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Pharmakologische Grundlagen in der Anästhesiologie Jürgen Schüttler und Helmut Schwilden Einleitung Die pharmakologischen Grundlagen der Anästhesiologie sind neben der Physiologie einschließlich der Neurowissen- schaften ein wissenschaftliches Fundament ihrer Grundprin- zipien, die für eine optimale anästhesiologisch-perioperative Behandlung ausschlaggebend sind, um hier diesen Ge- sichtspunkt des Vorwortes zur 1 Auage dieses Lehrbuchs zu zitieren. Das Ziel diese Beitrags ist es daher, unabhängig von den speziellen Eigenschaften einzelner Substanzen, die jede für sich genommen ihr eigenes Prol an Wirkungen, Wirksamkeiten und Nebenwirkungen hat, pharmakologische Kenngrößen herauszuarbeiten, die substanzübergreifend eine quantitative Optimierung der anästhesiologisch-perioperati- ven Behandlung erlauben und den therapeutischen Zielerrei- chungsgrad mess- und dokumentierbar machen. Die pharmakologischen Grundlagen der Anästhetika in Bezug auf die optimale anästhesiologisch-perioperative Behandlungdarzustellen, ist dagegen nicht das Ziel dieses einleitenden Beitrags. Zwar hat es in den letzten 23 Jahr- zehnten eine Vielzahl von Untersuchungen und eine Reihe von Untersuchungsbefunden von Wirkungen von anästhe- tisch wirksamen Substanzen auf zelluläre, subzelluläre und molekulare Strukturen gegeben [1, 5, 11], mit dem Ergebnis, dass bestehende alteTheorien wie die Pressure-reversal- Theorieoder die Unitaritätstheorie der Narkose aufgegeben wurden, ohne dass allerdings allgemein akzeptierte neue einheitliche Theorien der anästhetischen Wirkung und Wirk- samkeit entstanden sind. Dies mag einerseits daran liegen, dass die Realität eben wesentlich komplexer ist, als dass sie mit vergleichsweise simplen Theorien wie pressure rever- salhinreichend genau beschrieben werden kann, zum ande- ren mag es am Untersuchungsgegenstand selber liegen. Einem Ionenkanal oder einer Lipidmembran ordnen wir überlicherweise nicht die Fähigkeit zu, Bewusstsein oder Schmerz besitzen zu können. Das heißt an diesen Objekten kann also nicht Anästhesie selbst, sondern können lediglich gewisse Wirkungen von Anästhetika studiert werden. Die systematische Verbindung dieser molecular actionzur an- ästhesiologischen Wirkung, Wirksamkeit oder gar Outcome scheint jedoch sehr komplex und noch sehr forschungsbe- dürftig zu sein. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es daher nicht geboten, den möglichen Link von der molekularen Wirkung zu den Grundprinzipien der optimalen anästhesio- logisch-perioperativen Behandlung in Lehrbuchform zu kanonisieren [11]. 1 Pharmakokinetik Die optimale Anwendung und Verabreichung von Arzneimit- teln erfordert die Beantwortung zweier grundsätzlicher Fragen: Welche Konzentration bzw. welcher Partialdruck des Medikamentes am Ort der Wirkung führt zu dem ge- wünschten Effekt? Wie kann diese Konzentration erreicht und aufrecht erhal- ten werden? Schon im Jahre 1846 hatte Rudolf Buchheim (18201879) diese beiden Probleme im Vorwort zur deutschen Bearbei- tung von Jonathan Pereiras Handbuch der Heilmittellehre [2] angesprochen. Heute wird im englisch-sprachigen Schrifttum der bekannte Aphorismus zur Erläuterung der Pharmako- kinetik und Pharmakodynamik herangezogen. " Pharmacodynamics is what the drug does to the body and pharmacokinetics is what the body does to the drug. Die Pharmakokinetik bietet somit den Rahmen, das Pro- blem zu bearbeiten, wie ein Arzneimittel zu dosieren ist, um J. Schüttler (*) · H. Schwilden Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Klinik für Anästhesiologie, Erlangen, Deutschland E-Mail: [email protected]; helmut. [email protected] # Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 R. Rossaint et al. (Hrsg.), Die Anästhesiologie, Springer Reference Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-45539-5_14-1 1

Pharmakologische Grundlagen in der Anästhesiologie · Das klinische bekannte Konzept einer Einleitungsdosis ( „loading dose“) und einer Erhaltungsdosierung ( mainten- ance dose“)

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Pharmakologische Grundlagen in derAnästhesiologie

Jürgen Schüttler und Helmut Schwilden

EinleitungDie pharmakologischen Grundlagen der Anästhesiologiesind neben der Physiologie einschließlich der Neurowissen-schaften ein wissenschaftliches Fundament ihrer Grundprin-zipien, „die für eine optimale anästhesiologisch-perioperativeBehandlung ausschlaggebend sind“, um hier diesen Ge-sichtspunkt des Vorwortes zur 1 Auflage dieses Lehrbuchszu zitieren. Das Ziel diese Beitrags ist es daher, unabhängigvon den speziellen Eigenschaften einzelner Substanzen, diejede für sich genommen ihr eigenes Profil an Wirkungen,Wirksamkeiten und Nebenwirkungen hat, pharmakologischeKenngrößen herauszuarbeiten, die substanzübergreifend einequantitative Optimierung der anästhesiologisch-perioperati-ven Behandlung erlauben und den therapeutischen Zielerrei-chungsgrad mess- und dokumentierbar machen.

Die pharmakologischen Grundlagen der Anästhetika inBezug auf die „optimale anästhesiologisch-perioperativeBehandlung“ darzustellen, ist dagegen nicht das Ziel dieseseinleitenden Beitrags. Zwar hat es in den letzten 2–3 Jahr-zehnten eine Vielzahl von Untersuchungen und eine Reihevon Untersuchungsbefunden von Wirkungen von anästhe-tisch wirksamen Substanzen auf zelluläre, subzelluläre undmolekulare Strukturen gegeben [1, 5, 11], mit dem Ergebnis,dass bestehende „alte“ Theorien wie die „Pressure-reversal-Theorie“ oder die Unitaritätstheorie der Narkose aufgegebenwurden, ohne dass allerdings allgemein akzeptierte neueeinheitliche Theorien der anästhetischen Wirkung und Wirk-samkeit entstanden sind. Dies mag einerseits daran liegen,dass die Realität eben wesentlich komplexer ist, als dass siemit vergleichsweise simplen Theorien wie „pressure rever-sal“ hinreichend genau beschrieben werden kann, zum ande-ren mag es am Untersuchungsgegenstand selber liegen.

Einem Ionenkanal oder einer Lipidmembran ordnen wirüberlicherweise nicht die Fähigkeit zu, Bewusstsein oderSchmerz besitzen zu können. Das heißt an diesen Objektenkann also nicht Anästhesie selbst, sondern können lediglichgewisse Wirkungen von Anästhetika studiert werden. Diesystematische Verbindung dieser „molecular action“ zur an-ästhesiologischen Wirkung, Wirksamkeit oder gar Outcomescheint jedoch sehr komplex und noch sehr forschungsbe-dürftig zu sein. Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint es dahernicht geboten, den möglichen Link von der molekularenWirkung zu den Grundprinzipien der optimalen anästhesio-logisch-perioperativen Behandlung in Lehrbuchform zukanonisieren [11].

1 Pharmakokinetik

Die optimale Anwendung und Verabreichung von Arzneimit-teln erfordert die Beantwortung zweier grundsätzlicher Fragen:

• Welche Konzentration bzw. welcher Partialdruck desMedikamentes am Ort der Wirkung führt zu dem ge-wünschten Effekt?

• Wie kann diese Konzentration erreicht und aufrecht erhal-ten werden?

Schon im Jahre 1846 hatte Rudolf Buchheim (1820–1879)diese beiden Probleme im Vorwort zur deutschen Bearbei-tung von Jonathan Pereira’s Handbuch der Heilmittellehre [2]angesprochen. Heute wird im englisch-sprachigen Schrifttumder bekannte Aphorismus zur Erläuterung der Pharmako-kinetik und Pharmakodynamik herangezogen.

" Pharmacodynamics is what the drug does to the body andpharmacokinetics is what the body does to the drug.

Die Pharmakokinetik bietet somit den Rahmen, das Pro-blem zu bearbeiten, wie ein Arzneimittel zu dosieren ist, um

J. Schüttler (*) · H. SchwildenFriedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Klinik fürAnästhesiologie, Erlangen, DeutschlandE-Mail: [email protected]; [email protected]

# Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018R. Rossaint et al. (Hrsg.), Die Anästhesiologie, Springer Reference Medizin,https://doi.org/10.1007/978-3-662-45539-5_14-1

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einen gegebenen Konzentrationsverlauf zu erzielen. DiePharmakodynamik hilft die Frage zu beantworten, welcheKonzentration angestrebt werden soll, um eine bestimmteWirkung zu erzielen.

1.1 Grundlagen

Die Pharmakokinetik eines Arzneimittels wird im Wesent-lichen durch 2 physiologische Grundprozesse bestimmt: Ver-teilung und Elimination.

1.1.1 VerteilungDie Verteilung wird durch Transportprozesse bewirkt. Manunterscheidet zwischen dem konvektiven Transport durchdas zirkulierende Blut zu den Geweben und dem Transportin die Gewebe und aus den Geweben.

Beim Transport in die Gewebe ist zu unterscheiden zwi-schen passivem Transport (z. B. Diffusion) und aktivemTransport durch spezielle Transportsysteme (Abb. 1).

Für viele nicht natürlicherweise im Körper vorkommendeSubstanzen (Xenobiotica) wie z. B. Inhalationsanästhetikawird man annehmen dürfen, dass der Transport vom Blut indie Gewebe passiv durch Diffusion erfolgt und aktive Trans-portprozesse nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Die Geschwindigkeit und das Ausmaß der Verteilunghängen von einer Reihe von Faktoren ab.

Transportprozess beeinflussende Faktoren• Perfusion• Anatomische Größe des Gewebes• Bindung des Medikaments an Plasma- und Gewe-

beproteine• Permeabilität der Gewebemembranen• Löslichkeit des Arzneistoffes in den verschiedenen

Substanzen des Gewebes

1.1.2 Elimination" Unter Elimination werden die Mechanismen zusammenge-

fasst, welche die Arzneistoffmenge im Körper reduzieren.

Hierunter fällt die Ausscheidung durch Urin und Fäzes, aberauch durch die Ausatemluft. Letztere ist ein besonders wich-tiger Eliminationsweg für die Inhalationsanästhetika.

Voraussetzung für die Elimination vieler Arzneimittel istdie Metabolisierung. Hierbei steht die Leber als wichtigstesOrgan im Vordergrund. Allerdings gibt es für einige Anäs-thetika auch extrahepatische enzymatische Elimination-wege wie z. B. Plasmacholinesterasen (Succinylcholin) oderunspezifische Plasma- und Gewebsesterasen (Remifentanil).Daneben existieren Substanzen, die auch durch chemische

Reaktionen eliminiert werden. So wird z. B. Atracuriumneben der Hydrolyse auch durch die sog. Hofmann-Elimina-tion abgebaut.

1.1.3 Pharmakokinetische ModelleHinsichtlich der Pharmakokinetik kann man sich den Körperals eine parallele Anordnung der Organe und Gewebe vor-stellen.

Abb. 2 zeigt eine Anordnung, wie sie von Davis u. Ma-pleson [3] vorgeschlagen wurde. Das Schema ist sowohl fürintravenöse als auch für inhalative Anästhetika anwendbar.

Kennt man die Blutflüsse durch die Gewebe und dieTransportmechanismen vom Blut in die Gewebe, so kanndas Schema zur Computersimulation der Pharmakokinetikeiner Substanz genutzt werden. Schon Mitte der 1980er-Jahrewurden Simulationsprogramme für den PC entwickelt – vor-nehmlich für die Inhalationsanästhetika. Größen wie Per-fusion der einzelnen Organe, Verteilungskoeffizienten zwi-schen Blut und Geweben sowie quantitative Beschreibungdes Transportmechanismus vom Blut in die Gewebe müssendabei zuvor meist in einer Vielzahl von Untersuchungengewonnen werden. Durch repetitiv gemessene Plasmakon-zentrationen bzw. durch kontinuierliche Messung der in-und endexspiratorischen Konzentration von Inhalationsanäs-thetika lassen sich in der Regel nur Modelle mit erheblichgeringerer Komplexität identifizieren und typischerweise nur3–4 Verteilungsräume unterscheiden.

1.2 Pharmakokinetik derintravenösenAnästhetika

Die Pharmakokinetik eines i.v.-Anästhetikums wird heutemeist durch ein pharmakokinetisches Modell und einen Satzvon numerischen, pharmakokinetischen Parametern angege-ben [8, 10]. Es gibt 2 pharmakokinetische Parameter mithoher Relevanz für die Dosierung, das Verteilungsvolumenund die Clearance des Medikaments.

1.2.1 Verteilungsvolumen" Das Verteilungsvolumen stellt den Zusammenhang zwi-

schen der Dosis und der Konzentration eines Pharma-kons her.

Volumen ¼ Dosis

Konzentration

Bestimmung des VerteilungsvolumensEin typischer Ansatz zur Bestimmung des Verteilungsvolu-mens ist die Verabreichung einer intravenösen Dosis D als

2 J. Schüttler und H. Schwilden

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Bolus und die nachfolgende Messung der Blut- oder Plasma-konzentration c(ti) zu gewählten Zeitpunkten ti (Abb. 3).

Um aus diesen Messwerten ein Verteilungsvolumenbestimmen zu können, sind mehrere Annahmen erforderlich.

Voraussetzungen zur Bestimmung desVerteilungsvolumens• Blutprobe ist repräsentativ für das Volumen• Arzneistoff ist homogen verteilt• Die bis zu diesem Zeitpunkt aus dem Volumen

entfernte Arzneistoffmenge ist erfassbar

In aller Regel kennt man aber nicht die aus dem Volumenentfernte Menge und damit ist das Verhältnis Menge: Kon-zentration nicht bestimmbar.

Initiales VerteilungsvolumenNur am Anfang, also unmittelbar nach Applikation des Boluszum Zeitpunkt t=0 ist die Menge gleich der Dosis D. ImAllgemeinen liegen zum Zeitpunkt t=0 jedoch keine Kon-zentrationsmessungen c0=c(0) vor, sodass c0 durch eine Ex-trapolation gewonnen werden muss. Das Volumen V, welchesdurch den Quotienten V=D/c0 bestimmt wird, heißt initialesVerteilungsvolumen. Es bezeichnet das offensichtlicheVolumen, in dem sich das Anästhetikum anfänglich verteilt.

Beispiel Bestimmt man nach der Gabe eines Bolus vonPropofol von D=150 mg das c0 zu 5 μg/ml, so ergibt sichdamit ein initiales Verteilungsvolumen von V=30 l.

Diese Abschätzung des initialen Verteilungsvolumenssetzt voraus, dass das Medikament homogen verteilt ist. Esist jedoch zu bedenken, dass die Mischung durch die Blut-zirkulation einige Zeit benötigt, sodass diese Abschätzungdes Verteilungsvolumens über die Größe c0 nur eine grobe

Abb. 1 Verteilung von Anästhetika im Körper. Diese erfolgt durch denkonvektiven Strömungstransport des Bluts zu den Geweben und dieTransportprozesse vom Blut in die Gewebe. Hierbei ist zwischen akti-

ven und passiven Transportprozessen zu unterscheiden. Für kleinmole-kulare Xenobiotica, z. B. einige Inhalationsanästhetika, ist die passiveDiffusion ein wichtiger Transportmechanismus

Abb. 2 Aus pharmakokinetischer Sicht lässt sich der Körper als eineim Wesentlichen parallele Anordnung von Organen und Geweben ver-stehen. Hieraus folgt, dass die Aufnahme von Anästhetika in den Körpergleich der Summe der Aufnahmen in die einzelnen Bestandteile ist. Dasnicht benannte untere Volumen charakterisiert das nicht perfundierteGewebe, die gefüllten Quadrate symbolisieren Blutpools. Auf die Ein-zeichnung eines peripheren Shunts wurde verzichtet, während ein zen-traler Shunt insbesondere für die Dosierung gas- und dampfförmigerSubstanzen von großer Wichtigkeit sein kann. (Die Bezeichnung„Splanchnicus“ meint in diesem Zusammenhang die Gewebe des Ver-sorgungsgebietes der Nn. Splanchnici)

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Näherung ist, die in einer Reihe von Fällen zu einer Unter-schätzung der Größe des Verteilungsvolumens führen kann.

" Cave Das initiale Verteilungsvolumen ist im Allgemeinender pharmakokinetische Parameter mit dem größten Be-stimmungsfehler.

Daher ist es sinnvoll, das Verteilungsvolumen bei einerlänger dauernden Dosierung zu bestimmen. Je länger jedochdie Applikation des Pharmakons erfolgt, umso wahrscheinli-cher nähert man sich dem Fließgleichgewicht („steadystate“).

1.2.2 ClearanceBestimmung im „steady state“" Im „steady state“ ist die Menge, die pro Zeiteinheit dem

Körper zugeführt wird, gleich der Menge, die aus demKörper eliminiert wird.

Zur Aufrechterhaltung des „steady state“ ist die Dosie-rungsrate umso größer, je höher die Konzentration des An-ästhetikums sein soll.

Bei der sog. linearen Pharmakokinetik besteht eine direkteProportionalität zwischen Applikationsrate und Konzen-tration im „steady state“. Die lineare Pharmakokinetik istdadurch charakterisiert, dass eine Verdopplung der Dosie-rung eine Verdopplung des Konzentrationsverlaufs bewirkt.

Den Proportionalitätsfaktor zwischen der Infusionsrate im„steady state“ und der Konzentration bezeichnet man alsClearance (Cl).

Infusionsrate ¼ Clearance

 �Konzentration im „steady state“

" Clearance ist somit das fiktive Blutvolumen, aus dem proZeiteinheit die Substanz vollständig eliminiert wird.

Das klinische bekannte Konzept einer Einleitungsdosis(„loading dose“) und einer Erhaltungsdosierung („mainten-ance dose“) findet in dem Verteilungsvolumen und in derClearance ihre quantitativen Determinanten. Als Prinzip kannman daher formulieren:

• Einleitungsdosis = Verteilungsvolumen � gewünschteKonzentration

• Erhaltungsdosis = Clearance � gewünschte Konzen-tration

Beispiel Geht man für Propofol von einem initialen Vertei-lungsvolumen von V=30 l und einer Clearance von Cl=1,5 l/min aus und zielt auf eine gewünschte Konzentration von3 μg/ml, so ergibt sich als Einleitungsdosis ein initialer Bolusvon D=90 mg und eine Erhaltungsdosis von 4,5 mg/min.

Die Dosierung ist jedoch den klinischen Belangen anzu-passen. Insbesondere zur Vermeidung unerwünschter Neben-wirkungen ist es häufig erforderlich, die gewünschte Kon-zentration durch Titration und nicht durch Bolusgabenanzustreben.

Zeitunabhängige BestimmungDie Clearance spielt also eine bedeutende Rolle für dieDosierung im „steady state“. Häufig ist es jedoch nicht mög-lich, „Steady-state“-Bedingungen herzustellen. Es ist deshalbnützlich, alternative Methoden zur Bestimmung der Clea-rance zu haben. Eine Möglichkeit ist die Bestimmung derClearance über folgende Formel.

CI ¼ D

AUC

Abb. 3 Grundlage der Erarbeitung pharmakokinetischer Modelle istdie Messung von Pharmakakonzentrationen im Blut („Blutspiegel“) inihrem zeitlichen Verlauf. Besonders einfach wird die Analyse, wenn das

Pharmakon als i.v.-Bolus appliziert wird. Bolus bezeichnet hierbei dieGabe einer bestimmten Menge eines Medikamentes in einem idealty-pisch infinitesimalen Zeitintervall

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Hierbei bezeichnet AUC die Fläche unter der Blutspiegel-kurve („area under the curve“), die durch die Gabe einerGesamtdosis D erzeugt wurde. Dabei spielt es keine Rolle,wie die Dosis D appliziert wurde, ob als einzelner Bolus, alskonstante Infusion oder als repetitive Bolusdosierung.

" Voraussetzung für die Gültigkeit dieser einfachen Bezie-hung zwischen Clearance, Dosis und AUC ist nicht nur dieLinearität der Pharmakokinetik (Verdopplung der Dosisverdoppelt den Konzentrationsverlauf), sondern auchderen Zeitunabhängigkeit.

Zeitunabhängigkeit bedeutet, dass die Messergebnisse(z. B. des Konzentrationsverlaufs) unabhängig davon sind,wann die Messungen durchgeführt wurden. Im „steady state“entspricht die pro Zeiteinheit eliminierte Menge dem Produktaus Clearance und Konzentration. Aufgrund der Physiologieder Arzneimittelelimination trifft dies jedoch häufig nicht nurim „steady state“ sondern zu jedem beliebigen Zeitpunktzu. Dadurch ist es möglich, eine Massenbilanz zwischen derapplizierten Menge, der insgesamt eliminierten Menge undder im Volumen V verbliebenen Menge aufzustellen.

1.2.3 KompartimentmodelleIn der Abb. 4 sind die Mengenverhältnisse eines Anästheti-kums im zeitlichen Verlauf dargestellt.

MassenbilanzDas Massenerhaltungsgesetz erfordert, dass zu jedem Zeit-punkt die Gesamtdosis D gleich der Summe der Substanz imKörper plus der kumulativ eliminierten Substanzmenge ist.Subtrahiert man von der Gesamtdosis die exponentiell abfal-lende Menge im Volumen V und die kumulativ eliminierteMenge, so verbleibt der in Abb. 4 fett dargestellte Mengen-verlauf, der sich weder in V befindet noch ausgeschiedenwurde. Offensichtlich handelt es sich hier um eine Menge,die sich in einem anderen Teil des Körpers befindet als dasdurch V repräsentierte Volumen.

Die Konsequenz dieser Massenbilanz ist, dass wir denKörper pharmakokinetisch als ein System mehrerer Vertei-lungsvolumina aufzufassen haben. Man wird auf diese Weisezu dem Ansatz der sog. Mehrkompartimentmodelle geführt.Diese Modelle machen zusätzliche spezifische Annahmendarüber, wie das Medikament zwischen den Kompartimentenverteilt und wie es eliminiert wird.

" Die verbreitetsten pharmakokinetischen Modelle für i.v.-Anästhetika sind mammilläre 2- oder 3-Kompartiment-Modelle, die aus einem zentralen Kompartiment oder Ver-teilungsvolumen und einem oder 2 peripheren Komparti-menten oder Verteilungsvolumina bestehen.

Mammillär bedeutet, dass in das zentrale Verteilungsvo-lumen dosiert wird, die Elimination des Anästhetikums nuraus diesem Kompartiment erfolgt, und die peripheren Kom-partimente nur mit diesem Kompartiment verbunden sindund nicht untereinander.

Pharmakokinetische DifferenzialgleichungenIm Rahmen dieser Modellstruktur wird ferner die Annahmegemacht, dass die Pharmakonmenge, die pro Zeiteinheit voneinem Kompartiment i in ein Kompartiment j transferiertwird, ein konstanter Bruchteil der im Kompartiment i befind-lichen Pharmakonmenge ist. Dieser konstante Bruchteil proZeiteinheit wird als sog. Transferkonstante bezeichnet undmit kij abgekürzt. In dieser Systematik wird die Bezeichnungk10 benutzt, um die Elimination der Substanz aus dem zen-tralen Kompartiment, das typischerweise die Nummer „1“erhält, zu bezeichnen. Eine andere Bezeichnung ist auch kel.

Betrachtet man nunmehr ein typisches 3-Kompartiment-Modell (Abb. 5) mit den Anästhetikamengen m1 im zentralenKompartiment, m2 im sog. „flachen“ oder schnell äquilibrie-renden peripheren Kompartiment und m3 im sog. „tiefen“oder langsam äquilibrierenden peripheren Kompartiment, sofolgen aus dem Massenerhaltungsgesetz für die Änderungder Mengen dmi/dt in den 3 Kompartimenten die 3 Differen-zialgleichungen.

dm1

dt¼ � k10 þ k12 þ k13ð Þm1 þ k21m2 þ k31m3 þ l tð Þ

dm2

dt¼ k12m1 � k21m2

dm3

dt¼ k13m1 � k31m3

Dabei wird angenommen, dass die Dosierung I(t) desMedikamentes in das zentrale Kompartiment „1“ erfolgt. I(t) bezeichnet die zum Zeitpunkt t in das VerteilungsvolumenV1 verabreichte Menge pro Zeiteinheit. Eine Bolusgabe zumZeitpunkt t=0 entspricht dabei einer Idealisierung, nämlichder Gabe der Bolusmenge in einer beliebig kleinen, infinite-simalen Zeiteinheit.

Beispiel Bei Vorliegen folgender Transferkonstanten k12=0,3/min, k21=0,08/min, k13=0,09/min, k31=0,004/min undk10=0,06/min wird nach Gabe eines Bolus von 100 mg in der1. min eine Menge von ungefähr (0,06+0,3+0,09)�100 mg =45 mg aus dem Verteilungsvolumen V1 entfernt und0,3�100mg= 30mg und 0,09�100mg= 9mg den VoluminaV2 bzw. V3 zugeführt.

Aus den Differenzialgleichungen ergibt sich, dass dieÄnderung der gesamten Menge im Körper (m1+m2+m3)durch die Differenz zwischen Zufuhr I(t) und Eliminationk10m1 gegeben ist.

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d m1 þ m2 þ m3ð Þdt

¼ I tð Þ � k10 m1

Betrachtet man diese Beziehung im „steady state“, wennm1=c1V1 konstant und I(t) konstant sind und die linke undrechte Seite der obigen Gleichung gleich 0 ist, so ergibt sich,dass zwischen V1, k10 und der Clearance Cl folgenderZusammenhang besteht.

Cl ¼ k10V1

Natürlich sind die Mengen m1, m2, m3 ohne besondereVorkehrungen praktisch nie messbar. Im Regelfall ist dieKonzentration im Blut bzw. Plasma die einzig messbareGröße. Die Mengen in den verschiedenen Verteilungsvolu-mina werden deshalb rechnerisch mit Hilfe des Verteilungs-volumens V1 und weiterer Annahmen über virtuelle Vertei-lungsvolumina ermittelt.

Virtuelle VerteilungsvoluminaEntsprechend der Beziehung m1=V1�c1 lassen sich fiktiveoder auch sog. virtuelle oder offensichtliche Verteilungsvo-lumina („apparent volume of distribution“) für die periphe-ren Kompartimente „2“ und „3“ über die Beziehungenm2=V2�c2 und m3=V3�c3 definieren. Da im Allgemeinenaber keine der 3 Größen mi, Vi, ci i=2 bzw. 3 messbar ist, sinddiese Beziehungen zunächst wenig hilfreich. Erst durch wei-tere Annahmen kann man zu einer Schätzung für die Volu-mina V2 und V3 gelangen.

" Man nimmt an, dass im »steady state« die Konzentration inallen Kompartimenten identisch ist.

Mit den Bezeichnungen der obigen Gleichungen liegt der„steady state“ dann vor, wenn die Änderung der Mengen inden Kompartimenten (dmi/dt) = 0 ist. Dann gilt:

0 ¼ k12m1 � k21m2

Abb. 4 Geht man von einem einzelnen Volumen Vaus, in welches einAnästhetikum appliziert wird, so lassen sich 2 Mengenverläufe desPharmakons bestimmen; die jeweilige Menge in dem Volumen V (=gemessene Konzentration � Volumen V) sowie die kumulativ elimi-nierte Menge (= zeitliche Integration der Eliminationsraten= [gemes-sene Konzentration � Clearance]). Die Summe dieser beiden Mengen

ergibt aber bei fast allen Anästhetika nicht die gegebene Dosis, sondernes verbleibt eine fehlende Menge, wie eingezeichnet. Erst die Summealler 3 Mengen ergibt die gegebene Dosis. Die „fehlende“ Menge musssich offenbar außerhalb des Volumens V befinden. Hierdurch werdenMehrkompartimentmodelle begründet

Abb. 5 Das sog. 3-Kompartiment-Modell ist heute das Standardmodellfür die Pharmakokinetik von i.v.-Anästhetika. Es besteht aus dem zen-tralen Kompartiment mit dem Verteilungsvolumen V1 und sog. periphe-ren Kompartimenten mit den Verteilungsvolumina V2 und V3, derenBenennung üblicherweise so erfolgt, dass gilt: V2 < V3. Die sog. Trans-fer- oder Mikrokonstanten kij bezeichnen den Bruchteil der Pharmakon-menge in Kompartiment i, der pro Zeiteinheit in das Kompartiment jtransferiert wird. k10 bezeichnet hierbei die Elimination aus dem Körper.Dass die Elimination nur aus dem zentralen Kompartiment erfolgt, ist eineModellannahme und nicht etwa das Ergebnis eines Messprozesses. Dietypische Dimension der Transferkonstanten ist min–1. Zum Beispiel ist dieGröße m3(t)xk31 die Pharmakonmenge, die zum Zeitpunkt t vom Kom-partiment 3 in das Kompartiment 1 pro Minute transferiert wird

6 J. Schüttler und H. Schwilden

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0 ¼ k13m1 � k31m3

Setzt man in diese Gleichungen die Beziehungen mi=Vi�ci ein und bedenkt, dass im „steady state“ die Konzen-tration in allen Kompartimenten als gleich angesehen wird(c1=c2=c3), so folgt:

V2 ¼ k12k21

V1

V3 ¼ k13k31

V1

Die Summe der 3 Volumina ist das offensichtliche Ge-samtverteilungsvolumen, es wird auch als das Verteilungsvo-lumen im „steady state“ Vss bezeichnet.

Vss ¼ V1 þ V2 þ V3

Meist sind die peripheren Verteilungsvolumina V2 und V3

erheblich größer als das zentrale Verteilungsvolumen V1.

" Verteilungsvolumina sind weniger durch die Anatomiebestimmt als vielmehr durch das Verteilungsverhaltender Substanzen. Die physikochemische Löslichkeit derSubstanz in den verschiedenen Geweben ist eine maßgeb-liche Determinante für die Größe des Verteilungsvolu-mens.

Die anatomischen Korrelate der verschiedenen Verteilungs-volumina können deshalb erheblich andere Größenordnungenaufweisen. Initiale Verteilungsvolumina liegen größenord-nungsmäßig für viele i.v.-Anästhetika zwischen einigenwenigen l und einigen 10 l. Die Verteilungsvolumina im„steady state“ (Vss) sind maßgeblich durch die Lipophilieder Substanzen geprägt.

Eine Reihe von neueren Muskelrelaxanzien haben kleineVss z. B. ca. 8 l für Atracurium. Unter den Opiaten hatRemifentanil mit ca. 20 l das kleinste Vss. Fentanyl reichtmit ca. 200 l schon an die Größenordnung von Propofol miteinem Verteilungsvolumen von Vss=240 l heran. Die größtenVerteilungsvolumina weisen Inhalationsanästhetika mit biszu einigen 1000 l auf.

Interkompartimentelle ClearanceFormt man die vorstehenden Definitionsgleichungen für V2

und V3 um,

k21V2 ¼ k12V1

k31V3 ¼ k13V1

kann man, in Analogie zur oben stehenden Formel für die

Clearance, die Größen links und rechts des Gleichheitszei-chens als Clearancegrößen interpretieren.

Die Größen Cl2 = k12V1 und Cl3 = k13V1 nennt maninterkompartimentelle Clearance im Unterschied zur tota-len Clearance Cl. Diese sind ein Maß für den Umfang desAnästhetikumtransfers zwischen den Kompartimenten, dasunabhängig von der Konzentration ist. In gleicher Weisebeschreibt die totale Clearance die Eliminationsfähigkeitdes Körpers unabhängig von der Konzentration.

Von den Größen Clearance, Verteilungsvolumen undTransferkonstanten sind nur die Clearance und das initialeVerteilungsvolumen mit relativ einfachen Methoden zu quan-tifizieren. Die für eine vollständige pharmakokinetischeBeschreibung erforderliche Quantifizierung der Mikro- oderTransferkonstanten setzt kompliziertere mathematische An-passungsprozeduren voraus.

Polyexponentielle DispositionsfunktionWie in Abb. 6 dargestellt, fallen die Konzentrationen im Blutnach Gabe eines Bolus D polyexponentiell ab.

" Den Blutspiegelverlauf nach einem Bolus bezeichnet manauch als Dispositionsfunktion.

Die Anzahl der verschiedenen Exponenten, die zur ad-äquaten Beschreibung des Blutspiegelabfalls c(t) benötigtwird, stimmt mit der Anzahl der Kompartimente des unter-legten Kompartimentmodells überein. Für ein 3-Kom-partiment-Modell (Abb. 5) ergibt sich somit ein triexponen-tieller Blutspiegelverlauf c(t).

c tð Þ ¼ D

V1

Ae�at þ Be�βt þ Ce�γt� �

;Aþ Bþ C ¼ 1

Es ist eine Konvention, dass die Exponenten α, β, γ derGröße nach geordnet werden, γ ist der kleinste Exponent unddamit die langsamste Zeitkonstante.

Den Parametersatz (A, B, C, α, β, γ) bezeichnet man auchals pharmakokinetischen Hybridparameter. Dabei ist es uner-heblich, ob man sich zur Beschreibung der Pharmakokinetikder Hybridparameter oder der Transferkonstanten bedient, dasie sich jeweils ineinander umrechnen lassen.

Mit jedem Exponenten werden üblicherweise verschie-dene Prozesse assoziiert. Mit dem ersten Exponenten(α-Phase) wird die schnelle Verteilung in das flache periphereKompartiment verbunden und mit der β-Phase die Verteilungin das tiefe periphere Kompartiment, während die γ-Phasemit der Elimination in Verbindung gebracht wird (Abb. 6).

Die Fläche unter der Kurve (AUC) kann wie folgt berech-net werden:

Pharmakologische Grundlagen in der Anästhesiologie 7

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AUC ¼ D

V1

A

αþ B

βþ C

γ

� �

1.2.4 Modellbasierte DosierungsprinzipienMit dem zentralen Verteilungsvolumen V1 und der ClearanceCl sind wichtige Größen für die Bestimmung der Dosierungeines i.v.-Anästhetikums gegeben.

Bolus- und ErhaltungsdosisMöchte man für ein gewisses Anästhetikum eine Blutkon-zentration von c0 einstellen, kann dies durch die Gabe einesinitialen Bolus der Größe D0 = V1c0 erreicht werden.

Für die Aufrechterhaltung ergibt sich eine konstanteInfusionsrate I0 = Clc0.

Beispiel Legt man die in Abb. 6 dargestellten, pharmakoki-netischen Größen von Propofol [10] zugrunde, so ist V1=22,5 l und die Cl = 1,3 l/min. Um eine Konzentration vonc0 = 3 μg/ml zu erzielen, ist mithin ein Bolus von 67,5 mgund eine Erhaltungsdosierung von 3,9 mg/min erforderlich.

Führt man eine Computersimulation dieser Dosierungs-strategie durch, erzielt man den in Abb. 7 dargestellten Kon-zentrationsverlauf.

Zwar wird initial der erwünschte Blutspiegel erreicht, aberdie konstante Infusionsrate ist über lange Zeit nicht in derLage, die steil abfallenden Blutspiegel zu kompensieren. DieKonzentration steigt sehr langsam. Die Ursache ist, dassunmittelbar nach dem Bolus das Medikament in die periphe-ren Kompartimente verteilt wird, die im Vergleich zum zen-tralen Kompartiment ein ungleich größeres Reservoir darstel-len. Diese Reservoirs nehmen die Substanz solange auf, bisGleichgewichtsbedingungen hergestellt sind.

Zum Vergleich: Wenn im vorgestellten Beispiel bei einerKonzentration von 3 μg/ml 67,5 mg Substanz in V1 vorhan-den sind, dann befindet sich unter „Steady-state“-Bedingun-

gen in den peripheren Kompartimenten V2 und V3 ungefährdas 25-fache. Im „steady state“ sind also bei einem Blutspie-gel von 3 μg/ml ca. 67,5 mg + 25�67,5 mg = 1,755 mggespeichert. Dieser sog. „body load“ muss dem Körper zu-geführt werden, wenn man den Gleichgewichtszustanderreichen will.

Soll der Gleichgewichtszustand schnell erreicht werden,muss diese Menge der systemischen Zirkulation auch schnellzugeführt werden.

" Cave Da die gesamte Menge in allen Kompartimentenüber das kleine, zentrale Verteilungsvolumen zugeführtwerden muss, sind die induzierten Maximalblutspiegelumso höher, je schneller dies geschieht.

Mit der Höhe der Blutspiegel nehmen jedoch auch dieunerwünschten Wirkungen zu. Hinsichtlich der Dosierungstellt sich also ein Optimierungsproblem.

BET-SchemaUm eine konstante Blutkonzentration c0 von Anfang an zuerzielen und aufrecht zu erhalten, wurde das sog. BET-Schema(Bolus-Elimination-Transfer) entwickelt [14, 15].

Es ging von folgenden Überlegungen aus: Um die Kon-zentration c0 in einem Volumen V1 zu erzielen, muss diesemVolumen eine Substanzmenge D0= c0�V1 zugeführt wer-den. Wird die Menge als Bolus appliziert, so sind in derFolgezeit diejenigen Prozesse zu kompensieren, die die Sub-stanz veranlassen dieses Volumen zu verlassen; das ist einmaldie Elimination aus dem Körper und zum anderen der Trans-fer aus dem zentralen Verteilungsvolumen in die peripherenVerteilungsvolumina. Wenn die Menge D0 im Volumen V1

konstant bleibt, dann wird pro Zeiteinheit die konstanteMenge k10D0 eliminiert. Diese Größe muss also substituiertwerden, um die Menge und damit die Konzentration in V1

konstant zu halten.

Abb. 6 Idealtypischer Verlaufder Blutspiegel nach einem i.v.-Bolus von 200 mg. Dieeingezeichnete Formel beschreibtden polyexponentiellenKurvenverlauf, hierbei wird dieZeit t in Einheiten von mingemessen. Die konkreten Datenentsprechen in etwa denen vonPropofol

8 J. Schüttler und H. Schwilden

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Der Nettotransfer von Kompartiment 1 nach Kompar-timent 2 weist pro Zeiteinheit die Größe D0k12exp(-k21t)auf, ein analoger Ausdruck gilt für den Transfer von Kom-partiment 1 nach Kompartiment 3. In der Summe folgt:

I tð Þ ¼ D0 δ tð Þ þ k10 þ k12e�k21t þ k13e

�k31t� �

Der Transferterm fällt exponentiell ab; d. h. in dem Maße,in dem das System dem Gleichgewichtszustand entgegenstrebt, verringert sich der Nettotransfer vom zentralen Kom-partiment in die peripheren Kompartimente. Abb. 8 zeigt einegrafische Darstellung dieses Applikationsschemas als Funk-tion der Zeit.

Das BET-Schema ist der Ausgangspunkt für weiterge-hende Dosierungsüberlegungen wie die sog. „target control-led infusion“ (TCI).

Konzentrationsabfall und HalbwertszeitenNach Beendigung der Zufuhr eines Pharmakons fällt dieKonzentration im Blut polyexponentiell ab. Dabei bestimmtder jeweils kleinste Exponent den terminalen Abfall, also derβ-Term beim 2-Kompartiment-Modell oder der γ-Term beim3-Kompartiment-Modell. Nach Abklingen der schnellerenExponentialterme kann also das Abfallverhalten durch eineneinzigen Exponentialterm beschrieben werden.

Zur Charakterisierung der Geschwindigkeit des Abfallsbedient man sich der Kenngröße „Halbwertszeit“ („halflife“), die üblicherweise z. B. für die γ-Phase durch t1/2γabgekürzt wird.

" Die Halbwertszeit ist die Zeit, in der eine Exponentialfunk-tion um 50 % abgefallen ist.

Die Halbwertszeit ist für monoexponentielle Kurven eineuniverselle Größe. Von jedem Ordinatenwert c auf der Expo-nentialkurve dauert es immer die Zeitspanne t1/2γ, bis die

Exponentialfunktion auf die Hälfte von c abgefallen ist(Abb. 3).

Bei polyexponentiellen Dispositionfunktionen gilt dasnicht. Nach Abfall der schnellen Phasen (α- und ggf.β-Phase) gilt das jedoch annähernd für die γ-Phase. Die damitverbundene Halbwertszeit heißt auch terminale Halbwerts-zeit.

Die Halbwertszeit ist damit ein attraktiver Indikator zurCharakterisierung der endgültigen Elimination eines Pharma-kons aus dem Blut. Über viele Jahre wurde diese Größe in derAnästhesiologie zur Beschreibung der Geschwindigkeit desAufwachverhaltens nach Anästhetikaapplikation verwendet.Allerdings wurde an der klinischen Relevanz dieser Größeschon Anfang der 1980er-Jahre Kritik geübt [13], weil dieüberaus lange terminale Halbwertszeit von Inhalationsanäs-thetika (typische Größenordnung 1.000–3.000 min) nicht mitden relativ kurzen Aufwachzeiten korrespondierte.

Das folgende Beispiel verdeutlicht diese Kritik. Der Kon-zentrationsabfall nach einem Bolus bzw. nach Erreichen des„steady state“ wird durch folgende polyexponentielle Funk-tion beschrieben.

nach Bolus:Ae�αt + Be�βt + Ce�γt

mit den Beispieldaten gemäß Abb. 6:

0,88e�0,51t + 0,10e�0,027t + 0,02e�0,0015t

nach „steady state“:

mit den Beispieldaten gemäß Abb. 6:

1,8e�0,51t + 3,7e�0,027t + 13,3e�0,0015t

Nach Bolusapplikation sind also für 98 %

Abb. 7 Mit der Applikationeines Bolus, gefolgt von derErhaltungsdosierung, erzielt mankeineswegs einen konstantenBlutspiegel. Ursächlich hierfür istdie initiale Verteilung desAnästhetikums in die peripherenVerteilungsvolumina, die damitdem zentralenVerteilungsvolumen erheblicheAnästhetikamengen entziehen

Pharmakologische Grundlagen in der Anästhesiologie 9

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¼ 0,88þ 0,10

0,88þ 0,10þ 0,02

� �

des Konzentrationsabfalls die beiden schnelleren α- undβ-Phasen verantwortlich, während nur 2 % durch die termi-nale γ-Phase mit einer Halbwertszeit von 460 min bestrittenwerden.

Aus dem „steady state“ heraus beträgt der Anteil der α-und β-Phase dagegen nur ca. 29 %

¼ 1,8þ 3,7

1,8þ 3,7þ 13,3

� �,

der Anteil der terminalen γ-Phase jedoch beträgt ca. 71 % desGesamtabfalls (Abb. 9).

" Die Bedeutung der terminalen Abfallphase für das Aufwa-chen aus der Narkose wird durch die terminale Halbwerts-zeit in hohem Maße überschätzt. Ihr jeweiliger Anteilhängt davon ab, wieweit während der Narkose ein „steadystate“ eingetreten ist.

Nicht immer entspricht die terminale Abfallphase einemexponentiellen Abfall. Vielmehr wurden insbesondere fürFentanyl postoperative Wiederanstiege des Blutspiegelsgefunden, die zu dem gefürchteten Reboundphänomen mitsekundärem Atemstillstand geführt haben [19]. Ein solchesReboundphänomen stellt letztlich eine Verletzung der Zeit-unabhängigkeit dar, die die praktische Voraussetzung allerpharmakokinetisch-pharmakodynamischen Modellbildungen

ist. Die klinischen Phänomene der Tachyphylaxie und Tole-ranzentwicklung stellen weitere Beispiele einer Verletzungdieser wichtigen Voraussetzung dar. Inwieweit sie pharma-kokinetische oder pharmakodynamische Ursachen hat, hängtvom Einzelfall ab und ist bisher in vielen Fällen unbekannt.

Mittlere Verweildauer In der Literatur werden andere, weni-ger spezielle Größen zur Abschätzung der Wirkdauer heran-gezogen wie z. B. die mittlere Verweildauer der Substanz imKörper MRT („mean residence time“). Sie ist definiertdurch:

MRT ¼Ð10

tc tð ÞdtÐ10

c tð Þdt

wobei c(t) den Konzentrationsverlauf nach Bolusgabebezeichnet.

Bei der Konstruktion solcher zeitlicher Parameter ist zubedenken, dass für die Wirksamkeit nicht so sehr die Ver-weildauer im Körper relevant ist, als vielmehr die Verweil-dauer am Ort der Wirkung. Viele (v. a. lipophile) Pharmakawerden lange im Fettgewebe gespeichert und nur sehr lang-sam aus dem Körper eliminiert. Da sie sich aber an einempharmakodynamisch inerten Ort befinden, ist das für dieDauer z. B. der Aufwachphase vollkommen irrelevant. Typi-sche Vertreter solcher Pharmaka sind die halogenierten Inha-lationsanästhetika. Die sehr lange Verweildauer im Körperspielt dann für die Dauer der Aufwachphase praktisch keineRolle, sie kann aber unter toxikologischen Gesichtspunktenrelevant werden.

Abb. 8 Das sog. BET-Schema beschreibt das i.v.-Applikationschema,um einen gewünschten Blutspiegel konstant zu halten. Es besteht auseinem Bolus B, der initial im zentralen Kompartiment die gewünschteKonzentration herstellt, der Erhaltungsdosierung E, die im „steadystate“ die pro Zeiteinheit konstante eliminierte Menge ersetzt, sowiedem Transfer T in die peripheren Kompartimente. Anfänglich enthaltendie peripheren Kompartimente kein Pharmakon. Die Rückverteilung

von den peripheren Kompartimenten in das zentrale Kompartiment istgleich Null und der Nettotransfer somit maximal. In dem Maße, in demsich die Konzentration in den peripheren Kompartimenten erhöht, er-höht sich auch die Rückverteilung in das zentrale Kompartiment underniedrigt sich die Nettotransferrate. Im „steady state“ ist schließlichHinverteilung und Rückverteilung gleich und damit der Nettotransfer 0

10 J. Schüttler und H. Schwilden

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Effektive Abfallzeit und kontextsensitive Halbwertszeit Eswurde deshalb vorgeschlagen, eine effektive Abfallzeit(EZ) der Konzentration auf einen gewissen Prozentsatz vomAusgangswert als Substitut für die Halbwertszeit heranzuzie-hen. Wie in Abb. 9 dargestellt ist, wird diese Zeitdauer maß-geblich dadurch bestimmt, bis zu welchem Grad der „steadystate“ erreicht wurde. Dies hängt u. a. von der Applikations-dauer ab. Abb. 10 zeigt die effektive Abfallzeit auf 20 % vomAusgangswert (EZ20) als Funktion der Applikationsdauer füreinige Inhalationsanästhetika und Etomidate [13].

" Die EZ50, also der Abfall der Pharmakonkonzentration imBlut auf 50 % vom Ausgangswert, wird heute als kontext-sensitive Halbwertszeit [6] bezeichnet.

1.3 Pharmakokinetik derInhalationsanästhetika

1.3.1 GrundlagenDie Beschreibung der Pharmakokinetik der Inhalationsanäs-thetika folgt meist anderen Darstellungsweisen als die der i.v.-Anästhetika. Dies liegt daran, dass die Inhalationsanästhetikanicht unmittelbar in die systemische Zirkulation appliziertwerden und dass die Applikationsgeräte für die Verabreichungvon Inhalationsanästhetika (Verdampfer, Beatmungsgerät)technisch erheblich komplexer sind als eine Verweilkanülemit manueller Spritze. Zudem ist die Verabreichung der Inha-lationsanästhetika unmittelbar mit einem physiologischen Pro-

zess verknüpft, nämlich mit der Atmung bzw. Beatmung unddem Gasaustausch.

Prä- und postalveoläres SystemIn erster Näherung kann das Gesamtsystem „Mensch plusApplikationsgerät (Narkosegerät)“ in ein prä- und postalveo-läres System aufgegliedert werden.

Das präalveoläre System umfasst den Teil, in dem dasInhalationsanästhetikum gas- oder dampfförmig vorliegt(im Folgenden wird kurzerhand nur von der Gasphasegesprochen, obwohl bei den volatilen Anästhetika ein Dampfvorliegt). Das postalveoläre System bezeichnet den Teil, indem das Anästhetikum im Blut gelöst vorliegt sowie allenachgeschalteten Prozesse der Verteilung und Elimination.

Die weitere Darstellung betrachtet die Pharmakokinetikder Inhalationsanästhetika ab dem Einwaschprozess derinspiratorischen Gas- bzw. Dampfkonzentration cinsp in dasalveoläre Volumen VA. Dieses Volumen kann als Analogonzu dem zentralen Verteilungsvolumen der i.v.-Anästhetikaangesehen werden, weil in dieses Volumen das Gas verab-reicht wird, von dort aus das Gas auch eliminiert wird und ausdiesem Volumen der Transfer in die systemische Zirkulationerfolgt.

1.3.2 Aufnahme, Verteilung und EliminationMassenbilanzLiegt im Alveolarvolumen VA eine Konzentration cA vor, soist die Substanzmenge gegeben durch mA=VAcA.

Die Änderung dieser Menge über die Zeit ist gleich der

Differenz zwischen der mit der alveolären Ventilation ( _VA)

Abb. 9 Bei einem 1-Kompartiment-Modell kann der Abfall der Blut-spiegel nach Beendigung der Dosierung immer mit der gleichen Expo-nentialfunktion beschrieben werden. Die Abfallzeit einer Konzentrationc0 auf dieser Kurve um die Hälfte auf c0/2 ist immer gleich und wird alsHalbwertszeit bezeichnet. Das gilt nicht für Blutspiegelverläufe vonAnästhetika, die durch ein Mehrkompartimentmodell beschrieben wer-

den müssen. Hier ist der Blutspiegelabfall nach einem Bolus amschnellsten und wird umso langsamer, je mehr sich das System dem„steady state“ nähert. Aus dem „steady state“ heraus ist schließlich derBlutspiegelabfall am langsamsten. Zur Erzielung kurzer Aufwachzeitensollten deshalb Dosierungsstrategien gewählt werden, die möglichst dasErreichen des „steady state“ vermeiden

Pharmakologische Grundlagen in der Anästhesiologie 11

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zugeführten, abzüglich der ausgeatmeten und der vom Kör-per aufgenommenen (Aufnahmerate) Gasmenge.

dmA

dt¼ _VAcinsp � _VAcA � Aufnahmerate

Die Gesamtaufnahme („uptake“) ist durch die Summe derAufnahme der einzelnen Organe gegeben.

_Qi steht für den HZV-Anteil, mit dem ein Organi perfundiert wird, ca bezeichnet die arterielle Konzentrationund cvi die Konzentration im venösen Blut. Die Änderung derin dem Organ befindlichen Anästhetikummenge mi ist durchdas Massenerhaltungsgesetz gegeben.

dmA

dt¼ _Qica � _Qicvi

Blut-Gewebe-VerteilungskoeffizientOhne zusätzliche Annahmen lassen sich aus dieser Bezie-hung keine weiteren Schlüsse ziehen.

Der Physiologe Zuntz machte 1897 zur Beschreibung derKinetik von Stickstoff [23] die Annahme, dass der Partial-druck im venösen Blut gleich dem Partialdruck im Gewebeselbst ist. Hiermit wurde zum Ausdruck gebracht, dass diekurze Zeit der Gewebepassage ausreicht, um das Gleichge-wicht zwischen Blut und Gewebe zu erreichen. Dieser Vor-schlag wurde später auf die Inhalationsanästhetika übertragenund bildet nunmehr seit Jahrzehnten die Grundlage zurBeschreibung der Pharmakokinetik der Inhalationsanästheti-ka [9].

" Die Annahme, dass die Partialdrücke im venösen Blut undim Gewebe gleich sind, bedeutet, dass die Konzentrationim Gewebe ci proportional ist der Konzentration im Blut.Der Proportionalitätsfaktor wird üblicherweise mit li ab-gekürzt. Diese Größe wird auch als Blut-Gewebe-Vertei-lungskoeffizient bezeichnet.

Steht Vi für das anatomische Verteilungvolumen, so erge-ben sich folgende Beziehungen:

ci ¼ λicvi

mi ¼ λicviVi

Bei den Inhalationsanästhetika nennt man die Größe λiVi

virtuelles Verteilungsvolumen.

Aufnahme und AufnahmerateWenn die arterielle Konzentration ca von Anfang an konstantist und sich vor dem Beginn der Dosierung kein Anästheti-kum im Gewebe befindet, dann ist die kumulative Aufnahme

Ui und die kumulative Aufnahmerate _Ui gegeben durch:

Ui ¼ caλiVi 1� e� _Qi

λiVitÞ;Aufnahme

dUi

dt¼ _Ui ¼ ca _Qie

� _QiλiVi

t;Aufnahmerate

Der Zusammenhang zwischen der arteriellen Konzen-tration ca und der alveolären Konzentration cA wird durch

Abb. 10 Der Konzentrationsabfall erfolgt umso langsamer, je nähersich der „steady state“ befindet. Als effektives nichtparametrisches Maßfür die Abfallgeschwindigkeit wurde schon 1985 die effektive Abfall-zeit (EZ20) um 80 % auf 20 % des Ausgangswerts vorgeschlagen. Hältman eine gewünschte Konzentration über einen Zeitraum konstant

(Applikationsdauer) und bestimmt dann die EZ20, so verlängert sichdiese Zeitdauer kontinuierlich, weil der „steady state“ zunehmenderreicht wird. Es sind Modellberechnungen der EZ20 für die AnästhetikaEtomidat (ET), Halothan (H ), Enfluran (E), Isofluran (I ), Stickoxidul(N ) dargestellt

12 J. Schüttler und H. Schwilden

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den Blut-Gas-Verteilungskoeffizienten λ (ohne Index)geliefert.

ca ¼ λcA

Die Gesamtaufnahme, der Uptake, ist damit die Summeder Aufnahmen der einzelnen Organe und Gewebe Ui. Ent-sprechend ist die Uptake-Rate die Summe der einzelnenAufnahmeraten. Damit erhalten wir für die Änderung derMenge im Alveolarraum:

dmA

dt¼ _VACinsp � _VACA � λcA

Xi

_Qie� _Qi

λiVit

Hinsichtlich der Dosierung (inspiratorische Konzen-tration im Alveolarraum) VAcinsp zur Erreichung und Auf-rechterhaltung einer konstanten alveolären Konzentration cA,kann nun vollständig analog zum BET-Schema vorgegangenwerden. Zunächst ist das Alveolarvolumen mit der MengeVAcA auszustatten und dann sind die Elimination und Trans-ferprozesse zu kompensieren. Damit erhält man:

_VACinsp ¼ VACAδ tð Þ þ _VACA þ λcAXi

_Qie� _Qi

λiVit

Severinghaus hatte 1954 bemerkt [18], dass der kompli-zierte Summenausdruck sich für Stickoxidul durch den ein-facheren Ausdruck annähern lässt.

_Qffiffitp �

Xi

_Qie� _Qi

λiVit

Dabei wird stillschweigend vorausgesetzt, dass die Zeit tin min auszudrücken ist und nur diese Zahlen in die Wurzeleinzusetzen sind und nicht etwa die dimensionsbehafteteGröße. Lowe [9] hat später diese Approximation auch aufdie volatilen Anästhetika übertragen. Bei der Ableitung dermathematischen Formel für obiges Dosierungsschema unddessen Zusammenhang mit der „1-durch-Wurzel-t“-Regel

1ffiffitp

� �

wurde zur Vereinfachung auf die Einbeziehung der in derAbb. 2 dargestellten Blutpools verzichtet. Das führt dazu,dass die initiale Dosis höher zu wählen ist als die in derFormel dargestellte Menge VAcA.

Die vorstehenden Betrachtungen setzen eine konstantearterielle Konzentration voraus.

" Ist die arterielle Konzentration nicht konstant, kann die „1-durch-Wurzel-t“-Regel zur Beschreibung der Aufnahmevon Inhalationsanästhetika nicht angewandt werden.

Vergleich der modellbasierten Dosierungskonzepte fürintravenöse und inhalative AnästhetikaStellt man nun die Dosierungen für eine konstante Konzen-tration c1 im zentralen Kompartiment V1 der i.v.-Anästhetikader Dosierung für eine konstante Konzentration cA im Alve-olarraum VA gegenüber, so ergibt sich folgender Vergleich:

Applikationsrate Inhaltionsanästhetika

_VACinsp ¼ VACAδ tð Þ þ _VACA þ cA _Q1λe_Q1

λ1V1t þ _Q2λe

_Q2λ2V2

t þ . . .g�

Bolus Elimination Transfer

V1c1δ tð Þ þ V1kelc1 þ c1 V1k12e�k21t þ V1k13e

�k31t þ . . .�

= Infusionsrate i.v.-AnästhetikaAus dieser Gegenüberstellung lassen sich die folgenden

korrespondierenden Größen ableiten:

V1 $ VA; kel $_VA

VA

k12 $_Q1λ

VA; k21 $

_Q1

λ1V1

k1i $_Qi�1λVA

; ki1 $_Qi�1

λi�1Vi�1

Die sog. Mikrokonstanten kij der Pharmakokinetik deri.v.-Anästhetika werden bei den Inhalationsanästhetika durchbiologische und physikochemische Größen wie Perfusion,anatomische Gewebegröße, Blut-Gas- und Blut-Gewebe-Verteilungskoeffizienten ausgedrückt.

MetabolismusDie obige Gegenüberstellung ist für die Inhalationsanästheti-ka insofern idealisiert, als dass die Elimination ausschließlichdie unveränderte Ausatmung der Substanz, nicht jedoch dieMetabolisierung berücksichtigt.

Tatsächlich werden die neueren Inhalationsanästhetika(z. B. Isofluran, Sevofluran und Desfluran) zu wenigen Pro-zent der aufgenommenen Gesamtmenge, die älteren Inhala-tionsanästhetika (z. B. Halothan oder Methoxyfluran) zu20–50 % metabolisiert.

Aus pharmakokinetischer Sicht kann daher bei den neue-ren Inhalationsanästhetika die Metabolisierung vernachläs-sigt werden. Dies ist als Vorteil der Inhalationsanästhetikagegenüber i.v.-Anästhetika bewertet worden, die typischer-weise zu bis zu über 90 % metabolisiert werden.

Hinsichtlich der toxikologischen Implikationen ist abereine quantitative Mengenbetrachtung angezeigt. Nach derFormel von Severinghaus (s. oben) ist die aufgenommeneMenge an Dampf eines Inhalationsanästhetikums, wenn für

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die Zeit t die alveoläre Konzentration cA aufrechterhalten

wurde, größer als die Menge 2λcA _Qt1/2.

Beispiel Wählt man beispielhaft einen Blut-Gas-Vertei-lungskoeffizienten λ=1, eine alveoläre Konzentration von1 %, ein Herzzeitvolumen von 6/min und eine Applikations-dauer von 120 min, so ergibt sich eine aufgenommene Mengevon mindestens ca. 1,3 l Anästhetikumdampf. Das entsprichtidealtypisch ca. 6,5 ml Flüssigkeit oder einem Gewicht vonca. 10 g. Dabei ist zu bedenken, dass sich die Umrechnungvon Anästhetikumdampf in Flüssigkeit und Gewicht vonAnästhetikum zu Anästhetikum unterscheidet.

Das Beispiel soll lediglich darauf hinweisen, dass dieaufgenommenen Inhalationsanästhetikummengen im 2-stel-ligen Grammbereich liegen können. Abhängig vom Metabo-lisierungsgrad kann die metabolisierte Menge somit durchausin der gleichen Größenordnung liegen wie bei i.v.-Anästhe-tika.

" Cave Aus der prozentual geringeren Metabolisierung derInhalationsanästhetika gegenüber den i.v.-Anästhetikakann nicht unmittelbar auf günstigere toxikologischeEigenschaften der Inhalationsanästhetika geschlossenwerden.

2 Pharmakodynamik

Die Aufgabe der Pharmakodynamik ist die Beschreibung derBeziehung zwischen der Konzentration eines oder mehrererAnästhetika und der Intensität eines Effekts.

2.1 Konzentrationswirkungsbeziehungen

2.1.1 Konzentrationswirkungsbeziehungen fürstetige Effekte

KonzentrationswirkungskurvenViele Systeme weisen eine sigmoide Konzentrationswir-kungskurve auf. Solche sigmoiden Kurven sind aus der ele-mentaren Physiologie (z. B. Hämoglobin-Sauerstoff-Bin-dungskurve) bekannt und in vielen anderen Bereichen derbelebten und unbelebten Natur vorhanden. Sie können durchdie sog. Hill-Gleichung beschrieben werden:

E cð Þ ¼ E0

cγ0 þ cγ

Abb. 11 zeigt mehrere solcher Kurven für verschiedeneWerte von c0 und γ. E(c) bezeichnet den Effekt bei derKonzentration c. Die Effektgröße wird so normiert, dass derAusgangswert unter Normalbedingungen (c=0) willkürlich

auf Null gesetzt wird und der maximal erreichbare Effekt mitE0 abgekürzt wird.

3 Bereiche der Kurve• Der Bereich kleiner Konzentrationen (c<c0): Hier

ist der Logarithmus des Effekts proportional demLogarithmus der Konzentration (log[E/E0] � log[c/c0])

• Der Bereich großer Konzentrationen (c>c0): Hierführen große Konzentrationssteigerungen nur zurgeringen Effektsteigerungen (E � E0)

• Der Bereich um c0 herum: Hier ist die Abhängigkeitdes Effekts von der Konzentration am stärksten. Fürdie Konzentration c=c0 ist der Effekt halbmaximalE(c0)= E0/2, weshalb die Größe c0 je nach Kontextauch als EC50, IC50 oder ED50 abgekürzt wird

Typische therapeutische Ziele können in unterschiedlichenBereichen der Konzentrationwirkungskurve angesiedelt sein:Bei den Muskelrelaxanzien z. B. liegt der typische therapeu-tische Effekt bei 90 % oder mehr des Maximaleffekts. DieSedierung beim Intensivpatienten hingegen könnte beica. 50 % des Maximaleffekts (anästhetische Wirkung) ange-siedelt sein, während sich die Spurendosentoxizität von In-halationsanästhetika im Bereich minimaler Effekte befindet.

Viele in der Anästhesie verwendete Substanzen haben einoptisch aktives Zentrum und können deshalb als Molekülemit unterschiedlicher Händigkeit (Chiralität) vorliegen, dieals optische Isomere (Enantiomere) bezeichnet werden.Ketamin liegt z. B. als Racemat des rechts- und linksdrehen-den Enantiomers vor.

" Es konnte gezeigt werden, dass die Enantiomere unter-schiedliche Konzentrationswirkungskurven aufweisen [12].

Das hat dazu geführt, eine Formulierung von Ketamin zuentwickeln, die nur das potentere S(+)-Enantiomer enthält.

Steuerbarkeit" Die Steuerbarkeit der jeweiligen Substanz ist am besten

um c0 herum, weil hier die Abhängigkeit des Effekts vonder Konzentration am stärksten ist. Allerdings ist hier dieSteuerung auch am schwierigsten.

Bei sehr kleinen und sehr großen Effekten ist die Steuer-barkeit gegenüber der Steuerbarkeit bei halbmaximalemEffekt herabgesetzt.

Einfluss auf die Beendigung der WirkungDie Steilheit der Kurve hängt, wie in Abb. 11 dargestellt,vom Exponenten γ ab und kann wichtige Einflüsse auf das

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Aufwachverhalten haben. Bei den Muskelrelaxanzien z. B.wird die Zeit, die erforderlich ist, um von einem Effekt von75 % des Maximaleffekts auf 25 % abzufallen, als „recoveryindex“ bezeichnet. Je steiler die Konzentrationseffektkurveist, umso geringer fällt die Konzentrationsspanne aus, diedurchschritten werden muss. Umso kürzer wird also die Zeitsein, die erforderlich ist, um z. B. von 75 % des Maximal-effekts auf 25 % des Maximaleffekts abzufallen. Eine Ver-steilerung der Konzentrationswirkungskurve kann also zueiner rascheren Beendigung der Wirkung führen.

2.1.2 Konzentrationswirkungsbeziehungen fürdiskrete Effekte

Konzentrationswirkungskurven für diskrete Ja-nein-Effekte,wie z. B. wach oder nichtwach, Bewegung oder keine Bewe-gung werden als kumulative Häufigkeiten bzw. relativeHäufigkeiten innerhalb einer gegebenen Population unter-sucht.

Das bekannteste Beispiel in der Anästhesie ist die Model-lierung der relativen Häufigkeit p der Bewegung auf Haut-schnitt hin in Abhängigkeit von der alveolären KonzentrationcA eines Inhalationsanästhetikums. 1-p ist folglich die rela-tive Häufigkeit für Nichtbewegung. Da p bzw. 1-p eine Zahlzwischen 0 und 1 ist, kann man die Abhängigkeit der Wahr-scheinlichkeit p von der Konzentration c analog der obigenFormel für den Effekt modellieren:

1� p ¼ cγAcγ0 þ cγA

oder p ¼ 1� cγAcγ0 þ cγA

Die Konzentration zu halbmaximalem Effekt in dieserFormel wurde seinerzeit von Eger u. Saidman et al. [4] als„minimum alveolar concentration“ (MAC) bezeichnet.

" Der MAC-Wert wurde als ein Maß vergleichender Potenzfür die Inhalationsanästhetika eingeführt. Im Prinzip unter-scheidet er sich konzeptionell nicht von Größen wie ED50,EC50 oder IC50, die für andere Konzentrationswirkungsbe-ziehungen für Ja-nein-Effekte eingeführt worden sind.

Um den Parameter MAC-Wert für ein gegebenes Inhala-tionsanästhetikum zu bestimmen, ist es nicht erforderlich, füreine Reihe von bestimmten vorgegebenen Konzentrationenci, i=1..n die jeweiligen relativen Häufigkeiten pi zu schät-zen, um daraus durch Kurvenanpassungsmethoden die bestenParameter zu bestimmen. Es reicht vielmehr aus, eine hinrei-chende Anzahl von Ja- und Nein-Einzeleffekten bei geeignetgestreuten Konzentrationswerten ci gemessen zu haben.

2.1.3 Biophase und EffektkompartimentDer Pharmakologe Segré hatte schon frühzeitig beobachtet[17], dass die Erhöhung des Blutdrucks dem Verlauf desBlutspiegels von Noradrenalin nur verzögert folgt. Der An-ästhesist C.J. Hull [7] beobachtete ein solches Verhalten fürdie Muskelrelaxation und den Blutspiegel des Muskelrela-xans Pancuronium. Dieses Problem wurde durch die Ein-führung einer sog. „Biophase“ gelöst, einem zusätzlichenKompartiment, in das sich das Muskelrelaxans verteilt undin dem der Wirkort angenommen wird. Für den einfachenFall eines pharmakokinetischen 1-Kompartiment-Modellswurde zu der pharmakokinetischen Differenzialgleichungeine weitere Gleichung für die Konzentration in der Biophasehinzugefügt, welche die Verzögerung berücksichtigt.

dm1

dt¼ �k10m1 þ i tð Þ;

Abb. 11 Konzentrationswirkungskurven, die durch die sog. Hill-Gleichung beschrieben werden können. Der Parameter γ kontrolliert die Steilheitder Kurve, der Parameter c0 beschreibt die Konzentration c, bei der ein halbmaximaler Effekt erzielt wird

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dcbdt¼ ke0 c1 � cbð Þ

Im Wesentlichen stellt das hinzugekommene Effektkom-partiment nichts anderes dar, als eine Methode, den Blutspie-gelverlauf c1(t) durch exponentielle Mittelung zu „ver-schmieren“, denn es gilt:

cb tð Þ ¼ ke0

ðt

0

dt�e�ke0 t�t�ð Þc1 t�� �

Abb. 12 zeigt beispielhaft, wie für verschiedene Transfer-konstanten für den Transfer zur Biophase ke0 der Konzentra-tionsverlauf in der Biophase dem Blutspiegelverlauf nacheilt.Je langsamer der Transfer zur Biophase erfolgt, d. h. jekleiner ke0 ist, desto später wird die Maximalkonzentrationin der Biophase erreicht und desto niedriger fällt das Maxi-mum aus.

Die zeitliche Verzögerung des Konzentrationsverlaufs inder Biophase gegenüber dem im Blut wird auch als Hyste-rese bezeichnet.

Die Stelle des Maximums liegt dabei immer auf demSchnittpunkt mit der Blutspiegelkurve, da zum Zeitpunktmaximaler Biophasekonzentration der Blutspiegel und dieBiophase im Fließgleichgewicht sind.

Eine Methode, den Parameter ke0 zu bestimmen, ist, nacheinem Bolus der jeweiligen Substanz die Zeitdauer bis zummaximalen Effekt zu messen. Aus der Pharmakokinetik derSubstanz und der Zeitdauer lässt sich ke0 bestimmen. Bei derAnwendung von Infusionen kommt man mit dieser Methodenicht zum Ziel; hier sind Prozeduren für die Minimierung,sog. Hystereseschleifen, anzuwenden.

2.1.4 Hysterese und repetitive DosierungDie Hysterese zwischen Blutkonzentration und Effekt istwährend der Narkoseeinleitung und während der repetitivenDosierung von Anästhetika von großer Bedeutung für dieklinische Praxis.

NarkoseeinleitungSo kann bei der gleichzeitigen Verabreichung eines Hypno-tikums und eines nichtdepolarisierenden Muskelrelaxans zurNarkoseeinleitung die Anschlagzeit des Muskelrelaxans solange dauern, dass zum Zeitpunkt der möglichen Intubationdie Patienten zwar vollständig muskelrelaxiert sind, die Wir-kung des Hypnotikums aber schon nachlässt und die Patien-ten unbeabsichtigt bei Bewusstsein intubiert werden.

NarkoseaufrechterhaltungBei der repetitiven Bolusdosierung zur Aufrechterhaltung derNarkose kann die Hysterese ganz maßgeblich die Praktikabi-lität der Dosierung bestimmen. Abb. 13 zeigt den Verlauf des

Blutspiegels eines fiktiven Medikaments und den Konzentra-tionsverlauf in 2 verschiedenen Biophasen mit unterschiedli-chen Transferkonstanten ke0. Diese wurden so gewählt, dassdas Maximum in der Biophase nach 1 min und 5 min erreichtwird. Das Minimum der Konzentration bei der jeweils nächs-ten Bolusgabe wurde hier willkürlich auf 1 normiert.

Man erkennt, dass selbst bei einer Äquilibrierungszeit von1 min eine erhebliche Reduktion der Blutspiegelschwankun-gen erreicht wird. Diese wird noch einmal deutlich verstärktbei der längeren Äquilibrierungszeit von 5 min. Es ist offen-sichtlich, dass sich die Biophasekonzentration eines Anästhe-tikums mit einer solchen Äquilibrierungszeit durch repetitiveBolusgaben ohne große Ausreißer im therapeutischen Fens-ter halten lässt.

Wollte man die Variabilität der Biophasekonzentration beieiner Äquilibrierungszeit von nur 1 min ähnlich beschränken,müsste man wesentlich häufiger wesentlich kleinere Boligeben. Es ist dies ein wesentlicher Mechanismus, weshalbz. B. Fentanyl ohne Schwierigkeit durch repetitive Dosierungzur Narkoseaufrechterhaltung gegeben werden kann, wäh-rend dies bei Alfentanil oder noch kürzer äquilibrierendenOpiaten erheblich schwieriger ist und die repetitive Dosie-rung dann häufig durch eine kontinuierliche Infusion er-setzt wird.

Die Verknüpfung des pharmakokinetischen mit dem phar-makodynamischen Modell führt zu einem integrierten, phar-makologischen Modell des Anästhetikums [14], welches her-vorragend geeignet ist, Dosierungsprobleme und derenOptimierung zu studieren [10].

2.2 Interaktionen undKonzentrationswirkungsbeziehungen fürmehrere Anästhetika

Allgemeinanästhesien mit nur einem Narkosemittel werdenheute – mit Ausnahme von Notfällen – praktisch nicht mehrdurchgeführt. Selbst für die Erhaltung der Narkose werdennahezu immer 2 oder mehrere Substanzen verabreicht, sei esin der reinen Inhalationsanästhesie, bei der über JahrzehnteStickoxidul eine Standardkomponente war und in Teilennoch ist, sei es in der sog. balancierten Anästhesie, bei derInhalationsanästhetika mit i.v.-Anästhetika kombiniert wer-den. Auch bei der totalen intravenösen Anästhesie wird einHypnotikum mit einem Analgetikum kombiniert oder es sindganz andere Kombinationen anzutreffen wie z. B. Ketaminmit Midazolam.

In Verallgemeinerung der Konzentrationwirkungsbezie-hung E=E(c) für ein Medikament mit der Konzentration chat man nun die quantitative Konzentration-Wirkung-Bezie-hung E=E(ca,cb) für 2 Medikamente A und B mit den jewei-ligen Konzentrationen ca und cb aufzustellen [20, 21]. Wennman zur zuverlässigen Abschätzung der Konzentration-

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Wirkung-Beziehung eines einzelnen Medikaments n Mess-werte benötigt, so benötigt man zur zuverlässigen Abschät-zung der Konzentration-Wirkung-Beziehung für die gleich-zeitige Anwendung von 2 Medikamenten n2 Messwerte, waseinen erheblichen Mehraufwand bedeutet und in vielen Fäl-len die Forschungsökonomie sprengen würde.

2.2.1 IsoboleEs ist deshalb eine jahrzehntelang geübte Praxis, dieKonzentration-Wirkung-Beziehung zunächst dort zu untersu-chen, wo sie besonders interessant ist, nämlich bei einemspeziellen Wert der Wirkung, z. B. einem Wert, der in derMitte des therapeutischen Bereiches der typischen Anwen-

dung der beiden Medikamente liegt. Bezeichnen wir diesenspeziellen Wert mit Et, so wird durch die Gleichung Et=E(ca,cb) implizit eine Beziehung zwischen ca und cb hergestellt.

" Trägt man die Menge aller Konzentrationspaare (ca,cb), diezu dem gleichen Effekt Et führen, grafisch auf, so erhältman in der Regel eine Kurve, die man Isobole nennt.

Abb. 14 zeigt 3 mögliche typische Vertreter einer solchenIsobole. Die Kurve schneidet die Konzentrationsachse für dasMedikament A bei der Konzentration ca0 und die Konzentra-tionsachse für das Medikament B bei der Konzentration cb0.Diese Konzentrationen sind somit diejenigen Konzentratio-nen, die erforderlich sind, wenn man den Effekt Et nur mitdem Medikament A bzw. nur mit Medikament B erreichenmöchte. Es gilt mithin Et = E(ca0,0) = E(0,cb0). Betrachtetman nun ein beliebiges anderes Konzentrationspaar (ca,cb),

Abb. 12 Bei vielen Pharmakatritt der Effekt häufig verzögertauf und „hinkt“ dem Blutspiegelhinterher. Ein solches Verhaltenlässt sich durch ein sog.Biophasekompartiment(B) („Effektkompartiment“)beschreiben. Man beachte, dassdas Maximum derBiophasekonzentration immer aufder Blutspiegelkurve c(t) liegt

Abb. 13 Die Verzögerung durchdie Biophase stellt einenwesentlichen Mechanismus dar,um starkeBlutspiegelschwankungen am Ortder Wirkung zu „glätten“.Anästhetika mit ausgeprägterHysterese zwischen zentralemKompartiment und Biophaseeignen sich deshalb besser für dierepetitive Bolusdosierung zurAufrechterhaltung der Narkose alsAnästhetika mit wenigerausgeprägter Hysterese

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welches zu dem Effekt Et führt und mithin auf der Isoboleliegt, dann ist das Verhältnis ca/ca0 der Bruchteil der Konzen-tration ca0 des Medikamente A, der bei gleichzeitigem Vor-liegen der Konzentration cb des Medikaments B gegebenwerden muss, um den Effekt Et zu erzielen. Die SummeSR= ca/ca0+cb/cb0 ist also die Summe der Bruchteile vonca0 und cb0, die zusammen appliziert wieder zu dem EffektEt führen.

Isobolentypen" In Abhängigkeit davon, welchen Wert SR annimmt, spricht

man von einer additiven (SR=1), infraadditiven (SR>1)oder supraadditiven (SR<1) Interaktion.

Der Typ der Interaktion muss für die gesamte Isobolenicht überall gleich sein.

In Abb. 15 sind verschiedene Isobolen dargestellt. Aller-dings nicht als Graph der Konzentrationspaare (ca,cb), son-dern als Graph der Bruchpaare (ca/ca0,cb/cb0), sodass dieIsobolen die jeweilige Achse bei 1 schneiden.

Interaktionstypen1. Gilt für eine Isobole an allen Stellen SR=1, so nennt man

die Interaktion der beiden Medikamente bei dem unter-suchten Effekt Et „global additiv“.

2. Gilt für die Isobole überall SR>1, so nennt man dieInteraktion „global infraadditiv“.

3. Für SR<1 „global supraadditiv“.

Im angloamerikanischen Sprachraum wird der infraaddi-tive Bereich der Interaktion häufig als „antagonistisch“bezeichnet. Aus klinischer Sicht ist diese Begriffsbildungnicht zutreffend.

Beispiel Man betrachte in Abb. 15 den Punkt P mit denbeiden Konzentrationen (caP,cbP). Die Medikamente A undB seien Muskelrelaxanzien und der untersuchte Effekt seiAtemstillstand. Offensichtlich ist es so, dass mit der Konzen-tration ca0 bei ausschließlicher Verabreichung des RelaxansA ein Atemstillstand erzielt wird, entsprechend mit der Kon-zentration cb0 für das Relaxans B. Mit der Konzentration caPalleine ließe sich kein Atemstillstand erzeugen, weil caP<ca0ist, erst durch Zugabe der Konzentration cbP des Relaxans Bwird wieder ein Atemstillstand erzielt. Eine solche Form derInteraktion als „antagonistisch“ zu bezeichnen, entsprichtsicherlich nicht dem klinischen Wortgebrauch. Anders siehtes mit dem Punkt Q aus. Bei Anwesenheit einer Konzen-tration caQ<ca0 erhöht sich die Konzentration cbQ, die erfor-derlich ist, um einen Atemstillstand zu erzielen auf Werte, diegrößer sind als cb0. Hier könnte man sagen, dass die Rela-xanzien A und B antagonistisch miteinander interagieren.

Bestimmung des IsobolentypsDie Bestimmung des Typs der Interaktion für ein gegebenesKonzentrationspaar (ca,cb), welches auf der Isobole liegt, ist

Abb. 14 Zur Quantifizierung der Interaktion von Pharmaka bedient mansich häufig der sog. Isobolenmethode. Bei der Untersuchung der Inter-aktion von 2 Pharmaka wird eine Ebene aufgespannt, die durch dieKonzentrationsachsen für die beiden Pharmaka definiert wird. Ist der zuuntersuchende Effekt Et vorgegeben und trägt man in diese Ebene allediejenigen Konzentrationspaare ein, bei denen dieser Effekt eintrat, sowird dadurch imAllgemeinen eine Kurve beschrieben. Diese Kurve nenntman Isobole. ca0 und cb0 sind in dieser Darstellung diejenigen Konzen-trationen, die bei alleiniger Applikation eines der beiden Pharmaka zudem gewünschten Effekt Et führt. Den Typ der Interaktion pflegt mandurch die angegebene Verhältnissumme SR zu charakterisieren

Abb. 15 Interaktionen, für die die Verhältnissumme SR=1 ist, heißenadditiv. Bei SR-Werten <1 spricht man von Supraadditivität und beiSR-Werten >1 von Infraadditivität. Im Schrifttum wird Infraadditivitätauch manchmal als Antagonismus bezeichnet; dies ist klinisch nichtsinnvoll. Die durch den eingezeichneten Punkt Q dargestellte Situationkönnte man als Antagonismus bezeichnen, für Punkt P dagegen, wäreeine solche Bezeichnung aus klinischer Sicht irreführend

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mithin einfach, wenn man die Achsenabschnitte ca0 und cb0kennt. Man bildet die Summe SR= ca/ca0+cb/cb0 und ermit-telt, ob SR größer, gleich oder kleiner 1 ist.

Schwierigkeiten können dann auftreten, wenn die Größenca0 und cb0 nicht bekannt sind. Dies ist z. B. dann der Fall,wenn aus medizinischen oder ethischen Gründen die Allein-gabe von Medikament A oder Medikament B nicht möglichist. Hier steht man dann vor der Aufgabe, durch die gemes-sene Punktewolke von n Konzentrationspaaren (cai,cbi), beidenen sich der zu untersuchende Effekt Et eingestellt hat, eineKurve zu legen und somit die Endpunkte ca0 und cb0 durchAnpassungsprozeduren zu bestimmen.

Abb. Abb. 16 zeigt publizierte Konzentrationen von Pro-pofol und Alfentanil zum klinischen Endpunkt „Verlust desLidrandreflexes“ [22]. Unter Anwendung des unten stehen-den Ansatzes für die Isobolengleichung, wobei ca0, cb0 und Eals zu bestimmende Parameter aufzufassen sind, kommen dieAutoren mit Hilfe von Kurvenanpassungsprozeduren zu dereingezeichneten supraadditiven Isobole. Da die ermittelteIsobole keinen Schnittpunkt mit der positiven Konzentrati-onsachse für Alfentanil aufweist, schlussfolgern die Autoren,dass es mit keiner Konzentration von Alfentanil möglich ist,den Lidrandreflex auszuschalten. Eine Reanalyse der veröf-fentlichten Daten mit anderen Methoden durch die Autorendieses Beitrages [16] ergibt ein anderes Bild, nämlich eineadditive Isobole und die Aussage, dass sich vermutlich beihinreichend hohen Alfentanilkonzentrationen der Lidrandre-flex ausschalten lässt. Dieses Beispiel zeigt deutlich, wiewichtig es ist, eine zuverlässige Abschätzung der Größenca0 und cb0 zu erhalten, um den Typ der Interaktion zubestimmen.

caca0þ cbcb0þ ε

cacbca0cb0

¼ 1! cb ¼ cb0

1� caca0

1þ εcaca0

2.3 Rezeptorvermittelte Wirkungen

An nahezu allen humanen Lebensvorgängen sind Rezeptorenbeteiligt. Eine Vielzahl dieser Rezeptoren und Rezeptorsys-teme werden im Rahmen der anästhesiologischen Therapietangiert.

Der Begriff des „Rezeptor“ geht auf J.N. Langley(1852–1926) zurück, der den Term „rezeptive Substanz“prägte, als er die Effekte von Nikotin und Curare untersuchteund damit das bezeichnete, was wir heute als den nikotini-schen Azetylcholinrezeptor begreifen. Das Konzept hinterdem Begriff „rezeptive Substanz“ wurde von Paul Ehrlich(1854–1915) formuliert, der zu dem Schluss kam:

Substanzen können nur dann wirken, wenn sie gebunden werden.

2.3.1 RezeptorenRezeptoren als funktionelle Bestandteile der ZelleHeute wird der Begriff des Rezeptors wesentlich allgemeinergesehen als vor wenigen Jahrzehnten.

" Im weitesten Sinne versteht man unter Rezeptoren Kom-ponenten einer Zelle, die selektiv mit extrazellulären Sub-stanzen in Wechselwirkung treten und dabei eine Kaskadevon biologischen Prozessen auslösen. Die extrazellulärenSubstanzen (Liganden, z. B. Hormone oder Neurotrans-mitter) können dabei als Signale interpretiert werden.

Zu den definierenden Eigenschaften eines Rezeptors ge-hören die Erkennung und Weiterleitung (Transduktion) die-ser Signale.

Der so charakterisierte Rezeptor, der an der physiologi-schen Regulation der Zellvorgänge beteiligt ist, wird auch alsZellrezeptor oder physiologischer Rezeptor bezeichnet.Diese sollten nicht verwechselt werden mit pharmakologi-schen oder Arzneimittelrezeptoren, die ganz allgemein als

Abb. 16 Sind dieAchsenabschnitte der Isobolennicht bekannt, kann dieBestimmung der Isoboleschwierig werden. Dargestelltwerden 2 Isobolen, die mitunterschiedlichen Methodendurch eine Punktewolke gelegtwurden, die gemessene Propofol-und Alfentanilkonzentrationendarstellen. (Nach: [23])

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Wechselwirkungsort („site of drug action“) von Substanzenmit Makromolekülen angesehen werden.

Natürlich stellen die physiologischen Zellrezeptoren auchAngriffspunkte für Arzneimittel dar, sie gehören damit zueiner Untermenge der pharmakologischen Rezeptoren.Obwohl die physiologischen Rezeptoren überall in der Zelleanzutreffen sind, ist die weit überwiegende Anzahl jedochtransmembranös in Form hochmolekularer anregbarer oderaktivierbarer Proteine in der Zellmembran lokalisiert. Hier-durch wird eine Verbindung hergestellt zwischen extra- undintrazellulärem Raum. Diese Verbindungen können durchIonenkanäle oder durch Konformationsänderungen herge-stellt werden.

Rezeptortypen• Spannungsabhängige Ionenkanäle• Ligandenabhängige Ionenkanäle• G-Protein gekoppelte Rezeptoren

Rezeptoragonisten und MassenwirkungsgesetzDie klassische Rezeptortheorie benutzt den Rezeptor R alsein Konstrukt, z. B. eine reale oder auch virtuelle Bindungs-stelle für einen Agonisten A, um die Wirkung des Medika-ments A quantitativ zu beschreiben. Häufig geht man davonaus, dass die Bindung von Rezeptor und Agonist reversibelist. In diesem Fall ist das Massenwirkungsgesetz anwendbar.Dieses führt im Gleichgewicht zu einem bestimmten Ver-hältnis von besetzten und unbesetzten Rezeptoren.

R½ � þ A½ � k2!k1 RA½ �

k1 bezeichnet die Zeitkonstante für die Bildung des Re-zeptoragonistkomplexes (Assoziation) und k2 die Dissozia-tion. [A] kennzeichnet die Konzentration des Agonisten, [R]die Konzentration des freien Rezeptors und [RA] die Kon-zentration der gebundenen Rezeptoren.

Folgende Größe heißt Dissoziationskonstante und wirdin Einheiten von [A] gemessen.

Kd ¼ A½ � R½ �RA½ � ¼

k2k1

Wenn die Konzentration von A so hoch gewählt wird, dass50 % aller Rezeptoren besetzt sind, dann ist Kd=[A]. Einniedriger Wert für Kd besagt also, dass nur eine geringeKonzentration erforderlich ist, um 50 % der Rezeptoren zubesetzen, also dass der Agonist A eine große Affinität zumRezeptor besitzt. Den reziproken Wert von Kd bezeichnetman deshalb als Affinitätskonstante (üblicherweise mit Ka

abgekürzt).

Wenn man annimmt, dass der Effekt E proportional derKonzentration der besetzten Rezeptoren ist, dann folgt

E ¼ EmaxA½ �

Kd þ A½ �Hierbei bezeichnet Emax den maximalen Effekt und Kd ist

offenbar identisch mit der Konzentration zu halbmaximalemEffekt Emax/2. In vielen Fällen ist der gemessene Effektjedoch nicht proportional zur Konzentration der besetztenRezeptoren, sondern vielmehr zu einer Potenz γ derselben.In diesem Fall wird die obige Formel verallgemeinert zu:

E ¼ EmaxA½ �γ

Kγd þ A½ �γ

Wobei γ irgendeine positive Zahl ist. Der Bezug zur Hill-Gleichung wird hier ganz augenfällig.

Andere RezeptorligandenDer Begriff des Rezeptoragonisten als eine Substanz, die denRezeptor aktiviert, kann untergliedert und ergänzt werden.

Rezeptoragonisten• Vollständiger Agonist: ein Ligand, der eine maxi-

male Rezeptoraktivierung bewirkt• Teilagonist: ein Ligand, der nur eine submaximale

Rezeptoraktivierung bewirkt• Inverser Agonist: ein Ligand, der eine negative

Aktivierung eines Rezeptors bewirkt, d. h. einenEffekt, der erst durch die Zusatzgabe eines Agonis-ten wieder das Ausgangsniveau erreicht

• Antagonist: ein Ligand, der an den Rezeptor bindet,aber keine Aktivierung erzeugt und somit die Bin-dung eines Agonisten verhindert

• Kompetitive Ligandrezeptorbindung: eine rever-sible Bindung, die die Bindung von anderen Ligan-den zulässt

• Nichtkompetitive Ligandrezeptorbindung: einei. Allg. irreversible Bindung, die die Bindung vonanderen Liganden nicht zulässt

RezeptorzuständeDie klassische Rezeptorvorstellung geht davon aus, dass derRezeptor R im Ruhezustand durch die Bindung eines Ago-nisten, z. B. durch Konformationsänderungen, in einen akti-ven Zustand R* verbracht wird. In diesem aktiviertenZustand kann der Rezeptor an intermediäre Proteine koppeln,die dann eine Kaskade von biologischen Vorgängen in Gangsetzen.

Neuere Vorstellungen gehen davon aus, dass im Ruhezu-stand, ohne Anwesenheit eines Agonisten oder Antagonisten,

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beide Zustände R und R* vorliegen und im Gleichgewichtstehen. Man kann sich z. B. vorstellen, dass der größte Teildes Rezeptors in der R-Form vorliegt, während nur ein gerin-ger Teil in der aktivierten Form R* vorliegt. Das bedeutet, derZustand R* kann auch spontan entstehen. Man könnte sichauch vorstellen, dass es Zwischenzustände zwischen R undR* gibt. Die Bildung des aktivierten Zustandes R* erfolgt ineinem gewissen Umfang spontan.

Die klassische Sichtweise, dass ein Agonist die Trans-formation von R nach R* herbeiführt, kann nun dahingehenduminterpretiert werden, dass die einzelnen Liganden gege-bene Rezeptorzustände stabilisieren und damit das Verhältnisvon R:R* beeinflussen. Ein Agonist könnte den Zustand R*stabilisieren und damit das Gleichgewicht nach R* verschie-ben, ein inverser Agonist kann umgekehrt R-Zustände stabi-lisieren und ein Antagonist beide Zustände R und R* ingleichem Maße, sodass das Ausgangsverhältnis unverändertbleibt.

" Rezeptoren sind wichtige reale und gedankliche Kon-strukte, die an der Schnittstelle von Pharmakokinetik undPharmakodynamik stehen. Die klassische Vorstellung derWirkungsentfaltung an einem Rezeptor durch dessenBesetzung mit Agonisten und Antagonisten wird zuneh-mend durch die Vorstellung, dass Liganden das Gleichge-wicht der verschiedenen Rezeptorzustände in die eineoder andere Richtung verschieben können, ersetzt.

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