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Niemand ist perfekt. Auch nicht die sogenannten Halbgötter inWeiß, sagt einer, der es wissen muss. Atul Gawande ist Chirurgund bekennt, welche fatalen Folgen kleine Unachtsamkeiten beieiner Operation haben können. Und nicht nur eine Operation,auch das Steuern eines Flugzeuges oder der Bau eines Wolken-kratzers sind hochkomplexe Vorgänge, die man besser nicht derLaune eines Einzelnen überlässt. Gawande macht deutlich, dasses das Zusammenspiel der verschiedensten Experten und außer-dem eine Methode braucht, die all dieses Wissen steuert und un-ter Kontrolle hält. Diese Methode ist, so simpel sie auch klingenmag, genial – eine Checkliste.

Atul Gawande ist Facharzt für Chirurgie an einer Klinikin Boston. Als Wissenschaftsredakteur veröffentlicht er regel-mäßig Beiträge in The New Yorker. Vor seiner medizinischenAusbildung an der Harvard Medical School studierte der Sohnzweier Ärzte Philosophie und Ethik. Gawande lebt mit seinerFamilie in Newton, Massachusetts.

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ATUL GAWANDE

CHECKLIST-STRATEGIEWIE SIE DIE DINGE IN DEN

GRIFF BEKOMMEN

Aus dem Amerikanischenvon Gabriele Zelisko

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Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel»The Checklist Manifesto« bei Metropolitan, New York.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC®-zertifizierte PapierMunken Print liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung Februar 2013Copyright © 2009 by Atul GawandeAll rights reserved including the rights of reproduction in whole or in part.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by btb Verlag,in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: © semper smile, München,nach einem Entwurf von Lisa FyfeSatz: Uhl + Massopust, AalenDruck und Einband: CPI – Claussen & Bosse, LeckLW · Herstellung: scPrinted in GermanyISBN 978-3-442-74474-9

www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de!

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Für Hunter, Hattie und Walker

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Inhalt

Einleitung 9

1. Das Problem extremer Komplexität 25

2. Die Checkliste 45

3. Das Ende der Baumeister-Ära 63

4. Die Idee 91

5. Der erste Versuch 108

6. Die Checklisten-Fabrik 141

7. Die Probe aufs Exempel 167

8. Helden im Zeitalter der Checkliste 193

9. Das Finale 228

Quellenangaben 237

Danksagung 247

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Einleitung

Ich unterhielt mich mit einem früheren Kommilitonen, derheute Allgemeinchirurg in San Francisco ist. Wir plaudertenaus dem Nähkästchen, eine Berufskrankheit unter Chirurgen.John erzählte von einem Mann, der an Halloween mit einerStichverletzung eingeliefert wurde. Er war auf einem Kostüm-fest gewesen und dort in eine Streiterei geraten. Nun lag ervor ihm.

Er war stabil, atmete normal, hatte keine Schmerzen, warnur betrunken und lallte. Sie schnitten seine Kleider mitScheren auf und begutachteten ihn von Kopf bis Fuß, vorneund hinten. Er war nicht besonders groß, wog etwa neun-zig Kilo, von denen sich der überschüssige Teil vor allemum seine Körpermitte ansammelte. Dort fanden sie auch dieStichwunde, ein sauberer, fünf Zentimeter langer Schnitt imBauch, der wie ein Fischmaul aufsprang. Ein dünner, senf-gelber Streifen omentalen Fettes stülpte sich daraus hervor –Fett aus dem Inneren seines Bauchraumes, nicht das hellgelbeüberschüssige Fett, das unmittelbar unter der Haut liegt. Siewürden ihn in den OP bringen müssen, sich vergewissern,dass der Darm nicht verletzt war und den kleinen Schnitt nä-hen.

»Nichts Weltbewegendes«, sagte John.Wäre es eine schlimmere Verletzung gewesen, hätten sie es

eilig gehabt, in den OP zu kommen – die Trage wäre hektischdorthin gefahren worden, OP-Pflegekräfte hätten in Win-

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deseile alles bereit gemacht, die Anästhesisten hätten auf diedetaillierte Überprüfung des Krankenblatts verzichtet. Dochdies war keine schlimme Verletzung. Sie hatten Zeit, hieß es.Der Patient lag wartend auf seiner Trage in dem abgetrenntenBereich für die Trauma-Patienten, während der Operations-saal vorbereitet wurde.

Dann bemerkte eine Schwester, dass er auf einmal ganzstill war. Seine Herzfrequenz war nach oben geschossen. Erverdrehte die Augen. Er reagierte nicht, als sie ihn schüttelte.Sie rief nach Hilfe und die Mitglieder des Trauma-Teamskamen wie ein Schwarm zurück. Sein Blutdruck war kaumnoch messbar. Sie intubierten und beatmeten ihn, gabenFlüssigkeiten und Blutkonserven. Trotzdem ging sein Blut-druck nicht hoch.

Und nun hatten sie es doch eilig, in den OP zu kommen –die Trage wurde hektisch dorthin gefahren, OP-Pflegekräftemachten in Windeseile alles bereit, die Anästhesisten verzich-teten auf eine detaillierte Überprüfung des Krankenblatts, einAssistenzarzt versprengte eine ganze Flasche des Desinfekti-onsmittels Betadine über den Bauch des Patienten, John griffsich ein großes 10er-Skalpell und öffnete mit einem sauberen,energischen Schnitt durch die Haut den Bauch des Mannesvom Brustkorb bis zum Schambein.

»Kauter.«Er führte die unter Strom stehende Spitze des Kauters am

Fett unter der Haut entlang und durchtrennte es in einemZug von oben nach unten. Dann folgte die faserige weißeLage Bindegewebe zwischen den Bauchmuskeln. So arbeiteteer sich bis zur Bauchhöhle vor – bis plötzlich ein gewaltigerSchwall Blut aus dem Patienten trat.

»Verdammt.«

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Das Blut war überall. Das Messer des Angreifers war mehrals dreißig Zentimeter tief durch die Haut des Mannes, dieFettschicht, den Muskel, am Darm und links an der Wirbel-säule vorbei mitten in die Aorta, die Hauptschlagader ausdem Herz, gedrungen.

»Das war echt verrückt«, erzählte John. Ein andererChirurg kam ihm zu Hilfe und schaffte es, oberhalb der Stich-wunde mit der Faust auf die Aorta zu drücken. Das dämmtedie Blutung erst einmal ein und sie bekamen die Situation all-mählich unter Kontrolle. Johns Kollege meinte, er habe seitVietnam keine solche Verletzung mehr gesehen.

Wie sich herausstellte, war der Vergleich gar nicht so weithergeholt. Der Widersacher auf dem Kostümfest war als Sol-dat verkleidet gewesen – mit Bajonett. Das erfuhr John später.

Der Patient schwebte ein paar Tage lang in akuter Lebens-gefahr. Aber er kam durch. John schüttelt immer noch reue-voll den Kopf, wenn er von dem Fall erzählt.

Es gibt tausend Dinge, die schiefgehen können, wenn manvor einem Patienten mit Stichverletzung steht. Alle Beteilig-ten hatten fast jeden Schritt richtig ausgeführt – ihn von Kopfbis Fuß untersucht, Blutdruck, Puls und Atemfrequenz sorg-fältig überwacht, darauf geachtet, ob er bei Bewusstsein war,die Infusionen kontrolliert, bei der Blutbank angerufen undum die Bereitstellung einer ausreichenden Reserve gebeten,einen Blasenkatheter gelegt, damit sein Urin gut ablaufenkonnte. Sie hatten an alles gedacht. Nur an eines nicht: denPatienten oder die Rettungssanitäter zu fragen, um welcheWaffe es sich gehandelt hatte.

»Du denkst doch mitten in San Francisco nicht an einBajonett«, war alles, was John dazu einfiel.

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Er erzählte mir von einem weiteren Patienten, der operiertwurde, weil ein Tumor aus seinem Bauch entfernt werdenmusste. Während des Eingriffs stand plötzlich sein Herz still.*

John erinnerte sich, wie er auf den Herzmonitor sah und denAnästhesisten fragte: »Ist das eine Asystolie?« Darunter ver-steht man einen völligen Stillstand der Herzfunktion. Dieserzeigt sich auf dem Monitor als gerade horizontale Linie, so alswäre der Patient gar nicht angeschlossen.

Der Anästhesist meinte: »Wahrscheinlich hat sich ein Drahtgelöst«, so unmöglich schien es, dass das Herz des Patientenzu schlagen aufgehört hatte. Der Mann war Ende vierzig undvorher völlig gesund gewesen. Der Tumor war mehr oder we-niger zufällig entdeckt worden. Er hatte aus einem anderenGrund den Arzt aufgesucht, einem Husten vielleicht, und da-bei erwähnt, dass er auch manchmal Sodbrennen verspürte.Nein, Sodbrennen war vielleicht nicht der richtige Ausdruck.Es fühlte sich an, als wäre manchmal Essen in der Speiseröhrestecken geblieben und wollte nicht nach unten wandern. Daswar es, was sein Sodbrennen verursachte. Der Arzt ordneteein bildgebendes Verfahren an, für das er, vor einem Rönt-gengerät stehend, eine milchige Bariumlösung trinken musste.Und dann sah man ihn auf den Bildern: einen fleischigen,mausgroßen Tumor oberhalb des Magens, der zeitweilig wieein Stöpsel gegen den Eingang drückte. Man hatte ihn frühzei-tig entdeckt. Es gab noch keine Anzeichen einer Streuung. Dieeinzige bekannte Behandlungsmethode war eine Operation, indiesem Fall eine totale Gastrektomie, die Entfernung des kom-pletten Magens – ein großer, vier Stunden dauernder Eingriff.

* Auf Bitte von John wurden Details, die Rückschlüsse auf die Personerlauben, weggelassen.

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Die Mitglieder des Teams hatten die Prozedur zur Hälftehinter sich. Der Tumor war draußen. Es hatte keinerlei Prob-leme gegeben. Sie machten sich gerade bereit, den Verdau-ungstrakt zu rekonstruieren, als auf dem Monitor die Null-Linie erschien. Nach etwa fünf Sekunden war ihnen klar, dasses nicht an einem losen Draht lag. Der Anästhesist fand kei-nen Puls in der Halsschlagader des Patienten. Sein Herz warstehen geblieben.

John riss die sterilen Tücher weg und begann mit Druck-massagen. Der Darm des Mannes trat mit jedem Stoß ausdem offenen Bauch heraus und wieder zurück. Eine Schwes-ter löste den Herzalarm aus.

An dieser Stelle hielt John im Erzählen inne und bat mich,ich möge mich in seine Situation versetzen. »Und nun, washättest du getan?«

Ich versuchte, mich so gut wie möglich in seine Lage hi-neinzudenken. Die Asystolie war mitten in einer großenOperation eingetreten. Also stünde massiver Blutverlust ganzoben auf meiner Liste. »Ich würde viel Flüssigkeit geben«,antwortete ich, »und nach Blutungen suchen.«

Genau das sagte der Anästhesist auch. Doch John hatteden Bauch des Patienten ganz offen vor sich liegen. Und dawaren keine Blutungen. Das teilte er dem Anästhesisten mit.

»Er konnte es nicht glauben«, sagte John. »Immer wiedersagte er: ›Da müssen starke Blutungen sein. Da müssen dochirgendwo starke Blutungen sein!‹« Aber da waren keine.

Sauerstoffmangel kam auch als Ursache in Frage. Ich sagte,ich würde den Sauerstoff auf hundert Prozent aufdrehen unddie Atemwege überprüfen. Außerdem würde ich eine Blut-probe nehmen und einen Schnelltest im Labor machen las-sen, um etwaige Anomalien auszuschließen.

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John erzählte, daran hätten sie auch gedacht. Mit denAtemwegen war alles in Ordnung. Und auf die Laborwertehätten sie mindestens zwanzig Minuten warten müssen, waszu lange gedauert hätte.

Könnte es sich um eine kollabierte Lunge handeln, einenPneumothorax? Es gab keine Hinweise dafür. Sie hörtenbeide Seiten der Brust mit einem Stethoskop ab und stelltenfest, dass alles in Ordnung war.

Dann musste es sich um eine Lungenembolie handeln,merkte ich an, ein Blutgerinnsel, das zum Herz des Patientengewandert war und die Blutzirkulation unterbunden hatte.Das kommt selten vor, aber bei Krebspatienten besteht ingrößeren Operationen ein gewisses Risiko und tritt der Fallein, kann man nicht viel tun. Man könnte es mit einer DosisAdrenalin versuchen, um das Herz wieder zum Schlagen zubringen, aber wahrscheinlich würde es nicht viel helfen.

John erzählte, sein Team wäre zur selben Schlussfolgerunggekommen. Nach 15-minütigen Pumpstößen auf die Brustdes Patienten war die Null-Linie unverändert und die Lageschien aussichtslos. Unter jenen, die zu Hilfe gekommen wa-ren, befand sich auch der Chefanästhesist, der auch im OP ge-wesen war, als der Patient die Narkose bekam. Dabei war ihmnichts Außergewöhnliches aufgefallen. Aber der Gedanke,jemand könnte etwas falsch gemacht haben, ließ ihn nichtlos.

Er fragte den anwesenden Anästhesisten, ob dieser in den15 Minuten vor dem Herzstillstand etwas außer der Reihe ge-macht habe.

Nein. Moment. Doch. Der Patient hatte in den Labor-werten, die routinemäßig während des ersten Teils der Ope-ration angefordert worden waren, einen niedrigen Kalium-

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spiegel. Alle anderen Werte waren gut. Daher hatte er ihmzum Ausgleich eine Dosis Kalium gegeben.

Ich ärgerte mich, dass ich daran nicht gedacht hatte. Ein ab-normer Kaliumspiegel ist die klassische Ursache einer Asysto-lie. Das ist in jedem Lehrbuch nachzulesen. Ich konnte nichtglauben, dass ich das übersehen hatte. Ein gravierender Man-gel an Kalium kann das Herz zum Stillstand bringen – in die-sem Fall ist eine ausgleichende Dosis das Mittel der Wahl –,aber zu viel Kalium kann dasselbe bewirken. Damit vollziehenmanche US-amerikanische Staaten die Todesstrafe.

Der Chefanästhesist bat darum, die Kaliuminfusion sehenzu dürfen, die angehängt gewesen war. Jemand holte sie ausdem Müll, und damit war das Rätsel gelöst. Der Anästhesisthatte eine falsche Konzentration verwendet, das Hundert-fache der eigentlich vorgesehenen. In anderen Worten, er hattedem Patienten eine tödliche Überdosis Kalium verabreicht.

Nachdem schon so viel Zeit vergangen war, konnte manschlecht einschätzen, ob eine Wiederbelebung gelingenwürde. Es hätte auch schon zu spät sein können. Doch ab die-sem Moment funktionierten alle nach Plan. Sie gaben ihmInsulin- und Glukose-Infusionen, um den toxischen Kalium-spiegel zu senken. Da sie wussten, die Medikamente würdenerst nach gut 15 Minuten wirken – viel zu spät –, gaben siezusätzlich intravenös Kalzium und verabreichten ihm übereinen Inhalator ein Medikament namens Albuterol, um eineschnellere Wirkung zu erzielen. Der Kaliumspiegel sank inWindeseile und der Herzschlag des Patienten setzte tatsäch-lich wieder ein.

Die Mitglieder des Chirurgenteams waren so durch denWind, dass sie sich nicht mehr sicher waren, ob sie es nochbis zum Ende der Operation schaffen würden. Sie hatten den

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Mann fast umgebracht und dann nicht einmal gemerkt, wiedies passiert war. Doch sie hielten durch. John ging nachdraußen und klärte die Familie auf, was passiert war. Er undder Patient hatten Glück. Der Mann erholte sich – fast alswäre nichts gewesen.

Die Geschichten, die sich Chirurgen erzählen, handeln oftvom Schock des Unerwarteten – dem Bajonett in San Fran-cisco, dem Herzstillstand, als alles in bester Ordnung schien –und manchmal vom Bedauern um verpasste Chancen. Wirreden über unsere großen Rettungstaten, aber auch unseregroßen Fehler – und alle von uns können auf beides zurück-blicken. Es ist Teil unserer Arbeit. In unserem Bild von unsselbst haben wir gerne alles unter Kontrolle. Aber Johns Ge-schichten brachten mich zum Nachdenken darüber, was wirwirklich unter Kontrolle haben, und was nicht.

In den 1970er-Jahren veröffentlichten die PhilosophenSamuel Gorovitz und Alasdair MacIntyre einen kurzen Essayüber die Fehlbarkeit von Menschen, den ich in der Zeit mei-ner chirurgischen Ausbildung gelesen hatte, und der michseither nicht mehr losließ. Sie suchten die Antwort auf dieFrage, warum wir an unseren Vorhaben in der Welt scheitern.Ein Grund, so beobachteten sie, sei »zwangsläufiges Schei-tern«: Manches von dem, was wir uns vornehmen, übersteigteinfach unsere Fähigkeiten. Wir sind nicht allwissend oderallmächtig. Unsere körperlichen und geistigen Kräfte sind be-grenzt, selbst wenn wir sie durch Technologie aufrüsten. Vie-les in der Welt und im Universum liegt – und das wird aufimmer so bleiben – außerhalb unserer intellektuellen Fähig-keiten und unserer Kontrolle.

Doch dann gibt es große Bereiche, in denen uns Kontrolle

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möglich ist. Wir können Wolkenkratzer bauen, Schneestürmevorhersagen, Menschen mit Herzinfarkt und Stichwundenretten. Auf solchen Feldern, erklären Gorovitz und Mac-Intyre, gibt es nur zwei Gründe, warum wir trotzdem schei-tern können.

Erstens aufgrund mangelnder Kenntnisse: Wir könnenversagen, weil die Wissenschaft uns nur stückweise Informa-tionen über die Welt und wie sie funktioniert liefert. Es gibtWolkenkratzer, deren Bau wir noch nicht planen können,Schneestürme, die wir noch nicht vorhersagen können, Herz-infarkte, die wir noch nicht aufhalten können. Die zweite Artdes Scheiterns nennen die Philosophen Unfähigkeit. In die-sen Fällen ist das Wissen vorhanden, doch wir können esnicht richtig anwenden. Das gilt für den Wolkenkratzer, derfehlerhaft gebaut wurde und einstürzt, den Schneesturm,dessen Vorboten die Meteorologen schlichtweg übersehenhaben, die Stichwunde von einer Waffe, nach der die Ärzte zufragen vergessen haben.

Als ich über Johns Fälle als kleines Exempel für die Prob-leme, mit denen wir es in der Medizin des 21. Jahrhundertszu tun haben, nachdachte, war ich überrascht, in welchemMaß sich das Verhältnis zwischen Unwissenheit und Un-fähigkeit verlagert hat. Fast die gesamte Geschichte hindurchbestimmte Unwissenheit das Leben der Menschen. Am deut-lichsten war das an den Krankheiten zu erkennen, die unsheimsuchten. Wir wussten wenig darüber, wie sie entstandenoder wie man sie heilen konnte. Doch irgendwann in denletzten Jahrzehnten – und es war tatsächlich nur in diesenletzten Jahrzehnten – erbrachte die Forschung so viel Wissen,dass uns Unfähigkeit heute gleich große Sorgen bereitet wieUnwissenheit.

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Nehmen wir den Herzinfarkt: Noch in den 1950er-Jahrenhatten wir kaum eine Vorstellung, wie man ihn verhindernoder behandeln kann. Wir wussten nichts von den Gefahrendes Bluthochdrucks, und hätten wir davon gewusst, hättenwir nichts dagegen tun können. Das erste sichere Medika-ment zur Behandlung von Bluthochdruck wurde erst in den1960er-Jahren entwickelt und in seiner Wirkung erprobt. Wirwussten auch nicht, welche Rolle Cholesterin dabei spielt, diegenetische Disposition, das Rauchen oder Diabetes.

Und erlitt jemand einen Herzinfarkt, wussten wir kaum,wie man ihn behandeln sollte. Wir gaben etwas Morphiumgegen die Schmerzen, vielleicht etwas Sauerstoff, und verord-neten dem Patienten wochenlang strikte Bettruhe. Sie durftennicht einmal zum Gang auf die Toilette aufstehen, weil manAngst hatte, das geschädigte Herz zu sehr zu belasten. Dannbeteten alle, drückten die Daumen und hofften, der Patientschaffe es aus dem Krankenhaus nach Hause, um dort denRest des Lebens als Herzleidender zu verbringen.

Heute kennen wir im Gegensatz dazu mindestens ein Dut-zend effiziente Methoden, wie man das Risiko eines Herz-infarktes senken kann. Zum Beispiel durch Überwachen desBlutdrucks, die Einnahme von statinhaltigen Medikamen-ten zur Senkung des Cholesterinspiegels und Entzündungs-hemmung, Kontrolle des Blutzuckerspiegels, Motivation zuregelmäßigem Sport, Hilfestellung, um mit dem Rauchenaufzuhören, und – falls es frühzeitig Anzeichen für eineHerzerkrankung gibt – die Überweisung zu einem Kardio-logen, der weitere Maßnahmen verordnet. Erleidet jemandtrotzdem einen Herzinfarkt, haben wir ein ganzes Spektruman wirkungsvollen Therapien, die nicht nur sein Leben retten,sondern auch die Schädigung des Herzens eindämmen kön-

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nen: Wir haben Gerinnungshemmer, die verschlossene Herz-kranzgefäße wieder durchgängig machen. Wir haben Herz-katheter, die sie aufweiten können. Wir haben Techniken fürOperationen am offenen Herzen, mit denen verschlossene Ge-fäße durch einen Bypass überbrückt werden können. Und wirwissen, dass wir in manchen Fällen wirklich nicht mehr tunmüssen, als den Patienten mit Sauerstoff, Aspirin, einem Sta-tin und Blutdruckmedikamenten ins Bett zu schicken. Inder Regel kann er dann nach ein paar Tagen wieder nachHause gehen und langsam sein Leben wie gewohnt weiter-führen.

Doch jetzt ist unser Problem Unfähigkeit, oder besser ge-sagt eine Fähigkeit, nämlich jene, dafür zu sorgen, das unsnun zur Verfügung stehende Wissen, auch in allen Fällenkorrekt anzuwenden. Allein die Wahl der richtigen Behand-lung von Herzinfarktpatienten kann angesichts der vielenMöglichkeiten schwierig sein, selbst für Spezialisten. Dannbringt jede der gewählten Behandlungsformen eine Vielzahlvon weiteren Aspekten und Schwierigkeiten mit sich. Sorg-fältige Studien haben zum Beispiel ergeben, dass bei Herzin-farktpatienten, die eine Ballondilatation erhalten – die ver-engten Blutgefäße werden mit einem Ballon geweitet –, dieseinnerhalb von neunzig Minuten nach der Einlieferung in dasKrankenhaus erfolgen sollte. Danach sinkt die Überlebens-quote rapide ab. In der Praxis bedeutet dies, dass ein Behand-lungsteam bei jedem Patienten, der mit Brustschmerzen ineine Notaufnahme kommt, innerhalb von neunzig Minutensämtliche Tests abschließen, eine richtige Diagnose und einenBehandlungsplan erstellen, die Entscheidung mit dem Patien-ten besprechen, sein Einverständnis einholen, mögliche Al-lergien oder andere medizinische Probleme ausschließen, den

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Patienten zum Herzkatheter anmelden, ihn transportierenund mit dem Eingriff beginnen muss.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass all dies in einemdurchschnittlichen Krankenhaus innerhalb von neunzig Mi-nuten geschieht? Im Jahr 2006 lag sie bei unter fünfzig Pro-zent.

Das ist kein ungewöhnliches Beispiel. Diese Art von Ver-säumnis ist in der Medizin an der Tagesordnung. Studien zu-folge werden mindestens dreißig Prozent der Patienten mitSchlaganfall von ihren Ärzten unzureichend oder falsch be-handelt, ebenso wie fünfundvierzig Prozent der Asthmapa-tienten und sechzig Prozent der Patienten mit Lungenent-zündung. Alle Schritte richtig auszuführen erweist sich alsunglaublich schwierig, selbst wenn man sie alle kennt.

Ich habe eine ganze Weile versucht, die Ursachen dergrößten Probleme und Belastungen in der Medizin ausfin-dig zu machen. Es handelt sich nicht um Geld, Regierungs-beschlüsse, drohende Verfahren wegen Behandlungsfehlernoder Ärger mit den Versicherungen – auch wenn das allesmit hineinspielt. Es ist die Komplexität, die mit dem Fort-schritt der Forschung einhergeht und die unglaublichen An-strengungen, die wir unternehmen, um ihre Versprechungenzu erfüllen. Das Problem ist nicht nur in Amerika gegenwär-tig. Ich habe es überall angetroffen: in Europa, in Asien, inreichen Ländern und in armen. Und ich habe zu meinem Er-staunen auch beobachtet, dass dies nicht allein ein Problemder Medizin ist.

Know-how und Qualität haben in fast allen unserenBetätigungsfeldern eine enorme Steigerung erfahren und wirmüssen uns immer mehr bemühen, dabei mitzuhalten. Diesspiegelt sich in den vielen Fehlern, die Behörden unterlau-

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fen, wenn Wirbelstürme, Tornados oder andere Katastropheneintreten. Man sieht es daran, dass von 2004 bis 2007 die Kla-gen gegen Anwälte wegen juristischer Fehler – die meistendavon simple administrative Vorgänge wie verpasste Fristen,Schreibfehler oder die falsche Anwendung von Gesetzen –um 36 Prozent angestiegen sind. Man sieht es an fehlerhafterSoftware, an Pannen von Auslandsgeheimdiensten, an unse-ren strauchelnden Banken – im Prinzip in fast allen Berei-chen, in denen es wichtig ist, komplexe Vorgänge und enor-mes Wissen zu steuern.

Solche Fehler sind mit einer emotionalen Wertigkeit be-haftet, die unsere Art, sie zu bewerten, zu vernebeln scheint.Fehler aus Unwissenheit können wir hinnehmen. Gibt eskeine eindeutigen Erkenntnisse, was in einer bestimmtenSituation am besten getan wird, sind wir froh, wenn es Men-schen gibt, die einfach versuchen, alles so gut wie möglichzu machen. Wenn aber solche Erkenntnisse vorhanden sind,aber nicht richtig angewendet werden, fällt es uns schwer,nicht zornig zu werden. Wie finden Sie es, dass die Hälfte derHerzinfarktpatienten nicht rechtzeitig behandelt wird? Wiestehen Sie dazu, dass zwei Drittel aller Todesstrafenfälle auf-grund von Versäumnissen gekippt werden? Nicht von unge-fähr haben die beiden Philosophen für solche Fehler eine sounnachsichtige Bezeichnung gewählt: Unfähigkeit. Die da-von Betroffenen verwenden andere Wörter wie Fahrlässigkeitoder sogar Herzlosigkeit.

Für all jene, die solche Tätigkeiten verrichten – sich umPatienten kümmern, das Recht vertreten, auf Hilferufe rea-gieren –, fühlt sich dieses Urteil an, als würde es völlig außerAcht lassen, wie extrem schwierig ihre jeweilige Aufgabe ist.Tag für Tag gibt es immer mehr zu organisieren, richtig zu

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Atul Gawande

Die Checklist-StrategieWie Sie die Dinge in den Griff bekommen

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 256 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-442-74474-9

btb

Erscheinungstermin: Januar 2013

So simpel wie genial – wie eine einfache Methode helfen kann, Leben zu retten Niemand ist perfekt. Auch nicht die sogenannten Halbgötter in Weiß, sagt einer, der es wissenmuss. Atul Gawande ist Chirurg und bekennt, welche fatalen Folgen kleine Unachtsamkeitenbei einer Operation haben können. Und nicht nur eine Operation, auch das Steuern einesFlugzeuges oder der Bau eines Wolkenkratzers sind so hochkomplexe Vorgänge, die manbesser nicht der Laune eines Einzelnen überlässt. Gawande macht deutlich, dass es dasZusammenspiel der verschiedensten Experten und außerdem eine Methode braucht, die alldieses Wissen steuert und unter Kontrolle hält. Diese Methode ist, so simpel sie auch klingenmag, genial – eine Checkliste.