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Peter Singer Praktische Ethik Aus dem Englischen übersetzt von Oscar Bischoff, Jean-Claude Wolf und Dietrich Klose Philipp Reclam jun. Stuttgart

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Peter Singer

Praktische Ethik

Aus dem Englischen übersetztvon Oscar Bischoff,

Jean-Claude Wolf und Dietrich Klose

Philipp Reclam jun. Stuttgart

Uwe
Typewriter
Das sind die beiden Kapitel, um die meine Ausgabe von der neuren Auflage differiert. Sie ist Lehrmaterial und nur für die Teilnehmer meiner Veranstaltung bestimmt.
Uwe
UnterschriftKlein
Uwe
Not For Public Release
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Titel der englischen Originalausgabe:

Practical Ethics. Cambridge: Cambridge University Press,1979. - Second Edition. 1993.

2., revidierte und erweiterte Auflage 1994

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 8033Alle Rechte vorbehalten© 1984, 1994 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartDie Übersetzung erscheint mit Genehmigung von The Press Syndicateof the University of Cambridge. © 1979,1993 Cambridge UniversityPress, CambridgeGesamtherstellung: Reclam, Ditzingen. Printed in Germany 2010RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK undRECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetrageneMarken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-008033-7

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort 7

1 Über Ethik 15 2a

2 Gleichheit und ihre Implikationen . . . . 33 $*Q

3 Gleichheit für Tiere? 82 ,J Q

4 Weshalb ist Töten unrecht? 115 J O-

5 Leben nehmen: Tiere 147 3 O

6 Leben nehmen: Der Embryo undder Fötus 177 -SlD

7 Leben nehmen: Menschen 225 S Cf

8 Arm und Reich 278 >-f Q

9 Die drinnen und die draußen 315

10 Die Umwelt 335

11 Zwecke und Mittel 366

12 Warum moralisch handeln? 397 3t)

Anhang: Wie man in Deutschlandmundtot gemacht wird 425

Anmerkungen, Nachweise undweiterführende Literatur 453

Nachbemerkung 476

Register 477

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314 Arm und Reich

meinschaft angewendet werden.) Manche Familien werdennatürlich 10% als eine beträchtliche finanzielle Belastungempfinden. Andere dürften in der Lage sein, ohne Schwie-rigkeiten mehr zu spenden. Keine Quote sollte als starresMinimum oder Maximum propagiert werden; aber es läßtsich schon vertreten, daß diejenigen, die in Überflußgesell-schaften über ein durchschnittliches oder überdurchschnitt-liches Einkommen verfügen, sofern sie nicht ei'ne unge-wöhnlich große Zahl von abhängigen Familienangehörigenoder andere spezielle Bedürfnisse haben, ein Zehntel ihresEinkommens abgeben sollten, um die absolute Armut zuverringern. Nach jedem vernünftigen ethischen Maßstab istdies das mindeste, was wir tun sollten, und wir tun unrecht,wenn wir weniger tun.

Die drinnen und die draußen

Der Bunker

Es ist Februar 2015, und die Welt schätzt den Schaden ab,den der Atomkrieg im Nahen Osten gegen Ende des vo-rigen Jahres anrichtete. Weltweit ist jetzt und etwa für dienächsten acht Jahre der Meßwert der Radioaktivität sohoch, daß nur die Menschen, die in Atombunkern aushal-len, sicher sein können, einigermaßen gesund zu überleben.Für die anderen, die ungefilterte Luft atmen und Speisenund Wasser mit hoher radioaktiver Belastung zu sich neh-men müssen, sind die Aussichten düster. Aller Wahrschein-lichkeit nach werden in den nächsten zwei Monaten 10%an Strahlenkrankheiten sterben; von weiteren 30% ist zuerwarten, daß sie sich innerhalb von fünf Jahren tödlicheKrebserkrankungen zuziehen; und auch bei den übrigen^ird die Krebsrate zehnmal höher als normal sein, währenddas Risiko von Mißbildungen bei ihren Kindern fünfzigmalgrößer ist als vor dem Krieg.Natürlich gehören die zu den Glücklichen, die weitsichtiggenug waren, sich in die Atombunker einzukaufen, welcheinirnobilienspekulanten angesichts der wachsenden inter-nationalen Spannungen am Ende der neunziger Jahre ge-. aut hatten. Die meisten dieser Bunker wurden als unter-""wsche Dörfer konzipiert, und jedes verfügt über ausrei-fende Räumlichkeiten und Vorräte für die Bedürfnisse von^000 Menschen über einen Zeitraum von zwanzig Jahren,

je Dörfer werden mit vorab beschlossenen demokrati-cften Verfassungen selbstverwaltet. Auch haben- sie ausge-Ugelte Sicherheitssysteme, die es ihren Bewohnern ermög-nen, wen immer sie wollen, in den Bunker aufzunehmen,

sich gegen alle anderen abzuschotten.

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316 Die drinnen und die draußen Der Bunker 317

Die Nachricht, daß es nicht nötig sein werde, sehr viel län-ger als acht Jahre in den Bunkern auszuharren, ist selbstver-ständlich von den Mitgliedern einer unter der Erde leben-den Gemeinschaft mit dem Namen »Hafen der Fairneß«freudig aufgenommen worden. Aber sie hat auch zu den er-sten ernsten Spannungen zwischen ihnen geführt. Dennüber dem Schacht, der zum »Hafen der Fairneß« hinab-führt, halten sich Tausende auf, die sich in keinen der Bun-ker eingekauft haben. Diese Menschen kann man überFernsehkameras am Eingang sehen und hören. Sie bittenum Aufnahme. Sie wissen, wenn man sie schnell in einenBunker aufnimmt, werden sie den schlimmsten Auswir-kungen der radioaktiven Strahlung, der sie ausgesetzt sind,entgehen. Zunächst, bevor bekannt war, wie lange es bis zursicheren Rückkehr nach draußen dauern würde, erhieltendiese Bitten so gut wie keine Unterstützung aus dem Bun-ker. Jetzt jedoch spricht viel mehr dafür, wenigstens einigeaufzunehmen. Da die Vorräte nur acht Jahre reichen müs-sen, werden sie auch mehr als die doppelte Zahl der Men-schen, die gegenwärtig in den Bunkern leben, ernähren kön-nen. Die Unterbringung der Leute bereitet kaum größereProbleme: »Hafen der Fairneß« wurde so angelegt, daß esals luxuriöses Refugium dienen kann, wenn es nicht für ei-nen wirklichen Notfall gebraucht wird, und es verfügt überTennisplätze, Swimmingpools und eine große Sporthalle-Wenn nun jeder zustimmen würde, sich durch Aerobic imeigenen Wohnzimmer fit zu halten, wäre es möglich, einfa-chen, aber angemessenen Schlafraum für all die zu schaffen,die mit den gestreckten Vorräten ernährt werden können.Es fehlt denen draußen jetzt also nicht an Fürsprecherndrinnen. Die radikalsten, die von ihren Gegnern als die»Herzensguten« bezeichnet werden, schlagen vor, daß derBunker zusätzlich 10 000 Menschen aufnehmen solle - soviele, wie man darin nach vernünftigen Schätzungen bis zu

einer sicheren Rückkehr nach draußen ernähren und unter-bringen könne. Dies würde bedeuten, daß man allen Lu%us

beim Essen und bei den gemeinschaftlichen Einrichtungenaufgäbe; aber die Herzensguten verweisen darauf, daß dasLos der Menschen draußen weit schlimmer sein werde.Unter den Gegnern der Herzensguten sind manche, dienachdrücklich geltend machen, daß die draußen im allge-meinen ein Menschenschlag minderen Wertes seien, dennsie wären entweder nicht weitsichtig oder nicht reich genuggewesen, um in einen Bunker zu investieren; folglich wür-den sie, so die Behauptung, im Bunker soziale Problemeverursachen, da sie das Gesundheitswesen, die Sozialhilfeund das Bildungsangebot zusätzlich beanspruchten und zueiner steigenden Verbrechensrate und Jugendkriminalitätbeitrügen. Die Gegner einer Aufnahme von Außenstehen-den finden auch Unterstützung bei einer kleinen Gruppe,die meint, es wäre ungerecht gegenüber denjenigen, die sichin den Bunker eingekauft hätten, wenn andere, ohne zu be-zahlen, daraus Vorteil zögen. Diese Gegner einer AufnahmeAußenstehender können sich Gehör verschaffen, aber essind nur wenige; ihre Zahl erhöht sich allerdings beträcht-lich durch die vielen, die lediglich sagen, daß Tennis undSchwimmen ihnen wirklich Spaß mache und daß sie beidesnicht aufgeben wollten.Zwischen den Herzensguten und den Gegnern einer Auf-nahme von Außenstehenden gibt es eine Zwischengruppe:diejenigen, die meinen, in einem außerordentlichen Akt vonwohlwollen und Mildtätigkeit sollten einige von draußenaufgenommen werden, aber nicht so viele, daß dies zu einer^esentlichen Veränderung der Lebensqualität im Bunkerninre. Sie schlagen vor, ein Viertel der Tennisplätze in^chlafräume umzuwandeln und einen kleinen öffentlicheni|atz> der ohnehin nur wenig genutzt werde, aufzugeben.Dadurch könnten weitere 500 Menschen untergebracht^erden; eine vernünftige Zahl nach Meinung der selbster-nannten »Gemäßigten«, groß genug, um die Betroffenheitues »Hafens« angesichts der Misere derjenigen zu zeigen,die weniger Glück haben als dessen eigene Mitglieder.

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318 Die drinnen und die draußen Die reale Welt 319

Ein Volksentscheid findet statt. Drei Vorschläge werdenvorgelegt: 10 000 von draußen aufnehmen; 500 von draußenaufnehmen; niemanden von draußen aufnehmen. Für wel-chen würden Sie stimmen?

Die reale Welt

Wie die Auslandshilfe stellt die gegenwärtige Flüchtlings-problematik eine ethische Frage bezüglich der Grenzen un-serer moralischen Gemeinschaft - nicht, wie in den vorigenKapiteln, aufgrund von Spezieszugehörigkeit, Entwick-lungsstand oder geistigen Fähigkeiten, sondern aufgrundder nationalen Zugehörigkeit. Der großen Mehrheit der an-nähernd 15 Millionen Flüchtlinge in der heutigen Welt ge-währen, zumindest zeitweise, die ärmeren und unterent-wickelten Länder der Erde Zuflucht. Mehr als 12 MillionenFlüchtlinge halten sich in den unterentwickelten LändernAfrikas, Asiens und Lateinamerikas auf. Welche Auswir-kungen ein plötzlicher Zustrom von Millionen von Flücht-lingen auf ein armes Land hat, läßt sich an den ErfahrungenPakistans in den achtziger Jahren abschätzen, als es 2,8 Mil-lionen afghanischer Flüchtlinge aufnahm - welche vor-wiegend im nordwestlichen Grenzgebiet lebten. ObwohlPakistan tatsächlich einiges an Nahrungshilfe für seineFlüchtlinge vom Ausland bekam, waren die Folgen diesersiebenjährigen Bürde im Umkreis der Dörfer der Zuflucht-suchenden unschwer zu bemerken. Ganze Berghänge wur-den bei der Brennholzbeschaffung für die Flüchtlinge abge-holzt.Laut Artikel 14 der Menschenrechtserklärung der VereintenNationen von 1948 hat »jedermann das Recht, in anderenLändern um die Gewährung von Asyl vor Verfolgung nach-zusuchen«. Die Flüchtlingskommission der Vereinten Na-tionen wurde 1950 eingerichtet und der Bevollmächtigtemit dem Schutz betraut von: »allen Personen, die ihre Hei-

matländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegenihrer Rasse, Religion, Volkszugehörigkeit oder politischenAnsichten verlassen haben und nicht willens oder außer-stande sind, sich unter den Schutz ihrer eigenen Regierungzu stellen«. Ursprünglich war diese Festlegung auf die vomZweiten Weltkrieg ausgelösten Vertreibungen in Europazugeschnitten. Es ist eine enge Bestimmung, die fordert,daß der Anspruch auf den Flüchtlingsstatus im Einzelfalluntersucht werden müsse. Sie hat nicht vermocht, die seit-herigen Völkerwanderungen in Zeiten von Krieg, Hungeroder Bürgerkriegswirren abzudecken.Alles andere als großzügige Reaktionen auf Flüchtlingewerden gewöhnlich damit gerechtfertigt, daß man dem Op-fer die Schuld gibt. Es ist an der Tagesordnung, »echteFlüchtlinge« von »Wirtschaftsflüchtlingen« zu unterschei-den und zu fordern, daß die letzteren keine Hilfe erhaltensollten. Diese Unterscheidung ist fragwürdig, da die mei-sten Flüchtlinge ihre Heimatländer unter großen Risikenund Gefahren für ihr Leben verlassen - in leckgeschlagenenBooten und von Piraten attackiert, überqueren sie Ozeane,oder sie legen weite Wege über befestigte Grenzen hinwegzurück, um endlich mittellos in Flüchtlingslagern anzu-kommen. Die Unterscheidung zwischen einem Menschen,der vor politischer Verfolgung, und einem Menschen, deraus einem durch anhaltende Dürre unbewohnbaren Landflieht, ist schwer zu rechtfertigen, wenn beide gleicherma-ßen einer Zufluchtsstätte bedürfen. Die Festlegung der Ver-einten Nationen, nach welcher der letztere nicht als Flücht-ung einzuordnen wäre, definiert das Problem hinweg.Welche dauerhaften Lösungen für Flüchtlinge sind in derheutigen Welt möglich? Im wesentlichen besteht die WahlZwischen freiwilliger Repatriierung, Eingliederung in daserste Zufluchtsland und Umsiedlung.Wahrscheinlich wäre eine Heimkehr die beste und mensch-uchste Lösung für die Flüchtlinge. Aber leider ist für dieleisten eine freiwillige Repatriierung unmöglich, weil sich

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320 Die drinnen und die draußen

die Fluchtursachen nicht durchgreifend verändert haben.Lokale Ansiedlungen, wo Flüchtlinge bleiben und sich eineneue Existenz in Nachbarländern aufbauen können, lassensich oft auch nicht einrichten, da arme, wirtschaftlich schwa-che - und politisch instabile - Staaten nicht in der Lage sind,eine neue Bevölkerungsgruppe aufzunehmen, wenn schondie Einheimischen tagtäglich ums Überleben kämpfen müs-sen. Immerhin erweist sich diese Möglichkeit dort noch amgeeignetsten, wo Völker und Stämme über nationale Gren-zen hinweg verbunden sind.Angesichts der Schwierigkeiten sowohl bei freiwilliger Re-patriierung als auch bei Ansiedlung unweit der Heimatbleibt als letzter Ausweg nur die Umsiedlung in ein ent-fernteres Land. Aber weil die Zahl der umsiedlungsbedürf-tigen Flüchtlinge bislang beispiellose Dimensionen an-nimmt, haben die Industrieländer hauptsächlich mit Ab-schreckungsstrategien reagiert und ihre Tore so fest wiemöglich verriegelt. Es sei eingeräumt, daß eine Umsiedlungniemals die Probleme lösen kann, die Menschen zur Fluchtaus ihrer Heimat veranlassen. Und sie bietet auch an sichkeine Lösung für das globale Flüchtlingsproblem. Lediglichfür etwa 2% der Flüchtlinge auf der Erde ist eine Umsied-lung endgültig. Trotzdem bleibt der Weg einer Umsiedlungvon erheblicher Bedeutung. Für eine beträchtliche Zahl vonMenschen eröffnen sich dadurch deutlich bessere Lebens-chancen, wenn auch nicht für einen großen Teil der Flücht-linge insgesamt.Die Umsiedlung in weiter entfernte Länder hat auch Ein-fluß auf die Politik jener Staaten, in welche die Zuflucht-suchenden zuerst fliehen. Wenn es für solche Staaten keineHoffnung auf eine Umsiedlung der Flüchtlinge gibt, so wis-sen sie, daß die ihnen aufgelastete Bürde mit jedem insLand kommenden Flüchtling schwerer wiegt. Und Staaten,die erste Zuflucht gewähren, gehören zu denen, die am we-nigsten in der Lage sind, noch mehr Menschen zu ernähren-Ist der Weg einer Umsiedlung verstellt, so greifen die Län-

Der »ex-gratia«-Ansatz 321

der, in welche die Zufluchtsuchenden zuerst kommen, aufMaßnahmen zurück, die potentielle Flüchtlinge vom Ver-lassen ihres Heimatlandes abhalten sollen. Zu diesen Maß-nahmen gehört, daß man Menschen an der Grenze zurück-weist, Aufnahmelager so unattraktiv wie möglich gestaltetund die Flüchtlinge schon beim Grenzübertritt ausgrenzt.Eine Umsiedlung ist der einzige Ausweg für Menschen, de-nen in absehbarer Zukunft die Rückkehr in ihre Heimat-länder verwehrt ist und die im ersten Zufluchtsland nurzeitweilig willkommen sind; mit anderen Worten also fürMenschen, die nirgendwohin können. Millionen würdendiesen Weg gehen, wenn es Staaten gäbe, die sie aufnehmenwürden. Eine Umsiedlung kann bei diesen Flüchtlingen fürLeben und Tod entscheidend sein. Mit Sicherheit aber ist esihre einzige Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben.

Der »ex-gratia«-Ansatz

Bei der Diskussion des Flüchtlingsproblems ist die Auffas-sung weit verbreitet, daß es für uns keinerlei moralische undrechtliche Verpflichtung zur Aufnahme gibt; und wenn wirdoch einige Flüchtlinge aufnehmen, so zeigt das, wie groß-zügig und menschlich wir sind. Diese Auffassung mag po-pulär sein, aber ihr kommt keine selbstverständliche morali-sche Gültigkeit zu. In der Tat scheint sie mit anderen Be-trachtungsweisen in Konflikt zu geraten, die, wenn mannach dem, was die Leute sagen, urteilen kann, zumindestebenso weit verbreitet sind, einschließlich des Glaubens an"ie Gleichheit aller Menschen und der Zurückweisung vonPrinzipien, wodurch Menschen aufgrund ihrer Rasse undnationalen Zugehörigkeit diskriminiert werden.Alle hochentwickelten Nationen sichern das Wohlergehenihrer Bürger in mannigfacher Weise ab - sie schützen ihregesetzlichen Rechte, geben ihren Kindern eine Ausbildung,gewähren Sozialhilfe und Anspruch auf Gesundheitsfür-

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322 Die drinnen und die draußen

sorge, entweder für alle oder für die unterhalb einer festge-legten Armutsgrenze Lebenden. Flüchtlinge kommen nurdann in den Genuß dieser Leistungen, wenn sie in das Landaufgenommen werden. Da man nun deren überwältigendeMehrheit nicht aufnimmt, bezieht sie auch keine dieserLeistungen. Aber ist diese unterschiedliche Behandlungvon Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern moralisch halt-bar?Nur sehr wenige Moralphilosophen haben sich des Flücht-lingsproblems angenommen, obgleich es eindeutig eines dergroßen ethischen Probleme unserer Zeit ist und schwerwie-gende moralische Fragen bezüglich der Mitgliedschaft inunserer moralischen Gemeinschaft aufwirft. Man kann hierden Harvard-Philosophen John Rawls als Beispiel nehmen,dessen Buch A Theory ofjustice (dt. Eine Theorie der Ge-rechtigkeit, 1975) seit seinem Erscheinen 1971 die meistdis-kutierte Darstellung des Problems der Gerechtigkeit bietet.Das 500 Seiten starke Werk handelt ausschließlich von derGerechtigkeit innerhalb einer Gesellschaft und klammert soalle schwierigen Fragen hinsichtlich der Grundsätze aus,welche die reichen Gesellschaften bei der Antwort auf dieForderungen ärmerer Nationen oder Außenstehender leitensollten.Einer der wenigen Philosophen, die sich mit diesem Pro-blem befaßt haben, ist Michael Walzer, auch er Amerikaner.Seine Spheres ofjustice (dt. Sphären der Gerechtigkeit. EinPlädoyer der Pluralität und der Gleichheit, 1992) beginnenmit einem »Die Erteilung der Mitgliedschaft« überschriebe-nen Kapitel, in dem die Frage gestellt wird, wie wir Ge-meinschaften bilden, in denen solche Erteilungen erfolgen.Darin geht es Walzer darum, ein Vorgehen, das der gegen-wärtigen Flüchtlingspolitik vergleichbar ist, zu rechtferti-gen. Das erste Problem, das Walzer erörtert, lautet: HabenStaaten das Recht, ihre Grenzen für potentielle Immigran-ten zu schließen? Walzer bejaht diese Frage, denn ohne einesolche Grenzschließung oder zumindest die Macht, die

Der »ex-gmtia«-Ansatz 323

Grenzen nach Wunsch zu schließen, können klar definierteGemeinwesen nicht bestehen.Unter der Voraussetzung, daß die Entscheidung, die Gren-zen zu schließen, berechtigt ist, diskutiert Walzer dann dieArt und Weise, wie sie getroffen werden sollte. Dabei ver-gleicht er die politische Gemeinschaft mit einem Klub undeiner Familie. Klubs dienen ihm als Beispiel für den ex-gra-tet-Ansatz: »Einzelne Personen mögen in der Lage sein,gute Gründe dafür anzuführen, warum sie ausgewählt wer-den sollten, aber niemand von draußen hat das Recht, drin-nen zu sein.« Doch nach Walzer greift diese Analogie zukurz, denn ein wenig gleichen Staaten auch Familien. Siesind moralisch verpflichtet, die Tore ihres Landes vielleichtnicht jedem, der Einlaß begehrt, zu öffnen, aber doch be-stimmten Gruppen von Außenstehenden, die als nationaleoder ethnische »Verwandte« angesehen werden. Walzer be-dient sich der Familienanalogie derart, um für das Prinzipder Familienzusammenführung als Grundlage der Einwan-derungspolitik zu plädieren.Wo es jedoch um Flüchtlinge geht, ist dies nicht sehr hilf-reich. Hat eine politische Gemeinschaft das Recht, verelen-dete, verfolgte und staatenlose Menschen einfach deshalb,weil sie Ausländer sind, auszuschließen? Nach WalzersMeinung ist ein Gemeinwesen an den Grundsatz gegensei-tiger Hilfe gebunden, und er stellt zu Recht fest, daß diesesPrinzip weitreichendere Auswirkungen haben kann, wennes für eine Gemeinschaft und nicht für einen einzelnen gilt,da einer Gemeinschaft so viele Hilfeleistungen möglichsind, die deren Mitglieder nur geringfügig belasten. DieAufnahme eines Fremden in die eigene Familie könnten wira's einen Akt betrachten, der über die Forderung nach ge-genseitiger Hilfe hinausgeht; aber die Aufnahme einesfremden oder auch vieler Fremder in ein Gemeinwesen be-deutet eine weitaus kleinere Bürde.Nach Walzers Ansicht kann eine Nation mit riesigem unbe-

Territorium - er wählt das Beispiel Australien,

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324 Die drinnen und die draußen

doch geht er dabei eher von angenommenen als von über-prüften Wasser- und Bodenressourcen aus - nach dem Prin-zip gegenseitiger Hilfe sehr wohl dazu verpflichtet sein,Menschen aus den dicht besiedelten und von Hungersnotheimgesuchten Gebieten Südostasiens ihre Tore zu öffnen.Die australische Gesellschaft stünde dann vor der Wahl,entweder ihre wie auch immer geartete Homogenität aufzu-geben oder sich auf einen kleinen Teil ihres Siedlungsgebietszurückzuziehen und das übrige den Landbedürftigen zuüberlassen.Obwohl Walzer keine allgemeine Verpflichtung reicher Na-tionen zum Einlaß von Flüchtlingen akzeptiert, hält er docham weitverbreiteten Asylprinzip fest. Jeder Flüchtling kann,wenn er die rettenden Ufer eines anderen Staates erreicht,aufgrund dieses Prinzips um Asyl nachsuchen, und es istunmöglich, daß man ihn in ein Land abschiebt, in dem ervielleicht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalitätoder politischen Überzeugung verfolgt wird. Interessant ist,daß dieser Grundsatz so weithin Unterstützung findet, dieVerpflichtung zur Aufnahme von Flüchtlingen hingegennicht. In dieser Unterscheidung finden sich möglicherweiseGrundsätze wieder, die in den vorhergehenden Kapitelndieses Buches diskutiert wurden. Hierbei spielt eindeutigdas Prinzip der Nähe eine Rolle - der Asylsuchende stehtuns ganz einfach physisch näher als die Menschen in ande-ren Ländern. Vielleicht erklärt sich unser nachhaltigeresEintreten für das Asylrecht aus dem Unterschied zwischeneinem Tun (der Abschiebung eines bei uns angekommenenFlüchtlings) und einem Unterlassen (der Verweigerung derAufnahme eines Flüchtlings aus einem entfernten Lager).Es könnte dabei auch der Unterschied eine Rolle spielenzwischen einer Handlung, die wir gegenüber einer identifi-zierbaren Person begehen, und einer Handlung, von der wirzwar wissen, daß sie auf irgend jemand ändern die gleicheWirkung ausübt, bei der wir aber nie sagen können, wen siebetrifft. Ein weiterer Grund ist wahrscheinlich die relativ

Der »ex-gratia«-Ansatz 325

geringe Zahl von Menschen, die tatsächlich imstande sind,das Aufnahmeland zu erreichen und um Asyl nachzusu-chen, im Gegensatz zu der weit größeren Zahl von Flücht-lingen, deren Existenz uns bewußt ist, obwohl sie weitentfernt von uns sind. Dies ist das im Zusammenhang derAuslandshilfe diskutierte »Tropfen-auf-den-heißen-Stein«-Argument. Vielleicht können wir für alle Asylsuchendeneine Lösung finden, aber ganz gleich wie viele Flüchtlingewir hereinlassen, das Problem wird nicht verschwinden.Wie im Fall des analogen Argumentes gegen die Auslands-hilfe wird hierbei übersehen, daß wir durch die Aufnahmevon Flüchtlingen bestimmten Personen ein menschenwür-diges Leben ermöglichen und damit etwas Sinnvolles tun,unabhängig davon, wie viele andere Flüchtlinge es noch ge-ben mag, denen wir nicht helfen können.Gemäßigt liberale Regierungen, die bereit sind, zumindestauf einige humanitäre Regungen Rücksicht zu nehmen,handeln ziemlich genau nach Walzers Vorschlägen. Sie mei-nen, daß einem Gemeinwesen das Recht zur Entscheidungüber die Aufnahme zusteht; zuerst werden Forderungennach Familienzusammenführung erfüllt und dann solchevon Menschen, die der ethnischen Gemeinschaft der Nationnicht angehören - vorausgesetzt der Staat besitzt überhauptsine ethnische Identität. Die Aufnahme von Notleidendenwt ein ex-gratia-Akt. Gewöhnlich wird das Asylrecht re-spektiert, solange die Bewerberzahlen vergleichsweise nied-rig bleiben. Flüchtlinge haben aber keinen wirklichen An-spruch auf Aufnahme, es sei denn, es gelingt ihnen, an einBefühl politischer Verbundenheit zu appellieren, und siesind auf die Barmherzigkeit des Aufnahmestaates angewie-sen. Im großen und ganzen stimmt all dies mit der Einwan-derungspolitik westlicher Demokratien überein. In bezugauf Flüchtlinge ist der ex-gratia-Ansatz die derzeit vorherr-schende Auffassung.

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326 Die drinnen und die draußen

Der Fehlschluß des gegenwärtigen Ansatzes

Die heute vorherrschende Auffassung auf vagen und ge-wöhnlich undiskutierten Annahmen hinsichtlich des Rechtsvon Gemeinwesen, ihre Mitgliedschaft festzulegen. EinKonsequentialist würde statt dessen die Meinung vertreten,daß die Einwanderungspolitik eindeutig von den Interessensämtlicher Betroffenen auszugehen hat. Wo die Interessenverschiedener Gruppen miteinander in Konflikt treten,sollten wir alle in gleichem Maß berücksichtigen, was be-deuten würde, daß dringlichere und grundlegendere Inter-essen Vorrang vor weniger grundlegenden hätten. Wennman nach dem Prinzip der gleichen Interessenabwägungverfährt, so ist der erste Schritt, diejenigen auszumachen,deren Interessen betroffen sind. Die erste und offenkundig-ste Gruppe sind die Flüchtlinge selbst. Um ihre dringlich-sten und grundlegendsten Interessen geht es offenbar. DasLeben in einem Flüchtlingslager bietet höchstens Aussichtauf ein bloßes Weiterexistieren und bisweilen nicht ein-mal das. Ein Beobachter eines Lagers an der thailändisch-kambodschanischen Grenze im Jahre 1986, das damals144 000 Menschen einen Zufluchtsort bot, faßt seinen Ein-druck folgendermaßen zusammen:

»Der Besuch eines Ausländers sorgt für einige Aufre-gung. Die Menschen umringen ihn und fragen eindring-lich nach dem Stand ihres Umsiedlungsbegehrens oderäußern sich tief verzweifelt über dessen fortwährendeAblehnung durch die Auswahlkomitees für die verschie-denen Länder, die zur Aufnahme von Flüchtlingen bereitsind. [. ..] Die Menschen weinten, während sie redeten,und aus den Mienen der meisten sprach stumme Ver-zweiflung. [...] Am Tag der Reisverteilung drängen sichTausende von Mädchen und Frauen in der Verteilungs-zone, um die Wochenrationen für ihre Familien zu erhal-ten. Vom Beobachtungsturm aus Bambus sieht man un-

Der Fehlschluß des gegenwärtigen Ansatzes 327

> ti'ten auf dem Boden ein wogendes Meer von schwarzenHaaren und Reissäcken, die für den Heimweg auf dieKöpfe gehievt werden. Ein stolzes, überwiegend Acker-bau treibendes Volk war gezwungen, von UN-Rationen

Y;von Wasser, Dosenfisch und minderwertigem Reis ab-hängig zu sein, nur um zu überleben.Den meisten dieser Menschen blieb die Hoffnung auf ei-nen tiefgreifenden Wandel ihres Lebens in den nächstenJahren versagt. Doch ich konnte mich — zusammen mitanderen von draußen - ins Auto setzen und aus dem La-ger nach Taphraya oder Aran zurückfahren, Soda mit Eistrinken, Reis oder Nudeln im Straßenrestaurant an derEcke essen und dem vorüberziehenden Leben zuschauen.Diese kleinen Dinge des Lebens umgab nun eine Freiheit,die mir niemals zuvor so wertvoll erschienen war.«

Gleichzeitig haben Flüchtlinge, die in einem neuen LandAufnahme finden, eine gute Chance, sich dort niederzulas-sen und ein so zufriedenes und erfülltes Leben zu führenwie die Mehrzahl von uns. Bisweilen ist das Interesse derFlüchtlinge Aufnahme zu finden ebenso fundamental wieaas Interesse zu überleben. In anderen Fällen mag es nichtum Leben oder Tod gehen, aber die Flucht prägt dennochnachhaltig das ganze Leben eines Menschen.Die nächste ganz unmittelbar betroffene Gruppe sind dieEinwohner des Aufnahmelandes. Inwieweit sie betroffenS1nd, hängt davon ab, wie viele Flüchtlinge eingelassen wer-den, wie gut sie sich in die Gemeinschaft einfügen, in wel-

Lehern Zustand sich die Wirtschaft des Landes augenblicklichbefindet und so weiter. Einige Einheimische werden stärkerbetroffen sein als andere: einige werden mit Flüchtlingenum Arbeit konkurrieren müssen, andere nicht; einige wer-den in ihrer Wohngegend mit zahlreichen Flüchtlingen'eben, andere nicht; und diese Liste ließe sich endlos fort-führen.™ir sollten nicht von vornherein annehmen, daß es den

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328 Die drinnen und die draußen

Einwohnern des Aufnahmelandes in der Folge schlechtergeht: die Aufnahme von Flüchtlingen m großem Maßstabkann zu wirtschaftlichem Aufschwung führen, und vieleEinheimische können Geschäfte machen, indem sie derenBedarf decken. Andere genießen vielleicht die weltoffenereAtmosphäre, welche die Neuankömmlinge aus fremdenLändern schaffen: sie profitieren von der Eröffnung exoti-scher Lebensmittelgeschäfte und Restaurants und langfri-stig vom Zugewinn neuer Ideen und Lebensweisen. Es ließesich wohl auch behaupten, daß Flüchtlinge in vielerlei Hin-sicht die besten Einwanderer ausmachen. Sie können nir-gendwohin und müssen sich gänzlich an ihr neues Landbinden, im Gegensatz zu jenen Einwanderern, denen eineRückkehr offensteht. Die Tatsache, daß sie überlebten undder Not entkamen, zeugt von Durchhaltevermögen, Initia-tive und Kraftreserven, die jedem Aufnahmeland zugutekommen würden. Zweifellos haben einige Flüchtlingsgrup-pen, wie zum Beispiel jene aus Indochina, enorme unter-nehmerische Kraft bei ihrer Umsiedlung in Länder wieAustralien und die Vereinigten Staaten bewiesen.Einige andere mögliche und weit schwerer abschätzbareFolgen müssen zumindest erwähnt werden. Zum Beispieldas Argument, daß die Aufnahme einer großen Zahl vonFlüchtlingen aus den armen Ländern in die reichen den zu-künftigen Flüchtlingszustrom einfach verstärken wird.Wenn nämlich arme und übervölkerte Länder ihre über-schüssigen Menschen in andere Staaten abschieben können,wird der Anreiz geringer, die Armut ihrer Bevölkerungmitsamt den Ursachen zu beseitigen und das Bevölkerungs-wachstum zu verlangsamen. Schlußendlich könnte das Lei-den ebenso groß werden, wie wenn wir von vornhereinniemals Flüchtlinge eingelassen hätten.Auch die Entscheidung, kein größeres Kontingent vonFlüchtlingen aufzunehmen, hat Folgen. Wirtschaftliche Sta-bilität und Weltfrieden sind an internationale Zusammenar-beit gebunden, die auf einem Mindestmaß an gegenseitiger

Der Fehlschluß des gegenwärtigen Ansatzes 329

Achtung und Vertrauen beruht; aber die an Ressourcen rei-chen und nicht übervölkerten Staaten der Welt könnennicht darauf hoffen, die Achtung und das Vertrauen derärmsten und bevölkerungsreichsten Länder zu gewinnen,wenn sie ihnen die Lösung des Flüchtlingsproblems weitge-hend selbst überlassen.Folglich haben wir von einem komplizierten Konflikt vonInteressen - einige klar beschreibbar, einige bloße Mutma-ßungen - auszugehen. Gleich starke Interessen sollen gleichstark gewichtet werden, aber wo liegt das Gleichgewicht?Man betrachte eine ziemlich wohlhabende Nation ohnehoffnungslose Übervölkerung wie Australien (ich nehmeAustralien als Beispiel für ein Land, mit dem ich vertrautbin; man könnte dafür mit nur geringfügigen Abänderun-gen auch andere reiche Nationen heranziehen). Anfang derneunziger Jahre läßt Australien ungefähr 12 000 Flüchtlingejährlich ins Land, zu einer Zeit also, in der Millionen vonFlüchtlingen in Lagern überall auf der Welt leben, vondenen viele keinerlei Hoffnung auf eine Rückkehr in ihrefrühere Heimat haben und eine Umsiedlung in ein Landwie Australien begehren. Man stelle sich nun vor, Austra-uen entschlösse sich zur Verdopplung des bisherigen jähr-lichen Flüchtlingskontingents. Was sind die eindeutigabsehbaren und was die möglichen Folgen einer solchenEntscheidung?Die erste sicher voraussehbare Folge wäre die jährliche Um-siedlung von 12 000 weiteren Flüchtlingen aus den Lagernnach Australien, wo sie erwarten könnten, nach ein paarmühevollen Jahren am materiellen Wohlstand, an den Bür-gerrechten und der politischen Stabilität des Landes teilzu-haben. Es ginge also 12 000 Menschen sehr viel besser.^Je zweite präzise beschreibbare Folge wären jährlich12 000 Immigranten mehr für Australien, neu hinzukom-mende Einwanderer, die man nicht wegen ihrer beruflichenyualifikation für die australische Wirtschaft ausgesucht"ätte. Sie würden deshalb das soziale Netz zusätzlich bean-

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Sprüchen. Einige alteingesessene Australier wären zudemvielleicht fassungslos über Veränderungen in ihrem Wohn-viertel durch den Zuzug einer Vielzahl von Menschen auseiner ganz andersartigen Kultur. Die Tatsache, daß mehrFlüchtlinge kämen, hätte auch gewisse Auswirkungen aufEingliederungshilfen wie z. B. das Angebot an Englischkur-sen, die Bereitstellung von Unterkünften für die ersten Mo-nate, die Arbeitsplatzvergabe und Umschulung. Aber dieUnterschiede wären sehr gering - schließlich hat Australienein Jahrzehnt zuvor annähernd 22 000 Flüchtlinge pro Jahraufgenommen. Aus dieser größeren Zuwanderung erwuch-sen jedoch keine spürbaren Nachteile.An dieser Stelle kommen wir, wenn wir die definitiven Fol-gen eines doppelten Flüchtlingskontingents hinsichtlich sei-nes bedeutenden Einflusses auf die Interessen anderer be-trachten, nicht weiter. Wir könnten uns fragen, ob erhöhteKontingente zum Aufleben von Rassismus in der Gesell-schaft führen. Wir könnten die Auswirkungen auf die Um-welt in Australien erörtern. Wir könnten vermuten, daß eingrößeres Kontingent weitere Landsleute der Flüchtlingeihrerseits zur Flucht ermutigt, um ihre wirtschaftliche Lagezu verbessern. Oder wir könnten unsere ganze Hoffnungauf den einem Land wie Australien möglichen Beitrag zuminternationalen Goodwill setzen, auf seine Flüchtlingshilfe,mit der es die Bürde ärmerer Nationen mindert. Doch sindall diese Folgen kaum mehr als Mutmaßungen.Man nehme die Umweltbelastung, die 12 000 weitereFlüchtlinge verursachen. Es steht außer Zweifel, daß einegrößere Zahl von Menschen die Umwelt zusätzlich in Mit-leidenschaft zieht. Dies bedeutet nur, daß das erhöhteFlüchtlingskontingent zu einem von vielen Faktoren wirdneben solchen wie der natürlichen Rate des Bevölkerungs-wachstums, dem ' Bestreben der Regierung, den Exportdurch Förderung von Industriezweigen, die Urwälder zuKleinholz verarbeiten, anzukurbeln; der Parzellierung desAgrarlandes in touristische Regionen mit Ferienhäusern;

Der Fehlschluß des gegenwärtigen Ansatzes 331

der wachsenden Beliebtheit von Fahrzeugen, die abseits derStraßen benutzt werden können; dem Ausbau von Skiortenin ökologisch labilen Bergzonen; der Verwendung von Ein-wegflaschen und anderer Behälter, die das Müllaufkommenvermehren - und diese Liste ließe sich endlos verlängern.Wenn unsere Gesellschaft es zuläßt, daß diese anderen Fak-toren die Umwelt belasten, während wir uns auf notwendi-gen Umweltschutz als Grund für die gegenwärtigen Be-grenzungen der Flüchtlingskontingente berufen, dann ge-wichten wir stillschweigend die Interessen von Flüchtlingenan einer Einwanderung nach Australien geringer als die In-teressen australischer Bürger an Ferienhäusern, am Durch-die-Landschaft-Donnern mit Vierradantrieb, am Skifahren,am Wegwerfen ihrer Getränkeflaschen und -dosen, ohnesich über deren Wiederverwertung Gedanken zu machen.Sicherlich ist eine solche Gewichtung ein moralischer Skan-dal, eine so eklatante Verletzung des Prinzips der gleichenInteressenabwägung, daß ich hoffe, es genügte, sie darzu-stellen, um zu sehen, daß sie nicht zu verteidigen ist.Noch problematischer sind die anderen Argumente. Nie-mand kann mit Sicherheit sagen, ob die Verdopplung desaustralischen Flüchtlingskontingents irgendwelchen Einflußauf die Zahl potentieller Flüchtlinge in den jeweiligenHeimatländern hätte; genauso unmöglich ist es, die Folgenhinsichtlich der internationalen Beziehungen im vorausabzuschätzen. Wie bei der analogen Argumentation, welchedie Auslandshilfe mit dem Bevölkerungswachstum in Zu-sammenhang bringt, wäre es falsch, sich in einer Situation,jn der die Konsequenzen der beabsichtigten Kontingenter-"öhung eindeutig positiv sind, gegen eine höhere Aufnah-niequote auf der Grundlage bloßer Vermutungen zu ent-scheiden, insbesondere dann, wenn diese in verschiedeneRichtungen weisen.^° spricht also manches dafür, daß Australien sein Flücht-utigskontingent verdoppelt. Aber die bisherige Argumenta-üon basierte nicht auf der genauen Größe des gegenwärti-

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gen australischen Flüchtlingskontingents. Nimmt man dasArgument an, so scheint auch zu folgen, daß Australiennicht nur 12 000, sondern gleich 24 000 weitere Flüchtlingejährlich ins Land läßt. Diese Schlußfolgerung scheint nundoch ein wenig zu weit zu gehen, denn sie ließe sich wie-derum auf diese neue Anzahl beziehen: sollte Australiennicht doch 48 000 Flüchtlinge aufnehmen? Wir können dieKontingente der großen Industrieländer mehrmals verdop-peln, und die Flüchtlingslager auf dem Globus leeren sichdennoch nicht. In der Tat ist die Zahl der Flüchtlinge, dieeine Umsiedlung in die hochentwickelten Länder wün-schen, nicht festgelegt, und es gibt wahrscheinlich ein Körn-chen Wahrheit in der Behauptung, daß bei einer Aufnahmealler heutigen Flüchtlinge nur noch mehr neue deren Platzin den Lagern einnähmen. Da das Interesse der Flüchtlingean einer Umsiedlung in ein wohlhabenderes Land stetsschwerer wiegen wird als die dagegenstehenden Interessender Bürger jener Staaten, scheint das Prinzip der gleichenInteressenabwägung auf eine zukünftige Welt zu verweisen,in der alle Länder weiterhin Flüchtlinge so lange einlassen,bis sie sich auf ein und derselben Stufe der Armut undÜbervölkerung befinden wie die Länder der Dritten Welt,aus der die Flüchtlinge zu fliehen versuchen.Ist dies Grund genug, die ursprüngliche Argumentation zu-rückzuweisen? Führt ein konsequentes Festhalten an derursprünglichen Argumentation zu unannehmbaren Konse-quenzen, und muß deshalb ein Argumentationsfehler vor-liegen, der uns zu einem solch widersinnigen Ergebnisführte? Mitnichten. Unsere Behauptung einer notwendigenVerdopplung des australischen Kontingents schließt keineVerdopplung und Wiederverdopplung ad infinitum ein. Abeinem bestimmten Vielfachen - vielleicht beim Vierfachenoder Vierundsechzigfachen des gegenwärtigen Kontingents- würden die Nachteile, über die sich heute nur spekulierenläßt, mit hoher Wahrscheinlichkeit oder so gut wie sichereintreten.

Der Fehlschluß des gegenwärtigen Ansatzes 333

Es käme ein Punkt, an dem die Aufnahmeländer beispiels-weise allem die Umwelt gefährdenden Luxus abgeschworenhätten, und dennoch belasteten die Grundbedürfnisse derwachsenden Bevölkerung die empfindlichen Ökosystemederart, daß ihr weiteres Ansteigen nichtwiedergutzuma-chende Schäden nach sich zöge. Oder die Toleranzgrenzeeiner multikulturellen Gesellschaft könnte absinken, weilsich Ressentiments bei den Bürgern des Aufnahmelandesansammelten, die nunmehr glauben, ihre Kinder fändenkeine Arbeitsplätze, weil die hart arbeitenden Neuan-kömmlinge sie ihnen streitig machten; und aus diesem Tole-ranzverlust könnte sich eine ernsthafte Gefahr für das fried-liche Leben und die Sicherheit aller früher aufgenommenenFlüchtlinge und anderer Immigranten aus verschiedenenKulturen entwickeln. Wenn es dahin käme, hätte sich dasGleichgewicht der Interessen zuungunsten eines größerenFlüchtlingskontingents verschoben.Bei den gegenwärtigen Flüchtlingskontingenten ließen sichfreilich ziemlich drastische Steigerungsraten verkraften, be-vor irgendeine der oben erwähnten Folgen einträte; undmanch einem mag dies als eine so unannehmbare Schlußfol-gerung erscheinen, daß sie genügt, um unsere Argumenta-tion zurückzuweisen. Gewiß wird jeder, der von einemhalbwegs zu rechtfertigenden Status quo ausgeht, zu dieserAuffassung neigen. Aber der Status quo ist das Ergebniseiner Kombination aus nationaler Selbstsucht und politi-schem Eigennutz, und nicht das Resultat eines wohlüber-legten Versuchs, die moralischen Verpflichtungen der Indu-strieländer auf einer Erde mit 15 Millionen Flüchtlingen zubestimmen.rür die hochentwickelten Länder wäre es ein leichtes, ihreMoralischen Verpflichtungen Flüchtlingen gegenüber besser^ erfüllen als bisher geschehen. Es gibt keinen objektivenyrund für die Annahme, daß eine Verdopplung des Kon-tlngents ihnen in irgendeiner Form schaden würde. Eherspricht heute vieles, nicht zuletzt die Erfahrung der Vergan-

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genheit, dafür, daß sie und ihre jetzige Bevölkerung darauswahrscheinlich Nutzen ziehen würden.Doch die führenden Politiker werden aufschreien: Was mo-ralisch ist, ist nicht das, was politisch annehmbar ist. Dies isteine vorgeschobene Entschuldigung für unterlassenes Han-deln. In vielen Bereichen der Politik versuchen Präsidentenund Premierminister ihre Wählerschaft nur allzugern vondem, was richtig ist, zu überzeugen - von der Notwendig-keit, den Gürtel enger zu schnallen, um Haushaltsdefiziteauszugleichen, oder davon, Alkohol am Steuer zu vermei-den. Ebensogut könnten sie Schritt für Schritt die Flücht-lingsquoten erhöhen und die Auswirkungen wissenschaft-lich exakt untersuchen lassen. Auf diese Weise würden sieihren moralischen und geopolitischen Verpflichtungennachkommen und dazu noch Vorteile für ihre eigenen Ge-sellschaften erzielen.

Bunker und Zufluchtsstätten

Wie hätten Sie beim Referendum im »Hafen der Fairneß«im Jahre 2015 abgestimmt? Ich meine, die meisten wärenbereit gewesen, nicht nur ein Viertel, sondern alle Tennis-plätze angesichts der größeren Not der Menschen draußenzu opfern. Aber wenn Sie unter den gegebenen Umständenmit den Herzensguten gestimmt hätten, dann fällt es schwerzu glauben, daß Sie mit der Schlußfolgerung, reiche Ländersollten weit mehr Flüchtlingen als heute ihre Tore öffnen,nicht einig gehen. Denn die Lage der Flüchtlinge ist kaumbesser als die der von radioaktiver Strahlung bedrohtenMenschen vor dem Bunker, und der Luxus, den wir unse-rerseits aufzugeben hätten, ist gewiß um nichts größer.

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Die Umwelt

Ein Fluß stürzt durch bewaldete Schluchten und felsigeSchlünde dem Meer zu. Die staatliche Wasserenergie-kommission betrachtet das hinabschießende Wasser alsungenutzte Energie. Der Bau einer Talsperre in einer derSchluchten würde eintausend Arbeitskräfte über dreiJahre und zwanzig oder dreißig längerfristig beschäftigen.Der Damm würde genug Wasser stauen, um zu gewähr-leisten, daß der Staat seinen Energiebedarf während desnächsten Jahrzehnts kostengünstig abdecken könnte.Dies würde den Aufbau einer Industrie mit hohem Ener-giebedarf fördern und so zur Schaffung von Arbeitsplät-zen und Wirtschaftswachstum zusätzlich beitragen.Die zerklüftete Landschaft macht das Flußtal nur fürrecht ausdauernde Wanderer zugänglich, aber es istnichtsdestoweniger eine beliebte Gegend für Tourendurch unberührte Wildnis. Der Fluß selbst zieht diewagemutigeren Wildwasser-Floßfahrer an. Tief in dengeschützten Tälern finden sich Bestände der seltenenHuonkiefer mit vielen über tausendjährigen Bäumen. Inden Tälern und Schluchten haben zahlreiche Vögel undTiere ihr Revier, darunter auch eine gefährdete Beutel-mausart, die außerhalb des Tales selten anzutreffen ist. Eskommen wohl außerdem noch andere seltene Pflanzenund Tiere darin vor, was aber nicht feststeht, denn Wis-senschaftler sollen die Region erst noch gündlich erfor-schen.

^pll man den Damm bauen? Dies ist ein gutes Beispiel für^lne Situation, in der wir zwischen sehr verschiedenenWertvorstellungen wählen müssen. Die Beschreibung folgtln groben Zügen einem Dammbauvorhaben am Franklin-

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11Zwecke und Mittel

Wir haben eine Reihe von moralischen Problemen unter-sucht und dabei gesehen, daß viele anerkannte Praktikenernsthaften Einwänden ausgesetzt sind. Was sollen wir nundamit anfangen? Auch das ist ein moralisches Problem. Wirwollen vier reale Fälle betrachten.

Oskar Schindler war ein deutscher Industrieller, derwährend des Zweiten Weltkriegs eine Fabrik in der Nähevon Krakau leitete. Zu einer Zeit, als die polnischen Judenin die Todeslager geschickt wurden, stellte er eine Arbei-tertruppe von jüdischen Insassen der Konzentrationslagerund aus dem Getto zusammen, die um einiges größerwar, als sie in seiner Fabrik benötigt wurde. Durch verschie-dene illegale Methoden, darunter Bestechung von SS-Mit-gliedern und anderen Funktionären, gelang es ihm, dieseMenschen zu schützen. Mit seinem eigenen Geld kaufte erNahrungsmittel auf dem Schwarzmarkt, um die unzurei-chenden amtlich genehmigten Rationen für seine Arbeiteraufzubessern. Auf diese Weise rettete er etwa 1200 Men-schen das Leben.

Im Jahr 1984 leitete Dr. Thomas Gennarelli ein auf die Er-forschung von Kopfverletzungen spezialisiertes Labor ander University of Pennsylvania in Philadelphia. Mitgliederder im Untergrund tätigen Animal Liberation Front erfuh-ren, daß Gennarelli Affen Kopfverletzungen beibrachte,ohne daß diese bei den Versuchen ordnungsgemäß betäubtwurden. Die Organisation wußte auch, daß Gennarelli undseine Mitarbeiter die Versuche mit einer Videokamera auf-zeichneten, um zu dokumentieren, was während und nachder Zufügung von Kopfverletzungen passierte. Die Aninw

Zwecke und Mittel 367

Liberation Front bemühte sich um weitere Informationenauf offiziellem Wege, jedoch erfolglos. Im Mai 1984 brachenMitglieder der Organisation eines Nachts in das Labor einund fanden 34 Videobänder. Bevor sie das Labor mit denVideobändern verließen, zerstörten sie die Apparaturen.Auf den Bändern war eindeutig zu sehen, wie die Affen, beivollem Bewußtsein, sich dagegen wehrten, auf dem Opera-tionstisch gefesselt zu werden, wo man ihnen die Kopfver-letzungen beibrachte; auch das höhnische Lachen der Expe-rimentatoren über die verängstigten Tiere war festgehalten.Die Veröffentlichung der zusammengeschnittenen Video-bänder erregte allgemein Empörung. Trotzdem mußte nochein weiteres Jahr mit Protesten vergehen, die ihren Höhe-punkt mit einem Sit-in in der für Gennarellis Versuche zu-ständigen Regierungsbehörde erreichten, bevor der ameri-kanische Gesundheitsminister die Einstellung der Versucheverfügte.

1986 betrat Joan Andrews eine Klinik, in der Schwanger-schaftsabbrüche vorgenommen werden, in Pensacola (Flo-rida) und beschädigte ein Absauggerät, mit dem Abtreibun-gen vorgenommen werden. Sie lehnte es ab, sich vor Ge-richt vertreten zu lassen, mit der Begründung, daß »die inWahrheit Betroffenen, die noch nicht geborenen Kinder,auch keinen Vertreter hätten und ohne den ihnen zustehen-den Prozeß getötet würden«. Andrews unterstützte Opera-tion Rescue, eine amerikanische Organisation, die ihrenBarnen und ihre Handlungsvollmacht von der biblischenl'orderung herleitet »die zu retten, welche dem Tod verfal-len sind, und jene zurückzuhalten, die zur Schlachtbanktaumeln«. Operation Rescue nimmt zivilen Ungehorsam inAnspruch, um Kliniken, in denen Schwangerschaftsabbrü-cne vorgenommen werden, zu schließen, wodurch nach5rer Ansicht »das Leben ungeborener Babys gerettet wird,"le die Rescuer zu verteidigen moralisch verpflichtet sind«.Mitglieder dieser Organisation blockieren Kliniktüren und

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368 Zwecke und Mittel

hindern Arzte sowie Schwangere, die einen Schwanger-schaftsabbruch wollen, am Betreten des Krankenhauses.Sie versuchen, durch »Straßen-Beratungen« über das Wesender Abtreibung Schwangere vom Besuch der Klinik abzu-bringen. Gary Leber, einer der Operation-Rescue-Leiter,hat behauptet, daß allein zwischen 1987 und 1989 als un-mittelbare Folge solcher »Rettungsmissionen« mindestens421 Frauen ihren Entschluß zu einem Schwangerschaftsab-bruch revidierten und daß deren Kinder, die sonst getötetworden wären, heute am Leben sind.

1976 fuhr Bob Brown, damals ein junger praktischer Arzt,den Franklin-Fluß im Südwesten Tasmaniens auf einemFloß hinunter. Die wilde Schönheit des Flusses und dieStille der unberührten Wälder ringsum beeindruckten ihntief. Dann aber, an einer Biegung im unteren Teil des Flus-ses, traf er auf Angestellte der Hydro-Electric Commission,die die Möglichkeiten für den Bau eines Staudamms an die-ser Stelle prüften. Brown gab seine Arztpraxis auf undgründete die Tasmanian Wilderness Society mit dem Ziel,die verbliebenen Wildnisgebiete des Bundesstaates zuschützen. Trotz lebhafter Proteste empfahl die Hydro-Elec-tric Commission den Dammbau, und nach einigem Zögernentschied die Landesregierung mit Unterstützung aus Wirt-schaftskreisen und Gewerkschaften, die Sache voranzutrei-ben. Die Tasmanian Wilderness Society organisierte einefriedliche Blockade der Straße, die zu dem zukünftigenStaudamm gebaut wurde. 1982 wurde Brown mit vielen än-dern festgenommen und wegen unbefugten Betretens desGrund und Bodens der Hydro-Electric Commission zuvier Tagen Haft verurteilt. Doch die Blockade erregte Auf'sehen im ganzen Land, und obwohl die australische Bun-desregierung nicht unmittelbar für den Staudamm verant-wortlich war, wurde dieser ein Thema bei den damals anste-henden Parlamentswahlen. Die australische Labor Party>vor den Wahlen in der Opposition, setzte sich für verfas-

Zwecke und Mittel 369

sungsmäßige Mittel zur Verhinderung weiterer Arbeiten andem Staudamm ein. Die Labor Party gewann die Wahl,übernahm die Regierungsverantwortung und verabschie-dete ein Gesetz, das das Staudammprojekt stoppte. Gegenden Antrag der Regierung von Tasmanien wurde das Ge-setz von einer hauchdünnen Mehrheit des Obersten Ge-richtshofes von Australien bestätigt, mit der Begründung,der Südwesten Tasmaniens sei ein Welterbe-Gebiet und dieBundesregierung habe den verfassungsmäßigen Auftrag,den internationalen Vertrag über die World Heritage Com-mission einzuhalten. Heute fließt der Franklin-Fluß immernoch unbehindert dahin.

Haben wir eine vorrangige Verpflichtung, dem Gesetz zugehorchen? Oskar Schindler, die Mitglieder der AnimalLiberation Front, die Gennarellis Videobänder an sichbrachten, Joan Andrews von Operation Rescue, Bob Brownund die sich mit ihm in Südwest-Tasmanien den Planierrau-pen entgegenstellten - sie alle brachen das Gesetz. Habensie alle unrecht gehandelt?Die Frage läßt sich nicht damit erledigen, daß man sich aufdie banale Formel »Der Zweck heiligt niemals die Mittel«beruft. Für alle, außer für die striktesten Anhänger einerRegelmoral, heiligt der Zweck zuweilen die Mittel. Die mei-sten halten Lügen, alle Umstände als gleich vorausgesetzt,für unrecht, sind aber dennoch der Meinung, daß man lügen

"f, wenn dadurch unnötiger Anstoß oder Ärger vermie-en werden kann - wenn dir zum Beispiel ein wohlmeinen-er Verwandter eine scheußliche Vase zum Geburtstag

icnenkt und fragt, ob sie dir wirklich gefällt. Wenn schon"lieser verhältnismäßig triviale Zweck Lügen rechtfertigenEann, dann ist es um so offensichtlicher, daß manche wichti-

gen Zwecke - einen Mord zu verhindern oder Tiere vor?°ßen Leiden zu bewahren - das Lügen rechtfertigen kön-

aen. Daher läßt sich gegen das Prinzip, der Zweck könnelicht die Mittel heiligen, leicht verstoßen. Die schwierige

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370 Zwecke und Mittel Individuelles Gewissen und das Gesetz 371

Frage ist nicht, ob der Zweck jemals die Mittel rechtfertigenkann, sondern welche Mittel sich durch welchen Zweckrechtfertigen lassen.

Individuelles Gewissen und das Gesetz

Viele Menschen sind gegen Staudämme an wilden Flüssen,gegen die Ausbeutung von Tieren, gegen Abtreibung, ohnedas Gesetz zu brechen, um diese Aktivitäten zu stoppen.Zweifellos begehen einige Mitglieder konventionellererUmweltschutz-, Tierbefreiungs- und Abtreibungsgegner-Organisationen keine unrechtmäßigen Handlungen, weilsie nicht bestraft oder eingesperrt werden wollen; anderedagegen wären sehr wohl bereit, die Konsequenzen illegalerHandlungen auf sich zu nehmen. Sie scheuen nur deshalbdavor zurück, weil sie die moralische Autorität des Geset-zes respektieren und ihr gehorchen.Wer hat recht in dieser moralischen Meinungsverschieden-heit? Haben wir irgendeine moralische Verpflichtung zumGesetzesgehorsam, wenn das Gesetz Dinge schützt undgutheißt, die wir für ganz und gar unrecht halten? Eine ein-deutige Antwort auf diese Frage gab im 19. Jahrhundert deramerikanische Radikale Henry Thoreau. In seinem EssayOn Civil Disobedience, in dem dieser heute geläufige Aus-druck wohl erstmals verwendet wurde, schrieb er:

»Darf der Bürger jemals für einen kurzen Augenblickoder zu einem winzigen Teil, sein Gewissen an den Ge-setzgeber abgeben? Wozu hätte denn dann jeder Menschein Gewissen? Ich finde, wir sollten erst Menschen seiftund danach Untertanen. Es scheint mir nicht wünschens"wert, einen Respekt vor dem Gesetz in demselben Ma»e

zu pflegen wie vor dem Recht. Die einzige Verpflichtung'die ich rechtmäßig eingehen darf, ist die, jederzeit das zutun, was mir recht erscheint.«

Der amerikanische Philosoph Robert Paul Wolff hat sich inähnlicher Weise geäußert:

»Das bestimmende Merkmal des Staates ist seine Autori-Htät, sein Recht zu herrschen. Die erste Pflicht des Men-schen besteht in der Autonomie, der Weigerung, sich be-herrschen zu lassen. Es sieht demnach so aus, daß derKonflikt zwischen der Autonomie des Individuums undder vermeintlichen Autorität des Staates unauflöslich ist.Sofern der Mensch seiner Verpflichtung nachkommt, sichselbst zum Urheber seiner Entscheidungen zu machen,

f., wird er dem Anspruch des Staates auf Autorität ihm ge-genüber Widerstand leisten.«

Thoreau und Wolff lösen den Konflikt zwischen Indivi-duum und Gesellschaft zugunsten des Individuums. Wirsollten so handeln, wie es uns unser Gewissen diktiert, wiewir autonom entscheiden, daß wir handeln sollten: nichtwie das Gesetz es vorschreibt. Alles andere wäre eine Ab-sage an unsere moralische Entscheidungsfähigkeit.So formuliert, erscheint die Streitfrage simpel und die Tho-reau-Wolffsche Antwort offensichtlich richtig. Demnachwären Oskar Schindler, die Animal Liberation Front, JoanAndrews und Bob Brown absolut im Recht, das zu tun, wasS1e für richtig hielten, nicht was der Staat als Gesetz vor-schrieb. Aber ist die Sache so einfach? In einem Sinne ist esinbestreitbar, daß wir, wie Thoreau sagt, das tun sollen, wasWir für richtig halten; oder, wie Wolff es darstellt, daß wiruns selbst zum Urheber unserer Entscheidungen machensp«en. Haben wir die Wahl zwischen dem, was wir für rich-

8 halten, und dem, was wir für falsch halten, sollten wirnatürlich das tun, was wir für richtig halten. Das stimmt. War, bietet aber keine große Hilfe. Was wir wissen müßten,st nicht, ob wir das tun sollen, wofür wir uns als richtig. ntscneiden, sondern wie wir entscheiden sollen, was richtigist.

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372 Zwecke und Mittel Individuelles Gewissen und das Gesetz 373

Erinnern wir uns der unterschiedlichen Ansichten zwischenden Mitgliedern der Animal Liberation Front (ALF) undden gesetzestreueren Mitgliedern der britischen Royal So-ciety for the Prevention of Cruelty to Animals (RSPCA):ALF-Mitglieder finden es unrecht, daß Tieren Schmerz zu-gefügt wird, sofern dies nicht durch außerordentliche Um-stände gerechtfertigt ist. Und wenn der beste Weg, demEinhalt zu gebieten, über den Gesetzesbruch führt, dann istder Gesetzesbruch ihrer Meinung nach richtig. RSPCA-Mitglieder - wollen wir einmal annehmen - finden es eben-falls normalerweise unrecht, daß Tieren Schmerz zugefügtwird, aber sie finden es auch unrecht, das Gesetz zu bre-chen, und sie glauben, daß die Unrechtmäßigkeit des Geset-zesbruchs nicht durch den Zweck, zu verhindern, daß Tie-ren ungerechtfertigt Schmerz zugefügt wird, aufgewogenwird. Angenommen, Menschen, die es, ablehnen, TierenSchmerz zuzufügen, sind sich noch nicht schlüssig, ob siesich den militanten Gesetzesbrechern oder den konventio-nelleren Tierschützergruppen anschließen sollen. Wie kannder Hinweis, sie sollten tun, was sie richtig finden, sie soll-ten Urheber ihrer eigenen Entscheidung sein, ihre Un-schlüssigkeit beseitigen? Es geht um die Unsicherheit, waszu tun richtig ist, nicht um die Unsicherheit, ob man tunmuß, wofür man sich als richtig entschieden hat.Dieser Punkt kann durch Gerede wie »Man müsse seinemGewissen folgen« - ohne Rücksicht darauf, was das Gesetzvorschreibt - verdunkelt werden. Manche meinen darni1

lediglich, man solle das tun, was man bei entsprechendemNachdenken für richtig hält - und das kann, wie im Falle

unseres hypothetischen RSPCA-Mitglieds, davon abhän-gen, was das Gesetz befiehlt. Andere meinen mit »Gewis-sen« nicht etwas, das vom kritisch reflektierenden Urteilabhängt, sondern eine Art innerer Stimme, die uns sagt>daß etwas unrecht ist, und die das möglicherweise auchdann noch immer weiter behauptet, wenn wir nach sorgßl'tiger Abwägung aller moralisch relevanten Überlegung611

zu der Entscheidung gelangt sind, daß unsere Handlungnicht unrecht sei. Legt man diese Bedeutung von Gewis-sen zugrunde, so kann eine unverheiratete Frau, die mitder festen römisch-katholischen Überzeugung aufgewach-sen ist, außerehelicher Sex sei immer unrecht, ihre Religionaufgeben und zu der Ansicht gelangen, es gebe keinevernünftige Grundlage für die Beschränkung von Sex aufdie Ehe - und doch weiterhin Schuldgefühle haben, wennsie Sexualverkehr hat. Sie mag diese Schuldgefühle als ihr»Gewissen« bezeichnen, aber wenn dem so ist, soll sie ihmfolgen?Der Satz, wir sollten unserem Gewissen folgen, ist nicht zubestreiten, aber auch nicht hilfreich, wenn »dem Gewissenfolgen« heißt, das zu tun, was man nach reiflicher Überle-gung für richtig hält. Wenn »dem Gewissen folgen« heißt,das zu tun, was einem die »innere Stimme« zu tun gebietet,dann heißt dem eigenen Gewissen folgen allerdings, seinerVerantwortlichkeit als rational Handelnder abzuschwören,die Berücksichtigung aller relevanten Faktoren zu vernach-lässigen und nicht gemäß der besten Beurteilung des in derSituation Richtigen oder Falschen zu handeln. Die »innereStimme« ist wahrscheinlich eher ein Produkt von Erziehungund Ausbildung als eine Quelle genuiner moralischer Ein-sicht.Vermutlich möchten weder Thoreau noch Wolff vorschla-gen, wir sollten immer unserem Gewissen im Sinne der»inneren Stimme« folgen. Wenn ihre Ansichten überhauptPlausibel sein sollen, dann müssen sie meinen, daß wir un-?5rern Urteil darüber, was wir zu tun haben, folgen sollten.~*as Äußerste, was sich in diesem Fall zugunsten ihrer~mpfehlungen sagen läßt, ist: Sie erinnern uns daran, daßEntscheidungen über Gesetzesgehorsam moralische Ent-j'cneidungen sind, die das Gesetz selbst nicht für uns treffen

n. Wir sollten nicht gedankenlos voraussetzen, daß,das Gesetz etwa verbietet, Videobänder aus Labors

stehlen, es immer unrecht ist, das zu tun - ebensowenig

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374 Zwecke und Mittel

wie es kein Unrecht ist, Juden vor den Nazis zu verstecken,selbst wenn es gegen das Gesetz ist. Gesetz und Ethik sindzwei verschiedene Dinge. Andererseits bedeutet das nicht,daß das Gesetz kein moralisches Gewicht hat. Es bedeutetnicht, daß irgendeine Handlung, die richtig gewesen wäre,wenn sie legal gewesen wäre, richtig sein muß, obwohl sietatsächlich illegal ist. Daß eine Handlung illegal ist, kannmoralisch ebenso wie rechtlich bedeutsam sein. Ob es wirk-lich moralisch bedeutsam ist, das ist eine andere Frage.

Gesetz und Ordnung

Wenn wir eine Handlungsweise ernsthaft für unrecht haltenund wenn wir den Mut und die Kraft haben, diese Hand-lungsweise durch Gesetzesbruch zu verhindern, wie könntedann die Illegalität dieser Aktion einen moralischen Grunddagegen darstellen? Um eine so spezifische Frage wie diesezu beantworten, müssen wir zunächst eine viel allgemeinereFrage stellen: Warum gibt es überhaupt Gesetze?Menschliche Wesen sind von Natur aus auf Gemeinschafthin ausgerichtet, aber nicht so sehr, daß wir uns nicht gegendas Risiko schützen müßten, von unseren Mitmenschen an-gegriffen oder getötet zu werden. Wir können das versu-chen, indem wir Schutzorganisationen bilden, um Angriffezu verhindern und die Angreifer zu bestrafen; aber das Er-gebnis wäre nicht berechenbar, und das Ganze könnte sichzu einem Bandenkrieg auswachsen. Daher ist es wünschens-wert, »ein feststehendes, unveränderliches und allgemeinbekanntes Gesetz« zu haben - wie es John Locke vor langerZeit ausdrückte -, das von befugten Richtern ausgelegt wirdund mit genügend Macht ausgestattet ist, um die richterli-chen Entscheidungen durchzusetzen.Würden sich die Menschen freiwillig der Angriffe auf an-dere oder sonstiger feindseliger Handlungen gegen ein har-monisches und glückliches Zusammenleben enthalten, s°

Gesetz und Ordnung 375

könnten wir ohne Richter und Sanktionen auskommen. Wirbrauchten wohl einige gesetzesähnliche Konventionen wieetwa darüber, auf welcher Straßenseite gefahren werdensoll. Selbst ein anarchistisches Utopia besäße einige verein-barte Regeln für das Zusammenleben. So hätten wir immernoch etwas, das einem Gesetz gleichkommt. In Wirklichkeitenthält sich nun nicht jeder freiwillig solcher Verhaltenswei-sen wie etwa Angriffen, die andere nicht tolerieren können.Auch ist es nicht nur die Gefahr individueller Handlungenwie etwa Angriffe, die Gesetze erforderlich machen. In je-der Gesellschaft gibt es Streit darüber, wieviel Wasser dieBauern aus dem Fluß ableiten dürfen, um ihre Saaten zubewässern; über den Landbesitz oder die Aufsicht überdie Erziehung; über die Kontrolle der Luftverschmutzungund die Höhe der Steuern. Irgendein festgelegtes Entschei-dungsverfahren ist notwendig, um solche Streitigkeitenökonomisch und rasch zu schlichten, andernfalls würdendie streitenden Parteien wahrscheinlich zur Gewalt greifen.Fast jedes etablierte Entscheidungsverfahren ist besser alsdas Mittel der Gewalt, denn wenn es zur Gewaltanwen-dung kommt, bleibt es nicht aus, daß Menschen verletztwerden. Darüber hinaus führen die meisten Entscheidungs-verfahren zu mindestens ebenso vorteilhaften und gerech-ten Ergebnissen wie ein gewaltsames Vorgehen.Somit sind Gesetze und ein etabliertes Entscheidungsver-»ahren, das sie hervorbringt, eine gute Sache. Damit entstehtein wichtiger Grund für den Gesetzesgehorsam. Indem ich"Cm Gesetz gehorche, trage ich zu dem Respekt bei, derdem etablierten Entscheidungsverfahren und den Gesetzenentgegengebracht wird. Durch Ungehorsam statuiere ich fürändere ein Exempel, das sie ebenfalls zum Ungehorsam ver-'eiten kann. Der Effekt kann sich vervielfachen und zumNiedergang von Gesetz und Ordnung führen - im Extrem-**U zum Bürgerkrieg.tin zweiter Grund für den Gesetzesgehorsam folgt unmit-telbar aus diesem ersten. Soll das Gesetz wirksam sein —

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376 Zwecke und Mittel

außerhalb der anarchistischen Utopie -, dann muß esirgendeinen Apparat geben, um Gesetzesbrecher zu entdek-ken und zu bestrafen. Die Aufrechterhaltung und Funk-tionsfähigkeit dieses Apparats kostet Geld, das die Gesell-schaft aufbringen muß. Wenn ich das Gesetz breche, mußdie Gesellschaft die Ausgaben für seine Durchsetzung auf-bringen.Diese beiden Gründe für den Gesetzesgehorsam sind wederallgemein anwendbar noch zwingend. Sie sind zum Beispielnicht auf Verstöße gegen das Gesetz anwendbar, die geheimbleiben. Wenn ich spät in der Nacht auf leeren Straßen beiRotlicht die Kreuzung überquere, dann wird durch meinVerhalten niemand zum Ungehorsam angestiftet, und nie-mand muß das Gesetz dagegen durchsetzen. Aber das istnicht die Art von Illegalität, die uns interessiert.Wo sie anwendbar sind, sind diese beiden Gründe fürGesetzesgehorsam nicht zwingend, weil es Zeiten gibt, indenen die Gründe gegen die Befolgung eines besonderenGesetzes wichtiger sind als das Risiko, andere zumUngehorsam anzustiften oder der Gesellschaft die Kostender Gesetzesdurchsetzung aufzuerlegen. Das sind zwarechte Gründe für den Gehorsam, und wenn es keineGründe für Ungehorsam gibt, genügen sie, um die Fragezugunsten des Gehorsams zu entscheiden; aber wenn eseinander widerstreitende Gründe gibt, müssen wir jedenFall daraufhin für sich betrachten, ob die Gründe für denUngehorsam gewichtiger sind als eben diese Gründe fürden Gehorsam. Wenn zum Beispiel illegale Handlungen dereinzige Weg wären, eine riesige Zahl von schmerzhaften Ex-perimenten an Tieren zu verhindern, bedeutende Gebieteunberührter Natur zu retten oder um Regierungen dazu zudrängen, ihre Auslandshilfe zu verstärken, dann würde dieWichtigkeit der Zwecke es rechtfertigen, ein gewisses Ri-siko, zu einem allgemeinen Niedergang des Gesetzesgehor-sams beizutragen, einzugehen.

Demokratie

An dieser Stelle werden einige sagen: Der Unterschied zwi-schen Oskar Schindlers Heroismus und den nicht zu vertei-digenden illegalen Handlungen von ALF, Operation Rescuesowie den Gegnern des Franklin-Staudamms besteht darin,daß es für Schindler im nationalsozialistischen Deutschlandkeine legalen Mittel gab, um eine Veränderung herbeizufüh-ren. In einer Demokratie gibt es dagegen legale Mittel, umMißbräuche abzustellen. Die Existenz legaler Verfahren fürGesetzesänderungen macht die Anwendung illegaler Mittelunzulässig.Es trifft zu, daß in parlamentarischen Demokratien legaleVerfahren existieren, die von Reformwilligen benutzt wer-den können; aber das zeigt an sich noch nicht, daß die Ver-wendung illegaler Mittel unrecht ist. Legale Wege kann eszwar geben, aber die Aussicht, mit ihrer Hilfe in absehbarerZukunft Änderungen, herbeizuführen, dürfte oftmals sehrgering sein. Während die Fortschritte auf diesen legalen We-gen langsam und oft schmerzhaft sind oder vielleicht über-haupt ausbleiben, schreitet das Unrecht, das man unterbin-den will, immer weiter voran. Vor dem erfolgreichen Kampfum die Rettung des Franklin-Flusses hatte es eine andere"'olitische Kampagne gegen einen ebenfalls von der Hydro--lectric Commission vorgeschlagenen Staudamm gegeben.Dieser wurde bekämpft, weil er den in einem Nationalparkelegenen, unberührten Hochgebirgssee Lake Peddar über-

fluten würde. Jene Protestaktion, die sich konventionellerer'olitischer Mittel bediente, hatte keinen Erfolg, und derLake Peddar verschwand unter den Wassern des Stau-damms. In Dr. Gennarellis Labor waren jahrelang Versuchedurchgeführt worden, bevor die Animal Liberation Frontdort einbrach. Ohne die Beweise durch die gestohlenen Vi-

e°bänder wäre es wahrscheinlich noch heute in Betrieb. In"ilicher Weise wurde Operation Rescue erst gegründet,~ hdem es in vierzehn Jahren herkömmlichen politischen

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Handelns nicht gelungen war, die permissive Gesetzeslagein bezug auf Abtreibung zu revidieren, die in den USA be-stand, seit der Oberste Gerichtshof 1973 restriktive Abtrei-bungsgesetze für verfassungswidrig erklärt hatte. Gary Le-ber von Operation Rescue meinte, daß während dieser Zeit»25 Millionen Amerikaner >legal< getötet wurden«. Ausdieser Sicht wird deutlich, daß das Vorhandensein legalerÄnderungsmöglichkeiten das moralische Dilemma nichtlöst. Eine weit entfernte Möglichkeit legaler Veränderungist nicht eben ein starker Grund gegen die Anwendung ver-mutlich erfolgreicherer Mittel. Aus der bloßen Existenzlegaler Wege folgt höchstens - weil wir nicht wissen kön-nen, ob sie sich als erfolgreich erweisen, bevor wir sie aus-probiert haben - ein Grund dafür, illegale Aktionen zu ver-schieben, bis legale Mittel ausprobiert worden und geschei-tert sind.Hier können die Hüter der demokratischen Gesetze esanders versuchen: Wenn legale Mittel nicht zur Verwirkli-chung einer Reform führen, so zeigt das, daß die vorge-schlagene Reform nicht die Zustimmung der Mehrheit derWähler hat; und der Versuch, die Reform mit illegalen Mit-teln gegen die Wünsche der Mehrheit in Kraft zu setzen,wäre eine Verletzung des zentralen Prinzips der Demokra-tie, des Majoritätsprinzips.Die Militanten können sich gegen dieses Argument auszwei Gründen wenden, aus einem faktischen und einemphilosophischen. Die Tatsachenbehauptung in der Argu-mentation der Demokraten besteht darin, daß eine Reform»die nicht legal in Kraft gesetzt werden kann, der Zustim-mung der Mehrzahl der Wähler entbehrt. Dies würde viel-leicht für eine direkte Demokratie zutreffen, in der die ge-samte Wählerschaft über jede Frage abstimmt; aber es trifftgewiß nicht immer auf die modernen repräsentativen De-mokratien zu. Es gibt keine Methode, die sicher feststellt'daß in allen sich ergebenden Fragen eine Mehrzahl von Re'präsentanten dieselbe Position einnimmt wie die Mehrzahl

ihrer Wähler. Man kann vernünftigerweise darauf ver-trauen, daß die Mehrzahl der Amerikaner, die Ausschnitteaus Gennarellis Videobändern im Fernsehen gesehen haben,die Versuche abgelehnt hätten. Aber so werden nun einmalin der Demokratie Entscheidungen nicht getroffen. Wenndie Wähler zwischen Repräsentanten - oder zwischen poli-tischen Parteien - ihre Wahl treffen, so geben sie einem »Pa-ket«, das als ganzes angeboten wird, den Vorzug vor einemanderen. Es geschieht oft, daß sie, um für bestimmte von ih-nen bevorzugte politische Maßnahmen zu stimmen, andereMaßnahmen zusätzlich in Kauf nehmen müssen, von denensie nicht eben begeistert sind. Es kann auch vorkommen,daß Maßnahmen, die die Wähler befürworten, von keinerder großen Parteien angeboten werden. Im Falle desSchwangerschaftsabbruchs in den USA wurde die zentraleEntscheidung nicht von der Mehrzahl der Wähler, sondernvom Obersten Gericht getroffen. Sie kann nicht von einereinfachen Mehrheit der Wähler zu Fall gebracht werden,sondern nur vorn Gerichtshof selbst oder durch ein kompli-ziertes Verfahren zur Verfassungsänderung, das von einerMinderheit der Wählerschaft umgestoßen werden kann.Was aber, wenn eine Mehrheit das Unrecht billigte, das dieMilitanten beenden möchten? Wäre es dann unrecht, ille-gale Mittel einzusetzen? Hier stoßen wir auf die dem demo-kratischen Argument für den Gehorsam zugrunde liegendePhilosophische Forderung, daß Mehrheitsbeschlüsse zuakzeptieren sind.Man sollte das Majoritätsprinzip nicht überbewerten. Keinyernünftiger Demokrat wird behaupten, daß die Mehrheit«irner recht hat. Wenn 49% der Bevölkerung unrecht ha-ken können, so können es auch 51% sein. Mag die Mehrheit"le Ansichten der Animal Liberation Front oder von Ope-ration Rescue unterstützen oder nicht, die Frage, ob dieseAnsichten moralisch vernünftig sind, wird so nicht gelöst.Vielleicht bedeutet die Tatsache, daß diese Gruppen in derMinderheit sind - falls das zutrifft -, daß sie ihre Mittel neu

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überdenken sollten. Hätten sie eine Mehrheit hinter sich,dann könnten sie beanspruchen, ihrerseits nach demokrati-schen Prinzipien zu handeln, wenn sie illegale Mittel benut-zen, um Fehler in der demokratischen Maschinerie zu behe-ben. Ohne diese Mehrheit spricht die demokratische Tradi-tion mit ihrem ganzen Gewicht gegen sie, und sie sind es,die als Despoten erscheinen, die die Mehrheit zu zwingenversuchen, etwas gegen ihren Willen zu akzeptieren. Aberwieviel moralisches Gewicht sollen demokratische Prinzi-pien haben?Thoreau ließ sich, wie zu erwarten, von Mehrheitsbeschlüs-sen nicht beeindrucken. »Alle Wahlen«, schrieb er, »sindeine Art Spiel, wie Dame oder Backgammon, mit einemleichten moralischen Beigeschmack, ein Spiel um Recht oderUnrecht, um moralische Fragen.« In gewissem Sinne hatteThoreau recht. Wenn wir die Lehre, daß die Mehrheit im-mer recht hat, verwerfen - und das müssen wir -, dannheißt moralische Fragen der Abstimmung unterwerfen soviel wie darauf setzen, daß das, was wir für richtig halten,mit mehr Stimmen aus der Wahl hervorgeht als das, was wirfür falsch halten; und das ist ein Glücksspiel, bei dem wiroft verlieren.Dennoch sollten wir auch vom Wählen nicht allzu geringdenken, ebensowenig wie vom Spiel. Cowboys, die sichdarauf einigen, Ehrenhändel durch ein Pokerspiel zu ent-scheiden, handeln besser als andere, die solche Problemeweiterhin nach bewährter Westernmanier lösen. Eine Ge-sellschaft, die ihre Kontroversen mit Wahlkugeln entschei-det, fährt besser als eine, die Gewehrkugeln benutzt. In ge-wisser Hinsicht ist das ein Punkt, dem wir unter dem Stich-wort »Gesetz und Ordnung« schon oft begegnet sind. Erläßt sich auf jede Gesellschaft mit einem etablierten, friedli-chen Schlichtungsverfahren anwenden; aber in einer Demo-kratie besteht da ein feiner Unterschied, der den Ergebnis-sen des Entscheidungsverfahrens zusätzliches Gewicht gibt-Ein Schlichtungsverfahren, in dem niemand letztlich grö-

ßere Macht hat als irgendein anderer, bietet eine Methode,die sich allen als ein fairer Kompromiß zwischen konkurrie-renden Machtansprüchen empfehlen läßt. Jede andere Me-thode muß einigen mehr Macht geben als den anderen, unddamit fordert sie die Opposition derjenigen heraus, die we-niger haben. Dies trifft zumindest für das egalitäre Zeitalterzu, in dem wir leben. In einer feudalen Gesellschaft, in derdie Menschen ihren Herren- oder Vasallenstatus als natür-lich und angemessen anerkennen, bleiben die Feudalherrenunangefochten, und es bedarf keines Kompromisses (ichdenke an ein ideales Feudalsystem, so wie ich an eine idealeDemokratie denke). Diese Zeiten scheinen allerdings fürimmer vorbei zu sein. Der Zusammenbruch der traditio-nellen Autorität hat einen Bedarf für den politischen Kom-promiß erzeugt. Unter den möglichen Kompromissen istallein der für alle akzeptabel, der darin besteht, jedem eineStimme zu geben. In Abwesenheit irgendeines vereinbartenVerfahrens, bei dem eine andere Machtverteilung entschie-den wird, bietet jenes, das jedem eine Stimme gibt, im Prin-zip die sicherste mögliche Grundlage für ein friedliches Ver-fahren, um Streitigkeiten zu schlichten.Die Ablehnung des Mehrheitsprinzips ist daher die Ab-lehnung der bestmöglichen Basis für eine friedliche Ord-nung der Gesellschaft in einem egalitären Zeitalter. Wassollte man denn sonst ins Auge fassen? Etwa Privilegiennach Verdiensten, mit Extrastimmen für die Intelligenteren°der besser Ausgebildeten, wie es John Stuart Mill einstvorschlug? Aber könnten wir uns darauf einigen, wem Ex-trastimmen zukämen? Einem wohlmeinenden Despoten?»iele würden das akzeptieren - falls sie den Despotenwählen könnten. In der Praxis hat das Abweichen vomMehrheitsprinzip wahrscheinlich ein anderes Ergebnis: dieHerrschaft derjenigen, die über die größte Streitmacht ver-fügen.^ornit hat das Mehrheitsprinzip ein substantielles morali-Sches Gewicht. Ungehorsam ist in einer Diktatur wie der im

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nationalsozialistischen Deutschland leichter zu rechtferti-gen als in einer Demokratie nach dem Muster der Vereinig-ten Staaten, Europas, Indiens, Japans oder Australiens vonheute. In einer Demokratie sollten wir es uns lange überle-gen, bevor wir irgend etwas tun, das auf einen Versuch hin-ausläuft, der Mehrheit Zwang anzutun; denn solche Versu-che implizieren die Zurückweisung des Mehrheitsprinzips,und es gibt zu ihm keine akzeptable Alternative. Es kannnatürlich Fälle eines so entsetzlichen Mehrheitsentscheidsgeben, daß Zwang gerechtfertigt ist - auf welche Gefahr hinauch immer. Die Pflicht, einem echten Mehrheitsbeschlußzu gehorchen, ist nicht absolut. Wir erweisen dem Prinzipunseren Respekt nicht durch blinden Gehorsam gegenüberder Mehrheit, sondern dadurch, daß wir uns nur unterextremen Umständen als zum Ungehorsam berechtigt be-trachten.

Ungehorsam, ziviler oder anderer Art

Fassen wir unsere Schlußfolgerungen über den Gebrauchillegaler Mittel für lobenswerte Zwecke zusammen, sokommen wir zu folgenden Resultaten: (1) Es gibt Gründedafür, daß wir normalerweise den Urteilsspruch eines eta-blierten, friedlichen Schlichtungsverfahrens akzeptierensollten; (2) diese Gründe haben besonders dann Gewicht,wenn das Entscheidungsverfahren demokratisch ist und dasUrteil wirklich die Ansicht der Mehrheit repräsentiert; aber(3) es gibt immer noch Situationen, in denen sich der Ge-brauch illegaler Mittel rechtfertigen läßt.Wir haben gesehen, daß es zwei verschiedene Möglichkeitengibt, die Anwendung illegaler Mittel in einer Gesellschaftzu rechtfertigen, die demokratisch ist (wenn auch unvoll-kommen, so wie das für die vorhandenen Demokratienmehr oder weniger zutrifft). Die erste lautet: Die Entschei-dung, der man sich widersetzt, ist kein echter Ausdruck der

l

Meinung der Mehrheit. Die zweite besagt: Obwohl die Ent-scheidung ein echter Ausdruck der Volksmeinung ist, stelltdiese Meinung ein so großes Unrecht dar, daß Handlungengegen die Mehrheit gerechtfertigt sind.Es ist der Ungehorsam aus dem ersten Grund, der am ehe-sten den Namen »ziviler Ungehorsam« verdient. Hier kanndie Anwendung illegaler Mittel als eine Erweiterung derAnwendung legaler Mittel zur Sicherung einer echten de-mokratischen Entscheidung betrachtet werden. Die Erwei-terung kann notwendig sein, weil die normalen Kanäle zurDurchsetzung von Reformen nicht richtig funktionieren.Bei einigen Problemen lassen sich die Parlamentarier allzu-sehr durch geschickt vertretene und gut bezahlte Spezial-interessen beeinflussen. Bei anderen Themen ist sich dieÖffentlichkeit dessen, was vorgeht, nicht bewußt. Vielleichterfordert der Mißbrauch nur administrative und gar keinegesetzlichen Änderungen, und die Verwaltungsbürokratenlehnen es ab, damit behelligt zu werden. Vielleicht werdendie legitimen Interessen einer Minderheit von voreinge-nommenen Beamten mißachtet. In allen diesen Fällen sinddie Formen des zivilen Ungehorsams, wie sie heute allge-mein verbreitet sind - passiver Widerstand, Märsche oderSit-ins -, angebracht. Die Blockade der Straße zu dem ge-planten Franklin-Staudamm war in diesem Sinn ein klassi-scher Fall von zivilem Ungehorsam.in diesen Situationen ist Ungehorsam gegenüber dem Ge-setz nicht ein Versuch, der Mehrheit Zwang anzutun, son-dern die Mehrheit zu informieren; oder die Parlamentarierzu überzeugen, daß eine große Zahl der Wähler in dieser^ache sehr engagiert ist; oder die Aufmerksamkeit landes-^en auf ein Problem zu lenken, das zuvor den BürokratenVerlassen war; oder zur erneuten Prüfung einer zu hastigSetällten Entscheidung aufzurufen. Ziviler Ungehorsam istein geeignetes Mittel zu solchen Zwecken, wenn legale Mit-e' versagt haben, weil er, obwohl illegal, nicht die Mehrheit

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bedroht oder ihr Zwang anzutun versucht (obwohl er übli-cherweise schon ein paar zusätzliche Kosten mit sich bringt,etwa wenn Gesetzesübertretungen geahndet werden). In-dem sie sich der Macht der Gesetze nicht widersetzen, keineGewalt anwenden und die gesetzliche Strafe für ihre Hand-lungen akzeptieren, machen die »ungehorsamen Bürger«den Ernst ihres Protestes und ihren Respekt vor demRechtsstaat und den Grundprinzipien der Demokratieoffenkundig.So verstanden ist der zivile Ungehorsam nicht schwer zurechtfertigen. Die Rechtfertigung muß nicht so stark sein,um sich über die Pflicht, einer demokratischen Entschei-dung zu gehorchen, hinwegzusetzen; denn der Ungehorsamist eher ein Versuch, den demokratischen Entscheidungs-prozeß zu fördern, als ihn zu lahmen. Ungehorsam dieserArt könnte zum Beispiel durch das Ziel gerechtfertigt wer-den, publik zu machen, welch unersetzlicher Verlust an un-berührter Natur durch den Bau eines Staudamms entstehtund wie Tiere in Labors und Tierfabriken behandelt wer-den, die nur wenige je zu Gesicht bekommen.Die Anwendung illegaler Mittel zur Verhütung von Hand-lungen, die unbestreitbar mit der Ansicht der Mehrheitübereinstimmen, ist schwerer, aber nicht unmöglich zurechtfertigen. Wir mögen es für unwahrscheinlich halten,daß eine Politik des Völkermords im Stil der Nazis jemalsvon einem Mehrheitsvotum gebilligt werden könnte, aberwenn es doch geschähe, hieße es den Respekt vor demMehrheitsprinzip ad absurdum treiben, wenn man den Ent-scheid der Mehrheit für sich als verbindlich betrachtenwürde. Um uns Übeln von solcher Größe zu widersetzen,sind wir praktisch zur Anwendung jedes Mittels berechtigt»das Wirkung verspricht.Völkermord ist ein extremes Beispiel. Wenn man einräumt,daß er die Anwendung illegaler Mittel selbst gegen eineMehrheit rechtfertigt, so bedeutet das im Hinblick auf daspraktische politische Handeln sehr wenig. Doch läßt man

Ungehorsam, ziviler oder anderer An 385

auch nur eine Ausnahme hinsichtlich der Pflicht, demokra-tische Beschlüsse zu befolgen, zu, so wirft man weitere Fra-gen auf: Wo ist die Trennlinie zwischen Greueln wie Völ-kermord, bei denen diese Verpflichtung eindeutig zu vernei-nen ist, und weniger schwerwiegenden Fällen, bei denen diePflicht weiter besteht? Und wer soll entscheiden, ob ein Falldiesseits oder jenseits dieser imaginären Linie anzusiedelnist? Gary Leber von Operation Rescue schreibt, daß in denUSA seit 1973 »von uns bereits viermal so viele Menschenvernichtet wurden wie von Hitler«. Ronnie Lee, einer derenglischen Gründer der Animal Liberation Front, verwen-det ebenfalls die Nazi-Metapher im Hinblick auf das, waswir Tieren antun: »Obwohl wir nur eine Spezies untervielen auf der Erde sind, haben wir ein Reich errichtet, dasdie anderen nichtmenschlichen Lebewesen vollständig be-herrscht, ja sie versklavt.« Es ist also nicht überraschend,daß diese Aktivisten ihren Ungehorsam für wohlbegründethalten. Aber haben sie das Recht, diese Entscheidung selbstzu treffen? Wenn nicht, wer soll dann entscheiden, wannein Problem so schwerwiegend ist, daß auch in einer Demo-kratie die Verpflichtung, dem Gesetz zu gehorchen, außerKraft gesetzt werden muß?Die einzige Antwort kann nur lauten: Wir müssen für unsselbst entscheiden, auf welcher Seite der Trennlinie die spe-ziellen Fälle angesiedelt sind. Es gibt keine andere Entschei-dungsmöglichkeit, weil durch die Methode der Gesellschaft,eine Streitfrage zu regeln, die Entscheidung bereits getrof-ten worden ist. Die Mehrheit kann nicht Richter in eigenerSache sein. Wenn wir den Mehrheitsentscheid für falsch hal-ten> dann müssen wir uns selbst darüber klarwerden, wieschwerwiegend falsch er ist."ies bedeutet nicht, daß jede Entscheidung, die wir in sol-chen Fällen treffen, subjektiv oder willkürlich ist. In diesem;°uch habe ich Argumente für die Behandlung verschiedener^nemen geliefert. Wenden wir diese Argumente auf die vierZu Beginn dieses Kapitels skizzierten Fälle an, so ergeben

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sich spezifische Schlußfolgerungen. Die rassistische Politikder Nazis, die zur Ermordung von Juden führte, war offen-kundig eine Ungeheuerlichkeit, und Oskar Schindler warabsolut im Recht, alles zu tun, was er konnte, um wenig-stens einige Juden davor zu bewahren, Opfer dieser Politikzu werden. (Betrachtet man die persönlichen Risiken, die erauf sich nahm, so ist sein Verhalten als heroisch zu bezeich-nen.) Auf der Grundlage der in Kapitel 3 vorgebrachten Ar-gumente waren Gennarellis Affen-Versuche unrecht, weildabei empfindungsfähige Lebewesen als bloße Werkzeugezu Forschungszwecken behandelt wurden. Solche Versuchezu stoppen ist ein wünschenswertes Ziel, und wenn die ein-zige Möglichkeit, es zu erreichen, darin bestand, in Genna-rellis Labor einzubrechen und die Videobänder zu stehlen,dann scheint für mich das Vorgehen gerechtfertigt gewesenzu sein. In ähnlicher Weise - aus Gründen, die in Kapitel 10erörtert wurden - konnte der Vorschlag einer Überflutungdes Franklin-Tales offenbar nur auf Bewertungen beruhen,die sowohl wegen ihrer kurzsichtigen Perspektive als auchwegen ihres Anthropozentrismus nicht zu rechtfertigensind. Ziviler Ungehorsam war ein geeignetes Mittel, um aufdie Bedeutung jener Werte hinzuweisen, die von den Befür-wortern des Staudamms übersehen worden waren.Gleichzeitig haben sich die Argumente, deren sich Opera-tion Rescue bedient, in Kapitel 6 als nicht stichhaltig erwie-sen. Der menschliche Fötus hat nicht denselben Anspruchauf Schutz wie ältere menschliche Wesen, und so sind die,die Abtreibung für moralisch gleichbedeutend mit Mordhalten, im Unrecht. Auf dieser Grundlage ist die Kampagnevon Operation Rescue, gegen Abtreibung zivilen Ungehor-sam zu praktizieren, nicht zu rechtfertigen. Es ist jedochwichtig, sich klarzumachen, daß der Fehler bei OperationRescue in der moralischen Argumentation über Abtrei-bung, nicht in derjenigen über zivilen Ungehorsam liegt'Wäre Abtreibung wirklich moralisch gleichbedeutend mitMord, dann sollten wir durchaus die Türen zu den Klini-

Ungehorsam, ziviler oder anderer Art 387

ken, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, blockie-ren.i cii.All das macht natürlich das Leben schwierig. Es ist unwahr-scheinlich, daß Mitglieder von Operation Rescue durch dieArgumente dieses Buches überzeugt werden. Ihr Beharrenauf der Richtigkeit von Bibelzitaten läßt nicht gerade erwar-ten, daß sie gegenüber moralischer Argumentation aufnicht-religiöser Grundlage aufgeschlossen sind. Deshalb istes auch nicht leicht, sie davon zu überzeugen, daß ihr zivilerUngehorsam nicht gerechtfertigt ist. Wir mögen das bedau-ern, es ist jedoch nicht zu ändern. Es gibt keine einfachemoralische Regel, die uns befähigt zu erklären, wann Unge-horsam gerechtfertigt ist und wann nicht, ohne daß überRecht und Unrecht des Zieles des Ungehorsams entschie-den wird.Wenn wir davon überzeugt sind, daß wir versuchen, einwirklich gravierendes moralisches Unrecht zu unterbinden,haben wir auch noch andere moralische Fragen an uns zurichten. Wir müssen die Größe des Unrechts, dem wir Ein-halt zu gebieten versuchen, gegen die Möglichkeit eines dra-stischen Niedergangs der Achtung vor Gesetz und Demo-kratie abwägen. Auch ist die Wahrscheinlichkeit zu berück-sichtigen, daß unsere Handlungen ihr Ziel verfehlen undeine Reaktion provozieren, die die Chance auf einen Erfolg^it anderen Mitteln verringert. (Terroristische Anschlägegegen ein tyrannisches Regime zum Beispiel liefern der Re-gierung einen idealen Vorwand, um ihre gemäßigteren poli-tischen Gegner einzusperren; gewaltsame Angriffe gegenExperimentatoren ermöglichen dem Forschungs-Establish-Jttent, alle Kritiker von Tierversuchen als Terroristen zubrandmarken.)ein Ergebnis des konsequentialistischen Ansatzes bei die-sem Problem, das auf den ersten Blick befremden mag, ist*°'gendes: Je tiefer die Haltung des Gehorsams gegenüberDemokratischen Regeln bei den Bürgern verwurzelt ist, de-sto eher läßt sich Ungehorsam vertreten. Es liegt hier aller-

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dings kein Paradox vor, sondern vielmehr ein weiteres Bei-spiel für die Binsenwahrheit, daß man zarte Pflänzchen be-sonders pflegen muß, während ausgewachsene Bäume einehärtere Behandlung vertragen. So könnte sich Ungehorsamangesichts eines gegebenen Problems zwar in Großbritan-nien oder m den Vereinigten Staaten rechtfertigen lassen,nicht jedoch in Kambodscha oder in Rußland zu einer Zeit,in der diese Länder ein demokratisches Regierungssystemzu etablieren versuchen.Diese Probleme können nicht allgemein abgehandelt wer-den. Jeder Fall ist anders. Wenn die zu behebenden Übelweder besonders grauenhaft (wie Völkermord) noch relativharmlos (wie der Entwurf einer neuen Nationalflagge) sind,so werden bei vernünftigen Menschen die Meinungen überdie Rechtmäßigkeit des Versuchs, die Ausführung einer de-mokratisch gewonnenen Entscheidung zu durchkreuzen,auseinandergehen. Wo illegale Mittel in dieser Absicht an-gewendet werden, wird ein wichtiger Schritt getan; denndann hört Ungehorsam auf, »ziviler Ungehorsam« zu sein,wenn mit diesem Begriff gemeint ist, daß Ungehorsamdurch einen Appell an die Prinzipien gerechtfertigt wird,die die Gesellschaft selbst als den ordnungsgemäßen Wegzur Regelung ihrer Angelegenheiten akzeptiert. Es mag da-bei immer noch das beste sein, wenn ein solcher Ungehor-sam »zivil« in dem anderen Sinne des Wortes ist, nämlichgegensätzlich zu Gewaltanwendung oder Methoden desTerrorismus.

Gewalt

Wie wir gesehen haben, läßt sich der zivile Ungehorsam,beabsichtigt als ein Mittel, öffentliche Aufmerksamkeit zuerregen oder die Mehrheit zu einer erneuten Überprüfungzu veranlassen, viel leichter rechtfertigen als ein Ungehor-sam, der der Mehrheit Zwang anzutun beabsichtigt. Gewaltist offensichtlich noch schwerer zu rechtfertigen. Einige be-

Ungehorsam, ziviler oder anderer Art 389

haupten sogar, daß sich die Anwendung von Gewalt, insbe-sondere Gewalt gegen Menschen, niemals rechtfertigenlasse, wie gut auch immer der Zweck sein möge.Opposition gegen die Anwendung von Gewalt kann auf ei-ner absoluten Regel beruhen oder auf einer Einschätzungihrer Konsequenzen. Pazifisten betrachten Gewaltanwen-dung gewöhnlich als absolut unrecht, ungeachtet ihrer Kon-sequenzen. Dies setzt, wie andere »Egal-was«-Verbote, dieGültigkeit der Unterscheidung zwischen Handlungen undUnterlassungen voraus. Ohne diese Unterscheidung wärenPazifisten, die sich weigern, Gewalt anzuwenden, wenn esdas einzige Mittel ist, um größere Gewalt zu verhüten, ver-antwortlich für die größere Gewalt, die zu verhüten sie un-terlassen.Angenommen, wir haben die Gelegenheit, einen Tyrannenumzubringen, der systematisch seine Gegner und jeden, derihm nicht behagt, ermordet. Wir wissen, daß der Tyrann,wenn er stirbt, durch einen populären Oppositionsführer,gegenwärtig noch im Exil, ersetzt wird, der den Rechtsstaatwiederherstellen wird. Wenn wir sagen, Gewalt sei immerunrecht, und uns weigern, das Attentat auszuführen, müs-sen wir dann nicht eine gewisse Verantwortung für diekünftigen Morde des Tyrannen übernehmen?wenn der Einwand gegen die Unterscheidung von Tun undUnterlassen aus Kapitel 7 gilt, dann müssen diejenigen, dieKeine Gewalt anwenden, um größere Gewalt zu verhüten,die Verantwortung für die Gewalt übernehmen, die siehätten verhindern können. Die Ablehnung der Unter-scheidung zwischen Tun und Unterlassen markiert dem-nach einen entscheidenden Punkt in der Gewaltdiskussion,denn sie öffnet das Tor für ein plausibles Argument für dieVerteidigung der Gewalt.*lancisten haben dieses Argument oft gebraucht, um Attak-

n 8egen ihre Lehre von der Notwendigkeit einer ge-^altsamen Revolution zu entkräften. In seiner klassischenAnklageschrift gegen die sozialen Auswirkungen des Kapi-

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talismus im 19. Jahrhundert, Die Lage der arbeitendenKlasse in England, schrieb Engels:

»Wenn ein einzelner einem anderen körperlichen Schadentut, und zwar solchen Schaden, der dem Beschädigten denTod zuzieht, so nennen wir das Totschlag; wenn der Tä-ter im voraus wußte, daß der Schaden tödlich sein würde,so nennen wir seine Tat einen Mord. Wenn aber die Ge-sellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lageversetzt, daß sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürli-chen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsamist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel; wenn sieTausenden die nötigen Lebensbedingungen entzieht, siein Verhältnisse stellt, in welchen sie nicht leben können;wenn sie sie durch den starken Arm des Gesetzes zwingt,in diesen Verhältnissen zu bleiben, bis der Tod eintritt,der die Folge dieser Verhältnisse sein muß; wenn sieweiß, nur zu gut weiß, daß diese Tausende solchen Bedin-gungen zum Opfer fallen müssen, und doch diese Bedin-gungen bestehen läßt - so ist das ebensosehr Mord wiedie Tat des einzelnen, nur versteckter, heimtückischerMord, ein Mord, gegen den sich niemand wehren kann,der kein Mord zu sein scheint, weil man den Mördernicht sieht, weil alle und doch wieder niemand dieserMörder ist, weil der Tod des Schlachtopfers wie ein na-türlicher aussieht und weil er weniger eine Begehungs-sünde als eine Unterlassungssünde ist. Aber er bleibtMord.«

Man könnte Engels' Verwendung des Begriffs »Mord« kri-tisieren. Der Einwand würde dem Argument gleichen, daswir in Kapitel 8 diskutiert haben, ob nämlich die Unterlas-sung, den Verhungernden zu helfen, uns zu Mördernmacht. Wir haben gesehen, daß die Unterscheidung zwi-schen Tun und Unterlassen keine Bedeutung an sich hat;aber hinsichtlich der Motivation und der Angemessenheitdes Tadels sind die meisten Fälle, in denen unterlassen wird)

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Tod zu verhüten, nicht mit Mord gleichbedeutend. Das-selbe gilt auch für die Fälle, die Engels beschreibt. Engelsversucht, der »Gesellschaft« die Schuld in die Schuhe zuschieben, aber »Gesellschaft« ist keine Person oder einmoralisch Handelnder und kann nicht in derselben Weiseverantwortlich gemacht werden wie ein Individuum.Doch das ist Wortklauberei. Ob »Mord« der richtige Aus-druck ist oder nicht, ob wir bereit sind, den Tod schlechternährter Arbeiter in ungesunden, schlecht gesicherten Fa-briken als »gewaltsam« zu beschreiben oder nicht, Engels'grundlegender Punkt wird davon nicht berührt. Dieservielfache Tod ist ein Unrecht in derselben Größenordnungwie der Tod Hunderter von Menschen bei einem terroristi-schen Bombenanschlag. Es wäre einseitig zu sagen, gewalt-same Revolutionen seien immer absolut unrecht, ohne dieÜbel in Betracht zu ziehen, die die Revolutionäre zu ver-hindern versuchen. Wären gewaltsame Mittel der einzigeWeg, Verhältnisse wie die von Engels beschriebenen zu än-dern, so wären diejenigen, die sich gegen die Anwendunggewaltsamer Mittel wehren, verantwortlich für das Fort-bestehen dieser Verhältnisse.Einige der Praktiken, die wir in diesem Buch erörtert ha-ben, sind gewaltsam, entweder direkt oder durch Unterlas-sung. Im Falle von nichtmenschlichen Lebewesen kann un-sere Handlungsweise oft nur als gewaltsam bezeichnet wer-den. Wer den Fötus für ein moralisches Subjekt hält, wirdoffensichtlich Abtreibung als einen gewaltsamen Akt gegendieses Subjekt betrachten. Wie aber steht es - im Falle vonMenschen bei oder nach der Geburt - mit der vermeidbarenSituation, daß einige Länder eine achtmal höhere Säuglings-sterblichkeit als andere haben und daß eine Person, die indem einen Land geboren ist, erwarten kann, 20 Jahre längerfu leben als jemand, der in einem anderen Land geborenlst? Ist das Gewalt? Wiederum tut die Bezeichnung nichts*ur Sache. Was die Wirkung anlangt, ist es genauso schreck-llch wie Gewalt.

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Eine absolute Verurteilung der Gewalt steht und fällt mitder Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen. Darumfällt sie. Es gibt allerdings gewichtige konsequentialistischeEinwände gegen die Anwendung von Gewalt. Wir habenfür unsere Diskussion vorausgesetzt, daß Gewalt das ein-zige Mittel wäre, die Verhältnisse zum Besseren zu wenden.Absolutisten haben kein Interesse daran, diese Vorausset-zung zu bestreiten, weil sie Gewalt verwerfen, ganz gleichob die Voraussetzung wahr oder falsch ist. Konsequentiali-sten müssen fragen, ob Gewalt jemals das einzige Mittel zurErreichung eines wichtigen Ziels sein kann, oder wenn nichtdas einzige, so doch das schnellste Mittel. Sie müssen auchnach den langfristigen Wirkungen fragen, wenn Änderun-gen mit gewaltsamen Mitteln angestrebt werden.Könnte man aus konsequentialistischen Gründen eine Ver-urteilung der Gewalt vertreten, die, wenn nicht im Prinzip,so doch in der Praxis ebenso umfassend ist wie die der abso-luten Pazifisten? Man kann das versuchen, indem man denVerhärtungseffekt der Gewaltanwendung hervorhebt, nachdem ein Mord, ganz gleich wie »notwendig« oder »gerecht-fertigt« er scheinen mag, den Widerstand gegen das Verübenweiterer Morde verringert. Ist es wahrscheinlich, daß Men-schen, die sich an Gewalttätigkeit gewöhnt haben, fähig seinwerden, eine bessere Gesellschaft zu schaffen? Das ist eineFrage, für die historische Zeugnisse bedeutsam werden. DerWeg, den die russische Revolution genommen hat, muß denGlauben erschüttern, daß ein brennender Wunsch nach so-zialer Gerechtigkeit gegen die korrumpierenden Wirkungender Gewalt immun macht. Es gibt zugegebenermaßen an-dere Beispiele, die sich umgekehrt lesen lassen, aber es be-dürfte einer beträchtlichen Anzahl von Beispielen, um dasVermächtnis Lenins und Stalins aufzuwiegen.Die konsequentialistischen Pazifisten können ein weiteresArgument verwenden - jenes Argument, das ich bereits ge"gen den Vorschlag vorgebracht habe, wir sollten nichts ge'gen das Verhungern unternehmen, damit sich die Bevölke-

Ungeborsam, ziviler oder anderer Art 393

rung der ärmsten Nationen so weit reduziert, daß sie sichselbst ernähren kann. Ebenso wie diese Art von Politiknimmt die Gewalt gewisse Verluste unter Berufung aufkünftige Vorteile als gerechtfertigt in Kauf. Aber die künfti-gen Vorteile sind niemals gewiß, und selbst in den wenigenFällen, wo Gewalt zu wünschenswerten Zielen führt, kön-nen wir nur selten sicher sein, ob die Ziele nicht ebensoschnell durch gewaltlose Mittel hätten erreicht werden kön-nen. Was wurde zum Beispiel durch die Tausende von To-ten und Verletzten erreicht, die in zehn Jahren durch IRA-Bombenanschläge in Nordirland verursacht wurden? NurGegenterror durch protestantische Extremisten. Oder mandenke an den sinnlosen Tod und das Leid, das die Baader-Meinhof-Gruppe in Deutschland oder die Roten Brigadenin Italien verursachten. Was hat die palästinensische Befrei-ungsorganisation anderes erreicht als ein Israel, das kom-promißloser und skrupelloser ist als das Israel, gegen das sieeinst zu kämpfen begann? Man mag mit den Zielen sympa-thisieren, für die manche dieser Gruppen kämpfen, aber dieMittel, derer sie sich bedienen, versprechen nicht den Siegihrer Ziele. Die Anwendung dieser Mittel zeigt, daß denBetreffenden die Interessen ihrer Opfer völlig gleichgültigsind. Diese konsequentialistischen Gründe ergeben zusam-mengenommen ein schlüssiges Argument gegen das Mittelder Gewaltanwendung, besonders wenn sich die Gewalt,

•.̂ vie beim Terrorismus oft der Fall, unterschiedslos gegennormale Bürger des Gemeinwesens richtet. Praktisch gese-hen scheint sich diese Art von Gewalt überhaupt niemalsrechtfertigen zu lassen.ES gibt dagegen andere Arten von Gewalt, die sich nicht so

/Überzeugend ausschließen lassen, wie etwa der Mordan-»chlag auf einen mordgierigen Tyrannen. Vorausgesetzt, dieMörderische Politik ist Ausdruck der Persönlichkeit des Ty-rannen und nicht Bestandteil der Institutionen, denen er ge-mietet, so ist die Gewalt hier streng begrenzt; der Zweck istdie Beendigung weit größerer Gewalt; der Erfolg einer ein-

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zelnen gewaltsamen Handlung dürfte sehr wahrscheinlichsein, und es gibt möglicherweise keinen anderen Weg, umder Herrschaft des Tyrannen ein Ende zu setzen. Für einenKonsequentialisten wäre es unplausibel zu behaupten, daßauch unter diesen Umständen die Ausübung von Gewalteinen korrumpierenden Effekt habe oder daß aus dempolitischen Mord mehr Gewalt anstatt weniger erwachsenwerde.Gewalt kann auf andere Weise begrenzt werden. Die Fälle,die wir erörtert haben, zeigen Gewalt gegen Menschen. Essind die üblichen Beispiele, die einem in Diskussionen überGewalt in den Sinn kommen, aber es gibt auch noch andereArten von Gewalt. Mitglieder der Animal Liberation Fronthaben Labors, Käfige und andere Ausrüstungsgegenständezerstört, mit denen Tiere eingesperrt, verletzt oder getötetwurden, aber sie vermeiden Gewalt gegen jedes Lebewesen,sei es menschlich oder nichtmenschlich. (Andere Organisa-tionen, die ebenfalls behaupten, sich, für Tiere einzusetzen,haben jedoch zumindest zwei Menschen bei Explosionengetötet. Diese Aktionen sind von allen bekannten Tierbe-freiungsorganisationen, einschließlich der Animal Libe-ration Front, verurteilt worden.) Earth First!, eine radikaleamerikanische Umweltorganisation, tritt für »Öko[sabo]-tage« ein - geheime Anschläge, um für die Umwelt schäd-liche Vorgänge zu stoppen oder zu verlangsamen. In demvon Dave Foreman und Bill Haywood herausgegebenenBuch Ecodefence: A Field Guide to Monkeywrenching wer-den Methoden zur Abschaltung von Computern, Zer-Störung von Maschinen und Blockierung von Kanalisa-tionssystemen beschrieben:

»Sabotage ist ein gewaltloser Widerstand gegen die Zer-störung der Vielfalt und Unberührtheit der Natur. Siezielt nicht auf die Schädigung menschlicher Wesen oderanderer Lebensformen. Sie zielt auf leblose Maschinenund Apparate, f . . . ] Saboteure sind sich der Bedeutung

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ihres Tuns sehr wohl bewußt. Sie unternehmen einenso schwerwiegenden Schritt nach reiflicher Überle-gung. [...] Sie wissen darum, daß sie mit der moralisch-sten aller Handlungen befaßt sind: dem Schutz desLebens, der Verteidigung der Erde.«

Eine umstrittenere Methode besteht darin, in Wäldern, dieabgeholzt werden sollen, bei einigen Bäumen Eisennägeleinzuschlagen, was das Sägen des Holzes sehr gefährlichmacht. Die Arbeiter im Sägewerk wissen niemals, ob siebeim Sägen auf einen solchen Nagel treffen, was zur Folgehätte, daß das Sägeblatt in Stücke bricht und die scharfenEisensplitter in der Gegend herumfliegen. Öko-Aktivisten,die dieses »Spiking« propagieren, sagen, sie unterrichtetendie Holzverarbeitungsbetriebe davon, daß Bäume in einembestimmten Gebiet derart »behandelt« sind; sollten dieWälder dennoch weiter abgeholzt werden, so seien die Be-triebsleiter, die die Entscheidung treffen, für mögliche Ver-letzungen verantwortlich. Aber es sind die Arbeiter, die ver-letzt werden, nicht die Betriebsleiter. Können die Aktivistenwirklich ihre Verantwortung in dieser Weise abschütteln?Weniger radikale Umweltschützer lehnen solche Methodenab.Beschädigung von fremdem Eigentum ist keine so schwer-wiegende Angelegenheit wie Verletzen oder Töten, und sie"wg daher durch Gründe gerechtfertigt sein, die nichtsrechtfertigen würden, was empfindungsfähigen Wesen scha-det. Dies bedeutet nicht, daß Gewalt gegen Eigentum nichternst zu nehmen wäre. Eigentum bedeutet einigen Men-schen sehr viel, und es bedürfte gewichtiger Gründe, umseine Zerstörung zu rechtfertigen. Aber solche Gründesann es geben. Diese Rechtfertigung muß durchaus nichtetwas so Epochemachendes wie die Umgestaltung der Ge-sellschaft sein. Es kann - wie im Fall des Übergriffs auf^ennarellis Labor - das spezifische und kurzfristige ZielSein, eine Anzahl von Tieren vor schmerzhaften Experi-

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menten zu bewahren, die lediglich aus Gründen der spezie-sistischen Voreingenommenheit der Gesellschaft durchge-führt werden. Ob sich eine solche Handlung vom konse-quentialistischen Standpunkt aus wirklich rechtfertigenließe, hängt wiederum von den Einzelheiten der betreffen-den Situation ab. Wer keine Fachkenntnisse hat, kann sichin der Frage, welchen Wert ein Experiment hat oder mitwieviel Leiden es verbunden ist, leicht irren. Und wird dieZerstörung von Forschungseinrichtungen und die Befrei-ung vieler Tiere nicht zur Folge haben, daß mehr Einrich-tungen angeschafft und mehr Tiere gezüchtet werden? Wasgeschieht mit den freigelassenen Tieren? Werden illegaleHandlungen dazu führen, daß die Regierung Schritten zurReformierung des Gesetzes über Tierversuche mit dem Ar-gument begegnet, es dürfe nicht der Anschein geweckt wer-den, sie ließe Gewalt zu? All diese Fragen müßten befriedi-gend beantwortet werden, bevor man sich etwa entschlösse,ein Labor zu zerstören. Ein entsprechender Komplex vonFragen muß auch beantwortet werden, bevor man rechtfer-tigen kann, daß ein Raupenfahrzeug beschädigt wird, daszur Abholzung eines alten Waldes eingesetzt wird.Gewalt läßt sich nicht leicht rechtfertigen, selbst wenn essich nur um Gewalt gegen Eigentum handelt und nicht ge-gen empfindungsfähige Wesen oder um Gewalt gegen einenTyrannen und nicht um unterschiedslose Gewalt gegen dieallgemeine Öffentlichkeit. Dennoch sind die Unterschiedezwischen den verschiedenen Arten von Gewalt wichtig,weil wir die eine Art von Gewalt - etwa den Terrorismus -nur dann praktisch absolut verurteilen können, wenn wirdiese Unterschiede beachten. Die Unterschiede werden je-doch verwischt, wenn man alles verurteilt, was unter die all-gemeine Überschrift »Gewalt« fällt.

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Warum moralisch handeln?

Bisher haben wir in diesem Buch erörtert, wie wir in ver-schiedenen praktischen Angelegenheiten moralisch handelnsollten und welcher Mittel wir uns zur Erlangung unsererethischen Ziele bedienen dürfen. Die Art unserer Schluß-folgerungen - die Anforderungen, die sich daraus für unsergeben - wirft eine weitere, viel grundlegendere Frage auf:Warum sollen wir überhaupt moralisch handeln?Nehmen wir etwa unsere Schlußfolgerungen hinsichtlich derVerwendung von Tieren zu Nahrungszwecken oder derHilfe, die die Reichen den Armen gewähren sollten. EinigeLeser mögen diese Schlüsse akzeptieren, Vegetarier werdenund alles tun, was ihnen möglich ist, um die absolute Armutzu verringern. Andere werden unsere Schlüsse ablehnen, in-dem sie behaupten, daß es kein Unrecht sei, Tiere zu essen,und daß sie keine moralische Verpflichtung hätten, etwas fürdie Verringerung der absoluten Armut zu tun. Es gibt jedochwahrscheinlich auch eine dritte Gruppe. Zu ihr gehören jeneLeser, die zwar an unseren ethischen Argumenten nichts aus-zusetzen haben, an ihrer Ernährung oder ihren Beiträgen zurEntwicklungshilfe jedoch nichts ändern. Einige aus dieserdritten Gruppe sind wahrscheinlich einfach willensschwach,aber andere erwarten möglicherweise noch eine Antwortauf eine weitere praktische Frage. Wenn die Schlußfolgerun-gen der Ethik so viel von uns verlangen, sollen wir uns dann,so mögen sie fragen, überhaupt um Ethik kümmern?

Die Frage verstehen

»Warum soll ich moralisch handeln?« ist eine Frage, die vonallen bisher besprochenen verschieden ist. Bei Fragen wie:»Warum soll ich Menschen verschiedener Rassen gleich be-