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1190 | ALTENPFLEGE Autor: Dr. Sven Lind Die Schwester Der Pfleger 49. Jahrg. 12|10 Demenzpflege Pflegen und Beruhigen ergänzen sich Gepflegt werden – für Demenzkranke oft purer Stress. Handlungen wie Waschen, Kleiden oder Trinken drängen auf Personen ein, die dieses Geschehen geistig oft gar nicht mehr angemessen erfassen können. Die Folge: Überforderung, Frustration und Unsicherheit auf beiden Seiten. Ziel der Demenzpflege ist es daher, Stress in der Pflegesituation gezielt abzubauen. Doppelstrategien sind hier ein hilfreicher Ansatz. B ei der Pflege von Menschen mit Demenz kommt es häu- fig zu Verweigerungssitu- ationen seitens der Bewohner oder Patienten. Eine Erhebung in Pflegeheimen hat gezeigt, dass bei über einem Drittel der Demenzkranken Probleme in der Zusammenarbeit mit den Pflegenden auftreten (Schäufele et al. 2008). Die Gründe für das Entstehen von Pflegeverweige- rungen sind vielfältig (Lind 2007): fehlende Krankheitsein- sicht, Scham, Furcht und Un- sicherheit, Frustration, Überfor- derung, Persönlichkeitsaspekte, lebensgeschichtlich bedingte Verhaltensweisen und Milieu bezogene Faktoren. Oft ist die Pflegeverweigerung mit verbalen und tätlichen Ag- gressionen den Pflegenden ge- genüber verbunden, die sehr be- lastend für alle Betroffenen sind. Demenzpflege erfordert Doppelstrategie Da pflegerische Maßnahmen von Demenzkranken oft als belas- tend und beängstigend empfun- den werden, ist es erforderlich, Stress im Pflegegeschehen für den Bewohner abzubauen. An- dernfalls wären diese Pflege- situationen aufgrund des hohen Belastungsgrads sowohl für die Betroffenen als auch für die Pflegenden kaum zu verantwor- ten. Die Demenzpflege besteht im konkreten Handeln aus zwei Dimensionen: dem Pflegen als Tätigkeit (die körperliche Ebe- ne) und dem Beruhigen und Ab- lenken (die psychische Ebene). Da hier zwei verschiedene Vor- gänge untrennbar miteinander verbunden sind, wird dies als Doppelstrategie bezeichnet. Pfle- gen und Beruhigen ergänzen sich, sie bilden eine Einheit. Im Umkehrschluss bedeutet das auch, dass eine Pflegehandlung ohne Beruhigungs- und Ablen- kungsstrategien keine angemes- sene Demenzpflege sein kann. Die Doppelstrategie umfasst ein weites Spektrum an Vorgehens- weisen. Ihnen gemeinsam ist, die Aufmerksamkeit des Demenz- kranken zu binden oder zu fes- seln. So kann er abgelenkt und die Belastung bei der Pflege re- duziert werden. Grob lassen sich die Ablenkungs- strategien in mehrere Funk- tionsweisen unterscheiden. Sie werden überwiegend intuitiv eingesetzt und ergänzen sich gegenseitig. Foto: Dr. L. Tükör

Pflegen und Beruhigen ergänzen sich - Sven Lind€¦ · Die Schwester Der Pfleger 49. Jahrg. 12|10 Buchtipp Demenzkranke Menschen erfah-rungsbezogen pflegen lernen. Das neue Buch

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1190 | ALTENPFLEGE Autor: Dr. Sven Lind

Die Schwester Der Pfleger 49. Jahrg. 12|10

Demenzpflege

Pflegen und Beruhigen ergänzen sich

Gepflegt werden – für Demenzkranke oft purer Stress. Handlungen wieWaschen, Kleiden oder Trinken drängen auf Personen ein, die diesesGeschehen geistig oft gar nicht mehr angemessen erfassen können. Die Folge:Überforderung, Frustration und Unsicherheit auf beiden Seiten. Ziel derDemenzpflege ist es daher, Stress in der Pflegesituation gezielt abzubauen.Doppelstrategien sind hier ein hilfreicher Ansatz.

Bei der Pflege von Menschenmit Demenz kommt es häu-fig zu Verweigerungssitu -

ationen seitens der Bewohneroder Patienten. Eine Erhebungin Pflegeheimen hat gezeigt,dass bei über einem Drittel derDemenzkranken Probleme inder Zusammenarbeit mit denPflegenden auftreten (Schäufeleet al. 2008). Die Gründe für dasEntstehen von Pflegeverweige -rungen sind vielfältig (Lind2007): fehlende Krankheitsein -sicht, Scham, Furcht und Un -sicherheit, Frustration, Überfor-

derung, Persönlichkeitsaspekte,lebensgeschichtlich bedingteVerhaltensweisen und Milieubezogene Faktoren. Oft ist die Pflegeverweigerungmit verbalen und tätlichen Ag -gressionen den Pflegenden ge -genüber verbunden, die sehr be -lastend für alle Betroffenen sind.

Demenzpflege erfordert

Doppelstrategie

Da pflegerische Maßnahmen vonDemenzkranken oft als belas -tend und beängstigend empfun-

den werden, ist es erforderlich,Stress im Pflegegeschehen fürden Bewohner abzubauen. An -dernfalls wären diese Pflege -situationen aufgrund des hohenBelastungsgrads sowohl für dieBetroffenen als auch für diePflegenden kaum zu verantwor-ten.Die Demenzpflege besteht imkonkreten Handeln aus zweiDimensionen: dem Pflegen alsTätigkeit (die körperliche Ebe -ne) und dem Beruhigen und Ab -lenken (die psychische Ebene). Da hier zwei verschiedene Vor -gänge untrennbar miteinanderverbunden sind, wird dies alsDoppelstrategie bezeichnet. Pfle -gen und Beruhigen ergänzensich, sie bilden eine Einheit. ImUmkehrschluss bedeutet dasauch, dass eine Pflegehandlungohne Beruhigungs- und Ablen -kungsstrategien keine angemes-sene Demenzpflege sein kann.Die Doppelstrategie umfasst einweites Spektrum an Vorgehens -weisen. Ihnen gemeinsam ist, dieAufmerksamkeit des Demenz -kranken zu binden oder zu fes-seln. So kann er abgelenkt unddie Belastung bei der Pflege re -duziert werden. Grob lassen sich die Ablen kungs -strategien in mehrere Funk -tionsweisen unterscheiden. Siewerden überwiegend intuitiveingesetzt und ergänzen sichgegenseitig.

Foto: Dr. L. Tükör

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Die Schwester Der Pfleger 49. Jahrg. 12|10

Bestärkungsstrategien Die Bewohner werden für jedeeigene Mithilfe bei der Pflegegelobt. Auch werden Kompli -mente gemacht (Sachweh 2000).Die vielen wiederholten positi-ven Aussagen führen bei denAngesprochenen zu mehr Selbst -sicherheit und Selbstvertrauen –Empfindungen, die dazu beitra-gen, die Motivation und Mit -wirkungsbereitschaft des Be -woh ners zu steigern. Durch die ständigen Bestär -kungen wird von den einge-schränkten Kompetenzen derDemenzkranken abgelenkt. DenBetroffenen wird durch das Lobsomit nicht der zunehmendeVerlust ihrer Handlungsfähig -keit bewusst.

BeruhigungsstrategienDoppelstrategien zur Beruhi -gung bei der Pflege zeigen über-wiegend Züge eines mütter-lichen Umgangs mit den Betrof -fenen. Die Pflegenden schlüpfenhierbei unbewusst regelrecht indie Rolle einer Mutter, indem siezum Beispiel in die Ammen -sprache (eine Oktave höher) ver-fallen, flüstern und auch besänf-tigende Koseworte verwenden.Zugleich wird auch ein beruhi-gender Körperkontakt in Formvon Streicheln, Kitzeln undherzlichen Umarmungen ange-wendet. Auf der anderen Seitelassen Pflegende zu, dass sieauch von den Demenzkrankengestreichelt und manchmal auchgeküsst werden (Sachweh 2000;Lind 2011).

Es werden auch gezielt biografi-sche Elemente zur Beruhigungverwendet. Wird ein Bewohnerwährend der Pflege zunehmendunruhig und aggressiv, kann diePflegekraft beispielsweise dasLieblingslied des Betroffenenanstimmen. Demenzkranke rea-gieren darauf häufig positiv undwerden ruhiger und umgängli-cher (Lind 2007).Empfindungen der Geborgen -heit und des Schutzes bindenhierbei die Aufmerksamkeit undlassen zugleich die Furcht undUnsicherheit vor der Pflege ver-blassen.

UniverselleAblenkungsstrategienAblenkungsstrategien werdenangewendet, um gänzlich vonder Pflege mit ihrem Belas -tungspotenzial abzulenken. Meistgeschieht dies, wenn die Pflegefast vollständig von den Pfle -gen den praktiziert wird und eineMitwirkung der Demenzkran -ken kaum oder gar nicht mehrmöglich ist.

Universell werden diese Formender Ablenkung genannt, da essich hierbei um angeborene Ver -haltensmuster handelt, die vonallen Menschen unabhängig vonKultur und Sozialstatus im all-täglichen Leben intuitiv prakti-ziert werden.Strategien wie intensives Redenüber alltägliche Dinge, Singen(gemeinsam oder seitens derPflegekraft) und Scherzen habensich unter anderem in der Praxisals Ablenkung bewährt.

DemenzspezifischeAblenkungsstrategienEs werden auch Strategien zurBeruhigung und Ablenkung an -gewendet, die auf das Verar -beitungs- und Beeinflussungs -vermögen der Demenzkrankenausgerichtet sind. Biografische Daten des Bewoh -ners können gezielt genutzt undaktiviert werden: Die Demenz -kranken werden bei der sie sehrbelastenden Pflege durch einGespräch über bedeutsame, meistberufsbezogene Inhalte ihresLebens von der Pflege abge-lenkt. Während die Demenz -kranken freudig über ihr beruf-liches Leben („die Hutmache -rin“ oder „die Hebamme“) be -richten, werden sie parallel dazugepflegt, ohne dass sie dies zubemerken scheinen (Lind 2007).Demenzkranke haben manch-mal bei der Pflege optischeHalluzinationen, die sie denPflegenden mitteilen. Die Stra -tegie besteht hier im „Mitgehen“

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und „Mitmachen“. So kann esvorkommen, dass bei der Pflegeimaginäre Hühner oder Katzengefüttert werden. Oder dassPflegende während der Pflegeüber „Abgründe“ im Bodenhüpfen oder das „Wasser“ an derWand abtrocknen (Lind 2011).Die Demenzpflege ist also imWesentlichen eine Verflechtungaus Pflegen, Ablenken und Be -ruhigen. Sie wird überwiegendin der mittelschweren Phase derDemenz angewendet, da diesesStadium aufgrund hirnpatholo-gischer Abbauprozesse nebendem Verlust höherer Denkleis -tungen durch vielfältige Rea -litätsverzerrungen und Furcht -impulse gekennzeichnet ist.

Die Pflege von Menschen mitDemenz umfasst auf der Grund -lage des Kompensationsansatzesdaher neben den Doppelstra -tegien auch folgende Umgangs-und Beeinflussungsformen, dieebenfalls überwiegend intuitivpraktiziert werden:

Das Drei-Stufen-Modell Bei diesem Modell sind dieAblenkungs- und Beruhigungs -strategien strikt an dem jewei-ligen Belastungs- und Stress -niveau der Demenzkranken aus-gerichtet. Während bei einemniedrigen Stressniveau meistverbale Beruhigungsstrategienausreichen, kommen bei einemerhöhten Belastungsniveau zu -sätzlich Gegenstände und Ver -änderungen des Ortes und derTätigkeit zum Einsatz. Bei le -bensbedrohlichem Stress auf-grund von wahnhaften Hallu -zinationen werden Strategiendes „Mitgehens“ und „Mitma -chens“ angewendet (Lind 2011).

Biografisch orientierteScheinweltgestaltungStrategien einer biografisch ori-entierten Scheinweltgestaltungzielen auf die Aktivierung derim Langzeitgedächtnis gespei-cherten lebensgeschichtlich be -deutsamen Wahrnehmungs- undHandlungskompetenzen. Diesgeschieht unter anderem durchUmgangsformen bei der Pflegeund Betreuung, Beschäftigungs -angebote und die Verwendungverschiedener Gegenstände mitbiografischem Hintergrund (zumBeispiel Puppen und Kuschel -tiere). Durch diese Reizgefügeentwickeln die DemenzkrankenEmpfindungen von Geborgen -heit, Schutz und Wohlbefinden(Lind 2011).

Mitarbeiter ist Kernelement

der Demenzpflege

Demenzspezifische Anpassungs-und Kompensationsstrategienkönnen in den Heimen nur danngelingen, wenn die Arbeitsweltder Pflege strikt auf Stress -minderung und Verhaltens -sicher heit der Mitarbeiter aus-gerichtet ist. Faktoren wie Zeit -ressourcen, Selbstständig keitund Handlungssicherheit sindunabkömmlich für die konkreteRealisierung demenzspezifischerUmgangsformen.

Die beschriebenen Modelle derDemenzpflege setzen also eingeringes Ausmaß an Belastun genim Arbeitsalltag der Pflegen denvoraus. Andernfalls können dieangeborenen Fähigkeiten zurEmpathie, Sensibilität und In -tui tion nicht wirksam werden. Eine Perspektive in der De -menz pflege wird darin bestehen,die Rahmenbedingungen der Ar -beitswelt der Pflegenden kom -patibel zu den Anforderungender Lebenswelt der Demenz -kran ken zu gestalten.

Literatur beim Verfasser.

Anschrift des Verfassers:

Dr. phil. Sven Lind, PsychologeGerontologische BeratungZwirnerweg 9, 42781 HaanE-Mail: [email protected]

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Die Schwester Der Pfleger 49. Jahrg. 12|10

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