beru-fungsgericht mit einem Rechtsmittel, das ge-gen die Verurteilung von neun Mitgliedern derUÇK-Gruppe von Gnjilane /Gjilan eingelegtworden war. Ihnen wurden Kriegsverbrechenzur Last gelegt, darunter die Entführung vonSerben, Mord und Vergewaltigung. 34 der Opferwurden noch immer vermisst.

Nachdem die Berufungskammer des Interna-tionalen Strafgerichtshofs für das ehemaligeJugoslawien zwei kroatische Generäle freige-sprochen hatte (siehe Länderbericht Kroa-tien), bat die für Kriegsverbrechen zuständigeStaatsanwaltschaft den ICTY, ihr Beweismate-rial aus den Prozessakten zur Verfügung zu stel-len. Es soll für Ermittlungen in Serbien zu mut-maßlichen Kriegsverbrechen gegen die serbi-sche Bevölkerung in Kroatien während der»Operation Sturm« im Jahr 1995 genutzt wer-den.

Diskriminierung – RomaIn Belgrad kam es weiterhin zu rechtswidrigenZwangsräumungen.ý Im April 2012 vertrieben die Belgrader Behör-den rund 1000 Roma aus der Siedlung Belvil.

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Serbien (einschließlich Kosovo) 363

Etwa die Hälfte von ihnen wurde nach Südser-bien zurückgeschickt, viele wurden obdach-los. Einige Roma, die nach Nis zurückgeschicktwurden, hatten bis Mitte Juli weder fließendesWasser noch ausreichende sanitäre Anlagen.Diejenigen, die in Belgrad gemeldet waren,wurden in entlegenen Container-Siedlungen amRande der Stadt untergebracht, wo sie keineArbeit fanden. Die Europäische Kommission er-klärte sich bereit, den Bau fester Unterkünftefür die von Zwangsräumungen betroffenenRoma zu finanzieren. Nach den Vorstellungender Stadtverwaltung sollen die Unterkünfte al-lerdings in abgelegenen Gebieten errichtetwerden, wodurch eine räumliche Trennungzum Rest der Bevölkerung hergestellt würde.Im November stellte die Gleichstellungsbeauf-tragte fest, die Belgrader Behörden hätten dieRoma diskriminiert, da die Verträge für dieWohncontainer Regeln und Bedingungen ent-hielten, die nur für diese Bevölkerungsgruppegalten und die zur Vertreibung von elf Familienführten.

Im September 2012 wurden Gesetzesände-rungen verabschiedet, die möglicherweise zueiner Verringerung der Diskriminierung beitra-gen. Für »rechtlich unsichtbare« Personen,hauptsächlich Roma, soll es demnach einfa-cher werden, Geburtsurkunden zu erhalten.Sie sind eine Voraussetzung dafür, sich Perso-naldokumente ausstellen zu lassen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen,Transgender und IntersexuellenIn Belgrad wurde im September 2012 einschwuler Mann von Jugendlichen aus homo-phoben Motiven angegriffen und mit einemHammer geschlagen. Im Oktober verbot derMinisterpräsident zum zweiten Mal in Folge dieBelgrader Gay Pride Parade wegen nicht nä-her ausgeführter Sicherheitsrisiken. Im Märzwurde der Anführer der nationalistischen Or-ganisation Obraz, Mladen Obradovic, wegenAufstachelung zur Diskriminierung anlässlichder Belgrader Gay Pride Parade 2009 zu zehnMonaten Haft verurteilt. Im November hob einBerufungsgericht das Urteil auf und ordnete einWiederaufnahmeverfahren an.

Flüchtlinge und MigrantenDie Regierung verschärfte im Berichtsjahr dieGrenzkontrollen, um Bürger daran zu hindern,das Land zu verlassen. Dies betraf vor allemRoma. Zwischen Januar und Oktober 2012 be-antragten 15135 serbische Staatsbürger Asyl inLändern der Europäischen Union, die meistendavon Roma.

Im Oktober forderten sechs EU-Mitgliedstaa-ten den Europarat dringend auf, Maßnahmenzu erwägen, um die Anzahl serbischer Asylsu-chender zu verringern. Österreich und dieSchweiz führten ein beschleunigtes Asylverfah-ren für serbische Asylsuchende ein.

In Serbien wurden mehr als 1700 Asylanträgegestellt, von denen keiner positiv beschiedenwurde. Unter den Asylsuchenden waren auchunbegleitete Minderjährige. Das Asylverfahrengewährleistete keine faire Beurteilung individu-eller Schutzbedürfnisse. Im September kam-pierten mehr als 100 Asylsuchende vor demAsylzentrum Bogovada, da keine andere Un-terkunft zur Verfügung stand.

KosovoIm Januar 2012 begannen Gespräche zwischender Europäischen Kommission und dem Ko-sovo über eine Visa-Liberalisierung. Im Septem-ber verkündete die Internationale Lenkungs-gruppe für den Kosovo das offizielle Ende derüberwachten Unabhängigkeit. Der Europäi-sche Rat mahnte im Dezember Fortschritte an,was Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz,Meinungsfreiheit und die Zusammenarbeit mitder EU-geführten Rechtsstaatsmission im Ko-sovo (EULEX) betraf.

Im Juni wurde das Mandat einer verkleinertenEULEX-Mission bis 2014 verlängert. Die EULEXbehielt ihre Zuständigkeit für die Ermittlung undstrafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbre-chen, organisierter Kriminalität und Korruptionsowie für den Zeugenschutz.

Die Lage im NordenDie EULEX und die Behörden des Kosovo ver-suchten 2012 weiterhin, ihre Autorität in dendrei serbisch dominierten Gemeinden im Nor-den durchzusetzen. Als die Regierung des Ko-

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364 Serbien (einschließlich Kosovo)

sovo im Juli dort Ämter eröffnete, kam es inMitrovica /Mitrovicë zu bewaffneten Angriffenvon Serben, die die Regierungsgewalt des Ko-sovo über die mehrheitlich serbischen Ge-meinden nicht anerkennen wollten.

An den Grenzposten, die 2011 von den koso-varischen Behörden errichtet worden warenund die von der EULEX und der Kosovo-Truppe(KFOR) kontrolliert wurden, kam es fast täglichzu gewaltsamen Zwischenfällen mit Kosovo-Serben, die gegen die Kontrollen an derGrenze zu Serbien protestierten. Bei den wie-derholten Zusammenstößen wurden sowohlKFOR-Angehörige als auch Zivilpersonen, in derMehrheit Kosovo-Serben, verletzt. Mindestensein kosovarischer Polizeibeamter erlitt tödlicheVerletzungen.

Im Dezember wurden Grenzübergänge geöff-net, auf die sich Serbien und der Kosovo ineiner Vereinbarung zur gemeinsamen Grenz-verwaltung verständigt hatten.ý Am serbischen religiösen Feiertag Vidovdanim Juni beschlagnahmte die Polizei des Ko-sovo serbische Fahnen, Abzeichen und T-Shirtsvon serbischen Männern, die über die Grenzeeinreisten. Es kam zu gewaltsamen Zusam-menstößen, bei denen Berichten zufolge vielekosovarische Polizisten und mindestens vierSerben verletzt wurden. 16 Kinder wurden beider Rückfahrt von den Vidovdan-Feierlichkei-ten verletzt, als ihr Bus in der kosovarischenHauptstadt Pristina von ethnischen Albanernangegriffen wurde.

Im Dezember lehnte Ministerpräsident Thaçidie von der serbischen Regierung vorgeschla-gene Autonomie für den Norden des Kosovoab.

Strafverfolgung von KriegsverbrechenDie Rechtsstaatsmission EULEX stellte 2012zwei zusätzliche Anklagevertreter für die Er-mittlung und strafrechtliche Verfolgung vonKriegsverbrechen ein. Das Zeugenschutzge-setz aus dem Jahr 2011, das im September2012 in Kraft trat, war bis zum Jahresendenoch nicht umgesetzt worden.

Im Mai 2012 wurden der ehemalige Verkehrs-minister und UÇK-Anführer Fatmir Limaj und

drei weitere Personen von der Anklage freige-sprochen, Kriegsverbrechen begangen zu ha-ben. Die Anklage bezog sich u. a. auf die Folte-rung und Tötung von Kosovo-Serben und al-banischen Zivilpersonen im GefangenenlagerKlecka /Kleçkë im Jahr 1999. Sechs weitereAngeklagte waren im März freigesprochen wor-den. Nachdem das Oberste Gericht das Urteilvom Mai aufgehoben und ein neues Verfahrenangeordnet hatte, nahm die EULEX Fatmir Li-maj und drei weitere Angeklagte fest. Der Minis-terpräsident protestierte zwar umgehend ge-gen die Festnahme und stellte die Zuständigkeitder EULEX infrage. Die Männer blieben jedochin Gewahrsam und warteten zum Jahresendeauf ihre Verfahren.

Im September wurden zwei Kosovo-Serbenfestgenommen, die verdächtigt wurden, imApril 1999 Kosovo-Albanerinnen vergewaltigt zuhaben. Es handelte sich um die erste Anklageim Kosovo, bei der sexuelle Gewalt als Kriegs-verbrechen gewertet wurde.

Verschwindenlassen und EntführungenEine von der EU ins Leben gerufene Ermitt-lungsgruppe ging 2012 weiterhin Vorwürfennach, wonach die UÇK Serben entführt und an-schließend nach Albanien verschleppt habensoll, wo man sie gefoltert und ermordet habe.Einigen seien Organe zum Zweck des Organ-handels entnommen worden.

Der Beratende Menschenrechtsausschuss,der über Menschenrechtsverletzungen befin-det, die der UN-Übergangsverwaltung im Ko-sovo (UNMIK) vorgeworfen werden, befasstesich im Dezember mit drei Beschwerden. Erkam zu dem Schluss, dass die UNMIK dasRecht auf Leben von Kosovo-Serben verletzthabe, die nach dem bewaffneten Konflikt imJahr 1999 entführt worden waren, da die UN-Übergangsverwaltung ihr Schicksal nicht wirk-sam untersucht habe.

Bis September 2012 hatte die Abteilung fürRechtsmedizin (Department of Forensic Medi-cine – DFM) die sterblichen Überreste von 20Personen exhumiert.

51 Personen (33 ethnische Albaner und 18Kosovo-Serben) konnten durch DNA-Analysen

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Serbien (einschließlich Kosovo) 365

identifiziert und die Leichname ihren Familienzur Bestattung übergeben werden.

Die Exhumierungen im Bergbaugebiet Zhili-voda / Zilivoda, wo die sterblichen Überrestevon 25 Kosovo-Serben vermutet worden waren,wurden eingestellt, ohne dass man menschli-che Überreste gefunden hatte.

Die Regierungskommission für vermisste Per-sonen des Kosovo scheiterte weitgehend anihrer Aufgabe, das im Jahr 2011 erlassene Ge-setz zu vermissten Personen umzusetzen. An-gehörige forderten die Behörden auf, das Pro-blem der vermissten Personen in Gesprächenmit Serbien anzusprechen.

Exzessive GewaltanwendungDie Polizei des Kosovo ging im Januar undOktober 2012 mit exzessiver Gewalt gegen De-monstrationen vor. Die von der politischenBewegung Vetëvendosje! (Selbstbestim-mung!) organisierten Kundgebungen richtetensich gegen die Regierung.

Recht auf freie MeinungsäußerungJournalisten wurden weiterhin tätlich angegrif-fen. Journalisten und Regierungsbeamte kriti-sierten, dass bei der Reform des Strafgesetz-buchs Einschränkungen des verfassungsmä-ßigen Rechts beibehalten werden sollten. Diesbetraf den Straftatbestand der Verleumdung,der sich gegen kritische Berichterstattung rich-tete, und die vorgesehenen Haftstrafen fürJournalisten, die ihre Informationsquellen nichtpreisgaben. Im Mai 2012 verweigerte die Prä-sidentin des Kosovo, Atifete Jahjaga, ihre Zu-stimmung zur Neufassung des Strafgesetz-buchs und leitete es an das Parlament zurück.Im Oktober erfolgte die Verabschiedung einesGesetzes, mit dem die umstrittenen Bestim-mungen aus dem Strafgesetzbuch gestrichenwurden.

Im Dezember 2012 wurde die öffentliche Prä-sentation einer Ausgabe der Zeitschrift Kosovo2.0 zum Thema Heterosexualität und Homose-xualität im westlichen Balkan Ziel eines ge-waltsamen homophoben Angriffs. Einen Tagspäter wurde das Büro der NGO Libertas atta-ckiert, die sich für die Rechte von Lesben,

Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und In-tersexuellen einsetzt.

DiskriminierungDie Diskriminierung von Roma war nach wie vorweit verbreitet. Die Organisation für Sicherheitund Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stelltefest, dass die Umsetzung des Kosovo-Aktions-plans zur Integration von Roma, Aschkali undÄgyptern nicht vorankam, weil es an Geld, Ko-ordinierung und belastbarem Datenmaterialmangelte.

Im August 2012 erklärte der Beratende Men-schenrechtsausschuss eine Beschwerde von147 Roma für teilweise zulässig, die ihr Rechtauf Gesundheit verletzt sahen, weil die UN-MIK es geduldet hatte, dass sie mehr als zehnJahre lang in Lagern auf bleiverseuchtemGrund gelebt hatten. Die Mehrheit der Romawar umgesiedelt worden. Kinder, die unterBleivergiftungen litten, erhielten jedoch keineausreichende Gesundheitsversorgung. Ineinem separaten UN-Verfahren waren dieSchadenersatzforderungen der Roma abge-lehnt worden.

Flüchtlinge und AsylsuchendeNach Angaben des UN-Hochkommissars fürFlüchtlinge (UNHCR) kehrten im Jahr 2012insgesamt 997 Angehörige von Minderheitenfreiwillig in den Kosovo zurück. Weitere 489Personen kehrten zurück, weil man sie zurRückkehr aufgefordert hatte. 1997 Personenwurden zwangsweise in den Kosovo zurückge-führt, überwiegend aus EU-Staaten. Unterihnen waren 680 Personen, die Gruppen ange-hörten, die nach Einschätzung des UNHCR in-ternationalen Schutz benötigten. Es gab weiter-hin Hindernisse, die eine dauerhafte Rück-kehr erschwerten. Den kommunalen Behördenmangelte es an politischem Willen, Kapazitä-ten und finanziellen Mitteln, um Rückkehrer zuintegrieren. Insbesondere Roma erhielten sogut wie keine Unterstützung bei der Wiederein-gliederung und hatten keinen Zugang zu Mel-deverfahren, Bildung, Gesundheitsversorgung,Wohnraum, Beschäftigung und Sozialfür-sorge.

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Nur etwas mehr als 300 Serben kehrten frei-willig in den Kosovo zurück. Es gab nach wievor Angriffe auf zurückkehrende Kosovo-Ser-ben, die teilweise gewaltsam verliefen. In derGemeinde Klinë /Klina erhielten RückkehrerDrohbriefe; zwei Häuser, die für serbischeRückkehrer wiederaufgebaut worden waren,wurden niedergebrannt.ý Im Juli wurden Ljiljana und Milovan Jevtic inTalinovc i Muhaxherëve /Muhadzer Talinovacerschossen. Sie waren im Jahr 2004 in das Dorfzurückgekehrt. Es wurden Ermittlungen einge-leitet.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Serbien

im April, Juni und November.ÿ Kosovo: Time for EULEX to prioritize war crimes,

http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR70/004/2012/en

ÿ After Belvil : Serbia needs new laws against forced eviction,http://195.234.175.160/en/library/info/EUR70/015/2012/en

Sierra LeoneAmtliche Bezeichnung: Republik Sierra LeoneStaats- und Regierungschef: Ernest Bai Koroma

Der frühere liberianische StaatspräsidentCharles Taylor wurde wegen Verbrechen,die während des elfjährigen Bürgerkriegsin Sierra Leone begangen worden wa-ren, schuldig gesprochen und verurteilt.In Sierra Leone fanden die dritten Wah-len seit Ende des Konflikts statt. NachAngaben internationaler Wahlbeobach-ter verlief der Urnengang ordnungsge-mäß und transparent. Die Polizei ginggegen unbewaffnete Bürger mit rechts-widriger Gewalt vor. Die Regierung un-ternahm weitere Schritte zur Abschaf-fung der Todesstrafe. Verträge zwischender Regierung und Unternehmen warennicht transparent. Die von den Unter-

nehmensaktivitäten betroffenen Gemein-den wurden nicht in angebrachter Formkonsultiert und über mögliche Auswir-kungen aufgeklärt.

HintergrundDer Sondergerichtshof für Sierra Leone (SpecialCourt for Sierra Leone – SCSL) befand denehemaligen liberianischen StaatspräsidentenCharles Taylor im April 2012 für schuldig, wäh-rend des Bürgerkriegs in Sierra Leone persön-lich Kriegsverbrechen und Verbrechen gegendie Menschlichkeit geplant und Beihilfe zu die-sen Verbrechen geleistet zu haben. DerSchuldspruch bezog sich auf sämtliche elfPunkte der Anklage, u. a. auf den Einsatz vonKindersoldaten, Mord, Vergewaltigung und se-xuelle Sklaverei. Taylor wurde im Mai zu 50Jahren Gefängnis verurteilt. Im Juli legten so-wohl die Verteidigung als auch die AnklageRechtsmittel gegen das Urteil ein. Eine Ent-scheidung wurde für 2013 erwartet.

Da das Friedensabkommen von Lomé eineAmnestieklausel enthält und das Mandat desSCSL beschränkt ist, wurde gegen TausendeTäter, die während des Konflikts für gravie-rende Menschenrechtsverletzungen verant-wortlich waren, weder ermittelt noch wurdensie strafrechtlich belangt. Zehntausende Opfer

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Sierra Leone 367

und ihre Familien warteten nach wie vor aufdie vollständige Umsetzung umfassender Ent-schädigungsprogramme.

Im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parla-mentswahlen im November 2012 kam es gele-gentlich zu Zusammenstößen zwischen denAnhängern der beiden größten politischenParteien; die Wahlen verliefen jedoch insge-samt friedlich. Präsident Ernest Bai Koroma,Kandidat des regierenden Allgemeinen Volks-kongresses (All People’s Congress – APC),wurde für eine zweite Amtszeit gewählt.

Die Überarbeitung der Verfassung war inSierra Leone seit Jahren überfällig. Die Regie-rung sicherte zu, den Diskussionsprozess überdie Reform nach den Wahlen 2012 wiederzu-beleben. Ende des Jahres lagen dem Parla-ment weiterhin zwei wichtige Gesetzentwürfe –der Entwurf für ein Gesetz zur Informationsfrei-heit und der Entwurf für ein Gleichstellungsge-setz – zur Beratung vor. Die Regierung machtekeine Anstalten, die Bestimmungen des Ge-setzes zur Aufrechterhaltung der öffentlichenOrdnung von 1965 abzuschaffen, die Ein-schränkungen des Rechts auf freie Meinungs-äußerung vorsehen.

TodesstrafeNachdem die Regierung 2011 ein Hinrich-tungsmoratorium angeordnet hatte, vollzog sie2012 weitere Schritte auf dem Weg zur Ab-schaffung der Todesstrafe. Zum Ende des Jah-res befanden sich nach Angaben von zivilge-sellschaftlichen Organisationen keine Inhaf-tierten mehr in den Todeszellen, und es warenkeine weiteren Todesurteile verhängt worden.

Laut Gesetz kann die Todesstrafe allerdingsweiterhin für Landesverrat und schwerenRaub verhängt werden. Bei Mord ist sie zwin-gend vorgeschrieben.

JustizsystemDas Gesetz für unentgeltliche Rechtsberatungwurde zwar verabschiedet, jedoch bis Ende2012 nicht umgesetzt. Das Justizsystem litt wei-terhin unter einem Mangel an Kapazitäten undRessourcen. Zivilgesellschaftliche Organisatio-nen berichteten, dass viele Betroffene die

Kautionsbestimmungen nicht in Anspruch neh-men konnten, weil auf den Polizeiwachen oderin den Gerichten die Gewährung einer Kautionhäufig an die Zahlung von Schmiergeld ge-knüpft wurde.

Wie es aus den Kreisen von zivilgesellschaft-lichen Organisationen hieß, war es allgemeinüblich, Menschen wegen Schulden oder Verun-treuung und anderer Vorwürfe sowie wegen»Herumlungerns« ins Gefängnis zu stecken.Frauen, die sich ihren Lebensunterhalt alsHändlerinnen oder mit Unterstützung von Mi-krokreditinstituten zu verdienen versuchten,liefen Gefahr, wegen ihrer Verschuldung ins Ge-fängnis zu kommen. Zu den gravierendstenProblemen der Strafjustiz zählten der Mangelan juristischen Fachkenntnissen und die Kor-ruption. Viele Menschen saßen über lange Zeit-räume hinweg im Gefängnis, weil sie keinenZugang zu Anwälten hatten.

Ständige Prozessverschiebungen, Verzöge-rungen bei der Anklageerhebung, der Verlustvon Akten und ein Mangel an Richtern trugendazu bei, dass Verdächtige lange in Untersu-chungshaft saßen und die Gefängnisse über-füllt waren.

Polizei und SicherheitskräfteIm Januar 2012 wurde der Presse die Informa-tion zugespielt, dass die sierra-leonische Poli-zei Waffen im Wert von mehreren Millionen US-Dollar gekauft hatte. Unter den geliefertenWaffen waren auch Kleinwaffen, Munition undGranatwerfer. Die Lieferung, die vor den Wah-len im November erfolgte, alarmierte Akteureim In- und Ausland. Mitglieder des UN-Sicher-heitsrats besuchten das Land im Mai und führ-ten diesbezüglich Gespräche mit der Regie-rung, die zusicherte, einen Teil der Waffen andie Streitkräfte übergeben zu haben.ý Im April tötete die Polizei die unbewaffneteMusu Conteh bei einer friedlichen Demonstra-tion von Arbeitnehmern eines Bergbauunter-nehmens, die sich gegen schlechte Arbeitsbe-dingungen und geringe Bezahlung richtete.Mindestens elf Frauen und Männer wurdenverletzt. Die Menschenrechtskommission vonSierra Leone untersuchte den Vorfall und

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368 Sierra Leone

stellte ihre Untersuchungsergebnisse im Sep-tember vor. Der Kommissionsbericht enthieltauch Empfehlungen für die Bereiche der straf-rechtlichen Ermittlung und Verfolgung. DieRegierung ordnete ein gerichtliches Verfahrenzur Untersuchung der Todesursache vonMusu Conteh an, der Bericht war bis Jahres-ende noch nicht veröffentlicht worden. Fürden Vorfall wurde niemand zur Rechenschaftgezogen.ý Im Juni wurden Alien Sonkoh und IshmaelKargbo-Sillah in Wellington von Polizisten er-schossen. Ein dritter Mann erlitt bei dem Vorfallschwere Verletzungen. Nach Angaben der Fa-milien und von Mitbürgern, die den Vorfall mit-erlebten, gehörten die unbewaffneten Männereiner Nachbarschaftswache an und waren ineiner Gegend unterwegs, in der die Polizeinach einem Wagen fahndete. Präsident Ko-roma besuchte die Gemeinde und ordneteauch für diesen Vorfall ein gerichtliches Ver-fahren zur Untersuchung der Todesursachean. Die Untersuchung wurde im Juli abge-schlossen. Die Veröffentlichung der Untersu-chungsergebnisse stand bei Jahresende wei-terhin aus.ý Ebenfalls im Juni erschoss die Polizei in Go-derich einen Motorradfahrer, der an einer Po-lizeikontrolle nicht angehalten hatte. Ein Polizistwurde in diesem Zusammenhang verhaftetund wegen Mordes angeklagt. Das Verfahrenwurde Ende 2012 fortgesetzt.

Zivilgesellschaftliche Gruppen forderten einwirksames unabhängiges Aufsichtssystem zurUntersuchung von Beschwerden, dessen Ver-antwortliche auch die Kompetenz haben soll-ten, die Polizei zur Rechenschaft zu ziehen.

Recht auf GesundheitIm Hinblick auf die kostenlose Gesundheitsver-sorgung für Schwangere, stillende Mütter undKinder unter fünf Jahren erzielte die Regierunggewisse Fortschritte, die darauf hoffen ließen,dass das 2010 eingeführte Programm endlichumgesetzt wird. Im Juni verabschiedete dieRegierung das Gesetz zur Einrichtung einer Ab-teilung, die den Einkauf von Medikamentenund medizinischer Ausrüstung überwachen

und regulieren soll. Nach Angaben von Mitar-beitern im Gesundheitswesen gab es nach wievor Probleme bei der Versorgung mit wichtigenMedikamenten und anderem medizinischenBedarf.

Die Umsetzung der kostenlosen Gesundheits-versorgung für Schwangere, stillende Mütterund Kinder unter fünf Jahren erwies sich wei-terhin als schwierig. Medizinische Versor-gungseinrichtungen erhoben auch 2012 Ge-bühren für Leistungen, die eigentlich kosten-frei sein sollten. Um eine Beschwerdemöglich-keit für Menschen zu schaffen, die Leistun-gen, auf die sie einen Anspruch hatten, nichterhielten, wurde eine gebührenfreie Telefon-nummer eingerichtet. Das Verfahren war je-doch schwerfällig und wenig effizient.

Das Gesamtbudget für das Gesundheitswe-sen wurde 2012 von 11% auf 7,4% zusam-mengestrichen, d. h. auf knapp die Hälfte der15%, die in der Erklärung von Abuja für die Fi-nanzierung des Gesundheitswesens empfohlenwird.

Rechte von Frauen und MädchenIm August 2012 wurde das Gesetz über Sexual-verbrechen verabschiedet, es hatte aber beiJahresende noch keine Rechtskraft erlangt.

Artikel 27 (4) (d) der Verfassung, der Diskrimi-nierung von Frauen bei Adoption, Eheschlie-ßung, Scheidung, Bestattung und Erbschaft so-wie bei verschiedenen anderen individual-rechtlichen Interessen zulässt, bestand im Be-richtsjahr unverändert fort.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen war 2012weiterhin weit verbreitet. Nach wie vor wurdengefährliche traditionelle Praktiken angewandt.Dazu gehörten auch Frühverheiratungen undGenitalverstümmelung.

UnternehmensverantwortungBei Landnutzungsvereinbarungen zwischenGemeinden, Unternehmen und der Regierungwurden multinationale Unternehmen gegen-über den Gemeinden wesentlich besser ge-stellt. Traditionelle Autoritäten (chiefs) übertru-gen Ländereien an Unternehmen, obwohl diebetroffene Bevölkerung kaum oder nicht in an-

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gebrachter Form konsultiert wurde. Die Land-nutzungsvereinbarungen waren häufig nicht inden einheimischen Sprachen verfügbar undwurden Menschen, die nicht lesen konnten,auch nicht vermittelt. Mitbürger betroffenerGemeinden und Mitglieder zivilgesellschaft-licher Organisationen, die sich für die Pflichtvon Unternehmen zur Rechenschaftslegungund Transparenz engagierten, waren Schika-nen und Einschüchterungsversuchen ausge-setzt.

Im April kamen in Freetown, der Hauptstadtdes Landes, Bauern, zivilgesellschaftliche Or-ganisationen und Menschenrechtsverteidigerzusammen und verlangten, alle in der jüngs-ten Vergangenheit abgeschlossenen Landnut-zungsvereinbarungen auf den Prüfstand zustellen. Sie forderten die Regierung auf, Maß-nahmen zu ergreifen, um sicherzustellen,dass die Vereinbarungen zwischen Gemeindenund multinationalen Unternehmen fair undtransparent seien.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Sierra Leone

von April bis Mai und im September.ÿ Taylor verdict sends message that no one is above the law,

http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/taylor-verdict-sends-message-no-one-above-law-2012-04-26

ÿ Sierra Leone: Briefing on the events in Bumbuna,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR51/004/2012/en

ÿ Seven-point human rights agenda for candidates in SierraLeone’s 2012 elections, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR51/005/2012/en

SimbabweAmtliche Bezeichnung: Republik SimbabweStaats- und Regierungschef: Robert Mugabe

Misstrauen und Uneinigkeit in der Regie-rung der nationalen Einheit verhinder-ten auch 2012 die Umsetzung wichtigerTeile des Umfassenden Politischen Ab-kommens (Global Political Agreement),das 2008 zwischen der Partei von Prä-sident Robert Mugabe (Zimbabwe Afri-can National Union-Patriotic Front –ZANU-PF) und den beiden Parteien derBewegung für den DemokratischenWandel, dem Movement for DemocraticChange – Tsvangirai (MDC-T) und Move-ment for Democratic Change – Ncube(MDC-N; vormals MDC-M) getroffenworden war. Meldungen über Wahlen inder zweiten Jahreshälfte lösten Panik inden ländlichen Gebieten aus, die von dervon staatlichen Kräften geschürten Ge-walt in Verbindung mit der Wahl 2008betroffen gewesen waren. Die Polizeiunterdrückte nach wie vor das ganze Jahrüber die Rechte auf freie Meinungsäu-ßerung, Vereinigungs- und Versamm-

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lungsfreiheit, indem sie Menschen will-kürlich festnahm, rechtswidrig in Hafthielt und aus politischen Gründen straf-verfolgte.

HintergrundDie Regierung der nationalen Einheit schlossdie Erarbeitung einer neuen Verfassung auch2012 nicht ab. Dies ist jedoch eine grundle-gende Voraussetzung für den gewaltfreien Ver-lauf der Wahlen 2013. Die zweite Konferenz al-ler Interessensgruppen (All Stakeholders Con-ference) fand im Oktober statt, um den Verfas-sungsentwurf zu prüfen. Dabei versuchte dieZANU-PF, neue Passagen wieder herauszuneh-men, die die Befugnisse der Exekutive begren-zen und die Erklärung von Rechten stärkenwürden, auf die man sich im parteiübergrei-fenden Verhandlungsprozess geeinigt hatte.

Die Entwicklungsgemeinschaft des SüdlichenAfrika (Southern African Development Com-munity – SADC), vertreten durch den südafrika-nischen Präsidenten Jacob Zuma, erreichtekeine bedeutenden Reformen, um gewaltfreieWahlen zu garantieren, obwohl das Vermitt-lungsteam Simbabwe mehrmals besuchte.

Bemerkungen hochrangiger Armee-, Polizei-und Geheimdienstmitarbeiter über einen ge-wünschten Wahlausgang schürten Ängste,dass die Sicherheitskräfte, die an der Gewaltbei den Wahlen 2008 beteiligt waren, erneutversuchen würden, die nächsten Wahlen inRichtung eines Wahlsiegs der ZANU-PF zu be-einflussen. Präsident Mugabe und Premiermi-nister Morgan Tsvangirai sprachen sich öffent-lich gegen politische Gewalt aus; doch es wur-den keine konkreten Maßnahmen ergriffen, umdie Parteilichkeit der Sicherheitskräfte zu be-enden.

Wenn es auch nur wenige Vorfälle von politi-scher Gewalt gab – vor allem, weil 2012 keinegrößeren politischen Veranstaltungen stattfan-den –, so wurden doch mindestens 300 Men-schen durch politisch motivierte Fälle von Folterund anderer Gewalt verletzt.

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Tätigkeit von Menschenrechtsverteidigernund politische Aktivisten – abgesehen von Mit-gliedern der ZANU-PF – unterlag weiter stren-gen Beschränkungen. In städtischen Gebietenwaren Polizisten dafür die Hauptverantwort-lichen. Sie nutzten das Gesetz über öffentlicheOrdnung und Sicherheit (Public Order and Se-curity Act), um die Rechte auf freie Meinungs-äußerung, Vereinigungs- und Versammlungs-freiheit willkürlich einzuschränken, und ver-hinderten rechtmäßige Veranstaltungen undAktivitäten von Menschenrechtsverteidigernund politischen Parteien. In semi-urbanenund in ländlichen Gegenden störten lokaleZANU-PF-Aktivisten weiterhin straffrei die legiti-men Aktivitäten ihrer politischen Gegner. Aucheinige traditionelle Führer wurden von der ZA-NU-PF dazu benutzt, den Zugang zu länd-lichen Gebieten zu beschränken. Es gab Be-richte über Vorfälle, bei denen Soldaten Men-schen angriffen, die an Veranstaltungen derbeiden MDC-Parteien teilnahmen.ý Cephas Magura, Mitglied der MDC-T, starb imMai 2012 im Bezirk Mudzi nach Zusammen-stößen zwischen Unterstützern der MDC-T undder ZANU-PF im Geschäftszentrum Chimu-koko. ZANU-PF-Unterstützer sollen dabei Men-schen angegriffen haben, die eine von der Po-lizei zugelassene Veranstaltung der MDC-T be-suchten. Nach dem Vorfall wurden sieben Mit-glieder der ZANU-PF, darunter auch ein Ge-meinderatsmitglied von Mudzi, David Chimu-koko, festgenommen und des Mordes und deröffentlichen Gewalt angeklagt.ý Am 21. September 2012 störte eine Gruppevon Soldaten im Bezirk Mutoko in der ProvinzMashonaland Ost eine von Professor WelshmanNcube (MDC-N) geleitete Veranstaltung undschlug die Unterstützer.ý Im November 2012 griff eine andere Gruppevon Soldaten im Bezirk Zhombe in der ProvinzMidlands MDC-T-Unterstützer an, die an einerVeranstaltung im Geschäftszentrum Sam-ambwa teilnahmen. Zahlreiche Unterstützerwurden verletzt, darunter zwei über 70 Jahre

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alte Männer, die mit Arm- und Beinbrüchenund inneren Verletzungen in ein Krankenhausin Harare kamen.ý Einige der 29 im Mai 2011 in Verbindung mitdem Tod des Polizisten Petros Mutedza in GlenView festgenommene MDC-T-Mitglieder ver-brachten mehr als ein Jahr in Gewahrsam.Cynthia Manjoro wurde jedoch im Oktober 2012gegen Kaution freigelassen, nachdem einZeuge der Anklage ausgesagt hatte, dass siefestgenommen und inhaftiert worden sei, umeinem anderen Verdächtigen, mit dem sie be-freundet war, eine Falle zu stellen. SolomonMadzore, der Präsident des MDC-T-Jugendver-bands, kam ebenfalls am 13. November zu-sammen mit einem weiteren Gefangenen, Taru-vinga Magaya, gegen Kaution frei. Es wird ge-meinhin davon ausgegangen, dass einige derVerdächtigen nur deshalb festgenommen wur-den, weil sie als in Glen View lebende MDC-T-Ak-tivisten bekannt waren. Ende des Jahres befan-den sich noch Last Maengahama, TungamiraiMadzokere, Rebecca Mafikeni, Yvonne Musa-rurwa und Simon Mapanzure in Gewahrsam.ý Am 5. November 2012 durchsuchte die Poli-zei in Harare die Büros des BeratungsdienstesCounselling Services Unit (CSU), eine eingetra-gene Klinik, die Opfern organisierter Gewaltund Folter Hilfe leistet. Die Polizei kam anfangsohne Durchsuchungsbefehl und drohte, sichmit Gewalt Einlass zu verschaffen. Nach meh-reren Stunden zeigten die Sicherheitskräfteeinen Durchsuchungsbefehl vor, mit dem »an-stößiges und subversives Material« sicherge-stellt werden sollte, das »Häuser, Gebäude,Wände, Zäune, Laternenpfähle, Tore oder Auf-züge verunstaltet«, und beschlagnahmten ver-trauliche Patientenakten, einen Computer undDokumente, die in dem Durchsuchungsbefehlnicht genannt waren. Fünf Mitarbeiter wurdenwillkürlich festgenommen. Zwei ließ man nocham selben Tag frei, doch drei weitere, FidelisMudimu, Zachariah Godi und Tafadzwa Geza,wurden rechtswidrig vier Tage lang in Polizei-gewahrsam gehalten, am dritten Tag brachteman sie rechtswidrig in die über 400 km ent-fernte Stadt Bulawayo. Die drei Männer wurdenam 8. November gegen Kaution freigelassen

und unter Verstoß gegen Absatz 140 des Geset-zes zur Reform des Strafgesetzbuchs (Crimi-nal Law [Codification and Reform] Act) der»böswilligen Beschädigung von Eigentum«angeklagt. Die Anklagen gegen Fidelis Mudimuwurden später fallen gelassen, als herauskam,dass er sich zur Zeit des vermeintlichen Verbre-chens außer Landes befunden hatte.

Willkürliche Festnahmenund InhaftierungenBereitschaftspolizei störte regelmäßig die Ver-anstaltungen der Aktivisten der OrganisationWomen of Zimbabwe Arise (WOZA). Viele wur-den geschlagen, und einige trugen Verletzun-gen davon. 2012 wurden mindestens 200 Fest-nahmen von WOZA-Mitgliedern verzeichnet.ý Am 19. Januar 2012 wurden 17 Aktivisten inBulawayo festgenommen und auf die Polizei-wache Donnington gebracht, wo man einigevon ihnen schlug und misshandelte. Späterbrachte man sie auf die zentrale Wache in Bu-lawayo, wo die Menschenrechtsverletzungenfortgesetzt wurden, bis man die Aktivisten ohneAnklage freiließ.ý Am 12. März hatten die WOZA-SprecherinnenJennifer Williams und Magodonga Mahlanguihre Kautionsverhandlung zu konstruierten An-klagen wegen Entführung und Diebstahl. DasGericht in Bulawayo verweigerte ihnen unge-rechtfertigt die Stellung einer Kaution undüberstellte sie in Untersuchungshaft. Die Ver-teidiger hatten eine Verschiebung des Verfah-rens beantragt, da Jennifer Williams beischlechter Gesundheit war und ein Arztschrei-ben beibrachte, das ihren Gesundheitszustanddarlegte. Der Staatsanwalt beschuldigte sie je-doch, die Krankheit vorzutäuschen.ý Am 27. Juni wurden 101 WOZA-Mitglieder amMorgen nach einer friedlichen Demonstrationin Bulawayo festgenommen und fünf Stundenlang festgehalten, ehe man sie ohne Anklagewieder freiließ.

Absatz 33 des Gesetzes zur Reform des Straf-gesetzbuchs wurde weiterhin angewandt, in-dem man politischen Aktivisten und anderenvorwarf, »die Autorität des Präsidenten zu un-tergraben oder ihn zu beleidigen«. Mindestens

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372 Simbabwe

zwölf Menschen wurden aufgrund dieser An-klagen festgenommen.ý Im Oktober 2012 wurde Elton Mangoma, derMDC-T-Minister für Energie- und Stroment-wicklung in der Koalition Government of Natio-nal Unity (GNU), festgenommen und in Ver-bindung mit einer Äußerung, die er im März imGeschäftszentrum Manhenga in Bindura,Mashonland Central, gemacht hatte, der »Un-tergrabung der Autorität des Präsidenten oderBeleidigung seiner Person« angeklagt.

Folter und außergerichtlicheHinrichtungen in PolizeigewahrsamMindestens acht Menschen starben in Polizei-gewahrsam unter Umständen, die nahelegen,dass sie gefoltert oder im Schnellverfahren hin-gerichtet worden waren.ý Am 19. März 2012 starben drei junge Männer,die sich auf der Polizeiwache in Southerton inHarare im Gewahrsam befanden, unter myste-riösen Umständen. Tendai Dzigarwi und Ru-faro Mahohoma waren am 18. März im HararerVorort Kambuzuma von der Polizeieinheit fürFahrzeugdiebstahl unter dem Verdacht festge-nommen worden, ein Auto gestohlen zu ha-ben. Ein dritter Mann, Emmson Ngundu, wurdeam 19. März im Bezirk Zvimba festgenommen.Die Polizei behauptete, die drei Männer seienbei einem Fluchtversuch ums Leben gekom-men, doch bei einer unabhängigen Autopsievon Tendai Dzigarwi kam man zu demSchluss, dass er einem Kopfschuss erlag, deraus 2–3 cm Entfernung abgegeben wordenwar. Augenzeugenberichte über die Wundender beiden anderen Männer wiesen auf die-selbe Todesursache hin.ý Am 13. September 2012 starb Harrison Ma-nyati zwei Tage nach seiner Freilassung imZentralkrankenhaus von Harare an den Verlet-zungen, die er durch die Folter in Haft in derPolizeiwache Makoni in Chitungwiza davonge-tragen hatte. Harrison Manyati war am 7. Sep-tember willkürlich festgenommen und rechts-widrig inhaftiert worden, nachdem er zu einerPolizeiwache gegangen war, um sich nacheinem Freund zu erkundigen, der wegen Ein-bruchs, Diebstahls und Hausfriedensbruchs

festgenommen worden war. Die Polizei be-schuldigte Harrison Manyati, ein Komplize zusein, und hielt ihn vier Tage fest, ohne Anklagezu erheben oder ihn einem Richter vorzufüh-ren. Familienmitgliedern teilte die Polizei indesmit, dass Harrison Manyati kein Verbrechen be-gangen habe. Bei seiner Freilassung erstatteteer Anzeige gegen die Polizisten wegen tätlichenAngriffs. Nach Berichten eines Augenzeugenwurde Harrison Manyati während der erstenbeiden Tage seiner Haft gefoltert und dannzwei weitere Tage inhaftiert, um die Verletzun-gen abklingen zu lassen. Ein unabhängigerAutopsiebericht kam zu dem Schluss, dassHarrison Manyatis Tod die direkte Folge derFolter war.ý Blessing Matanda wurde am 4. Oktober 2012,dem Tag als er unter nicht geklärten Umstän-den in Gewahrsam genommen wurde, tot in derZelle der Polizeiwache Munyati in Kwekwe auf-gefunden. Blessing Matanda hatte einem Ange-hörigen bei einem Besuch erzählt, die Polizis-ten, die ihn festgenommen hatten, hätten ihmgedroht, ihm »etwas anzutun«. Die Polizei be-hauptete, dass sich Blessing Matanda erschos-sen habe, gab aber keine Erklärung dazu ab,wie er an die Waffe gekommen sein sollte. Einunabhängiger Pathologe bezweifelte denSelbstmord.

ZwangsräumungenSieben Jahre nach der Massenzwangsräumung(Operation Murambatsvina) in Harare und an-deren Städten im Jahr 2005 lebten weiter rund10000 Betroffene in Siedlungen ohne Schu-len, Gesundheitsdienste, Wasser, sanitäre Anla-gen und Straßen. Obwohl die Behörden aner-kannten, dass insbesondere Schulen fehlten,wurden keine Maßnahmen ergriffen, um denTausenden von betroffenen Kindern den Zu-gang zum kostenlosen Besuch der Grund-schule zu ermöglichen.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenFeindseligkeit gegenüber Personen, die sichnicht konform der Geschlechterrollen verhiel-

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Singapur 373

ten, und Diskriminierung von Lesben, Schwu-len, Bisexuellen, Transgendern und Intersexu-ellen (LGBTI) war in Simbabwe nach wie vorweit verbreitet. Die Medien trugen in der Öf-fentlichkeit zu Vorurteilen gegen LGBTI bei,indem sie feindselige Kommentare über LGBTIvon politischen Führungspersönlichkeiten,insbesondere im Kontext der Debatte um dieneue Verfassung, veröffentlichten. Die ZANU-PF und die MDC-T beschuldigten sich ge-genseitig, LGBTI in ihren Reihen aufzunehmen.Die Politisierung der Diskussion über die Ver-urteilung von Diskriminierung auf Grundlageder sexuellen Orientierung oder Geschlechts-identität verstärkte die Schikane und Ein-schüchterung von LGBTI durch die Polizei.ý 44 Mitglieder der LGBTI-Organisation Gaysand Lesbians of Zimbabwe (GALZ) wurden am11. August 2012 über Nacht in der zentralenPolizeiwache Harare inhaftiert, nachdem diePolizei ihre Büroräume in Harare durchsuchthatte. Die Durchsuchung fand nach einer Ver-anstaltung statt, die von der GALZ angesetztworden war, um den Verfassungsentwurf zudiskutieren und einen Bericht über Menschen-rechtsverletzungen gegen GALZ-Mitglieder zuveröffentlichen. Nach der Freilassung der Ge-fangenen suchte die Polizei einige ihrer Woh-nungen und Arbeitsplätze auf und nahm so dasBekanntwerden ihrer sexuellen Orientierungund damit ein erhöhtes Risiko der Diskriminie-rung in Kauf.ý Am 20. August 2012 durchsuchte die Polizeidie Büroräume der GALZ ein zweites Mal undbeschlagnahmte Computer und Flugblätter. Am23. August wurde aufgrund der Betreibungeiner »nicht eingetragenen« Organisation unterVerstoß gegen Abschnitt 6 (iii) des Gesetzesüber Private Ehrenamtliche Organisationen(Private Voluntary Organisation Act) Anklagegegen die GALZ erhoben. Die GALZ war darauf-hin zum ersten Mal seit 20 Jahren gezwungen,ihre Büroräume auf unbestimmte Zeit zuschließen, da sie weitere Durchsuchungendurch die Polizei befürchtete.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Simbabwe

im April, August und September / Oktober.ÿ Zimbabwean authorities must stop abusing the law to

curtail the work of human rights activists,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR46/001/2012/en

ÿ Zimbabwe: Brief to SADC on harassment and intimidation ofNGO workers by police, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR46/001/2012/en

ÿ Zimbabwe: Members of the public at risk as police crackdown on gang suspects, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/zimbabwe-members-public-risk-police-crack-down-gang-suspects-2012-09-14

SingapurAmtliche Bezeichnung: Republik SingapurStaatsoberhaupt: Tony Tan Keng YamRegierungschef: Lee Hsien Loong

Singapur unternahm Schritte, um diezwingend vorgeschriebene Todesstrafeabzuschaffen. Die Medien blieben unterstrenger Kontrolle, und Oppositionellemussten nach wie vor mit Repressalienrechnen. Die Gesetze über willkürlicheFestnahmen und die Prügelstrafe bliebenin Kraft.

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374 Slowakei

TodesstrafeDie Regierung erklärte im Juli 2012 ihre Ab-sicht, die Gesetze über die zwingend vorge-schriebene Todesstrafe bei Mord und Drogen-handel einer Revision zu unterziehen. Im Ok-tober schlug sie Änderungen vor, die in man-chen Verfahren wegen Drogenhandels ein dif-ferenziertes Strafmaß ermöglichen würden,u. a. in Fällen, in denen Verdächtigte lediglichals Kuriere agiert hatten oder zu umfassenderZusammenarbeit mit der Zentralen Drogenbe-hörde bereit waren. Überdies sollte das Beru-fungsgericht verpflichtet werden, die Recht-mäßigkeit jedes verhängten Todesurteils vor derVollstreckung zu überprüfen.

Die Regierung erklärte, dass während dieserRevision die Hinrichtungen ausgesetzt seien.Ende des Jahres saßen mindestens 32 Gefan-gene in Todeszellen ein.

Folter und andere MisshandlungenDie gesetzliche Prügelstrafe – eine Praxis, diemit Folter und anderen Misshandlungengleichzusetzen ist – wurde nach wie vor alsStrafe für zahlreiche Vergehen verhängt.

Den vorgeschlagenen Änderungen des Geset-zes gegen Drogenmissbrauch zufolge würdengegen Drogenhändler, die anstelle der zwin-gend vorgeschriebenen Todesstrafe lebens-lange Haftstrafen erhielten, zusätzlich Prügel-strafen verhängt.

Rechte auf freie Meinungsäußerungund VersammlungsfreiheitEngagierte Oppositionelle, darunter auchehemalige gewaltlose politische Gefangene,äußerten ihre Ansichten nach wie vor im Inter-net, in Büchern und auf öffentlichen Ver-sammlungen, doch war die Unterdrückungpolitisch Andersdenkender an der Tagesord-nung.ý Im Mai 2012 wurde Robert Amsterdam,einem kanadischen Menschenrechtsanwalt,der die Singapore Democratic Party und derenFührer Dr. Chee Soon Juan vertritt, die Ein-reise nach Singapur verweigert, was das Rechtseines Mandanten auf Zugang zu seinemRechtsanwalt verletzte.

ý Im Juli 2012 erklärte der Präsident des neuenCampus der Universität Yale in Singapur derUS-amerikanischen Tageszeitung Wall StreetJournal, dass es Studierenden nicht gestattetwerde, politische Proteste zu organisieren. Diesbringt die Leitung der Universität, die Yale Cor-poration, in Konflikt mit der Verpflichtung, ge-mäß den UN-Leitlinien für Wirtschaft undMenschenrechte jegliche nachteilige Einflüsseauf die Wahrung der Menschenrechte, darun-ter auch die Rechte auf freie Meinungsäuße-rung und Versammlungsfreiheit, zu vermei-den.ý Im September akzeptierten die früheren Pre-mierminister Lee Kuan Yew und Goh ChokTong eine verminderte Vergleichszahlung über30000 US-Dollar vom Vorsitzenden der oppo-sitionellen Singapore Democratic Party, Dr.Chee Soon Juan, gegen den sie Verleum-dungsverfahren angestrengt hatten. Chee SoonJuan konnte auf diese Art und Weise eine Pri-vatinsolvenz verhindern, erhielt die Erlaubnis,ins Ausland zu reisen, und darf bei den nächs-ten Wahlen kandidieren. Im August waren vonChee Soon Juan verfasste Bücher zum erstenMal seit vielen Jahren wieder in Buchhandlun-gen des Landes erhältlich.

SlowakeiAmtliche Bezeichnung: Slowakische RepublikStaatsoberhaupt: Ivan GasparovicRegierungschef: Robert Fico (löste im April Iveta

Radicová im Amt ab)

Angehörige der Gemeinschaft der Romawaren weiterhin Diskriminierungen aus-gesetzt. Der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte entschied, dass mandie Menschenrechte eines Roma-Mäd-chens verletzt habe, als man es ineinem Krankenhaus zwangssterilisierte.

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Slowakei 375

Aus dem ganzen Land trafen Berichteüber rechtswidrige Zwangsräumungenvon Roma-Siedlungen ein.

HintergrundIm September 2012 wurde das Amt des Stell-vertretenden Ministerpräsidenten für Men-schenrechte und nationale Minderheiten abge-schafft. Die Verantwortung für den Schutz derMenschenrechte und die Verhinderung vonDiskriminierung wurde stattdessen dem Mi-nisterium für auswärtige und europäische Be-ziehungen und dem Innenministerium über-tragen.

Diskriminierung – RomaDie Regierung machte 2012 kaum Fortschrittebei der Beendigung der systematischen Be-nachteiligung der Roma. Im Mai kritisierte derUN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale undkulturelle Rechte die Slowakei, weil sie keineMaßnahmen ergriffen hatte, um die Diskrimi-nierung der Roma im Schulsystem, auf dem Ar-beitsmarkt, bei der Gesundheitsversorgungund der Versorgung mit Wohnraum zu bekämp-fen.

Recht auf BildungDer UN-Ausschuss kam zu dem Schluss, dassdie Ungleichbehandlung von Roma-Kindernin Schulen fortbesteht.ý Einige der Roma-Kinder, die in einer Grund-schule in der Stadt Levoca in separaten, nurfür Roma bestimmten Klassen untergebracht

worden waren, wurden in gemischte Klassenzurückversetzt. In der Schule gab es jedochauch weiterhin noch ausschließlich für Romabestimmte Klassen. Die separaten Klassen wa-ren im September 2011 aufgrund des von denEltern von Nicht-Roma-Kindern auf die Schuleausgeübten Drucks eingeführt worden.ý Im Oktober 2012 urteilte das Regionalgerichtin Presov in der Ostslowakei im Berufungsver-fahren, dass die Grundschule in der Stadt Sa-risské Michal'any gegen die Antidiskriminie-rungs-Gesetzgebung verstoßen habe, weil sieKinder der Roma in separaten Klassen unter-gebracht hatte.

Recht auf WohnenDie Behörden ließen weiterhin informelle Ro-ma-Siedlungen in der ganzen Slowakeizwangsräumen und unternahmen nichts, umden Roma den Zugang zu grundlegenden Ver-sorgungsleistungen zu ermöglichen.ý Im Mai 2012 rissen die Behörden in der StadtVrútky mehrere Unterkünfte von Roma ab, dieohne Baugenehmigung auf Gemeindeland er-richtet worden waren. Die Räumungsaktionhatte die Obdachlosigkeit etlicher Personen zurFolge. Einige Kinder obdachlos gewordenerFamilien wurden ihren Eltern dem Vernehmennach von sozialen Diensten weggenommenund in einem Heim untergebracht.ý Am 22. Oktober 2012 wurden die Bewohnereiner informellen Siedlung in der Nähe vonPresov aus ihren Unterkünften vertrieben undgezwungen, ihre Behausungen selbst zu zer-stören. Vor dieser Aktion hatte der Bürgermeis-ter die Zwangsräumung auf seiner Facebook-Seite angekündigt und dem Regierungsbevoll-mächtigten für Roma-Gemeinschaften eineBotschaft hinterlassen, in der er diesen auffor-derte, sich um »seine Herde« zu kümmern.ý Am 31. Oktober 2012 wurde eine etwa 150Einwohner zählende informelle Roma-Sied-lung in der Stadt Kosice (Kaschau) abgerissen.Verlautbarungen zufolge akzeptierten nur vierPersonen temporäre Unterkünfte. Die Bewoh-ner gaben an, dass sie in der Siedlung schonbis zu zwölf Jahren gelebt hätten. Der Bürger-meister der Stadt machte geltend, dass der

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376 Slowakei

Abriss als Maßnahme zur »Sanierung einer ille-galen Mülldeponie« durchgeführt worden sei,da die Behausungen der Roma schließlich »ausAbfallmaterial erbaut« worden seien.

Zwangssterilisierung von Roma-FrauenDer Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte fällte zwei weitere Urteile in Fällen vonZwangssterilisierungen von Roma-Mädchenund Roma-Frauen, die zu Beginn des neuenJahrtausends durchgeführt worden waren. DasGericht befand, dass die Sterilisierungen, dieohne die volle und informierte Zustimmung derBetroffenen erfolgten, das Recht der Frauenverletzt hätten, keiner unmenschlichen oder er-niedrigenden Behandlung ausgesetzt zu wer-den. Zudem sei gegen ihr Recht auf Achtungdes Privat- und Familienlebens verstoßen wor-den.

Nach den Urteilen kritisierte das nichtstaat-liche Zentrum für Bürger- und Menschen-rechte (Poradna) die Regierung, weil diesenicht alle der zahlreichen mutmaßlichen Fällevon Zwangssterilisierungen untersucht habe,und forderte sie auf, sich zu entschuldigenund alle Opfer zu entschädigen.

Folter und andere MisshandlungenDie Slowakei wurde wegen der Abschiebungvon Menschen in Länder kritisiert, in denen sieGefahr liefen, gefoltert oder anderen Misshand-lungen ausgesetzt zu werden.ý Der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte entschied im Mai 2012, dass die Slowa-kei die Rechte von Mustafa Labsi verletzt habe,da sie eine vom Gericht angeordnete Maß-nahme des vorläufigen Rechtschutzes miss-achtete. Die Slowakei hatte Mustafa Labsi2010 zwangsweise nach Algerien zurückge-führt, wo er der Gefahr von Misshandlung undder Verletzung seines Rechts auf einen wirksa-men Rechtsbehelf ausgesetzt war.ý Im Juni 2012 erließ der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte eine Maßnahmedes vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Aus-lieferung von Aslan Achmetowitsch Jandijewan die Russische Föderation, wo er wegen Mit-gliedschaft in einer bewaffneten Gruppe ange-

klagt war. Aslan Jandijew gab an, dass er vorseiner Flucht von der russischen Polizei gefol-tert worden sei. Während sein Asylantrag in derSlowakei noch anhängig war, entschied derOberste Gerichtshof der Slowakei, dass das Er-suchen des russischen Staatsanwalts auf Aus-lieferung von Aslan Jandijew zulässig sei. DerEuropäische Gerichtshof blockierte die Auslie-ferung von Aslan Jandijew mit der Begründung,dass sie ihn dem Folterrisiko aussetzen würde.Im August bestätigte das slowakische Verfas-sungsgericht die Rechtmäßigkeit der Klage ge-gen die Entscheidung über die Auslieferung mitder Begründung, dass eine Auslieferung nichtstattfinden könne, solange keine Entscheidungüber den Asylantrag von Aslan Jandijew gefälltworden sei.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenIm Oktober 2012 richtete die Regierung einenneuen Ausschuss für die Rechte von Lesben,Schwulen, Bisexuellen, Transgendern und In-tersexuellen im Rahmen ihres Menschen-rechtsrats ein. Der neue Ausschuss hat die Auf-gabe, die Einhaltung der internationalen Men-schenrechtsverträge durch die slowakischenBehörden zu überwachen.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten die Slowakei

in den Monaten März, Juni und November.ÿ Slovakia: Briefing to the UN Committee on Economic,

Social and Cultural Rights, 48th session, May 2012,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR72/001/2012/en

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Slowenien 377

SlowenienAmtliche Bezeichnung: Republik SlowenienStaatsoberhaupt: Borut Pahor (löste im Dezember

Danilo Türk im Amt ab)Regierungschef: Janez Jansa (löste im Januar

Borut Pahor im Amt ab)

Die Behörden unternahmen auch 2012keine Schritte, um die Rechte der soge-nannten ausgelöschten Personen wieder-herzustellen, denen 1992 rechtswidrigdas dauerhafte Aufenthaltsrecht entzo-gen worden war. Roma wurden unver-mindert diskriminiert.

DiskriminierungSogenannte ausgelöschte PersonenFrühere ständige Einwohner Sloweniens, die ur-sprünglich aus anderen Teilrepubliken desfrüheren Jugoslawien stammten und deren Na-men 1992 unter Verstoß gegen geltende Ge-setze aus dem Einwohnerregister gestrichenwurden (»ausgelöschte« Personen), konntennach wie vor keine Wiederherstellung ihrerRechte erreichen. Frühere Gesetzesinitiativenhatten ihnen weder eine Entschädigung für dieVerletzung ihrer wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Rechte gewährt noch den Zugangzu diesen Rechten für die Zukunft garantiert.Die Behörden stellten auch keine künftigenMaßnahmen vor, mit denen die Rechte derBetroffenen in vollem Umfang wiederhergestelltwerden könnten.ý Am 26. Juni 2012 entschied die Große Kam-mer des Europäischen Gerichtshofs für Men-schenrechte im Präzedenzfall Kuric u. a. gegenSlowenien, dass die »Auslöschung« sowie de-ren Konsequenzen eine Verletzung der Rechteder Antragsteller auf Familien- und Privatlebensowie auf wirksamen Rechtsschutz darstelle.Die Große Kammer stellte außerdem fest, dassdie Antragsteller in Bezug auf diese Rechte dis-kriminiert worden seien, und setzte eine Fristvon einem Jahr für die Schaffung eines staat-lichen Entschädigungsprogramms zugunstender Betroffenen. Ende 2012 gab es keine Hin-

weise darauf, dass die Behörden sich darumbemüht hätten, ein solches Programm einzu-richten.

RomaDie Regierung versäumte es erneut, adäquateÜberwachungsmechanismen zum Schutz derRoma vor Diskriminierung einzurichten oder einrechtliches und institutionelles Rahmenwerkzu verankern, das Opfern von Diskriminierungeffektive Rechtsmittel garantiert.

Rechte auf angemessenen Wohnraum,Wasser und SanitärversorgungDie Mehrheit der Roma, die in abgelegenen,ausschließlich von Roma bewohnten informel-len Siedlungen in ländlichen Gebieten lebten,hatte nach wie vor keinen Zugang zu ange-messenem Wohnraum, rechtlich abgesichertenMietverhältnissen und Schutz vor rechtswidri-gen Zwangsräumungen. Vielen von ihnen bliebauch der Zugang zu öffentlichen Dienstleis-tungen verwehrt, u. a. der Zugang zu Wasser fürden täglichen Bedarf. Dieses musste häufigaus verschmutzten Bächen oder öffentlichenWasserhähnen an Tankstellen oder auf Fried-höfen entnommen werden.ý Im Juli 2012 veröffentlichte die Ombudsper-son einen Sonderbericht über die Lage derRoma im Südosten des Landes. Die Ombuds-person forderte die Behörden auf, durch eineÄnderung der entsprechenden Gesetze denRoma unverzüglich den Zugang zu Wasserund Sanitärversorgung zu gewähren. Während

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378 Somalia

des Verfahrens zur offiziellen Verabschiedungder Empfehlungen formulierte das Parlamenteinige davon um und schwächte sie dabei er-heblich ab.ý Im September 2012 kam die Regierungskom-mission für den Schutz der Roma-Gemein-schaft zu dem Schluss, dass das Roma-Gesetzgeändert werden müsse. Erste Debatten kon-zentrierten sich auf die Notwendigkeit, Maß-nahmen zur Sicherung des Zugangs zu grund-legenden öffentlichen Dienstleistungen mit auf-zunehmen.

SomaliaAmtliche Bezeichnung: Republik SomaliaPräsident: Hassan Sheikh Mohamud (löste

im September Sheikh Sharif Sheikh Ahmedim Amt ab)

Ministerpräsident: Abdi Farah Shirdon Saaid(löste im Oktober Abdiweli Mohamed Aliim Amt ab)

Präsident der Republik Somaliland:Ahmed Mohamed Mahamoud Silanyo

In Süd- und Zentralsomalia setzte sichder bewaffnete Konflikt zwischen regie-rungstreuen Militäreinheiten, der Frie-densmission der Afrikanischen Union inSomalia (AMISOM) und der bewaffnetenislamistischen Gruppe Al-Shabab fort.Die auf der Seite der Regierung stehen-den Einheiten vertrieben die Al-Shabab-Milizen aus einer Reihe wichtiger Städte.So nahmen sie u. a. die Hafenstadt Kis-maayo ein. Mit Beendigung der politi-schen Übergangsphase endete auch dasMandat der Übergangsregierung (Transi-tional Federal Government – TFG). ImAugust 2012 wurde ein neues Parlament,im September ein neuer Präsidentdurch das Parlament gewählt und im Ok-tober ein neuer Ministerpräsident beru-fen. Im Zuge des bewaffneten Konflikts

und der überall herrschenden Gewaltwurden Tausende Zivilpersonen getötet,verletzt und vertrieben. Die humanitärenHilfsorganisationen hatten aufgrund derKampfhandlungen, der prekären Sicher-heitslage und der ihnen von den Konflikt-parteien auferlegten Einschränkungenweiterhin keinen ungehinderten Zugangzu den Opfern. 18 Journalisten wurdengetötet, und weitere wurden angegriffen,schikaniert und ins Exil getrieben. Auchkam es nach wie vor zu gezielter Gewalt-anwendung gegen Mitarbeiter humani-tärer Hilfsorganisationen und Menschen-rechtsverteidiger. Bewaffnete Gruppennahmen weiterhin Zwangsrekrutierungenvor – auch von Kindern – und ver-schleppten, folterten und töteten Men-schen rechtswidrig. Schwere Menschen-rechtsverstöße, einschließlich Kriegs-verbrechen, blieben straffrei. In Somali-land wurde das Recht auf freie Mei-nungsäußerung zunehmend einge-schränkt; ein Journalist wurde getötet.

HintergrundDie TFG und AMISOM behielten weiterhin dieKontrolle über Somalias Hauptstadt Mogadi-schu. Es kam zwar während des gesamten Jah-

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Somalia 379

res immer wieder zu Zusammenstößen mitden Al-Shabab-Milizen, doch gab es 2012 weni-ger Meldungen über derartige Vorfälle und zi-vile Opfer als in den Vorjahren. Die Al-Shabab-Milizen verloren die Kontrolle über einigewichtige Städte wie Baidoa, Afgoye, Merka undKismaayo, beherrschten aber weiterhin großeTeile der ländlichen Gebiete. Die Sicherheits-lage war weiterhin äußerst prekär. Zivilperso-nen liefen Gefahr, Opfer von willkürlichem Be-schuss, gezielten Angriffen und Selbstmordat-tentaten zu werden.

Nachdem kenianische Truppen im Oktober2011 eine Militäroffensive gegen die Al-Sha-bab-Milizen in Somalia gestartet hatten, wurdensie im Juli 2012 formell in die AMISOM einge-gliedert. Die internationale Unterstützung fürdie Sicherheitskräfte der Regierung und diemit ihnen verbündeten Milizen wurde fortge-setzt, obwohl diese keinerlei Verantwortung fürdie von ihnen weiterhin begangenen gravieren-den Menschenrechtsverstöße übernahmen.

Im Juli 2012 wies die UN-Überwachungs-gruppe nachdrücklich auf fortwährende Ver-letzungen des gegen Somalia verhängten Waf-fenembargos hin.

Im Februar 2012 erklärten die Vereinten Na-tionen die Hungersnot in Somalia für beendet,gaben jedoch zu bedenken, dass die humani-täre Krise anhalte. Ende des Jahres 2012 litten31% der Bevölkerung unter Mangelernährungund waren auf Hilfe angewiesen.

Im August 2012 endete das Mandat der TFG.Der Stichtag 20. August, der der TFG zur Über-gabe der Macht an eine neue und repräsentati-vere Regierung gesetzt worden war, wurdemehrmals verschoben. Die Auswahl der Parla-mentsmitglieder fand im August statt, und dieWahl eines neuen Präsidenten erfolgte im Sep-tember. Eine Gruppe von 135 Stammesältes-ten wurde mit der Aufgabe betraut, die Mitglie-der der Nationalen Verfassunggebenden Ver-sammlung (National Constituent Assembly –NCA) zu bestimmen, die 275 neue Parla-mentsabgeordnete auswählen und Somaliasneue Verfassung verabschieden sollte. DieNCA nahm die Verfassung am 1. August an. Ob-wohl sie keine Änderungen am Verfassungs-

entwurf vorgenommen hatte, legte sie demneuen Parlament eine Reihe von Empfehlun-gen zur Beratung vor. Bis zum Jahresendehatte die für das Inkrafttreten der Verfassungerforderliche Volksabstimmung noch nichtstattgefunden. Ein Technisches Auswahlkomi-tee (Technical Selection Committee – TSC) un-terstützte die NCA bei der Überprüfung derpotenziellen Parlamentsmitglieder. Die Kandi-daten wurden anhand einer Reihe von Krite-rien beurteilt. Dazu gehörte auch die Frage, obgegen sie Vorwürfe wegen Menschenrechts-verstößen erhoben wurden. Der Oberste Ge-richtshof Somalias kippte die Entscheidungdes TSC, 16 der nominierten Abgeordneten ab-zulehnen, weil es sich bei ihnen um mutmaß-liche Warlords handelte. Im September 2012wählte das Parlament Hassan Sheikh Moha-mud zum Präsidenten. Er gewann die Stichwahlgegen den Amtsinhaber Sheikh Sharif SheikhAhmed mit 190 zu 79 Stimmen. Im Oktober er-nannte der Präsident Abdi Farah ShirdonSaaid zum Ministerpräsidenten. Das Parlamentbestätigte im November das von ihm gebildeteKabinett. Erstmals führt eine Frau Somalias Au-ßenministerium.

Im Januar 2012 wurde der autonome StaatKhatumo ausgerufen, der den Anspruch aufdie Regionen Sool, Sanag und Ayn erhebt undsich als Teilstaat Somalias versteht, der die Re-gierung in Mogadischu anerkennt. Um die vonKhatumo beanspruchten Regionen streitensich auch Somaliland und Puntland. DieKämpfe zwischen den Streitkräften von Soma-liland und Milizen, die den Staat Khatumo un-terstützten, zwangen Tausende Menschendazu, ihre Wohnorte zu verlassen.

Menschenrechtsverstößedurch die KonfliktparteienWahllose AngriffeHunderte Zivilpersonen wurden 2012 bei wahl-losen Angriffen aller Konfliktparteien getötetund verletzt. Auch wenn die Mörserangriffe zu-rückgingen, so sollen dennoch einige Zivilper-sonen bei derartigen Angriffen zu Tode gekom-men sein. Bei hauptsächlich in Mogadischuausgetragenen Schießereien und internen Aus-

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380 Somalia

einandersetzungen zwischen verschiedenenTFG-Einheiten und Milizen wurden Zivilperso-nen getötet und verletzt. Aber auch die vonden Al-Shabab-Milizen und ihren Sympathi-santen verstärkt eingesetzten selbst gebautenSprengsätze und Granaten forderten Opferunter der Zivilbevölkerung. Die Al-Shabab-Milizen übernahmen die Verantwortung fürSelbstmordattentate, bei denen Hunderte vonMenschen getötet oder verletzt wurden. Luftan-griffe, von denen einige von Kenia ausgingen,hatten in Süd- und Zentralsomalia gleichfallsTote und Verletzte unter der Zivilbevölkerungzur Folge.ý Am 15. Januar wurden mindestens siebenPersonen durch Luftangriffe in Jilib getötet.Fünf davon waren Kinder. Niemand bekanntesich zu den Angriffen.ý Am 28. März wurden in Mogadischu im Beer-ta-Darawiishta-Lager für Binnenvertriebenedrei Menschen durch Mörsergranaten getötet.Eines der Opfer war ein dreijähriges Kind. Achtweitere Personen sollen schwere Verletzungenerlitten haben. Berichten zufolge hatte der An-griff regierungstreuen Milizen gegolten, seinZiel jedoch verfehlt.ý Im April wurden mindestens 22 Personen beiSelbstmordattentaten in Mogadischu und Bai-doa getötet. Mindestens zehn Personen, unterihnen die beiden Präsidenten des Olympi-schen Komitees von Somalia und des soma-lischen Fußballverbandes, wurden bei einemAngriff auf das wiedereröffnete Nationaltheaterin der Hauptstadt getötet. Bei einem Angriff inder Nähe eines belebten Marktes in Baidoawurden mindestens zwölf Personen getötetund mehr als 30 verletzt. Unter ihnen warenzehn Journalisten.

Gezielte Angriffe auf ZivilpersonenIn Mogadischu liefen Zivilpersonen weiterhinGefahr, Opfer von gezielten Angriffen und Tö-tungen zu werden.ý Am 9. November 2012 wurde Malaaq IsaacUus, einer der Stammesältesten, die für dieAuswahl der neuen Parlamentsabgeordnetenverantwortlich waren, vor einer Moschee imStadtviertel Waberi in Mogadischu erschossen.

Angehörige von Al-Shabab-Fraktionen warenweiterhin für Folterungen und rechtswidrigeTötungen von Menschen verantwortlich, die siebeschuldigten, Spione zu sein oder nicht ihrerAuslegung des islamischen Gesetzes zu folgen.Sie richteten öffentlich Personen hin (z. B.durch Steinigung), führten Zwangsamputatio-nen von Gliedmaßen durch und ließen Men-schen auspeitschen. Sie zwangen Männernund Frauen außerdem restriktive Verhaltens-regeln auf.ý Berichten zufolge wurden im Juli 2012 inMerka drei Männer von Angehörigen der Al-Shabab-Milizen öffentlich hingerichtet. Sie wa-ren beschuldigt worden, für die CIA und denbritischen Geheimdienst MI6 spioniert zu ha-ben und für Drohnenangriffe verantwortlich zusein.ý Im August 2012 wurde in der Nähe von Bai-doa eine Frau entführt und enthauptet. Eshieß, sie sei einige Tage zuvor von den Al-Sha-bab-Milizen aufgefordert worden, nicht weiterTee an die Regierungstruppen in diesem Gebietzu verkaufen. Es trafen auch Berichte ein, de-nen zufolge mit der Regierung verbündete Mili-zen in Baidoa und Beletweyne außergericht-liche Hinrichtungen, willkürliche Festnahmen,Folter und Misshandlungen durchführten. Zudiesen Menschenrechtsverstößen kam es häu-fig aufgrund der fortdauernden prekären Si-cherheitslage und als Reaktion auf Angriffe derAl-Shabab-Milizen.ý Nach vorliegenden Informationen wurde imAugust ein gehörloser Mann von äthiopischenTruppen in Baidoa erschossen, nachdem ertrotz Aufforderung nicht angehalten hatte.

KindersoldatenDie Al-Shabab-Milizen setzten die Zwangs-rekrutierung von Kindern vor und bei militäri-schen Operationen fort. Die meisten der Kinderwurden an die Front geschickt. Auch regie-rungsnahe Milizen wurden beschuldigt, nochimmer Kindersoldaten zu rekrutieren und ein-zusetzen.

Im Juli unterzeichnete die TFG gemeinsammit den Vereinten Nationen einen Aktions-plan, der ein Ende der Rekrutierung und des

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Einsatzes von Kindern in den TFG-Streitkräftenzum Ziel hatte. Mit der Umsetzung des Planswar bis Ende 2012 jedoch noch nicht begon-nen worden, und die Kinder waren weiterhinTeil der TFG-Streitkräfte.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Konfliktparteien griffen somalische Journa-listen und Medienschaffende nach wie vor an,schikanierten sie und schüchterten sie ein.Mindestens 18 Medienschaffende wurden ge-tötet. Im November kündigte der Präsident dieEinsetzung einer Arbeitsgruppe an, die eineUntersuchung der Morde an den Journalistendurchführen und die Täter identifizieren sollte.Bis Ende 2012 war aber noch kein Mitglied derArbeitsgruppe ernannt und niemand für dieTaten verantwortlich gemacht worden. Auch dieBehörden von Puntland schränkten die Me-dienfreiheit weiterhin willkürlich ein.ý Am 28. Januar 2012 erschossen unbekannteTäter den Direktor des Mediennetzwerks Sha-belle Media Network, Hassan Osman Abdi(Fantastic genannt). Berichten zufolge starb erauf dem Weg ins Krankenhaus.ý Am 20. September wurden drei Journalistenbei einem Selbstmordattentat auf ein beliebtesRestaurant in Mogadischu getötet. Es handeltesich um Abdirahman Yasin Ali, Direktor vonRadio Hamar, Abdisatar Daher Sabriye, Nach-richtenchef bei Radio Mogadishu, und LibanAli Nur, Nachrichtenchef beim FernsehsenderSomali National TV. Bei dem Attentat fandenmindestens zwölf weitere Personen den Tod,und es gab zahlreiche Verletzte, darunter vierJournalisten.ý Am 27. September wurde der Leichnam vonAbdirahman Mohamed, der für eine Sportseiteim Internet gearbeitet hatte, enthauptet in derNähe eines Viehmarkts in Mogadischu aufge-funden.ý Am 4. März erschossen nicht identifizierteMänner den für Radio Galkayo arbeitendenJournalisten Ali Ahmed Abdi. Am 2. Mai tötetenzwei unbekannte Bewaffnete Farhan JemiisAbdulle, Reporter bei Radio Daljir, auf seinemNachhauseweg. Die Morde an den beidenJournalisten fanden im Norden der Stadt Gal-

kayo statt, die unter der Verwaltung der Behör-den von Puntland steht.ý Der Innenminister von Puntland schloss imOktober 2012 die Station Radio Horseed unterdem Vorwurf, der Sender verbreite falscheNachrichten, um Puntland zu destabilisieren.Der Zugang zur Internetseite der Nachrichten-agentur Horseed Media, zu der Radio Horseedgehört, wurde ebenfalls im Gebiet von Puntlandeingeschränkt.

Binnenvertriebene, Flüchtlinge undAsylsuchendeDie Kampfhandlungen, die instabile Sicher-heitslage und die akute Mangelernährungzwangen Hunderttausende Menschen zumVerlassen ihrer Wohnorte. Laut Angaben desUN-Hochkommissars für Flüchtlinge (UNHCR)wurden im Jahr 2012 vor allem in den Gebie-ten Süd- und Zentralsomalia fast 1,36 Mio. So-malier zu Binnenflüchtlingen.

Die Lager für Binnenflüchtlinge (IDP camps)in Mogadischu wuchsen weiter an. Regelmä-ßig wurde darüber berichtet, dass Regierungs-beamte, Verantwortliche der IDP-Lager undsogar Mitarbeiter der UN-Überwachungs-gruppe Hilfsgüter fehlleiteten. Die prekäre Si-cherheitslage beeinträchtigte auch die Hilfslie-ferungen an die Lager. Es gab weiterhin Mel-dungen über sexuelle Gewalt gegen Frauen undMädchen. Binnenvertriebene sollen dem Ver-nehmen nach aus ehemaligen Regierungsge-bäuden vertrieben worden sein, um Platz fürRehabilitierungsprojekte zu schaffen. Auch inLagern, die sich in der Nähe des Flughafensbefanden, soll es wegen Sicherheitsbedenkenzur Vertreibung von Flüchtlingen gekommensein.ý Im Februar 2012 flüchteten mindestens60000 Menschen im Vorfeld einer geplantenOffensive der Regierung und der AMISOM ausdem Afgoye-Korridor, der Verbindungsstraßezwischen Mogadischu und der Stadt Afgoye.Mit der Offensive sollte die von den Al-Shabab-Milizen besetzte Stadt Afgoye zurückerobertwerden.ý Im September flüchteten mehr als 10000Menschen aus der Hafenstadt Kismaayo, be-

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vor die Stadt durch eine Militäroffensive vonden Al-Shabab-Milizen befreit wurde.

In der Region gab es mehr als 1 Million soma-lische Flüchtlinge, insbesondere in Äthiopienund Kenia. Im November wurde der Flücht-lingslagerkomplex von Dolo Ado in Äthiopienzum weltweit zweitgrößten nach dem Dadaab-Komplex in Kenia. Auch zahllose somalischeFlüchtlinge sind in diesen Lagern unterge-bracht.

Einschränkungender humanitären HilfeHumanitäre Hilfsaktionen waren durch Kampf-handlungen, die allgemeine instabile Sicher-heitslage und Zugangsbeschränkungen weiter-hin erschwert.ý Im Januar 2012 gaben die Al-Shabab-Milizenbekannt, dass sie Aktivitäten des Internationa-len Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in denvon ihnen kontrollierten Gebieten nicht zu-lasse. Die islamistische Gruppe warf dem IKRKvor, verdorbene Nahrungsmittel ausgeteilt undAl-Shabab beschuldigt zu haben, Hilfe zu blo-ckieren. Im März belegte Al-Shabab auch dieKinderschutzorganisation Save the Children miteinem Verbot ihrer Aktivitäten und warf ihr vor,Nahrungsmittel mit abgelaufenem Haltbarkeits-datum verteilt zu haben. Außerdem beschul-digte Al-Shabab die Kinderschutzorganisationder Korruption und Nichteinhaltung der vonal-Shabab aufgestellten Regeln für humanitäreHilfsorganisationen. Am 8. Oktober gab Al-Shabab über die KommunikationsplattformTwitter bekannt, dass es der internationalen is-lamischen Hilfsorganisation Islamic ReliefWorldwide verboten sei, in der Region aktiv zusein.ý Im Mai 2012 erschossen nicht identifizierteMänner den Menschenrechtsverteidiger Ah-med Mohamed Noor vor einer Moschee in Mur-sil nahe Baidoa, als er die Moschee nach demAbendgebet verließ.

TodesstrafeNach Regierungsangaben fanden 2012 in Mo-gadischu vier Hinrichtungen statt. Es gab je-doch Hinweise darauf, dass mindestens fünf

Todesurteile vollstreckt wurden. In unfairenVerfahren vor Militärgerichten wurden mindes-tens 51 Todesurteile verhängt.

In Puntland sollen sieben Personen zum Todeverurteilt und mindestens eine Person hinge-richtet worden sein.

SomalilandIm Osten Somalias wurden Tausende Men-schen durch die Kampfhandlungen zwischender Armee von Somaliland und Milizen, die denneu gegründeten Staat Khatumo unterstütz-ten, aus ihren Wohnorten vertrieben.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung wurdein steigendem Maße beschnitten. ZahlreicheJournalisten wurden willkürlich festgenommenund inhaftiert. Einige von ihnen berichteten,dass sie im Gewahrsam geschlagen wordenseien. Ein Journalist wurde getötet. Ein Stam-mesältester, der regierungskritische Äußerun-gen gemacht hatte, kam für vier Monate inHaft.ý Am 25. Oktober 2012 erschossen Unbe-kannte in der Stadt Las Anod den für denFernsehsender Universal TV arbeitenden Jour-nalisten Ahmed Saakin Fara Ilyas.ý Am 15. März 2012 wurde Boqor Osman Mo-hamoud Buurmadow in Hargeisa festgenom-men. Am 24. April wurde er wegen »staats-feindlicher Aktivitäten eines Staatsbürgers imAusland«, »subversiver und staatsfeindlicherPropaganda« sowie wegen »wiederholterStraftaten« angeklagt, weil er in den VereinigtenArabischen Emiraten kritische Kommentarezum China-Besuch des Präsidenten von Soma-liland abgegeben hatte. Am 8. Juli wurde erwegen »Beleidigung eines Beamten« zu einerFreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt; am18. Juli kam er jedoch wieder frei.

Amnesty International: Berichteÿ Somaliland: Release prisoner of conscience,

http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR52/007/2012/en

ÿ Somalia: Protection of civilians and human rights are criticalfor stable future, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/somalia-protection-civilians-and-human-rights-are-critical-stable-future-20

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Spanien 383

ÿ Somalia: Attacks against journalists must stop,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/somalia-attacks-against-journalists-must-stop-2012-02-29

ÿ Somalia must end impunity for killing of media workers,http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/somalia-must-end-impunity-killing-media-workers-2012-08-13

SpanienAmtliche Bezeichnung: Königreich SpanienStaatsoberhaupt: König Juan Carlos I.Regierungschef: Mariano Rajoy Brey

Bei Demonstrationen setzte die Polizei2012 laut Berichten exzessive Gewaltein. Menschenrechtsorganisationen ver-urteilten Spanien aufgrund der man-gelnden Untersuchungen zu Foltervor-würfen.

HintergrundDas ganze Jahr über kam es zu Demonstratio-nen. Dabei wurden Forderungen nach einerÄnderung des politischen Systems erhoben,um der Öffentlichkeit größere Teilhabe an denpolitischen Entscheidungen des Landes zu ge-ben. Zudem richteten sich die Proteste gegendie Sparmaßnahmen der Regierung zur Be-kämpfung der Finanz- und Wirtschaftskrise.

Im Juni empfahl der UN-Ausschuss über wirt-schaftliche, soziale und kulturelle Rechte,dass Spanien die im Zusammenhang mit derFinanzkrise ergriffenen Reformen überprüfensolle, um sicherzustellen, dass alle Sparmaß-nahmen vorübergehend sind, einen angemes-senen Umfang haben und die wirtschaftlichen,sozialen und kulturellen Rechte wahren. DerAusschuss empfahl darüber hinaus, gesetz-liche Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzu-stellen, dass die wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Rechte denselben Schutz erfahrenwie die bürgerlichen und politischen Rechte.

2012 gab es keine Berichte über Anschlägeder bewaffneten baskischen Gruppe EuskadiTa Askatasuna (ETA). Die Gruppe hatte im Ok-tober 2011 das Ende ihres bewaffneten Kamp-fes verkündet.

Im November 2012 entschied das Verfas-sungsgericht, dass gleichgeschlechtlicheEhen im Einklang mit der spanischen Verfas-sung stehen. Die konservative Volkspartei Par-tido Popular hatte 2005 Rechtsmittel gegen einGesetz zur Genehmigung gleichgeschlecht-licher Ehen eingelegt.

Folter und andere MisshandlungenÜber das ganze Jahr hinweg fanden in ver-schiedenen Städten, wie Madrid, Barcelonaund Valencia, Demonstrationen statt. Es wur-den häufig Vorwürfe über die Anwendung ex-zessiver Gewalt und Misshandlungen durch Si-cherheitskräfte bei der Auflösung von Men-schenansammlungen während der Proteste er-hoben. Die Untersuchungen der Beschwer-den waren im Allgemeinen nicht umfassendund wirksam; einige Ermittlungen wurden auf-grund der fehlenden Kennzeichnung der betei-ligten Polizisten vereitelt.ý Im März 2012 schloss ein Gericht in Barce-lona (Juzgado de Instrucción 4 de Barcelona)die Untersuchung zur exzessiven Gewaltan-wendung der katalanischen Polizei Mossosd’Esquadra ab. Diese soll mit Gewalt vorgegan-gen sein, als sie am 27. Mai 2011 Demonstrie-rende in Barcelona auseinandertreiben wollte.Das Gericht befand, dass sich die Polizei an-gemessen verhalten hatte. Doch am 29.Oktober

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384 Spanien

ordnete ein höherinstanzliches Gericht (Au-diencia de Barcelona) die Wiederaufnahme desFalls an.ý Ebenfalls im März entschied ein Gericht inMadrid, eine 2011 von Ángela Jaramillo einge-brachte Beschwerde nicht zuzulassen, da diePolizistin, die Angela Jaramillo geschlagenhatte, nicht ermittelt werden konnte. Angela Ja-ramillo gehörte zu mehreren Menschen, dietrotz ihres friedlichen Verhaltens bei einer De-monstration am 4. August 2011 in Madrid wie-derholt von der Polizei mit Stöcken geschlagenwurden und daraufhin in ärztliche Behand-lung mussten. Angela Jaramillo starb im Juni2012 an den Folgen eines Herzinfarkts.ý Am 11. Juli 2012 traf ein Gummigeschoss diefreiberufliche Journalistin Paloma Aznar ander Hüfte, als sie über die Bergarbeiterdemons-trationen in Madrid berichtete. Sie führteeinen Journalistenausweis mit sich, den sie mitder Kamera um den Hals trug. Paloma Aznarberichtete, dass die Polizei keine sichtbareKennzeichnung getragen und Gummige-schosse direkt in die Menschenmenge gefeuerthabe, nachdem einige Demonstrierende ge-walttätig geworden seien. Auf Videoaufnahmenwar zu sehen, dass die Polizei Schlagstöckegegen auf dem Boden liegende Menschen ein-setzte und Gummigeschosse aus kurzer Dis-tanz abfeuerte.ý Am 25. September 2012 schlugen nicht iden-tifizierbare Polizisten bei einer Demonstrationin Madrid friedliche Demonstrierende mitSchlagstöcken, feuerten Gummigeschosse aufsie ab und drohten Journalisten, die die Ereig-nisse verfolgten – auch im Bahnhof Atocha.Berichten zufolge wurde eine interne Untersu-chung über die Polizeioperation eingeleitet.Die Ergebnisse waren bis zum Ende des Jahresnoch nicht veröffentlicht worden.

Untersuchungen über Vorwürfe von Folterund anderen Misshandlungen waren oft man-gelhaft. Menschenrechtsorganisationen undGerichte benannten sie auch als mangelhaftbei Entscheidungen, die sie im Laufe des Jah-res trafen.ý Im April 2012 verurteilte ein Strafgericht zweiPolizeibeamte, denen die Tötung von

Osamuyia Akpitaye bei seiner Abschiebung imJuni 2007 zur Last gelegt wurde, wegen desminderschweren Vergehens der Fahrlässigkeit.Eine Gefängnisstrafe wurde nicht verhängt.ý Im Mai 2012 kam der UN-Ausschuss gegenFolter zu dem Schluss, dass Spanien die Fol-tervorwürfe im Fall Orkatz Gallastegi gegen Spa-nien nicht angemessen untersucht hatte. Or-katz Gallastegi wurde 2005 auf Grundlageselbstbelastender Aussagen verurteilt, diemutmaßlich unter Zwang zustande gekommenwaren, als er sich 2002 in Haft ohne Kontaktzur Außenwelt befunden hatte.ý Im Juli 2012 weigerte sich das Verfassungs-gericht, den Freispruch von vier Angehörigender Guardia Civil durch den Obersten Gerichts-hof (Tribunal Supremo) im Jahr 2011 zu prü-fen. Das Strafgericht von Guipúzcoa hatte dievier im Dezember 2010 der Folterung von IgorPortu und Mattin Sarasola am 6. Januar 2008im Polizeigewahrsam schuldig gesprochen.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit –Haft ohne Kontakt zur AußenweltDie Untersuchungen der von Angehörigen derbewaffneten Gruppe ETA verübten Verbrechenhielten an.

Spanien ignorierte auch 2012 Forderungen in-ternationaler Menschenrechtsinstitutionen,Personen, die terroristischer Aktivitäten ver-dächtigt wurden, nicht länger ohne Kontaktzur Außenwelt in Haft zu halten. Verdächtigekönnen in Spanien bis zu 13 Tage lang festge-halten werden und dürfen in diesem Zeitraumkeinen eigenen Anwalt beauftragen oder sichunter vier Augen mit ihrem Pflichtverteidigerberaten. Auch haben sie weder Zugang zueinem Arzt ihrer Wahl, noch können sie Ange-hörige über ihren Verbleib informieren.ý Im Dezember wies der Oberste GerichtshofRechtsmittel von Anwälten im »Bush-Six-Fall«zurück, in Spanien die Strafverfolgung vonsechs Personen aufzunehmen, die in dieSchaffung eines gesetzlichen Rahmens verwi-ckelt gewesen sein sollen, der zur Folter mut-maßlicher Terroristen in Gefangenenlagern un-ter Leitung der USA geführt hatte. Der Fall warin den US-amerikanischen Gerichten nicht vor-

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angekommen. Obwohl gegenteiliges Beweis-material vorlag, befand das Gericht, dass dieUSA Untersuchungen durchführten. Es wurdedavon ausgegangen, dass gegen diese Ent-scheidung Rechtsmittel beim Verfassungsge-richt eingelegt werden.

Rassismus und DiskriminierungMuslimische und andere religiöse Minderheitensahen sich in einigen Gemeinden KataloniensSchwierigkeiten ausgesetzt, wenn sie Genehmi-gungen für die Eröffnung von Gebetshäusernerhalten wollten. Dem gingen Moratorien in lo-kalen Gemeinden für die Eröffnung neuer Ge-bets- und Andachtsstätten voraus. Einige lokaleBehörden, politische Parteien und Nachbar-schaftsvereine äußerten weiterhin ihre Ableh-nung gegen die Einrichtung muslimischer Ge-betshäuser.

In einigen Schulen wurden die Einschränkun-gen zum Tragen religiöser Symbole und Klei-dung beibehalten. Dies hatte unverhältnismä-ßig starke Auswirkungen auf muslimischeSchülerinnen.ý Am 25. Januar 2012 hielt ein Madrider Ge-richt die Entscheidung einer staatlichen wei-terführenden Schule in Pozuelo de Alarcón inder autonomen Gemeinschaft Madrid auf-recht, eine Schülerin vom regulären Unterrichtauszuschließen, weil sie ein Kopftuch trug.ý Am 21. Mai 2012 veröffentlichte der Polizei-präsident ein Rundschreiben, mit dem derEinsatz von Quoten und Polizeirazzien bei derInhaftierung von ausländischen Staatsangehö-rigen ohne regulären Aufenthaltsstatus unter-sagt wurde. Die Maßnahme untersagte abernicht die Durchführung von Personenkontrollenaufgrund ethnischer Merkmale. Lokale NGOsberichteten nach wie vor, dass die Polizei beiderartigen Kontrollen gezielt gegen ethnischeMinderheiten vorging.ý Im Juli 2012 urteilte der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte, dass Spanienim Fall der Nigerianerin Beauty Solomon keinewirksame Untersuchung der Vorwürfe überMisshandlungen und mögliches rassistischesVerhalten durchgeführt hatte. Die Frau hatteberichtet, dass sie im Juli 2005 von Polizeibe-

amten in Palma de Mallorca beschimpft undgeschlagen worden war.

Gewalt gegen FrauenNach Angaben des Ministeriums für Gesund-heit, Soziales und Gleichberechtigung wurdenim Jahr 2012 insgesamt 46 Frauen von ihrenPartnern oder früheren Partnern getötet. EineStudie der Regierung schätzte, dass mehr als 2Mio. Frauen mindestens einmal im Laufe ihresLebens geschlechtsspezifische Gewalt durchihren Partner oder ehemaligen Partner erfuh-ren. Sieben Jahre nach der Einführung des Ge-setzes zum Schutz vor geschlechtsspezifi-scher Gewalt hatten Frauen immer noch man-gelnden Zugang zu wirksamen Rechtsbehel-fen. Seit 2005, als Gerichte eigens für Fälle vonGewalt gegen Frauen eingerichtet wurden, hates keine Evaluation der Hindernisse für eineneffektiven Schutz gegeben, denen sich Frauenwährend des Gerichtsverfahrens gegenüberse-hen können.ý Maria (Name geändert) überlebte sexuelle,seelische und körperliche Gewalt durch ihrenPartner, als deren Folge sie sechs Monate nichtlaufen konnte. Sie erhielt massive Drohungenwährend der vier Jahre der juristischen Unter-suchung und nach dem Gerichtsverfahren.Obwohl Maria die Behörden über die Situationin Kenntnis gesetzt hatte, gestand man ihr kei-nen Schutz zu, und sie war gezwungen, ihr Zu-hause zu verlassen. Ihr ehemaliger Partnerwurde freigesprochen. Ende 2012 bekam Mariaimmer noch massive Drohungen und mussteversteckt leben.

Flüchtlinge und MigrantenIm April 2012 wurde durch die Verabschiedungdes königlichen Dekrets Nr. 16 /2012 das Aus-ländergesetz dahingehend reformiert, dass derZugang von Migranten ohne regulären Aufent-haltsstatus zum Gesundheitswesen nun einge-schränkt ist.

Am 4. September schob Spanien in einemSammelverfahren 70 Migranten von der klei-nen spanischen Insel Isla de Tierra nach Ma-rokko ab. Keiner der 70 Menschen hatte Zu-gang zu einem individuellen Asylverfahren.

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386 Sri Lanka

ý Im August stellte die UN-Arbeitsgruppe fürwillkürliche Inhaftierungen die VerantwortungSpaniens für die willkürliche Inhaftierung undDiskriminierung sowie die Folter gleichkom-mende Misshandlung eines marokkanischenStaatsangehörigen in einem Einwanderungs-haftzentrum in Madrid fest. Adnanm el Hadjwurde bei einer Personenkontrolle auf derStraße angehalten und dann in ein Haftzentrumgebracht. Dort schlugen ihn fünf Polizeibe-amte mutmaßlich mehrmals und beleidigtenihn in rassistischer Weise. Die Krankenstationdes Haftzentrums stellte zahlreiche Prellungenan seinem Körper fest und empfahl seineÜberstellung in ein Krankenhaus. Er wurde je-doch weder ins Krankenhaus gebracht nochwurde ein medizinischer Bericht erstellt.

Internationale StrafverfolgungDie Definition des Verschwindenlassens als Ver-brechen gegen die Menschlichkeit im nationa-len Recht blieb nach wie vor hinter den Ver-pflichtungen des Völkerrechts zurück, obwohlSpanien das Internationale Übereinkommenzum Schutz aller Personen vor dem Ver-schwindenlassen ratifiziert hat.ý Am 27. Februar 2012 sprach der Oberste Ge-richtshof den ehemaligen Richter BaltasarGarzón von dem Vorwurf der Überschreitungseiner Kompetenzen frei. Baltasar Garzónwurde u. a. strafverfolgt, weil er gegen dasAmnestiegesetz von 1977 verstoßen hatte, in-dem er 2008 eine Untersuchung des »Ver-schwindens« von 114266 Personen zwischenJuli 1936 und 1951 aufnahm. Trotz des Frei-spruchs kam der Oberste Gerichtshof zu demSchluss, dass Baltasar Garzón das Gesetzfalsch interpretiert hatte, als er die Fakten alsVerbrechen gegen die Menschlichkeit einstufteund untersuchte. Nach Ansicht des Gerichtswaren diese Verbrechen zur Zeit der Tat im na-tionalen Recht nicht als Verbrechen gegen dieMenschlichkeit definiert. Dieses Urteil desObersten Gerichtshofs könnte die Möglichkeitzunichtemachen, vergangene Verbrechen inSpanien nach dem Völkerrecht zu untersu-chen.

Recht auf WohnenDie Regierung setzte mit Blick auf die Wirt-schaftskrise rechtliche Reformen um, ohneihre Auswirkungen auf die Rechte schutzloserGruppen zu ermitteln.ý In Madrid kam es trotz des Gesetzes 2 /2011vom 15. Mai 2011 weiter zu rechtswidrigenZwangsräumungen in Cañada Real. Das Gesetzverlangt von örtlichen Behörden, die betroffe-nen Bewohner zu konsultieren und eine Eini-gung anzustreben, um Zwangsräumungen zuvermeiden. 300 Menschen wurden aus der vonRoma bewohnten informellen Siedlung Puertade Hierro in Madrid vertrieben, ohne dass manihnen alternativen Wohnraum zur Verfügunggestellt hatte.ý Im Juni 2012 drückte der UN-Ausschussüber wirtschaftliche, soziale und kulturelleRechte seine Sorge über die anhaltendenZwangsräumungen aus, die unter Verstoß ge-gen internationale Schutzmaßnahmen wieechte vorherige Konsultation, Entschädigungund Bereitstellung angemessenen alternativenWohnraums stattfanden. Der Ausschuss emp-fahl die Schaffung eines gesetzlichen Rahmensmit Richtlinien, die vor einer Räumung zu be-folgen sind.

Sri LankaAmtliche Bezeichnung:

Demokratische Sozialistische Republik Sri LankaStaats- und Regierungschef: Mahinda Rajapaksa

Rechtswidrige Inhaftierungen, Folter undVerschwindenlassen waren noch immerweit verbreitet und blieben straflos. Be-amte und Unterstützer der Regierungschikanierten und bedrohten Menschen-rechtsverteidiger, Journalisten und Ver-treter der Justiz, die ihre Stimme gegenMachtmissbrauch erhoben oder Re-chenschaft für Menschenrechtsverlet-

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zungen einforderten. Mehr als dreiJahre nach Beendigung des bewaffnetenKonflikts zwischen der Regierung vonSri Lanka und den Befreiungstigern vonTamil Eelam (Liberation Tigers of TamilEelam – LTTE) blieben die Verantwort-lichen für mutmaßliche Kriegsverbre-chen und Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit noch immer straffrei. Die Regie-rung setzte die Empfehlungen zur Re-chenschaftslegung, die die Untersu-chungskommission zur Auswertung ge-wonnener Erkenntnisse und zur Versöh-nung (Lessons Learnt and ReconciliationCommission – LLRC) sowie der UN-Men-schenrechtsrat gemacht hatten, nichtum. Die Behörden stützten sich weiter-hin auf das Antiterrorgesetz (Preventionof Terrorism Act – PTA), um straftatver-dächtige Personen festzunehmen undohne Anklage oder Gerichtsverfahren fürlängere Zeit zu inhaftieren. Entgegenden Angaben der Regierung waren vieleder durch den bewaffneten Konflikt ver-triebenen Menschen 2012 noch nichtwieder endgültig in ihre Heimatorte zu-rückgekehrt. Betroffen davon warenauch Personen, deren Land weiterhinvom sri-lankischen Militär besetzt ge-halten wurde.

VerschwindenlassenMehr als 20 Fälle des mutmaßlichen Ver-schwindenlassens wurden gemeldet. Zu denOpfern gehörten politisch engagierte Bürger,

Geschäftsleute und Straftatverdächtige.Öffentlichkeitswirksame Fälle aus den vorange-gangenen Jahren blieben unaufgeklärt.ý Am 11. Februar 2012 entführten bewaffneteMänner den tamilischen Geschäftsmann Ra-masamy Prabaharan. Dies geschah zwei Tagevor dem vom Obersten Gerichtshof anberaum-ten Termin für seine Anhörung zu den von ihmeingereichten Anzeigen wegen willkürlicherFestnahme, Inhaftierung und Folter durch diePolizei sowie der Beschlagnahme seines Ge-schäfts im Mai 2009.ý Im April 2012 wurden die führenden Mit-glieder der Partei Frontline Socialist Party(FLSP) Premakumar Gunaratnam und DimuthuAttigala kurz vor dem Gründungskongress derOrganisation entführt. Beide wurden verhörtund schließlich wieder freigelassen. Premaku-mar Gunaratnam, der die australische Staats-bürgerschaft besitzt, gab an, dass er vonseinen Entführern gefoltert worden sei undglaube, dass sie Verbindungen zur Regierunghätten.ý Die Ermittlungen in den Fällen der politi-schen Aktivisten Lalith Kumar Weeraraj undKugan Muruganathan machten im Berichtsjahrkeine Fortschritte. Beide waren vermutlich imDezember 2011 in Jaffna Opfer des Verschwin-denlassens durch die Armee geworden. Diebeiden Männer hatten einen friedlichen Protestder Familien von »Verschwundenen« geplant.Das Berufungsgericht vertagte wiederholt dieEntscheidung über den von Familienmitglie-dern der vermissten Männer eingereichten An-trag auf gerichtliche Haftprüfung (habeas cor-pus).ý Im Juni 2012 wurde der ehemalige General-staatsanwalt Mohan Peiris zu einer Habeas-corpus-Anhörung im Zusammenhang mit demVerschwinden des politischen KarikaturistenPrageeth Eknaligoda geladen. Mohan Peirishatte 2011 gegenüber dem UN-Ausschuss ge-gen Folter ausgesagt, dass Eknaligoda im Aus-land lebe. Bei der Anhörung bekannte er je-doch, dass er nichts über den Verbleib von Pra-geeth Eknaligoda wisse und sich auch nichterinnern könne, wer gesagt habe, dass er imExil lebe.

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Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenDie Behörden nahmen weiterhin Personenohne Haftbefehl fest und hielten sie ohne An-klage oder Gerichtsverfahren über längere Zeit-räume in Gewahrsam. Die Behörden bestätig-ten, dass sie im Oktober fast 500 mutmaßlicheehemalige LTTE-Angehörige ohne Anklage zur»Rehabilitierung« festhielten. Hunderte anderetamilische Gefangene verblieben in Verwal-tungshaft, während Ermittlungen über mut-maßliche Verbindungen zur LTTE anhängigwaren. Viele von ihnen werden seit Jahren fest-gehalten. Personen, die aus der »Rehabilitie-rung« entlassen worden waren, standen weiter-hin unter Überwachung und wurden in eini-gen Fällen erneut festgenommen.

Exzessive GewaltanwendungIm Februar 2012 wurde Antony Warnakulasu-riya getötet, und drei weitere Personen erlittenVerletzungen, als die Sondereinheit der Polizei(Special Task Force – STF) mit scharfer Muni-tion auf eine Ansammlung von Fischernschoss, die außerhalb der an der Westküstegelegenen Stadt Chilaw gegen die Erhöhungder Treibstoffpreise protestierten. Berichtenzufolge hinderte die Polizei die Protestierendendaran, die Verletzten über Land in ein Kran-kenhaus zu bringen, sodass sie gezwungen wa-ren, die Verletzten mit dem Boot zu transpor-tieren.

Folter und andere MisshandlungenEs fanden weiterhin Folterungen im Polizeige-wahrsam statt. In mindestens fünf Fällen star-ben Opfer im Gewahrsam, nachdem sie von derPolizei geschlagen oder anderweitig misshan-delt worden waren.ý Am 15. April 2012 starb Chandrasiri Dassa-nayake in der Polizeistation Wadduwa, wo ersich in Gewahrsam befand. Er war Zeuge ineinem Menschenrechtsprozess vor demObersten Gerichtshof, der gegen den Dienst-stellenleiter der Polizeiwache Wadduwa ge-führt wurde. Die Polizei erklärte, dass sie ihnwegen des Besitzes von Cannabis festgenom-men habe und dass er in seiner Zelle erkrankt

sei, woraufhin man ihn in ein Krankenhaus ge-bracht habe. Der Sohn des Opfers berichtetehingegen, dass er seinen Vater blutend in sei-ner Zelle liegen gesehen und dieser ihm gesagthabe, dass er von der Polizei geschlagen wor-den sei. Der Tod hatte Proteste der lokalen Be-völkerung zur Folge, und der Dienststellenlei-ter, ein Polizeimeister und zwei weitere Polizis-ten wurden auf andere Polizeistationen ver-setzt. Es wurden jedoch keine weiteren Maß-nahmen ergriffen.ý Ende Juni 2012 griffen Angehörige der Poli-zeisondereinheit STF 30 tamilische Gefangenean. Zwei Gefangene starben infolge von Verlet-zungen, die ihnen dem Vernehmen nachdurch Schläge zugefügt worden waren. DerÜberfall soll eine Vergeltungsmaßnahme füreinen Gefängnisaufstand in Vavuniya im selbenMonat gewesen sein.ý 27 Gefängnisinsassen wurden am 9. Novem-ber 2012 bei einer Auseinandersetzung zwi-schen Gefangenen und STF-Angehörigen imGefängnis Welikada getötet. Die Ergebnisseeiner offiziellen Untersuchung zu Vorwürfen,dass einige Gefangene außergerichtlich hinge-richtet worden seien, wurden nicht veröffent-licht.

Mangelnde RechenschaftDer UN-Menschenrechtsrat verabschiedete imMärz 2012 die Entschließung 19 /2, mit der dieRegierung Sri Lankas aufgefordert wurde, dieEmpfehlungen zu Menschenrechten, die dieUntersuchungskommission LLRC gemachthatte, umzusetzen und für die strafrechtlicheVerfolgung von mutmaßlichen Verletzungendes Völkerrechts zu sorgen. Der im Juli vorge-legte Aktionsplan der Regierung zur Umsetzungder Empfehlungen der LLRC enthielt keineVerpflichtung, neue oder unabhängige Unter-suchungen durchzuführen, sondern vertrautedarauf, dass Militär und Polizei die notwendigenUntersuchungen vornahmen, obwohl sieselbst in schwere Verletzungen der Menschen-rechte und des humanitären Völkerrechts ver-wickelt waren. Im November wurde die Men-schenrechtssituation Sri Lankas im Rahmender Universellen Regelmäßigen Überprüfung

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Sri Lanka 389

durch den UN-Menschenrechtsrat begutach-tet. Trotz der von UN-Mitgliedstaaten geäußer-ten Bedenken vertrat Sri Lanka weiterhin dieAuffassung, dass das Land keine unabhängi-gen Untersuchungen über mutmaßliche Men-schenrechtsverletzungen und in der Vergan-genheit begangene Verstöße gegen das Völ-kerrecht brauche.

In einem am 14. November veröffentlichtenBericht des Internen Untersuchungsaus-schusses des UN-Generalsekretärs über dieUN-Aktion in Sri Lanka gestanden die UN Ver-säumnisse beim Schutz der Zivilbevölkerungwährend des bewaffneten Konflikts in SriLanka ein.

MenschenrechtsverteidigerRegierungsbeamte und staatliche Medien hetz-ten gegen Menschenrechtsverteidiger, die imMärz 2012 an der Sitzung des UN-Menschen-rechtsrats teilgenommen hatten, und bezeich-neten sie als Verräter. Die UN-Hochkommissa-rin für Menschenrechte und der Präsident desMenschenrechtsrats verurteilten die Drohun-gen Sri Lankas und forderten eine Untersu-chung. Am 23. März drohte der Minister fürÖffentlichkeitsarbeit Journalisten und Men-schenrechtsverteidigern Körperverletzung anund übernahm die Verantwortung für einengewaltsamen Angriff auf einen Journalisten imJahr 2010, der danach ins Exil ging. Der Ge-sundheitsminister beschuldigte die katholischeOrganisation Caritas der Verschwörung zurUntergrabung der Regierung.

Recht auf freie Meinungsäußerung –JournalistenWegen ihrer Berichterstattung standen Journa-listen weiterhin unter Druck.ý Am 5. Juli 2012 bedrohte der Verteidigungs-minister Gotabaya Rajapaksa die Journalistinder Sonntagszeitung Sunday Leader FredericaJansz mit dem Tod, als sie versuchte, ihn übereinen mutmaßlichen Fall von Amtsmissbrauchzu interviewen. Im September entließ der neueEigentümer der Zeitung die Journalistin. Sieging später ins Ausland.ý Der Journalist Shantha Wijesooriya von der

Nachrichten-Internetseite Sri Lanka X Newsmeldete der Polizei, dass Angreifer, von denener vermutete, dass es Angehörige der Sicher-heitskräfte waren, am 5. Juli versucht hätten,ihn zu entführen. Eine Woche zuvor hatte diePolizei das Büro durchsucht, in dem er arbeitet.ý Im September 2012 wurden die JournalistinNirmala Kannangara und ein Pressefotografvon Armeeangehörigen umstellt und bedroht,als sie über die Umsiedlung von Binnenver-triebenen aus dem Übergangslager ManikFarm zu berichten versuchten.

JustizsystemAm 7. Oktober 2012 wurde der langjährigeRichter am Oberen Gericht und Sekretär dersri-lankischen Kommission des Justizdienstes(Judicial Services Commission – JSC) ManjulaThilakaratne von bewaffneten Männern tätlichangegriffen. Sie versuchten, ihn aus seinemWagen zu ziehen. Er hatte am 18. Septemberim Namen der JSC eine Stellungnahme veröf-fentlicht, in der Vorwürfe über Versuche derEinmischung in die Unabhängigkeit der Justizund im Besonderen in die Unabhängigkeit derJSC durch Drohungen und Einschüchterun-gen erhoben wurden.

Im Dezember eröffnete das Parlament einAmtsenthebungsverfahren gegen die ObersteRichterin Shirani Bandaranayake. Die UN-Son-derberichterstatterin über die Unabhängigkeitvon Richtern und Anwälten kritisierte den Pro-zess der Amtsenthebung als »extrem politi-siert« und bar jeglicher Garantien für ein ord-nungsgemäßes Verfahren und ein faires Ur-teil.

BinnenvertriebeneEnde September 2012 schlossen die Behördendas riesige Übergangslager für Binnenvertrie-bene Manik Farm und gaben bekannt, dass dieletzten der mehr als 200000 Bewohner wiederin ihre Heimatorte zurückgekehrt seien. NachAngaben des UN-Hochkommissars für Flücht-linge (UNHCR) konnten jedoch bis Ende 2012Zehntausende Vertriebene noch nicht nachHause zurückkehren oder sich endgültig aneinem anderen Ort niederlassen und waren

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390 Südafrika

auf Gastfamilien angewiesen, die ihnen Unter-kunft und Unterstützung gewährten.ý Am 30. September 2012 stiegen fast 350 Bin-nenvertriebene im Übergangslager ManikFarm in von der Armee bereitgestellte Busse inder Erwartung, nach Hause in das Dorf Keppa-pilavu zurückkehren zu können. Sie wurden je-doch in ein anderes Übergangslager in einemunfruchtbaren Gebiet im Distrikt Mullaitivu ge-bracht, weil die Armee ihr Land noch immerbesetzt hielt. Die Vertriebenen beklagten sich,dass das neue Lager über keine Infrastrukturund kein ausreichendes Trinkwasser verfüge.Auch andere vertriebene Dorfbewohner, dieumgesiedelt wurden, mussten ähnliche Erfah-rungen machen.

SüdafrikaAmtliche Bezeichnung: Republik SüdafrikaStaats- und Regierungschef: Jacob G. Zuma

Menschenrechtsverletzungen wie exzes-sive Gewaltanwendung der Polizei ge-gen Protestierende, mutmaßliche außer-

gerichtliche Hinrichtungen und Foltergaben Anlass zur Besorgnis. Die staat-lichen Behörden ergriffen einigeSchritte zur Rechenschaftslegung. DieDiskriminierung und gezielte Gewalt ge-gen Asylsuchende und Flüchtlinge unddie Barrieren beim Zugang zum Asylver-fahren nahmen zu. Es wurden nurschleppend Fortschritte beim Vorgehengegen systematische Hassverbrechen anMenschen aufgrund ihrer sexuellen odergeschlechtlichen Identität verzeichnet.Der Zugang zu Behandlung und Pflegevon Menschen mit HIV wurde zwar weiterausgebaut, doch Infektionen im Zusam-menhang mit einer HIV-Infizierung warenimmer noch die Hauptursache der Müt-tersterblichkeit. Menschenrechtsvertei-diger waren nach wie vor von Schikanie-rung und Gewalttaten bedroht.

HintergrundPräsident Jacob Zuma wurde im Dezember2012 erneut zum Vorsitzenden des African Na-tional Congress (ANC) gewählt. Den Wahlengingen monatelange Spannungen und Gewalt-akte zwischen konkurrierenden Flügeln derPartei voraus. Offensichtliche politische Ein-flussnahme, Rivalitäten und Korruption führtenzu einer erhöhten Instabilität auf hohen Ebe-nen der Polizei und der Sicherheitsbehörden.Die betroffenen Behörden büßten dadurch anIntegrität und Effektivität ein.

Bedeutende Gerichtsurteile sorgten für denSchutz der Menschenrechte und die weitereUnabhängigkeit der Staatsanwaltschaften.

Im Bergbau und in der Landwirtschaft kam eszu weit verbreiteten Streiks, und in armenstädtischen Gemeinden wurde gegen die Kor-ruption der kommunalen Regierungen, Män-gel bei Bildungseinrichtungen und anderen In-stitutionen und schlechte Arbeitsbedingungenprotestiert. Im Oktober 2012 veröffentlichte dieRegierung Daten der Volkszählung, aus denenhervorging, dass es nach wie vor zwischenschwarzer und weißer Bevölkerung bedeu-tende Unterschiede bei der Höhe der Haus-haltseinkommen und Arbeitslosenzahlen gab.

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Südafrika 391

Südafrika ratifizierte den Internationalen Paktüber wirtschaftliche, soziale und kulturelleRechte.

Tod in Gewahrsam undaußergerichtliche HinrichtungenIm April 2012 wurde das Gesetz über die Unab-hängige Polizeiermittlungsbehörde (Indepen-dent Police Investigative Directorate – IPID) um-gesetzt. Das Gesetz ermöglicht strafrechtlicheMaßnahmen gegen die Polizei, wenn sie bei Er-mittlungen nicht kooperiert. Die IPID infor-mierte das Parlament darüber, dass zwischenApril 2011 und März 2012 die Untersuchungvon insgesamt 720 neuen verdächtigen Todes-fällen in Gewahrsam oder in anderen polizei-lichen Zusammenhängen an sie herangetragenworden war.ý Ebenfalls im April starb der burundischeAsylsuchende Fistos Ndayishimiye währendeines Verhörs durch die Polizei in seinem Hausin der Provinz KwaZulu-Natal. Zeugen berich-teten, dass sie ihn eine Zeit lang schreien hör-ten. Sie wurden jedoch von der Polizei darangehindert, das Haus zu betreten. Fistos Ndayis-himiye erlitt durch stumpfe Gewalteinwirkungzahlreiche Verletzungen an Kopf und Körper so-wie schwere innere Verletzungen. Die IPID lei-tete eine Untersuchung ein, die zum Jahres-ende noch nicht abgeschlossen war.ý Im Mai 2012 wurden zwölf Beamte der ehe-maligen Einheit für organisiertes Verbrechenin Bellville South vor Gericht der Entführungund Tötung von Sidwell Mkwambi im Jahr2009 angeklagt sowie der Entführung und mut-maßlichen Folter von Siyabulela Njova, der mitihm zusammen festgenommen worden war.Sidwell Mkwambis Leiche wies zahlreicheSpuren stumpfer Gewalteinwirkung an Kopfund Körper auf, die mit dem Bericht der Poli-zei über seine Todesursache nicht überein-stimmten.ý Im Juni 2012 standen Angehörige der Son-dereinheit Cato Manor Organized Crime Unitwegen einer Reihe von Anklagen in Durban vorGericht. Nach weiteren Festnahmen und ge-richtlichen Anhörungen waren Ende 2012 Straf-verfahren gegen insgesamt 30 Beamte mit 116

Anklagepunkten anhängig, darunter organi-sierte Kriminalität, Tötungsdelikte, schwereKörperverletzung und rechtswidriger Besitz vonWaffen und Munition. Die Straftaten wurdenab 2008 in einem Zeitraum von vier Jahren ver-übt. Alle Angeklagten kamen bis zum Verfah-rensbeginn gegen Kaution frei. Die Familien derOpfer brachten immer wieder Sorge um ihreeigene Sicherheit zum Ausdruck. Die Festnah-men waren ein Ergebnis der neuen Ermittlun-gen durch die IPID und die PolizeieinheitHawks.

Exzessive GewaltanwendungAm 16. August 2012 stationierten die Polizeibe-hörden mit Sturmgewehren und scharfer Mu-nition ausgerüstete Einheiten in Marikana, umden Minenarbeiterstreik in der LONMIN-Pla-tinmine in der Nordwestprovinz zu beenden. 16Minenarbeiter starben vor Ort und 14 weiterean einem Ort, an den sie geflohen waren, umdem Beschuss durch die Polizei zu entgehen.Es gab Hinweise darauf, dass die Mehrheit be-schossen worden war, als sie versucht hatte zufliehen oder sich zu ergeben. Vier weitere Mi-nenarbeiter erlagen noch am selben Tag ihrenVerletzungen. Die streikenden Minenarbeiterstanden mit LONMIN in einer Auseinanderset-zung über die Höhe der Löhne. Das Ausmaßder Tötungen ebenso wie die wachsenden Un-ruhen im Bergbau führten zu einer landeswei-ten Krise.

Der Polizeipräsident von Südafrika erklärteam 17. August auf einer Pressekonferenz, dasVorgehen der Polizei sei mit Blick auf ihreneigenen Schutz gerechtfertigt gewesen. Den-noch ordnete Präsident Zuma die Bildung einesjuristischen Untersuchungsausschusses an.Der Ausschuss sollte die Umstände unter-suchen, die zu diesen Todesfällen und in dervorangegangenen Woche zum Tod von zehnweiteren Personen, unter ihnen zwei Wach-männer von LONMIN und zwei Polizisten, ge-führt hatten.

Der Arbeitsbeginn des Ausschusses unterdem Vorsitz des pensionierten Richters IanFarlam wurde durch die späte Veröffentlichungvon Vorschriften und gravierende Probleme,

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392 Südafrika

die die Integrität der Kommission beeinträchtig-ten, verzögert. Dazu gehörte, dass man sichnicht in ausreichendem Maß dafür eingesetzthatte, die Beteiligung der Familien der Getöte-ten und die Finanzierung rechtlicher Vertretungsicherzustellen, um zu gewährleisten, dassZeugen unterstützt und Maßnahmen zu ihremSchutz ergriffen wurden. Im Oktober 2012wurde Daluvuyo Bongo, ein Zeuge der Nationa-len Bergarbeitergewerkschaft (National Unionof Mineworkers), erschossen, nachdem er mitAusschussmitgliedern gesprochen hatte. VierZeugen, die mit Anwälten zusammenarbeite-ten, die die Vereinigung der Minenarbeiter undBaugewerkschaft (Association of Mineworkersand Construction Union) sowie verletzte Mi-nenarbeiter vertraten, wurden laut Berichtennach Verlassen des Ausschusses Kapuzenübergezogen; sie wurden tätlich angegriffenund ihrer Freiheit beraubt. Der Ausschuss fürProzesskostenhilfe (Legal Aid Board) lehnteeine Bitte um Finanzmittel ab, mit denen dierechtliche Vertretung von zahlreichen am16. August 2012 von der Polizei verletzten Mi-nenarbeitern und anderen nach den Schüsseninhaftierten und mutmaßlich gefolterten Mi-nenarbeitern sichergestellt werden sollte.

Vor Auflösung des Ausschusses im Dezemberbegann der Ausschuss Zeugenaussagen überdie Aktivitäten der Polizei am und vor dem16. August zu hören. Die Aussagen der Polizeiklärten nicht, warum die Beamten die Einheitender Operation zur Entwaffnung und Auflösungder versammelten Minenarbeiter ausschließlichmit scharfer Munition ausgestattet hatten. Da-rüber hinaus berichtete ein Polizeizeuge, dermit der Untersuchung des Tatorts vom 16. Au-gust beauftragt war, dem Ausschuss, dass derTatort verändert worden sei. Dies mache esihm und anderen Ermittlern unmöglich, die ver-storbenen Minenarbeiter mit Waffen in Verbin-dung zu bringen, die sie vor ihrer Erschießunggetragen haben sollen.ý Im Oktober 2012 veröffentlichte die südafri-kanische Menschenrechtskommission einenBericht, in dem sie die exzessive Gewaltanwen-dung der Polizei kritisierte, die im April 2011während eines Gemeindeprotests in Ficksburg

zum Tod von Andries Tatane führte. Der De-monstrant war mit Schlagstöcken verprügeltund mit Gummigeschossen aus nächsterNähe beschossen worden, obwohl er weder fürdie Polizei noch für die Öffentlichkeit eine Be-drohung darstellte. Im Dezember wurde dasGerichtsverfahren gegen sechs Polizeibeamte,denen die Tötung von Andries Tatane zur Lastgelegt wurde, auf März 2013 vertagt.

Rechtliche, verfassungsrechtliche undinstitutionelle EntwicklungenIm November 2012 nahm der parlamentarischeAusschuss zu rechtlichen und verfassungs-rechtlichen Entwicklungen (Parliamentary Port-folio Committee on Justice and ConstitutionalDevelopment) Änderungen des Gesetzentwurfszu Verhütung und Bekämpfung von Folter(Prevention and Combating of Torture of Per-sons Bill) zur umfassenden parlamentari-schen Debatte für 2013 an. Dem waren im Sep-tember öffentliche Anhörungen vorausgegan-gen. Juristische, Menschenrechts- und anderezivilgesellschaftliche Organisationen sowieAmnesty International sagten als Zeugen ausund gaben Empfehlungen ab, um den Gesetz-entwurf zu stärken. Während einige Empfeh-lungen angenommen wurden, blieben die Be-stimmungen über die Entschädigung von Fol-teropfern hinter den internationalen Standardszurück.

Das Hohe Gericht (High Court) verwarf im Mai2012 die behördliche Entscheidung, die Fol-tervorwürfe namentlich genannter Täter in Sim-babwe nicht zu untersuchen, als rechtswidrig.Das Zentrum für Rechtsstreitigkeiten im süd-lichen Afrika (Southern African Litigation Cen-tre) und das Forum von Simbabwern im Exil(Zimbabwe Exiles Forum) verwiesen auf dieVerpflichtungen Südafrikas aus dem Römi-schen Statut des Internationalen Strafgerichts-hofs. Das Hohe Gericht verpflichtete die Behör-den, die notwendigen Ermittlungen durchzu-führen.

Im Juli wies das Verfassungsgericht dieRechtsmittel der Regierung gegen das Urteileines Hohen Gerichts zurück. Das Hohe Ge-richt hatte den Versuch der Regierung für

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rechtswidrig erklärt, zwei Staatsangehörige ausBotsuana in ihr Heimatland abzuschiebenohne die vorherige Zusicherung, dass sie dortnicht hingerichtet würden. Amnesty Interna-tional trat in der Anhörung vor dem Verfas-sungsgericht als Amicus Curiae auf.

Flüchtlinge und AsylsuchendeDas Asylverfahren wurde auch im Berichtsjahr2012 weitreichend geändert. Die Änderungenhatten zunehmend Auswirkungen auf den nichtdiskriminierenden Zugang zu Asylverfahren.Die Regierung legte bei den gerichtlichen Anhö-rungen Schriftstücke vor, die darauf hindeute-ten, dass sie die Absicht hatte, alle asylbezoge-nen Amtshandlungen und Aufnahmestellenfür Asylbewerber an die Landesgrenzen zu ver-legen.

Die teilweise oder komplette Schließung derBüros zur Aufnahme von Flüchtlingen in PortElizabeth und Kapstadt sowie die Schließungdes Büros in Johannesburg im Jahr 2011 wirk-ten sich zunehmend negativ auf die Möglich-keiten von Asylsuchenden und anerkanntenFlüchtlingen aus, Anträge einzureichen, einebefristete Aufenthaltserlaubnis zu erneuernoder ihre Flüchtlingsausweise verlängern zulassen. Aussagen der Betroffenen, insbeson-dere von den ärmsten Migranten und denen mitFamilie, zeigten, dass ihnen Geldstrafen, In-haftierung und mittel- oder unmittelbare Ab-schiebung in ein Land drohten, in dem sie Ge-fahr liefen, gefoltert zu werden.

Anfechtungen dieser Praktiken, die Flücht-lingsorganisationen, Dienstleister und Men-schenrechtsanwälte aus Port Elizabeth undKapstadt beim Hohen Gericht einbrachten,führten im Februar, Mai, Juli und August 2012zu Urteilen gegen das Innenministerium. Den-noch konnten Beobachter feststellen, dass inden Aufnahmebüros weiterhin Dienstleistun-gen verweigert wurden.

Der ANC verabschiedete im Juni 2012 bei sei-ner Konferenz zur Nationalen Politik Empfeh-lungen zur Einwanderung, darunter auch dieEinrichtung von »Zentren (Lagern) für Asyl-suchende«. Im Dezember nahmen die Teil-nehmer der Konferenz zur Wahl der ANC-

Führung Meldungen zufolge die Empfehlungenin einer Resolution über »Frieden und Stabili-tät« an.

Im Laufe des Jahres wurden in fast allen neunProvinzen zahlreiche Fälle von Plünderung,Zerstörung von Geschäften und Vertreibungvon anerkannten Flüchtlingen, Asylsuchen-den und Migranten dokumentiert. Bei einemder schwersten Vorfälle, der Ende Juni be-gann, kam es in der Provinz Freistaat zur Zer-störung von Eigentum im großen Stil und zurVertreibung von fast 700 überwiegend äthiopi-schen Flüchtlingen und Asylsuchenden, de-ren Läden zuvor geplündert worden waren. Aufdiesen und viele weitere Vorfälle reagierte diePolizei nur schleppend. In einigen Fällen be-richteten Zeugen, dass die Polizei an den Ge-waltakten beteiligt war.

In der Provinz Limpopo erzwang die Polizei alsTeil der Operation Hard Stick die Schließungvon mindestens 600 kleinen Geschäften vonAsylsuchenden und Flüchtlingen. Die Polizei-razzien fanden ohne Vorwarnung statt, sie wa-ren willkürlich, und es kam dabei auch zur Be-schlagnahme von Waren. Einige Asylsuchendeund Flüchtlinge wurden fremdenfeindlich be-schimpft, inhaftiert und wegen ihrer Geschäfts-tätigkeit angeklagt oder zu Geldstrafen verur-teilt. Der daraus resultierende Verlust ihrer Le-bensgrundlage und ihrer Häuser erhöhte dasRisiko weiterer Menschenrechtsverletzungen.Im September mussten 30 vertriebene Äthio-pier aus einem Haus flüchten, in dem sie Zu-flucht gesucht hatten, weil darauf mit einerBenzinbombe ein Brandanschlag verübtwurde.

Lang anhaltende rechtswidrige Inhaftierun-gen von Migranten ohne reguläre Aufenthalts-papiere sowie von Einzelpersonen, die interna-tionalen Schutz benötigten, gaben weiterhinAnlass zur Besorgnis. Im November führte eineEingabe der südafrikanischen Menschen-rechtskommission und der NGO People AgainstSuffering, Suppression, Oppression and Po-verty bei Gericht dazu, dass die Behörden 37inhaftierte Migranten freiließen, die ohne rich-terliche Anordnung durchschnittlich 233 Tagein Haft gehalten worden waren.

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Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenHassverbrechen, die sich insbesondere gegenlesbische Frauen richteten, erregten weiterhinöffentliche Besorgnis und Angst. Zwischen Juniund November 2012 wurden bei offensichtlichgezielten Angriffen wegen ihrer sexuellen Orien-tierung oder Geschlechtsidentität mindestenssieben Menschen getötet, darunter fünf lesbi-sche Frauen.

Die Arbeit der Regierung und des 2011 ins Le-ben gerufenen zivilgesellschaftlichen TaskTeam zur Verhütung weiterer Vorfälle dieser Artkam nur schleppend voran. Bei der Prüfungder Menschenrechtslage im Rahmen der Uni-versellen Regelmäßigen Überprüfung durchden UN-Menschenrechtsrat im September be-stätigte die Regierung, dass ein »Maßnahmen-katalog zur Bekämpfung von Hassverbrechen,Hassreden und unfairer Diskriminierung kurzvor dem Abschluss steht«.

Im Dezember verurteilten Angehörige desJustizministeriums Hassverbrechen und ge-schlechtsspezifische Gewalt als Angriff auf dasRecht auf Leben und die Menschenwürde underkannten an, dass »dringender Bedarf« an öf-fentlicher Aufklärung bestehe, um Vorurteileaufgrund der sexuellen Orientierung oder Ge-schlechtsidentität zu bekämpfen.

Gewalt gegen Frauen und KinderDie Rate der sexuellen Gewalt gegen Frauenwar nach wie vor hoch. Im Zeitraum von April2011 bis März 2012 registrierte die Polizei48003 Vergewaltigungen. Im selben Zeitraumwaren bei 64514 gemeldeten Sexualdelikteneinschließlich Vergewaltigungen 40,1% derBetroffenen Frauen und 48,5% Kinder. Erneutwurden Forderungen laut, wonach auf sexu-elle Straftaten spezialisierte Gerichte ihre Arbeitwieder aufnehmen sollten, um die Straffreiheitfür diese Verbrechen zu verringern.

Frauenrechte, HIV / AIDS und Gesundheitvon MütternDer Zugang zu antiretroviralen Medikamentenfür Menschen mit HIV /AIDS wurde weiter ver-

bessert. Im Oktober 2012 befanden sich 2 Mio.Menschen in Behandlung. Die hohe Rate derHIV-Infektionen unter schwangeren Frauen warweiter besorgniserregend. In der Provinz Kwa-Zulu-Natal lag die Infektionsrate bei Frauen, diezu Schwangerschaftsvorsorgeuntersuchun-gen gingen, bei 37,4%.

Im August 2012 wies ein vom Gesundheitsmi-nisterium unterstützter Bericht über die Ent-wicklungen bei der Müttersterblichkeit aus,dass zwischen 2008 und 2010 von den 4867bei der Geburt oder innerhalb von 42 Tagen da-nach verstorbenen Frauen 40,5% nicht anschwangerschaftsbedingten Infektionen, son-dern unter anderem an HIV gestorben waren.Verzögerungen beim Zugang zu Schwanger-schaftsvorsorgeuntersuchungen und anti-retroviraler Behandlung trugen zu diesem ho-hen Prozentsatz bei.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger wurden weiterhinschikaniert, und der unzulässige Druck auf In-stitutionen wie die Staatsanwaltschaft undhochrangige Staatsanwälte hielt an.ý Im Januar 2012 wurde Ayanda Kota, der Vor-sitzende der Arbeitslosenbewegung Unem-ployed People’s Movement, von der Polizei tät-lich angegriffen und in der Polizeiwache inGrahamstown rechtswidrig inhaftiert. Er hattedie Polizeiwache aus freien Stücken aufge-sucht, da eine Anzeige gegen ihn erstattet wor-den war. Die Vorwürfe gegen ihn, u. a. Wider-stand gegen die Festnahme, wurden später zu-rückgezogen.ý Im Juli wurde der Umweltschützer und Fol-terüberlebende Kevin Kunene zehn Tage,nachdem er gemeinsam mit drei anderen Per-sonen eine offizielle Beschwerde wegen Kor-ruption bei der staatlichen Beschwerdestelleder Republik Südafrika (Public Protector) ge-gen die Stammesbehörde KwaMbonambi ein-gereicht hatte, erschossen. Bis Ende 2012 warniemand wegen seines Todes vor Gericht ge-stellt worden.ý Im Oktober wurden Angy Peter und ihr Part-ner Isaac Mbadu, Mitglieder der zivilgesell-schaftlichen Organisation für soziale Gerechtig-

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keit, Social Justice Coalition, unter Mordver-dacht festgenommen. Vor ihrer Festnahme hat-ten sie gegen einen hochrangigen Polizeibe-amten Anzeige wegen Korruption erstattet.Angy Peter unterstützte außerdem einen vomMinisterpräsidenten der Provinz Westkap ein-berufenen Untersuchungsausschuss zu mut-maßlichem Dienstversagen der Polizei. AngyPeter und Isaac Mbadu wurden vor Ende desJahres aus der Untersuchungshaft freigelas-sen, sahen sich aber nach wie vor Schikanie-rungen gegenüber. Im November hatte der Po-lizeipräsident von Südafrika rechtliche Maß-nahmen ergriffen, um die Untersuchung zustoppen.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Südafrika in

den Monaten Februar / März, Mai / Juni, August / Septemberund Oktober / November.

ÿ Hidden from view: Community carers and HIV in rural SouthAfrica [photo exhibition], http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR53/002/2012/en

ÿ Key human rights concerns in South Africa: Amnesty Interna-tional’s submission to the UN Universal Periodic Review,May-June 2012, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR53/003/2012/en

ÿ South Africa: Amnesty International encouraged by initialsteps to strengthen protections against torture but con-demns continued use of excessive force by police and thefailure to uphold refugee rights, http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR53/005/2012/en

ÿ South Africa: Shop raids jeopardise safety of refugees,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR53/006/2012/en

ÿ South Africa: Marikana Inquiry must be enabled to operateeffectively, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/south-africa-marikana-inquiry-must-be-enabled-operate-effectively-2012-09-2

ÿ South Africa: Police arrests are a positive step in the fightagainst impunity, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/south-africa-police-arrests-are-positive-step-fight-against-impunity-2012-0

ÿ Landmark ruling confirms South Africa cannot deport peopleat risk of death penalty, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/landmark-ruling-confirms-south-africa-cannot-deport-people-risk-death-penal

ÿ South Africa: Judge must oversee probe into mine protestdeaths, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/south-africa-judge-must-oversee-probe-mine-protest-deaths-2012-08-17

SudanAmtliche Bezeichnung: Republik SudanStaats- und Regierungschef:

Omar Hassan Ahmed al-Bashir

Die nach der Unabhängigkeit Südsudansaufgenommenen Vertragsverhandlun-gen mit Südsudan zur Aufteilung derErdöleinnahmen, zur Regelung derStaatsbürgerschaft und zum Grenzver-lauf wurden 2012 fortgeführt. Die Kon-flikte in Darfur und in den Bundesstaa-ten Südkordofan und Blue Nile dauer-ten an. Angehörige des Geheimdienstes(National Security Service – NSS) undanderer staatlicher Organe begingen wei-terhin Menschenrechtsverletzungen ge-gen vermeintliche Regierungskritiker, dieihre Rechte auf freie Meinungsäußerungsowie Vereinigungs- und Versammlungs-freiheit wahrnahmen.

HintergrundEs kam zu verstärkten Spannungen zwischenSüdsudan und Sudan über Angelegenheiten,die nach der Unabhängigkeit Südsudans nochnicht zufriedenstellend zwischen den beiden

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Staaten geregelt worden waren. Die im Februar2012 erfolgte Einstellung der Erdölförderung inSüdsudan wegen Unstimmigkeiten mit Sudanüber Öltransitgebühren führte zu einer Eskala-tion des Konflikts. Gefechte zwischen den Ar-meen beider Staaten, darunter die wahlloseBombardierung der Grenzregionen von Heglig /Panthou und Kiir Adem durch die Sudanesi-schen Streitkräfte (Sudanese Armed Forces –SAF) von Ende März bis Mai und wiederum imNovember, hatten die Vertreibung HunderterMenschen zur Folge. Im Februar unterzeich-neten Südsudan und Sudan einen Nichtan-griffspakt hinsichtlich des umstrittenen Grenz-verlaufs zwischen ihren Ländern. Die Absichts-erklärung umfasste fünf Prinzipien. Eines da-von besagte, dass beide Seiten keine grenz-überschreitenden militärischen Operationendurchführen; ein anderes verpflichtete beideStaaten dazu, keine gegen die Regierung desjeweils anderen Staates kämpfenden Gruppie-rungen zu unterstützen. Trotz des Paktes hiel-ten die Spannungen an der Grenze an. Am24. April 2012 beschloss der Friedens- und Si-cherheitsrat der Afrikanischen Union (AU)einen politischen Aktionsplan (Roadmap) zurKlärung noch ungelöster Fragen zwischen denbeiden Ländern. Der UN-Sicherheitsrat unter-stützte die Roadmap durch Resolution 2046,mit der beide Länder dazu aufgefordert wur-den, innerhalb von drei Monaten Einigung überdie strittigen Themen zu erzielen.

Am 27. September unterzeichneten Südsu-dan und Sudan in der äthiopischen Haupt-stadt Addis Abeba mehrere Verträge über Han-del, Erdöl, Sicherheits- und Staatsangehörig-keitsfragen. Bis Ende 2012 waren diese Verein-barungen jedoch noch nicht umgesetzt wor-den. Das Gleiche galt für weitere Abkommenüber den Status der umstrittenen RegionAbyei und den genauen Grenzverlauf zwischenSüdsudan und Sudan.

In den Bundesstaaten Südkordofan und BlueNile dauerte der bewaffnete Konflikt zwischenden Sudanesischen Streitkräften (SAF) und derbewaffneten Oppositionsgruppe SudanPeople’s Liberation Movement – North(SPLM-N) an. Im April und im Mai wurde der

Notstand auch in Teilen von Bundesstaaten mitGrenzen zum Südsudan ausgerufen. Dazu ge-hörten u. a. Gebiete in den Bundesstaaten Süd-kordofan, White Nile und Sennar. Im Augustunterzeichneten die Regierung Sudans und dieSPLM-N jeweils separate Absichtserklärungenmit der Dreiergruppe (UN, AU und Liga der ara-bischen Staaten), um den Weg für humanitäreHilfe in den vom Konflikt betroffenen Bundes-staaten Südkordofan und Blue Nile zu ebnen.Dennoch gelang es bis Ende 2012 nicht, huma-nitäre Hilfe in die von der SPLM-N beherrsch-ten Gebiete zu bringen.

Obwohl die Interims-Sicherheitstruppe derVereinten Nationen für Abyei (UN Interim Se-curity Force for Abyei – UNISFA) seit Juni 2011in Abyei präsent war, blieb die Mehrheit derVertriebenen aus Abyei in Südsudan. Trotz derStationierung des Gemeinsamen Militärbeob-achterkomitees für Abyei (Joint Military Obser-ver Committee – JMOC) gerieten die Gesprä-che zwischen Sudan und Südsudan über wei-tere Verwaltungsvereinbarungen und größerepolitische Fragen im Zusammenhang mit Abyeiins Stocken. Im November erneuerte der UN-Sicherheitsrat mit Resolution 2075 das Mandatder UNISFA. Obwohl das Mandat seit Beginnauch die Beobachtung der Menschenrechtssi-tuation beinhaltete, konnten keine Fortschrittebei der Umsetzung dieses Auftrags erzielt wer-den.

Am 19. September 2012 lud PräsidentOmar Hassan al-Bashir NGOs und politischeParteien ein, an einem Konsultationstreffenüber die Verfassung teilzunehmen. Der Ver-fassungstext war bereits von der NationalenKongress-Partei (National Congress Party)entworfen worden und Berichten zufolge gabes darüber vor seiner Veröffentlichung keiner-lei Konsultation. Alle wichtigen Oppositions-parteien lehnten es ab, an dem Treffen teilzu-nehmen.

Im Januar und Juni 2012 kam es zu Protest-wellen, als Studierende gegen die Regierungs-politik und Sparmaßnahmen demonstrierten.Die Sicherheitskräfte reagierten darauf mitdem Einsatz exzessiver Gewalt. Hunderte De-monstrierende wurden festgenommen, und

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viele wurden gefoltert oder mussten andereMisshandlungen erdulden, ehe sie wieder frei-kamen.

Internationale StrafverfolgungDie Regierung zeigte sich auch weiterhin nichtbereit, hinsichtlich der in den Jahren 2009und 2010 gegen Präsident al-Bashir erlassenenHaftbefehle mit dem Internationalen Strafge-richtshof (International Criminal Court – ICC)zusammenzuarbeiten. Dasselbe galt für die2007 ausgestellten Haftbefehle gegen den Gou-verneur von Südkordofan, Ahmed Haroun,und den ehemaligen Anführer der Janjaweed-Milizen, Ali Mohammed Ali Abdelrahman.

Am 1. März 2012 erließ der ICC Haftbefehl ge-gen den amtierenden VerteidigungsministerAbdelrahim Mohamed Hussein wegen 41 Fäl-len von Verbrechen gegen die Menschlichkeitund Kriegsverbrechen, die im Zusammenhangmit dem Konflikt in Darfur verübt worden wa-ren.

Flüchtlinge und MigrantenIm Widerspruch zu Sudans völkerrechtlichenVerpflichtungen, keine Personen abzuschie-ben, wenn diese im Herkunftsland Gefahr lau-fen, Opfer von Menschenrechtsverletzungenzu werden, fanden Rückführungen eritreischerAsylsuchender und Flüchtlinge statt.ý Neun Asylsuchende und ein Flüchtling wur-den im Juli 2012 der unerlaubten Einreisenach Sudan schuldig befunden und daraufhinnach Eritrea abgeschoben.ý Am 11. Oktober 2012 wurde ein 24-jährigerEritreer auf der Grundlage der Entscheidungeines Gerichts in Kassala zwangsweise in seinHerkunftsland zurückgeführt. Er war festge-nommen worden, nachdem er auf einer Polizei-station um Asyl ersucht hatte.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Regierung schränkte das Recht auf freieMeinungsäußerung drastisch ein und be-nutzte dabei neue Formen der Zensur. So kon-fiszierte sie komplette Zeitungsauflagen, ver-hinderte die Veröffentlichung von Artikeln oderKommentaren, verbot bestimmten Journalis-

ten, für Zeitungen zu schreiben, und drangsa-lierte Herausgeber, um damit Einfluss auf ihreNachrichtenauswahl zu nehmen.

Im Januar und Februar 2012 stellten die Be-hörden das Erscheinen von drei Zeitungenein. Sie beriefen sich dabei auf Bestimmungendes im Jahr 2010 erlassenen Nationalen Si-cherheitsgesetzes (National Security Act), diedem Geheimdienst NSS erlauben, jede Zei-tung zu verbieten, die er als Bedrohung der na-tionalen Sicherheit ansieht. Die Behörden be-schlagnahmten die Gesamtauflage der ZeitungAl Midan allein im März fünfmal. Am 2. Januarwurden drei Zeitungen – Alwan, Rai Al Shaabund Al Tayyar – geschlossen.

Mitarbeiter des NSS und andere Sicherheits-kräfte nahmen Journalisten in Gewahrsam,folterten sie oder fügten ihnen anderweitigeMisshandlungen zu. Vielen Journalisten wur-den Straftaten zur Last gelegt, und ihre Ausrüs-tung wurde konfisziert, um sie daran zu hin-dern, ihre Arbeit auszuüben. Mehr als 15 Jour-nalisten erhielten Schreibverbot.ý Im April und Mai 2012 wurde der prominenteKolumnist mehrerer nationaler Zeitungen, Fai-sal Mohammed Saleh, mehrfach festgenom-men und wieder auf freien Fuß gesetzt, bevorgegen ihn Anklage wegen »Verweigerung derZusammenarbeit mit einem staatlichen Vertre-ter« erhoben wurde. Faisal Mohammed Salehwurde am 31. Mai freigesprochen, steht aberwegen seiner Berichterstattung im Jahr 2011über die mutmaßliche Vergewaltigung einerAktivistin durch Angehörige des NSS weiterhinunter Anklage.ý Najla Sid Ahmed, ein sudanesischer Video-Blogger, der Menschenrechtsverletzungen inSudan offenlegte, indem er über YouTube Inter-views mit Aktivisten und Opfern von Men-schenrechtsverstößen verbreitete, wurde fort-laufend durch den NSS schikaniert und ge-zwungen, ins Exil zu gehen.ý Jalila Khamis Koko, eine Lehrerin aus demNuba-Gebirge und Mitglied der SPLM-N,wurde im März 2012 festgenommen und befin-det sich noch immer in Haft. Sie hatte Binnen-flüchtlingen aus Südkordofan humanitäre Hilfegeleistet und war auf YouTube in einem Video

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zu sehen, in dem sie die in den Nuba-Bergenherrschenden Bedingungen anprangerte. ImDezember reichte der NSS Klage gegen JalilaKhamis Koko ein. Die Vorwürfe umfasstensechs Punkte, von denen sich fünf auf die Ka-tegorie »Verbrechen gegen den Staat« bezo-gen. Auf zwei dieser Straftatbestände steht dieTodesstrafe.

Rechte auf Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Behörden schränkten das Recht auf Ver-sammlungsfreiheit 2012 weiterhin drastischein.

Die Regierung unterdrückte eine Welle vonDemonstrationen, die am 16. Juni als Reaktionauf Preissteigerungen begann. Sie weitete sichzu einer breiteren Protestbewegung aus, dieeinen umfassenderen politischen Wandel an-strebt. Die Demonstrationen fanden in derHauptstadt Khartum und in anderen Städtenwie auch in Provinzorten statt. Zwischen Juniund August gingen die Sicherheitskräfte mitSchlagstöcken, Tränengas, Gummigeschos-sen und scharfer Munition gegen die im Großenund Ganzen friedlich Demonstrierenden vor.Tote und Verletzte waren die Folge. EinigeFrauen wurden Berichten zufolge wiederholtsogenannten Jungfräulichkeitstests unterzo-gen, die als Folter oder anderweitige Miss-handlungen anzusehen sind. Sicherheitsbe-amte in Zivil, die in oder in der Nähe von Kran-kenhäusern postiert waren, nahmen als De-monstranten verdächtigte Personen fest, diesich in ärztliche Behandlung begeben wollten.

Der NSS reagierte auf die Demonstrationenmit einer Verhaftungswelle in der Zivilgesell-schaft. Dabei nahm er Hunderte Personen, un-ter ihnen Protestierende, aber auch Rechtsan-wälte, NGO-Mitarbeiter, Ärzte und Mitgliedervon Jugendorganisationen und politischenParteien, fest, unabhängig davon, ob sie an denProtestaktionen teilgenommen hatten odernicht. Viele wurden ohne Anklage in Haft ge-nommen oder im Schnellverfahren wegenAufruhrs oder Störung der öffentlichen Ord-nung angeklagt und zu Geldstrafen oder Peit-schenhieben verurteilt. Andere wurden bis zu

zwei Monate festgehalten und schwererer Ver-brechen – hauptsächlich des Terrorismus –angeklagt, jedoch nicht verurteilt.

Viele der Personen, die nach den Demonstra-tionen vom Juni festgenommen worden wa-ren, wurden vom NSS gefoltert oder in andererWeise misshandelt. NSS-Mitarbeiter schlugenund traten Gefangene und traktierten sie mitFaustschlägen und mit Gummischläuchen.Gefangene wurden gezwungen, stundenlangbei glühender Hitze im Freien zu stehen, undmussten schmerzhafte Körperhaltungen ein-nehmen. Viele erhielten weder Nahrung nochWasser, und auch der Zugang zur sanitärenGrundversorgung war ihnen verwehrt.ý Am 31. Juli 2012 wurden mindestens zehnMenschen, überwiegend Schüler, getötet, alsSicherheitskräfte und paramilitärische Polizeiwährend einer Demonstration gegen die Ben-zinpreise und die Lebenshaltungskosten inNyala in Darfur das Feuer eröffneten.ý Am 6. und 7. Dezember 2012 fand man vieraus Darfur stammende Studierende der Al-Ja-zeera-Universität in Wad Madani in einem Ka-nal nahe der Universität tot auf. Die vier warennach Protesten an der Universität von Ange-hörigen des NSS festgenommen worden. Be-richten zufolge wiesen die Leichen Spuren vonSchlägen auf, was auf vorherige Folter oderandere Formen der Misshandlung hindeutete.

Die Regierung Sudans schikanierte weiterhinMitglieder der Oppositionsgruppen. Im Okto-ber und November 2012 wurden über 100 Per-sonen wegen des Verdachts, Mitglieder derSPLM-N zu sein, in und in der Umgebung vonKadugli und Dilling in Südkordofan festge-nommen.

TodesstrafeEs wurden weiterhin Todesurteile ausgespro-chen. Mindestens zwei Frauen wurden zumTod durch Steinigen verurteilt. In beiden Fällenwurde den Frauen rechtlicher Beistand ver-weigert. Dies war eine eindeutige Verletzungdes Rechts auf einen fairen Prozess.

Todesurteile ergingen oft nach Verhandlun-gen, bei denen die Rechte auf Verteidigungverletzt wurden. Die Behörden wandten weiter-

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hin Verzögerungstaktiken an, um die Rechteder Angeklagten auf Einlegung von Rechtsmit-teln zu untergraben.ý Im Mai und Juli 2012 wurden zwei Frauen,die 23-jährige Layla Ibrahim Issa Jumul unddie 20-jährige Intisar Sharif Abdallah, wegenEhebruchs zum Tod durch Steinigung verur-teilt. In beiden Fällen wurden die Angeklagtenlediglich auf Grundlage ihrer unter Zwang ab-gelegten Geständnisse verurteilt. Beide Frauenkamen im Rechtsmittelverfahren frei.ý Al-Tom Hamed Tutu, ein Anführer der Bewe-gung für Gerechtigkeit und Gleichheit (Justiceand Equality Movement – JEM), befand sichweiterhin im Todestrakt unter der unmittelba-ren Gefahr des Vollzugs der Todesstrafe. Er warim Jahr 2011 nach einem mangelhaften Ver-fahren zum Tode verurteilt worden.

Bewaffneter Konflikt – DarfurDie anhaltenden Kampfhandlungen zwischender Regierung und den bewaffneten Oppositi-onsgruppen, bei denen die Regierung zuneh-mend die Kontrolle über die mit ihr verbünde-ten Milizen verlor, waren im gesamten GebietDarfur von schweren Menschenrechtsverstö-ßen begleitet. Angriffe auf Zivilpersonen durchregierungsnahe Milizen, Bombardierungenaus der Luft sowie Plünderungen und Zerstö-rung von Eigentum waren weit verbreitet. Un-ter Verletzung des von den UN ausgesproche-nen Verbots von Militärflügen über Darfurführten die sudanesischen Streitkräfte (SAF)weiterhin Luftangriffe durch. Die gemeinsameUN/AU-Mission in Darfur (UNAMID) schätzte,dass zwischen Juli und November 2012 unge-fähr 29020 Menschen durch die Kämpfe ver-trieben worden waren. UNAMID berichtete,dass sie bei ihrer Arbeit durch die von der Re-gierung auferlegte Einschränkung der Bewe-gungsfreiheit sowie Verzögerungen bei der Ge-nehmigung humanitärer Hilfe nach wie vor be-hindert werde.ý Zwischen dem 26. September und dem2. Oktober 2012 wurden das Dorf HashabaNorth und die Umgebung von bewaffnetenMännern angegriffen. Berichten zufolge gabes dabei mehr als 250 Tote und Verletzte.

ý Am 2. Oktober wurden bei einem Angriff inWestdarfur in der Nähe ihres Stützpunkts inEl-Geneina vier Angehörige der UNAMID getötetund weitere acht verwundet.ý Am 17. Oktober griffen Milizen einen Konvoider UNAMID an, der sich auf dem Weg nachHashaba North befand, um Berichten nachzu-gehen, denen zufolge Menschenrechtsver-stöße in der Region verübt wurden. Ein Angehö-riger der UNAMID-Friedenstruppe wurde getö-tet, drei weitere erlitten Verletzungen.ý Am 31. Dezember wurden Luftangriffe ausdem östlichen Jebel Marra gemeldet, bei de-nen im Dorf Angero Rouka fünf Zivilpersonenums Leben kamen und zwei weitere Personenverletzt wurden.

Vergewaltigungen und sexuelle Gewalt durchRegierungstruppen und die mit ihnen verbün-deten Milizen waren weiterhin an der Tagesord-nung. Es gab zahlreiche Berichte über bewaff-nete Unbekannte, die nachts in Lager der Bin-nenflüchtlinge eindrangen, um deren Eigen-tum zu plündern und Frauen und Mädchen zuvergewaltigen.ý Am 10. Juli 2012 drangen mit der Regierungverbündete Milizen in das Lager Hamida in derStadt Zalingei in Zentraldarfur ein. Berichtenzufolge vergewaltigten sie vier Frauen, verletz-ten vier Personen und entführten 20 weitere.Eine Person, die später fliehen konnte, gab an,dass die Entführten Folter und andere Miss-handlungen ausgesetzt waren.

Bewaffneter Konflikt – Südkordofanund Blue NileDer Konflikt, der im Juni und September 2011in den Bundesstaaten Südkordofan und BlueNile zwischen den Sudanesischen Streitkräften(SAF) und der SPLM-N ausgebrochen war,hielt an. Ab Oktober 2012 nahmen die Kampf-handlungen zu. Bei wahllosen Angriffen, da-runter Luftschläge durch die SAF und Grana-tenbeschuss der Ortschaft Kadugli in Südkor-dofan durch beide Kampfparteien, gab es Toteund Verletzte unter der Zivilbevölkerung.Wahllose Bombardements durch die SAF führ-ten zu weiterer Zerstörung von Eigentum unddem Erliegen der Landwirtschaft. Dies und die

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Verweigerung des Zugangs humanitärer Hilfs-organisationen zu den von der SPLM-N kontrol-lierten Gebieten veranlasste über 200000Menschen zur Flucht nach Südsudan undÄthiopien.

Amnesty International: Berichteÿ »We can run away from bombs, but not from hunger«,

http://www.amnesty.org/en/library/asset/AFR65/001/2012/en/107d41a7-50c9-4eb9-9fe7-59afb3ec63ff/afr650012012en.pdf

ÿ Sudan: No end to violence in Darfur. Arms supplies continuedespite ongoing human rights violations,http://www.amnesty.org/en/library/asset/AFR54/007/2012/en/c1037da2-0f54-4343-8325-461d80e751c2/afr540072012en.pdf

ÿ Sudanese authorities must end the crackdown on de-monstrators and activists, http://www.amnesty.org/en/library/asset/AFR54/036/2012/en/34c89cf8-5a72-448c-9800-33f4d83d510e/afr540362012en.pdf

SüdsudanAmtliche Bezeichnung: Republik SüdsudanStaats- und Regierungschef: Salva Kiir Mayardit

Am 9. Juli 2012 beging Südsudan denersten Jahrestag seiner Unabhängigkeit.Die Vertragsverhandlungen, die nach derUnabhängigkeit zwischen Südsudanund Sudan aufgenommen worden waren,wurden zum Jahresende fortgesetzt. Siebetrafen die Aufteilung der Erdöleinnah-men, Sicherheitsvorkehrungen, denGrenzverlauf und den Status des umstrit-tenen Gebiets Abyei. Die SudanesischeVolksbefreiungsarmee (Sudan People’sLiberation Army – SPLA) und der Südsu-danesische Polizeidienst (South SudanPolice Service – SSPS) begingen weiter-hin Menschenrechtsverletzungen, die zu-meist straflos blieben. Zusätzlich zuFlucht und Vertreibung innerhalb Südsu-dans setzte sich der starke Zustrom von

Flüchtlingen und Rückkehrern aus Su-dan fort.

HintergrundAm 9. Januar 2012 ernannte der Präsident perDekret die Mitglieder der Nationalen Kommis-sion für eine Verfassungsreform (National Con-stitutional Review Commission), die den Auf-trag hat, den Entwurf einer permanenten Ver-fassung auszuarbeiten. Nachdem das Gesetzüber die Nationalen Wahlen (National ElectionsAct) am 6. Juli in Kraft getreten war, nahm dieKommission ihre Arbeit auf.

Die Verträge, die nach der Unabhängigkeitzwischen Südsudan und Sudan geschlossenworden waren, wurden bis zum Jahresendenicht umgesetzt. Aufgrund von Differenzenmit Sudan über Öltransitgebühren stellte Süd-sudan im Februar die Erdölförderung ein, wo-durch seine Erdöleinnahmen um 98% sanken.Der Friedens- und Sicherheitsrat der Afrikani-schen Union (AU) verabschiedete am 24. April2012 einen politischen Aktionsplan (Road-map) mit Umsetzungsfristen zur Lösung dernoch offenen Fragen. Am 2. Mai befürworteteder UN-Sicherheitsrat die Roadmap mit der An-nahme von Resolution 2046, die beide Länderaufforderte, innerhalb von drei Monaten eineumfassende Regelung für die noch strittigen

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Problembereiche zu finden. Wegen des anhal-tenden Stopps der Erdölförderung beschlossdie Nationale Gesetzgebende Versammlung imJuli einen Sparhaushalt, der für das Fiskaljahr2012 /13 eine Senkung der Ausgaben um 34%zum Ziel hatte. Am 27. September unterzeich-neten Südsudan und Sudan in der äthiopi-schen Hauptstadt Addis Abeba eine Reihe vonAbkommen über Wirtschaft, Handel und Si-cherheit. Die Vereinbarungen sahen die Wie-deraufnahme der Erdölexporte, die Einrichtungeiner entmilitarisierten Grenzregion und dieEinstellung aller Feindseligkeiten vor. Überein-kunft wurde auch über die Prinzipien der »vierFreiheiten« erzielt. Danach stehen den südsu-danesischen und sudanesischen Staatsbür-gern in beiden Ländern die Rechte auf freieWahl des Wohnsitzes, Reisefreiheit, Erwerbund Veräußerung von Eigentum sowie Handels-und Gewerbefreiheit zu. Es sind jedoch nochweitere Verhandlungen erforderlich, um denStreit über Abyei beizulegen und eine Eini-gung hinsichtlich des genauen Grenzverlaufszwischen Südsudan und Sudan zu erzielen.

Im März und April 2012 startete die Regierungeine mehrgleisige Strategie, um die im Bun-desstaat Jonglei 2011 und Anfang 2012 durchethnisch motivierte Gewalt entstandene kriti-sche Sicherheitslage in den Griff zu bekom-men. Dazu gehörte die im März auf unbe-stimmte Zeit im gesamten Bundesstaat Jongleiin Gang gesetzte Kampagne Operation RestorePeace zur Entwaffnung der Zivilbevölkerung.Aufgrund von Angriffen durch eine bewaffneteMiliz, die von David Yau Yau angeführt wurde,der im April zum zweiten Mal die südsudane-sischen Streitkräfte (SPLA) verlassen hatte, ge-riet die Entwaffnung von Zivilpersonen im Ver-waltungsbezirk Pibor (Pibor County) im Sep-tember ins Stocken.

Im März setzte der Präsident auch einen Aus-schuss zur Untersuchung der Krise im Bun-desstaat Jonglei ein, der mit dem Mandat aus-gestattet wurde, die Verantwortlichen für dieethnische Gewalt zu ermitteln. Bis zum Jahres-ende waren die Mitglieder des Ausschussesjedoch noch nicht vereidigt und die für die Ar-beitsaufnahme des Ausschusses benötigten

finanziellen Mittel noch nicht zur Verfügung ge-stellt worden. Im April wurde der Friedenspro-zess für Jonglei wieder angeschoben.

Ebenfalls im März unterzeichnete die Regie-rung eine Vereinbarung mit Peter Kuol Chol,dem Anführer der bewaffneten Oppositions-gruppe South Sudan Democratic Move-ment /Army. Das Papier markierte den Beginneines Prozesses zur Integration von 1800 An-gehörigen dieser Gruppierung in die SPLA.

Im Juni 2012 erließ der Präsident eine Einst-weilige Anordnung über die Rechte vonFlüchtlingen (Refugee Provisional Order), undim Juli trat Südsudan den Genfer Konventio-nen von 1949 und ihren Zusatzprotokollen bei.Südsudan wurde keine Vertragspartei andererwichtiger internationaler Menschenrechtsab-kommen, ist nach dem Völkerrecht jedoch andie Verträge gebunden, deren Vertragsparteizur Zeit der Unabhängigkeitserklärung Südsu-dans Sudan war. Erhebliche Schwachstellen inder nationalen Gesetzgebung, wie das Fehleneines adäquaten Rahmenwerks zur Regulie-rung des Geheimdienstes South Sudan Natio-nal Security Services (SSNSS), untergruben denSchutz der Menschenrechte.

Im November 2012 verwies Südsudan unterBruch der ihm nach der UN-Charta obliegen-den Pflichten einen für Menschenrechte zu-ständigen Offizier der UN-Mission in der Re-publik Südsudan (United Nations Mission inthe Republic of South Sudan – UNMISS) desLandes.

Bewaffneter KonfliktIm März 2012 kam es im Gebiet Heglig /Pant-hou, einer umstrittenen Erdölförderungsre-gion, die als Teil des sudanesischen Bundes-staats Südkordofan angesehen wird, auf dieaber auch der südsudanesische BundesstaatUnity Ansprüche erhebt, zu Gefechten zwi-schen der SPLA und den Sudanesischen Streit-kräften (Sudan Armed Forces – SAF). Am10. April eroberte und besetzte Südsudan dasGebiet Heglig /Panthou, und am 15. April wei-teten sich die Kampfhandlungen entlang derGrenze zwischen den beiden Ländern auf KiirAdem im Bundesstaat Northern Bahr el-Ghazal

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aus. Am 20. April ordnete Südsudan den be-dingungslosen Rückzug der SPLA-Truppen vomÖlfeld Heglig /Panthou an, um damit ein ge-eignetes Klima für Gespräche mit Sudan zuschaffen. Im April und Mai wurden die südsu-danesischen Bundesstaaten Unity und North-ern Bahr el-Ghazal wahllos aus der Luft bom-bardiert. Im November fanden erneut wahlloseLuftangriffe auf den Bundesstaat NorthernBahr el-Ghazal statt. Berichten zufolge gingendie Angriffe von den SAF aus.

Gewalt zwischen ethnischen GruppenIm Bundesstaat Jonglei kam es weiterhin zu be-waffneten Auseinandersetzungen, und zwarhauptsächlich zwischen den beiden Volksgrup-pen der Lou Nuer und der Murle. Nach Schät-zungen der UN wurden zwischen dem 23. De-zember 2011 und Februar 2012 insgesamt888 Menschen getötet und im Zeitraum vonEnde Dezember 2011 bis April 2012 über170000 Personen vertrieben. Es kam zu Ent-führungen von Frauen und Kindern, Plünde-rungen von Eigentum und Diebstählen großerViehbestände. Verlautbarungen zufolge gab esam 22. August im Verwaltungsbezirk Pibor (Pi-bor County) bewaffnete Zusammenstöße zwi-schen den SPLA und einer unter dem Kom-mando des ehemaligen SPLA-Generals DavidYau Yau stehenden Miliz. Am 27. August wur-den bei einem Überfall, für den nach vorlie-genden Informationen die gleiche Gruppierungverantwortlich war, mindestens 24 Soldatengetötet. Wegen der Gefahr, dass die Miliz vonDavid Yau Yau weitere Angriffe durchführenkönnte, entsandte die SPLA zusätzliche Trup-pen, und UNMISS setzte zusätzliche Blau-helmsoldaten im Verwaltungsbezirk Pibor ein.Im August und September wurden zwei derdrei Kliniken der humanitären HilfsorganisationÄrzte ohne Grenzen geplündert, wodurch dieBevölkerung im Verwaltungsbezirk Pibor kei-nen Zugang mehr zur Gesundheitsversorgunghatte.

Im Dreieck der Bundesstaaten Lakes, Unityund Warrap kam es auch weiterhin immer wie-der zu Diebstählen von Vieh, das über dieStaatsgrenzen getrieben wurde. Ende Januar

und Anfang Februar brachen im Grenzgebietzwischen den Bundesstaaten Unity und War-rap Kämpfe aus. Als Grund wurde angegeben,dass Regierungsbeamte nicht wie vorgesehenfür die Rückgabe des während eines Angriffs imSeptember geraubten Viehs gesorgt hätten.Nach vorliegenden Informationen wurden beiden Kämpfen mehr als 70 Personen getötet.Im Juli brachen im Bundesstaat Lakes Kämpfezwischen zwei Untergruppen der Volksgruppeder Dinka aus. Dabei wurden 20 Menschen ge-tötet und 20 weitere verletzt. Im Novemberkam es im Bundesstaat Lakes erneut zum Aus-bruch von Feindseligkeiten. Dabei sollen zwölfPersonen ums Leben gekommen und 20 wei-tere verletzt worden sein.

Recht auf freie MeinungsäußerungDas Arbeitsklima für Medienschaffende ausdem In- und Ausland blieb schwierig. Sicher-heitskräfte schikanierten Mitarbeiter nationalerwie auch internationaler Medien, nahmen will-kürlich Journalisten und Rundfunkmoderato-ren fest und konfiszierten deren Ausrüstung.Die Behörden drohten auch damit, als regie-rungskritisch bewertete Radiosendungen zuverbieten, und der einzigen Tageszeitung Süd-sudans wurden Hindernisse in den Weg ge-legt, die ihr tägliches Erscheinen erschwerten.ý Am 14. Mai 2012 wurde Ayak Dhieu Apar,eine Rundfunkjournalistin aus Rumbek imBundesstaat Lakes, von der Polizei festgenom-men und ohne Anklage fünf Tage inhaftiert,weil sie eine Talkshow mit der Fragestellung»Wie könnte die Öffentlichkeit die Polizei res-pektieren?« in einem staatseigenen Radiosen-der moderiert hatte. Berichten zufolge kriti-sierten Anrufer die Polizei wegen schlechterAusübung ihrer Aufgaben und Nichtbeach-tung der Rechtsstaatlichkeit. Ayak Dhieu Aparwurde auf Kaution freigelassen, obwohl keineAnklage gegen sie erhoben worden war. Die Po-lizei drohte ihr, sie wegen »Diffamierung undBeschädigung des Ansehens der Polizei« vorGericht zu bringen. Anfang Juni wurde der Po-lizeipräsident des Bundesstaates Lakes, Gene-ralmajor Saed Abdulatif Chawul Lom, seinesAmtes enthoben. Berichten zufolge war er für

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die Festnahme und Inhaftierung von AyakDhieu Apar verantwortlich und verlor deshalbseinen Posten.ý Am 30. Mai 2012 wurde Bonifacio TabanKuich, ein freier Journalist aus Bentiu im Bun-desstaat Unity, von den SPLA festgenommenund sechs Stunden in einer Militärkasernefestgehalten, weil er für die Online-Zeitung Su-dan Tribune einen Artikel geschrieben hatte.Berichten zufolge erhielt Bonifacio Taban Kuichauch Morddrohungen von Regierungsbeam-ten. Der Artikel enthielt die Information, dassüber 500 Ehefrauen von Männern, die derSPLA angehört hatten und die im Kampf gefal-len waren, nicht den gesamten Entschädi-gungsbetrag erhielten, der ihnen von der Regie-rung zugesagt worden war.

Mangelnde RechenschaftEine im August 2011 gegen den ehemaligen Di-rektor der Behörde für öffentliche Sicherheitund Strafverfolgung (Public Security and Crimi-nal Investigation) aufgenommene Untersu-chung war Ende 2012 noch nicht abgeschlos-sen. Sie befasste sich mit Folter, Korruption,der Einrichtung illegaler Haftzentren und demVerschwindenlassen von John Louis Silvino,einem Architekten, der im Wohnungsbauminis-terium beschäftigt war. Am 25. März 2011 warer zum letzten Mal gesehen worden.

Die Regierung unternahm kaum etwas gegenMenschenrechtsverletzungen, die währendder im März im gesamten Bundesstaat Jongleigestarteten Kampagne zur Entwaffnung derZivilbevölkerung, Operation Restore Peace, vonden SPLA und den Hilfskräften der südsuda-nesischen Polizei South Sudan Police Service(SSPS) verübt worden waren. Bei den Men-schenrechtsverletzungen handelte es sich u. a.um Fälle von außergerichtlichen Hinrichtun-gen, Verprügeln von Männern, Frauen und Kin-dern, simuliertem Ertränken, sexueller Gewaltgegen Frauen und Plünderungen in Städtenund Dörfern. Es wurden nur sieben Festnah-men bekannt, die in einem direkten Zusam-menhang mit mutmaßlichen Menschen-rechtsverletzungen während der Entwaffnungs-kampagne der Zivilbevölkerung standen. Zum

Jahresende standen von den sieben Festge-nommenen nur zwei Soldaten unter Anklage.

Ermittlungen im Fall der Entführung undMisshandlung von zwei zivilgesellschaftlichenAktivisten, die der Allianz der ZivilgesellschaftSüdsudans (South Sudan Civil Society Alliance– SSCSA) angehörten, blieben unvollständig.ý Am 4. Juli 2012 wurde Deng Athuai Mawiir,Vorsitzender der SSCSA, aus seinem Hotel inJuba entführt. Berichten zufolge wurde er dreiTage lang festgehalten, geschlagen und überseine Arbeit, die Korruptionsfälle in Südsudanbetraf, befragt.ý Am 22. Oktober 2012 wurde der Rechtsan-walt der SSCSA, Ring Bulabuk, entführt undauf einem verlassenen Friedhof in Juba ausge-setzt. Vor seiner Entführung hatte man ihn un-ter Androhung von Gewalt aufgefordert, seineArbeit an einer Klage wegen Landraubs gegeneinen Armeegeneral in Juba einzustellen.

Im Laufe des Jahres gab es weitere Meldun-gen über Fälle mangelnder Rechenschaftsle-gung.ý Am 9. Dezember 2012 erschossen Sicher-heitskräfte in Wau im Bundesstaat WesternBahr el-Ghazal acht Menschen und verletzten20 weitere bei einer friedlichen Demonstrationwegen des Todes eines jungen Aktivisten undder Entscheidung der Regierung, die Verwal-tung des Bezirks Wau nach Bagari zu verlegen.Der Gouverneur kündigte eine sofortige Unter-suchung an, doch soweit bekannt, wurden bisEnde 2012 keine Ermittlungen durchgeführt.Die an dem rechtswidrigen Schusswaffenein-satz beteiligten Sicherheitskräfte wurden nichtvor Gericht gestellt, doch zahlreiche vermeintli-che Regierungsgegner, darunter auch Mitglie-der der gesetzgebenden Versammlung, wurdeninhaftiert.

Folter und andere MisshandlungenSicherheitskräfte, unter ihnen die SPLA, dersüdsudanesische Geheimdienst (National Se-curity Service – NSS) und SSPS, waren für Schi-kanen, Festnahmen, Folterungen und ander-weitige Misshandlungen von Personen verant-wortlich. Davon betroffen waren auch UN- undNGO-Beschäftigte. Auch die Angriffe auf ost-

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404 Südsudan

afrikanische Arbeiter nahmen in Südsudanzu.ý Am 13. April 2012 wurde Tabitha Musangi,eine kenianische Lehrerin an der internationa-len Schule Dr. John Garang InternationalSchool, von Sicherheitskräften erschossen,weil ihr Taxi nicht anhielt, als Polizisten die Na-tionalflagge in Juba einholten.ý Im August 2012 starb der aus Kenia stam-mende Pharmazeut Joseph Matu im Polizeige-wahrsam in Torit im Bundesstaat Eastern Equa-toria, nachdem er gefoltert worden war, weil erangeblich keine Arbeitserlaubnis besaß.ý Am 31. Oktober 2012 gaben Sicherheitskräfteauf dem Gelände der Schule Juba Day Secon-dary School Schüsse auf eine 17-jährige Schü-lerin und einen Lehrer ab und verletzten sie,nachdem dort Proteste wegen des Erwerbseines schuleigenen Grundstücks durch einenprivaten Investor stattgefunden hatten. Eswurde berichtet, Polizisten und Sicherheitsper-sonal seien in Zivilkleidung in das Schulgebäudeeingedrungen und hätten mit scharfer Muni-tion auf die Protestierenden geschossen. Schü-ler und Lehrer wurden wegen ihrer Teilnahmean den Demonstrationen willkürlich festgenom-men und am gleichen Tag wieder freigelassen.

Politische GefangeneAngehörige bewaffneter Oppositionsgruppenblieben ohne Zugang zu Rechtsbeiständen inHaft.ý Gabriel Tanginye, Anführer einer bewaffnetenOppositionsgruppe, und seine beiden Stellver-treter standen in der Hauptstadt Juba weiterhinunter Hausarrest, der ihnen im April 2011nach Kämpfen zwischen Einheiten Tanginyesund der SPLA in den Bundesstaaten UpperNile und Jonglei auferlegt worden war. Bis Ende2012 war keine Anklage gegen die Männer er-hoben worden.ý Peter Abdul Rahaman Sule, Anführer der Op-positionsgruppe United Democratic Front, be-fand sich nach über einem Jahr weiter ohneAnklage in Haft. Er war im November im Bun-desstaat Western Equatoria festgenommenworden, weil er Jugendliche rekrutiert habensoll.

Flüchtlinge und BinnenvertriebeneNach wie vor kehrten Südsudanesen, die vorder Unabhängigkeit Südsudans im nördlichenLandesteil gelebt hatten, nach Südsudan zu-rück. Nach Schätzungen waren bis zumJahresende mehr als 120000 Südsudanesenzurückgekehrt.

Wegen des Ausbruchs eines bewaffnetenKonflikts zwischen den Sudanesischen Streit-kräften (Sudan Armed Forces – SAF) und derbewaffneten oppositionellen Gruppe SudanPeople’s Liberation Movement-North (SPLM-N)flüchteten Einwohner aus den sudanesischenBundesstaaten Südkordofan und Blue Nile wei-terhin nach Südsudan. Wegen zunehmenderKampfhandlungen und aufgrund von Nah-rungsmittelmangel in den vom Konflikt betrof-fenen Gebieten wuchs die Zahl der Flüchtlingeaus den Bundesstaaten Upper Nile und Unityzwischen April und Juni 2012 um über 50000an. Mit Beginn der Trockenzeit ab Novemberbegann ein weiterer Zustrom von Flüchtlingen.Bis zum Jahresende hatten über 180000Menschen in Südsudan Zuflucht gesucht.

Die meisten der 110000 Menschen, die imMai 2011 aus der umstrittenen Region Abyeigeflohen waren, nachdem die SAF die Stadt er-obert hatten, lebten noch immer als Vertrie-bene in Südsudan und waren von humanitärerHilfe abhängig. Von den saisonalen Über-schwemmungen war der Bundesstaat Jongleiam stärksten betroffen; 259000 Personenmussten deshalb ihre Wohnorte verlassen.

TodesstrafeMehr als 200 Gefangene befanden sich 2012 inTodeszellen. Mindestens zwei Männer wurdenam 28. August im Gefängnis von Juba und dreiMänner am 6. September im Gefängnis vonWau hingerichtet.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegationen von Amnesty International besuchten Süd-

sudan in den Monaten März / April und August / September.ÿ »We can run away from bombs, but not from hunger«:

Sudan’s refugees in South Sudan, http://www.amnesty.org/en/library/asset/AFR65/001/2012/en/107d41a7-50c9-4eb9-9fe7-59afb3ec63ff/afr650012012en.pdf

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Suriname 405

ÿ South Sudan: Overshadowed conflict – arms suppliesfuel violations in Mayom County, Unity State,http://www.amnesty.org/en/library/asset/AFR65/002/2012/en/67d8e84c-e990-42de-9a99-1486aab18b1d/afr650022012en.pdf

ÿ South Sudan: Lethal disarmament – abuses relatedto civilian disarmament in Pibor County, Jonglei State,http://www.amnesty.org/en/library/asset/AFR65/005/2012/en/a60e1cf6-168b-4fa2-a7ab-bd8167e964e7/afr650052012en.pdf

SurinameAmtliche Bezeichnung: Republik SurinameStaats- und Regierungschef:

Desiré Delano Bouterse

Eine Änderung des Amnestiegesetzesverhinderte den Gerichtsprozess gegenPräsident Desiré Delano »Dési« Bouterseund 24 weitere Personen. Sie wurdenbeschuldigt, die Verantwortung für dieaußergerichtlichen Hinrichtungen von15 politischen Gegnern im Jahr 1982 zutragen.

StraflosigkeitIm April 2012 verabschiedete die Nationalver-sammlung eine Änderung des Amnestiegeset-zes von 1992. Damit wurde die Gültigkeit diesesGesetzes auf den Zeitraum von April 1980 bisAugust 1992 ausgedehnt, sodass es auch inden Fällen der Folterungen und außergericht-lichen Hinrichtungen von 15 Gegnern der am-tierenden Militärregierung im Dezember 1982Anwendung findet. 25 Personen, darunter Prä-sident Bouterse, der damals die Militärregie-rung führte, waren im November 2007 wegendieser Tötungen vor ein Militärgericht gestelltworden.

Durch die Gesetzesänderung wird denjenigenAmnestie gewährt, die »im Zusammenhangmit der Verteidigung des Staates und/oder derAbwehr des Sturzes der rechtmäßigen Füh-rung Straftaten verübt /oder mutmaßlich verübthaben, wie sie sich im Dezember 1982 undwährend des Guerillakrieges ereignet haben«,um die »nationale Einheit und die weitere un-gestörte Entwicklung der Republik Suriname zufördern«.

Präsident Bouterse argumentierte, dass dasneue Amnestiegesetz zur Versöhnung desLandes beitragen werde. In den Monaten Aprilund Mai 2012 fanden in der Hauptstadt Para-maribo jedoch Demonstrationen statt, die sichgegen die Gewährung einer Amnestie für denPräsidenten und die anderen Mitangeklagtenrichteten. Zu der internationalen Kritik an demGesetz zählte die Erklärung der interamerikani-schen Menschenrechtskommission, dass»Gesetze, die darauf abzielen, dass schwereMenschenrechtsverletzungen straffrei blei-ben, mit den interamerikanischen Menschen-rechtsverpflichtungen unvereinbar sind«.Nach der Verabschiedung des Gesetzes rief dieniederländische Regierung im April ihren Bot-schafter zurück.

Am 11. Mai 2012 entschied das Militärgericht,den Prozess auszusetzen, bis eine Überprü-fung des Amnestiegesetzes durch das Verfas-sungsgericht möglich ist. Am 12. Dezemberbestätigte das Büro des Staatsanwalts dieseEntscheidung. Dies könnte jedoch eine län-gere Verzögerung nach sich ziehen, da die Ver-

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406 Swasiland

fassung von 1987 zwar die Einrichtung einesVerfassungsgerichts vorsieht, bis Ende 2012jedoch kein derartiges Gericht eingesetztwurde.

Im November 2012 erstattete die Jugendakti-vistin und Vorsitzende der Organisation Ju-gend gegen Amnestie, Sharona Lieuw On, An-zeige. Sie hatte per Post einen Brief erhalten,indem man ihr riet, den Protest gegen dasAmnestiegesetz einzustellen. In dem Briefum-schlag befand sich außerdem eine Gewehrku-gel. Aus Angst um ihre Sicherheit zog die Ak-tivistin ihre Anzeige später wieder zurück.

Amnesty International: Berichteÿ Suriname: Amnesty law may end current trial,

http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR48/001/2012

ÿ Suriname: Open Letter to the judiciary,http://195.234.175.160/en/library/info/AMR48/003/2012/en

SwasilandAmtliche Bezeichnung: Königreich SwasilandStaatsoberhaupt: König Mswati III.Regierungschef: Barnabas Sibusiso Dlamini

Die Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- und Versammlungsfrei-heit wurden weiterhin verletzt. Es kam zuwillkürlichen Festnahmen und zum Ein-satz exzessiver Gewalt bei der Nieder-schlagung von politischen Protesten.Folter und andere Misshandlungen ga-ben nach wie vor Anlass zur Sorge. Hin-sichtlich der Reform von Gesetzen, dieFrauen diskriminierten, konnten ge-wisse Fortschritte erzielt werden.

HintergrundDie finanzielle Lage der Regierung blieb 2012trotz der erhöhten Einkünfte aus der Zolluniondes Südlichen Afrika (Southern African Cus-toms Union – SACU) prekär. Die Bemühungen

der Regierung, aus verschiedenen Quellen Kre-dite zu erhalten, scheiterten. Dies war zum Teildarauf zurückzuführen, dass es der Regierungnicht gelang, Steuerreformen umzusetzen,und sie nicht dazu bereit war, Bedingungen derKreditgeber – wie die Durchführung politi-scher Reformen – zu akzeptieren. Der auf dieMitarbeiter des öffentlichen Dienstes, z. B.Lehrer, ausgeübte Druck führte zu lang andau-ernden Streiks. Politische Gruppierungen undzivilgesellschaftliche Organisationen fordertenerneut einen politischen Wandel. Das Unter-haus des Parlaments (House of Assembly)sprach der Regierung im Oktober erstmals dasMisstrauen aus.

Gesetzliche, verfassungsrechtlicheund institutionelle EntwicklungenDer auch 2012 ausgeübte Druck auf die Unab-hängigkeit der Rechtsprechung schränkte denZugang zur Justiz ein.

Im März wurde Swasilands Menschenrechts-bilanz im Rahmen der Universellen Regelmä-ßigen Überprüfung durch den UN-Menschen-rechtsrat begutachtet. Swasiland verwarf er-neut die Empfehlungen des UN-Menschen-rechtsrats, politische Parteien an Wahlen teil-nehmen zu lassen. Die Regierung versprach,das Zusatzprotokoll zum UN-Übereinkommen

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gegen Folter zu ratifizieren, hat diese Zusageaber bis zum Jahresende nicht erfüllt.

Im Mai nahm die Afrikanische Kommissionfür Menschenrechte und die Rechte der Völkereine Resolution an, in der größte Besorgnis da-rüber geäußert wurde, dass die Regierung Swa-silands die Entscheidung der Kommission ausdem Jahr 2002 und die von ihr im Jahr 2006ausgesprochenen Empfehlungen bezüglich derRechte auf freie Meinungsäußerung, Vereini-gungs- und Versammlungsfreiheit noch immernicht umgesetzt hatte. Außerdem wurde in derEntschließung Sorge über das Verbot des Ge-werkschaftsdachverbands Trade Union Con-gress of Swaziland (TUCOSWA) ausgedrückt.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Rechte auf freie Meinungsäußerung undVersammlungsfreiheit sowie das Recht auffriedliche Versammlung wurden weiterhin ver-letzt. So setzte die Polizei Gummigeschosse,Tränengas und Schlagstöcke ein, um als illegalangesehene Demonstrationen und Zusam-menkünfte aufzulösen.ý Im März 2012 fand vor dem Hohen Gericht(High Court) eine Anhörung statt, bei der dieBeklagten ihre Argumentation gegen das we-gen Missachtung der Gerichte gegen die Ver-lagsgruppe Swaziland Independent Publishersund den Herausgeber der Zeitung The Nationangestrengte Verfahren vortrugen. Vor Gerichtwurde argumentiert, dass die Rechte auf einfaires Gerichtsverfahren und das Recht auf freieMeinungsäußerung verletzt würden. Das Ver-fahren sei folglich ungesetzlich und verfas-sungswidrig. Der Prozess wurde aufgrund derVeröffentlichung von zwei Artikeln anberaumt,in denen die Justiz aufgefordert wurde, dieVerfassung zu nutzen, um das Leben der Men-schen zu verbessern. Außerdem wurden darinBedenken hinsichtlich der Absichten des da-mals amtierenden Obersten Richters geäu-ßert. Der Generalstaatsanwalt, der gleichzeitigRechtsberater des Staatsoberhaupts ist, hatteKlage wegen Missachtung des Gerichts erho-ben, obwohl sein Amt nicht für die strafrecht-liche Verfolgung zuständig ist. Das Gericht hattebis Ende 2012 noch kein Urteil gefällt.

ý Im April 2012 informierte der Generalstaats-anwalt den GewerkschaftsdachverbandTUCOSWA einen Tag vor geplanten Demonstra-tionen, an denen TUCOSWA sich beteiligenwollte, dass die Registrierung des Gewerk-schaftsdachverbands ungesetzlich sei, obwohlder für Arbeitsfragen zuständige Regierungsbe-amte die Registrierung nach dem Gesetz überArbeitsbeziehungen bestätigt hatte. WährendFunktionäre von TUCOSWA die Aufhebung derRegistrierung vor Gericht noch anfochten, löstedie Polizei die Zusammenkünfte der Gewerk-schaft auf, konfiszierte Transparente mit demTUCOSWA-Emblem, nahm willkürliche Fest-nahmen vor und bedrohte Funktionäre und Mit-glieder der Gewerkschaft. Mindestens eineAktivistin, die Rechtsanwältin Mary Pais daSilva, wurde im Gewahrsam tätlich angegrif-fen.

Folter und andere Misshandlungensowie unfaire GerichtsverfahrenFolter und andere Misshandlungen gaben wei-terhin Anlass zu Besorgnis. Im April forderteein Richter des Hohen Gerichts, dass ein Unter-suchungsausschuss die wiederholt von Ange-klagten in Strafprozessen vorgebrachten An-schuldigungen überprüfen sollte, wonach sieu. a. mit Schlägen und Erstickungsversuchengefoltert worden seien. Sorge bereiteten nachwie vor ungeklärte Todesfälle. Weder führtendie Behörden unabhängige Untersuchungendieser Todesfälle durch noch wurden die Schul-digen zur Rechenschaft gezogen. Die Polizeiund Angehörige des Militärs wurden mit dengemeldeten Vorfällen in Verbindung gebracht.ý Im Februar 2012 kamen Maxwell Dlamini,Präsident der Nationalen Studentenvereini-gung (National Union of Students), und derehemalige Studentenführer Musa Ngubeninach zehnmonatiger Untersuchungshaft unterstrengen Kautionsauflagen frei.ý Am 12. März 2012 traktierten Soldaten den43-jährigen Lucky Montero an einem Grenz-übergang mit Tritten und Schlägen an Kopf undKörper. Er starb zwölf Tage später im staat-lichen Krankenhaus Mbabane GovernmentHospital an den Folgen seiner Verletzungen.

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408 Syrien

ý Im August 2012 befand das Hohe Gerichtden südafrikanischen StaatsangehörigenAmos Mbedze wegen Mordes an zwei Männernfür schuldig, die im Jahr 2008 durch eineAutobombe ums Leben gekommen waren. Siehatten in dem betreffenden Fahrzeug ge-sessen. Amos Mbedze wurde beschuldigt, zu-sammen mit diesen Männern ein Komplottgeschmiedet zu haben, um die Sicherheit desStaats zu unterminieren. Er wurde zu einer Ge-fängnisstrafe von 85 Jahren verurteilt. DerVorfall, der sich in der Nähe des Königspalas-tes ereignet hatte, war Anlass für den über-eilten Erlass des Gesetzes zur Terrorbekämp-fung (Suppression of Terrorism Act – STA) ge-wesen. Während des Verfahrens wurden kei-nerlei Beweise vorgelegt, die die Mordanklagestützten.

TodesstrafeIm November 2012 wies das Oberste Beru-fungsgericht (Supreme Court of Appeal) dasvon David Simelane gegen sein Todesurteil ein-gelegte Rechtsmittel zurück. Er war im Jahr2011 wegen der Ermordung von mindestens 28Frauen nach einem zehn Jahre dauerndenProzess zum Tode verurteilt worden. Ebenfallsim November verurteilte das Hohe GerichtMciniseli Jomo Simelane zum Tode.

FrauenrechteIm März 2012 gab Swasiland im Rahmen derUniversellen Regelmäßigen Überprüfungdurch den UN-Menschenrechtsrat die Zusage,»unverzüglich« Änderungen an Gesetzen vor-zunehmen, die Frauen diskriminierten.

Im Juni wurde die Änderung zum Grund-buchgesetz (Deeds Registry Act) vom Parla-ment verabschiedet. Hierdurch wurde eineBestimmung im ursprünglichen Gesetz neugefasst, die es den meisten der nach Zivilrechtverheirateten Frauen nicht erlaubt hatte, Woh-nungen unter ihrem eigenen Namen ins Grund-buch eintragen zu lassen.

Der Gesetzentwurf über Sexualstraftaten undGewalt in der Familie (Sexual Offences andDomestic Violence Bill) war dem Senat bis Ende2012 noch nicht vorgelegt worden, obwohl er

vom Unterhaus des Parlaments bereits im Ok-tober 2011 gebilligt worden war.

Im September bestätigte der König das Gesetzzum Kinderschutz und Kindeswohl (Children’sProtection and Welfare Act). Das neue Gesetzgewährt Mädchen und jungen Frauen einenbesseren Schutz vor Zwangsverheiratung. DieOrganisation Swaziland Action Group AgainstAbuse drückte öffentlich ihre große Sorge darü-ber aus, dass ein ranghoher Beamter, der denKönig in Fragen traditioneller Gesetze undBräuche berät, angekündigt hatte, er strebeeine gerichtlich angeordnete Revision des Ge-setzes an.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Swasiland

in den Monaten März und November.ÿ Amnesty International urges Swaziland to take concrete and

immediate measures to guarantee the independence andimpartiality of the judiciary, and to amend laws whichdiscriminate against women without delay,http://www.amnesty.org/fr/library/asset/AFR55/001/2012/fr/dbe97ebf-599f-49f6-86ca-77cbc7a3ea4d/afr550012012en.html

SyrienAmtliche Bezeichnung: Arabische Republik SyrienStaatsoberhaupt: Bashar al-AssadRegierungschef: Wa’el al-Halqi (löste im August

Omar Ibrahim Ghalawanji im Amt ab, der es imAugust von Riyad Farid Hijab übernommen hatte;Letzterer hatte im Juni Adel Safar im Amtabgelöst)

Der interne bewaffnete Konflikt zwischenRegierungskräften und der Opposition,die sich aus der Freien Syrischen Armee(FSA) und anderen bewaffneten opposi-tionellen Gruppen zusammensetzt, wargeprägt von schweren Menschenrechts-verstößen, Kriegsverbrechen und Verbre-chen gegen die Menschlichkeit. Für

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Syrien 409

einen Großteil dieser Menschenrechts-verletzungen zeichneten die Regie-rungskräfte verantwortlich. Sie führtenwahllose Angriffe auf bewohnte Gebietedurch und setzen dabei Flugzeuge, Artil-leriegeschosse, Granatwerfer, Brand-und Streubomben ein. Zusammen mitverbündeten Milizen nahmen die Regie-rungskräfte Tausende von Menschen inGewahrsam, darunter auch Kinder. VielePersonen wurden Opfer des Verschwin-denlassens. Folter und andere Miss-handlungen von Häftlingen waren an derTagesordnung. Mindestens 550 Gefan-gene kamen Berichten zufolge in derHaft ums Leben, viele davon als Folgevon Folter. Andere fielen außergericht-lichen Hinrichtungen zum Opfer.Scharfschützen der Sicherheitskräfteschossen weiterhin auf Menschen, diefriedlich gegen die Regierung demons-trierten, sowie auf Teilnehmer an öffent-lichen Beisetzungen. Medizinisches Per-sonal, das Verletzte versorgte, geriet insVisier der Sicherheitskräfte. Es herrschteein Klima der Straflosigkeit für schwereMenschenrechtsverletzungen, die in derGegenwart und Vergangenheit begangenwurden. Auch die bewaffneten Gruppen,die gegen die Regierung kämpften, be-gingen schwere Menschenrechtsverstößesowie Kriegsverbrechen. Sie foltertenRegierungssoldaten und Angehörige der

Milizen und/oder richteten sie nachihrer Festnahme summarisch hin. Außer-dem führten sie wahllos Bombenan-schläge durch, bei denen Zivilpersonengetötet oder verletzt wurden. Hundert-tausende Menschen flohen aus ihrenWohnungen. Nach Schätzungen derVereinten Nationen galten 2012 über 2Mio. Menschen als Binnenflüchtlingeund fristeten in Syrien ein Leben in bit-terer Not. Fast 600000 Menschen seienseit Beginn des Konflikts in die Nachbar-länder geflüchtet, wo die Bedingungenoft ebenfalls hart seien. Es lagen keinebestätigten Informationen darüber vor,ob im Berichtsjahr Todesurteile verhängtoder vollstreckt wurden.

HintergrundDer interne bewaffnete Konflikt weitete sich2012 auf einen Großteil des syrischen Staats-gebiets aus und forderte Tausende Todesopferunter der Zivilbevölkerung. Wahllose Luftan-griffe, Artilleriebeschuss, Angriffe mit Granat-werfern, Bombenanschläge, außergerichtlicheHinrichtungen und summarische Tötungen,Drohungen, Entführungen und Geiselnahmenwaren an der Tagesordnung.

Im Januar 2012 setzte die Arabische Liga ihreMission zur Überprüfung der Umsetzung derVersprechen der syrischen Regierung aus. Lautdieser Versprechen sollten die Streitkräfte ausden Städten abgezogen, der Gewalt ein Endegesetzt und Gefangene freigelassen werden.In ähnlicher Weise endete im August wegen an-haltender bewaffneter Gewalt auch die imApril eingesetzte UN-Beobachtermission in Sy-rien (UN Supervision Mission in Syria). DieMission sollte die Umsetzung eines Plans über-wachen und unterstützen, der von Kofi Annan,dem gemeinsamen Sondergesandten der Ver-einten Nationen und der Arabischen Liga,ausgearbeitet worden war. Russland und Chinalegten zweimal im UN-Sicherheitsrat ihr Vetogegen einen Resolutionsentwurf zur Lage in Sy-rien ein. Der ehemalige algerische DiplomatLakhdar Brahimi löste Kofi Annan im Augustab, konnte aber bis Ende 2012 keine allgemein

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410 Syrien

anerkannte politische Lösung des Konfliktes er-reichen.

Im Februar 2012 hielt die Regierung eineVolksabstimmung über die neue Verfassungab. Obwohl die Verfassung das jahrelangeMachtmonopol der Ba’ath-Partei beendete,wurde den Forderungen der Opposition nachweitreichenden politischen Reformen nichtRechnung getragen. 90 Tage später fandenParlamentswahlen statt.

Die Regierung machte nach wie vor nicht nä-her bestimmte »bewaffnete Banden« für dieTötung von Demonstrierenden verantwortlichund verabschiedete im Juli ein neues Antiter-ror-Gesetz, das bei Festnahmen und unfairenProzessen gegen politische Aktivisten Anwen-dung fand. Die vage formulierten Anklagen lau-teten auf »terroristische Handlungen«, unddie Verfahren fanden vor dem neuen Antiterror-Gerichtshof statt, der im September seine Ar-beit aufnahm.

Am 18. Juli 2012 kamen bei einem Bomben-anschlag in der Hauptstadt Damaskus derVerteidigungsminister und sein Stellvertreter,der stellvertretende Vizepräsident und der Lei-ter des Nationalen Sicherheitsdienstes ums Le-ben. Die FSA bekannte sich zu dem Attentat.Zwei Tage später begannen bewaffnete opposi-tionelle Gruppen eine Offensive. Damit weitetesich der bewaffnete Konflikt auf Aleppo, Da-maskus und andere Landesteile aus.

Im September 2012 erweiterte der UN-Men-schenrechtsrat das Mandat der unabhängigeninternationalen Untersuchungskommission, dieim Jahr 2011 berufen worden war. Die Kom-mission kam im Februar und August zu demSchluss, dass die Regierungskräfte Verbre-chen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbre-chen und schwerwiegende Menschenrechts-verletzungen begangen hätten. Die Kriegsver-brechen, die von den bewaffneten oppositio-nellen Gruppen begangen worden seien, hättennicht die »Schwere, Häufigkeit und das Aus-maß« der durch die Regierungskräfte verübtenVerstöße erreicht. Die Behörden verweigertensowohl dem UN-Menschenrechtsrat als auchder Untersuchungskommission weiterhin dieEinreise ins Land. Die Einreise von Medienver-

tretern und unabhängigen Menschenrechtsor-ganisationen unterlag ebenfalls Einschränkun-gen. Dennoch verschafften sich diese Zugangzu manchen Gebieten, darunter solchen, dievon bewaffneten oppositionellen Gruppenkontrolliert wurden.

Im Januar und Oktober 2012 kündigte die Re-gierung jeweils Generalamnestien an. Wieviele der willkürlich inhaftierten Gefangenen tat-sächlich freigelassen wurden, blieb allerdingsunklar.

Im November schlossen sich verschiedeneOppositionsgruppen zur Nationalen Koalitionder syrischen revolutionären und oppositionel-len Kräfte zusammen. Die Vereinigung wurdenach und nach auf internationaler Ebene alsdie einzig rechtmäßige Vertretung des syri-schen Volkes anerkannt.

Die USA und die Arabische Liga hielten ihreSanktionen gegen Syrien aufrecht und forder-ten Präsident Bashar al-Assad wiederholt auf,die Macht abzugeben. Die Europäische Unionweitete ihre gezielten Sanktionen gegen die sy-rische Führungsriege aus.

Verstöße gegen das VölkerrechtRegierungskräfte und mit ihnen verbündete Mi-lizen verübten Kriegsverbrechen bei ihremStreifzug durch Großstädte, Städte und Dörfer,die als Hochburgen der Opposition gelten,z. B. in den Provinzen Homs, Idlib, Hama, Da-maskus und Aleppo. Sie führten wahllose An-griffe durch, bei denen Tausende Zivilisten umsLeben kamen oder Verletzungen erlitten. Vieleder Todesfälle waren zu beklagen, weil die Re-gierungskräfte ungenaue Kriegswaffen in un-zulässiger Weise in dicht besiedelten zivilen Ge-bieten einsetzten. Sie warfen ungesteuerteBomben wahllos aus Flugzeugen ab. Sicher-heitskräfte feuerten Granaten, Artilleriege-schosse, Brandbomben und Raketen aufWohngebiete ab. Zudem wurden internationalgeächtete Waffen wie Anti-Personen-Minenund Streubomben eingesetzt. Es kam zu sys-tematischen Plünderungen, Verwüstungen undzur Brandschatzung von zivilem Eigentum.Berichten zufolge wurden auch die Leichen ge-töteter Gegner verbrannt.

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ý Hassan und Rayan al-Bajri, elf und achtJahre alt, ihre Mutter Salha und ihr Vater Naa-san kamen zusammen mit zwei ihrer Nachbarnim Juli 2012 ums Leben, als ihr Haus inMa’arat al-No’man von einer Granate getroffenwurde, die von Regierungskräften abgefeuertworden war.ý 22 Zivilpersonen wurden getötet und vieleweitere verletzt, als Regierungskräfte am28. August 2012 einen Markt im Dorf Kafr Anbelaus der Luft angriffen. Unter den Opfern be-fanden sich auch die neunfache Mutter FatiyaFares Ali al-Sheikh sowie die Teenager Moha-med und Jumaa al-Sweid.

Verstöße durch bewaffneteoppositionelle GruppenBewaffnete Gruppen, die gegen die Regierungkämpften, darunter auch Gruppierungen mitVerbindungen zur FSA, verübten schwere Ver-stöße gegen das humanitäre Völkerrecht, dieKriegsverbrechen gleichkamen. Die Opfer wa-ren meist bekannte oder mutmaßliche Ange-hörige der Regierungskräfte oder der Milizen.Sie wurden nach ihrer Festnahme gefoltertoder nach unfairen »Prozessen« vor provisori-schen Gerichten summarisch getötet. AuchJournalisten regierungsnaher Medien und dieFamilien mutmaßlicher Angehöriger regie-rungstreuer Milizen gerieten ins Visier. Bewaff-nete Gruppen bedrohten und entführten Zivil-personen und forderten manchmal Lösegeldfür deren Freilassung. In einigen Fällen wur-den Personen als Geiseln festgehalten, darun-ter gefangen genommene Soldaten sowie liba-nesische und iranische Staatsangehörige. Diebewaffneten Gruppen verübten Selbstmordat-tentate und Bombenanschläge, feuerten vonZeit zu Zeit ungenaue Waffen wie Artilleriege-schosse oder Granaten auf dicht besiedelteStadtviertel ab, setzten unterschiedslose Waf-fen wie Anti-Personen-Landminen ein und be-arbeiteten oder lagerten Munition und Spreng-stoff in Wohnhäusern und brachten damit dieBewohner in große Gefahr. Kinder wurden alsmilitärische Hilfskräfte eingesetzt, allerdingsmeist nicht bei Kampfhandlungen. Ende 2012bedrohten bewaffnete oppositionelle Gruppen

Berichten zufolge zunehmend Gemeinschaf-ten von Minderheiten, von denen sie annah-men, sie seien regierungstreu.ý Neun der elf schiitischen Libanesen, die am22. Mai während ihrer Reise vom Iran in denLibanon von der bewaffneten 'Asifat al-Shimal-Brigade als Geiseln genommen worden waren,befanden sich Ende 2012 immer noch in Ge-wahrsam.ý Nach heftigen Zusammenstößen nahm dieal-Tawhid-Brigade am 31. Juli 2012 14 Ange-hörige des regierungstreuen sunnitischen al-Berri-Clans gefangen. Ein Video zeigte, wie diegefangenen Männer gefoltert wurden. Kurz da-rauf erschossen die Brigaden mindestens dreider Männer, darunter den Anführer des Clans,Ali Zein al-’Abdeen al-Berri. Der Leiter derPresseabteilung der FSA verurteilte die Tötun-gen und kündigte eine Untersuchung an, diebisher dem Vernehmen nach noch nicht einge-leitet wurde.

Recht auf freie Meinungsäußerung –Übergriffe auf JournalistenJournalisten sahen sich von allen Seiten be-droht. Die syrischen Regierungskräfte atta-ckierten auch Aktivisten, die über Ereignisse imLand berichteten. Mindestens elf von ihnenfielen offensichtlich geplanten Angriffen zumOpfer, andere wurden festgenommen oder alsGeiseln genommen. Weitere Journalisten star-ben durch wahllosen Beschuss oder imKreuzfeuer.ý Die US-Journalistin Marie Colvin und derfranzösische Fotograf Remi Ochlik starben, alsRegierungskräfte am 22. Februar 2012 ein Ge-bäude in Homs beschossen. ÜberlebendeJournalisten vermuteten, das Gebäude sei mitAbsicht angegriffen worden, weil es als Me-dienzentrum genutzt wurde. Der syrische Akti-vist Rami al-Sayed, der aus Homs berichtete,erlag am selben Tag seinen Verletzungen durchGranatsplitter.ý Der syrische Korrespondent Maya Nasser,der für den iranischen Fernsehsender PressTV arbeitete, soll am 26. September 2012 vonScharfschützen der Opposition erschossenworden sein, als er über einen Bombenan-

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schlag auf das Hauptquartier der Streitkräftein Damaskus berichtete. Sein Kollege HusseinMortada vom iranischen Nachrichtensenderal-Alam erlitt bei dem Angriff Verletzungen.Beide Männer hatten im Vorfeld Drohungenvonseiten der oppositionellen Kräfte erhalten.ý Ali Mahmoud Othman, ein Aktivist im Me-dienzentrum von Homs, wurde am 24. März2012 in seinem Haus festgenommen. Obwohler im April im Staatsfernsehen zu sehen war,gelang es seiner Familie bis Ende 2012 nicht,von staatlicher Seite Auskunft über seinenAufenthaltsort zu erhalten.ý Mazen Darwish, der Leiter des SyrischenZentrums für Medien und Meinungsfreiheit(Syrian Center for Media and Freedom of Ex-pression – SCM), sowie vier weitere Mitarbeiterdes SCM – Abd al-Rahman Hamada, HusseinGharir, Mansour al-Omari und Hani al-Zitani –wurden nach ihrer Festnahme durch Beamtedes Geheimdienstes der Luftwaffe am 16. Fe-bruar in Damaskus ohne Kontakt zur Außenweltin Haft gehalten. Ende 2012 befanden sie sichnoch immer in Gewahrsam. Elf weitere Perso-nen, die zur gleichen Zeit festgenommen wor-den waren, kamen frei; allerdings wurden sie-ben von ihnen später von einem Militärgerichtwegen »Besitzes von verbotenem Material mitder Absicht, es zu verbreiten« für schuldig be-funden.

Außergerichtliche Hinrichtungendurch Regierungskräfteund verbündete MilizenRegierungskräfte und die an ihrer Seite operie-renden Milizen drangen mit Militärgewalt inGebiete ein, deren Bewohner mutmaßlich dieOpposition unterstützten, und richteten gefan-gen genommene Kämpfer und Zivilisten oft ingroßer Anzahl hin. Häufig wurden die Totenmit auf dem Rücken gefesselten Händen ge-funden. Sie wiesen mehrere Schusswundenam Oberkörper auf, und manche von ihnen wa-ren verbrannt worden.ý Am 23. März 2012 zerrten Soldaten der Re-gierung drei Brüder – die zwischen 20 und 30Jahre alten Bauarbeiter Yousef, Bilal und TalalHaj Hussein – aus ihrem Haus in Sarmin,

einem Vorort von Idlib, und erschossen sie vorden Augen ihrer Mutter und ihrer Schwestern.Danach steckten sie die Leichen in Brand.ý Zahlreiche Menschen, darunter viele Zivilper-sonen, die sich nicht an Kampfhandlungenbeteiligt hatten, wurden am 25. Mai 2012 wäh-rend eines militärischen Übergriffs auf dasDorf Houla in der Nähe von Homs summarischhingerichtet. Obwohl die syrische Regierungdiese Vorwürfe zurückwies, kam die unabhän-gige internationale Untersuchungskommis-sion der Vereinten Nationen zu dem Schluss,dass »über 100 Zivilpersonen, fast die Hälftedavon Kinder« von Regierungssoldaten undverbündeten Milizen getötet wurden.

Einsatz unverhältnismäßiger Gewaltdurch Regierungskräfteund verbündete MilizenRegierungskräfte und Milizen wandten regel-mäßig tödliche und unverhältnismäßige Ge-walt an, um friedliche Proteste für den »Sturzdes Regimes« niederzuschlagen. HunderteMenschen, darunter auch Kinder und Passan-ten, von denen keine Gefahr für die Sicher-heitskräfte oder andere Personen ausging, wur-den von Scharfschützen der Regierung wäh-rend Protestaktionen und öffentlichen Beiset-zungen von »Märtyrern« erschossen oder ver-wundet. Die Behörden zwangen einige Familiender Opfer zur Unterzeichnung von Dokumen-ten, mit denen sie die Regierungskräfte entlas-teten und bewaffneten terroristischen Grup-pen die Schuld für den Tod ihrer Angehörigengaben.ý Mohammed Haffar besaß einen Süßwarenla-den in Aleppo. Er stand am 17. Mai 2012 vorseinem Geschäft und wurde erschossen, alsRegierungskräfte das Feuer auf einen De-monstrationszug eröffneten.ý Mo’az Lababidi, ein 16-jähriger Schüler, wareine von zehn Personen, die am 25. Mai 2012von Sicherheitskräften und Milizionären in Zivilerschossen wurden. Er wurde vor einer Poli-zeistation in Aleppo getötet, als er sich an einemTrauerzug für vier Demonstrierende beteiligte,die am selben Morgen ebenfalls erschossenworden waren.

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Angriffe auf Verletzteund medizinisches PersonalRegierungskräfte und Milizen machten Jagdauf verletzte Zivilpersonen und Kämpfer derOpposition. Einige von ihnen wurden in staat-lichen Krankenhäusern misshandelt. Regie-rungskräfte griffen auch provisorische Gesund-heitseinrichtungen an, die von der Oppositionerrichtet worden waren, um Verwundeten zuhelfen. Die freiwillig dort arbeitenden Ärzte,das Pflegepersonal und die Sanitäter gerietenebenfalls ins Visier der Behörden.ý Am 24. Juni 2012 wurden in Aleppo die ver-brannten und verstümmelten Leichen der Stu-denten Basel Aslan, Mus’ab Barad und HazemBatikh entdeckt. Die drei Männer, die einemmedizinischen Netzwerk zur Behandlung ver-letzter Protestierender angehörten, waren eineWoche zuvor von Angehörigen des Geheim-dienstes der Luftwaffe festgenommen worden.Basel Aslans Hände waren auf seinem Rückengefesselt. Er war gefoltert worden und hatteKopfschüsse erlitten.ý Osama al-Habaly soll am 18. August 2012vom syrischen Militärgeheimdienst an der sy-risch-libanesischen Grenze festgenommenworden sein. Er befand sich auf der Heim-reise, nachdem er im Libanon ärztlich behan-delt worden war. Seiner Familie wurde mitge-teilt, er sei gefoltert worden. Weitere offizielleAuskünfte über sein Schicksal konnten dieAngehörigen nicht bekommen.

Unterdrückung AndersdenkenderDie Regierung schränkte die Rechte auf freieMeinungsäußerung sowie auf Versammlungs-und Vereinigungsfreiheit weiterhin stark ein.Regierungskräfte und Angehörige von Milizennahmen Tausende Menschen bei Demonstra-tionen, Razzien in Wohnungen und Durchsu-chungen von Haus zu Haus während militäri-scher Aktionen fest. Hunderte, wenn nichtTausende Menschen wurden ohne Kontakt zurAußenwelt unter Bedingungen festgehalten,die dem Verschwindenlassen gleichkommen.Sie wurden teilweise in geheimen oder be-helfsmäßigen Hafteinrichtungen festgehalten,wo Folter und andere Misshandlungen an der

Tagesordnung waren. Die Verantwortlichengingen dabei straffrei aus. Unter den Häftlin-gen befanden sich politische Aktivisten undMenschenrechtsverteidiger, Journalisten,Blogger, Mitarbeiter von Hilfsorganisationenund Imame. Einige von ihnen wurden in un-fairen Gerichtsverfahren schuldig gesprochenund verurteilt. Die Verfahren fanden auch vorMilitärgerichten oder Sondergerichtshöfenstatt.ý Der prominente Menschenrechtsanwalt Kha-lil Ma’touq und sein Freund MohammedThatha »verschwanden« am 2. Oktober 2012,nachdem sie an einem der Kontrollpunkte derSicherheitskräfte in Damaskus angehalten wor-den waren. Ihren Familien wurde mitgeteilt,sie befänden sich ohne Kontakt zur Außenweltin einem Haftzentrum des Staatssicherheits-dienstes in Damaskus.ý Vier Frauen – Ru’a Ja’far, Rima Dali und dieSchwestern Kinda al-Za’our und Lubna al-Za’our – wurden nach ihrer Festnahme durchdie Sicherheitskräfte sieben Wochen langohne Kontakt zur Außenwelt festgehalten. Am21. November 2012 waren sie als Bräute ge-kleidet durch die Straßen von Damaskus gezo-gen und hatten ein Ende der Gewalt in Syriengefordert.

Folter und andere MisshandlungenFolter und andere Misshandlungen von Häftlin-gen, darunter auch Kinder, durch Regie-rungskräfte und verbündete Milizen waren weitverbreitet und blieben straffrei. Die Sicher-heitskräfte wollten auf diese Weise Informatio-nen erhalten, »Geständnisse« erpressen undmutmaßliche Regierungsgegner drangsalierenund bestrafen. Die am häufigsten genanntenFoltermethoden waren schwere Prügel, dasAufhängen an den Gliedmaßen, das Einspan-nen in einen Autoreifen, das Verabreichen vonElektroschocks sowie Vergewaltigung und an-derer sexueller Missbrauch. Die Gefangenenmussten häufig in völlig überfüllten und unhy-gienischen Zellen ausharren. Die notwendigemedizinische Betreuung wurde ihnen oft ver-weigert oder sie wurden sogar vom medizini-schen Personal misshandelt.

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ý Der palästinensische Journalist und jordani-sche Staatsbürger Salameh Kaileh wurde am24. April 2012 aufgrund eines Austauschs aufFacebook und wegen Besitzes einer linksori-entierten Informationsschrift in seinem Haus inDamaskus festgenommen und anschließendvon Angehörigen des Geheimdienstes der Luft-waffe gefoltert. Die Beamten schlugen miteiner Peitsche auf seine Fußsohlen ein und be-leidigten ihn. Am 3. Mai wurde er in ein Militär-krankenhaus verlegt, wo er und weitere Gefan-gene geschlagen und verhöhnt wurden. Erdurfte nicht zur Toilette gehen und bekam keineMedikamente. Am 14. Mai wurde er nach Jor-danien abgeschoben.

Auch die bewaffneten oppositionellen Grup-pen folterten oder misshandelten gefangengenommene Angehörige der Sicherheitskräftesowie Anhänger der Regierung.

Todesfälle in GewahrsamMindestens 550 Menschen, darunter auch Kin-der, kamen Berichten zufolge 2012 in der Haftums Leben. In vielen Fällen deuteten die ver-fügbaren Beweise auf Folter und andere Miss-handlungen als Todesursache hin. Viele der Ge-töteten waren mutmaßliche Gegner der Regie-rung. Keiner der Täter wurde wegen des Todesder Gefangenen zur Rechenschaft gezogen.ý Die Brüder Ahmad und Yahia Ka’ake wurdenam 29. September 2012 an einem Kontroll-punkt der Armee in der Nähe von Aleppo fest-genommen. Tage später entdeckte ein Ver-wandter den Leichnam von Ahmad Ka’ake ineiner Leichenhalle. Der Tote wies vier Schuss-verletzungen auf. Yahia Ka’ake wurde Ende2012 immer noch ohne Kontakt zur Außenweltgefangen gehalten.

Fälle von VerschwindenlassenRegierungskräfte gaben keine Auskunft überdas Schicksal von Hunderten, wenn nicht Tau-senden Menschen, die im Zusammenhang mitdem bewaffneten Konflikt unter Bedingungenfestgehalten wurden, die dem Verschwinden-lassen gleichkommen. Die Behörden machtenauch weiterhin keine Angaben über den Ver-bleib von rund 17000 Menschen, die seit Ende

der 1970er Jahre in syrischem Gewahrsam»verschwunden« sind. Unter ihnen befandensich Hunderte Palästinenser und libanesischeStaatsangehörige, die entweder in Syrien fest-genommen oder aber von syrischen Sicher-heitskräften oder libanesischen und palästi-nensischen Milizen aus dem Libanon nach Sy-rien entführt worden waren. Die Freilassungdes Libanesen Yacoub Chamoun fast 27 Jahrenach seinem »Verschwinden« nährte unterden Familien mancher Opfer allerdings dieHoffnung, dass ihre Angehörigen noch am Le-ben sein könnten.ý Die Aktivistin Zilal Ibrahim al-Salhani »ver-schwand«, nachdem sie am 28. Juli in ihremHaus in Aleppo von Sicherheitskräften festge-nommen worden war. Ende 2012 blieb ihrSchicksal weiter im Dunkeln.

StraflosigkeitDie Regierung unternahm keine Schritte, umdie zahlreichen Vorwürfe gegen die Sicher-heitskräfte aufzuklären und die Verantwort-lichen für schwere Menschenrechtsverletzun-gen, Verbrechen gegen die Menschlichkeitoder Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zuziehen. Es herrschte weiterhin ein Klima derStraflosigkeit, noch verschärft durch ein Ge-setz, das den Angehörigen der Sicherheits-kräfte strafrechtliche Immunität bei rechtswid-rigen Tötungen, Folter, Verschwindenlassenund anderen Menschenrechtsverletzungengarantiert. Es wurden auch keinerlei Schritteunternommen, um die schweren Menschen-rechtsverletzungen der vergangenen Jahre zuuntersuchen und die Verantwortlichen vor Ge-richt zu stellen. Das Schicksal Tausender Men-schen, die dem Verschwindenlassen zum Op-fer gefallen waren, blieb weiterhin ungeklärt.Die Behörden gaben auch weiterhin keineAuskunft über die Gefangenen, die im Juli 2008im Sednaya-Militärgefängnis und im Juni 1980im Tadmur-Gefängnis getötet worden waren. ImFebruar überreichte die unabhängige interna-tionale Untersuchungskommission der Verein-ten Nationen der UN-Hochkommissarin fürMenschenrechte eine versiegelte Liste mit denNamen hochrangiger Regierungsbeamter, ge-

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gen die wegen Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit ein Untersuchungsverfahren eingelei-tet werden sollte.

Bewaffnete oppositionelle Gruppen verstießenebenfalls gegen das humanitäre Völkerrecht.Unter anderem schritten sie nicht gegenKriegsverbrechen wie Folter und summarischeTötungen von Kriegsgefangenen ein.

Flüchtlinge und BinnenflüchtlingeDie Regierungskräfte führten häufig wahlloseLuftangriffe auf Gebiete durch, die von der Op-position kontrolliert wurden. Dies veranlasstefast alle Anwohner, aus diesen Gebieten zufliehen. Andere, vor allem Angehörige von Min-derheiten, flohen ebenfalls aus ihren Wohnun-gen, da sie Übergriffe durch bewaffnete opposi-tionelle Gruppen befürchteten. Viele Men-schen kampierten auf dem Land oder suchtenZuflucht in Höhlen. Manche zogen zu ihrenVerwandten oder verließen das Land. Für in Sy-rien ansässige Flüchtlinge aus anderen Län-dern, u. a. für die palästinensischen Flücht-linge, war es besonders schwer, sich in Sicher-heit zu bringen.

Im Dezember 2012 schätzten die VereintenNationen, dass über 2 Mio. Menschen infolgedes Konflikts als Binnenflüchtlinge galten undhumanitäre Hilfe in Anspruch nehmen muss-ten. Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge(UNHCR) teilte mit, dass bereits fast 600000Syrer in der Türkei, in Jordanien, dem Libanon,im Irak und in Nordafrika als Flüchtlinge regis-triert worden seien oder auf ihre Registrierungals Flüchtlinge warteten. Die genaue Zahl deraus Syrien geflohenen Menschen liegt wahr-scheinlich noch sehr viel höher. Die Nachbar-länder gewährten Tausenden Flüchtlingen ausSyrien Sicherheit und Unterstützung auf ihremStaatsgebiet. Mitte August beschränkten dieTürkei und der Irak allerdings die Einreise, waseinem Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt.Zum Ende des Jahres lebten Tausende Men-schen unter sehr schlechten Bedingungen inLagern entlang der türkischen Grenze.

TodesstrafeDie Todesstrafe blieb 2012 weiterhin in Kraft. Eslagen jedoch keine bestätigten Informationendarüber vor, ob Todesurteile verhängt oder voll-streckt wurden.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International reisten 2012 mehrfach

nach Syrien und in die benachbarten Länder, um sich einBild von der Menschenrechtssituation in Syrien zu machen.

ÿ »I wanted to die«: Syria’s torture survivors speak out,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE24/016/2012/en

ÿ Deadly reprisals: Deliberate killings and other abuses by Sy-ria’s armed forces, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE24/041/2012/en

ÿ All-out repression: Purging dissent in Aleppo, Syria,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE24/061/2012/en

ÿ Syria: Civilians bearing the brunt in the battle for Aleppo,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE24/073/2012/en

ÿ Syria: Indiscriminate attacks terrorize and displace civilians,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE24/078/2012/en

TadschikistanAmtliche Bezeichnung: Republik TadschikistanStaatsoberhaupt: Emomalii RachmonRegierungschef: Oqil Oqilow

Folter und andere Misshandlungen warenweiterhin an der Tagesordnung, und dieTäter gingen nach wie vor straffrei aus.Unabhängige Kontrollorgane erhieltenkeinen Zugang zu Haftanstalten. DasRecht auf freie Meinungsäußerung wartrotz gewisser gesetzlicher Liberalisie-rungen weiterhin eingeschränkt.

HintergrundIm Juli 2012 kam es in Chorugh in der autono-men Region Berg-Badachschan zu Zusam-menstößen zwischen Regierungstruppen und

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bewaffneten Milizen. Bei den heftigstenKämpfen seit dem Ende des Bürgerkriegs(1992–97) kamen bei einer Militäroperationder Regierung gegen Verbände, die loyal zu To-lib Ayombekov standen, dem stellvertretendenKommandeur der Grenztruppen von Ishkashimund früheren Oppositionsführer im Bürger-krieg, inoffiziellen Berichten zufolge etwa 150Personen ums Leben, darunter Soldaten undZivilpersonen.

Folter und andere MisshandlungenIm März 2012 erklärte die Regierung ihre Ab-sicht, die Empfehlungen der Universellen Re-gelmäßigen Überprüfung durch den UN-Men-schenrechtsrat umzusetzen. So will sie bei-spielsweise Inhaftierten Zugang zu juristischemund ärztlichem Beistand gewähren. Im Aprilwurde das Strafgesetzbuch ergänzt und enthältnun Folter als Straftatbestand. Im Juni gab derOberste Gerichtshof Richtlinien heraus fürRichter in Fällen vermeintlicher oder mutmaß-licher Folter oder anderer Misshandlungen. DieGeneralstaatsanwaltschaft legte Strafverfol-gern Empfehlungen für die Ermittlungen in Fol-terfällen vor.

Trotz dieser positiven Entwicklungen trafenimmer wieder Berichte über Folter und andereMisshandlungen ein. Der UN-Sonderberichter-statter über Folter und der UN-Ausschuss ge-gen Folter veröffentlichten ihre Ergebnisse.Nach seinem Besuch im Mai erklärte der Son-derberichterstatter, dass Folter und andereMisshandlungen »häufig . . . in vielen verschie-denen Umfeldern vorkommen«.

Im November registrierte der UN-Ausschussgegen Folter »zahlreiche und übereinstim-

mende Klagen . . . über den systematischenEinsatz von Folter und anderen Misshandlun-gen gegen Straftatverdächtige, in erster Linie,um ihnen ›Geständnisse‹ abzupressen . . . vorallem in den ersten Stunden des Verhörs in Po-lizeigewahrsam sowie in vom Staatlichen Aus-schuss für Nationale Sicherheit (SCNS) und vonder Behörde für den Kampf gegen das organi-sierte Verbrechen betriebenen provisorischenHafteinrichtungen und Untersuchungsge-fängnissen«.

Kinder, ältere Menschen und Zeugen in Straf-prozessen berichteten über Vorfälle, bei de-nen sie Folter und andere Misshandlungen er-litten hatten. Zu den Foltermethoden zähltender Einsatz von Elektroschocks, kochendemWasser, Beinahe-Ersticken, Prügel und dasVerbrennen mit Zigaretten. Es gab Berichteüber tatsächliche und angedrohte Vergewalti-gungen von weiblichen und männlichen Inhaf-tierten sowie über psychische Folter.

Folter und andere Misshandlungen gescha-hen meist, bevor die Straftatverdächtigen aufeiner Polizeiwache registriert worden waren. DieStraftatverdächtigen wurden vor der Registrie-rung ihrer Inhaftierung nicht über ihre Rechteaufgeklärt (einen Anwalt zu sprechen, ihre An-gehörigen zu informieren oder zu schweigen).Die Registrierung sollte innerhalb von dreiStunden nach der Mitnahme auf eine Polizei-wache erfolgen, fand in der Praxis aber oft vielspäter statt. Es gab Fälle, in denen die Betroffe-nen vor der Registrierung tage- oder sogar wo-chenlang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haftgehalten wurden.ý Sherik Karamhudoev, der Führer der opposi-tionellen Gruppierung Islamische Partei derWiedergeburt in Chorugh in der Region Berg-Badachschan, verschwand am 24. Juli 2012während der gewaltsamen Zusammenstöße.Seine Familie erfuhr erst am 8. August von sei-nem Aufenthaltsort, und er durfte sich fast zweiMonate lang nicht mit seinem Strafverteidigertreffen. Dem Vernehmen nach wurde er in derSCNS-Haftanstalt in Duschanbe gefoltert. Manbeschuldigte Sherik Karamhudoev der Organi-sation einer kriminellen Gruppierung und desillegalen Besitzes von Schusswaffen.

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Gefangene wurden routinemäßig ohne Anwaltvernommen, und manche Anwälte durftenihre Mandanten tagelang nicht sehen, obwohlgesetzliche Bestimmungen das Recht der In-haftierten gewährleisten, vom Zeitpunkt der Re-gistrierung ihrer Inhaftierung an einen Anwaltzu sprechen.

Personen, die beschuldigt wurden, verbote-nen islamischen Bewegungen und islamisti-schen Gruppierungen oder Parteien anzugehö-ren, wurden meist vom Innenministerium unddem SCNS in Haft genommen. Sie wurden be-sonders häufig Opfer von Folter und anderenMisshandlungen; der Kontakt zu ihren Strafver-teidigern war eingeschränkt oder ganz unter-sagt. Ihre Anwälte erhielten außerdem nur un-zureichenden Zugang zu den Fallakten.

Tadschikische Sicherheitskräfte sollen Men-schen außerhalb des Staatsgebiets entführtund nach Tadschikistan gebracht haben. Inmehreren Fällen stützten sich die Behördenbei Auslieferungsersuchen für Personen, die sieals Mitglieder verbotener islamischer Gruppie-rungen oder islamistischer Parteien verdächtig-ten, auf unzuverlässige oder unvollständige In-formationen. Die Betroffenen gaben an, dasssie nach ihrer Rücküberstellung gefoltert wur-den.ý Im April 2012 wurde der 27-jährige SavriddinDzhurayev zu 26 Jahren Haft verurteilt, nach-dem man ihn schuldig gesprochen hatte, »imZeitraum um 1992«, als er sieben Jahre altwar, einen Umsturz der verfassungsmäßigenOrdnung geplant zu haben. Er war 2006 nachRussland geflohen, woraufhin Tadschikistan imJahr 2009 seine Auslieferung verlangt hatte.Im August 2011 erhielt er in Russland vorüber-gehend Asyl. Der Europäische Gerichtshof fürMenschenrechte hatte Russland angewiesen,ihn nicht auszuliefern, während der Gerichts-hof seinen Fall untersuchte, doch im Oktober2011 wurde er in Moskau von tadschikischsprechenden Unbekannten entführt und nachTadschikistan verschleppt. Savriddin Dzhu-rayev erklärte gegenüber seinen Anwälten, manhabe ihn in Chudschand in Haft misshandeltund ohne Beisein eines Anwalts vernommen.

Im November drängte der UN-Ausschuss ge-

gen Folter das Land, »die Praxis zu beenden,Personen aus anderen Ländern zu entführen,sie zwangsweise nach Tadschikistan zurück-zubringen und sie anschließend ohne Kontaktzur Außenwelt in Haft zu halten, und dafür zusorgen, dass sie nicht zu Opfern von Folter undMisshandlungen werden«.

Fehlende VerantwortlichkeitEs herrschte ein allgemeines Klima der Straflo-sigkeit. Im September wurde – zum ersten Mal– ein Polizeiinspektor im Fall eines 17-jährigenJungen in der Region Chatlon wegen Folterschuldig gesprochen und zu sieben JahrenHaft verurteilt; im Dezember erhielt ein weite-rer Polizist eine einjährige Haftstrafe wegen Fol-ter. In anderen Fällen kamen Polizisten, diewegen »Überschreitung der Amtsbefugnisse«verurteilt worden waren, aufgrund des Amnes-tiegesetzes von 2011 jedoch vorzeitig wieder auffreien Fuß. So entschied beispielsweise dieStaatsanwaltschaft Duschanbe im Juli, diestrafrechtlichen Ermittlungen gegen zwei Poli-zeibeamte einzustellen, die für den Tod von Sa-farali Sangov in Polizeigewahrsam im März2011 verantwortlich sein sollen; die beiden Poli-zisten wurden begnadigt.

Obwohl es in der Strafprozessordnung heißt,dass durch Folter beschaffte Beweismittel vorGericht nicht zugelassen werden sollen, gab es2012 keine Fälle, in denen die Richter solcheBeweismittel ausgeschlossen hatten.

Folteropfer und ihre Angehörigen berichteten,dass sie es aus Angst vor Vergeltungsmaßnah-men nicht wagten, bei der StaatsanwaltschaftAnzeige zu erstatten.

Die Behörden gewährten unabhängigen Kon-trollorganen, darunter das Internationale Ko-mitee vom Roten Kreuz (IKRK) sowie einheimi-sche NGOs, keinen Zugang zu Haftanstalten.

Bei Haftprüfungsverhandlungen ignoriertenRichter regelmäßig Vorwürfe wegen Folter undanderer Misshandlungen vonseiten der Inhaf-tierten und verwiesen diese zur Erstattungeiner Anzeige an die Staatsanwaltschaft.

Während Ermittlungen zu Beschwerden überFolter und andere Misshandlungen erhieltendie Opfer und deren Angehörige weder regel-

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mäßig aktualisierte Informationen noch Zu-gang zu den Fallakten. Im Mai bestätigte dasVerfassungsgericht die Entscheidung der Ge-neralstaatsanwaltschaft, Opfern von Men-schenrechtsverletzungen nur begrenzten Zu-gang zu Beweismitteln gegen die mutmaß-lichen Täter zu gewähren.

Die Staatsanwaltschaften gaben routinemäßigkeine Informationen darüber heraus, wie dieBeschwerden behandelt wurden oder auf wel-cher Grundlage sie entschieden, dass es keineBeweise für ein Fehlverhalten von Staatsbe-diensteten gebe. Von der Staatsanwaltschaftverursachte Verzögerungen bei der Forderungnach ärztlichen Untersuchungen mutmaß-licher Opfer von Folter oder anderen Misshand-lungen hatten zur Folge, dass die physisch er-kennbaren Spuren verschwunden waren.

Todesfälle in HaftDie Behörden unternahmen keine Schritte, umdas Leben von Inhaftierten zu schützen. Todes-fälle inHaftwurdennicht effektivuntersuchtunddie Sicherheitsbeamten nur selten bestraft.ý Im September 2012 starb der 27-jährigeHamza Ikromzoda im Gefängnis, dem Verneh-men nach aufgrund von Folter. Eine forensischeUntersuchung im Oktober ergab, er habeSelbstmord verübt. Frühere Zellengenossen,die angaben, gesehen zu haben, wie HamzaIkromzoda zu Tode gekommen ist, sollen in Ge-fängnissen in Duschanbe und Chudschandgefoltert und anderweitig misshandelt wordensein.

Recht auf freie MeinungsäußerungIm Juli 2012 wurde das Strafgesetzbuch dahin-gehend abgeändert, dass Verleumdung ent-kriminalisiert wurde. Die Beleidigung des Präsi-denten ist dagegen nach wie vor strafbar. Den-noch trafen weiterhin Berichte ein, wonach dieRegierung versuchte, das Recht auf freie Mei-nungsäußerung von Menschenrechtsverteidi-gern, Anwälten, medizinischen Experten undJournalisten einzuschränken.

Im Oktober ordnete das Stadtgericht Chud-schand an, die MenschenrechtsorganisationAmparo, die Misshandlungen in der Armee

überwacht, aufzulösen, weil sie Verwaltungs-vorschriften verletzt habe. Menschenrechtsver-teidiger hielten die Entscheidung für politischmotiviert und die Vorwürfe gegen Amparo fürunbegründet.

Gewalt gegen FrauenEin Gesetz zur Verhütung von familiärer Gewaltwurde im Dezember 2012 verabschiedet –acht Jahre, nachdem es im Parlament zum ers-ten Mal verlesen worden war.

Amnesty International: Mission und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Tadschikis-

tan im Juni.ÿ Shattered Lives: Torture and Other Ill-treatment in Tajikistan,

https://www.amnesty.org/en/library/info/EUR60/004/2012/en

ÿ Tajikistan: Dissenting campaign groups should not besilenced, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/tajikistan-dissenting-campaign-groups-should-not-be-silenced-2012-11-23

TaiwanAmtliche Bezeichnung: Republik ChinaStaatsoberhaupt: Ma Ying-jeouRegierungschef: Chun Chen (löste im Februar

Wu Den-yih im Amt ab)

Im Jahr 2012 wurden in Taiwan sechsMenschen hingerichtet. Seit Dezembersind die Staatsanwaltschaft und die Ver-teidiger verpflichtet, das Strafmaß unddamit zusammenhängende Fragen in To-desstrafenfällen in einer Anhörung vordem Obersten Gerichtsort zu erörtern.Angehörige der indigenen Bevölke-rungsgruppe waren in langwierige Land-streitigkeiten verwickelt, und die staat-lichen Stellen unterließen es, ihreRechte in dem fortgesetzten Gerichts-verfahren über Wiederaufbaumaßnah-men im Anschluss an den Taifun von

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Taiwan 419

2009 zu schützen. Medienmonopolesetzten ihre Expansion fort. Ein Lehr-plan zur Gleichstellung der Geschlechterwurde mit einem Jahr Verspätung einge-führt.

TodesstrafeSechs Menschen wurden im Berichtsjahr hin-gerichtet – alle im Dezember. 55 zum Todeverurteilte Gefangene hatten alle Rechtsmittelausgeschöpft. Ab Dezember müssen in Anhö-rungen zu allen Todesstrafenfällen vor demObersten Gerichtshof sowohl von der Anklage-vertretung als auch von den Verteidigern Argu-mente zum Strafmaß und damit zusammen-hängenden Fragen vorgetragen werden. DasRichtergremium berücksichtigt fortan auchdie Stellungnahmen der Familien der Opfer beider Bemessung des Strafmaßes.ý Nach einem 21 Jahre währenden Gerichts-verfahren bestätigte das Obere Gericht am31. August 2012 erneut den Freispruch für dassogenannte Hsichih-Trio und entließ die dreiMänner aus der Haft. Andere Todesstrafenfälle,in denen Folter und erzwungene Geständnisseeine Rolle spielten, blieben weiter ungeklärt.

JustizwesenIm August 2012 entschied die Bezirksstaatsan-waltschaft von Taipei ein weiteres Mal, keineAnklage gegen die Personen zu erheben, diefür die rechtswidrige Hinrichtung des Angehö-rigen der Luftwaffe Chiang Kuo-ching im Jahr1997 verantwortlich waren.

IndigenenrechteGarantien aus den Grundrechten der indigenenVölker wurden nicht umgesetzt, und die Strei-tigkeiten über die im Jahr 2009 nach dem Tai-fun Morakot vorgenommenen Umsiedlungenhielten an. Mehreren indigenen Gemeinschaf-ten drohten Zwangsumsiedlungen und künf-tige Beschränkungen der Landnutzung auf derGrundlage der Verordnung zur Bestimmungvon Sondergebieten. Diese Verordnung ermög-licht es den Behörden, Land als zur Besied-lung ungeeignet auszuweisen.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Konzentration der Eigentumsverhältnissebei Medienunternehmen gab Anlass zur Sorgeum die Meinungsfreiheit und journalistischeUnabhängigkeit. Im Juli 2012 genehmigte dieNationale Kommunikationskommission (NCC)unter Auflagen den Aufkauf eines großen Ka-belfernsehsenders durch den Konzern WantWant China Times Group, der im Novemberauch den einflussreichen Zeitungsverlag NextMedia übernehmen durfte. Das Obere Verwal-tungsgericht von Taipei befand im Dezember,dass die NCC die Vollmacht habe, den Kaufeines weiteren Kabelsenders durch die Gruppezu widerrufen. Das Gericht begründete seineEntscheidung damit, dass der Sender die Auf-lagen der NCC nicht eingehalten hatte.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenEin Lehrplan zur Gleichstellung der Geschlech-ter wurde wegen der von konservativen religiö-sen Gruppen im Jahr 2011 vorgebrachten Ein-wände erst mit Verspätung eingeführt. Dage-gen wurden drei geplante Handbücher fürGrund- und Mittelschullehrer mit Inhaltenüber Geschlechtsidentität, sexuelle Orientie-rung und alternative Familienkonzepte nichtveröffentlicht.

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420 Tansania

TansaniaAmtliche Bezeichnung:

Vereinigte Republik TansaniaStaatsoberhaupt: Jakaya KikweteRegierungschef: Mizengo Peter PindaPräsident der sansibarischen

Regionalregierung: Ali Mohamed Shein

Die Behörden schränkten die Rechte auffreie Meinungsäußerung und auf Ver-sammlungsfreiheit ein. Die Gewalt gegenFrauen hielt an; nur in seltenen Fällenwurden die dafür Verantwortlichen zurRechenschaft gezogen. Das Flüchtlings-lager Mtabila, in dem rund 37000Flüchtlinge aus Burundi gelebt hatten,wurde geschlossen.

HintergrundIm Februar 2012 wurde das Gesetz zur Verfas-sungsreform von 2011 abgeändert. Damit wa-ren die rechtlichen Grundlagen für eine Überar-beitung der Verfassung geschaffen. Im Aprilsetzte Präsident Jakaya Kikwete die Kommis-sion für den Reformprozess ein. Die Kommis-sionsmitglieder legten im Mai ihren Amtseid ab.Die Verfassungsreform soll bis Oktober 2013abgeschlossen sein.

Recht auf freie Meinungsäußerung –MedienNach wie vor kontrollierte Tansania die Medienmit Gesetzen, die weder mit der Verfassungdes Staates noch mit internationalem Recht imEinklang standen. Das Pressegesetz und dasStrafgesetzbuch wurden instrumentalisiert, umdie Medienfreiheit einzuschränken, obwohlJournalisten öffentlich forderten, diese Gesetzeauf den Prüfstand zu stellen.ý Im Juli 2012 wurde Mwanahalisi, eine Wo-chenzeitung im Tabloidformat, verboten. DemBlatt wurde die Veröffentlichung aufrühreri-scher Artikel vorgeworfen, die geeignet seien,Gewalt zu provozieren, und eine Gefahr für denFrieden darstellten. In Mwanahalisi war ein Ar-tikel über die Entführung und Misshandlung

von Dr. Steven Ulimboka erschienen. Er war derVorsitzende des Sonderausschusses für Ärzteund hatte einen Ärztestreik angeführt. Ende2012 war die Zeitung nach wie vor verboten.ý Im September 2012 wurde der für den Fern-sehsender Channel Ten tätige Journalist DavidMwangosi von Polizisten erschossen. Er hatteüber eine Veranstaltung der OppositionsparteiChama cha Demokrasia na Maendeleo(CHADEMA) in der Ortschaft Nyololo (RegionIringa) berichtet, als die Polizei die Veran-staltung sprengte und die Anhänger derCHADEMA auseinandertrieb. Ein rangniedrigerPolizist wurde wegen des Todes von DavidMwangosi angeklagt und befand sich Endedes Jahres in Untersuchungshaft.

Recht auf Versammlungsfreiheit –exzessive GewaltanwendungDie Polizei und andere Sicherheitsorgane gin-gen bei der Auflösung von Protesten mit ex-zessiver Gewalt gegen Demonstrierende vor.ý Im August 2012 soll die Polizei dem Zeitungs-verkäufer Ally Nzona in den Kopf geschossenhaben, als sie bei einer Grundschule in Moro-goro Teilnehmer an einer CHADEMA-Demons-tration auseinandertrieb. Ally Nzona starb anden ihm zugefügten Verletzungen. Er hatte ander Demonstration nicht teilgenommen.

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Thailand 421

Im Februar 2012 nahm die Polizei 16 Men-schenrechtsverteidiger fest, weil sie eine fried-liche Versammlung abhielten. 14 Festgenom-mene waren Frauen. Sie wurden noch am sel-ben Tag freigelassen. Die Menschenrechtsver-teidiger gehörten zu einer Gruppe von rund200 Demonstrierenden, die an einer öffent-lichen Protestveranstaltung in der HauptstadtDaressalam teilnahmen, bei der die Regierungaufgefordert wurde, den Streit mit den Ärztenbeizulegen.

Gewalt gegen Frauen und MädchenSexuelle und andere Formen geschlechtsspezi-fischer Gewalt, vor allem häusliche Gewalt,waren 2012 immer noch weit verbreitet. ÄltereFrauen liefen Gefahr, wegen angeblicher He-xerei Opfer von Übergriffen zu werden. Nur we-nige Täter mussten sich vor Gericht verantwor-ten. Die Praxis weiblicher Genitalverstümme-lung war nach wie vor in einigen Landesteilenüblich.

Flüchtlinge und AsylsuchendeNach einem Treffen zwischen Repräsentantender Regierungen von Tansania und Burundisowie dem UN-Hochkommissar für Flüchtlinge(UNHCR) wurde die Entscheidung getroffen,das Lager Mtabila, in dem etwa 37000 burundi-sche Flüchtlinge untergekommen waren, am31. Dezember 2012 zu schließen. Im Juli er-klärte der tansanische Innenminister, dass diein Mtabila lebenden Flüchtlinge bei der Schlie-ßung des Lagers ihren Flüchtlingsstatus verlie-ren würden.

Im November berichtete der UNHCR, dasstäglich rund 1000 Menschen bei der freiwilli-gen Rückkehr nach Burundi unterstützt wür-den.

TodesstrafeDie Gerichte verhängten 2012 weiterhin die To-desstrafe. Hinrichtungen wurden jedoch nichtvorgenommen. Eine im Jahr 2008 von zivilge-sellschaftlichen Organisationen eingereichteBeschwerde, in der die Verfassungsmäßigkeitder Todesstrafe angefochten wurde, war nochimmer anhängig.

ThailandAmtliche Bezeichnung: Königreich ThailandStaatsoberhaupt: König Bhumibol AdulyadejRegierungschefin: Yingluck Shinawatra

Der bewaffnete Konflikt im Süden desLandes dauerte 2012 an. Die Aufständi-schen richteten ihre gewaltsamen An-griffe weiterhin gegen Zivilpersonen,und die von Sicherheitskräften verübtenMenschenrechtsverletzungen bliebenstraflos. Die Wahrheits- und Versöh-nungskommission von Thailand (Truthfor Reconciliation Commission of Thai-land – TRCT) legte ihren Abschlussbe-richt vor. Darin machte sie für die poli-tisch motivierte Gewalt im Jahr 2010beide Konfliktparteien verantwortlich.Die juristische Aufarbeitung der damali-gen Ereignisse kam jedoch nur schlep-pend voran. Die Regierung griff weiter-hin auf das Gesetz über Majestätsbelei-digung und das Gesetz über Computer-delikte zurück, um das Recht auf freieMeinungsäußerung einzuschränken.Asylsuchenden und Flüchtlingen drohtedie Abschiebung in ihre Herkunftslän-der.

Interner bewaffneter KonfliktIn den im äußersten Süden des Landes gelege-nen Provinzen Narathiwat, Pattani, Yala und inTeilen der Provinz Songkhla liefen Zivilpersonen

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422 Thailand

2012 weiterhin Gefahr, bei Anschlägen getötetoder verletzt zu werden. Gezielte Angriffe rich-teten sich insbesondere gegen Schulen undLehrer, die als Vertreter der Staatsmacht ange-sehen wurden. Dies führte dazu, dass gegenEnde des Jahres Schulen geschlossen werdenmussten. Führer der Aufständischen beschul-digten die Sicherheitskräfte, für außergericht-liche Hinrichtungen in Yala verantwortlich zusein. Die meisten der von den Sicherheitskräf-ten im Süden verübten Menschenrechtsverlet-zungen blieben straflos.ý Am 29. Januar 2012 schossen im Regie-rungsauftrag handelnde paramilitärischeWaldhüter auf eine Gruppe von neun muslimi-schen Zivilpersonen, die zur Bevölkerungs-gruppe der ethnischen Malaien zählten. Sie wa-ren mit einem Kleintransporter mit offener La-defläche im Distrikt Nong Chik in der ProvinzPattani unterwegs. Die Schüsse töteten vierPersonen der Gruppe und verletzten vier wei-tere. Die Waldhüter gaben an, sie hätten aufdie Zivilpersonen geschossen, weil sie davonausgegangen seien, dass diese Verbindungenmit Aufständischen hätten und in einen An-schlag auf einen Stützpunkt der Waldhüter ver-wickelt gewesen seien. Eine zur Untersuchungdes Vorfalls eingesetzte Wahrheitskommissionstellte fest, dass die Zivilpersonen keine Verbin-dungen zu aufständischen Gruppen hatten.ý Am 21. September 2012 schossen Aufständi-sche im Distrikt Sai Buri in der Provinz Pattaniauf ein Goldgeschäft und zündeten anschlie-ßend eine Autobombe auf einem Markt. Dabeiwurden sechs Personen getötet, unter ihnen einFreiwilliger der örtlichen Zivilverteidigung.Etwa 50 weitere Personen wurden verletzt.ý Am 30. Oktober 2012 wurde in der ProvinzYala der muslimische Religionslehrer Yala Ma-hama Ma-ae erschossen. Die Polizei hatte ihnverdächtigt, Verbindungen zu einer Gruppevon Aufständischen zu haben. Am 14. Novem-ber wurde Abdullateh Todir, ein Imam ausYala, erschossen. Auf ihn war bereits im Jahr2011 ein Anschlag verübt worden, bei demseine Tochter ums Leben kam. Anführer derAufständischen machten die Sicherheitskräftefür die beiden Tötungen verantwortlich.

ý Am 3. und 4. Dezember 2012 töteten Auf-ständische bei zwei verschiedenen Vorfällen inder Provinz Narathiwat eine Lehrerin und ver-letzten einen Lehrer. Am 11. Dezember wur-den bei einem Anschlag auf eine Schule in derProvinz Pattani der Schulleiter und ein Lehrergetötet. Nach diesen Anschlägen wurden dieSchulen in den Provinzen Narathiwat, Pattaniund Yala für mehrere Tage geschlossen.

Die Notstandsverordnung aus dem Jahr 2005blieb das gesamte Berichtsjahr über in Kraftund wurde von der Regierung alle drei Monateverlängert. Die Verordnung gewährt Angehöri-gen der Sicherheitskräfte, denen Menschen-rechtsverletzungen, wie z. B. Folter, vorgewor-fen werden, Immunität vor strafrechtlicher Ver-folgung.

Verantwortung für politisch motivierteGewaltIm September 2012 legte die TRCT ihren Ab-schlussbericht über die gewaltsamen Ausein-andersetzungen bei den regierungskritischenProtesten im April und Mai 2010 vor, bei denen92 Menschen getötet worden waren. Der Be-richt machte sowohl die Sicherheitskräfte, ein-schließlich der Armee, als auch die sogenann-ten Schwarzhemden für die Gewalt verant-wortlich. Bei diesen »Schwarzhemden« handeltes sich um eine militante bewaffnete Gruppe,die an den Demonstrationen beteiligt war undVerbindungen zur Oppositionsbewegung Uni-ted Front for Democracy against Dictatorship(UDD) unterhielt, deren Anhänger auch als»Rothemden« bezeichnet werden. Der Berichtstellte fest, dass die Sicherheitskräfte Kriegs-waffen und scharfe Munition gegen die Protes-tierenden eingesetzt hatten. Er enthielt außer-dem zahlreiche Empfehlungen. So forderte dieKommission die Regierung u. a. auf, sie solledie von allen Konfliktparteien verübten Men-schenrechtsverstöße von einer fairen und un-parteiischen Justiz aufarbeiten lassen und denvon den gewaltsamen Vorfällen betroffenenPersonen Entschädigung und Wiedergutma-chung gewähren.

Im Januar 2012 beschloss die Regierung, dieOpfer der gewaltsamen Auseinandersetzun-

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Thailand 423

gen im Jahr 2010 finanziell zu entschädigen.Im Mai wurde der Entwurf für ein Gesetz zurNationalen Aussöhnung vorgelegt, das eineAmnestie für diejenigen Personen vorsah, diean den Gewalttaten im Jahr 2010 beteiligtwaren. Das Gesetzesvorhaben führte zu Pro-testen und wurde daraufhin im Juli gestoppt.Nachdem ein Gericht die Sicherheitskräfte fürschuldig befunden hatte, im Mai 2010 denTod des UDD-Anhängers Phan Khamkongwährend einer Protestdemonstration verur-sacht zu haben, wurde im Dezember Mordan-klage gegen den ehemaligen Ministerpräsiden-ten Abhisit Vejjajiva und seinen ehemaligenStellvertreter Suthep Thaugsuban erhoben.Sie waren die ersten Staatsbediensteten, dieim Zusammenhang mit der politisch motivier-ten Gewalt im Jahr 2010 angeklagt wurden.Im Dezember begannen die Gerichtsverfahrengegen 24 Anführer der UDD-Protestdemons-trationen, die wegen Terrorismus angeklagtwaren.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Meinungsfreiheit wurde weiterhin unter-drückt, und zwar hauptsächlich auf derGrundlage des Gesetzes über Majestätsbeleidi-gung (Lèse-Majesté-Gesetz, Artikel 112 desStrafgesetzbuchs) und des Gesetzes über Com-puterdelikte aus dem Jahr 2007. Beide Ge-setze sehen hohe Gefängnisstrafen für ver-meintliche Beleidigungen der Monarchie vor.Es gelang 2012 nicht, das Lèse-Majesté-Gesetzabzuschaffen oder zu reformieren. Im Oktobererklärte das Verfassungsgericht den Artikel 112des Strafgesetzbuchs für verfassungskonform,und im November lehnte das Parlament einenEntwurf zur Gesetzesänderung ab.ý Im Mai 2012 starb der als Uncle SMS bekanntgewordene gewaltlose politische GefangeneAmphon Tangnoppakul mit Anfang 60 in derHaft an Krebs. Er war im August 2010 festge-nommen und im November 2011 wegen Majes-tätsbeleidigung zu einer Freiheitsstrafe von 20Jahren verurteilt worden, weil er vier SMS-Mit-teilungen verschickt haben soll, die als Belei-digung der Monarchie betrachtet wurden. Trotzseines schlechten Gesundheitszustands wa-

ren alle seine acht Gesuche, ihn gegen Kautionfreizulassen, abgelehnt worden.ý Im Mai wurde die Redakteurin des Internet-Nachrichtenportals Prachatai, ChiranuchPremchaiporn, auf der Grundlage des Gesetzesüber Computerdelikte zu einem Jahr Gefäng-nis und einer Geldstrafe von 30000 Baht (979US-Dollar) verurteilt. Ihr wurde vorgeworfen,sie habe zehn Kommentare, die Nutzer ihrerWebsite zwischen April und November 2008eingestellt hatten und die als Beleidigung derMonarchie aufgefasst wurden, nicht rechtzei-tig gelöscht. Das Urteil wurde in eine Bewäh-rungsstrafe von acht Monaten und eine Geld-strafe von 20000 Baht (653 US-Dollar) umge-wandelt.ý Somyot Prueksakasemsuk, Herausgeber derZeitschrift Voice of Taksin, blieb während desgesamten Jahres in Haft. Ihm drohte eine Frei-heitsstrafe von bis zu 30 Jahren, nachdem erim April 2011 wegen der Veröffentlichung vonzwei Artikeln in seiner Zeitschrift nach dem Lè-se-Majesté-Gesetz angeklagt worden war. DasGericht lehnte seine Anträge auf Freilassunggegen Kaution wiederholt ab.

Flüchtlinge und MigrantenAsylsuchende liefen 2012 weiterhin Gefahr,festgenommen, auf unbestimmte Zeit inhaf-tiert und in Länder abgeschoben zu werden, indenen ihnen Verfolgung drohte. Nach Gesprä-chen mit der Regierung von Myanmar kündigteder Nationale Sicherheitsrat Thailands an, die146900 in Thailand lebenden Flüchtlinge ausMyanmar könnten innerhalb eines Jahres inihr Herkunftsland zurückkehren – ungeachtetdessen, dass die Lage in den Gebieten derethnischen Minderheiten Myanmars weiterhininstabil war und es an Schutzvorkehrungen füreinen sicheren, menschenwürdigen und freiwil-ligen Rückkehrprozess fehlte. Mitte Dezemberwaren Arbeitsmigranten mit und ohne regulä-ren Aufenthaltsstatus, die kein nationalesÜberprüfungsverfahren durchlaufen hatten,von Abschiebung bedroht.

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424 Timor-Leste

TodesstrafeEs gingen keine Meldungen über Hinrichtun-gen ein. Die Gerichte verhängten 2012 jedochdas gesamte Jahr über Todesurteile. Im Augustwurden die Todesurteile von mindestens 58 imTodestrakt inhaftierten Personen in lebenslangeFreiheitsstrafen umgewandelt.

Timor-LesteAmtliche Bezeichnung:

Demokratische Republik Timor-LesteStaatsoberhaupt: José Maria Vasconcelos

(Taur Matan Ruak; löste im Mai José ManuelRamos-Horta im Amt ab)

Regierungschef: Kay Rala »Xanana« Gusmão

Die Verantwortlichen für die Verbrechengegen die Menschlichkeit und dieschweren Menschenrechtsverletzungenwährend der indonesischen Besatzungvon 1975 bis 1999 genossen weiterhinStraffreiheit. Angehörigen der Sicher-heitskräfte wurden Menschenrechts-verletzungen wie Misshandlungen undexzessive Gewaltanwendung vorgewor-fen. Frauen und Mädchen waren inhohem Maße familiärer Gewalt ausge-setzt.

HintergrundDie Präsidentschafts- und Parlamentswahlenim März und April bzw. im Juli verliefen ohneZwischenfälle. Im Dezember 2012 beendeteder UN-Sicherheitsrat das Mandat der UN-Mission in Timor-Leste.

Polizei und SicherheitskräfteAngehörigen der Sicherheitskräfte wurde vor-geworfen, für Misshandlungen und exzessiveGewaltanwendung einschließlich mehrerer To-desfälle verantwortlich zu sein. Die Mechanis-men zur Rechenschaftslegung für Polizei undMilitär wiesen nach wie vor große Schwächenauf. Der Einsatz der UN-Polizei endete im De-zember 2012.

FrauenrechteHäusliche Gewalt gegen Frauen war nach wievor weit verbreitet. Zwar kam es in einigen Fäl-len zur Strafverfolgung durch die Gerichte, oft-mals wurden gegen die Täter jedoch nur Be-währungsstrafen verhängt. Es herrschte Be-sorgnis wegen der unzureichenden Schutz-maßnahmen für Opfer und Zeugen von familiä-ren Gewalttaten.

Timor-Leste wies 2012 eine der höchsten Müt-tersterblichkeitsraten im asiatisch-pazifischenRaum auf.

StraflosigkeitBei der Aufarbeitung der Verbrechen gegen dieMenschlichkeit und anderer Menschenrechts-verletzungen, die von indonesischen Sicher-heitskräften und ihren Hilfstruppen im Zeit-raum von 1975 bis 1999 begangen wurden, gabes kaum Fortschritte. Als das Mandat des UN-Ermittlungsteams zur Untersuchung schwererMenschenrechtsverletzungen im Dezember2012 endete, waren die Ermittlungen zu etwa60 ungeklärten Fällen von im Jahr 1999 be-gangenen schweren Menschenrechtsverlet-zungen noch nicht abgeschlossen.ý Im Dezember 2012 wurden drei ehemaligeAngehörige der pro-indonesischen Miliz BesiMerah Putih vom Bezirksgericht Dili zu langjäh-rigen Haftstrafen verurteilt. Sie waren ange-klagt worden, im Zusammenhang mit dem Un-

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Togo 425

abhängigkeitsreferendum von 1999 Verbre-chen gegen die Menschlichkeit begangen zuhaben. Miguel Soares und Salvador de Jesuswurden wegen Mordes zu neun bzw. 16 JahrenHaft verurteilt. Faustino de Carvalho erhieltsechs Jahre Haft wegen der Vertreibung einerBevölkerungsgruppe und der rechtswidrigenInhaftierung von Frauen und Kindern.

Die Empfehlungen der timoresischen Kom-mission für Wahrheit und Versöhnung (Co-missão de Acolhimento, Verdade e Reconcilia-cão de Timor-Leste) und der von Indonesienund Timor-Leste gemeinsam eingerichteten bi-lateralen Kommission für Wahrheit undFreundschaft (Comissão de Verdade e Ami-zade) wurden von den Behörden des Landesnicht umgesetzt. Die beiden Kommissionenhatten u. a. Entschädigungsleistungen für Op-fer von Menschenrechtsverletzungen und ihreFamilien sowie wirksame Maßnahmen zurIdentifizierung »verschwundener« Personenund der von ihren Familien getrennten Kinderempfohlen.

Im Februar 2012 begann das Parlament mitder Beratung über zwei Gesetzentwürfe zurEinführung eines Nationalen Programms zurWiedergutmachung sowie zur Gründung eines»Instituts des Gedenkens«. Die Debatte wurdejedoch abgebrochen und bereits zum drittenMal seit Juni 2010 vertagt, ohne dass ein Datumfür die Wiederaufnahme festgelegt wurde.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Timor-Leste

im Oktober und November.ÿ Timor-Leste: Remembering the past – Recommendations

to effectively establish the »National Reparations Pro-gramme« and »Public Memory Institute«,http://amnesty.org/en/library/info/ASA57/001/2012/en

TogoAmtliche Bezeichnung: Republik TogoStaatsoberhaupt: Faure GnassingbéRegierungschef: Kwesi Ahoomey-Zunu (löste

im Juli Gilbert Fossoun Houngbo im Amt ab)

Die Sicherheitsorgane lösten Demonstra-tionen politischer Parteien und Studie-render unter Einsatz exzessiver Gewaltauf. Personen in Gewahrsam wurden ge-foltert, um von ihnen »Geständnisse« zuerpressen. Die Behörden schränkten dieRechte auf freie Meinungsäußerung, Ver-sammlungsfreiheit und Pressefreiheitein. Die Kommission für Wahrheit, Ge-rechtigkeit und Versöhnung (Truth, Jus-tice and Reconciliation Commission –TJRC) veröffentlichte zwar erste Unter-suchungsergebnisse, doch verstrich dasJahr 2012, ohne dass konkrete Maßnah-men zur Beendigung der Straflosigkeiteingeleitet worden wären.

HintergrundIm gesamten Jahr fanden regelmäßig Demons-trationen statt, auf denen politische und wirt-schaftliche Veränderungen gefordert wurden.

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426 Togo

In einigen Fällen kam es zwischen den De-monstrierenden und den Sicherheitsorganenzu Zusammenstößen.

Im Januar versuchten die Behörden, die Ver-öffentlichung eines Berichts der NationalenKommission für Menschenrechte (CommissionNationale des Droits de l’Homme – CNDH) zuverhindern. Der Bericht verurteilte die Folterun-gen der Sicherheitsorgane, vor allem des na-tionalen Geheimdienstes, an Zivilbeamten undMilitärangehörigen, die wegen eines Umsturz-versuchs angeklagt worden waren. Unter denFolteropfern befand sich auch Kpatcha Gnas-singbé, der Halbbruder des Präsidenten. NachProtesten im In- und Ausland akzeptierten dieBehörden die Schlussfolgerungen der CNDHund verpflichteten sich, die Empfehlungen derKommission zur Bekämpfung der Straflosigkeitumzusetzen. Ende 2012 hatten sie jedochnoch keine konkreten Schritte in diese Rich-tung unternommen.

Im Mai 2012 verabschiedete die Nationalver-sammlung ein Gesetz zur Änderung des Wahl-rechts. Mehrere Oppositionsparteien warfenden Behörden vor, die Änderungen »einseitig«beschlossen zu haben, und verlangten derenAußerkraftsetzung. Nach Protesten wurde dasWahlrecht abgeändert. Einige Oppositionspar-teien sprachen sich dennoch gegen die Wie-deraufnahme des Dialogs aus und lehnten dieBedingungen ab, unter denen die Parlaments-wahlen stattfinden sollten, die ursprünglich vorEnde 2012 abgehalten werden sollten, dannaber auf 2013 verschoben wurden.

Exzessive GewaltanwendungDie Sicherheitsorgane setzten 2012 regelmäßigexzessive Gewalt ein, um Demonstrationen zuunterdrücken, die von politischen Parteien or-ganisiert wurden.ý Im Juni verfolgten die Sicherheitskräfte De-monstrierende bis in ihre Privatwohnungenund in ein Gotteshaus. Außerdem sprühten sieTränengas in einen Klassenraum einer Schuleder katholischen Mission in Amoutiévé, einemStadtviertel der Hauptstadt Lomé.ý Im Juli belagerten Polizeikräfte die Wohnungdes Vorsitzenden der Oppositionspartei Alli-

ance Nationale pour le Changement (ANC),Jean-Pierre Fabre. Die Polizisten sprühten zu-nächst stundenlang Tränengas in die Wohnung.Dann drangen sie gewaltsam in die Räumeein, schlugen die Anwesenden zusammen undnahmen einige von ihnen fest.

Folter und andere MisshandlungenUntersuchungshäftlinge wurden gefoltert, umvon ihnen »Geständnisse« zu erpressen undsie dazu zu bringen, andere Angeklagte zu be-schuldigen.ý Im April 2012 wurden vier Studierende beiihrer Festnahme und in der Haft im Zivilge-fängnis der Stadt Kara, rund 420 km nördlichvon Lomé, misshandelt. Drei von ihnen warenMitglieder des Nationalen Verbands togolesi-scher Schüler und Studierender. Sie hatteneine Versammlung veranstaltet, auf der überdas Versprechen der Regierung, Stipendien zugewähren, diskutiert wurde, und waren deshalbwegen »Aufwiegelung zur Rebellion« ange-klagt worden. Sie wurden nach einem Monatohne Gerichtsverfahren aus dem Gefängnisentlassen.ý Im August wurde Kossi Amétépé währendeiner Demonstration gegen die Regierung fest-genommen. Er wurde von Angehörigen derSchnellen Eingreiftruppe geschlagen und aufihrem Stützpunkt in Lomé festgehalten. Dortpeitschen ihn seine Peiniger mit Seilen ausund trampelten auf ihm herum.

Recht auf freie MeinungsäußerungDie Behörden beschnitten die Rechte auf freieMeinungsäußerung und auf Versammlungs-freiheit, indem sie Menschenrechtsverteidigerbedrohten und Demonstrationen verboten. Siebehaupteten, dass diese Maßnahmen notwen-dig seien, um eine Gefährdung der Sicherheitzu verhindern und die öffentliche Ordnung auf-rechtzuerhalten.ý Im Februar 2012 erhielt der Vorsitzendeder CNDH, Koffi Kounté, Drohungen aus demUmfeld des Staatspräsidenten, nachdem ersich geweigert hatte, einen Bericht abzuseg-nen, der bekanntermaßen von der Regierungverfälscht worden war. Aus Angst vor Re-

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Trinidad und Tobago 427

pressalien flüchtete Koffi Kounté nach Frank-reich.ý Im August 2012 wurde eine Veranstaltungdes Kollektivs zur Rettung Togos (Collectif Sau-vons le Togo – CST) zum Thema Bürgerrechtein Kara verboten. Führende CST-Mitgliederwurden von Sicherheitskräften tätlich angegrif-fen und gejagt.

Die Sicherheitskräfte nahmen Journalisten insVisier, die gegen die Regierung gerichtete Pro-testmärsche filmten oder über diese berichte-ten.ý Im Oktober 2012 wurde der Journalist JustinAnani, der Mitglied der Internationalen Jour-nalisten-Föderation ist, von Sicherheitskräftenin Lomé tätlich angegriffen, als er über einenvom CST und anderen Oppositionsgruppen or-ganisierten Protestmarsch berichtete.

HaftbedingungenIn vielen Hafteinrichtungen herrschten 2012aufgrund von Überbelegung und fehlendermedizinischer Versorgung derart harte Bedin-gungen, dass von grausamer, unmenschlicheroder erniedrigender Behandlung gesprochenwerden musste. Berichten zufolge starbendurch diese Zustände viele Menschen, darun-ter mindestens 19 Häftlinge im Zivilgefängnisvon Lomé.ý Im Mai starb Bertin Sama im Gefängnis vonLomé an einer Lungeninfektion. Ihm war Dro-genhandel zur Last gelegt worden. Obwohl ermehrfach um ärztliche Hilfe gebeten hatte,wurde er erst zweit Tage vor seinem Tod in einKrankenhaus eingeliefert.

StraflosigkeitIm April veröffentlichte die TJRC ihren erstenBericht über die politisch motivierte Gewalt inTogo von 1958 bis 2005. Sie hatte dazu Opferund mutmaßliche Täter angehört. Der Präsi-dent bat im Namen des Staates um Vergebung,und die Behörden verpflichteten sich, Maß-nahmen zur Versöhnung durchzuführen unddie Opfer zu entschädigen. Ende 2012 warenjedoch noch keine konkreten Schritte eingelei-tet worden.

Amnesty International: Berichteÿ Togo: The authorities censor a report denouncing torture,

http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR57/001/2012/en

ÿ Togo: Vague d’arrestations et répression de manifestants,http://www.amnesty.org/en/library/info/AFR57/004/2012/fr

Trinidad und TobagoAmtliche Bezeichnung:

Republik Trinidad und TobagoStaatsoberhaupt: George Maxwell RichardsRegierungschefin: Kamla Persad-Bissessar

Nach wie vor gingen Berichte über Tö-tungen durch die Polizei ein, wobei dieUmstände zum Teil darauf hindeuteten,dass es sich um außergerichtliche Hin-richtungen handelte. Weiterhin wurdenTodesurteile verhängt.

HintergrundDie Rate der Tötungsdelikte blieb mit 377 Mord-fällen im Berichtsjahr weiterhin hoch.

Im August wurde ein Gesetz verabschiedet,nach dem Strafverfahren bei bestimmten De-likten verjähren, wenn seit Begehen der Straftatmehr als zehn Jahre vergangen sind. Nach-dem die Anwendung dieses Gesetzes in viel be-achteten Korruptionsfällen für öffentliche Em-pörung gesorgt hatte, wurde es im Oktoberaußer Kraft gesetzt.

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428 Trinidad und Tobago

Polizei und Sicherheitskräfte2012 gab es anhaltende Berichte über rechts-widrige Tötungen durch die Polizei. OffizielleBehauptungen, wonach die Polizei in Notwehrgehandelt habe, wurden von Augenzeugenhäufig dementiert.ý Atiba Duncan erlitt im April in der GemeindeMt. D’or Road tödliche Schussverletzungen.Polizisten gaben an, Atiba Duncan habe sie beidem Versuch, ihn festzunehmen, mit einerWaffe bedroht. Ein Gerichtsmediziner stellte je-doch fest, dass man ihm in den Rücken ge-schossen hatte. Zum Jahresende dauerten dieUntersuchungen noch an.

Im Oktober forderte die Beschwerdestelle derPolizei ein »schnelleres Vorgehen bei langwie-rigen Untersuchungsverfahren in Fällen töd-licher Schüsse durch die Polizei«. Des Weite-ren forderte sie die Anbringung von Videoüber-wachungskameras in zentralen Bereichen derPolizeistationen.

JustizsystemEin Gesetz aus dem Jahr 2011 zur Beschleuni-gung von Gerichtsverfahren durch den Wegfallvon Voruntersuchungen sollte im Januar 2013in Kraft treten. Es wurde jedoch bezweifelt,dass die zur Umsetzung des Gesetzes erforder-liche Infrastruktur vorhanden war.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm November gab die Polizei von Trinidad undTobago bekannt, dass zwischen Januar undSeptember 2012 insgesamt 689 Sexualdeliktegemeldet wurden. Dies waren über 200 Fällemehr als im gesamten Jahr 2011.

Die nationale Richtlinie zu Gender- und Ent-wicklungsfragen, die bereits 2009 formuliertworden war, lag Berichten zufolge zum Jahres-ende dem Kabinett vor.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenFürsprecher für die Rechte von Lesben, Schwu-len, Bisexuellen, Transgendern und Intersexu-ellen setzten sich auch weiterhin dafür ein, dassdie Diskriminierung aufgrund der sexuellen

Orientierung in das Gleichberechtigungsgesetzaufgenommen wird. GleichgeschlechtlicheBeziehungen blieben strafbar. Zwar wurden dieentsprechenden Gesetze nicht angewandt,doch leisteten sie der allgemeinen Diskriminie-rung Vorschub.

HaftbedingungenIn einigen Fällen von Misshandlungen konntenGefängnisbedienstete vor den Zivilgerichtenerfolgreich belangt werden. In der Mehrzahl derFälle wurden jedoch anschließend keine dis-ziplinarischen Maßnahmen durchgeführt.

Im März 2012 kam das zuständige Gericht(High Court) im Fall eines Gefangenen, der imDezember 2009 im Golden-Grove-Gefängnisgeschlagen worden war, zu folgendem Urteil:»Anmerkungen seitens der Gerichte wurden inmehreren ähnlichen Fällen anscheinend igno-riert, und es gibt angesichts wiederholter ver-gleichbarer Zwischenfälle deutliche Hinweise,dass die Schuldigen nicht zur Verantwortunggezogen werden.«

Im Juli stellte das zuständige Gericht in einemanderen Fall fest, dass zwischen September2005 und Mai 2012 insgesamt 302 Anschuldi-gungen wegen Gewaltanwendung und Körper-verletzung gegen Staatsbedienstete vorge-bracht worden waren. Es forderte die Behör-den auf, Gefängnisbedienstete im ordnungsge-mäßen Umgang mit Gewalt schulen zu lassen.

TodesstrafeMindestens fünf Personen wurden 2012 zumTode verurteilt, Hinrichtungen fanden jedochnicht statt. Im Januar verkündete die Premier-ministerin öffentlich, dass die Regierung ent-schlossen sei, die Todesstrafe weiter anzuwen-den.

Amnesty International: Missionþ Eine Delegation von Amnesty International besuchte Trinidad

und Tobago im September / Oktober.

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Tschad 429

TschadAmtliche Bezeichnung: Republik TschadStaatsoberhaupt: Idriss Déby ItnoRegierungschef: Emmanuel Djelassem Nadingar

Gewerkschafter, Journalisten und Men-schenrechtsverteidiger waren Ein-schüchterungsversuchen ausgesetzt. DasStrafrecht wurde benutzt, um politischeGegner zu schikanieren. Menschen wur-den nach wie vor willkürlich festgenom-men und über lange Zeiträume hinweg inUntersuchungshaft festgehalten. Zahl-reiche Kinder wurden als Soldaten rekru-tiert. In den Gefängnissen herrschtenweiterhin äußerst harte Haftbedingun-gen. Die für Menschenrechtsverletzun-gen Verantwortlichen mussten auch imBerichtsjahr keine strafrechtlichen Kon-sequenzen befürchten.

HintergrundNoch immer lebten im Tschad viele Flüchtlingeund Binnenvertriebene. Nach Angaben derUN vom 31. Dezember 2012 lebten im Ostendes Landes 281000 sudanesische Flüchtlinge,die auf zwölf Lager verteilt waren, und im Süden

79000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikani-schen Republik (ZAR). Außerdem gab es an derGrenze zur sudanesischen Region Darfurmehrere Lager, in denen 120000 Binnenvertrie-bene lebten.

Abdel Kader Baba Laddé, Anführer der be-waffneten Oppositionsgruppe Volksfront fürWiederaufrichtung (Front populaire pour le re-dressement – FPR), die ihre Stützpunkte imNorden der ZAR hatte, kehrte nach Verhand-lungen zwischen der FPR und den Regierun-gen des Tschad sowie der ZAR im September inden Tschad zurück. Menschenrechtsgruppenwarfen ihm die Rekrutierung von Kindersolda-ten vor.

Grausame, unmenschliche odererniedrigende BehandlungSicherheitskräfte und Gefängnisaufseher wand-ten nach wie vor verbreitet grausame, un-menschliche und erniedrigende Strafen wiez. B. Prügel an. Dabei agierten sie in einemKlima fast völliger Straflosigkeit.

Haft ohne VerfahrenDie meisten Häftlinge befanden sich über langeZeiträume hinweg in Untersuchungshaft.Einige waren schon seit Jahren im Gefängnis,ohne dass die Behörden überhaupt von ihrerExistenz wussten. Im März 2012 hatte ein 17Jahre alter Junge bereits mehr als 18 Monateim Gefängnis von Doba gesessen, ohne dassder örtliche Staatsanwalt davon Kenntnis hatte.

Willkürliche Festnahmen undInhaftierungenIm Jahr 2012 wurden nach wie vor Menschenfestgenommen und ohne Anklageerhebunginhaftiert. Die Inhaftierten wurden routinemäßigin Haftzellen der Polizei sowie in geheimenHafteinrichtungen festgehalten.

HaftbedingungenDie Haftbedingungen waren weiterhin extremhart und kamen grausamer, unmenschlicheroder erniedrigender Behandlung gleich. In denZellen herrschte starke Überfüllung; die Ge-fangenen erhielten weder ausreichende Nah-

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rung noch Trinkwasser. Es gab keine medizini-sche Versorgung, nicht einmal für schwere an-steckende Krankheiten wie Tuberkulose. Inden meisten Gefängnissen wurden Männer,Frauen und Kinder gemeinsam in Zellen fest-gehalten.ý In den Gefängnissen von Abéché, Sarh undDoba wurden Inhaftierte häufig angekettet. ImMärz 2012 mussten im Gefängnis von Abéchémindestens 15 Häftlinge Tag und Nacht Kettenan den Füßen tragen.

VerschwindenlassenEs wurden keine wirksamen Maßnahmen ein-geleitet, um diejenigen vor Gericht zu stellen,die mutmaßlich am »Verschwinden« des Oppo-sitionsführers Ibni Oumar Mahamat Saleh be-teiligt waren, dessen Aufenthaltsort seit mehrals vier Jahren unbekannt ist. Eine tschadi-sche Untersuchungskommission hatte 2009 inihrem Bericht bestätigt, dass er im Februar2008 in seiner Wohnung von acht Angehörigender Sicherheitskräfte festgenommen wordenwar.

Repressalien gegen politische GegnerDas Strafrecht wurde auch 2012 von tschadi-schen Amtsträgern instrumentalisiert, um po-litische Gegner zu schikanieren und die Justizzu beeinflussen.ý Im März 2012 wurde Gali Ngothé Gatta, Par-lamentsabgeordneter der oppositionellenUnion der Demokratischen Kräfte (Union desForces Démocratiques), festgenommen undvom zuständigen erstinstanzlichen Gericht inSarh im Süden des Landes wegen versuchterBestechung und Wilderei zu einer Freiheits-strafe von einem Jahr verurteilt. Obwohl seineImmunität als Abgeordneter nicht aufgehobenworden war, wurde er drei Tage nach seinerFestnahme vor Gericht gestellt und verurteilt. Erbefand sich zunächst im Gefängnis von Sarhund wurde, nachdem er Rechtsmittel eingelegthatte, ins Gefängnis von Moundou überstellt.Das Berufungsgericht in Moundou hob am24. April das Urteil der ersten Instanz wegen»gravierender Verfahrensfehler« auf und ord-nete die Freilassung von Gali Ngothé Gatta an.

Der Oberste Gerichtshof bestätigte später dieEntscheidung des Berufungsgerichts.ý Emmanuel Dekeumbé, Richter des Beru-fungsgerichts von Moundou, der sich gewei-gert hatte, Gali Ngothé Gatta zu verurteilen, unddie Verfahrensmängel kritisiert hatte, wurdevom Obersten Richterrat entlassen. Die Ent-scheidung des Richterrats wurde im Julidurch eine präsidentielle Verfügung bestätigt.

Recht auf freie MeinungsäußerungKirchenführerý Der katholische Bischof von Doba, Monsig-nor Michele Russo, wurde aufgrund einer Pre-digt, die er während einer Messe am 30. Sep-tember gehalten hatte, am 14. Oktober vonden Behörden des Landes verwiesen. In dervon einem Radiosender in Doba übertragenenPredigt hatte der Bischof die Misswirtschaft derBehörden und die ungleiche Verteilung desaus den Erdöleinnahmen der Region resultie-renden Wohlstands angeprangert.

JournalistenNach wie vor drohten die Behörden Medien-unternehmen und schikanierten Journalisten.ý Am 18. September 2012 wurde Jean-ClaudeNekim, Chefredakteur der 14-tägig erschei-nenden Zeitung N’Djamena Bi-Hebdo zu einemJahr Gefängnis auf Bewährung sowie einerGeldstrafe von 1 Mio. CFA (etwa 2000 US-Dollar) verurteilt, weil die Zeitung Passageneiner Eingabe des Tschadischen Gewerk-schaftsverbands (Union des Syndicats duTchad – UST) abgedruckt hatte. Man klagteihn wegen »Anstiftung zum Rassenhass« und»Diffamierung« an. Die Zeitung wurde außer-dem mit einem dreimonatigen Erscheinungs-verbot belegt. Seine Rechtsmittel gegen dieseEntscheidung waren Ende des Jahres nochanhängig.

MenschenrechtsverteidigerMenschenrechtsverteidiger, einschließlich Ge-werkschaftsführern, wurden tätlich attackiertund waren nach wie vor Einschüchterungsver-suchen und Schikanen durch Regierungsver-treter ausgesetzt. In einigen Fällen wurden

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Tschad 431

auch die Gerichte bemüht, um die Aktivistenzum Schweigen zu bringen.ý Am 18. September 2012 wurden drei füh-rende Mitglieder der UST, Michel Barka, You-nous Mahadjir und François Djondang, zu einerFreiheitsstrafe von jeweils 18 Monaten auf Be-währung und einer Geldstrafe von 1 Mio. CFA(etwa 2000 US-Dollar) verurteilt. Nach Ansichtdes erstinstanzlichen Gerichts in N’Djamenahatten sie sich im Zusammenhang mit der Pe-tition der UST, die Anfang September veröffent-licht worden war, der »Aufwiegelung zum Ras-senhass« und der »Verleumdung« schuldig ge-macht. Das Rechtsmittelverfahren war Ende2012 noch anhängig.ý Am 19. Oktober 2012 wurde Jacqueline Mou-deina, Rechtsanwältin und Vorsitzende derMenschrechtsorganisation Association tcha-dienne pour la promotion et la défense desdroits de l’Homme, vor ihrem Haus in N’Dja-mena von Unbekannten tätlich angegriffen.Sie blieb zwar unverletzt, aber die Männer nah-men ihren Wagen mit. Dieser wurde am22. Oktober in der Ortschaft Malo-Tama gefun-den, 35 km vom Ort des Geschehens entfernt.Der Vorfall ereignete sich wenige Tage nach-dem Jacqueline Moudeina für ihr Engagementfür die Menschenrechte offiziell mit dem RightLivelihood Award 2011, dem Alternativen No-belpreis, ausgezeichnet worden war. Es kam zuFestnahmen, doch war Ende 2012 nicht klar,ob gegen die mutmaßlichen Täter Anklage er-hoben worden war.ý Am 20. Oktober 2012 betraten sechs Männerin Gendarmerie-Uniformen das Grundstückvon Dobian Assingar, Menschenrechtsverteidi-ger und Ehrenpräsident der TschadischenMenschenrechtsliga. Sie durchsuchten dasHaus ohne Durchsuchungsbefehl und gabenan, nach einem gestohlenen Fahrzeug zu fahn-den. Dobian Assingar erstattete Anzeige, aufdie bis Jahresende jedoch noch keine Reaktionerfolgt war.

KindersoldatenImmer wieder gingen Berichte ein, denen zu-folge die tschadische Armee Kinder rekru-tierte. Vor allem in den Monaten Februar und

März 2012 sollen sehr viele Kinder rekrutiertworden sein. Auch tschadische und sudanesi-sche bewaffnete Gruppen rekrutierten nachwie vor Kinder und setzten sie als Soldaten ein.Von Februar bis April erreichten Amnesty In-ternational Informationen aus verschiedenenQuellen, nach denen aus den DépartementsAssoungha und Kimiti im Osten des Landesviele Kinder regelmäßig in den Sudan fuhrenund dort in bewaffneten Gruppen dienten. Un-ter ihnen befanden sich auch bereits demobi-lisierte Kinder, die mit ihren Familien zusam-mengeführt worden waren.ý Im Juni 2012 fanden Sozialarbeiter im Ausbil-dungslager der Armee in Mongo mindestens24 Kinder im Alter von 14 bis 17 Jahren.

Recht auf Wohnen –ZwangsräumungenIm gesamten Berichtsjahr kam es zu rechts-widrigen Zwangsräumungen, selbst in Fällen,in denen eine einstweilige Verfügung gegen dieRäumung vorlag. Die Betroffenen erhieltenweder Ersatzunterkünfte noch Entschädigun-gen – auch diejenigen nicht, denen vor Gerichteine Entschädigung zugesprochen wordenwar.ý Im Januar 2012 wurden in Sabangali,N’Djamena, über 600 Menschen mit Gewaltaus ihren Wohnungen vertrieben, weil an ihrerStelle ein Hotel gebaut werden sollte. Im Aprilwurde einigen Menschen, die von der Zwangs-räumung betroffen waren, ein Stück Landzugewiesen, aber nur die Hälfte der ehema-ligen Bewohner erhielt die von einer intermi-nisteriellen Kommission zugesagte Entschädi-gung.

Internationale Rechtsprechung –Hissène HabréAm 22. August 2012 unterzeichneten Senegalund die Afrikanische Union ein Abkommen,das die Einrichtung eines Sondergerichtshofsfür den Prozess gegen den früheren Präsiden-ten des Tschad Hissène Habré vorsieht. Dietschadischen Behörden gaben im Septemberbekannt, dass sie für den Prozess einen finan-ziellen Beitrag von 2 Mrd. CFA (rd. 4 Mio. US-

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432 Tschechien

Dollar) zugesichert hätten. Im Dezember verab-schiedete die senegalesische Nationalver-sammlung ein Gesetz zur Einrichtung einesSondergerichts für ein Verfahren gegen His-sène Habré.

Gewalt gegen Frauen und MädchenDie Behörden kamen durchgängig ihrer Ver-pflichtung nicht nach, sexuelle Gewalt zu ver-hindern und sie zu ahnden. Dies betraf sexuelleGewalt durch staatliche Funktionsträger wieauch andere Täter.ý In der Nacht vom 8. auf den 9. Januar 2012wurden 13 weibliche Gefangene im Gefängnisvon Moussoro von Aufsehern sexuell miss-braucht. Auf Anweisung des Justizministerswurden nach dem Vorfall alle Frauen aus demGefängnis in Moussoro in das Gefängnis vonAmsinene in N’Djamena verlegt. Bis Ende 2012war noch keine unabhängige Untersuchungdes Vorfalls eingeleitet worden.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International hielten sich im März

und im September im Tschad auf.ÿ Chad: ›We are all dying here‹: human rights violations in

prisons, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AFR20/007/2012/en

ÿ Chad: Judicial harassment of political opponents and jour-nalists must stop, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/chad-judicial-harassment-political-opponents-and-journalists-must-stop-2012

TschechienAmtliche Bezeichnung: Tschechische RepublikStaatsoberhaupt: Václav KlausRegierungschef: Petr Necas

Zwischenstaatliche Gremien, NGOs undMenschenrechtsexperten äußertenscharfe Kritik an der Regierung, weilsie keine effektiven Maßnahmen gegendie Segregation von Roma-Kindern im

Bildungssystem ergriffen hatte. Romawaren weiterhin von rechtswidrigenZwangsräumungen betroffen.

Diskriminierung – RomaRoma waren im Jahr 2012 weiterhin Einschüch-terungen und tätlichen Angriffen ausgesetzt.Das Europäische Zentrum für die Rechte derRoma (ECRR) berichtete über Brandanschlägeauf Unterkünfte von Roma-Familien und andereÜbergriffe sowie Anti-Roma-Kundgebungen.

BildungBildungsminister Josef Dobes, der in der Ver-gangenheit von NGOs heftig kritisiert wordenwar, weil er Versuche zur Beendigung der Se-gregation von Roma-Kindern in den Schulenverzögerte, legte im März 2012 sein Amt niederund wurde im Mai durch Petr Fiala ersetzt. Derneue Minister gab die Zusage, die Diskriminie-rung von Roma-Kindern beim Zugang zur Bil-dung zu beenden.

Im Oktober wurde die Menschenrechtssitua-tion der Tschechischen Republik im Rahmender Universellen Regelmäßigen Überprüfungdurch den UN-Menschenrechtsrat begutach-tet. Die Regierung wurde dabei dringend aufge-fordert, die anhaltende Segregation von Roma-Kindern in der Schule zu beenden und den Na-tionalen Aktionsplan für inklusive Bildung invollem Umfang umzusetzen.

Der Menschenrechtskommissar des Europa-rats, Nils Muiznieks, stellte im November fest,dass die sogenannten praktischen Schulen

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Tschechien 433

(früher als »Sonderschulen« bezeichnet) dieSegregation und Ungleichheit der Roma undden gegen sie gerichteten Rassismus aufrech-terhielten. Er plädierte dafür, diese Art vonSchulen nach und nach zu schließen und siedurch Regelschulen zu ersetzen, die in derLage sind, alle Schüler – unabhängig von ihrerethnischen Herkunft – aufzunehmen und zuunterstützen.

Im Dezember drückte das Ministerkomiteedes Europarats Besorgnis darüber aus, dassfünf Jahre nach der Entscheidung des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte imFall D. H. und andere gegen die TschechischeRepublik kaum Fortschritte dabei erzielt wor-den seien, die Ursachen für die Diskriminie-rung der Roma in den Schulen zu beseitigen.Das Komitee begrüßte jedoch die erneute Zu-sage der Regierung, die Segregation der Romaim Bildungssystem beenden zu wollen.

Wohnený Im August 2012 drohte mehr als 300 zur Be-völkerungsgruppe der Roma gehörenden Be-wohnern der Prednádrazí-Straße in Ostrava(Ostrau) die rechtswidrige Zwangsräumung,nachdem sie einen Räumungsbefehl erhaltenhatten, der ihnen 24 Stunden Zeit ließ, ihreUnterkünfte freiwillig zu räumen. Die meistenBewohner verließen schließlich ihr bisherigesWohnviertel und zogen in die ihnen angebote-nen Übergangsunterkünfte in Hostels, obwohlNGOs Bedenken geäußert hatten, weil dieneuen Unterkünfte teuer und überbelegt wa-ren. Als Antwort darauf erklärten sowohl die Re-gierung als auch der Bürgermeister vonOstrava, dass es nicht zu ihren Verantwortlich-keiten gehöre, diese Probleme zu lösen.ý Im Oktober 2012 urteilte das Obergericht vonOlomouc (Olmütz), dass die Verwaltung vonOstrava Roma, die dauerhafte Unterkünfte be-antragt hatten, nicht diskriminiert habe, als sieihnen zusätzliche Verwaltungsanforderungenauferlegte.ý Im November 2012 ließ die Stadtverwaltungvon Ústí nad Labem (Aussig an der Elbe) einGebäude im überwiegend von Roma bewohn-ten Stadtviertel Predlice gegen den Willen der

Bewohner räumen. 36 Bewohner waren davonbetroffen. Die Stadtverwaltung begründete dieMaßnahme damit, dass die Gebäude aufgrundder durch Baufälligkeit bestehenden Gefahrenunbewohnbar seien. Die Bewohner und ortsan-sässige Wohnrechtsaktivisten machten gel-tend, dass die Räumung ohne angemesseneKonsultation durchgeführt worden sei und dieStadtverwaltung keine anderweitige Unterbrin-gung zur Verfügung gestellt habe. Die vertrie-benen Roma wurden vorübergehend in einerörtlichen Turnhalle untergebracht und schließ-lich in Hostels, die sehr viel teurer als die frühe-ren Unterkünfte waren. Die Bewohner hattenauch Schwierigkeiten beim Zugang zu Schulenund anderen städtischen Dienstleistungen.Die in Predlice verbliebenen Bewohner be-fürchteten, dass weitere Zwangsräumungenfolgen könnten.

Zwangssterilisierung von Roma-Frauený Während der im Oktober 2012 durchgeführ-ten Universellen Regelmäßigen Überprüfungdurch den UN-Menschenrechtsrat wurde dieTschechische Republik erneut aufgefordert,Fälle von Sterilisierungen zu untersuchen, dieohne die Zustimmung der betroffenen Roma-Frauen durchgeführt worden waren, und zu-dem sicherzustellen, dass angemessene Ent-schädigung und Wiedergutmachung geleistetwürde.

Rechte von MigrantenNGOs kritisierten weiterhin die Festnahme vonAsylsuchenden und das Fehlen effektiverRechtsmittel gegen diese Praxis.ý Strafrechtliche Ermittlungen in mutmaß-lichen Fällen von Betrug, illegalem Handelund Erpressung zum Schaden von ausländi-schen Arbeitsmigranten in der Forstwirtschaftwurden fortgesetzt. Anwälte, die die betroffenenArbeiter vertraten, reichten mehrere Klagengegen Entscheidungen der Polizei ein, Ermitt-lungen in einzelnen Fällen einzustellen. DieAnwälte äußerten auch die Sorge, dass dielange Dauer der Verfahren zum Verlust wichti-ger Beweismittel führen könnte.ý Im Oktober 2012 entschied der Europäische

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Gerichtshof für Menschenrechte im FallBuishvilli gegen die Tschechische Republik,dass die tschechischen Behörden das Rechteines georgischen Asylsuchenden verletzt hät-ten, gegen seine Gewahrsamnahme gericht-lich vorzugehen. Der Mann war auf der Grund-lage der Dublin-II-Verordnung aus den Nieder-landen in die Tschechische Republik überstelltworden. Da das Innenministerium entschie-den hatte, ihm die Einreise in das Land zu ver-weigern, wurde er im Aufnahmezentrum amPrager Flughafen festgehalten. Er machte er-folgreich geltend, dass er nicht die Möglichkeitgehabt habe, seine Freilassung durch ein ge-richtliches Verfahren in die Wege zu leiten, daein Gericht zwar die Entscheidung des Ministe-riums aufheben, jedoch nicht seine Freilas-sung anordnen könne.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten die Tsche-

chische Republik in den Monaten Juni und Juli.ÿ Five more years of injustice: Segregated education for Roma

in Czech Republic, http://amnesty.org/en/library/info/EUR71/006/2012/en

ÿ Czech Republic: Joint NGO Submission – D. H. and Othersv. the Czech Republic, http://amnesty.org/en/library/info/EUR71/009/2012/en

ÿ Czech Republic: Comments to the consolidated action planfor the execution of the judgment of the European Court ofHuman Rights in the case of D. H. and Others v. the CzechRepublic, http://amnesty.org/en/library/info/EUR71/010/2012/en

TunesienAmtliche Bezeichnung: Tunesische RepublikStaatsoberhaupt: Moncef MarzoukiRegierungschef: Hamadi Jebali

Die Behörden schränkten das Recht auffreie Meinungsäußerung ein. MehrerePersonen wurden aufgrund von repressi-ven Gesetzen, die noch von der vorheri-

gen Regierung erlassen worden waren,strafrechtlich verfolgt. Erneut trafen Be-richte ein, denen zufolge die Polizei fürFolter und andere Misshandlungen so-wie exzessive Gewaltanwendung gegenDemonstrierende verantwortlich war.Angehörige von Menschen, die bei denMassenprotesten getötet oder verletztworden waren, die im Januar 2011 zumSturz von Präsident Zine el-Abidine Ben'Ali geführt hatten, forderten 2012 wei-terhin Gerechtigkeit und Entschädi-gungszahlungen. Einige ehemaligeStaatsbedienstete mussten sich vor Ge-richt verantworten und erhielten Frei-heitsstrafen. Frauen wurden weiterhindurch Gesetze und im täglichen Lebendiskriminiert. Mindestens neun Men-schen wurden zum Tode verurteilt, es fan-den jedoch keine Hinrichtungen statt.

HintergrundDer im Januar 2011 verhängte Notstand wurdeverlängert und blieb auch im gesamten Jahr2012 in Kraft.

Die Koalitionsregierung, die im Oktober 2011für ein Jahr gewählt worden war, blieb 2012 imAmt. Im Oktober kündigte sie Parlaments- undPräsidentschaftswahlen für Juni bzw. Juli 2013

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Tunesien 435

an. Die Verfassunggebende Versammlung, de-ren Aufgabe es war, eine neue Verfassungauszuarbeiten, legte im August einen erstenEntwurf vor. Gleichzeitig teilte sie mit, dass siemehr Zeit benötige als die ursprünglich vorge-sehenen zwölf Monate. Daraufhin wurde ihreine Frist bis Februar 2013 eingeräumt. Im Be-zug auf die Menschenrechte bot der erste Ent-wurf aus verschiedenen Gründen Anlass zu Kri-tik. Dies galt insbesondere für Artikel, die denStatus von Frauen und das Recht auf Leben be-trafen. Für Kritik sorgte auch, dass Äußerun-gen, die als Beleidigung der Religion verstan-den werden könnten, unter Strafe gestellt wer-den sollten.

Die islamistische Partei Ennahda brachte imAugust einen Gesetzentwurf in die Verfas-sunggebende Versammlung ein, wonach Taten,die als Beleidigung »der Religion und des Hei-ligen« gelten können, strafbar sein sollen. En-nahda ist die stärkste Partei innerhalb der Re-gierungskoalition. Ende 2012 waren die Bera-tungen der Verfassunggebenden Versamm-lung über den Gesetzentwurf noch nicht abge-schlossen.

Die Behörden unternahmen Schritte, um dasJustizwesen zu reformieren und die Unabhän-gigkeit der Gerichte zu stärken. Im Mai 2012entließ der Justizminister 82 Richter wegenKorruptionsvorwürfen, neun von ihnen wurdenjedoch einen Monat später wieder eingestellt.Mehr als 700 Richter erhielten im Septembervom Obersten Justizrat (Conseil Supérieur dela Magistrature – CSM) neue Aufgabenbereichezugeteilt oder wurden versetzt bzw. befördert.Politische Differenzen verhinderten, dass dieVerfassunggebende Versammlung einen Ge-setzentwurf verabschiedete, der den CSMdurch einen Übergangsjustizrat ersetzt hätte.Der Gesetzentwurf enthielt keine ausreichen-den Schutzklauseln gegen die willkürliche Ent-lassung oder Versetzung von Richtern. Er hätteder Regierung zudem eine erhebliche Ein-flussnahme auf den vorgesehenen neuen Jus-tizrat eingeräumt. Im September ernanntesich der Justizminister selbst zum Vorsitzendendes CSM. Dieses Amt hatte zuvor der früherePräsident Ben 'Ali inne gehabt.

Auch 2012 kam es zu öffentlichen Protestenund Demonstrationen, u. a. von religiösenGruppen sowie Menschen, die zügigere Refor-men und bessere Lebensbedingungen forder-ten. Aber auch Frauenrechtlerinnen und enga-gierte Bürger, die sich für eine Medienreformund mehr Meinungsfreiheit einsetzten, gingenauf die Straße. Bei einigen Kundgebungenkam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, dievon der Polizei mit – teilweise exzessiver – Ge-walt bekämpft wurden. In Siliana, einer Stadtsüdwestlich von Tunis, sollen rund 300 De-monstrierende und Passanten verletzt wordensein, als die Polizei am 27., 28. und 29. Novem-ber 2012 mit exzessiver Gewalt gegen Kundge-bungen vorging. Die Protestierenden fordertenden Rücktritt des Gouverneurs von Siliana, eineVerbesserung der wirtschaftlichen Situationihrer Stadt und die Freilassung von 13 Häftlin-gen, die bei Protesten im April 2011 festge-nommen worden waren.

Der Polizei wurde jedoch auch vorgeworfen,mehrfach nicht rechtzeitig eingegriffen zu ha-ben, als Künstler, Schriftsteller und andere Per-sonen von religiösen Extremisten gewaltsamattackiert wurden. Die Angreifer waren demVernehmen nach zumeist Salafisten (Sunni-ten, die eine Rückkehr zu den ihrer Meinungnach fundamentalen Prinzipien des Islam for-dern). Die Angriffe richteten sich sowohl gegenmutmaßliche Alkoholhändler als auch gegenKunstausstellungen, Kulturveranstaltungenund andere Anlässe. Im September wurde dieUS-Botschaft angegriffen, nachdem ein ver-meintlich anti-islamischer Film im Internetaufgetaucht war.

Berichten zufolge wurden zahlreiche Salafis-ten nach diesen Übergriffen in Gewahrsamgenommen. Mehr als 50 Häftlinge traten ausProtest gegen ihre Festnahme und ihre Haft-bedingungen in einen Hungerstreik. Im No-vember starben zwei von ihnen in Gewahrsaman den Folgen. Die meisten der Hungerstrei-kenden sollen ihren Protest Ende 2012 been-det haben. Nach der Festnahme eines weiterenSalafisten im Oktober überfielen Salafistendem Vernehmen nach zwei Polizeiwachen inManouba. Dabei wurden zwei Polizeibeamte

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436 Tunesien

getötet, zahlreiche weitere erlitten Verletzun-gen.

Im Mai 2012 beschäftigte sich der UN-Men-schenrechtsrat im Rahmen der UniversellenRegelmäßigen Überprüfung mit der Menschen-rechtslage in Tunesien. Die Regierung akzep-tierte die meisten der Empfehlungen des UN-Gremiums, lehnte einige jedoch auch ab.Dazu gehörten die Abschaffung des Straftatbe-stands Verleumdung, die Legalisierung gleich-geschlechtlicher Beziehungen, die Aufhebungvon Gesetzen, die Frauen diskriminieren, so-wie die Abschaffung der Todesstrafe.

Im September besuchten die Sonderbericht-erstatterinnen über Menschenrechtsverteidi-ger der Vereinten Nationen und der Afrikani-schen Union Tunesien.

ÜbergangsjustizIm Januar 2012 schuf die Regierung ein Minis-terium für Menschenrechte und Übergangs-justiz. Es soll Strategien zur Aufarbeitung derMenschenrechtsverletzungen in der Vergan-genheit entwickeln und den Schutz der Men-schenrechte in der Zukunft sicherstellen. Al-lerdings erklärte der neue Minister einen Monatspäter öffentlich, Homosexualität sei keinMenschenrecht, sondern eine »Perversion«.

Im April bildete das Justizministerium einenAusschuss aus Behördenvertretern und Ange-hörigen der Zivilgesellschaft, um mit Menschenim ganzen Land über Themen wie Wahrheit,Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Refor-men zu beraten. Der Ausschuss erarbeiteteeinen Gesetzentwurf, der die Schaffung einerunabhängigen Kommission für Wahrheit undWürde (Commission de la vérité et de la dignité)vorsieht, die den Prozess der Übergangsjustizmaßgeblich bestimmen soll. Der Gesetzentwurfging im Oktober an den Präsidenten und dieVerfassunggebende Versammlung.

Im November besuchte der UN-Sonderbe-richterstatter über die Förderung der Wahr-heit, der Gerechtigkeit, der Wiedergutmachungund der Garantien der Nichtwiederholung Tu-nesien. In seiner Stellungnahme äußerte er dieBefürchtung, dass der Prozess der Über-gangsjustiz in Tunesien nicht umfassend genug

sei. Außerdem werde den vier Elementen derÜbergangsjustiz – Wahrheit, Gerechtigkeit,Wiedergutmachung und Garantien der Nicht-wiederholung – nicht dieselbe Bedeutung bei-gemessen.

Im Mai legte die sogenannte Bouderbala-Kommission ihren Bericht vor. Die Untersu-chungskommission sollte Menschenrechtsver-stöße aufklären, die ab dem 17. Dezember2010 begangen worden waren. Der Berichtschilderte die Ereignisse während der Mas-senproteste, die zum Sturz der Regierung vonPräsident Ben 'Ali führten, und verzeichnetedie Namen der Getöteten und Verletzten. DerKommission gelang es jedoch nicht, die Perso-nen zu ermitteln, die für die Anwendung töd-licher Gewalt und andere Menschenrechtsver-letzungen verantwortlich waren.

Die Behörden boten den Angehörigen der Ge-töteten und den Verletzten Entschädigungs-zahlungen und medizinische Behandlung an.Doch wurde Kritik laut, die Zahlungen würdennicht die Schwere der Verletzungen und andereFaktoren berücksichtigen, wie z. B. den Ver-lust eines Studienplatzes oder einer Arbeits-stelle. Einige Familien von getöteten Demons-trierenden lehnten die finanzielle Entschädi-gung ab, weil nach ihrer Auffassung der Ge-rechtigkeit damit nicht Genüge getan war.

Eine Reihe hochrangiger Staatsbediensteter,die unter Präsident Ben 'Ali im Amt gewesenwaren, wurden im Zusammenhang mit den Tö-tungen von Demonstrierenden während derProteste im Dezember 2010 und Januar 2011schuldig gesprochen und erhielten lange Haft-strafen. Einige ehemalige Beamte auf untererund mittlerer Ebene wurden verurteilt und in-haftiert, weil sie persönlich für die Erschießungvon Protestierenden verantwortlich waren.ý Im Juni 2012 wurde der ehemalige Innenmi-nister Rafiq Belhaj Kacem von einem Militär-gericht in Kef zu zwölf Jahren Haft verurteilt.Das Urteil erging wegen Mitschuld an der Er-mordung von Protestierenden in Kasserine,Thala, Kairouan und Tajerouine. Vier ehema-lige hochrangige Mitarbeiter der Abteilung fürStaatssicherheit (Direction de la sûreté del’État – DSE) wurden für schuldig befunden und

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erhielten Freiheitsstrafen von bis zu zehn Jah-ren. Gegen sechs ehemalige Beamte des mitt-leren Dienstes ergingen Haftstrafen wegenMordes.ý Der ehemalige Präsident Ben 'Ali wurde imJuli von einem Militärgericht in Tunis in Abwe-senheit zu einer lebenslangen Freiheitsstrafeverurteilt. Ihm wurde zur Last gelegt, für dieTötungen und Verletzungen von Demonstrie-renden im Großraum Tunis verantwortlich zusein. 39 ehemalige Angehörige seiner Sicher-heitskräfte erschienen vor Gericht. Sie wurdenfür schuldig befunden und zu Haftstrafen vonbis zu 20 Jahren verurteilt. Gegen die Urteilewurden bei einem MilitärberufungsgerichtRechtsmittel eingelegt. Ende 2012 war darü-ber noch nicht entschieden worden.

Das Vorgehen gegen ehemalige Staatsbe-dienstete wegen Verbrechen, die während derAufstände begangen worden waren, war ausverschiedenen Gründen kritikwürdig, insbe-sondere, weil die Prozesse vor Militärgerichtenund nicht vor Zivilgerichten stattfanden. Opfer,Familienangehörige und Rechtsbeistände kriti-sierten, den Ermittlungen der Staatsanwalt-schaft mangele es an Gründlichkeit. Außerdemklagten sie über Einschüchterungen durchTatverdächtige und Angeklagte, die teilweisenach wie vor Führungspositionen innehatten.

Folter und andere Misshandlungen2012 gingen erneut Berichte über Folter undandere Misshandlungen ein. Nach einer öf-fentlichen Anhörung teilte das Ministerium fürMenschenrechte und Übergangsjustiz im Au-gust mit, man plane eine unabhängige natio-nale Einrichtung zur Bekämpfung von Folter.Sie solle die Befugnis für Besuche in Haftzen-tren erhalten, sich an Gesetzentwürfen beteili-gen, einen jährlichen Bericht vorlegen und ihreTätigkeit an internationalen Standards aus-richten.ý Abderraouf Khemmassi starb am 8. Septem-ber 2012 in Tunis in Polizeigewahrsam. Er warelf Tage zuvor wegen mutmaßlichen Diebstahlsfestgenommen worden. Bei einer Autopsiestellte man mehrere Verletzungen fest und gabals Todesursache einen Schlag gegen den

Kopf an. Daraufhin wurden vier Polizeibeamtefestgenommen und angeklagt, den Tod desHäftlings verursacht zu haben.

Recht auf freie MeinungsäußerungObwohl die Behörden beteuerten, man werdedas Recht auf freie Meinungsäußerung ach-ten, gingen sie erneut gegen Journalisten,Künstler, Blogger und Regierungskritiker vor.Sie bezogen sich dabei auf die Artikel 121(3)und 226 des Strafgesetzbuchs. Diese stellenMeinungsäußerungen unter Strafe, die als Be-drohung der öffentlichen Ordnung, der öffent-lichen Moral oder heiliger Werte angesehenwerden. Im Oktober 2012 hieß es hingegen,man wolle künftig die Dekrete 115 und 116 ausdem Jahr 2011 anwenden, die sich auf diePresse und audiovisuelles Material beziehen.ý Jabeur Mejri und Ghazi Beji wurden im März2012 gemäß der Artikel 121(3) und 226 desStrafgesetzbuchs sowie Artikel 86 des Telekom-munikationsgesetzes schuldig gesprochen,den Islam und die Muslime beleidigt zu haben.Die beiden Männer hatten Kommentare undBilder des Propheten Mohammed im Internetveröffentlicht. Sie erhielten Geldbußen undFreiheitsstrafen von siebeneinhalb Jahren – dasmaximal zulässige Strafmaß. Am 25. Juni be-stätigte das Berufungsgericht in Monastir dieUrteile. Der Fall wurde an das Kassationsge-richt weitergeleitet, das bis Jahresende nochnicht entschieden hatte. Ghazi Beji war ausTunesien geflohen und wurde in Abwesenheitverurteilt. Jabeur Mejri befand sich Ende 2012noch immer im Gefängnis von Mehdia.

Im Juni 2012 griffen Salafisten eine Kunstaus-stellung in Tunis an, da einige der gezeigtenKunstwerke ihrer Meinung nach den Islam be-leidigten. In anderen Städten kam es darauf-hin zu großen Protestkundgebungen. Im Sep-tember stürmten Demonstrierende die US-Botschaft, nachdem ein vermeintlich islam-feindlicher Film im Internet veröffentlicht wor-den war. Bei den gewaltsamen Protesten wur-den Berichten zufolge vier Menschen getötet,weitere erlitten Verletzungen.ý Die beiden Künstler Nadia Jelassi und Moha-med Ben Slima mussten wegen der Kunstaus-

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stellung, die im Juni 2012 von Salafisten ange-griffen wurde, zur Vernehmung beim Ermitt-lungsrichter erscheinen. Ihnen wurde vorge-worfen, heilige Werte angegriffen, gegen dieguten Sitten verstoßen und die öffentliche Ord-nung gestört zu haben. Der Fall war Ende desJahres noch anhängig.ý Ayoub Massoudi wurde im September 2012schuldig gesprochen, das Ansehen der Streit-kräfte untergraben und einen Staatsbedienste-ten verleumdet zu haben. Er erhielt eine vier-monatige Haftstrafe auf Bewährung und durftevorerst nicht ins Ausland reisen. Massoudi warals Präsidentenberater zurückgetreten undhatte öffentlich die Auslieferung des ehemali-gen libyschen Ministerpräsidenten Al-BaghdadiAli al-Mahmudi von Tunesien an Libyen kriti-siert. Er warf dem Verteidigungsminister unddem Oberbefehlshaber der Armee vor, denPräsidenten nicht über die geplante Ausliefe-rung in Kenntnis gesetzt zu haben. Massoudiwurde aufgrund von Artikel 98 des Militärstraf-gesetzbuchs und Artikel 128 des Strafgesetz-buchs der Prozess gemacht.

FrauenrechteFrauen wurden weiterhin durch Gesetze und imtäglichen Leben diskriminiert. Der UN-Men-schenrechtsrat empfahl im Rahmen der Uni-versellen Regelmäßigen Überprüfung, Ge-setze abzuschaffen, die Frauen im Bezug aufdas Erbrecht und das Sorgerecht für Kinderbenachteiligten. Dies wurde von der Regierungjedoch zurückgewiesen. Das Strafgesetzbuchenthielt nach wie vor zahlreiche diskriminie-rende Regelungen. So konnte ein Täter, dereine minderjährige Frau entführt oder vergewal-tigt hatte, der Strafverfolgung entgehen, indemer das Opfer heiratete.ý Eine 27-jährige Frau beschuldigte zwei Poli-zeibeamte, sie vergewaltigt zu haben, wäh-rend ein dritter versucht habe, von ihrem Ver-lobten Geld zu erpressen. Daraufhin wurde sieim September selbst wegen ungebührlichenVerhaltens angezeigt. Die Polizei gab an, manhabe sie und ihren Verlobten in einer »verfäng-lichen Situation« vorgefunden. Das Paarmusste vor einem Untersuchungsrichter er-

scheinen. Sie erstatteten Anzeige gegen diedrei Polizeibeamten, die daraufhin festgenom-men wurden und mit einem Strafverfahrenrechnen mussten. Die Anklagen gegen die Frauund den Mann wurden später fallen gelassen.

TodesstrafeDie Todesstrafe blieb 2012 in Kraft. Berichtenzufolge wurden mindestens neun Todesurteileverhängt. Der UN-Menschenrechtsrat empfahlim Rahmen der Universellen RegelmäßigenÜberprüfung, die Todesstrafe abzuschaffen.Dies wurde von der Regierung im Septemberzurückgewiesen. Doch hielt sie das De-facto-Moratorium für Hinrichtungen aufrecht, dasseit 1991 gilt. Nach Angaben der Behördenwurden 2012 insgesamt 125 Todesurteile inHaftstrafen umgewandelt. In den Todeszellenbefanden sich Ende des Jahres nach offiziel-len Informationen 179 Gefangene.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Tunesien

im September.ÿ Tunisia: Submission for consideration by the National Consti-

tuent Assembly on the guarantee of political, civil, econo-mic, social and cultural rights in the new Constitution,http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE30/004/2012/en

ÿ One step forward, two steps back? One year since Tunisia‘slandmark elections, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE30/010/2012/en

TürkeiAmtliche Bezeichnung: Republik TürkeiStaatsoberhaupt: Abdullah GülRegierungschef: Recep Tayyip Erdogan

Trotz einiger zögerlicher Reformen bliebdie Meinungsfreiheit weiterhin einge-schränkt. Die Polizei ging bei der Auflö-sung friedlicher Demonstrationen mitunverhältnismäßiger Gewaltanwendung

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vor. Die Untersuchungen und strafrecht-lichen Verfahren zu mutmaßlichen Men-schenrechtsverletzungen durch Staats-bedienstete waren mit Mängeln behaftet.Auch 2012 wurden auf der Grundlageder Antiterrorgesetze unfaire Gerichts-verfahren durchgeführt. Bei Bombenan-schlägen kamen auch Zivilpersonen zuTode. Die Bemühungen um Anerken-nung des Rechts auf Kriegsdienstverwei-gerung und um ein Verbot der Diskrimi-nierung aus Gründen der sexuellen Ori-entierung oder der geschlechtlichenIdentität blieben erfolglos. Der rechtlicheSchutz für Frauen und Mädchen vor Ge-walt wurde zwar gestärkt, doch die Um-setzung der Mechanismen in die Praxiswar unzulänglich. Bis zum Jahresendesuchten fast 150000 syrische Flücht-linge Zuflucht in der Türkei.

HintergrundDie Debatte über die Annahme einer neuenVerfassung währte 2012 das gesamte Jahr,doch gab es kaum Anzeichen für einen Kon-sens unter den politischen Parteien und füreine wirksame Beteiligung der Zivilgesellschaft.

Im Oktober genehmigte das Parlament dieMöglichkeit einer militärischen Intervention inSyrien für zwölf Monate und verlängerte außer-dem das Mandat der Regierung zur Bekämp-fung der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) imNordirak um ein weiteres Jahr. Der Beschluss

des Parlaments erfolgte, nachdem in der türki-schen Grenzstadt Akçakale in der ProvinzSanlıurfa eine syrische Granate eingeschlagenwar und fünf Menschen getötet hatte.

Die bewaffneten Auseinandersetzungen zwi-schen den türkischen Streitkräften und derPKK nahmen im Berichtsjahr zu. Allein im Sep-tember hat die Armee nach eigenen Angaben500 PKK-Mitglieder »kampfunfähig« gemacht.Im Dezember gab die Regierung die Auf-nahme von Verhandlungen mit der PKK be-kannt.

Von Februar bis April und erneut von Septem-ber bis November 2012 protestierten Hun-derte Gefängnisinsassen im ganzen Land miteinem Hungerstreik u. a. gegen die Weigerungder Behörden, dem inhaftierten PKK-AnführerAbdullah Öcalan Besuch von seinen Anwältenzu gestatten. Nach entsprechenden Aufrufenvon Öcalan wurden die Hungerstreiks einge-stellt.

Im Mai 2012 verabschiedete das Parlamentein Gesetz zur Stadtentwicklung, das die Ver-fahrensgarantien betroffener Einwohner ein-schränkte und die Sorge noch verstärkte, dassentsprechende Projekte zu Zwangsräumungenführen würden. Im Oktober verabschiedetedas Parlament ein neues Gewerkschaftsgesetz,das ILO-Standards wie dem Recht auf Streikund auf Tarifverhandlungen nicht genügte.

Im September wurden mehr als 300 aktiveund pensionierte Militärangehörige wegen Pla-nung eines gewaltsamen Putsches verurteilt.Dieser Balyoz-Prozess, benannt nach demmutmaßlichen Putschplan (»Vorschlagham-mer«) der türkischen Militärs, spaltete die öf-fentliche Meinung in zwei Lager; einerseits wer-teten einige das Urteil als Sieg über die Straf-losigkeit bei Machtmissbrauch des Militärs, an-dererseits glaubten viele, dass die Beweise,die zur Verurteilung geführt hatten, fingiert wor-den waren.

Recht auf freie MeinungsäußerungBei den Bemühungen, den Einschränkungender freien Meinungsäußerung in den Medienund generell in der Zivilgesellschaft entgegen-zutreten, wurden kaum Fortschritte erzielt.

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Wer gewaltfrei abweichende Meinungen kund-tat, gerade auch zu kontroversen politischenFragen, oder wer öffentliche Amtsträger und In-stitutionen kritisierte, wurde häufig zur Ziel-schreibe strafrechtlicher Verfolgung, besonderswenn es um Fragen der Rechte von Kurdenging.

Im Juli 2012 verabschiedete das Parlament imRahmen des »dritten Gesetzespakets« eineReihe von Reformen zur Abschaffung bzw. Än-derung einiger Gesetze, die bislang zur Be-schneidung des Rechts auf freie Meinungsäu-ßerung genutzt worden waren. Die relevantenStraftatbestände, insbesondere die in den Anti-terrorgesetzen vorgesehenen, wurden jedochnicht geändert.ý Im Februar 2012 musste der Menschen-rechtsverteidiger und KriegsdienstverweigererHalil Savda seine Gefängnisstrafe antreten, zuder er nach Artikel 318 des Strafgesetzbuchswegen »Entfremdung der Bevölkerung vom Mi-litärdienst« verurteilt worden war. Im Aprilwurde ihm der Rest der 100-tägigen Strafe aufBewährung erlassen. Im September erhielt ereine Geldbuße und durfte seinen »Friedens-marsch« in der südlichen Provinz Osmaniyezunächst nicht fortsetzen. Im Dezember wurdeer in zwei anderen Verfahren, die nach Artikel318 gegen ihn angestrengt worden waren, frei-gesprochen. Eine weitere Verurteilung nachArtikel 318 war Ende 2012 noch vor dem Obers-ten Berufungsgericht anhängig.ý Im Oktober 2012 begann das Verfahren ge-gen den Pianisten Fazıl Say, der nach Artikel216 des türkischen Strafgesetzbuchs wegen»öffentlicher Verunglimpfung religiöser Werte«angeklagt worden war, weil er sich bei Twitterüber religiöse Persönlichkeiten und die islami-sche Vorstellung vom Himmel lustig gemachthatte.ý Im März 2012 wurden die beiden Journalis-ten Ahmet Sık und Nedim Sener nach 375 Ta-gen aus der Untersuchungshaft entlassen. Diestrafrechtliche Verfolgung der beiden sowieanderer Journalisten wegen »Begehen einerStraftat im Namen einer terroristischen Orga-nisation« nach Artikel 220 /6 des Strafgesetz-buchs war Ende 2012 noch nicht abgeschlos-

sen. Den Journalisten wird Unterstützung derMedienstrategie von Ergenekon vorgeworfen,einem mutmaßlich kriminellen Netzwerk mitVerbindungen zum Militär und zu anderenstaatlichen Einrichtungen, das den Sturz derRegierung geplant haben soll.ý Die Massenprozesse wegen mutmaßlicherMitgliedschaft in der Union der Gemeinschaf-ten Kurdistans (KCK), die Verbindungen zurPKK haben soll, wurden im gesamten Jahrfortgesetzt. Im September begann das Verfah-ren gegen 44 Journalisten, denen die Mitglied-schaft in der KCK zur Last gelegt wird.ý Ein separates Verfahren gegen 193 Personenwegen KCK-Mitgliedschaft, darunter der Verle-ger Ragıp Zarakolu und die Politikwissenschaft-lerin Büsra Ersanlı, war Ende 2012 noch nichtbeendet. Die Beweise gegen Ragıp Zarakoluund Büsra Ersanlı gründeten auf ihrer Tätig-keit für die Politik-Akademie der pro-kurdi-schen Partei für Frieden und Demokratie(BDP), einer anerkannten politischen Partei.Beide wurden im April bzw. Juli aus der Unter-suchungshaft entlassen.

Folter und andere MisshandlungenAuch 2012 wurden Vorwürfe über Folter undandere Misshandlungen in offiziellen Haftein-richtungen laut. Im Juni verabschiedete dasParlament neue gesetzliche Bestimmungenzur Einrichtung des Amts einer Ombudspersonund einer nationalen Menschenrechtsinstitu-tion. Diese Institution erhielt jedoch keine ange-messenen Garantien, um ihre unabhängigeArbeit zu ermöglichen. Ende des Jahres warnoch unklar, ob bzw. inwieweit sie die Ver-pflichtungen aus dem Fakultativprotokoll zumUN-Übereinkommen gegen Folter einhaltenund eine unabhängige Überwachung von Haft-zentren durchführen kann. Weitere unabhän-gige Mechanismen, die die Regierung zugesagthatte, wie ein Verfahren für Beschwerden ge-gen Polizeibeamte, wurden 2012 nicht einge-richtet.ý Nach Vorwürfen des (u. a. auch sexuellen)Missbrauchs wurde im März 2012 eine Reihevon Jungen aus dem Gefängnis in Pozantı inder südlichen Provinz Adana verlegt. Eine offi-

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zielle Untersuchung des Geschehens war Ende2012 noch nicht abgeschlossen. Der Europäi-sche Ausschuss für die Verhütung von Folter(CPT) besuchte das Gefängnis Pozantı imJuni; sein Bericht war Ende des Jahres nochnicht veröffentlicht.

Unverhältnismäßige GewaltanwendungIm Berichtsjahr wurden wiederholt Vorwürfelaut, wonach die Polizei bei Demonstrationenexzessive Gewalt angewandt hatte, darunterauch Schläge. Drei Protestierende sollen anden Folgen unverhältnismäßiger Gewaltanwen-dung gestorben seiný Im Dezember 2012 wurden bis zu 50 Studie-rende bei Auseinandersetzungen mit der Poli-zei auf dem Campus der Technischen Universi-tät in der Hauptstadt Ankara verletzt. Zuvorhatte die Polizei eine friedliche Protestkundge-bung gegen den Besuch des Ministerpräsi-denten aufzulösen versucht. Ein Student wurdevon einer Reizgasgranate am Kopf getroffenund mit Verdacht auf Gehirnblutung ins Kran-kenhaus eingeliefert.

StraflosigkeitEs wurden nach wie vor keine wirkungsvollenUntersuchungen und strafrechtlichen Ermitt-lungen in Fällen von mutmaßlichen Menschen-rechtsverstößen durch Staatsbedienstetedurchgeführt. In Fällen, in denen Strafverfah-ren eröffnet wurden, bestanden nur geringeChancen, dass die Verantwortlichen auch tat-sächlich zur Rechenschaft gezogen werdenwürden. Sofern Schuldsprüche erfolgten, er-hielten die Täter häufig Bewährungsstrafenund blieben im Amt.ý Im Januar 2012 endete das Strafverfahrengegen vier Männer wegen Beihilfe zum Mordan dem Journalisten und Menschenrechtsver-teidiger Hrant Dink im Jahr 2007. Die verhäng-ten Strafen reichten von zehn Wochen Frei-heitsentzug wegen Besitzes von Munition biszu lebenslanger Haft wegen Anstiftung zumMord. Das Gericht erklärte, die Verurteiltenseien Einzeltäter gewesen und würden deshalbvom Tatvorwurf der »Mitgliedschaft in einer il-legalen Organisation« freigesprochen. Eine um-

fassende Untersuchung zur Beteiligung vonStaatsbediensteten an Hrant Dinks Ermordungwar noch immer nicht erfolgt.ý Im Juli 2012 wurde Polizeikommissar SedatSelim Ay, der im Jahr 2004 wegen Misshand-lung von Gefangenen für schuldig befundenworden war, zum stellvertretenden Leiter derAbteilung für Terrorismusbekämpfung im Poli-zeipräsidium Istanbul ernannt.ý Die Untersuchung eines Angriffs der türki-schen Luftwaffe auf eine Gruppe von Zivilper-sonen im Dezember 2011 im Bezirk Uludere inder Provinz Sırnak nahe der irakischenGrenze, bei dem 34 Menschen ums Leben ge-kommen waren, verlief unbefriedigend. DieMilitärangehörigen erklärten, sie hätten bewaff-nete PKK-Mitglieder ins Visier genommen unddabei versehentlich 34 Dorfbewohner getötet.Die Vertreter der Anklage nahmen weder un-verzüglich Ermittlungen am Tatort auf nochwurden Augenzeugen befragt.ý Im Oktober 2012 verhängte ein IstanbulerGericht im Wiederaufnahmeverfahren zumFall von Engin Çeber, der 2008 in Untersu-chungshaft gestorben war, gegen drei Gefäng-nisbedienstete Schuldsprüche wegen der »Her-beiführung des Todes durch Folter«. Das Wie-deraufnahmeverfahren war eingeleitet worden,weil das Oberste Berufungsgericht das ur-sprüngliche Urteil wegen Verfahrensfehlernkassiert hatte. Ende 2012 war der Fall noch vordem Obersten Berufungsgericht anhängig.

Unfaire GerichtsverfahrenAuch 2012 gab es unfaire Gerichtsverfahren,insbesondere in Fällen, die nach den Antiter-rorgesetzen vor den Gerichten für schwereStrafsachen verhandelt wurden. Auch dieübermäßig lange Untersuchungshaft bei langewährenden Verfahren stellte nach wie vor einProblem dar, obwohl im Juli die gesetzlichenBestimmungen geändert wurden, um diesenMangel zu beheben. In vielen Gerichtsverfah-ren wurden geheime Zeugenaussagen ver-wendet, die von der Verteidigung nicht ange-fochten werden konnten, und nach wie vorwurden Urteile gefällt, ohne dass verlässlicheund substanzielle Beweismittel vorlagen. Tau-

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sende solcher Verfahren, bei denen die Anklageauf Verstoß gegen die Antiterrorgesetze lau-tete, betrafen die mutmaßliche Teilnahme anDemonstrationen, und viele Angeklagte warenStudierende. Die im Juli vom Parlament verab-schiedeten Reformen der Gerichte fürschwere Strafsachen waren Ende 2012 nochnicht umgesetzt worden.ý Der Student Cihan Kırmızıgül wurde im März2012 aus dem Gefängnis entlassen, nachdemer 25 Monate in Untersuchungshaft gesessenhatte. Im Mai wurde er wegen »kriminellerSachbeschädigung« und »Begehen einer Straf-tat im Namen einer terroristischen Organisa-tion« zu elf Jahren und drei Monaten Haft ver-urteilt. In der Urteilsbegründung hieß es, erhabe ein traditionelles Tuch getragen, das denTüchern ähnelte, die auf einer anderen De-monstration von Personen getragen wordenseien, die Molotow-Cocktails geworfen hätten.Die Behauptung eines Polizeibeamten, er habeCihan Kırmızıgül am Ort des Geschehens ge-sehen, widersprach den Aussagen andererPolizisten. Ende 2012 war das Berufungsver-fahren noch anhängig.

Menschenrechtsverstöße bewaffneterGruppenAuch im Jahr 2012 kamen Zivilpersonen beiBombenangriffen nicht identifizierter Einzel-personen oder Gruppen ums Leben. Unter Ver-stoß gegen das humanitäre Völkerrecht ent-führte die PKK Zivilisten.ý Im August wurden in der südöstlichen Pro-vinz Gaziantep durch eine Bombenexplosionin der Nähe einer Bushaltestelle neun Zivilper-sonen getötet und mehr als 60 weitere verletzt.Die türkischen Behörden machten die PKK fürden Anschlag verantwortlich, diese wies denVorwurf jedoch zurück.ý Im Oktober starben zwei Zivilisten, als ihrAuto in der Nähe der Gendarmerie-StationAsagı Torunoba in der Provinz Tunceli /Dersimüber eine Landmine fuhr.ý Im August entführte die PKK den Abgeordne-ten für Tunceli /Dersim, Hüseyin Aygün. Nach48 Stunden wurde er unverletzt wieder freige-lassen.

KriegsdienstverweigererEs wurden 2012 keine Reformen auf den Weggebracht, um die Anerkennung des Rechtsauf Kriegsdienstverweigerung zu gewährleistenoder um zu verhindern, dass Kriegsdienstver-weigerer mehrmals strafrechtlich verfolgt wer-den. Wer sich in der Öffentlichkeit für diesesRecht aussprach, musste mit Strafverfolgungs-maßnahmen rechnen.ý Im Oktober wurde Inan Süver mit der Be-gründung aus dem Gefängnis entlassen, seinein Untersuchungshaft verbrachte Zeit müssevon seiner Freiheitsstrafe abgezogen werden.Die Vollstreckung einer weiteren Strafe wegenVerweigerung des Militärdienstes war Ende2012 noch nicht erfolgt.ý Der Europäische Gerichtshof für Menschen-rechte erließ mehrere Urteile gegen die Türkei,weil diese das Recht auf Kriegsdienstverweige-rung nicht anerkannt habe. Regierungsvertre-ter gaben widersprüchliche Erklärungen dazuab, ob sie dieses Recht künftig anerkennenwerden oder nicht.ý Im März 2012 stellte der UN-Menschen-rechtsausschuss fest, dass die Türkei mit ihrerWeigerung der Anerkennung des Rechts aufKriegsdienstverweigerung in den beiden Fäl-len von Cenk Atasoy und Arda Sarkut gegen Ar-tikel 18 des Internationalen Pakts über bürger-liche und politische Rechte verstoßen hat.

Flüchtlinge und AsylsuchendeZehntausende Flüchtlinge aus Syrien suchten2012 Schutz in der Türkei. Nach den vom UN-Hochkommissar für Flüchtlinge (UNHCR) zitier-ten offiziellen Angaben der türkischen Behör-den waren am Ende des Jahres mehr als148000 syrische Flüchtlinge in 14 Lagern unter-gebracht. Zwar waren diese meist in den Grenz-regionen gelegenen Camps gut organisiert undausgestattet, doch viele von ihnen befandensich in der Nähe der Konfliktzone, und keinesdurfte von unabhängigen Beobachtern besuchtwerden. Ab Mitte August schloss die Türkei un-ter Verstoß gegen das Völkerrecht ihre Grenzezu Syrien. Ende des Jahres lebten TausendeVertriebene unter unerträglichen Bedingungenin Camps direkt an der türkischen Grenze.

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Die Regierung erließ nicht wie versprochenRechtsvorschriften, um die Rechte von Flücht-lingen und Asylsuchenden in der Türkei zuschützen. Mit der Umsetzung der bestehen-den Bestimmungen gab es nach wie vor Pro-bleme. Das galt insbesondere für die Möglich-keit, aus der Haft einen Asylantrag zu stellen,und hatte zur Folge, dass Personen in Länderzurückgeführt wurden, in denen ihnen Verfol-gung drohte.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellen (LGBTI)Die Regierung wies Forderungen aus der Zivil-gesellschaft zurück, wonach sexuelle Orientie-rung und geschlechtliche Identität im Rahmendes Diskriminierungsverbots in die neue Ver-fassung aufgenommen werden sollten. Im Hin-blick auf die Verabschiedung eines umfassen-den Antidiskriminierungs-Gesetzes gab es 2012keine Fortschritte. LGBTI-Aktivisten berichte-ten erneut von mutmaßlichen Hassmorden auf-grund der sexuellen Orientierung oder ge-schlechtlichen Identität von Personen, darunterauch fünf Morden an Transgender-Frauen.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIm März 2012 ratifizierte die Türkei das Über-einkommen des Europarats zur Verhütungund Bekämpfung von Gewalt gegen Frauenund häuslicher Gewalt. Gleichzeitig wurde einGesetz verabschiedet, das die Schutzmaßnah-men verstärken und die direkte Anwendungdes Übereinkommens ermöglichen soll. Endedes Jahres gab es jedoch nur 103 Notunter-künfte für Opfer von häuslicher Gewalt, also be-deutend weniger als vom Gesetzgeber vorge-schrieben.

Im Mai kündigte der Ministerpräsident neueGesetzesvorlagen zur Abtreibung an. Im Fallihrer Verabschiedung würde Frauen und Mäd-chen der Zugang zur benötigten Gesundheits-versorgung noch weiter erschwert und damitgegen ihre Menschenrechte verstoßen. 2012wurden keine Vorschläge zur Neufassung desGesetzes zur Abtreibung vorgelegt. Abtreibungist in der Türkei seit 1983 erlaubt.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Vertreter von Amnesty International besuchten die Türkei

im Januar, Februar, März, April, Juni, August, September,Oktober und Dezember, u. a. zur Beobachtung von Gerichts-verfahren.

ÿ Turkey: Uludere bombing investigation lacks credibility,http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR44/001/2012/en

ÿ Turkey: Follow-up procedure to the forty-fifth session of theCommittee Against Torture http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR44/007/2012/en

ÿ Turkey: Turkish Prime Minister’s staunch opposition toabortion undermines human rightshttp://www.amnesty.org/en/library/info/EUR44/008/2012/en

ÿ Turkey: Ensure safety of Syrian refugees and access for na-tional and international monitors http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR44/009/2012/en

ÿ Turkey: Time to recognize right to conscientious objectionhttp://www.amnesty.org/en/library/info/EUR44/010/2012/en

ÿ Turkey: Respect the rights of hunger strikers,http://195.234.175.160/en/library/info/EUR44/020/2012/en

ÿ Turkey: Police actions against demonstrators must beinvestigated, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR44/025/2012/en

TurkmenistanAmtliche Bezeichnung: TurkmenistanStaats- und Regierungschef:

Gurbanguly Berdimuhammedow

Ein neues Gesetz über politische Par-teien erlaubte eine offizielle politischeOpposition. Dennoch litten Regierungs-kritiker, Journalisten und Menschen-rechtsverteidiger 2012 unvermindert un-ter Schikanen von staatlicher Seite. Fol-ter und andere Misshandlungen bliebenweit verbreitet.

HintergrundIm Februar 2012 wurde Präsident GurbangulyBerdimuhammedow mit 97,4% der Stimmenwiedergewählt. Unter Verweis auf die man-

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gelnde politische Freiheit in Turkmenistan ent-sandte die Organisation für Sicherheit und Zu-sammenarbeit in Europa (OSZE) keine Wahl-beobachter.

Im März stellte der UN-Menschenrechtsaus-schuss fest, Turkmenistan zeige zwar eine»neue Bereitschaft«, seine Menschenrechtsbi-lanz zu verbessern, doch herrsche nach wievor eine Diskrepanz zwischen Gesetzgebungund Umsetzung.

Turkmenistan ließ weiterhin keine internatio-nalen Kontrollen zu: Zwar gab es einen Be-such des Internationalen Komitees vom RotenKreuz, doch es wurde keiner unabhängigeninternationalen Organisation gestattet, Kontrol-len vorzunehmen. Außerdem mangelte es aneiner umfassenden Zusammenarbeit mit denMenschenrechtsgremien der Vereinten Natio-nen.

Am 9. Oktober hielt der Unterausschuss fürMenschenrechte des Europäischen Parla-ments eine Anhörung zur Menschenrechtslagein Turkmenistan ab.

Rechte auf freie Meinungsäußerungund VereinigungsfreiheitMenschenrechtsverteidiger konnten ihrer Ar-beit nicht offen nachgehen. Kritische Medien-berichte wurden nur in seltenen Fällen toleriert.Journalisten, Menschenrechtsverteidiger undandere politisch engagierte Bürger waren un-vermindert Schikanen ausgesetzt.

Mehrere gewaltlose politische Gefangene ver-büßten 2012 weiterhin Haftstrafen, weil siefriedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerungausgeübt hatten. Annakurban Amanklychevund Sapardurdy Khadziev waren noch immer

willkürlich inhaftiert. Sie waren im August2006 nach unfairen Gerichtsverfahren wegenihres Einsatzes für die Menschenrechte verur-teilt worden.ý Am 11. Januar 2012 wurde ein Gesetz verab-schiedet, das die Bildung politischer Parteiengestattet. Am 21. August wurde die Partei derIndustriellen und Unternehmer gegründet. Sieist seit 1991 die erste erlaubte Alternative zur re-gierenden Demokratischen Partei Turkmenis-tans. Menschenrechtsverteidiger und Vertreterder politischen Opposition äußerten jedochZweifel hinsichtlich der Bereitschaft der Regie-rung, eine offene politische Debatte zuzulas-sen.ý Am 5. Oktober 2012 wurde der ehemalige Mi-nister Geldimurat Nurmuhammedow in Asch-gabat festgenommen und zu einer sechsmona-tigen Behandlung in eine Drogenentzugsklinikin Dasoguz gebracht. Zuvor war nichts übereine Drogenabhängigkeit von Geldimurat Nur-muhammedow bekannt. Es gab Befürchtun-gen, er werde möglicherweise als Strafe fürseine politischen Aktivitäten einer medizini-schen Zwangsbehandlung unterzogen. Ineinem Interview mit Radio Free Europe /RadioLiberty hatte er die Regierung kritisiert und dieRegierungspartei als »gesetzwidrig« angepran-gert.

Folter und andere MisshandlungenEs gab glaubwürdige Berichte über Folter undandere Misshandlungen von Straftatverdächti-gen durch Sicherheitskräfte, wie Anwendungvon Elektroschocks, Entzug von Atemluft undVergewaltigung. Außerdem verabreichte manHäftlingen zwangsweise psychotrope Substan-zen, verweigerte ihnen Nahrung und Wasserund setzte sie extremer Kälte aus. Die Miss-handlungen wurden so gut wie nie bestraft, undden Beschwerden von Opfern wurde äußerstselten nachgegangen.ý Am 4. August 2012 gab das Außenministe-rium bekannt, dass eine Reform des Strafge-setzbuchs vorgenommen worden sei, die Folterzum Straftatbestand erklärt.

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HaftbedingungenDie Haftbedingungen blieben hinter internatio-nalen Standards zurück. Überbelegung,schlechte sanitäre Verhältnisse und mangel-hafte Ernährung waren an der Tagesordnungund trugen dazu bei, dass sich Krankheitenausbreiteten. Oft war Bestechung nötig, umEssen und Medikamente zu bekommen.

Verschwindenlassen und Haft ohneKontakt zur AußenweltDer Verbleib zahlreicher Personen, die im Zu-sammenhang mit dem angeblichen Mordan-schlag auf den früheren Präsidenten Saparmu-rat Nijasow in unfairen Gerichtsverfahren inden Jahren 2002 und 2003 verurteilt wordenwaren, blieb ungeklärt. Ihre Familien hattenseit zehn Jahren nichts von ihnen gehört undwussten nicht, ob sie noch am Leben waren.Laut Berichten überzogen die Behörden dieAngehörigen mit Schikanen und Einschüchte-rungsversuchen, wenn sie versuchten, Rechts-mittel einzulegen.

Inoffiziellen Quellen zufolge waren mindes-tens acht der Verurteilten in Haft gestorben.Die Behörden gaben jedoch diesbezüglich kei-nerlei Informationen bekannt und leitetenkeine Untersuchung ein.ý Tirkish Tyrmyev, ein ehemaliger Komman-deur der Grenztruppen Turkmenistans, war2002 wegen Machtmissbrauchs zu zehn Jah-ren Haft verurteilt worden. Seine Angehörigenwussten nicht, wo er sich befand. Im März 2012berichteten sie jedoch, kurz vor seinem Ent-lassungstermin sei eine weitere Haftstrafe vonsieben Jahren gegen ihn verhängt worden we-gen einer angeblichen Straftat gegenübereinem Vollzugsbeamten.

Recht auf BewegungsfreiheitDas Propiska-System, das den Wohnsitz jederPerson durch Registrierung festschreibt, bliebnach wie vor bestehen. Es schränkte weiterhindas Recht auf Bewegungsfreiheit ein und be-hinderte den Zugang zu Wohnraum, Beschäfti-gung und öffentlichen Diensten.

UgandaAmtliche Bezeichnung: Republik UgandaStaats- und Regierungschef:

Yoweri Kaguta Museveni

Die Rechte auf freie Meinungsäußerungund Vereinigungsfreiheit waren weiter-hin eingeschränkt. Lesben, Schwule, Bi-sexuelle, Transgender und Intersexuellewurden schikaniert. Polizisten und wei-tere Ordnungskräfte verübten nach wievor Folter und andere Menschenrechts-verletzungen, ohne dafür zur Rechen-schaft gezogen zu werden.

HintergrundIm Februar 2012 akzeptierte die RegierungEmpfehlungen bezüglich der Rechte auf freieMeinungsäußerung, Versammlungsfreiheit undNichtdiskriminierung aus der Berurteilung derMenschenrechtsbilanz im Rahmen der Univer-sellen Regelmäßigen Überprüfung durch denUN-Menschenrechtsrat im Jahr 2011.

Die Gerichte erklärten die Ergebnisse einigerWahlbezirke von 2011 für nichtig, woraufhinim September 2012 Nachwahlen abgehaltenwurden. Dabei gewannen Oppositionsparteiensieben der neun umstrittenen Sitze.

Unterschlagungsvorwürfe gegen Mitarbeiterdes Ministerpräsidenten veranlassten Großbri-tannien, Schweden und Dänemark, ihre Ent-wicklungshilfe zurückzuhalten. Drei Minister,die wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder fürdas Gipfeltreffen der Staats- und Regierungs-chefs des Commonwealth in der ugandischenHauptstadt Kampala im Jahr 2007 angeklagtwaren, wurden freigesprochen.

Recht auf freie MeinungsäußerungJournalisten, Oppositionsführer und regie-rungskritische Aktivisten wurden weiterhineingeschüchtert, schikaniert, willkürlich festge-nommen und aufgrund konstruierter Vorwürfeangeklagt. Mindestens 70 Journalisten berich-teten im Verlauf des Jahres 2012 von tätlichenAngriffen und willkürlichen Inhaftierungen.

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ý Die Polizei schikanierte und schlug Isaac Ka-samani und William Ntege und zerstörte dieAusrüstung der beiden Journalisten, als dieseim September die Festnahme von Dr. KizzaBesigye, dem Leiter des Forums für demokrati-schen Wandel (Forum for Democratic ChangeUganda – FDC), filmten.

Der Ugandische Medienrat (Ugandan MediaCouncil – UMC), eine Regierungsbehörde zurRegulierung der Massenmedien, verbot dieAufführung von zwei Theaterstücken. Alseines der beiden Stücke, »The River and theMountain«, im September informell aufgeführtwurde, nahmen die Behörden den Koprodu-zenten des Stücks, David Cecil, fest. Er wurdeunter dem Vorwurf, »die Anordnung einesBeamten missachtet zu haben«, angeklagtund gegen Kaution freigelassen. Aller Wahr-scheinlichkeit nach wurde das Stück verbo-ten, weil die Behörden annahmen, es förderedie Homosexualität. Ein weiteres Stück, »Stateof the Nation«, das sich kritisch mit der Haltungder Regierung zu Korruption und mit Proble-men im Zusammenhang mit schlechter Regie-rungsführung auseinandersetzt, wurde im Ok-tober verboten. Später brachten die Produzen-ten das Stück noch zweimal zur Aufführung,ohne dass etwas gegen sie unternommenwurde.

Rechte auf Versammlungs- undVereinigungsfreiheitDer Generalstaatsanwalt erklärte die GruppeAktivisten für den Wandel (Activists for Change– A4C) zu einer rechtswidrigen Vereinigung undverbot sie im April. Die Gruppe hatte ihre 2011begonnenen Demonstrationen gegen steigendeLebenshaltungskosten, Korruption und man-gelhafte Regierungsführung, die von der Polizeigewaltsam unterdrückt worden waren, 2012wieder aufgenommen. Das Verbot der Gruppeverstieß gegen die Rechte auf Versammlungs-,Rede- und Vereinigungsfreiheit.

Im Oktober 2012 untersagten die BehördenDemonstrationen zum 50. Jahrestag der Un-abhängigkeit Ugandas und lösten von derGruppe Für Gott und mein Land (For God undMy Country – 4GC) organisierte Protestmärscheauf, auf denen die Aufklärung der Tötungenvon Teilnehmenden der Proteste im Jahr 2011gefordert wurde. Dr. Kizza Besigye, der Leiterdes FDC, wurde zweimal willkürlich festgenom-men und anschließend ohne Anklageerhe-bung wieder freigelassen. Die Polizei begrün-dete die Beschränkungen für Mitglieder der4GC damit, dass viele von ihnen auch Mitglie-der der verbotenen Gruppe A4C seien.

Die Regierung ging 2012 mit Einschüchterun-gen, Schikanen und Überwachungen gegenNGOs und Aktivisten vor, die hinsichtlich Erdöl-geschäften, Landrechten, Korruption undMenschenrechten abweichende Ansichten ver-traten, und ergriff auch andere Mittel, um ihreArbeit zu behindern. Berichten zufolge wurdein die Büros einiger NGOs eingebrochen, undes wurden Arbeitsgeräte gestohlen. Außerdemdurchsuchte die Polizei mehrere Büros vonNGOs und beschlagnahmte die Ausstattung.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenEin aus dem Jahr 2009 stammender Entwurf fürein Anti-Homosexualitätsgesetz wurde im Fe-bruar 2012 erneut dem Parlament vorgelegt.Bis Jahresende war noch nicht über den Ent-wurf debattiert worden, da noch ein Bericht desAusschusses für parlamentarische und juristi-

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sche Angelegenheiten ausstand. Im Oktoberhatte der Parlamentssprecher angekündigt,dass »bald« über den Gesetzentwurf debattiertwürde. Seine Verabschiedung hätte eine nochstärkere Kriminalisierung von Homosexuellen,Bisexuellen, Transgendern und Intersexuellen(LGBTI) sowie weitere Menschenrechtsverlet-zungen zur Folge.

Die Einschränkungen des Rechts auf Vereini-gungsfreiheit von LGBTI-Gruppen nahmen2012 zu. Im Februar ließ der Ethik- und Integra-tionsminister ein Seminar für LGBTI in Entebbegewaltsam beenden mit der Begründung, es seirechtswidrig. Im Juni beendete die Polizei will-kürlich einen Workshop und nahm die Organi-satoren kurzzeitig in Haft. Im Rahmen desvom Projekt für Menschenrechte in Ostafrikaund dem Horn von Afrika organisierten Work-shops sollte LGBTI-Aktivisten aus Ruanda, Tan-sania, Kenia und Uganda Rüstzeug für dieMenschenrechtsbeobachtung vermittelt wer-den. Das Innenministerium drohte, 38 NGOs,denen sie die Förderung der Homosexualitätvorwarf, die Registrierung zu entziehen.

Internationale StrafgerichtsbarkeitIm Mai 2012 nahmen Regierungstruppen Cae-sar Acellam Otto, einen führenden Komman-danten der Widerstandsarmee des Herrn(Lord’s Resistance Army – LRA), fest. Im sel-ben Monat strich der Innenminister eine Be-stimmung aus dem Amnestiegesetz von 2010,das LRA-Kämpfern Amnestie zusicherte. DasGesetz hatte bis dahin die Verantwortlichen fürinternationale Verbrechen vor Strafverfolgunggeschützt und dafür gesorgt, dass den OpfernGerechtigkeit versagt blieb.

Die Regierung nahm die Ermittlungen gegenCaesar Acellam Otto auf, doch bis Ende 2012war noch keine Anklage gegen ihn erhobenworden. Er befand sich nach wie vor ohneKontakt zur Außenwelt in Haft. Es war unklar,ob er und andere, die später gefasst wurden,durch die Abteilung für internationale Verbre-chen des hohen Gerichts wirksam strafverfolgtwürden.

Flüchtlinge und AsylsuchendeDie Beendigung des internationalen Schutzesfür Flüchtlinge und Asylsuchende aus Ru-anda, die vor 1998 aus dem Land geflohen wa-ren, wurde auf Juni 2013 verschoben.Uganda, Ruanda und der UN-Hochkommissarfür Flüchtlinge (UNHCR) führten Gesprächeüber die Umsetzung der Bestimmungen zurBeendigung des Flüchtlingsschutzes.

Im März 2012 begann das Verfassungsgerichtmit der Anhörung einer Petition, bei der es umdie Frage ging, ob Flüchtlinge das Recht haben,die ugandische Staatsbürgerschaft anzuneh-men. Die Anhörung wurde wiederholt vertagtund war Ende 2012 weiter anhängig. Dies gabAnlass zu der Befürchtung, dass es für ruandi-sche Flüchtlinge, die nicht nach Ruanda zu-rückkehren wollten, schwierig werden könnte,einen alternativen Status zu erlangen, ein-schließlich der ugandischen Staatsbürger-schaft.

Mehr als 40000 Menschen flohen wegen er-neuter Kämpfe zwischen der kongolesischenArmee und der bewaffneten Gruppierung M23sowie wegen der ab April 2012 insgesamt un-sicheren Lage in der kongolesischen ProvinzNord-Kivu (Demokratische Republik Kongo),für die verschiedene bewaffnete Gruppierun-gen verantwortlich waren, nach Uganda.

Folter und andere MisshandlungenDas 2012 in Kraft getretene Antifoltergesetz ver-bietet Folter, stellt sie unter Strafe und machtPersonen haftbar, die sich Folterungen schuldiggemacht haben. Es weitet die Definition vonFolter auf nicht staatliche Akteure aus und un-tersagt die Verwendung von Informationen,die durch Folter erpresst wurden, vor Gericht.Sollte das Gesetz greifen, wird es der Straflo-sigkeit entgegenwirken, Gerechtigkeit für dieOpfer ermöglichen und die Zahl der Fälle vonFolter verringern.

Dennoch waren Folter und andere Misshand-lungen im Berichtsjahr weit verbreitet. TrotzUntersuchungen der ugandischen Kommissionfür Menschenrechte geschah nichts, um An-gehörige der Strafverfolgungsorgane, die Men-schenrechtsverletzungen begangen hatten,

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zur Verantwortung zu ziehen oder den Opfernund ihren Familien einen wirksamen Rechts-behelf zu ermöglichen.

TodesstrafeZivil- und Militärgerichte sprachen nach wie vorTodesurteile für Kapitalverbrechen aus. 2012wurden jedoch keine Hinrichtungen vollstreckt.

UkraineAmtliche Bezeichnung: UkraineStaatsoberhaupt: Wiktor JanukowytschRegierungschef: Mykola Asarow

Folter und andere Misshandlungen warennach wie vor weit verbreitet und wurdennicht geahndet. Mängel im Strafrechts-system führten zu überlangen Untersu-chungshaftzeiten und fehlendem Schutzvon Häftlingen. Flüchtlinge und Asylsu-chende wurden inhaftiert und in Länderabgeschoben, in denen ihnen Men-schenrechtsverletzungen drohten. DieRechte von Lesben, Schwulen, Bisexu-ellen, Transgendern und Intersexuellenwaren in Gefahr.

Folter und andere MisshandlungenEs gingen weiterhin Meldungen über Folter undandere Misshandlungen in Polizeigewahrsamein. Im November 2012 veröffentlichte der Aus-schuss des Europarats zur Verhütung von Fol-ter seinen Bericht über einen Besuch derUkraine im Jahr 2011. Darin hieß es, die Dele-gation sei »überschwemmt worden« mit Be-schwerden inhaftierter Personen, die Opferphysischer und psychischer Misshandlungdurch die Polizei geworden waren. Als »beson-ders problematisch« hob der Bericht die Poli-zeiwache des Kiewer Bezirks Shevchenkivskiyhervor.

Am 18. September 2012 verabschiedete dasParlament ein Gesetz, wonach das Amt derparlamentarischen Menschenrechtsbeauftrag-ten die Funktionen eines Nationalen Präventi-onsmechanismus übernehmen soll. DieUkraine kam damit ihren Verpflichtungen ge-mäß dem Fakultativprotokoll zum UN-Überein-kommen gegen Folter und andere grausame,unmenschliche oder erniedrigende Behand-lung oder Strafe nach.ý Am 17. Juni 2012 wurde Mikhail Belikov vonBeamten der Polizeiwache des Bezirks Pe-trovskiy in Donezk gefoltert. Der Bergarbeiter imRuhestand war von drei Polizisten in einemPark wegen Trinkens in der Öffentlichkeit auf-gegriffen worden. Er gab an, die Polizisten hät-ten ihn im Park geschlagen und dann auf eineNebenstelle des Polizeireviers von Petrovskiygebracht. Dort hätten ihn drei Polizisten festge-halten, während ihn ein vierter mit einem Poli-zeiknüppel vergewaltigte. Ein höherer Beamtersagte ihm, er solle vergessen, was passiert sei,und forderte ihn auf, 1500 Hrywnja (144 Euro)für seine Freilassung zu zahlen. Mikhail Beli-kov erklärte sich bereit, den Betrag zu zahlen,und wurde ohne Anzeige freigelassen. In derfolgenden Nacht verschlechterte sich sein Zu-stand erheblich. Er wurde ins Krankenhauseingeliefert, wo die Ärzte schwere innere Verlet-zungen feststellten, die einen vorübergehen-den künstlichen Darmausgang erforderlichmachten. Ende 2012 standen drei Polizeibe-amte wegen fünf Fällen von Misshandlung undErpressung vor Gericht, die bis ins Jahr 2009

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zurückreichten. Die Folterung von Mikhail Beli-kov war einer der fünf Fälle. Zwei der Beamtenwaren nach Artikel 127 des Strafgesetzbuchswegen Folter angeklagt.

StraflosigkeitIm Oktober 2012 schlug der UN-Menschen-rechtsrat der Ukraine im Zuge der Universel-len Regelmäßigen Überprüfung vor, ein unab-hängiges Gremium einzurichten, um Folter-fälle zu untersuchen und zu gewährleisten,dass Opfer entschädigt werden. Bis zumJahresende hatte die Regierung weder aufdiese noch auf 145 weitere Empfehlungen rea-giert, die der UN-Menschenrechtsrat im Rah-men der Überprüfung gegeben hatte. Für dieOpfer von Folter und anderen Misshandlungenwar es weiterhin schwierig, eine Untersu-chung ihrer Beschwerden zu erreichen. Die vonden Gerichten verhängten Strafen standenhäufig in keinem angemessenen Verhältnis zurSchwere der Tat.ý Am 5. Januar 2012 wurde der PolizeibeamteSerhiy Prikhodko zu einer fünfjährigen Haft-strafe auf Bewährung verurteilt. Er war wegenAmtsmissbrauch im Fall von Ihor Indilo ange-klagt, der im Mai 2010 in Gewahrsam auf derPolizeistation Shevchenkivskiy in Kiew gestor-ben war. Ein zweiter Polizeibeamter, Serhiy Ko-valenko, war im Dezember 2011 begnadigtworden. Zur Begründung hieß es, er habe einkleines Kind. Am 14. Mai 2012 hob das Beru-fungsgericht Kiew sowohl die Bewährungsstrafeals auch die Begnadigung auf und forderteweitere Ermittlungen in dem Fall. Am 29. Okto-ber ordnete das Berufungsgericht Kiew erneutweitere Untersuchungen an.ý Am 23. März 2012 wurde Ihor Zavadskiy, einbekannter Akkordeonspieler, in Kiew festge-nommen und von Polizeibeamten gefoltert undanderweitig misshandelt. Er gab an, vor sei-nem Haus von einer Gruppe Polizeibeamter inZivil zu Boden geworfen und geschlagen wor-den zu sein. Die Beamten hätten ihn durch-sucht, ihm sein Mobiltelefon abgenommenund seine Wohnung ohne Durchsuchungsbe-fehl durchsucht. Anschließend wurde er aufder Polizeistation des Kiewer Bezirks Shevchen-

kivskiy weiter gefoltert und misshandelt. DreiBeamte schlugen ihn, und einer von ihnenquetschte ihm auf äußerst schmerzvolle Weiseseine Hoden. Als man ihn zu Boden stieß,schlug er mit dem Kopf auf und verlor das Be-wusstsein. Die Polizeibeamten bestanden da-rauf, ihn ohne Anwalt zu verhören. Erst am27. März konnte er einen Anwalt sprechen. Erwurde wegen »gewaltsamer, unnatürlicher Be-friedigung sexuellen Verlangens« und »aus-schweifendem Verhalten gegenüber Minder-jährigen« angeklagt. Am 2. April reichte er beimBezirksstaatsanwalt Klage wegen Folter undMisshandlung ein. Er wurde erst am 3. Juli da-rüber informiert, dass man am 6. April ent-schieden hatte, keine strafrechtliche Untersu-chung der Foltervorwürfe einzuleiten. Am31. Juli hob das Bezirksgericht Shevchenkivskiydie Entscheidung des Staatsanwalts auf undordnete neue Untersuchungen in dem Fall an.Ende 2012 lagen keine Informationen überden Stand der Untersuchungen vor. Das Ver-fahren gegen Ihor Zavadskiy dauerte noch an.

Flüchtlinge und AsylsuchendeDie Ukraine verstieß weiterhin gegen ihre inter-nationalen menschenrechtlichen Verpflich-tungen nach der Genfer Flüchtlingskonvention,indem sie Auslieferungsanträgen nachkam,die sich auf Personen bezogen, die anerkannteFlüchtlinge oder Asylsuchende waren.ý Am 20. September 2012 lieferten die ukraini-schen Behörden Ruslan Suleymanov an Us-bekistan aus. Sie verstießen damit gegen dieVerpflichtungen der Ukraine als Vertragsstaatdes UN-Übereinkommens gegen Folter und derGenfer Flüchtlingskonvention. Ende 2012 be-fand sich Ruslan Suleymanov noch immer inUntersuchungshaft in der usbekischenHauptstadt Taschkent. Er war im November2010 in die Ukraine gezogen, weil er in Usbe-kistan einen unfairen Gerichtsprozess, Folterund andere Misshandlungen befürchtete,nachdem das Bauunternehmen, für das er ge-arbeitet hatte, ins Visier konkurrierender Fir-men geraten war. Am 25. Februar 2011 war erin der Ukraine festgenommen worden. Im Mai2011 hatte die Generalstaatsanwaltschaft seine

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Auslieferung nach Usbekistan bestätigt, wo ersich wegen angeblicher Wirtschaftsdelikte vorGericht verantworten sollte. Sein Asylantragwar in der Ukraine zwar abgelehnt worden,doch hatte ihn das Amt des UN-Hochkommis-sars für Flüchtlinge (UNHCR) als Flüchtlinganerkannt und sich um seine Ansiedlung ineinem Drittland bemüht.ý Am 19. Oktober 2012 wurde der russischeStaatsbürger Leonid Razvozzhayev, ein Bera-ter des oppositionellen russischen Parlamenta-riers Ilya Ponomaryov, Berichten zufolge vordem Büro der jüdischen Hilfsorganisation He-brew Immigration Aid Society in Kiew von rus-sischen Polizeikräften entführt. Er wollte sichvon der Organisation wegen eines Asylantragsin der Ukraine rechtlich beraten lassen. Am22. Oktober teilte Leonid Razvozzhayev mit, ersei nach seiner Rückkehr nach Russland gefol-tert und anderweitig misshandelt worden. Manhabe ihn auf diese Weise zu dem »Geständnis«zwingen wollen, dass er gemeinsam mit ande-ren oppositionellen Aktivisten Massenunruhengeplant habe. Am 25. Oktober bestätigte einSprecher des ukrainischen Innenministeriums,dass Leonid Razvozzhayev von »Ordnungs-kräften oder ausländischen Ordnungskräften«entführt worden sei. Es handele sich dabei je-doch nicht um eine Strafsache, sondern umeine Angelegenheit der »Zusammenarbeit vonVollzugsbehörden«, über die er nichts wisse.

Im Juni 2012 stellte der UNHCR fest, dasstrotz des neuen Flüchtlingsgesetzes von 2011Verfahren und Gesetzgebung noch immer nichtinternationalen Standards entsprachen. Diesgalt insbesondere für Asylsuchende, die in vie-len Fällen keine Ausweisdokumente hatten.Ihnen drohte wegen illegalen Aufenthalts aufukrainischem Gebiet eine Inhaftierung von biszu einem Jahr.ý Im Januar 2012 traten 81 Personen in zweiAufnahmezentren für Migranten aus Protestgegen ihre Inhaftierung in den Hungerstreik.Dabei handelte es sich überwiegend um so-malische Staatsbürger. Sie waren im Zuge einerPolizeiaktion zur Kontrolle »illegaler Einwande-rung« Ende Dezember 2011 festgenommenworden und sollten »zum Zweck der Abschie-

bung« bis zu zwölf Monate lang inhaftiert blei-ben. Bis dato hatte die Ukraine jedoch nochkeine somalischen Staatsbürger in ihr Heimat-land abgeschoben. Abschiebungen nach So-malia wären auch nur unter außergewöhn-lichen Umständen zulässig gewesen. Mindes-tens ein Häftling war beim UNHCR als Asyl-suchender registriert; viele weitere hatten je-doch kein Asyl beantragen können, da die re-gionalen Migrationsämter in vielen Teilen derUkraine ihre Arbeit 2011 zum großen Teil ein-gestellt hatten. Die Häftlinge beendeten ihrenHungerstreik am 17. Februar, nachdem ihnendie staatliche Migrationsbehörde versicherthatte, die regionalen Ämter im Distrikt Wolynim Westen der Ukraine würden wieder öffnenund Anträge auf den Flüchtlingsstatus undentsprechenden Schutz entgegennehmen.Bis November wurden 53 Häftlinge freigelas-sen.

JustizwesenDer Präsident unterzeichnete am 14. Mai 2012eine neue Strafprozessordnung, die eine deut-liche Verbesserung gegenüber der vorherigendarstellt. In ihr ist klar formuliert, dass eineHaft im Augenblick der Festnahme durch diePolizei beginnt und Häftlinge von diesem Mo-ment an Anspruch auf einen Anwalt und einenunabhängigen medizinischen Experten ha-ben. Sie legt außerdem eindeutig fest, dass Un-tersuchungshaft nur bei außergewöhnlichenUmständen angeordnet werden soll, entspre-chend den Empfehlungen des Europarats.Außerdem ist vorgesehen, dass alle zwei Mo-nate automatisch geprüft wird, ob die Unter-suchungshaft weiterhin gerechtfertigt er-scheint. Anlass zu Bedenken gab, dass einAnwalt nur bei besonders schweren Delikten,die mit einer Gefängnisstrafe von mehr alszehn Jahren geahndet werden können, Pflichtist. Prozesskostenhilfe ist ebenfalls nur in die-sen Fällen vorgesehen.ý Am 27. Februar 2012 wurde der ehemaligeInnenminister und Vorsitzende der Oppositi-onspartei Selbstverteidigung des Volkes, JurijLutsenko, wegen Amtsmissbrauchs und An-eignung staatlichen Vermögens zu vier Jahren

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Haft und einer Geldstrafe von 643982 Hrywnja(61621 Euro) verurteilt. Jurij Lutsenko befandsich seit dem 26. Dezember 2010 in Untersu-chungshaft. Am 3. Juli entschied der Europäi-sche Gerichtshof für Menschenrechte, die Un-tersuchungshaft habe Jurij Lutsenkos Recht aufFreiheit verletzt und verstoße gegen die Euro-päische Menschenrechtskonvention, weil siepolitisch motiviert sei. Am 17. August wurdeJurij Lutsenko von einem ukrainischen Gerichtaußerdem wegen Vernachlässigung berufli-cher Sorgfaltspflichten schuldig gesprochen,weil er während der Untersuchung der Vergif-tung des ehemaligen PräsidentenJuschtschenko die illegale Überwachungeines Fahrers angeordnet habe. Sein Strafmaßblieb unverändert.ý Im April 2012 sollte ein neues Verfahren ge-gen die ehemalige Ministerpräsidentin JulijaTymoschenko wegen Steuerhinterziehung be-ginnen, das jedoch aus gesundheitlichenGründen verschoben wurde. Die neuen Ankla-gen, die im Oktober 2011 erhoben worden wa-ren, bezogen sich auf ihre Tätigkeit als General-direktorin des Energiekonzerns EESU im Zeit-raum von 1995 bis 1997. Julija Tymoschenkoverbüßte 2012 weiterhin ihre siebenjährigeHaftstrafe, die nach politisch motivierten Ankla-gen gegen sie verhängt worden war. Sie warwegen angeblichen Amtsmissbrauchs schuldiggesprochen worden im Zusammenhang miteinem Gasvertrag in Höhe von mehreren Millio-nen US-Dollar, den sie als Ministerpräsidentinim Januar 2009 mit Russland abgeschlossenhatte.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenIm Oktober 2012 verabschiedete das Parlamentin zweiter Lesung den Gesetzentwurf »Zur Ver-besserung einiger Gesetze (zum Schutz desRechts von Kindern auf einen ungefährlichenInformationsraum)«. Das Gesetz sieht ein Ver-bot der Herstellung, Einführung und Verbrei-tung von Publikationen, Filmen und Videos vor,die für Homosexualität werben. Sollte das Ge-setz in Kraft treten, würde damit das Recht auf

freie Meinungsäußerung von Lesben, Schwu-len, Bisexuellen, Transgendern und Intersexu-ellen drastisch beschnitten.ý Am 20. Mai 2012 wurde die Gay Pride Paradein Kiew nur 30 Minuten vor dem Start abge-sagt, nachdem die Polizei gewarnt hatte, dasszahlreiche nationalistische und religiöse Pro-testierende gedroht hätten, die Parade aufzu-halten. Ein Mitglied des Organisationsteamswurde von einer Bande Jugendlicher verprü-gelt, ein weiteres mit Tränengas besprüht.

Internationale StrafverfolgungDie Regierung teilte am 24. Oktober 2012 mit,die Ukraine fühle sich weiterhin der Idee einesInternationalen Strafgerichtshofs verpflichtet.Die erforderlichen Gesetzesänderungen zurUmsetzung des Römischen Statuts des Inter-nationalen Strafgerichtshofs und des Überein-kommens über die Vorrechte und Immunitätender Vereinten Nationen, dem die Ukraine am20. Januar 2000 bzw. am 29. Januar 2007 bei-getreten war, wurde jedoch nicht in die Wegegeleitet.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten die Ukraine

im April, Mai, Juni, Juli, August und September.ÿ Ukraine: Euro 2012 jeopardised by criminal police force,

http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR50/005/2012/en

ÿ Ukraine: Proposed laws discriminate against LGBTI peopleand violate children’s rights, http://www.amnesty.org/fr/library/info/EUR50/008/2012/en

ÿ Ukraine: Authorities should not extradite refugees back totorture in Uzbekistan, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR50/010/2012/en

ÿ Ukraine: Leonid Razvozzhayev abduction must be investiga-ted, http://www.amnesty.org/en/for-media/press-releases/ukraine-leonid-razvozzhayev-abduction-must-be-investigated-2012-10-29

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452 Ungarn

UngarnAmtliche Bezeichnung: Republik UngarnStaatsoberhaupt: János Áder (löste im Mai

Pál Schmitt im Amt ab)Regierungschef: Viktor Orbán

Im Berichtsjahr trat eine neue Verfas-sung in Kraft, von der manche befürch-teten, dass sie zu Diskriminierungen füh-ren könnte. Es wurden zahlreiche Vor-fälle gemeldet, bei denen rechtsextremeGruppen Roma schikanierten und ein-schüchterten. Die Gesetze, auf deren Ba-sis die Medien einer politischen Kon-trolle unterworfen waren, bestanden trotzeiniger Änderungen fort.

HintergrundIm Januar 2012 trat eine neue Verfassung inKraft. Kritiker hatten bemängelt, die neue Ver-fassung könne zu Einschränkungen der Men-schenrechte führen, insbesondere des Rechtsauf Schutz vor Diskriminierung und des Rechtsauf einen wirksamen Rechtsbehelf.

Im November urteilte der Europäische Ge-richtshof, Ungarn habe mit der Senkung desRenteneintrittsalters für Richter und Staatsan-wälte gegen EU-Recht verstoßen.

DiskriminierungIn der neuen Verfassung war Familie aus-schließlich als eine Verbindung zwischeneinem Mann und einer Frau definiert, was Be-denken hinsichtlich einer Diskriminierunggleichgeschlechtlicher Paare auslöste. Im De-zember annullierte das Verfassungsgericht dieKlausel.

Im Juli 2012 wurde ein neues Strafgesetzbuchverabschiedet, das die Definition von Hassver-brechen auf Straftaten ausdehnte, die ausGründen der sexuellen Orientierung, der ge-schlechtlichen Identität oder wegen einer Be-hinderung verübt werden. NGOs begrüßtendie Änderungen, zeigten sich jedoch besorgt,was die Umsetzung der neuen Bestimmungenbetraf, da es keine wirksamen Richtlinien für

Polizei und Strafverfolgungsbehörden zumUmgang mit Hassverbrechen gab.

RomaObwohl die Regierung zusicherte, Einschüchte-rungen verhindern zu wollen, wurden Roma2012 unvermindert Opfer rassistischer Beleidi-gungen und gewaltsamer Übergriffe. Der Pro-zess vor dem Bezirksgericht Pest wegen Angrif-fen auf Roma in den Jahren 2008 und 2009verzögerte sich. Den Angeklagten wurde eineReihe von Angriffen zur Last gelegt, bei denensechs Personen ums Leben gekommen waren,darunter ein Kind. Einer der Verteidiger legteim Oktober sein Mandat nieder, nachdem sichherausgestellt hatte, dass er der Sohn einesam Verfahren beteiligten Richters war.ý Im März 2012 stellte ein parlamentarischerAusschuss seinen Bericht über die Aktivitätender Bürgerwehren in dem Dorf Gyöngyöspataim März 2011 vor. Der Bericht erwähnte je-doch nicht, dass die Behörden nur schleppendund unzureichend auf die Einschüchterun-gen, Schikanen und Gewaltdrohungen reagierthatten, denen die Roma ausgesetzt waren, alsdrei Bürgerwehren fast einen Monat lang durchdas Dorf »patrouillierten«.ý Am 5. August 2012 hielt die rechtsextremePartei Jobbik zusammen mit mehreren Bür-gerwehren in dem Dorf Devecser einen Auf-marsch ab. Berichten zufolge wurden Beton-stücke und andere Wurfgeschosse auf Häuservon Roma geschleudert. Polizeibeamte sollendem Vernehmen nach nicht eingegriffen ha-

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ben, um die Übergriffe zu stoppen. Nach die-sen Ereignissen versicherte die Regierung, siewerde Einschüchterungen von ethnischenund anderen Minderheiten nicht dulden, son-dern wolle sie verhindern.ý Berichten zufolge drangsalierten Bürger-wehren am 18. August 2012 Roma im Dorf Ce-gléd. Demnach versammelten sich kleine Grup-pen von Personen, die meist schwarze Unifor-men trugen, in den Ortsteilen, in denen Romaleben, skandierten gegen Roma gerichteteSlogans und stießen Morddrohungen aus. DiePolizei griff nicht ein und empfahl den Roma-Familien, in ihre Häuser zurückzukehren. DieBürgerwehren blieben zwei Tage lang in Ce-gléd. NGOs warfen der Polizei vor, sie habe dieVorfälle als Störung der öffentlichen Ordnungund nicht als »Angriff auf ein Mitglied einerGemeinschaft« behandelt – ein Straftatbe-stand, auf dessen Grundlage rassistisch moti-vierte Gewalt strafrechtlich verfolgt werdenkann.ý Am 17. Oktober 2012 marschierten mehrereTausend Jobbik-Anhänger durch ein Roma-Viertel der Stadt Miskolc. Dabei skandierten siedem Vernehmen nach Slogans, die sich gegenRoma richteten. Hunderte Roma hielten einefriedliche Gegendemonstration ab. NGOs be-scheinigten der Polizei, sie habe die nötigeSorgfalt an den Tag gelegt, um Roma vor Über-griffen zu schützen.

JustizwesenIm Januar 2012 trat das Gesetz zum Verfas-sungsgericht in Kraft. Menschenrechtsorgani-sationen warnten, das Gesetz enthalte unange-messene Hindernisse – z. B. die Notwendig-keit einer rechtlichen Vertretung –, die es denBürgern erschwerten, sich wegen Menschen-rechtsverletzungen an das Verfassungsgerichtzu wenden. Zu den Organisationen, die sichkritisch äußerten, zählten u. a. das Eötvös Ka-roly Institute, die Hungarian Civil LibertiesUnion und das Ungarische Helsinki-Komitee.Das neue Gesetz sah außerdem keine Sam-melklagen mehr vor.

Recht auf freie MeinungsäußerungIm Mai 2012 änderte das Parlament die Me-diengesetze ab und behob dabei einige der imDezember 2011 vom Verfassungsgericht bean-standeten Mängel. Die Änderungen be-schränkten vor allem die Kontrolle der Behör-den über den Inhalt von Print- und Internet-medien und stärkten den Schutz journalisti-scher Quellen. Der Europarat äußerte sich je-doch besorgt darüber, dass einige negative Be-stimmungen bestehen blieben, wie etwa dieVerpflichtung für Print- und Internetmedien,sich registrieren zu lassen oder hohe Geldstra-fen zu riskieren. Kritiker warnten, dass die Me-diengesetzgebung weiterhin eine politischeKontrolle der Medien beinhaltete.ý Im September 2012 verklagte die staatlicheNachrichtenagentur MTI einen Journalistenwegen Verleumdung, nachdem er der Agenturvorgeworfen hatte, sie würde das Geld derSteuerzahler dafür verwenden, die Öffentlich-keit falsch zu informieren. Die OSZE-Beauf-tragte für Medienfreiheit kritisierte das Vorge-hen der MTI. Sie befürchtete, dies könne eineeinschüchternde Wirkung auf unabhängige kri-tische Journalisten haben.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenDas Amt des UN-Hochkommissars für Flücht-linge (UNHCR) kritisierte Ungarns Umgangmit Asylsuchenden. In einem Bericht desUNHCR hieß es, die Bedingungen in den Auf-nahmezentren und die vermehrte Verhängungvon Verwaltungshaft gegen Asylsuchendewürden nicht den internationalen und den EU-Standards entsprechen. Asylsuchende, dieunter der Dublin-II-Verordnung nach Ungarnzurückgeführt worden waren, erhielten in derRegel Ausweisungsbescheide und wurden in-haftiert – dabei wurde nicht berücksichtigt, obsie den Wunsch hatten, Asyl zu beantragen.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenMehr als 3000 Personen nahmen am 12. Juli2012 an der Gay Pride Parade in Budapest teil.

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454 Uruguay

Im April hatte der Budapester Polizeichef dieParade mit der Begründung verboten, sie be-hindere den Verkehrsfluss. Das Verbot wurdewenige Tage später von einem Budapester Ge-richt aufgehoben. Nach Angaben der Organisa-toren bot die Polizei der Parade in angemesse-nem Umfang Schutz.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Ein Delegierter von Amnesty International besuchte Ungarn

im Juli.ÿ Hungary: Report into vigilante activities in Gyöngyöspata

fails to address discrimination, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR27/001/2012/en

ÿ New Hungarian Criminal Code: A missed opportunity to domore on hate crimes, http://www.amnesty.org/en/library/info/EUR27/003/2012/en

UruguayAmtliche Bezeichnung:

Republik Östlich des UruguayStaats- und Regierungschef:

José Alberto Mujica Cordano

Es wurden 2012 Schritte unternommen,um die Straflosigkeit für Menschen-rechtsverletzungen zu beenden, die wäh-rend der Zeit der Zivil- und Militärre-gierung (1973–85) begangen wordenwaren. Dazu zählten Bemühungen,»Verschwundene« zu identifizieren.

HintergrundIm Mittelpunkt der politischen Debatte standen2012 Maßnahmen zur Verbrechensbekämp-fung und zur Verbesserung der öffentlichen Si-cherheit. In diesem Zusammenhang gab derOberste Wahlgerichtshof (Corte Electoral) imSeptember 2012 bekannt, es lägen genügendUnterschriften vor, um eine Volksabstimmungfür eine Verfassungsänderung abzuhalten,die die Strafmündigkeit von Jugendlichen von18 auf 16 Jahre senken würde.

Im Mai benannte das Parlament die Mitglie-der des Nationalen Menschenrechtsgremiums(Institución Nacional de Derechos Humanos),das u. a. einen nationalen Präventionsmecha-nismus zum Schutz vor Folter einrichten soll.Ende 2012 gab es noch keine entsprechendeEinrichtung.

Im Dezember verabschiedete Uruguay dasFakultativprotokoll zum Internationalen Paktüber wirtschaftliche, soziale und kulturelleRechte zur Ratifizierung.

StraflosigkeitIm März 2012 erklärte Präsident José AlbertoMujica Cordano öffentlich, dass der Staat fürdas Verschwindenlassen von María ClaudiaGarcía Iruretagoyena de Gelman und die Ent-führung ihrer kleinen Tochter, María MacarenaGelman García, im Jahr 1976 verantwortlichsei. Das öffentliche Schuldeingeständnis wareine der Maßnahmen, die der Interamerikani-sche Gerichtshof für Menschenrechte in sei-nem Urteil zu diesem Fall 2011 angeordnethatte.ý Im März 2012 wurden die sterblichen Über-reste von Ricardo Blanco Valiente, der 1978»verschwunden« war, auf dem Gelände einerMilitärkaserne außerhalb der Hauptstadt Mon-tevideo gefunden.ý Im September 2012 gelang es Experten, die

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Leichen des chilenischen Staatsbürgers LuisGuillermo Vega sowie der beiden ArgentinierHoracio Abeledo und Roque Montenegro zuidentifizieren. Die drei Männer waren 1976 inArgentinien entführt worden. Ihre Leichenwurden noch im selben Jahr in Uruguay aufge-funden.ý Im März 2012 wurde ein ehemaliger Polizei-beamter wegen Beteiligung an der Tötung desLehrers und Journalisten Julio Castro im August1977 angeklagt. Julio Castro war vom Militärentführt und während seiner Inhaftierung ineinem Geheimgefängnis gefoltert worden. DasVerfahren war bei Jahresende noch anhängig.ý Im September 2012 wurden vier uru-guayische Marinesoldaten, die als Angehörigeder UN-Mission in Haiti (MINUSTAH) eingesetztwaren, wegen »privater Gewalt« gegen einenjungen Mann angeklagt. Es wurde jedoch keinStrafverfahren bezüglich sexuellen Miss-brauchs eingeleitet – diesen Vorwurf hatte dasOpfer erhoben. Ende 2012 war der Prozessnoch nicht abgeschlossen.

Sexuelle und reproduktive RechteIm Oktober 2012 verabschiedete das Parlamentein Gesetz, wonach ein Schwangerschaftsab-bruch in den ersten zwölf Wochen straffreibleibt. Bedingung für einen legalen Schwan-gerschaftsabbruch ist laut Gesetz eine obligato-rische Bedenkzeit von fünf Tagen und eineBegutachtung jedes einzelnen Falls durch einExpertengremium. Im Falle einer Vergewalti-gung ist ein Schwangerschaftsabbruch bis zur14. Woche legal, sofern Klage vor Gericht ein-gereicht wird. Frauen- und Menschenrechtsor-ganisationen begrüßten das Gesetz als einenwichtigen Schritt, um gesundheitsgefährdendeheimliche Schwangerschaftsabbrüche zu be-kämpfen. Sie äußerten jedoch die Sorge, dieneuen Bedingungen könnten sich als Hinder-nis für den Zugang zu legalen Schwanger-schaftsabbrüchen erweisen. Das Gesetz er-laubt außerdem Schwangerschaftsabbrüchenach der zwölften Woche, wenn die Gesund-heit der Frau gefährdet ist oder der Fötus keineÜberlebenschance hat.

HaftbedingungenIm Dezember 2012 lobte der UN-Sonderbe-richterstatter über Folter nach einem Besuchin Uruguay die jüngsten Maßnahmen zur Ver-besserung der Haftbedingungen. Er wies je-doch auch auf anhaltende Mängel hin, wie z. B.die Überbelegung und eine fehlende Infra-struktur in den Gefängnissen.

Rechte von Lesben, Schwulen,Bisexuellen, Transgendern undIntersexuellenIm Jahr 2012 wurden mindestens fünf transse-xuelle Frauen getötet. Nur in einem Fall wurdedie verantwortliche Person vor Gericht ge-bracht.

UsbekistanAmtliche Bezeichnung: Republik UsbekistanStaatsoberhaupt: Islom KarimovRegierungschef: Shavkat Miriziyoyev

Das Recht auf freie Meinungsäußerungwar 2012 stark eingeschränkt. Men-schenrechtsverteidiger und Journalistenwurden weiterhin schikaniert, geschla-gen, strafrechtlich verfolgt und inhaf-tiert. Zwei Menschenrechtsverteidigerkamen aus humanitären Gründen vorzei-tig frei, mindestens zehn weitere blie-ben jedoch in Haft, teilweise unter grau-

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samen, unmenschlichen und erniedri-genden Bedingungen. Anlass zur Sorgebot weiterhin der häufige Einsatz vonFolter und anderen Misshandlungen, um»Geständnisse« zu erpressen. Dies be-traf insbesondere Personen, die verdäch-tigt wurden, mit verbotenen religiösenGruppen in Verbindung zu stehen.

Recht auf freie MeinungsäußerungMenschenrechtsverteidiger und Journalistenwurden von den Behörden weiterhin schika-niert, unter Druck gesetzt und von Sicherheits-beamten in Uniform oder in Zivil regelmäßigbeschattet. Sie wurden zu Verhören einbestellt,unter Hausarrest gestellt und daran gehindert,an friedlichen Kundgebungen teilzunehmenoder sich mit ausländischen Diplomaten zutreffen. Einige der Betroffenen berichteten, sieseien von Polizisten oder mutmaßlichen Mitar-beitern der Sicherheitsdienste geschlagen wor-den, um sie davon abzuhalten, über Men-schenrechtsverletzungen zu berichten oder dieBehörden zu kritisieren.ý Die gewaltlosen politischen Gefangenen undMenschenrechtsverteidiger Alisher Karamatovund Khabibulla Akpulatov kamen im April bzw.Juli 2012 frei, nachdem sie fast sechs bzw. sie-ben Jahre im Gefängnis verbracht hatten. Siewaren 2005 bzw. 2006 nach unfairen Ge-richtsverhandlungen wegen »Verleumdung«und »Erpressung« verurteilt worden.ý Die Leiterin der Zweigstelle der unabhängi-gen Menschenrechtsgesellschaft von Usbe-kistan in der Provinz Qashqadaryo, Gulshan Ka-raeva, wurde im Mai in einem Geschäft in derStadt Qarshi von zwei Frauen angegriffen.Außerdem besprühte man ihr Haus mit Graf-fiti. Sie hatte zuvor öffentlich gemacht, dass sieeine Anfrage des Nationalen Sicherheitsdiens-tes (SNB), als Informantin tätig zu sein, abge-lehnt habe. Am 27. September nahm man siein der örtlichen Polizeistation in Gewahrsamund teilte ihr mit, die beiden Frauen, die sie imMai angegriffen hatten, hätten sie wegen »Be-leidigung« und »Beschimpfung« angezeigt.Im Falle einer Verurteilung hätten ihr bis zu vierJahre Haft gedroht. Am 13. Dezember kam sie

aufgrund einer Amnestie des Präsidenten frei,und das Verfahren gegen sie wurde eingestellt.Auch Familienangehörige sowie Kolleginnenund Kollegen von Gulshan Karaeva warenSchikanen, Beschimpfungen und tätlichen An-griffen ausgesetzt. Im Juli überfielen zweiNachbarinnen Gulshan Karaevas Bruder undseine Frau und schlugen die beiden sowie de-ren neunjährige Tochter. Die Nachbarinnenwarfen ihnen vor, mit Volksfeinden verwandtzu sein. Dabei bezogen sie sich auf Gulshan Ka-raeva und den älteren Bruder Tulkin Karaev,der als politischer Flüchtling in Schweden lebt.Im August wurden Gulshan Karaevas Bruderund seine Frau auf die lokale Polizeiwache ein-bestellt und im Zusammenhang mit demÜberfall mit einer Strafanzeige bedroht.

Folter und andere MisshandlungenFolter und Misshandlung von Inhaftierten durchdie Sicherheitskräfte und das Gefängnisperso-nal waren weiterhin an der Tagesordnung. ImLaufe des Jahres 2012 trafen zahlreiche Be-richte über Folter und andere Misshandlungenein. Besonders betroffen waren Männer undFrauen, die der Mitgliedschaft in islamischenBewegungen und islamistischen Gruppen undParteien oder anderen in Usbekistan verbote-nen religiösen Gruppen verdächtigt wurdenoder deshalb verurteilt worden waren. Wie inden Vorjahren wurden diese Berichte und diebei der Generalstaatsanwaltschaft eingereich-ten Beschwerden nicht unverzüglich, gründ-lich und unparteiisch untersucht.ý Im Februar 2012 wurden zwölf türkische Ge-schäftsleute nach einer im Dezember 2011vom Präsidenten verfügten Amnestie aus derHaft entlassen und in die Türkei abgeschoben.Sie waren 2011 zusammen mit 42 weiteren tür-kischen Geschäftsleuten wegen verschiedenerWirtschaftsdelikte, darunter Steuerhinterzie-hung, zu zwei- bis dreijährigen Gefängnisstra-fen verurteilt worden. Eine im staatlichen Fern-sehen ausgestrahlte Dokumentation zeigte,wie einige der verurteilten Geschäftsleute an-geblich »gestanden«, Wirtschaftsdelikte be-gangen zu haben. In der Dokumentation wurdeauch behauptet, die Männer hätten Verbin-

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dungen zur verbotenen islamischen BewegungNurchilar. Einer der Männer, der ehemaligeGeneraldirektor des Turkuaz-Einkaufszentrumsin Taschkent, Vahit Günes, leitete nach seinerRückkehr in die Türkei rechtliche Schritte ge-gen die usbekischen Behörden ein. SeinenAngaben zufolge wurden er und andere Perso-nen im Gewahrsam des SNB gefoltert, um siezu zwingen, falsche »Geständnisse« zu unter-zeichnen. Außerdem sei ihnen nicht erlaubtworden, ihre Rechtsbeistände selbst zu wählen.Er gab darüber hinaus an, andere Personenseien in der Untersuchungshaft gefoltert wor-den und einige von ihnen seien an den Folgengestorben. Nach seiner Rückkehr in die Türkeikam Vahit Günes wegen seiner Verletzungen inärztliche Behandlung. Er berichtete auch, dassder Geschäftsmann Hairetdin Öner zwei Mo-nate nach seiner Freilassung aus dem Gefäng-nis noch immer im Krankenhaus gewesen sei,um seine körperlichen Verletzungen und psy-chischen Traumata behandeln zu lassen.ý Im August 2012 berichtete Gulchehra Abdul-laeva, ein Mitglied der Zeugen Jehovas, dasssie auf einer Polizeiwache in Hazorasp gefoltertworden sei. Sie sollte »gestehen«, dass sie ver-botene religiöse Literatur nach Usbekistan ge-schmuggelt habe, was sie jedoch bestritt. Po-lizeibeamte hatten sie im Juli willkürlich festge-nommen, nachdem sie von einer Reise nachKasachstan zurückgekehrt war. Sie sagte, manhabe sie gezwungen, stundenlang ohne Nah-rung und Wasser aufrecht zu stehen. Außer-dem habe man ihr eine Gasmaske über denKopf gestülpt und die Luftzufuhr unterbrochen,um sie zu ersticken. Sie musste eine Erklärungunterschreiben, in der sie »zugab«, an verbote-nen religiösen Aktivitäten beteiligt gewesen zusein, danach kam sie frei. Am 28. Juli sprachsie das Bezirksgericht von Hazorasp schuldig,»privaten Religionsunterricht« erteilt zu haben,und verurteilte sie zu einer Geldstrafe. Gul-chehra Abdullaeva legte gegen das UrteilRechtsmittel ein und erhob bei den Behördeneine offizielle Beschwerde. Die zuständigen Be-amten lehnten es jedoch ab, auf ihre Be-schwerde zu reagieren oder diesbezügliche Un-tersuchungen einzuleiten.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitUnter Verweis auf die Sicherheit und den Anti-terrorkampf bemühten sich die Behörden wei-terhin um die Auslieferung mutmaßlicher Mit-glieder islamischer Bewegungen und islamis-tischer Gruppen und Parteien, die in Usbekis-tan verboten sind. Sie beantragten auch dieAuslieferung politischer Gegner, Regierungskri-tiker und wohlhabender Personen, die beimRegime in Ungnade gefallen waren. Viele dieserAuslieferungsanträge basierten auf fingiertemoder unzuverlässigem »Beweismaterial«. DieRegierung bot den Staaten, die sie um Auslie-ferung bat, im Gegenzug »diplomatische Zu-sicherungen« an, um die Rückführung abzu-sichern, und versprach unabhängigen Kontrol-leuren und Diplomaten Zugang zu den Haft-zentren. In der Praxis wurden diese Verspre-chen jedoch nicht eingehalten. Die nachUsbekistan zwangsweise zurückgeführten Per-sonen wurden ohne Kontakt zur Außenweltinhaftiert und erlitten Folter und andere Miss-handlungen. Nach unfairen Gerichtsverhand-lungen verbüßten sie lange Gefängnisstrafenunter grausamen, unmenschlichen und er-niedrigenden Bedingungen. Den Behördenwurde darüber hinaus vorgeworfen, sie hättenversucht, im Ausland lebende politische Oppo-sitionelle zu ermorden.ý Am 22. Februar 2012 schoss ein Unbekann-ter den seit 2006 als Flüchtling in Schweden le-benden Imam Obidkhon Nazarov vor dessenHaus in den Kopf. Obidkhon Nazarov liegt seit-her im Koma. Er war ein bekannter oppositionel-ler Imam, der die usbekischen Behörden häu-fig öffentlich dafür kritisiert hatte, dass sie un-abhängige muslimische Gruppen unterdrück-ten. Er war im Jahr 2000 aus Usbekistan geflo-hen, im Jahr 2005 jedoch beschuldigt worden,die Proteste in Andischan organisiert zu habenund für die anschließenden gewaltsamen Vor-fälle verantwortlich zu sein. Die Behörden hat-ten sich seither um seine Auslieferung bemühtund ihn als Sicherheitsrisiko für Usbekistan be-zeichnet. In dem Gerichtsverfahren nach demversuchten Mord stellte der schwedische Rich-ter fest, Obidkhon Nazarov sei höchstwahr-scheinlich wegen seiner politischen Überzeu-

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gungen von einer aus dem Ausland stammen-den Gruppe angegriffen worden. Der Staats-anwalt beschuldigte die usbekischen Behör-den, das Attentat organisiert zu haben. DerRechtsbeistand der Familie von Obidkhon Na-zarov und viele seiner Anhänger machten denSNB für den Anschlag verantwortlich.ý Am 20. September 2012 lieferte die UkraineRuslan Suleymanov an Usbekistan aus. Er warim November 2010 in die Ukraine gezogen, daer in Usbekistan einen unfairen Gerichtspro-zess sowie möglicherweise Folter und Miss-handlung befürchtete. Er war Manager ineiner privaten Baufirma in Usbekistan, als diese2008 Ziel einer Übernahme durch konkurrie-rende Firmen wurde. Als sich die Firma wei-gerte, die Anteile auszuhändigen, wurde sievon Sicherheitsdiensten durchsucht. Gegendas Führungspersonal, darunter Ruslan Su-leymanov, wurden Ermittlungen wegen Wirt-schaftsdelikten eingeleitet. Nach einem Aus-lieferungsantrag Usbekistans wurde Ruslan Su-leymanov im Februar 2011 in der Ukraine ver-haftet. Obwohl der UN-Hochkommissar fürFlüchtlinge (UNHCR) ihn im Mai als Flüchtlinganerkannt hatte und sich um seine Ansiedlungin einem Drittland bemühte, brachten usbeki-sche Beamte ihn aus der Ukraine nach Usbe-kistan zurück. Seine Familie berichtete imNovember, dass er sich in Taschkent in Unter-suchungshaft befinde.

VenezuelaAmtliche Bezeichnung:

Bolivarische Republik VenezuelaStaats- und Regierungschef: Hugo Chávez Frías

Die Zahl der Gewaltverbrechen, insbe-sondere unter Einsatz von Waffen, warnach wie vor hoch, trotz der Bemühun-gen, die Verfügbarkeit und den Ge-brauch von Schusswaffen zu kontrollie-

ren. Gewalt in Gefängnissen blieb weitverbreitet, und es kam erneut zu Auf-ständen. Die Regierung begann ihrenRückzug aus dem InteramerikanischenGerichtshof für Menschenrechte.

HintergrundDie Lage der Menschenrechte in Venezuelawurde im Rahmen der Universellen Regelmä-ßigen Überprüfung durch den UN-Menschen-rechtsrat überprüft, dessen Bericht im März2012 angenommen wurde. Venezuela hatte zu-vor mehrere der Empfehlungen, darunterauch die zu Menschenrechtsverteidigern, ak-zeptiert. So verpflichtete sich das Land, dieAktivitäten von Menschenrechtsverteidigern zuunterstützen und ihre Rolle öffentlich anzuer-kennen. Venezuela hatte jedoch auch mehrereEmpfehlungen zurückgewiesen, darunter die,einen Nationalen Menschenrechtsplan auszu-formulieren und ständige Einladungen an re-gionale und internationale Menschenrechtsme-chanismen und -organisationen auszuspre-chen.

Im November wurde Venezuela Mitglied imUN-Menschenrechtsrat und verpflichtete sichdamit zur Kooperation mit dem besonderenVerfahren und dem universellen System zurFörderung und zum Schutz der Menschen-rechte. Ende 2012 stand die Ratifizierung von

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mehreren internationalen Menschenrechtsin-strumenten noch aus, ebenso wie die Zusagefür den Besuch von sechs UN-Sonderberichter-stattern.

Im Oktober 2012 fanden die Präsidentschafts-wahlen statt. Der Wahltag verlief im Großenund Ganzen friedlich. Etwa 81% der Wählergingen an die Urnen, sodass eine der höchs-ten Wahlbeteiligungen in der Geschichte Vene-zuelas erreicht wurde. Der amtierende Präsi-dent Hugo Chávez Frías wurde zum dritten Malfür sechs Jahre gewählt.

Öffentliche SicherheitVenezuelas Mordrate war eine der höchsten inLateinamerika, u. a. aufgrund des ungehinder-ten Zugangs zu Schusswaffen und Munition.Bedenken bestanden auch hinsichtlich desSchusswaffengebrauchs der Polizei. Lauteinem Bericht des Generalrats der Nationalpo-lizei (Consejo General de Policía), einer Auf-sichtsbehörde der Polizei, setzten 80% derpolizeilichen Institutionen Waffen ein, die deninstitutionellen Richtlinien nicht entsprachen.Der Mangel an anderen offiziellen und genauenInformationen zur Gewalt, insbesondere zuVerletzungen durch Schusswaffen, gab weiterAnlass zur Sorge.

2012 führte die Präsidiale Kommission fürWaffenkontrolle, Munition und Entwaffnung(Comisión Presidencial para el Control de Ar-mas, Municiones y Desarme) eine Untersu-chung und Befragung der Öffentlichkeit durchund startete öffentliche Kampagnen, um dieMenschen zu ermutigen, freiwillig ihre Schuss-waffen abzugeben. Die neue Sicherheitsinitia-tive der Regierung, »Gran Misión a Toda VidaVenezuela«, verpflichtete sich, die Aufgabeder Entwaffnung fortzusetzen und ein nationa-les Unterstützungssystem für die Opfer vonWaffengewalt zu schaffen.

2012 wurden Kleinwaffen in bestimmten öf-fentlichen Bereichen verboten und ein neuesRegistrierungssystem eingerichtet, um die Kon-trolle der vorhandenen Schusswaffen zu ver-bessern. Menschen, die kleine Schusswaffenbesaßen, wurden ermutigt, sie registrieren zulassen. Ferner wurden ein Jahr lang keine

neuen Lizenzen für das Tragen von Schuss-waffen vergeben. Ende 2012 lag dem Kongressein Gesetzentwurf zur Waffenkontrolle vor.

HaftbedingungenIn den Gefängnissen kam es weit verbreitetzu Ausbrüchen von Gewalt. Mindestens 591Menschen wurden 2012 in venezolanischenGefängnissen getötet. Schusswaffen, Spreng-stoff und andere Waffen wurden weiterhin re-gelmäßig bei Zusammenstößen in Gefängnis-sen eingesetzt.ý Im Juli führte die Ankündigung einer Verle-gung von Insassen des Andina-Gefängnissesim Bundesstaat Mérida in andere Gefängnissezu einem 20-tägigen Aufstand mit 17 Toten.ý Im August kamen bei einem Gewaltausbruchim Yare-Gefängnis 26 Menschen zu Tode und43 wurden verletzt.

MenschenrechtsverteidigerRegierungsbeamte und die staatlichen Medienerhoben haltlose Vorwürfe gegen Menschen-rechtsverteidiger mit dem Ziel, ihrer Arbeit dieLegitimation zu entziehen. Darüber hinauskam es zu tätlichen Angriffen gegen Menschen-rechtsverteidiger; die Verantwortlichen wur-den nicht zur Rechenschaft gezogen.ý Im Mai 2012 wurde Marianela Sánchez Ortizvon der Venezolanischen Beobachtungsstellefür den Strafvollzug (Observatorio Venezolanode Prisiones – OVP) bedroht. Ihr Mann, Her-nán Antonio Bolívar, wurde mit Waffengewaltentführt. Man forderte ihn auf, seine Frau da-vor zu warnen, sich weiterhin über die Haftbe-dingungen zu beschweren und die Regierungzu kritisieren, andernfalls müssten sie und ihreFamilie mit Vergeltungsmaßnahmen rechnen.Regierungsbeamte warfen dem OVP außerdemvor, Informationen über Gefängnisse gefälschtzu haben, um Gelder US-amerikanischer För-derer zu erhalten.

Straflosigkeitý Im Dezember 2012 wurde Jorge Antonio Bar-rios Opfer eines Anschlags im BundesstaatAragua. Er war das neunte Mitglied der FamilieBarrios, das seit 1998 unter Umständen getötet

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460 Vereinigte Arabische Emirate

wurde, die eine Beteiligung der Polizei nahelegt.Die Tötungen fanden weiter statt, obwohl dasinteramerikanische MenschenrechtssystemVenezuela seit 2004 aufgefordert hatte, sicher-zustellen, dass die Familie geschützt wird, unddie Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

Unabhängigkeit der Justizý Die Richterin Maria Lourdes Afiuni Morastand 2012 weiter unter Hausarrest. Im Sep-tember fuhren Unbekannte an dem Haus vor-bei, in dem sie lebt, und eröffneten das Feuerauf ihr Apartment. Im November teilte MariaLourdes Afiuni der Öffentlichkeit mit, dass siewährend ihres Aufenthalts im Gefängnis verge-waltigt worden sei. Die Richterin war im De-zember 2009 festgenommen und über ein Jahrin Haft festgehalten worden. Sie wurde be-schuldigt, Verbrechen wie Korruption, Amts-missbrauch und Bildung einer kriminellenVereinigung begangen zu haben. MariaLourdes Afiuni hatte die an Bedingungen ge-knüpfte Freilassung eines Bankmanagers an-geordnet, der über zwei Jahre in Gewahrsamauf sein Gerichtsverfahren gewartet hatte.Diese Entscheidung lag in ihrem Zuständig-keitsbereich und stand in Übereinstimmungmit dem venezolanischen Recht.

Internationale KontrolleIm Mai 2012 kündigte Präsident Hugo Chávezmit Unterstützung der Nationalversammlungund des Obersten Gerichtshofs an, sich ausdem interamerikanischen System für Men-schenrechte zurückzuziehen. Im Septemberwiderrief Venezuela offiziell die Unterzeich-nung der Amerikanischen Menschenrechts-konvention und leitete damit seinen Rückzugvom Interamerikanischen Gerichtshof für Men-schenrechte ein. In der Folge können vonMenschenrechtsverletzungen Betroffene abSeptember 2013 keine Beschwerden mehr vordem höchsten Gericht des amerikanischenKontinents einlegen. Venezuela wird jedochMitglied der Organisation Amerikanischer Staa-ten (OAS) bleiben und daher auch in Zukunftvon der Interamerikanischen Kommission fürMenschenrechte beobachtet werden.

Gewalt gegen Frauen und MädchenDie Ausführungsbestimmungen zur Umset-zung des 2007 erlassenen Gesetzes über dasRecht der Frauen auf ein Leben ohne Gewalt(Ley Orgánica sobre el Derecho de las Mujeresa una Vida Libre de Violencia) durch die Behör-den standen weiter aus.ý Im Fall von Alexandra Hidalgo fanden 2012Anhörungen statt. Sie war 2004 von einerGruppe von Männern, darunter auch ihr Ex-Ehemann, vergewaltigt und gefoltert worden.Im Oktober wurde entschieden, dass sich ihrEhemann wegen Entführung und Vergewalti-gung vor Gericht verantworten muss.

Amnesty International: Mission und Berichteþ Delegierte von Amnesty International besuchten Venezuela

im April.ÿ Carta abierta a los candidatos y las candidatas presidencia-

les de la República Bolivariana de Venezuela,http://amnesty.org/en/library/info/AMR53/006/2012/es

ÿ Bolivarian Republic of Venezuela’s candidacy for electionto the UN Human Rights Council: Open letter,http://amnesty.org/en/library/info/AMR53/008/2012/en

VereinigteArabische EmirateAmtliche Bezeichnung:

Vereinigte Arabische EmirateStaatsoberhaupt:

Scheich Khalifa bin Zayed al-NahyanRegierungschef:

Scheich Mohammed bin Rashid al-Maktoum

Die Rechte auf freie Meinungsäußerungsowie auf Vereinigungs- und Versamm-lungsfreiheit wurden 2012 zunehmendweiter eingeschränkt. Mehr als 90 Re-gierungskritiker und Menschenrechtsver-teidiger befanden sich Ende 2012 ohneAnklage oder Gerichtsverfahren in Haft.Mindestens zwei von ihnen waren ge-

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waltlose politische Gefangene. Die Be-hörden entzogen sieben der Inhaftiertenwillkürlich die Staatsbürgerschaft; einerder Betroffenen wurde später ausgewie-sen. Mindestens sechs Menschen muss-ten sich wegen Veröffentlichungen inden sozialen Netzwerken vor Gericht ver-antworten. Frauen wurden nach wie vordurch Gesetze und im täglichen Lebendiskriminiert. Ausländische Arbeitsmig-ranten erfuhren weiterhin Ausbeutungund Missbrauch. Es ergingen mindes-tens 21 Todesurteile, und mindestenseine Person wurde hingerichtet.

HintergrundDie UN-Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftie-rungen stellte im Februar und Juni 2012 fest,dass die Inhaftierung von Abdelsalam AbdallahSalim, Akbar Omar und des Aktivisten AhmedMansoor im Jahr 2011 willkürlich war. Die UN-Arbeitsgruppe forderte die Regierung auf, dendrei Männern Entschädigungszahlungen zuleisten und den Internationalen Pakt über bür-gerliche und politische Rechte zu ratifizieren.Die Regierung hatte Ende des Jahres keineder beiden Forderungen erfüllt.

Im Juli 2012 traten die Vereinigten ArabischenEmirate dem UN-Übereinkommen gegen Fol-ter und andere grausame, unmenschliche odererniedrigende Behandlung oder Strafe bei. DieBefugnis des UN-Ausschusses gegen Folter zurUntersuchung von Foltervorwürfen wurde vonder Regierung jedoch nicht anerkannt. Außer-

dem erklärte die Regierung hinsichtlich derKonvention, dass ihrer Ansicht nach »Schmer-zen und Leid aufgrund rechtmäßiger Straf-maßnahmen« nicht unter die Folterdefinitiondes Übereinkommens fielen.

Rechte auf freie Meinungsäußerung,Vereinigungs- undVersammlungsfreiheitDie Behörden weiteten die Einschränkungender Meinungs-, Vereinigungs- und Versamm-lungsfreiheit aus. Das überaus harte Vorgehengegen Kritiker, das 2011 begonnen hatte, ver-schärfte sich 2012 noch. Dabei nahmen die Be-hörden vor allem die sozialen Netzwerke im In-ternet ins Visier. Syrische Staatsangehörige, dieim Februar vor dem syrischen Konsulat de-monstrierten, wurden befragt; etwa 50 wurdenabgeschoben, jedoch nicht nach Syrien. NachFestnahmen von Regierungskritikern im großenStil wurden etwa 90 Menschen, die mit der inden Vereinigten Arabischen Emiraten ansässi-gen, nach dem Vorbild der ägyptischen Mus-limbruderschaft gebildeten Gruppierung al-Is-lah (Vereinigung für Reformen und SozialeFührung) in Verbindung stehen, ohne Anklageund Gerichtsverfahren inhaftiert.ý Sultan al-Qasimi und etwa neun weitere Per-sonen wurden im Zuge einer Verhaftungswelleim März und April 2012 festgenommen. Ende2012 befand sich Sultan al-Qasimi noch im-mer ohne Anklageerhebung oder Gerichtsver-fahren in Haft. Seine Festnahme stand im Zu-sammenhang mit seiner Funktion bei al-Islah.ý Im Juli 2012 erklärte die Regierung, eine »imAusland ansässige« Gruppe gefährde dieStaatssicherheit. Gleichzeitig wurden im Rah-men einer zweiten Verhaftungswelle mehr als50 Personen aus dem Umfeld von al-Islah in-haftiert. Sie erhielten keinen Zugang zuRechtsbeiständen, und ihre Familien erfuhrennichts über ihren Aufenthaltsort. Einer der In-haftierten stand Ende 2012 vor Gericht. Famili-enmitgliedern wurde mit Verhaftung gedroht.Ein Rechtsanwalt sah sich einer Hetzkampagnein den staatlichen Medien ausgesetzt.ý Der Rechtsanwalt und Menschenrechtsver-teidiger Dr. Mohamed al-Roken wurde zusam-

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men mit seinem Sohn und seinem Schwager imJuli 2012 verhaftet. Dr. al-Roken hatte die fünfgewaltlosen politischen Gefangenen verteidigt,die als »UAE 5« bekannt wurden. Sie waren2011 nach einem unfairen Gerichtsverfahren zuFreiheitsstrafen verurteilt worden. Ende 2012befanden sich Dr. al-Roken, sein Sohn und seinSchwiegersohn noch immer ohne Anklageoder Gerichtsverfahren im Gefängnis.ý Ahmed Abdul Khaleq, einer der »UAE 5«, ge-hörte zu sieben Personen, denen die Behör-den die Staatsangehörigkeit der VereinigtenArabischen Emirate willkürlich aberkannten.Im Juli 2012 wurde er unter Verstoß gegen dasVölkerrecht nach Thailand ausgewiesen.ý Ahmed Mansour, ein weiteres Mitglied der»UAE 5«, wurde zweimal tätlich angegriffen.Die Übergriffe waren offenbar politisch moti-viert. Niemand wurde dafür zur Rechenschaftgezogen.ý Im Juli 2012 verurteilte ein Gericht in AbuDhabi den ehemaligen Richter Dr. Ahmed al-Zaabi wegen Betrugs zu sechs Monaten Ge-fängnis und einer Geldstrafe. Die Anklage waroffenbar politisch motiviert.

Im November verabschiedete die Regierungein Dekret zur Internetkriminalität, das diestrafrechtliche Verfolgung sowie Geldstrafenund Gefängnisstrafen für Personen ermög-licht, die das Internet nutzen, um Regierungs-vertreter zu kritisieren oder zu Demonstratio-nen und politischen Reformen aufzurufen. Un-abhängige Gewerkschaften blieben 2012 wei-terhin verboten.

Willkürliche Festnahmen,Folter und andere MisshandlungenNach Abschluss der Ermittlungen zum Todeines Häftlings in Gewahrsam wurden fünf Be-amte zu je einem Monat Freiheitsentzug verur-teilt, 13 weitere wurden vom Vorwurf der Folterfreigesprochen. In einem zweiten Fall hieß es,der Häftling sei eines natürlichen Todes ge-storben. Soweit bekannt, unterließen es die Be-hörden, Foltervorwürfe zu untersuchen, diezwei syrische und ein US-amerikanischerStaatsbürger vorgebracht hatten.

Die meisten al-Islah angehörenden Gefange-

nen durften weder ihre Familienangehörigennoch ihre Rechtsbeistände treffen, und ihr Ver-bleib war in den meisten Fällen ungewiss. Nurselten wurde ihnen gestattet, ihre Familien an-zurufen.

Todesstrafe2012 wurden mindestens 21 Todesurteile ver-hängt, die meisten wegen Mord und Drogen-handel. Mindestens eine Person wurde hinge-richtet.

Im November enthielten sich die VereinigtenArabischen Emirate der Stimme, als die UN-Generalversammlung über eine Resolution fürein weltweites Hinrichtungsmoratorium ab-stimmte.

Amnesty International: Berichtÿ United Arab Emirates: Crackdown on fundamental freedoms

contradicts human rights commitments – Amnesty Inter-national Submission to the UN Universal Periodic Review,Juli 2012, http://www.amnesty.org/en/library/info/MDE25/009/2012/en

Vereinigte Staatenvon AmerikaAmtliche Bezeichnung:

Vereinigte Staaten von AmerikaStaats- und Regierungschef: Barack H. Obama

Im Jahr 2012 wurden 43 Männer hinge-richtet. Grausame Haftbedingungen bo-ten nach wie vor Anlass zu Besorgnis. InGuantánamo Bay befanden sich weiter-hin zahlreiche Gefangene in unbefriste-ter Militärhaft. Die Ermittlungsverfah-ren gegen sechs dieser Gefangenen, de-nen in Prozessen vor einer Militärkom-mission die Todesstrafe droht, warennoch nicht abgeschlossen. Der Einsatztödlicher Gewalt im Rahmen von Antiter-rormaßnahmen außerhalb der USA

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sorgte ebenso für erhebliche Besorgniswie die anhaltenden Berichte über ex-zessive Gewaltanwendung durch diePolizei in den USA.

Antiterrormaßnahmen und SicherheitHaftlager in Guantánamo BayEnde 2012 waren in Guantánamo Bay noch im-mer 166 Männer inhaftiert – fast drei Jahre nachAblauf der von Präsident Barack Obama ver-sprochenen Frist, innerhalb welcher das Gefan-genenlager spätestens geschlossen sein sollte.Gegen die meisten Gefangenen war weder An-klage erhoben noch ein Strafverfahren eröffnetworden.

Vier Männer wurden 2012 aus dem Gefange-nenlager verlegt; zwei von ihnen waren voneiner Militärkommission schuldig gesprochenworden.

Im Berichtsjahr starb der jemenitische Staats-bürger Adnan Farhan Abdul Latif in Guantá-namo. Er hatte zuvor mehrfach geäußert, dasser sehr stark unter seiner fast elfjährigen Haftohne Anklage oder Verfahren litt. Damit sind,soweit bekannt, seit 2002 neun Gefangenewährend ihrer Haft in Guantánamo gestorben.

Der Oberste Gerichtshof lehnte es ab, die Ein-gaben von mehreren Guantánamo-Gefange-nen zu prüfen, deren Haft vom Berufungsge-richt als rechtmäßig beurteilt worden war. Die

Petitionen bezogen sich auf eine Entscheidungdes Obersten Gerichtshofs im PräzedenzfallBoumediene gegen Bush im Jahr 2008, die denHäftlingen das Recht auf Überprüfung ihrerInhaftierung durch ein Bundesgericht zuer-kannt hatte. In den Petitionen wurde derOberste Gerichtshof u. a. ersucht zu prüfen, obden Häftlingen bei der konkreten Umsetzungdieses Urteils die versprochene »ernsthafte«Überprüfung ihres Falls verwehrt werde.

Verfahren gegen Guantánamo-HäftlingeIm Mai 2012 eröffnete eine Militärkommissionden Prozess gegen die fünf Guantánamo-Häft-linge Khalid Sheikh Mohammed, Walid bin At-tash, Ramzi bin al-Shibh, 'Ali 'Abd al-'Aziz undMustafa al-Hawsawi, die als mutmaßlicheHaupttäter der Anschläge vom 11. September2001 angeklagt sind. Die Hauptverhandlung ge-gen die fünf Männer sowie gegen 'Abd al-Ra-him al-Nashiri, dessen Verfahren bereits 2011eröffnet worden war, hatte Ende 2012 nochnicht begonnen. Vor ihrer Verlegung nach Gu-antánamo im Jahr 2006 waren die sechs Män-ner bis zu vier Jahre in geheimen CIA-Gefäng-nissen in Gewahrsam gehalten und mindes-tens zwei von ihnen gefoltert worden.

Im August 2012 wurde Anklage gegen densaudi-arabischen Staatsbürger Ahmed Mo-hammed al-Darbi erhoben. Er war im Juni 2002in Aserbaidschan festgenommen und zweiMonate später an die US-Behörden überstelltworden. Im März 2003 verlegte man ihn nachGuantánamo. Ende 2012 war die gegen ihn er-hobene Anklage noch nicht an die zuständigeMilitärkommission weitergeleitet worden.

Im Februar bekannte sich der pakistanischeStaatsangehörige Majid Khan vor einer Militär-kommission in Guantánamo verschiedenerStraftaten gemäß dem Gesetz über Militär-kommissionen (Military Commissions Act –MCA) schuldig. Es wurde vereinbart, dass Ma-jid Khan als Gegenleistung für seine Bereit-schaft, mit den US-Behörden zusammenzuar-beiten, mit Strafmilderung rechnen kann. DasStrafmaß soll spätestens im Februar 2016 ver-kündet werden. Vor seiner Verlegung nach Gu-antánamo im Jahr 2006 war Majid Khan an ge-

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heimen Orten in US-amerikanischem Gewahr-sam festgehalten worden, wo er Berichten zu-folge gefoltert und misshandelt wurde.

Damit stieg die Zahl der von einer Militärkom-mission in Guantánamo verurteilten Personenauf insgesamt sieben. Fünf von ihnen hattensich schuldig bekannt, um im Gegenzug dieMöglichkeit einer vorzeitigen Entlassung ausdem Gewahrsam zu erlangen. Zwei der fünfVerurteilten kehrten 2012 in ihre Herkunftslän-der zurück: Ibrahim al-Qosi wurde im Juli inden Sudan gebracht. Omar Khadr, der sich seitseiner Gefangennahme als 15-Jähriger in US-Haft befand, wurde im September nach Ka-nada überstellt.

Im Oktober hob das Berufungsgericht das2008 gegen Salim Hamdan gefällte Urteil we-gen »materieller Unterstützung des Terroris-mus« auf. Zur Begründung hieß es, dieser Tat-bestand habe im US-amerikanischen Recht vordem Erlass des MCA im Jahr 2009 nicht alsKriegsverbrechen gegolten.

US-Haftlager in AfghanistanIm Juni 2012 lehnte der Richter eines Bundes-bezirksgerichts den Antrag von Zia-ur-Rahmanauf Haftprüfung ab. Der afghanische Staatsbür-ger war im Dezember 2008 in Afghanistan inUS-Militärgewahrsam genommen worden undbefand sich dort seither ohne Anklage oder Ge-richtsverfahren. Der Richter schloss sich der Ar-gumentation der US-Regierung an, dass dasGericht für diesen Fall nicht zuständig sei.

Am 9. September 2012 wurde das Haftzen-trum auf dem US-Militärstützpunkt Bagram inAfghanistan an die afghanischen Behördenübergeben, wie dies sechs Monate zuvor ver-einbart worden war. Berichten zufolge übernah-men die afghanischen Behörden die Kontrolleüber die etwa 3000 afghanischen Staatsbürger,die zum Zeitpunkt der Vertragsunterzeich-nung am 9. März dort inhaftiert waren. Mehr als600 Häftlinge, die danach auf den Stützpunktverbracht wurden, sowie rund 50 weitere Perso-nen, die nicht die afghanische Staatsbürger-schaft besaßen, schienen jedoch nach wie vorder US-Militärgerichtsbarkeit zu unterstehen(siehe Länderbericht Afghanistan).

Im Oktober 2012 lehnte ein Bundesbezirks-richter die Anträge auf Haftprüfung von dreiBagram-Gefangenen ab, die keine afghani-schen Staatsbürger waren. Den Anträgen zu-folge wurde Amin al-Bakri 2002 in Thailandfestgenommen, Redha al-Najar im selben Jahrin Pakistan und Fadi al-Maqaleh 2003 ebenfallsaußerhalb Afghanistans – die US-Behördenerklärten allerdings, er habe sich zum Zeitpunktseiner Festnahme in Afghanistan aufgehalten.Im Mai 2010 hatte das Berufungsgericht ein Ur-teil des Bundesbezirksgerichts aus dem Jahr2009 aufgehoben, das den drei Männern dasRecht zugesprochen hatte, ihre Haft vor Ge-richt anzufechten. Daraufhin hatten sich dieRechtsanwälte der Gefangenen erneut an dasBundesbezirksgericht gewandt und neue Infor-mationen vorgelegt, die ihrer Meinung nachdas Urteil des Berufungsgerichts in Frage stell-ten. Das Bundesbezirksgericht lehnte die An-träge jedoch ab.

Im November 2012 wies ein Bundesbezirks-richter den Antrag des pakistanischen Staats-bürgers Amanatullah ab, der seit mehrerenJahren auf dem US-Militärstützpunkt Bagramin Gewahrsam gehalten wurde.

StraflosigkeitDie unter der Präsidentschaft von GeorgeW. Bush im Rahmen des CIA-Programms füraußerordentliche Überstellungen und Geheim-gefängnisse begangenen Menschenrechtsver-letzungen wurden auch im Jahr 2012 nicht ge-ahndet.

Am 30. August gab US-Justizminister EricHolder bekannt, die strafrechtlichen Ermitt-lungen zu zwei Todesfällen in CIA-Gewahrsamseien abgeschlossen. Es werde gegen nie-manden Anklage erhoben. Die Todesfälle ereig-neten sich dem Vernehmen nach 2002 in Af-ghanistan und 2003 im Irak. Holder schloss da-mit an seine Äußerungen vom Juni 2011 an.Damals hatte er erklärt, die »Voruntersuchung«zu den Verhörpraktiken der CIA sei beendet.Man werde nur den beiden Todesfällen nachge-hen, weitere Ermittlungen in anderen Fällenseien nicht erforderlich.

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Einsatz tödlicher GewaltDie USA setzten 2012 die Praxis der »gezieltenTötung« terrorismusverdächtiger Personenfort. Dies geschah insbesondere durch Droh-nen, die u. a. im Jemen, in Pakistan und in So-malia eingesetzt wurden. Aufgrund von Ge-heimhaltungsbestimmungen gab es überdiese Einsätze nur begrenzt Informationen. Esgab jedoch Hinweise darauf, dass die US-Re-gierung außergerichtliche Hinrichtungen bil-ligte, obwohl dies eine Verletzung internationa-ler Menschenrechtsnormen darstellte. Sie be-rief sich dabei auf die US-amerikanischeTheorie eines »globalen Krieges« gegen Al-Qaida und vergleichbare Gruppen.

Exzessive Gewaltanwendung2012 starben mindestens 42 Menschen in 20US-Bundesstaaten nach Polizeieinsätzen mitTaser-Waffen. Damit stieg die Zahl der Men-schen, die seit 2001 durch Elektroschockwaf-fen getötet wurden, auf 540. Zwar machtenAmtsärzte oft gesundheitliche Probleme derBetroffenen für deren Tod verantwortlich, dochin mehr als 60 Todesfällen hieß es, der Einsatzvon Taser-Waffen sei der ausschlaggebendeFaktor gewesen oder habe zum Tod beigetra-gen. Die meisten der Getöteten waren unbe-waffnet und schienen zum Zeitpunkt des Ta-ser-Angriffs keine ernste Gefahr darzustellen.

Im Mai veröffentlichte die Gesundheitsorgani-sation American Heart Association eine Unter-suchung, in der erstmals wissenschaftlichnachgewiesen wurde, dass der Einsatz von Ta-sern zu Herzstillstand und Tod führen kann.Grundlage der Studie waren Autopsieberichte,ärztliche Unterlagen, Polizeiakten und andereDokumente zu acht Fällen, bei denen Perso-nen nach dem Einsatz einer Elektroschockpis-tole vom Typ X26 das Bewusstsein verlorenhatten.ý Am 20. Juni 2012 starb Macadam Mason vorseinem Haus in Thetford (Bundesstaat Ver-mont), nachdem ihn ein Polizist mit einer Taser-Waffe angegriffen hatte. Die im Septemberveröffentlichte gerichtsmedizinische Untersu-chung kam zu dem Schluss, dass der 39-Jäh-rige aufgrund des Einsatzes einer Elektro-

schockwaffe ein plötzliches Herzversagen er-litt.

Im Oktober teilte das US-Ministerium für In-nere Sicherheit mit, man werde die Bestim-mungen zum Einsatz tödlicher Gewalt beimGrenzschutz überprüfen. Ende 2012 war diePrüfung noch nicht abgeschlossen. Zuvor hattees eine Reihe von Vorfällen gegeben, bei de-nen Menschen an der Grenze zu Mexiko vonder US-Grenzschutzpolizei erschossen wor-den waren.ý Im Oktober 2012 starb der 16-jährige JoséAntonio Elena Rodríguez an seinen Schussver-letzungen. Nach Angaben der US-Behördenhatte ein Grenzschutzbeamter aus Nogales(Bundesstaat Arizona), das Feuer eröffnet,nachdem zwei Personen, die verdächtigt wur-den, Drogen zu schmuggeln, über die Grenzegeflohen waren und mit Steinen geworfen hat-ten. Ende 2012 wurde der Fall noch von der US-Bundespolizei FBI und den mexikanischenBehörden untersucht.ý Im April 2012 erklärte das US-Justizministe-rium, zum Tod von Sergio Adrián HernándezGüereca werde kein straf- oder zivilrechtlichesVerfahren eingeleitet. Der 15-Jährige war 2010von einem US-Grenzschutzbeamten durcheinen Kopfschuss getötet worden.

HaftbedingungenDie Inhaftierungsrate der USA zählte weiterhinzu den höchsten der Welt.

Nach wie vor waren Tausende Menschen inHochsicherheitsgefängnissen inhaftiert, in de-nen sie 22 bis 24 Stunden pro Tag in ihren Zel-len verbringen mussten. Es mangelte ihnen anTageslicht, an Möglichkeiten zur körperlichenBetätigung und an Maßnahmen zur Wieder-eingliederung. Die Haftbedingungen in diesenGefängnissen stellten einen Verstoß gegen in-ternationale Standards dar. In einigen Fällenwaren sie mit grausamer, unmenschlicher underniedrigender Behandlung gleichzusetzen.

Im Oktober 2012 lieferte Großbritannien fünfMänner an die USA aus, die sich dort wegenterroristischer Aktivitäten vor Gericht verantwor-ten müssen. Zuvor hatte der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte eine Berufungs-

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klage der Männer abgewiesen. Sie hatten ar-gumentiert, bei einer Inhaftierung im Hochsi-cherheitsgefängnis in Florence im Bundes-staat Colorado drohe ihnen Folter und grau-same, unmenschliche und erniedrigende Be-handlung. Die US-Behörden erteilten AmnestyInternational keine Erlaubnis, das Gefängniszu besuchen.

KinderrechteIm Juni 2012 fällte der Oberste Gerichtshof seinUrteil im Fall Miller gegen Alabama. Das Ge-richt entschied, dass eine lebenslange Haft-strafe ohne Möglichkeit der Freilassung aufBewährung für Personen, die zur Tatzeit unter18 Jahre alt waren, verfassungswidrig sei.2010 hatte der Gerichtshof bereits verboten,diese Strafe auf Jugendliche anzuwenden, diekein Tötungsdelikt begangen haben.

Als Reaktion auf dieses Urteil wandelte derGouverneur von Iowa, Terry Branstad, im Juli38 Haftstrafen wegen Mordes um, die gegenTäter verhängt worden waren, die zur Tatzeitnoch keine 18 Jahre alt waren. Anstelle von le-benslangen Haftstrafen ohne Möglichkeit derFreilassung auf Bewährung erhielten sie le-benslange Haftstrafen, bei denen eine vorzei-tige Entlassung erst nach 60 Jahren möglich ist.Mögliche mildernde Umstände, die seinerzeitim Gerichtsprozess keine Rolle gespielt hatten,da nur eine lebenslange Haftstrafe ohne vor-zeitige Entlassung verhängt werden konnte,wurden bei der Strafumwandlung durch denGouverneur nicht berücksichtigt.

Rechte von MigrantenIm Juni 2012 erklärte der Oberste Gerichtshofdas Einwanderungsgesetz des BundesstaatesArizona in weiten Teilen für verfassungswidrig.Dies betraf u. a. die Bestimmung, die Arbeits-suche und -ausübung von Migranten ohne re-gulären Aufenthaltsstatus unter Strafe zu stel-len. Nicht beanstandet wurde hingegen ein Pa-ragraph, dem zufolge die Polizei den Aufent-haltsstatus jeder Person überprüfen muss, diesie des illegalen Aufenthalts verdächtigt. Men-schenrechtsgruppen hatten kritisiert, dieswerde zu verstärkten polizeilichen Kontrollen

nach Herkunft und äußeren Merkmalen (racialprofiling) führen. Als Reaktion auf das Urteildes Obersten Gerichtshofs billigten Bundesge-richte ähnlich lautende Einwanderungsge-setze in Alabama und Florida.

Durch die Einwanderungsgesetze auf bun-desstaatlicher Ebene bestand für Migranteneine erhöhte Gefahr, diskriminiert zu werden.Außerdem wurde ihr Zugang zu Bildung undgrundlegenden Leistungen der Gesundheits-fürsorge erschwert.

Verschärfte Kontrollen an bestimmten Ab-schnitten der Grenze zu Mexiko führten dazu,dass Einwanderer ohne regulären Aufenthalts-status immer gefährlichere Routen durch dieWüste wählten. Dabei starben Hunderte vonihnen. Weil die Polizei in den grenznahen Or-ten stärker mit den Einwanderungsbehördenzusammenarbeitete, war die Bevölkerung imGrenzgebiet vermehrt Kontrollen nach Herkunftund Aussehen ausgesetzt. Migranten ohne re-gulären Aufenthaltsstatus, die Opfer von Straf-taten wie Menschenschmuggel oder familiärerGewalt wurden, sahen sich vor erhebliche Pro-bleme gestellt, wenn sie die Taten anzeigenwollten.

Recht auf GesundheitIm Juni 2012 erklärte der Oberste Gerichtshofdas 2010 verabschiedete Gesetz zur Einfüh-rung einer verpflichtenden Krankenversiche-rung (Affordable Health Care Act) für verfas-sungskonform. Durch die Gesundheitsreformsollen mehr als 30 Mio. Menschen, die zuvornicht versichert waren, bis 2014 eine Kranken-versicherung erhalten. Das Gesetz enthieltzwar auch einige Bestimmungen, die zu einerbesseren Gesundheitsversorgung von Mütternführen sollen – so dürfen z. B. Versicherungsge-sellschaften von Frauen keine höheren Kran-kenversicherungsbeiträge verlangen –, dochgab es in diesem Bereich nach wie vor Verbes-serungsbedarf.

Ein Gesetz zur Gesundheitsversorgung vonMüttern (Maternal Health Accountability Act)war Ende 2012 noch nicht vom Kongress verab-schiedet worden. Es sah vor, alle Todesfälle imZusammenhang mit Schwangerschaften zen-

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tral zu erfassen und ein Sachverständigengre-mium einzurichten, das sich mit der Mütter-sterblichkeit befassen soll.

FrauenrechteAls erster US-Bundesstaat verbot Kalifornien imOktober 2012 per Gesetz, schwangeren Häft-lingen Fesseln anzulegen.

Im Juni 2012 wurde im Bundesstaat Virginiaein Gesetz verabschiedet, das Frauen zu einerUltraschalluntersuchung verpflichtet, bevor sieeinen Schwangerschaftsabbruch vornehmenlassen.

Das Gesetz zum Schutz von Frauen gegenGewalt (Violence Against Women Act) wurdevom Kongress nicht erneuert. Es enthielt u. a.Maßnahmen, um die weit verbreitete Gewaltgegen indigene Frauen zu bekämpfen und umFrauen zu schützen und zu unterstützen, dieOpfer familiärer Gewalt wurden.

Auch das Gesetz zum Schutz der Opfer vonMenschenschmuggel (Trafficking Victims Pro-tection Act) hatte der Kongress bis Ende 2012noch nicht erneuert. Es sah Schutzmaßnah-men für Tausende von Menschen vor, die jedesJahr in die USA verschleppt werden.

TodesstrafeIm Jahr 2012 wurden 43 Gefangene hingerich-tet. Die Männer starben alle durch eine tödli-che Injektion. 15 der Hinrichtungen wurden imBundesstaat Texas vollstreckt. Damit entfielenauf diesen Bundesstaat 492 der insgesamt1320 in den USA erfolgten Hinrichtungen seitder Aufhebung des Moratoriums durch denObersten Gerichtshof im Jahr 1976.

Im April 2012 schaffte Connecticut als17. Bundesstaat die Todesstrafe ab.

Bei einem Volksentscheid in Kalifornienstimmte im November eine knappe Mehrheitvon 53% zu 47% gegen die GesetzesinitiativeProposition 34. Sie sah die Abschaffung derTodesstrafe vor sowie die Umwandlung vonmehr als 700 Todesurteilen in lebenslangeHaftstrafen ohne die Möglichkeit der vorzeitigenEntlassung auf Bewährung.

Amnesty International: Missionen und Berichteþ Vertreter von Amnesty International nahmen 2012 als Beob-

achter an Verfahren vor einer Militärkommission in Guantá-namo teil.

ÿ USA:»Congress has made no such decision«: Three branchesof government, zero remedy for counter-terrorism abuses,http://www.amnesty.org/fr/library/info/AMR51/008/2012/en

ÿ In hostile terrain: Human rights violations in immigration en-forcement in the US southwest, http://195.234.175.160/en/library/info/AMR51/018/2012/en

ÿ USA: Cruel isolation – Amnesty International’s concernsabout conditions in Arizona maximum security prisons,http://www.amnesty.org/fr/library/info/AMR51/023/2012/en

ÿ USA: Another brick from the wall, http://www.amnesty.org/es/library/info/AMR51/028/2012/en

ÿ USA: Wrong court, wrong place, wrong punishment,http://www.amnesty.org/zh-hant/library/info/AMR51/032/2012/en

ÿ USA: Human rights betrayed: 20 years after US ratification ofICCPR, human rights principles sidelined by »global war«theory, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AMR51/041/2012/en

ÿ USA: »Targeted killing« policies violate the right to life,http://amnesty.org.14feb-youth.com/en/library/info/AMR51/047/2012/en

ÿ USA: Deadly formula – An international perspective onthe 40th anniversary of Furman v. Georgia,http://www.amnesty.org/en/library/info/AMR51/050/2012

ÿ USA: The edge of endurance – Prison conditions in Califor-nia’s Security Housing Units, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AMR51/060/2012/en

ÿ USA: One-way accountability – Guantánamo detainee pleadsguilty ; details of government crimes against him remainclassified top secret, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AMR51/063/2012/en

ÿ USA: Texas – Still, doing its worst; 250th execution undercurrent Governor imminent, http://www.amnesty.org/pt-br/library/info/AMR51/092/2012/en

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468 Vietnam

VietnamAmtliche Bezeichnung:

Sozialistische Republik VietnamStaatsoberhaupt: Truong Tan SangRegierungschef: Nguyen Tan Dung

Die Unterdrückung von Regierungskriti-kern und Aktivisten nahm im Jahr 2012zu und äußerte sich in starken Ein-schränkungen der Rechte auf freie Mei-nungsäußerung, Vereinigungs- und Ver-sammlungsfreiheit. Mindestens 25friedliche Dissidenten, darunter auchBlogger und Liedermacher, wurden inmehreren Verfahren, die den internatio-nalen Standards für faire Prozesse wi-dersprachen, zu langen Haftstrafen ver-urteilt. Angehörige ethnischer und reli-giöser Gruppen wurden Opfer von Men-schenrechtsverletzungen. Mindestens86 Personen wurden zum Tode verurteilt;über 500 Menschen befanden sich inden Todeszellen.

HintergrundMisswirtschaft, steigende Inflation und ein ho-her Schuldenstand sowie Korruptionsskan-dale, in die staatliche Unternehmen verwickeltwaren, führten zu einer politischen Krise. Übermehrere Monate führte die regierende kommu-nistische Partei ein geheimes »Kritik-« und»Selbstkritik-Programm« durch. Ministerpräsi-dent Nguyen Tan Dung entschuldigte sich öf-

fentlich für Fehler in der Wirtschaftspolitik, bliebjedoch im Amt. Zu Änderungen der Verfas-sung von 1992 und zur gleichgeschlechtlichenEhe wurden öffentliche Anhörungen angekün-digt. Eine Eskalation des Territorialkonflikts mitChina im Südchinesischen Meer führte imLand zu China-feindlichen Demonstrationen.Berichte über Landrechtsstreitigkeiten undgewaltsame Zwangsräumungen nahmen zu.Vietnam kündigte seine Bewerbung um einenSitz im UN-Menschenrechtsrat in der Sitzungs-periode 2014–16 an. Im November 2012 ver-abschiedeten die ASEAN-Staaten, darunterVietnam, eine gemeinsame Menschenrechts-erklärung trotz Bedenken, dass diese nicht deninternationalen Standards entsprach.

Rechte auf freie Meinungsäußerungund VersammlungsfreiheitDie Unterdrückung abweichender Meinungensowie Angriffe gegen das Recht auf freie Mei-nungsäußerung und das Recht auf Versamm-lungsfreiheit hielten an. Es kam zu kurzzeiti-gen Festnahmen von Personen, die an fried-lichen Demonstrationen teilnahmen. So wur-den im Juni 30 Bauern festgenommen, die dreiTage lang vor Regierungsgebäuden in Hanoigegen ihre drei Jahre zuvor erfolgte Zwangsver-treibung protestiert hatten.ý Im September 2012 forderte der Ministerprä-sident mehr Kontrolle im Internet und ordnetedie Strafverfolgung von drei namentlich ge-nannten Blogs an, nachdem diese über diepolitische Krise berichtet hatten.

Sehr allgemein formulierte Bestimmungendes Abschnitts zur nationalen Sicherheit imStrafgesetzbuch von 1999 wurden dazu be-nutzt, friedlichen politischen und sozialen Dis-sens zu kriminalisieren. Ende 2012 befandensich zahlreiche friedliche politische, sozialeund religiöse Aktivisten in Untersuchungshaftbzw. verbüßten nach einer Verurteilung Ge-fängnisstraßen. Zu ihnen zählte Nguyen Phu-ong Uyen, eine 20-jährige Studentin, die imOktober festgenommen worden war, weil sie re-gierungskritische Flyer verteilt hatte.

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Gewaltlose politische GefangeneMindestens 27 gewaltlose politische Gefangene(die vor 2012 inhaftiert worden waren) befan-den sich nach wie vor in Haft. Unter ihnen be-fand sich Pater Nguyen Van Ly, ein katho-lischer Geistlicher, der eine achtjährige Haft-strafe verbüßt, weil er sich für Menschen-rechte, freie Meinungsäußerung und politi-schen Wandel eingesetzt hatte.

BloggerBlogger wurden zu langjährigen Haftstrafenverurteilt, offenbar um sie und andere zumSchweigen zu bringen. Sie wurden beschuldigt,»Propaganda betrieben« zu haben und einen»Regierungssturz« zu beabsichtigen. Dissiden-ten wurden lange in Untersuchungshaft gehal-ten, häufig ohne Kontakt zur Außenwelt undmanchmal über den Zeitraum hinaus, den dasvietnamesische Recht gestattet. Es gab Be-richte über Schläge bei Verhören. Die Ge-richtsverfahren blieben hinter internationalenStandards für faire Prozesse zurück: Der Un-schuldsgrundsatz galt nicht, die Verteidigungwar nicht wirksam, und Zeugen durften nichtaufgerufen werden. Familienangehörige vonAngeklagten wurden von örtlichen Sicher-heitskräften schikaniert und daran gehindert,den Prozessen beizuwohnen. Manche verlo-ren ihren Arbeitsplatz oder ihre Ausbildungs-möglichkeiten.ý Die bekannten und beliebten BloggerNguyen Van Hai, Künstlername Dieu Cay, undTa Phong Tan – die »Gerechtigkeit-und-Wahr-heit-Bloggerin« – sowie Phan Thanh Hai, derauch den Namen AnhBaSaiGon trägt, standenim September wegen »Propaganda gegen denStaat« vor Gericht. Die vietnamesische Justizverurteilte sie zu zwölf, zehn bzw. vier JahrenHaft und anschließenden drei bis fünf JahrenHausarrest. Das Gerichtsverfahren dauertenur wenige Stunden. Die Familienangehörigender drei wurden schikaniert und inhaftiert, umsie an der Teilnahme am Prozess zu hindern.Die Verhandlung wurde dreimal verschoben –beim letzten Mal wegen des Todes von TaPhong Tans Mutter, die sich aus Protest gegendie Behandlung ihrer Tochter vor Regierungs-

gebäuden in Brand gesteckt hatte und späterihren Verletzungen erlegen war. Die Gefängnis-strafe von Phan Thanh Hai wurde im Rechts-mittelverfahren im Dezember um ein Jahr her-abgesetzt.ý Der Umweltschützer und Blogger Dinh DangDinh wurde nach einer dreistündigen Ge-richtsverhandlung im August zu sechs JahrenGefängnis verurteilt. Man hatte ihn beschul-digt, »Propaganda gegen den Staat zu betrei-ben«, weil er eine Petition gegen den Abbauvon Bauxit im zentralen Hochland gestartethatte. Seine Frau berichtete, dass er beischlechter Gesundheit sei und Gefängniswärterihn geschlagen hätten.

Diskriminierung –ethnische und religiöse GruppenMitgliedern ethnischer und religiöser Minder-heitsgruppen, die als regierungskritisch einge-stuft wurden, drohten weiterhin Schikanen,Festnahmen und Gefängnisstrafen. Betroffenwaren ethnische Gruppen, die ihren Glauben innicht genehmigten Kirchen praktizierten, undandere, die an Protesten gegen die Beschlag-nahmung von Land durch die Behörden betei-ligt waren. Eine Gruppe von 14 katholischenBloggern und sozialen Aktivisten, die zwi-schen Juli und Dezember 2011 in der ProvinzNghe An festgenommen worden waren, be-fand sich nach wie vor in Untersuchungshaft.ý Im März 2012 verurteilte ein Gericht denMennonitenpastor Nguyen Cong Chinh zu elfJahren Gefängnis, weil er »die Politik der natio-nalen Einheit untergraben« habe. Man be-schuldigte ihn, ethnische Minderheiten »aufzu-hetzen«. Er hatte sich öffentlich zur Schikanedurch lokale Behörden und Einschränkungender Religionsfreiheit im zentralen Hochlandgeäußert. Im Oktober gab seine Frau an, siehabe ihn seit seiner Festnahme im April 2011nicht besuchen dürfen.ý Zwölf Angehörige der Hmong, denen die Be-teiligung an größeren Unruhen im NordwestenVietnams im Mai 2011 zur Last gelegt wurde,erhielten im März und Dezember 2012 zwei-bis siebenjährige Haftstrafen wegen »Störungder Sicherheit« und der Absicht, »die Regie-

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rung zu stürzen«. Es gab keine eindeutigen In-formationen über die Vorkommnisse, und dieBehörden verhinderten den Zugang zu demvermeintlichen Gebiet der Unruhen.ý Der oberste Geistliche der verbotenen Verein-ten buddhistischen Kirche Vietnams, der85-jährige Thich Quang Do, stand weiterhin un-ter Hausarrest. Im Juli forderte er zu fried-lichen Demonstrationen gegen Chinas Aktivitä-ten im Südchinesischen Meer auf. Die Polizeiumstellte daraufhin die verbotenen Klöster, umdie Mitglieder an einer Teilnahme an den De-monstrationen zu hindern.ý Drei Mitglieder der katholischen Jugend wur-den im September zu Gefängnisstrafen zwi-schen 30 und 42 Monaten verurteilt, weil sie»Propaganda gegen den Staat betrieben« ha-ben sollen. Sie hatten an China-kritischen Pro-testen teilgenommen und Petitionen gegendas Gerichtsverfahren des bekannten Dissiden-ten Cu Huy Ha Vu unterzeichnet.

TodesstrafeIm November gab ein Staatsbediensteter an,dass sich 508 Gefangene in Todeszellen be-fänden und rund 100 dieser Häftlinge unmittel-bar vor der Hinrichtung stünden. Die Verzöge-rung bei der Anwendung der Giftspritze auf-grund eines EU-Verbots auf Exporte des erfor-derlichen Stoffs führte dazu, dass seit Juli 2011keine Todesurteile vollstreckt wurden. Über 86Personen wurden 2012 zum Tode verurteilt, da-runter auch zwei Männer, denen man Unter-schlagung vorgeworfen hatte.

ZentralafrikanischeRepublikAmtliche Bezeichnung:

Zentralafrikanische RepublikStaatsoberhaupt: François BozizéRegierungschef: Faustin-Archange Touadéra

Die Bevölkerung der Zentralafrikani-schen Republik (ZAR) blieb 2012 mas-siv von Übergriffen und Gewalt bedroht,da nach wie vor zahlreiche bewaffneteGruppierungen aktiv waren, obwohleinige die Einstellung des bewaffnetenKampfs erklärt hatten. Die Zivilbevölke-rung war Tötungen, Entführungen,Misshandlungen sowie sexueller Gewalteinschließlich Vergewaltigungen ausge-setzt. Die meisten Täter genossen völligeStraffreiheit.

HintergrundDie Wirtschaftsgemeinschaft Zentralafrikani-scher Staaten (CEEAC) beschloss, die Missionfür die Friedenskonsolidierung in Zentralafrika(MICOPAX) im Dezember 2013 zu beenden.Nach wie vor waren einige hundert französi-

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sche Soldaten in der ZAR stationiert. Sie unter-stützten zum einen die Streitkräfte der Regie-rung in Fragen der Ausbildung, zum anderendie MICOPAX.

Im September 2012 übernahm die Afrikani-sche Union die politische Verantwortung füreine regionale Eingreiftruppe zur Bekämpfungder ugandischen Rebellengruppe Wider-standsarmee des Herrn (Lord’s ResistanceArmy – LRA). Zwischen MICOPAX-Soldatenund kleinen Einheiten der LRA kam es mehr-fach zu Kämpfen, bei denen LRA-Angehörigegetötet bzw. gefangen genommen wurden. ImMai gaben die ugandischen Streitkräfte dieGefangennahme des hochrangigen LRA-Kom-mandeurs Caesar Achellam bekannt.

Anfang Dezember 2012 begann die Seleka,ein Bündnis bewaffneter Oppositionsgruppen,mit einer Offensive, deren Ziel der Sturz der Re-gierung war. Ende Dezember hatte das Bünd-nis große Teile des Nordens der ZAR erobert,wurde aber von MICOPAX-Einheiten am Vor-marsch auf Bangui, die Hauptstadt des Landes,gehindert. Ende des Jahres einigten sich Se-leka und Regierung auf die Aufnahme von Ver-handlungen. Auf Bitten der Regierung ent-sandte Südafrika mehrere hundert Soldatennach Bangui.

Menschenrechtsverstöße durchbewaffnete GruppenDas ganze Jahr über gab es Berichte von Über-griffen bewaffneter Gruppen im Norden undOsten der ZAR, darunter auch Tötungen, Folterund Entführungen.

Zahlreiche Übergriffe im Norden des Landes– einschließlich Tötungen, Entführungen undPlünderungen – wurden Resten der aus demTschad stammenden Volksfront für die Wie-deraufrichtung (Front Populaire pour le Re-dressement – FPR) zugeschrieben. Im Januar2012 griffen zentralafrikanische und tscha-dische Einheiten die Stützpunkte der FPR imNorden des Landes an und zerstreuten derenKämpfer. Im September ergab sich der An-führer der FPR, Baba Laddé, und wurde anden Tschad überstellt. Einen Monat späterwurden auch Hunderte FPR-Kämpfer und bei

ihnen lebende Zivilpersonen in den Tschad re-patriiert.

Berichten zufolge soll die LRA 2012 wenigerMenschen getötet haben als in den Vorjahren.Nach wie vor waren Kämpfer der LRA jedoch fürdie Tötung von Zivilpersonen, für Plünderun-gen und für den Missbrauch von Frauen undMädchen als Sexsklavinnen verantwortlich.ý Im März 2012 wurden 13 Männer getötet, diein einem Bergwerk gearbeitet hatten, das ineinem Wildpark in der Provinz Mbomou liegt.Erik Mararv, der schwedische Eigentümer desWildparks, und der britische Pilot David Simp-son wurden wegen der Tötung der Männer an-geklagt. Demgegenüber erklärten Menschen-rechtsgruppen und Anwälte, dass die Tötun-gen die Handschrift der LRA trügen. Nachdemdie beiden Männer mehrere Monate im Ge-fängnis zugebracht hatten, wurde die Anklagegegen sie im August fallen gelassen.

Entwaffnung, Demobilisierungund Wiedereingliederungin die ZivilgesellschaftMehrere bewaffnete Gruppen erklärten dasEnde des Konflikts mit der Regierung und ver-pflichteten sich zur Entwaffnung, Demobilisie-rung und Wiedereingliederung ihrer Kämpferin die Zivilgesellschaft. Die Union der Republi-kanischen Kräfte gab im Juni bekannt, dassdie Entwaffnung ihrer Kämpfer und die Auflö-sung der Gruppe abgeschlossen seien. DieVolksarmee für die Wiederherstellung der Re-publik und der Demokratie (Armée populairepour la restauration de la démocratie – APRD)erklärte im Juli 2012, dass sie als bewaffneteGruppe nicht mehr existiere. Nachdem der An-führer der Gruppe, Jean-Jacques Démafouth(Vizepräsident des Lenkungsausschusses fürdas Demobilisierungsprogramm), sowie zweiweitere Politiker im Januar festgenommen wor-den waren, weil sie den Sturz der Regierunggeplant haben sollen, hatte sich die Demobili-sierung der APRD verzögert. Nach Ansichtführender Oppositionspolitiker waren die Fest-nahmen politisch motiviert. Die Vorwürfe ge-gen die Männer wurden im Mai fallen gelassen,und sie kamen auf freien Fuß.

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472 Zentralafrikanische Republik

Im August wurde zwischen der Sammlungs-bewegung der Patrioten für Gerechtigkeit undFrieden (Convention des Patriotes pour la Jus-tice et la Paix – CPJP) und der Regierung derZAR ein Waffenstillstandsabkommen unter-zeichnet. In den Monaten vor der Unterzeich-nung waren zahlreiche Kindersoldaten derCPJP demobilisiert worden. Die Entwaffnungder CPJP-Kämpfer war Ende 2012 jedoch nochnicht abgeschlossen, und ein Flügel der CPJP,der den Waffenstillstand ablehnte, verübte inder zweiten Jahreshälfte Angriffe auf Soldatender Regierungsarmee.

Exzessive GewaltanwendungSoldaten der nationalen Streitkräfte misshan-delten und töteten Zivilpersonen. Dabei ge-nossen sie praktisch Straffreiheit. Viele Tätergehörten der Präsidialgarde an.ý Mijora Delphine Dengwize erlag im August2012 den Schussverletzungen, die ihr einHauptmann der Armee zugefügt hatte. DerHauptmann hatte versucht, Zivilpersonen fest-zunehmen, die er der Beteiligung an einemgewaltsamen Vorfall in Bangui beschuldigte.Als eine Menschenmenge dagegen protestierte,schoss er in die Menge und traf die Frau. DerSoldat war seit langem dafür bekannt, dass erMenschenrechtsverletzungen beging, ohnesich für diese strafrechtlich verantworten zumüssen.

Gewalt gegen Frauen und MädchenIn Ndele, im Norden der ZAR, vergewaltigtenSoldaten der tschadischen Streitkräfte, die imJanuar an der Offensive gegen die FPR teilge-nommen hatten, mehr als zwölf Frauen. We-der die zentralafrikanischen noch die tschadi-schen Behörden gingen gegen die Verantwort-lichen vor.

Gewaltlose politische GefangeneIm April 2012 kamen elf gewaltlose politischeGefangene vorläufig aus der Haft frei, nach-dem ein Richter geurteilt hatte, dass sie sichnicht schuldig gemacht hätten. Sie waren imJuni 2010 festgenommen worden, weil sie Ver-bindungen zu einem Rechtsanwalt und einem

Geschäftsmann hatten, die von den Behördengesucht wurden. Die Regierung legte jedochgegen die Entscheidung des Richters Berufungein. Zum Jahresende war gegen die Betroffe-nen noch eine Klage wegen Brandstiftung an-hängig.

Haft ohne AnklageerhebungNachdem im Juni 2012 der Justizminister undim Juli der Finanzminister entlassen wordenwaren, wurden im Juli und im August mehrerePersonen festgenommen, die Verbindungenzu den beiden Ex-Ministern hatten. Wie es hieß,soll Präsident François Bozizé die beiden Mi-nister verdächtigt haben, den Sturz der Regie-rung zu planen. Bei den Festgenommenenhandelte es sich um den Bruder des ehemali-gen Justizministers, Laurent Feindiro, sowieum zwei Mitarbeiter des ehemaligen Finanz-ministers: dessen Fahrer Jean Bianga undden Beamten Serge Venant Magna. Sie befan-den sich Ende 2012 nach wie vor in Haft, ohnevor Gericht gestellt worden zu sein.

Amnesty International: Missionenþ Delegierte von Amnesty International hielten sich im Mai

und im Juni in der Zentralafrikanischen Republik auf.

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Zypern 473

ZypernAmtliche Bezeichnung: Republik ZypernStaats- und Regierungschef: Dimitris Christofias

Migranten ohne regulären Aufenthalts-status wurden über längere Zeiträumehinweg inhaftiert, ohne dass alternativeMaßnahmen in Betracht gezogen wur-den. Es wurden Vorwürfe laut, die Polizeihabe friedliche Aktivisten misshandelt.

HintergrundDie Verhandlungen zwischen führenden Vertre-tern der griechischen und der türkischen Zy-prer im Hinblick auf eine Wiedervereinigungder Insel kamen 2012 nicht voran.

Flüchtlinge, Asylsuchendeund MigrantenMigranten ohne regulären Aufenthaltsstatus,abgewiesene Asylsuchende und bestimmteGruppen von Asylsuchenden wurden über län-gere Zeiträume hinweg in Haft gehalten. DieInhaftierung schien routinemäßig zu erfolgen,ohne dass man alternative Maßnahmen in Be-tracht zog.

Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatusund Asylsuchende wurden nach wie vor unterunzumutbaren Bedingungen in ungeeignetenEinrichtungen inhaftiert. Dazu zählten Zellenin Polizeiwachen, die nur für kurze Aufenthalte

vorgesehen waren, und zwei Gebäudeteile desZentralgefängnisses von Nikosia. Die Eröffnungeiner eigens für Migranten gebauten Haftein-richtung in Menogia, die 276 Personen aufneh-men soll, wurde auf 2013 verschoben.

Mehrere Personen blieben aufgrund von Zu-wanderungsbestimmungen weiterhin in Haft,obwohl ihre Abschiebung nicht ausgeführt wer-den konnte. Es gab mehrere Fälle, in denensyrische Staatsangehörige monatelang in Ge-wahrsam gehalten wurden, obwohl die Behör-den Abschiebungen nach Syrien wegen desdortigen bewaffneten Konflikts ausgesetzt hat-ten. Ihre Inhaftierung war daher willkürlich, un-nötig und rechtswidrig.ý Im November 2012 ordnete der Oberste Ge-richtshof Zyperns die Freilassung von MajidEazadi an. Der abgewiesene Asylsuchende ausdem Iran war 14 Monate lang unter Berufungauf Zuwanderungsbestimmungen inhaftiert, daseine Abschiebung unrealistisch war. MajidEazadi war bereits mehrfach inhaftiert worden,um abgeschoben zu werden; zwischen 2008und 2011 verbrachte er fast drei Jahre in Haft.Die Ombudsperson hatte wiederholt an das In-nenministerium geschrieben und Bedenkenhinsichtlich der Rechtmäßigkeit seiner Inhaf-tierung angemeldet.

In einigen Fällen, in denen der Oberste Ge-richtshof eine Freilassung von Personen ange-ordnet hatte, weil ihre Inhaftierung über einenlangen Zeitraum hinweg gesetzwidrig war,wurde das Urteil in der Praxis ignoriert. Die Be-troffenen wurden unmittelbar nach ihrer Frei-lassung aus den gleichen Gründen wie zuvorwieder festgenommen.

Die Behörden lehnten es dem Vernehmennach ab, Folgeanträge syrischer Asylsuchen-der zu prüfen, die angesichts der dramatischenEntwicklungen in Syrien um eine erneute Prü-fung ihres Asylgesuchs gebeten hatten.

Polizei und SicherheitskräfteAm 7. April 2012 räumte die zyprische Polizeimit Unterstützung eines Antiterrorkomman-dos ein Gebäude in der Pufferzone, das vonFriedensaktivisten aus dem griechischenund dem türkischen Teil der Insel besetzt

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worden war. 28 Personen wurden festge-nommen, darunter Minderjährige. Es wurdenzahlreiche Vorwürfe laut, die Polizei habe beidem Einsatz mehrere Menschen misshandelt.Ein Anwalt, der vor Ort war, bezeichnete denPolizeieinsatz als gesetzwidrig, da keine Haft-befehle vorgelegen hätten. Die Behördenleugneten die Anwendung von exzessiver Ge-walt.

MenschenrechtsverteidigerIm Juli 2012 wurde der Geschäftsführer derNGO KISA, die sich für Migranten und Flücht-linge einsetzt, vom Vorwurf des »Rowdytumsund der Teilnahme an einer illegalen Ver-sammlung« freigesprochen. Die Anklage be-zog sich auf Vorfälle während des antirassisti-schen Rainbow-Festivals in Lárnaka im Jahr2010. Damals waren Berichten zufolge Besu-cher des Festivals von Personen angegriffenworden, die an einer gegen Migranten gerich-teten Demonstration teilnahmen. Es kam da-raufhin zu gewaltsamen Zusammenstößen.Zwei türkisch-zyprische Musiker, die dem Ver-nehmen nach von migrantenfeindlichen De-

monstrierenden angegriffen wurden, verklagtenEnde des Jahres die Behörden, weil sie dieAngreifer nicht festgenommen und strafrecht-lich verfolgt hatten.

VerschwindenlassenDer Ausschuss für die Vermissten in Zypern(Committee on Missing Persons in Cyprus –CMP) exhumierte im Laufe des Jahres diesterblichen Überreste von 43 Personen. Damitstieg die Zahl der Exhumierungen seit 2006 aufinsgesamt 857. Ende 2012 waren die Leichenvon 336 vermissten Personen (269 griechischeZyprer und 67 türkische Zyprer) identifiziertund ihren Familien übergeben worden. Biszum Jahresende waren jedoch weder auf Zy-pern noch in der Türkei Schuldige ermittelt oderstrafrechtlich verfolgt worden.

Amnesty International: Missionen und Berichtþ Delegierte von Amnesty International besuchten Zypern im

Juni und im Oktober.ÿ Punishment without a crime: Detention of irregular migrants

and asylum-seekers in Cyprus, https://www.amnesty.org/pt-br/library/info/EUR17/001/2012/en

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Anhang 477

Eurovision Song Contest in Baku –»0 Points« für MenschenrechteFolter, Einschüchterungsversuche und Über-griffe – Aserbaidschan machte in Sachen Mei-nungs- und Versammlungsfreiheit keine guteFigur. Amnesty International nutzte den Euro-vision Song Contest, der vom 22. bis 26. Mai2012 in der Hauptstadt Baku stattfand, umDruck auf die aserbaidschanische Regierungauszuüben und sie aufzufordern, die Men-schenrechte der eigenen Bürger zu achten.Über 16000 Menschen nahmen an der Unter-schriften-Aktion »Ihre Stimme für Baku« vonAmnesty International Deutschland teil. Auchüber Facebook und Twitter schrieben zahlrei-che Menschen Nachrichten an die Regierungdes Gastgeberlandes und an die Organisatorendes Eurovision Song Contest, in denen sie dieFreilassung von inhaftierten Demonstrierendenund die Wahrung der Meinungsfreiheit inAserbaidschan forderten. Neun der gewaltlosenpolitischen Gefangenen, für die sich Amnestyeingesetzt hatte, kamen im Juni 2012 frei. IhreFreilassung darf allerdings nicht darüber hin-wegtäuschen, dass die Unterdrückung der Mei-nungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfrei-heit in Aserbaidschan unvermindert anhält.

Kampagnen und Aktionen vonAmnesty International im Jahr 2012

Null Punkte für die Menschenrechte in Aserbaidschan © Amnesty International / Martina Dach

Hände hoch für WaffenkontrolleAm 2. Juli 2012 begann in New York die UN-Konferenz, auf der ein Vertrag zur Kontrolledes internationalen Waffenhandels (ATT – ArmsTrade Treaty) ausgearbeitet werden sollte.Amnesty International startete deshalb im Märzdie Kampagne »Hände hoch für Waffenkon-trolle« für ein effektives Abkommen, das denSchutz der Menschenrechte ins Zentrumstellt. Vor der Konferenz überreichten Amnestyund das Bündnis Control Arms gemeinsamrund 632000 weltweit gesammelte Unterschrif-ten an UN-Generalsekretär Ban Ki-moon. Al-lein 48785 der Unterschriften kamen ausDeutschland, 20000 aus der Schweiz. Die De-legierten der 193 Staaten in New York konntensich bis zum 28. Juli nicht auf einen Waffen-handelsvertrag einigen. Mehr als 90 Staatenverpflichteten sich jedoch in einer gemeinsa-men Erklärung, so schnell wie möglich an demWaffenhandelskontrollvertrag weiterzuarbei-ten. Mit Erfolg: Die UN-Mitglieder verabschie-deten am 2. April 2013 mit überwältigenderMehrheit ein Waffenhandelsabkommen, dasWaffenlieferungen verbietet, wenn diese zuVölkermord, Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit und Kriegsverbrechen beitragen.

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Briefmarathon 2012Von Barbados bis Bulgarien, von Marokko bisin die Mongolei und von Nepal bis Neuseeland:Im Dezember 2012 beteiligten sich Hunderttau-sende Menschen weltweit am Amnesty-Brief-marathon. In den Wochen um den 10. Dezem-ber, dem Tag der Menschenrechte, schriebensie Briefe, E-Mails und Faxe, um u. a. die Frei-lassung des gewaltlosen politischen Gefange-nen Gao Zhisheng in China, das Ende der Un-terdrückung einer Gruppe sudanesischer Stu-dierender oder das Recht auf Wohnen für Romain Rumänien zu fordern. Weltweit wurden über1,9 Mio. Appellschreiben für Menschen in Ge-fahr in zwölf Länder verschickt – damit wurde dieRekordteilnahme aus dem Vorjahr weit übertrof-fen. Aus Deutschland kamen 51689, aus derSchweiz 42000 und aus Österreich 27746Schreiben.

Recht ohne GrenzenGemeinsam mit rund 50 weiteren Organisa-tionen lancierte die Schweizer Sektion vonAmnesty die Kampagne »Konzerne an dieLeine«, mit Aktionen beim Weltwirtschafts-forum in Davos. 135000 Menschen fordertenmit ihrer Unterschrift von Bundesrat und Par-lament klare Regeln, damit Firmen mit Sitz inder Schweiz die Menschenrechte und die Um-welt weltweit respektieren müssen. Am 14. De-zember 2012 konnte Amnesty einen erstenTeilerfolg verzeichnen: Das Parlament beauf-tragte den Bundesrat, eine Strategie zu Wirt-schaft und Menschenrechten zu erarbeiten.

Gao Zhisheng © Amnesty International

Gegen rechtswidrigeZwangsräumungen20 Amnesty-Mitglieder aus Österreich beteilig-ten sich am 17. Dezember 2012 an einer öffent-lichen Aktion in Cluj Napoca (Klausenburg, Ru-mänien). Gemeinsam mit den vor zwei Jahrenaus dem Zentrum der Stadt vertriebenen Fami-lien forderten sie Gerechtigkeit. Die Gruppe re-präsentierte Amnesty-UnterstützerInnen welt-weit und verstärkte den Druck auf den zustän-digen Bürgermeister, endlich zu handeln.Amnesty setzte sich außerdem mit weltweitenAktionen gegen Zwangsräumungen unter ande-rem in Serbien, Haiti, Angola, Frankreich undChina ein. Doch ist es noch ein weiter Weg, umdie Verantwortlichen zum Umdenken zu bewe-gen. Das beweist nicht zuletzt eine Aussage desGouverneurs im nigerianischen Port Harcourtgegenüber Amnesty: »Wir schaffen die Men-schen einfach weg. Um Ersatzunterkünftemüssen sie sich dann selber kümmern.«

40 Jahre Urgent ActionsSeit der ersten Urgent Action vor fast 40 Jahren– zugunsten des brasilianischen Univer-sitätsprofessors Luiz Rossi, der 1973 von derMilitärjunta inhaftiert und gefoltert worden war– hat sich diese Aktionsform von Amnesty Inter-national weltweit zu einem der wirkungsvolls-ten Instrumente gegen drohende Menschen-rechtsverletzungen entwickelt. Damals warenes Luftpostbriefe und Telegramme, die Men-schen aus aller Welt an die Behörden einesStaates schickten, in dem Menschenrechte ver-letzt wurden. Heute sind es vor allem E-Mails,Faxe oder Twitter-Nachrichten und Postings auf

© Laurent Ziegler

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Facebook, aber auch immer noch Briefe, diebei den für Menschenrechtsverletzungen Ver-antwortlichen eingehen. Bis heute hat dieserschnelle und massive Protest zahlreichen Men-schen das Leben gerettet. Die Idee ist seit1973 gleich: Der persönliche Einsatz für ver-folgte Menschen. Auch 2012 zeugen zahlrei-che Beispiele vom Erfolg der Urgent Actions.

Gambia – Ehemaliger Minister freiDr. Amadou Scattred Janneh wurde am 17. Sep-tember 2012 in Gambia aus dem Gefängnisentlassen und konnte zu seiner Frau und sei-nen Kindern in die USA zurückkehren. Jannehwar am 7. Juni 2011 zusammen mit drei weite-ren Männern festgenommen und angeklagtworden, weil er T-Shirts besaß, die mit dem Slo-gan »Für ein sofortiges Ende der Diktatur!« be-druckt waren. Am 16. Januar 2012 war er zu le-benslanger Haft mit Zwangsarbeit verurteiltworden.

Nach seiner Freilassung erklärte Dr. JannehAmnesty gegenüber: »Eure Arbeit hat uns dieStärke gegeben, diese Tortur zu überstehen.Immer wenn wir Berichte über Amnesty Inter-national im Radio gehört haben, wussten wir,dass man uns nicht vergessen wird.«

Iran – Hungerstreik beendetDie iranische Menschenrechtsanwältin NasrinSotoudeh hat am 4. Dezember 2012 ihren49-tägigen Hungerstreik beendet. Nasrin So-toudeh war am 4. September 2010 festgenom-

men worden, weil sietrotz eines Reisever-bots nach Italien reisenwollte, um dort einenMenschenrechtspreisentgegenzunehmen.Sie wurde zu elf JahrenHaft verurteilt und istseitdem bereits mehr-fach in den Hunger-streik getreten. Ihr Ge-sundheitszustand ist

kritisch. Amnesty International fordert weiterhindie bedingungslose Freilassung der Men-schenrechtsanwältin.

Nasrin Sotoudeh© PAYVAND.COM

Myanmar – FreilassungKurz nach der Veröffentlichung einer UrgentAction im Juni 2012 ließen die Behörden PhyoWai Aung am 3. August 2012 nach mehr alszwei Jahren Haft frei. Phyo Wai Aung war am22. April 2010 festgenommen worden. Ihmwurde vorgeworfen, an den Bombenanschlä-gen während des Wasserfestes am 15. April

vor dem X20-Stadion inYangon beteiligt gewe-sen zu sein. Es wird ver-mutet, dass er wäh-rend der Verhöre gefol-tert wurde. In einemunfairen Prozess verur-teilte man ihn zumTode. Obwohl Phyo WaiAung Symptome einerschweren Erkrankungzeigte, erhielt er bisEnde Mai 2012 im In-

sein-Gefängnis keine angemessene medizi-nische Versorgung. Erst nachdem bei ihmLeberkrebs im fortgeschrittenen Stadium diag-nostiziert worden war, gewährte man ihm dieerforderliche Behandlung. Seine Familiedankte Amnesty International für die Unter-stützung.

Kuba – FreilassungenAm 20. Januar 2012 wurden die Menschen-rechtsverteidigerin Ivonne Malleza Galano undihr Ehemann Ignacio Martínez Montejo aus derHaft entlassen. Sie waren wegen einer friedli-chen Demonstration in einem Park von Ha-vanna 52 Tage ohne Anklage in Haft gehaltenworden. Bei dem Protest hielten sie ein Trans-parent mit dem Slogan »Stoppt Hunger, Elendund Armut auf Kuba« hoch. Ivonne Malleza un-terstützt in der Gruppe Damas de Apoyo dieAngehörigengruppe ehemaliger und aktueller(gewaltloser) politischer Gefangener namens»Damen in Weiß«. Auch Isabel Haydee Álvarez,die gegen die Festnahme des Ehepaars pro-testiert hatte, wurde freigelassen.

Phyo Wai Aung© AAPPB

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