20
1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland Oliver Schöffski Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement 1.1 Das Sozialversicherungssystem in Deutschland Die Grundlage des sozialen Engagements unseres Staates ist das Sozialstaatsprin- zip, das im Art. 20 des Grundgesetzes kodifiziert ist. In der über hundertzwanzig- jährigen Geschichte der deutschen Sozialgesetzgebung sind eine Vielzahl von Einzelgesetzen entstanden, die in der Rechtssystematik kaum nachvollziehbar ein- gegliedert wurden. Seit vielen Jahren ist der Gesetzgeber dabei, diese Einzel- gesetze zu einem großen Gesamtwerk, dem Sozialgesetzbuch, zusammenzufassen. Die im Sozialgesetzbuch enthaltenen Vorschriften sollen der Verwirklichung sozi- aler Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit dienen. Gerade in den letzten Jahren sind bei der Systematisierung erhebliche Fortschritte erzielt worden. Der derzei- tige Stand des Sozialgesetzbuchs stellt sich wie folgt dar: SGB I : Allgemeiner Teil des Sozialgesetzbuchs (vom 11.12.1975) SGB II : Grundsicherung für Arbeitssuchende (vom 24.12.2003) SGB III : Arbeitsförderung (vom 24.03.1997) SGB IV : Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (vom 23.12.1976) SGB V : Gesetzliche Krankenversicherung (vom 20.12.1988) SGB VI : Gesetzliche Rentenversicherung (vom 18.12.1989) SGB VII : Gesetzliche Unfallversicherung (vom 07.08.1996) SGB VIII : Kinder- und Jugendhilfe (vom 15.03.1996) SGB IX : Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (vom 19.06.2001)

Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

  • Upload
    werner

  • View
    213

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

Oliver Schöffski

Universität Erlangen-Nürnberg, Lehrstuhl für Gesundheitsmanagement

1.1 Das Sozialversicherungssystem in Deutschland

Die Grundlage des sozialen Engagements unseres Staates ist das Sozialstaatsprin-zip, das im Art. 20 des Grundgesetzes kodifiziert ist. In der über hundertzwanzig-jährigen Geschichte der deutschen Sozialgesetzgebung sind eine Vielzahl von Einzelgesetzen entstanden, die in der Rechtssystematik kaum nachvollziehbar ein-gegliedert wurden. Seit vielen Jahren ist der Gesetzgeber dabei, diese Einzel-gesetze zu einem großen Gesamtwerk, dem Sozialgesetzbuch, zusammenzufassen. Die im Sozialgesetzbuch enthaltenen Vorschriften sollen der Verwirklichung sozi-aler Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit dienen. Gerade in den letzten Jahren sind bei der Systematisierung erhebliche Fortschritte erzielt worden. Der derzei-tige Stand des Sozialgesetzbuchs stellt sich wie folgt dar:

SGB I : Allgemeiner Teil des Sozialgesetzbuchs (vom 11.12.1975) SGB II : Grundsicherung für Arbeitssuchende (vom 24.12.2003) SGB III : Arbeitsförderung (vom 24.03.1997) SGB IV : Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung

(vom 23.12.1976) SGB V : Gesetzliche Krankenversicherung (vom 20.12.1988) SGB VI : Gesetzliche Rentenversicherung (vom 18.12.1989) SGB VII : Gesetzliche Unfallversicherung (vom 07.08.1996) SGB VIII : Kinder- und Jugendhilfe (vom 15.03.1996) SGB IX : Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen

(vom 19.06.2001)

Page 2: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

4

O. Schöffski

SGB X : Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (vom 18.01.2001)

SGB XI : Soziale Pflegeversicherung (vom 26.05.1994) SGB XII : Sozialhilfe (vom 27.12.2003)

Die jeweils aktuellsten Fassungen der Gesetze findet man im Internet unter: http://www.sozialgesetzbuch-bundessozialhilfegesetz.de.

1.2 Finanzierung des Gesundheitswesens und Mittelverwendung im Überblick

Im Gesundheitswesen sind neben den Sozialversicherungsträgern auch andere Kostenträger an der Finanzierung beteiligt. Abbildung 1.1 zeigt dabei die unter-schiedlichen Anteile.

Abb. 1.1. Ausgaben für Gesundheit nach Ausgabenträgern (Deutschland, 2005, in Mio. Eu-ro, insgesamt 239.357 Mio. Euro)1

Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) hat einen Anteil von über 50 % der gesamten Ausgaben für die Gesundheitsversorgung und ist damit der größte (di-rekte) Finanzierungsträger. Das bedeutet aber auch gleichzeitig, dass die GKV nicht mit dem Gesundheitswesen gleichgesetzt werden darf. Werden staatliche Eingriffe in das Gesundheitswesen geplant, so muss als erstes die Frage gestellt werden, was damit eigentlich beeinflusst werden soll: Die Ausgaben für das Ge-sundheitswesen als Ganzes oder nur der Teil, der von der GKV finanziert wird? Dieses wird in der öffentlichen Diskussion häufig nicht ausreichend berücksich-tigt. Entlastet man die Krankenkassen (beispielsweise durch höhere Selbstbeteili-

1 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2007), S. 251.

13.623

135.86817.888

3.4783.997

22.023

10.081

32.399Öffentl. Haushalte

GKV

Pflegeversicherung

RV

UV

PKV

Arbeitgeber

Private Haushalte

Page 3: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

5

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

gungen), so werden die Ausgaben im Gesundheitswesen (zumindest direkt) erst einmal nicht tangiert, sondern es findet nur eine Verschiebung von einem Kosten-träger zum anderen statt.

Die private Krankenversicherung (PKV) spielt neben den Sozialversicherungs-trägern und den öffentlichen Haushalten ebenfalls eine wesentliche Rolle bei der Finanzierung. Man kann in Deutschland von einem Größenverhältnis zwischen GKV und PKV von ca. 6:1 bezüglich der Ausgaben ausgehen. Die privaten Haus-halte zeichnen noch für ein Ausgabenvolumen von mehr als 32 Mrd. Euro verant-wortlich. Hier sind insbesondere die Selbstbeteiligungen und die „out of pocket“-Käufe zu nennen. Bei dieser Abgrenzung muss aber beachtet werden, dass im Endeffekt natürlich der Verbraucher die gesamten Ausgaben im Gesundheitswe-sen zu tragen hat, da er die Sozialversicherungen finanziert und auf Lohnbe-standteile verzichtet.

Es stellt sich die Frage, wofür dieses Geld im Gesundheitswesen ausgegeben wird. Gemäß der neuen Abgrenzung des Statistischen Bundesamts dominieren drei Leistungsarten (s. Abb. 1.2): die ärztlichen Leistungen mit einem Anteil von gut 27 %, die Waren (z. B. Arzneimittel, Medizintechnik oder Geräte) auch mit etwa 27 % und die pflegerischen Leistungen mit rund 24 %. Damit sind na-hezu 80 % der insgesamt zur Verfügung stehenden Mittel bereits ausgeschöpft. Die restlichen 20 % verteilen sich beispielsweise auf Prävention, Verpflegung und Unterkunft, Transporte, Verwaltungsleistungen sowie Forschung, Ausbildung und Investitionen.

Abb. 1.2. Ausgaben für Gesundheit nach Leistungsarten (Deutschland, 2005, in Mio. Euro, insgesamt 239.357 Mio. Euro)2

Betrachtet man diese Ausgaben nach den Institutionen geordnet, in denen die oben erwähnten Leistungen erbracht werden, so ergibt sich folgendes Bild (s. Abb. 1.3): 48 % der Mittel werden in ambulanten Einrichtungen (z. B. Arztpraxen) ver-braucht, fast 37 % in stationären Einrichtungen (z. B. Akutkrankenhäuser, Rehabi-

2 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2007), S. 251.

8.991

64.394

57.56117.6763.963

64.580

13.114 9.077

Prävention

Ärztliche Leistungen

Pleg. Leistungen

Unterkunft, Verpflegungen

Transporte

Waren

Verwaltungsleistungen

Investitionen

Page 4: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

6

O. Schöffski

litationskliniken). Die restlichen etwa 15 % der verfügbaren Mittel werden bei-spielsweise beim Gesundheitsschutz, beim Rettungsdienst, in der Verwaltung oder den privaten Haushalten verbraucht.

Abb. 1.3. Ausgaben für Gesundheit nach Einrichtungen (Deutschland, 2005, in Mio. €, ins-gesamt 239.357 Mio. Euro)3

Als Ergebnis dieser Auflistung kann festgehalten werden, dass die Gesamt-ausgaben für das Gesundheitswesen fast 240 Mrd. Euro betragen. Die großen „Spieler“ sind Ärzte und Pfleger, auf stationäre und ambulante Einrichtungen ent-fällt der größte Anteil der Ausgaben. Der Großteil der Kosten wird von den Kran-kenkassen und Krankenversicherungen getragen, also der GKV und der PKV.

1.3 Die Anbieter von Krankenversicherungsschutz

Der Krankenversicherungsschutz wird in Deutschland von verschiedenen Institu-tionen gewährleistet. Insbesondere sind hier die beiden großen Gruppen Gesetzli-che Krankenversicherung (GKV) und private Krankenversicherung (PKV) zu nennen. Obwohl das deutsche Krankenversicherungssystem nicht staatlich organi-siert ist (wie beispielsweise in Großbritannien), ist doch die ganz überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen das Krankheitsrisiko geschützt (s. Abb. 1.4).

Die GKV besteht aus den Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKn), den Be-triebskrankenkassen (BKKn), den Innungskrankenkassen (IKKn), den Landwirt-schaftlichen Krankenkassen, der Seekasse, der Bundesknappschaft und den Er-satzkassen (EKn). Sie ist für den Versicherungsschutz von 86 % der deutschen Bevölkerung verantwortlich, die PKV für etwa 9,7 %. Somit genießt fast jeder zehnte Versicherte in Deutschland privaten Versicherungsschutz.

3 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2007), S. 251.

115.494

87.424

9069.077

7.284

14.6212.567

1.985 Gesundheitsschutz

Ambulante Einrichtungen

Stationäre Einrichtungen

Rettungsdienste

Verwaltung

Sonst. Einrichtungen, priv. HH

Ausland

Investitionen

Page 5: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

7

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

Abb. 1.4. Bevölkerung nach Krankenversicherungsschutz (Deutschland, Mai 2003, in 1.000, insgesamt 82.502)4

Etwa 188.000 Personen genossen gemäß den letzten verfügbaren amtlichen Daten in Deutschland stichtagsbezogen überhaupt keinen Krankenversicherungsschutz (etwa 0,2 %), eine relativ kleine Zahl, die allerdings von Jahr zu Jahr angestiegen ist. Betrachtet man die Personen in Deutschland ohne einen Krankenver-sicherungsschutz, so sind dies nicht, wie meist angenommen, die ganz Armen, die sich keinen Krankenversicherungsschutz leisten können. Für sie tritt als letzte Auffanginstanz die Sozialhilfe ein. Es sind eher junge Selbstständige, die häufig auf Grund von Kapitalmangel bewusst auf den Krankenversicherungsschutz ver-zichten. Zu den Nichtversicherten gehören außerdem Studenten, die nach einer gewissen Anzahl von Semestern aus der Versicherungspflicht (Familienversiche-rung) fallen und die Frist einer neuen Versicherung versäumen. Auch geschiedene Ehepartner, die bisher familienversichert waren, versäumen oft sich nach der Scheidung um einen eigenen Versicherungsschutz zu bemühen. Auch bei Nicht-zahlen der PKV-Prämien können Versicherte ihren Versichertenschutz verlieren.

Durch das GKV-WSG (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz), das am 1. April 2007 in Kraft getreten ist, soll die Zahl der Nicht-Versicherten in den nächsten Jahren reduziert werden. Alle Personen in Deutschland erhalten künftig das Recht auf Versicherung in dem System (GKV, PKV), in dem sie früher einmal versichert gewesen sind. Die PKV wird künftig verpflichtet, einen Basistarif zu bezahlbaren Prämien anzubieten, dessen Leistungsumfang mit dem der GKV vergleichbar ist. Risikozuschläge dürfen nicht erhoben werden. Er kann von allen gewählt werden, die in der PKV versichert sind oder dort versichert sein können (z. B. freiwillige Mitglieder der GKV). Dabei gilt ein Kontrahierungszwang für die privaten Versi-cherer. Können sich die Interessenten die Prämien nicht leisten, so werden diese subventioniert.

4 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2007), S. 65.

13.2134.419

1887.9811.815

22.439

1.4771.164

29.754

AOKn

BKKn

IKKn

Landw. KKn

Bdsknappschaft

EKn

PKV

sonstige

nicht versichert

Page 6: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

8

O. Schöffski

Im Folgenden wird speziell auf den größten direkten Finanzierungsträger des Gesundheitswesens der Bundesrepublik Deutschland eingegangen: Die Gesetzli-che Krankenversicherung.

1.4 Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV)

1.4.1 Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung

Die Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung ist nach dem Umlagever-fahren organisiert. Die Einnahmen in jedem Jahr müssen den Ausgaben im selben Jahr entsprechen, Ausnahmen können nur kurzfristige, relativ geringe Kassenbe-stände oder -fehlbeträge sein. Die Beiträge, die das einzelne Kassenmitglied zu zahlen hat, richten sich (anders als in der PKV) nicht nach dem individuellen Ri-siko, sondern sie sind einkommensbezogen. Damit soll eine Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit erreicht werden: eine Person mit einem hohen Einkommen wird zur Finanzierung der GKV stärker herangezogen (bei im Prinzip gleichem Leistungsanspruch) als eine Person mit einem geringen Einkommen.

Da die Leistungen der GKV zu 90 bis 95 % gesetzlich im SGB V determiniert sind, haben die Krankenkassen auf der Ausgabenseite kaum Einflussmöglichkei-ten. Die Verwaltungskosten der Krankenkassen, die häufig als wesentlich überzo-gen kritisiert werden, betragen etwa 5 bis 6 % der gesamten Ausgaben. Selbst eine Halbierung dieses Ausgabenblocks (was natürlich völlig unrealistisch ist) hätte nur eine Beitragssatzsenkung von etwa 0,4 Prozentpunkten zur Folge. Auf der Einnahmenseite kann innerhalb der Gesetzlichen Krankenversicherung das der Beitragserhebung zugrundeliegende Einkommen der Versicherten nicht beein-flusst werden, es existiert damit für die Krankenkassen bislang nur eine einzige Stellschraube, um Einnahmen und Ausgaben, wie beim Umlageverfahren gefor-dert, zum Ausgleich zu bringen: der Beitragssatz.5 Dieser muss regelmäßig ange-passt, d. h. erhöht oder gesenkt werden, wenn die finanzielle Situation dies erfor-dert. Diese Situation wird sich allerdings gemäß den Vorgaben des GKV-WSG in den kommenden Jahren ändern: Der Beitragssatz wird bundesweit einheitlich ge-setzlich festgelegt und über den neu zu gründenden Gesundheitsfonds auf die Krankenkassen verteilt. Wenn diese mit den zugewiesenen Geldern nicht aus-kommen, müssen sie einen kassenindividuellen Zusatzbetrag erheben, der in Zu-kunft der wichtigste Wettbewerbsparameter der Krankenkassen sein wird.

Wie im deutschen Sozialversicherungssystem üblich, werden auch die Beiträge zur Gesetzlichen Krankenversicherung hälftig zwischen Arbeitnehmer und Ar-beitgeber aufgeteilt. Dieses ist allerdings zwischenzeitlich nur noch die halbe Wahrheit, da Krankengeld und Zahnersatz mit einem Beitragssatz von 0,9 Pro-zentpunkten allein von den Versicherten finanziert werden müssen. Weitere Ein-nahmen stammen aus den Beiträgen der Rentner (hier zahlt die Rentenversiche- 5 Vgl. Lampert, H. , Althammer, J. (2004), S. 250.

Page 7: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

9

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

rung den hälftigen Beitrag), der Studenten und der Bundesanstalt für Arbeit, die die Bezieher von Lohnersatzleistungen (z. B. Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Unterhaltsgeld, Eingliederungsgeld) gegen Krankheit weiterversichert.

In der Gesetzlichen Krankenversicherung existiert eine Beitragsbemessungs-grenze, die 2008 auf den Monat gerechnet 3.600 Euro beträgt. Nur bis zu dieser Grenze werden die prozentualen Beiträge erhoben, darüber hinausgehende Ein-kommen werden mit Beiträgen zur GKV nicht belastet. Der Grund für die Festle-gung einer Beitragsbemessungsgrenze ist die Vermeidung einer zu großen Diskre-panz zwischen Beitragszahlung und in Anspruch genommenen Leistungen im Einzelfall, das Leistungsfähigkeitsprinzip soll nicht überstrapaziert werden.

1.4.2 Die Träger der Gesetzlichen Krankenversicherung

Die GKV wird von selbständig kalkulierenden Krankenkassen getragen. Während noch vor einigen Jahren weit mehr als 1.000 Krankenkassen existierten, hat sich in der letzten Zeit ein sehr starker Konzentrationsprozess ergeben, der immer noch nicht abgeschlossen ist. 1992 gab es 1.367 Krankenkassen, 1998 noch 483 und im Jahr 2006 waren es bereits nur noch 266 (s. Abb. 1.5).

Abb. 1.5. Anzahl der Krankenkassen im Zeitablauf (Deutschland)6

Bei einigen Kassenarten ist der Konzentrationsprozess mittlerweile weitgehend abgeschlossen, dieses gilt insbesondere für die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOKn), von denen es mittlerweile im Normalfall nur noch pro Bundesland eine gibt (Ausnahme: Nordrhein-Westfalen ist in die Regionen Rheinland und Westfa-

6 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2007), S. 199.

1.3671.207

1.015

868

637556

483 459 420 389 350 320287 270 266

0

200

400

600

800

1.000

1.200

1.400

1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006

Page 8: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

10

O. Schöffski

len-Lippe unterteilt) (s. Abb. 1.6). Allerdings ist auch hier die erste bundesland-übergreifende Fusion bereits festzustellen: Ende 2006 hat die AOK Rheinland mit der AOK Hamburg fusioniert. Auch die Anzahl der Ersatzkassen für Angestellte ist seit Jahren mit 7 konstant. Mitten im Konzentrationsprozess befinden sich der-zeit noch die Innungs- und insbesondere die Betriebskrankenkassen. Deren Zahl dominiert die übrigen Kassen zwar noch gewaltig, ist aber seit Jahren rückläufig.

Abb. 1.6. Anzahl der Krankenkassen nach Kassenarten (Deutschland, 2006, insgesamt 266)7

1.4.3 Die Versicherten

In der Gesetzlichen Krankenversicherung müssen mindestens drei verschiedene Gruppen von Leistungsberechtigten unterschieden werden: die Pflichtversicherten, die freiwillig Versicherten und die Familienversicherten. Die Regelungen zur Ver-sicherungspflicht sollen insbesondere dazu dienen, den Schutzbedürftigen in der Bevölkerung eine Absicherung des Krankheitsrisikos zu ermöglichen. Die Versi-cherungspflicht knüpft insbesondere am Einkommen aus unselbständiger Tätigkeit an. So sind Arbeitnehmer, d. h. Arbeiter, Angestellte und zu ihrer Berufsausbil-dung Beschäftigte, deren regelmäßiges Arbeitsentgelt 48.150 € (Jahresarbeitent-geltgrenze 2008) nicht übersteigt, zwangsweise in der Gesetzlichen Krankenversi-cherung versichert.

Aber auch andere Personen außer den genannten Arbeitnehmern werden als schutzbedürftig definiert und daher der Versicherungspflicht unterworfen (§ 5 SGB V). Beispielhaft seien die folgenden Gruppen genannt:

7 Quelle: Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2007), S. 45.

210

18

7 319117

AOKn

BKKn

IKKn

Seekasse

Landw. KKn

Bdsknappschaft

EKn Angestellte

EKn Arbeiter

Page 9: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

11

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

• zu ihrer Berufsausbildung gegen Entgelt Beschäftigte, • Rentner, wenn sie bestimmte Versicherungszeiten in der GKV als Arbeitneh-

mer zurückgelegt haben, • Studenten bis zum Abschluss des 14. Fachsemesters, längstens jedoch bis zum

vollendeten 30. Lebensjahr, • Landwirte, ihre mitarbeitenden Familienangehörigen und Altenteiler, • Künstler und Publizisten, • Arbeitslose, die vor Eintritt der Arbeitslosigkeit versichert waren, • Personen, die in Jugendhilfe-, Behinderten- und Rehabilitationseinrichtungen

zur Vermittlung beruflicher Fähigkeiten tätig sind und • Empfänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt.

Insgesamt ist zu fragen, ob die sehr stark ausgedehnte Definition der Schutzbe-dürftigkeit heute noch Sinn macht. Seit der Gründung der Gesetzlichen Kranken-versicherung am 15. Juni 1883 ist der Mitgliederstamm immer weiter ausgedehnt worden mit der Folge, dass heute im System vielleicht auch Personen erfasst wer-den, die nicht unbedingt schutzbedürftig sind. Hier wäre zu überlegen, ob eine stärkere Selbstverantwortung nicht positive Signale für das gesamte Krankenver-sicherungssystem geben könnte.

Personen, die aus der Versicherungspflicht ausscheiden, können als freiwillige Mitglieder in der GKV verbleiben, wenn sie bestimmte Mindestversicherungszei-ten vorweisen können (§ 9 SGB V). Sie haben allerdings ebenso wie die übrigen Personengruppen, die nicht versicherungspflichtig sind, die Möglichkeit, sich pri-vat gegen das Krankheitsrisiko zu versichern.

Die dritte Gruppe der Leistungsberechtigten innerhalb der GKV sind die Fami-lienversicherten. Hierbei handelt es sich um Ehegatten und Kinder von Mitglie-dern einer Krankenkasse, die nicht selbst versicherungspflichtig sind. Für diese Familienversicherten muss kein gesonderter Beitrag an die Krankenkasse abge-führt werden, sie haben trotzdem einen nahezu identischen Leistungsanspruch.

1.4.4 Die Wahlmöglichkeiten der Versicherten und aktuelle Beitragssätze

Während noch vor wenigen Jahren für den Großteil der Bevölkerung die Kran-kenkasse verbindlich vorgeschrieben war und insbesondere nur die Angestellten zwischen ihrer Primärkasse und einer Ersatzkasse wählen konnten, existieren heu-te Wahlrechte für fast alle Versicherten. Versicherungspflichtige und Versiche-rungsberechtigte können generell wählen (§ 173 SGB V)

• die Ortskrankenkasse des Beschäftigungs- oder Wohnorts, • jede Ersatzkasse, deren Zuständigkeit sich nach der Satzung auf den Beschäfti-

gungs- oder Wohnort erstreckt, • die Betriebs- oder Innungskrankenkasse des Betriebs, in dem man beschäftigt

ist,

Page 10: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

12

O. Schöffski

• die Betriebs- oder Innungskrankenkasse, wenn die jeweilige Satzung es vor-sieht (so genannte „geöffnete“ Kassen),

• die Krankenkasse, bei der vor Beginn der Versicherungspflicht oder Versiche-rungsberechtigung zuletzt eine Mitgliedschaft bestanden hat,

• die Krankenkasse, bei der der Ehegatte versichert ist.

Für die Krankenkassen besteht dabei ein Kontrahierungszwang, d. h. sie dürfen die Mitgliedschaft nicht ablehnen, wenn der Antragsteller zu dem satzungsmäßi-gen Mitgliederkreis zählt. Eine Risikoselektion durch die Krankenkasse ist im Ge-gensatz zu privaten Krankenversicherungen zumindest wesentlich erschwert. Der Versicherungspflichtige ist für mindestens 18 Monate an die Wahl seiner Kran-kenkasse gebunden. Mit einer Frist von zwei Monaten zum Monatswechsel ist ei-ne Kündigung möglich.

Von den aktuell über 200 Krankenkassen ist gemäß den oben dargestellten Prinzipien nicht jede für jedermann wählbar. Die meisten sind zwar generell ge-öffnet, bei den übrigen ist die Mitgliedschaft an Bedingungen, meist an die Zuge-hörigkeit zu einem bestimmten Unternehmen, geknüpft („geschlossene“ Betriebs- oder Innungskrankenkassen). Aber auch bei der der Seekasse und den Landwirt-schaftlichen Krankenkassen und anderen ist kein allgemeiner Beitritt möglich. Von den allgemein wählbaren Krankenkassen haben viele eine regionale Gebiets-beschränkung, d. h. nur ein Gebietsansässiger (Wohnung oder Arbeitsplatz) kann beitreten. Die kleinste regionale Beschränkung beträgt dabei ein Bundesland (Aus-nahme Nordrhein-Westfalen). Wegen der regionalen Begrenzung ist die Zahl der wählbaren Krankenkassen in den einzelnen Bundesländern daher unterschiedlich (ca. 100).

Die bundesweit allgemein zugänglichen Krankenkassen verlangten zu Beginn des Jahres 2008 Beitragssätze zwischen 12,3 und 15,3 %, d. h. eine Beitragssatz-differenz von 3,0 Prozentpunkten. Es handelt sich dabei allerdings um eine links-schiefe Verteilung, da die günstigen Beitragssätze von vielen kleinen Krankenkas-sen angeboten werden, die großen, bundesweit agierenden Krankenkassen (Er-satzkassen) und die örtlichen AOKn haben meist Beitragssätze um die 14 % und höher. Hinzu kommt für die Versicherten immer noch der Zusatzbeitrag in Höhe von 0,9 % zur Finanzierung von Krankengeld und Zahnersatz.

1.4.5 Die Aufgaben und Leistungen

Generell ist in § 12 SGB V festgelegt, dass die Leistungen der Krankenkassen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein müssen. Das Maß des Notwen-digen darf dabei nicht überschritten werden. Mit diesen Vorgaben bleibt die GKV hinter den entsprechenden Vorschriften der Gesetzlichen Unfallversicherung zu-rück, wo in den §§ 14 und 26 SGB VII festgelegt ist, dass die Unfallversiche-rungsträger mit allen geeigneten Mitteln für die Verhütung und die Behandlung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu sorgen haben. Im Einzelfall kann sich daraus eine sehr unterschiedliche Versorgung von Personen mit gleichem Ge-

Page 11: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

13

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

sundheitszustand ergeben, je nachdem worauf die gesundheitliche Beeinträch-tigung zurückzuführen ist (arbeitsbedingt oder nicht arbeitsbedingt).

Die GKV ist prinzipiell gemäß dem Sachleistungsprinzip aufgebaut, das be-deutet, dass die Versicherten Anspruch auf nahezu kostenlose Versorgung mit den notwendigen Gesundheitsgütern und -dienstleistungen haben. Die Abrechnung mit den Leistungserbringern erfolgt dann direkt durch die Krankenkassen. Das Sach-leistungsprinzip ist für den Patienten sehr komfortabel, da er nicht erst die Leis-tungserbringer bezahlen und sich das verauslagte Geld von den Krankenkassen er-statten lassen muss. Verloren geht durch das Sachleistungsprinzip aber der Patient als Kontrollinstanz, da er in der Regel nicht weiß, was von den Leistungser-bringern den Krankenkassen in Rechnung gestellt wird. Zusätzlich kann der Pati-ent auch kein Kostenbewusstsein entwickeln, das ihn eventuell von der Inan-spruchnahme nicht notwendiger Leistungen abhalten würde.

Die durch die GKV gewährten Leistungen sind relativ umfassend, zu nennen sind beispielsweise die folgenden Bereiche (§§ 20−60 SGB V):

• Leistungen zur Verhütung von Krankheiten • Leistungen zur Früherkennung von Krankheiten • Leistungen zur Behandlung von Krankheiten

- Ärztliche Behandlung - Zahnärztliche Behandlung - Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln - Häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe - Krankenhausbehandlung - Medizinische Rehabilitation

• Krankengeld

Für bestimmte Leistungen existieren allerdings Ausschlüsse (z. B. Negativliste) und generell sind alle Leistungen mit mehr oder weniger hohen Selbstbeteiligun-gen unterlegt, es existieren aber obere Belastungsgrenzen (vgl. §§ 61, 62 SGB V).

1.4.6 Einflussfaktoren auf den Beitragssatz und Risikostrukturausgleich

Gründe für die unterschiedlich hohen Beitragssätze der Krankenkassen sind in der Risikostruktur der Mitglieder, der Grundlohnsumme und in der Struktur und An-zahl der Leistungsanbieter in einer bestimmten Region zu sehen. Dieses führte da-zu, dass sich Anfang der 90er Jahre die Beitragssätze zwischen einzelnen Kran-kenkassen um mehr als acht Prozentpunkte (zwischen weniger als 8 und mehr als 16 %) unterschieden. Dieser Differenz von mehr als 100% stand ein nahezu iden-tischer Leistungsanspruch der Versicherten gegenüber. Dieses wurde als sozialpo-litisch nicht erwünscht betrachtet, da es zu einer Ungleichbehandlung einzelner Versicherter führte, denn nur ein Teil der Versicherten (insbesondere die Ange-stellten) hatte eine Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Kassen.

Aus diesem Grund wurde 1994 ein bundesweiter, kassenartenübergreifender Risikostrukturausgleich (RSA) eingeführt (§ 266 SGB V). Kassen mit einer guten

Page 12: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

14

O. Schöffski

Risikostruktur und einer hohen Grundlohnsumme der Versicherten zahlen seitdem an Kassen mit einer schlechten Risikostruktur (hohe Anzahl von Familienversi-cherten, hohes durchschnittliches Alter der Versicherten, überproportional viele Frauen) und einer niedrigen Grundlohnsumme ihrer Versicherten. Historisch ge-wachsene Benachteiligungen einzelner Kassen(-arten) werden damit zum großen Teil ausgeglichen, so dass im nun verstärkt herrschenden Wettbewerb der Kassen untereinander im Wesentlichen nur noch die unterschiedliche Leistungsfähigkeit eine Rolle spielt. Seit der Einführung des Risikostrukturausgleichs haben sich die Beitragssatzunterschiede innerhalb der GKV wesentlich verringert. Die Morbidität wird dabei bislang auch schon zum Teil mit einkalkuliert (z. B. Hochrisikopool, Teilnahme an einem Disease Management Programm), soll aber in den nächsten Jahren durch die Einführung des so genannten Morbi-RSA noch umfänglicher be-rücksichtigt werden.

1.4.7 Die Steuerung der Gesetzlichen Krankenversicherung

Im System der Gesetzlichen Krankenversicherung sind wichtige Marktprinzipien außer Kraft gesetzt. Insbesondere die Mengen und Preise der Gesundheitsgüter und -dienstleistungen folgen nicht dem Prinzip von Angebot und Nachfrage. Da das Gesundheitswesen nicht dem freien Spiel der Marktkräfte überlassen werden kann, sind umfangreiche staatliche Regulierungen notwendig, die immer nur un-befriedigend sein können.8 Regulierungslücken und -fehlsteuerungen werden von den rational handelnden Marktteilnehmern konsequent ausgenutzt und ziehen dann weitergehende gesetzliche Eingriffe nach sich, so dass die Regulierungs-dichte im Zeitablauf immer weiter zunimmt.

Insbesondere der niedergelassene Arzt spielt als Gatekeeper eine besondere Rolle im Gesundheitswesen, da er nicht nur für seine eigenen Leistungen Kosten verursacht, sondern auch Leistungen im Bereich der Arzneimittelversorgung, der stationären Versorgung und in den anderen Leistungsbereichen veranlasst. Wäh-rend sich in einem marktwirtschaftlichen System nur zwei Marktparteien gegenü-berstehen (Anbieter und Nachfrager), sind es im Gesundheitswesen im wesentli-chen drei Parteien: Der Arzt, der Patient und die Krankenkasse. Daraus ergibt sich die folgende Situation: Der Arzt verordnet Leistungen, konsumiert oder bezahlt sie aber nicht; der Patient konsumiert die Leistung, fragt sie aber selbst nicht nach und bezahlt sie auch nicht (zumindest nicht direkt); die Krankenkasse hat mit der Verordnung und Konsumierung der Leistung nichts zu tun, sie muss aber dafür bezahlen. Dieser Mechanismus führt dazu, dass mehr Gesundheitsleistungen als nötig konsumiert werden, da die Grenzkosten für die Inanspruchnahme einer Leis-tung beim Patienten nahe Null sind.

Ein ähnliches Problem wirft auch das Phänomen der angebotsinduzierten Nach-frage auf. Die Leistungserbringer im Gesundheitswesen (und hier insbesondere die ambulant tätigen Ärzte) haben es zu einem großen Teil in der Hand, die Nachfrage 8 Vgl. zu den Inhalten der Gesundheitsreformgesetze seit 1988 Lampert, H., Althammer,

J. (2004), S. 258–263.

Page 13: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

15

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

nach ihren Leistungen selbst zu schaffen. Dadurch nimmt die Leistungsmenge im Gesundheitswesen immer weiter zu. Damit dieses nicht zu explodierenden Ge-sundheitsausgaben führt, wird im Gesundheitswesen immer stärker mit Budgets und Gesamtvergütungen gearbeitet. Dadurch wird das Risiko der Leistungsaus-weitung auf die Leistungserbringer abgewälzt.

1.4.8 (Immer wieder diskutierte) Reformvorschläge

Bezüglich der Finanzierung der GKV werden in regelmäßigen Abständen Re-formvorschläge gemacht, dabei dreht man sich allerdings meist im Kreis und kommt in der Diskussion nicht weiter. Nur selten wird tatsächlich einmal eine be-deutende Entscheidung getroffen und in das System implementiert.

Die erste Reformoption wäre eine (wesentliche) Veränderung der Beitragsbe-messungs- und / oder Versicherungspflichtgrenze über das Maß hinaus, in dem jährlich gemäß der Einkommensentwicklung angepasst wird. Beide Grenzen ha-ben inhaltlich eine vollkommen unterschiedliche Bedeutung, waren allerdings jahrzehntelang immer gleich hoch. Seit 2003 fallen die Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze auseinander. Wesentliche Änderungen bezüglich der Höhe einer oder beider Grenzen hätten erhebliche Auswirkungen auf die Kran-kenkassen, die privaten Krankenversicherungsunternehmen, die Beitragssätze und die absoluten Beiträge der Versicherten.

Die Beiträge zur Sozialversicherung und damit auch zur Gesetzlichen Kran-kenversicherung knüpfen ausschließlich am Einkommen aus unselbstständiger Beschäftigung an. Ausnahmen existieren bei den freiwillig Versicherten. Es wird häufig bezweifelt, dass diese Beschränkung zu dem bereits oben erwähnten Leis-tungsfähigkeitsprinzip passt. Durch eine Erweiterung der Bemessungsgrundlage auf die sieben Einkunftsarten gemäß dem Steuerrecht (Einkünfte aus nichtselbst-ständiger Arbeit, selbstständiger Arbeit, Gewerbebetrieb, Kapitalvermögen, Ver-mietung und Verpachtung, Land- und Forstwirtschaft, sonstige Einkünfte) könnte man eine stärkere Orientierung an der Leistungsfähigkeit erreichen. Zusätzlich würde die zurzeit noch existierende Ungleichbehandlung zwischen Pflichtversi-cherten und freiwillig Versicherten aufgehoben. Der Beitragssatz würde durch ei-ne entsprechende Maßnahme sinken, man hätte eine etwas geringere konjunkturel-le Abhängigkeit der Beitragseinnahmen, eine Entlastung der Arbeitsentgelte (ge-rade die hohen Lohnnebenkosten werden häufig als Negativfaktor für den Wirt-schaftsstandort Deutschland angeführt) und Renten sowie eine Belastung der Bezieher von Nicht-Arbeitseinkommen (Stichwort: reiche Erben). Daher wird auch diese Reformoption regelmäßig in die Diskussion gebracht. Allerdings ist ei-ne Erweiterung der Bemessungsgrundlage, so plausibel sie auf den ersten Blick erscheint, nicht problemlos möglich:

• Wer soll die Einkünfte erfassen? Bislang sind das Abführen der Beiträge und die Überprüfung relativ problemlos möglich. Die Gesamteinkünfte könnten nur vom Finanzamt gemeldet werden, damit wäre die steuerfinanzierte Sozialversi-cherung ein Stück näher.

Page 14: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

16

O. Schöffski

• Die Begründung für den Arbeitgeberbeitrag würde entfallen. Die Arbeitgeber würden sich weigern 50 % des Beitrags zu tragen, der aufgrund von Zinsein-künften anfällt.

• Es entstehen regressive Verteilungseffekte, da zusätzliche Einkommen nur bei Personen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze relevant wären. Die vorher schon darüber liegenden Personen würden von Beitragssatzsenkungen profitie-ren. Dieses könnte nur durch eine Erhöhung der Grenzen vermieden werden, die allerdings auch unerwünschte Effekte aufweisen kann.

• Es sind massive Umgehungsstrategien der Versicherten zu befürchten, die bei-spielsweise zu einer Kapitalflucht ins Ausland führen würden.

• Mehr Personen hätten die Möglichkeit des Übertritts zur PKV, wodurch sich möglicherweise auch unbeabsichtigte Verteilungseffekte ergeben würden.

Eine weitere Reformoption bezüglich der Finanzierung besteht in der Änderung der Vorschriften zur beitragsfreien Familienversicherung. Nicht-berufstätige Fa-milienmitglieder (Ehegatte, Kinder) sind in der Gesetzlichen Krankenversicherung beitragsfrei bei prinzipiell gleichen Leistungen mitversichert. Hier ist allerdings in vielen Fällen eine massive Ungleichbehandlung von Familien mit gleichem Fami-lieneinkommen zu verzeichnen. Verdienen beide Ehepartner exakt in der Höhe der Beitragsbemessungsgrenze, zahlen sie doppelt so hohe Beiträge bei fast identi-schen Leistungen wie eine Familie, bei der nur ein Ehegatte das Doppelte der Bei-tragsbemessungsgrenze verdient. Durch die Einführung eines Ehegattensplitting könnte man diese Ungleichbehandlung vermeiden. Vom Splitting unberührt blie-ben Familien mit einem Einkommen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze, es führt nur zu einer höheren Beitragsbelastung, wenn ein Ehepartner über und der andere unter der Beitragsbemessungsgrenze verdient. Es käme dadurch zu Mehr-einnahmen und zu Beitragssatzsenkungen zum Vorteil der übrigen Versicherten und der Arbeitgeber. Aber auch dieser Vorschlag ist nicht problemlos umsetzbar:

• Nichteheliche Lebensgemeinschaften würden bevorzugt. • Was passiert, wenn ein Ehepartner privat versichert ist? Die konzeptionelle

Grundlage des Ehegattensplitting wäre damit hinfällig. • Durch die Reduzierung der Bemessungsgrundlage würden viele bislang privat

Versicherte wieder in die Versicherungspflicht fallen mit den entsprechenden Auswirkungen für die PKV.

• Was passiert mit den Familien, bei denen ein Ehepartner nicht arbeitet um die Kinder zu erziehen? Familienpolitisch wäre eine „Bestrafung“ mit höheren Bei-trägen nicht akzeptabel, daher müssten Kindererziehungszeiten Ausnahme-tatbestände für das Splitting sein. Dann wäre allerdings zu fragen, was mit den Familien passiert, die Kinder haben, bei denen aber trotzdem beide Ehepartner berufstätig sind. Diese dürften auch nicht benachteiligt werden.

Ein vierter aktuell diskutierter Reformansatz ist die Differenzierung des Leis-tungskatalogs der Krankenkassen nach Grund- und Wahlleistungen. Hintergrund dieser Diskussion ist die Schaffung von Finanzierungsspielräumen, um Beitrags-satzsteigerungen zu vermeiden und zukünftigen Finanzbedarf aufgrund des medi-

Page 15: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

17

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

zinisch-technischen Fortschritts und der demographischen Entwicklung decken zu können. Das größte Problem am Konzept der Grund- und Wahlleistungen ist darin zu sehen, dass kaum finanziell bedeutende Teile aus dem bisherigen Erstattungs-katalog als nicht unbedingt notwendig definiert werden können. Alle medizini-schen Leistungen, an die man denken würde, sind bereits heute von der Erstattung ausgenommen oder mit einer mehr oder weniger hohen Selbstbeteiligung belegt (z. B. Arzneimittel gegen geringfügige Gesundheitsstörungen, Sterbegeld). Eine massive Reduzierung der Beitragssätze ist kaum denkbar.

1.5 Die private Krankenversicherung (PKV)

1.5.1 Die PKV-Unternehmen

Die private Krankenversicherung stellt mit Beitragseinnahmen in Höhe von 28,48 Mrd. Euro (2006) nach der Lebensversicherung und der Schaden- und Unfallver-sicherung die drittstärkste Versicherungssparte in Deutschland dar.9 Privater Krankenversicherungsschutz wird von rechtlich selbständigen Unternehmen ange-boten, die heute aber in der Regel als Mutter- oder Tochtergesellschaften Bestand-teil von Versicherungsgruppen sind, zu denen auch Lebens- und Schadensversi-cherer gehören. Die Unternehmen, die in Deutschland privaten Krankenversiche-rungsschutz anbieten, sind im Verband der privaten Krankenversicherung e. V. (PKV-Verband) organisiert, der die gemeinsamen Interessen wahrnimmt. Wäh-rend der PKV-Verband 1950 noch 100 Mitgliedsunternehmen hatte, ging diese Zahl bis Ende der 70er Jahre durch Zusammenschlüsse und Bestandsübertragun-gen auf 37 zurück. Ende 2006 gehörten dem Verband 48 Unternehmen als ordent-liches und ein Unternehmen als außerordentliches Mitglied an.10 Diese repräsen-tierten über 99 % der Jahresprämieneinnahmen. Daneben existiert noch eine Reihe von kleineren und kleinsten Krankenversicherungsunternehmen mit regionaler bzw. berufsständischer Orientierung, deren Beitragsanteil weniger als 1 % beträgt.

Die neun größten PKV-Unternehmen erzielen jeweils mehr als 1 Milliarde Eu-ro Beitragseinnahmen. Die drei größten Unternehmen (DKV, Debeka, Allianz) können einen Beitragsanteil von knapp 40 % auf sich vereinen. Insgesamt gesehen existieren wenige große, einige mittlere und zahlreiche kleinere Unternehmen, damit ist bei der PKV die Marktform des Teiloligopols gegeben (s. Tabelle 1.1).

9 Vgl. Verband der privaten Krankenversicherung e. V. (Hrsg.) (2007), S. 13. 10 Vgl. Verband der privaten Krankenversicherung e. V. (Hrsg.) (2007), S. 9.

Page 16: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

18

O. Schöffski

Tabelle 1.1. Marktanteile ausgewählter PKV-Unternehmen (Durchschnitt im Zeitraum 2000−2004, bezüglich der Beitragseinnahmen, in %)11

Rang Unternehmen Rechtsform Marktanteil einfach

Marktanteil kumuliert

1 DKV AG 13,22 13,22 2 Debeka VVaG 13,18 26,40 3 Allianz AG 12,06 38,46 4 Signal VVaG 7,45 45,91 5 Central AG 5,46 51,37 6 Continentale VVaG 4,35 55,72 7 BBKK AG 4,34 60,06 8 Barmenia VVaG 4,09 64,15 9 DBV AG 3,65 67,80 10 Gothaer VVaG 3,17 70,97

1.5.2 Die Versicherten

Durch die PKV-Unternehmen werden sowohl Krankheitskostenvollversicherun-gen als auch Zusatzversicherungen angeboten. Da es sich um privatrechtliche Ver-träge handelt, kann prinzipiell jeder einen Krankheitskostenvollversicherungs-vertrag abschließen, sofern er ein PKV-Unternehmen findet, das ebenfalls dazu bereit ist. Tatsächlich Sinn macht solch ein Vertrag aber nur, wenn nicht gleich-zeitig eine Versicherungspflicht in der GKV besteht, da sonst Beiträge und Prä-mien gezahlt werden müssten, die Leistung allerdings nur einmal erfolgen würde. Prinzipiell kann man daher davon ausgehen, dass insbesondere die versicherungs-freien Personengruppen zur Klientel der PKV gehören. Bei der Krankheitskosten-vollversicherung spricht man auch von der substitutiven Krankenversicherung, da diese den GKV-Schutz in mindestens gleichem Umfang ersetzt. Nur wenn eine substitutive Krankenversicherung vorliegt (i. d. R. durch den Abschluss eines am-bulanten, stationären und Zahntarifs), sind die Arbeitgeber verpflichtet, die hälfti-ge Prämie zu bezahlen.

Der Versicherungsvertrag kommt aufgrund der Vertragsfreiheit nur zustande, wenn beide Vertragspartner dieses wollen. Es gibt allerdings einige Ausnahmen, bei denen eine Kontrahierung und die Vertragsbedingungen gesetzlich vorge-schrieben sind bzw. sich die Versicherungsunternehmen dazu selbst verpflichtet haben. Hierzu zählt beispielsweise die Versicherung von neugeborenen Kindern, bei denen ein Elternteil wenigstens drei Monate bei einem PKV-Unternehmen versichert ist. Die Versicherung erfolgt in diesen Fällen ohne Risikoprüfung und Wartezeiten. Weitere Ausnahmen bezüglich der Vertragsfreiheit sind der so ge-nannte Standardtarif und der Basistarif. Die PKV-Unternehmen wurden gesetzlich verpflichtet, einen entsprechenden Tarif anzubieten, wenn sie als substitutiver Krankenversicherungsschutz gelten wollen. Der Standardtarif ist ein branchenein-

11 Quelle: PKV24 (o. J.).

Page 17: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

19

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

heitlicher Tarif in der privaten Krankenversicherung mit einem gesetzlich be-grenzten Höchstbeitrag (max. der durchschnittliche Höchstbetrag zur GKV, im Jahr 2007 betrug dieser 505,88 Euro). Der Beitrag kann, abhängig vom Eintrittsal-ter, aber auch variieren und niedriger ausfallen.

Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) sind die privaten Versicherungsunternehmen verpflichtet worden, ab dem 1. Juli 2007 bis zum 31. Dezember 2008 für spezielle Personengruppen einen neuen Standardtarif anzu-bieten, einen so genannten modifizierten Standardtarif. Das gilt für alle Nichtver-sicherten, die nicht in der GKV versicherungspflichtig sind, also der PKV beizu-ordnen sind (Beamte, Selbständige und ehemals PKV-Versicherte). Die privaten Versicherungsunternehmen sind verpflichtet, alle berechtigten Personen aufzu-nehmen. Die Aufnahme in den modifizierten Standardtarif muss ohne Risikozu-schläge oder Leistungsausschlüsse geschehen, auch bei Vorerkrankungen. Die Leistungen des Standardtarifs müssen genau definiert und mit denen der GKV vergleichbar sein. Der Standardtarif übernimmt vor allem eine Schutzfunktion für finanziell schwache Personengruppen (insbesondere Rentner). Besonders Versi-cherte, die aufgrund ihres finanziellen Hintergrunds auf niedrige Tarife angewie-sen sind, profitieren von dieser neuen Regelung. Entsteht durch die Zahlung des Versicherungsbeitrags finanzielle Hilfebedürftigkeit oder besteht diese schon ge-nerell, muss der Versicherte nur die Hälfte des Höchstbeitrags zahlen (im Jahr 2007 betrug dieser 252,94 Euro). Ist auch das finanziell unmöglich kann beim So-zialamt ein Zuschuss beantragt werden. Ende 2006 waren insgesamt 24.819 Per-sonen im Standardtarif der PKV versichert.12

Die Versicherungsverträge im modifizierten Standardtarif werden ab dem 1. Januar 2009 zwangsläufig auf den dann geltenden Basistarif umgestellt. Der Leis-tungsumfang des Basistarifs ist bei allen Anbietern gleich und ähnelt dem der GKV. Auch die Aufnahme in den Basistarif muss ohne Risikozuschläge und Leis-tungsausschlüsse erfolgen. Der Basistarif kann ab dem 1. Januar 2009 von allen gewählt werden, die in der PKV versichert sind oder dort versichert sein können (z. B. freiwillige Mitglieder der GKV). Für bereits privat Versicherte muss derWechsel in den Basistarif (bei der eigenen oder einer anderen Kasse) innerhalb von 6 Monaten geschehen, danach können sie nur noch in den Basistarif der eige-nen PKV eintreten und das nur wenn das 55. Lebensjahr überschritten wurde oder nachgewiesen werden kann, dass die Zahlung der Krankenversicherungsprämie nicht mehr möglich ist. Nichtversicherte, die zuletzt bei der PKV versichert waren, erhalten ein Rückkehrrecht in den Basistarif. Weiterhin gilt ein Kontrahierungs-zwang für die privaten Versicherer. Zusatzversicherungen sind entgegen dem mo-difizierten Standardtarif nicht verboten.

Eine Selbstverpflichtung der größten PKV-Unternehmen stellt die dauernde Öffnung der PKV für Beamtenanfänger dar. Da die PKV für diese Gruppe häufig (neben der Beihilfe) die einzige Quelle für Versicherungsschutz ist, musste eine entsprechende Regelung gefunden werden, um den Versicherungsschutz zu ga-rantieren. Andernfalls wäre schnell das zweigeteilte Krankenversicherungssystem in Frage gestellt worden (gerade die Beamten sind eine wichtige Gruppe in den gesetzgebenden Körperschaften). Die erleichterten Bedingungen laufen darauf 12 Vgl. Verband der privaten Krankenversicherung e. V. (Hrsg.) (2007), S. 30.

Page 18: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

20

O. Schöffski

hinaus, dass kein Antragsteller aus Risikogründen abgelehnt wird. Leistungsaus-schlüsse werden nicht vorgenommen und die Zuschläge zum Ausgleich er-schwerter Risiken werden auf maximal 30 % des tariflichen Beitrags begrenzt. Zusatztarife (z. B. Auslandsreiseversicherungen, höhere Leistungen bei Zahner-satz) werden dann aber verweigert. Auch die Pflegeversicherung ist für alle Mit-glieder der PKV gesetzlich vorgeschrieben, auch hier kann man sich nicht auf die Vertragsfreiheit berufen. Höhere Ansprüche und die damit verbundenen Mehrleis-tungen können mit einer Pflegezusatzversicherung realisiert werden, welche sepa-rat oder als Bestandteil privat abgeschlossen werden. Die Beiträge werden nicht in Abhängigkeit vom Einkommen erhoben. Die Prämienberechnung der privaten Pflegeversicherung läuft im Wesentlichen nach den gleichen Grundsätzen wie für die Prämienkalkulation in der privaten Krankenversicherung ab. Um das steigende Pflegerisiko mit zunehmendem Alter abdecken zu können werden in der privaten Pflegeversicherung Alterungsrückstellungen zur Stabilisierung der Beiträge gebil-det.

1.5.3 Die Prämienkalkulation

Während die Beiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Umla-geverfahren und gemäß dem Leistungsfähigkeitsprinzip erhoben werden, folgt die Prämienkalkulation in der PKV nach dem Äquivalenzprinzip (Anwartschaftsde-ckungsverfahren). Die kalkulierte Prämie jedes einzelnen Versicherten soll dem Risiko entsprechen, das er in die Versichertengemeinschaft einbringt. Obwohl die Leistungsausgaben pro Jahr steigen, soll die Prämie so kalkuliert werden, dass sie prinzipiell ein Leben lang konstant gehalten werden kann.

Das Prinzip der konstant bleibenden Prämien führt dazu, dass in jungen Jahren eine höhere Prämie verlangt wird als dem tatsächlichen Schadenserwartungswert entspricht. Die nicht benötigte Differenz wird in eine Alterungsrückstellung ein-gebracht. Diese wird abgeschmolzen, sobald die jährlichen Ausgaben höher sind als die Prämie. Während sich im Einzelfall die lebenslangen Prämieneinnahmen und Krankheitskosten nicht decken müssen, wird bei guter Kalkulation die Alte-rungsrückstellung für alle Mitglieder eines Tarifs genau dann aufgebraucht sein, wenn der letzte Versicherte verstorben ist.

Dieses Kalkulationssystem profitiert von zwei Faktoren. Der erste ist die ver-zinsliche Ansammlung der Alterungsrückstellung. Durch den Zinseszinseffekt er-geben sich generelle Vorteile des Anwartschaftsdeckungsverfahrens gegenüber dem Umlageverfahren. Viel wesentlicher ist allerdings der zweite Faktor, die „Vererbung“ der Alterungsrückstellung an das Versichertenkollektiv durch Tod oder Storno. Jemand der freiwillig (durch Kündigung) oder unfreiwillig (durch vorzeitigen Tod) das Kollektiv verlässt, hat keinen Anspruch auf Mitnahme (oder Vererbung an Angehörige) seiner individuellen Alterungsrückstellung. Dieses wird in jüngster Zeit als wesentliches Problem der PKV angesehen. Da das Ein-trittsalter die Hauptkomponente bei der Prämienkalkulation ist, wird durch diesen Mechanismus quasi ein Wechsel zu einem anderen PKV-Unternehmen verhindert.

Page 19: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

21

A 1 Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

Das neue Unternehmen würde gemäß dem höheren Eintrittsalter eine neue risiko-äquivalente Prämie kalkulieren, die (zumindest nach einigen Jahren) wesentlich über derjenigen des alten Versicherers liegt. De facto sind damit die Versiche-rungsnehmer gezwungen, ihrem Versicherungsunternehmen quasi lebenslang die Treue zu halten. Damit greift der einzige Sanktionsmechanismus der Versiche-rungsnehmer (die Abwanderung) völlig ins Leere. Im Gegenteil: Je höher die Stornoquote ist, desto günstigere Prämien kann ein Krankenversicherungsunter-nehmen kalkulieren und zieht damit viel Neugeschäft an sich. Eine kundenfeindli-che Geschäftspolitik (z. B. fehlende Kulanz, starke Beitragserhöhungen) kann da-mit zu einem Wettbewerbsvorteil führen.

Bislang wurde dargestellt, dass prinzipiell lebenslang gleich hohe Prämien in der PKV kalkuliert werden. Da die PKV-Unternehmen auf ihr ordentliches Kün-digungsrecht verzichtet haben (damit niemand im Alter ohne Versicherungsschutz dasteht), wurde ihnen quasi als Kompensation zugebilligt, die Prämien zu erhö-hen, wenn sich die Kalkulationsgrundlagen verändern. Dieses kann beispielsweise durch eine längere durchschnittliche Lebenserwartung oder den medizinisch-tech-nischen Fortschritt geschehen. Entsprechend können die Prämien (nach Genehmi-gung durch einen Treuhänder) angepasst werden. Je älter ein Versicherungsneh-mer zum Zeitpunkt der Prämienerhöhung ist, desto härter trifft ihn die Erhöhung. Die zusätzlichen (d. h. bislang nicht richtig kalkulierten) Kosten können bei ihm nur noch auf die Jahre verteilt werden, die noch vor ihm liegen und nicht auf die bereits abgelaufenen Jahre. Daher wurde gerade in den letzten Jahren in den Me-dien von exorbitant hohen PKV-Prämien für Rentner berichtet.

Die Risikoprämie (Nettoprämie) stellt nur einen Teil der gesamten zu zahlen-den Prämie dar. Hinzu kommen noch ein Sicherheitszuschlag für die unsicheren Annahmen und ein Beitrag für die Verwaltungskosten des Versicherungsunter-nehmens. Diese Bruttoprämie ist der Betrag, der in den Prämientabellen der Un-ternehmen, differenziert nach Alter, Geschlecht und Tarif, abgedruckt ist. Es ist aber nicht unbedingt der Betrag, den ein individueller Versicherter auch bezahlen muss. Denn bisher ist immer nur von einem „normalen“ Risiko (differenziert nach Alter und Geschlecht) ausgegangen worden. Gemäß der Risikoprüfung bei der An-tragsannahme kann sich aber ergeben, dass beim Antragsteller ein erhöhtes Risiko vorliegt (z. B. durch Vorerkrankungen). Das Versicherungsunternehmen kann den Vertragsabschluss dann komplett ablehnen, einen Risikoausschluss formulieren oder einen Risikozuschlag zur Prämie fordern. Dabei ist es für die Versi-cherungsunternehmen weniger relevant, welche medizinische Bedeutung eine Di-agnose hat, sondern vielmehr welche kostenmäßigen Implikationen damit ver-bunden sind. Eine Erkrankung mag medizinisch unbedeutend sein, da sie gut und sicher behandelbar ist, aber gerade diese Behandlungskosten sind natürlich für den Versicherer relevant.

Page 20: Pharmabetriebslehre || Das Krankenversicherungssystem in Deutschland

22

O. Schöffski

1.6 Abschließende Bemerkungen

Das gegliederte Krankenversicherungssystem in Deutschland hat sich seit Jahr-zehnten erfolgreich gegen alle größeren Änderungs- und Reformvorschläge be-hauptet. Es ist ein Status quo erreicht worden, mit dem sowohl die GKV als auch die PKV zufrieden ist. Beide Systeme haben ihre Vor- und Nachteile und sind si-cherlich verbesserungswürdig. Die steigenden Kosten im Gesundheitswesen bauen seit einigen Jahren einen enormen Druck im System auf, so dass eine große Sys-temänderung nicht unwahrscheinlich ist, Anfänge davon sind bereits durch das GKV-WSG deutlich geworden.

Auf der anderen Seite ist im deutschen Gesundheitswesen das zu verzeichnen, was auch in anderen Ländern deutlich wird: Die Bevölkerung schimpft über das Gesundheitssystem, die Leistungen sind zu schlecht und die Kosten zu hoch. Trotzdem hängt man an dem eigenen System und möchte weder wesentlich mehr marktwirtschaftliche Komponenten einführen (wie beispielsweise in Amerika), noch ein rein staatliches Gesundheitswesen haben (wie beispielsweise in Groß-britannien). Daher werden auch in Zukunft die Reformen wahrscheinlich keine massive Systemänderung bringen, sondern eher an den Symptomen ansetzen und Änderungen im Kleinen bringen. Vielleicht ist das aber auch nicht die schlechteste Lösung.