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1 Philosophie der Neuzeit 0. Einleitung Ich begrüße Sie zu einer weiteren Sitzung der Ringvorlesung „Einführung in die Philosophie“. Nachdem ich Ihnen unvorhergesehenerweise im November etwas über Logik erzählt habe 1 und in der vergangenen Woche etwas über Philosophie im Mittelalter, 2 heißt es heute also: „Philosophie der Neuzeit“! Die Neuzeit beginnt in der Philosophiegeschichte etwas später als in der allgemeinen Geschichte ungefähr um 1650, und sie endet im Rahmen dieser Vorlesung um 1900. Beim Mittelalter hatte ich noch den Anflug eines schlechten Gewissens angesichts einer Einführung in 90 Minuten. Der Gedanke, die Neuzeit in der gleichen Zeit darstellen zu wollen, von vornherein jenseits von Gut und Böse. Ich bekenne mich also gleich zu jeder nur denkbaren Menge Unwissenschaftlichkeit, Oberflächlichkeit und Verkürzung, persönlicher Sympathie und Antipathie sowie zur Unvollständigkeit. Schnallen Sie sich bitte an, jetzt kommt der Panoramaflug – genießen Sie‘s, lehnen Sie sich dieses eine Mal in der Vorlesung zurück wie im Fernsehsessel; in den nächsten Semestern werden Sie sich am Boden durch den Dschungel kämpfen. Schreiben Sie nicht mit, versuchen Sie nicht, irgendetwas gründlich zu verstehen oder gar zu behalten, ich werde Sie jetzt überfordern. Im Radio hieße das, was ich versuchen will, wohl „Feature“, und so bitte ich es zu behandeln. In der schriftlichen Fassung - nächste Woche bei Frau Holtz und im Internet - werde ich die schlimmsten Auslassungen und wildesten Abweichungen vom interpretatorischen mainstream in Fußnoten kennzeichnen. Die Gliederung heute ist sehr einfach: Ich werde nach einigen allgemeinen Bemerkungen chronologisch vorgehen. Dabei werde ich es mit dem 19. Jahrhundert sehr kurz machen. Den Anfängen der Neuzeit werde ich dagegen viel Zeit widmen. Insgesamt werde ziemlich hin- und herspringen: zwischen ziemlich viel theoretischer und sehr wenig praktischer Philosophie, und auch zwischen nationalen Schwerpunkten - Frankreich, England, Deutschland. 1. Die Epoche 1.1. Beginn und Ende Zunächst will ich die Epocheneinteilung etwas näher begründen. Warum ich um 1900 einen Schnitt mache, ist leicht begründet: Wir sind - wenn auch inzwischen im 21. Jahrhundert angelangt - einfach noch daran gewöhnt, das 20. Jahrhundert als unsere weit ausgedehnte historische Gegenwart zu betrachten. Außerdem stirbt just 1900 - nach einem Jahrzehnt des Wahnsinns - Friedrich Nietzsche, der letzte noch ganz im vorletzten Jahrhundert stehende Philosoph europäischen Formats. Was dazu geführt hat, den Beginn der Neuzeit in der Philosophie auf etwa 1650 zu datieren, ist zunächst auch leicht gesagt: 1 http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/logik.doc. 2 http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/philosophie im mittelalter.doc.

philosophie im mittelalter.doc. - Universität des … · Schreiben Sie nicht mit, versuchen Sie nicht, irgendetwas gründlich zu verstehen oder gar zu behalten, ich werde Sie jetzt

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1

Philosophie der Neuzeit

0. Einleitung

Ich begrüße Sie zu einer weiteren Sitzung der Ringvorlesung „Einführung in die Philosophie“.

Nachdem ich Ihnen unvorhergesehenerweise im November etwas über Logik erzählt habe1 und in

der vergangenen Woche etwas über Philosophie im Mittelalter,2 heißt es heute also: „Philosophie

der Neuzeit“!

Die Neuzeit beginnt in der Philosophiegeschichte etwas später als in der allgemeinen Geschichte

ungefähr um 1650, und sie endet im Rahmen dieser Vorlesung um 1900. Beim Mittelalter hatte ich

noch den Anflug eines schlechten Gewissens angesichts einer Einführung in 90 Minuten. Der

Gedanke, die Neuzeit in der gleichen Zeit darstellen zu wollen, von vornherein jenseits von Gut

und Böse. Ich bekenne mich also gleich zu jeder nur denkbaren Menge Unwissenschaftlichkeit,

Oberflächlichkeit und Verkürzung, persönlicher Sympathie und Antipathie sowie zur

Unvollständigkeit. Schnallen Sie sich bitte an, jetzt kommt der Panoramaflug – genießen Sie‘s,

lehnen Sie sich dieses eine Mal in der Vorlesung zurück wie im Fernsehsessel; in den nächsten

Semestern werden Sie sich am Boden durch den Dschungel kämpfen. Schreiben Sie nicht mit,

versuchen Sie nicht, irgendetwas gründlich zu verstehen oder gar zu behalten, ich werde Sie jetzt

überfordern. Im Radio hieße das, was ich versuchen will, wohl „Feature“, und so bitte ich es zu

behandeln. In der schriftlichen Fassung - nächste Woche bei Frau Holtz und im Internet - werde

ich die schlimmsten Auslassungen und wildesten Abweichungen vom interpretatorischen

mainstream in Fußnoten kennzeichnen.

Die Gliederung heute ist sehr einfach: Ich werde nach einigen allgemeinen Bemerkungen

chronologisch vorgehen. Dabei werde ich es mit dem 19. Jahrhundert sehr kurz machen. Den

Anfängen der Neuzeit werde ich dagegen viel Zeit widmen.

Insgesamt werde ziemlich hin- und herspringen: zwischen ziemlich viel theoretischer und sehr

wenig praktischer Philosophie, und auch zwischen nationalen Schwerpunkten - Frankreich,

England, Deutschland.

1. Die Epoche

1.1. Beginn und Ende

Zunächst will ich die Epocheneinteilung etwas näher begründen.

Warum ich um 1900 einen Schnitt mache, ist leicht begründet: Wir sind - wenn auch inzwischen

im 21. Jahrhundert angelangt - einfach noch daran gewöhnt, das 20. Jahrhundert als unsere weit

ausgedehnte historische Gegenwart zu betrachten. Außerdem stirbt just 1900 - nach einem

Jahrzehnt des Wahnsinns - Friedrich Nietzsche, der letzte noch ganz im vorletzten Jahrhundert

stehende Philosoph europäischen Formats.

Was dazu geführt hat, den Beginn der Neuzeit in der Philosophie auf etwa 1650 zu datieren, ist

zunächst auch leicht gesagt:

1 http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/logik.doc. 2 http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/philosophie im mittelalter.doc.

2

- 1641 erscheinen die "Meditationen über die Erste Philosophie" von René Descartes.

- 1651, vor genau 350 Jahren, erscheint das Hauptwerk von Thomas Hobbes mit dem seltsamen

Titel "Leviathan".

1.2. Warum beginnt die philosophiehistorischer Neuzeit nicht früher?

Sie werden sich wahrscheinlich fragen: Warum beginnt die philosophiehistorischer Neuzeit nicht

150 Jahre früher? In den Büchern zur allgemeinen Geschichte tut sie das doch! Vorige Woche

habe ich versucht, das zum Teil mit dem Bild vom Verhalten einer Flüssigkeit zu erklären: das

Mittelalter schlägt lange Wellen und verebbt langsam, es rollt eher aus, als dass es an einem

bestimmten Punkt aufhört.3 Das schließt nun aber nicht aus, dass sich währenddessen auch schon

andere Strömungen bemerkbar machen, ja sogar schon ihren Höhepunkt erreichen und

überschreiten: jene „Renaissance“ - also Wiedergeburt (der Antike) - genannte Kreiswelle mit

Erregerzentrum in Italien; und in Gegenrichtung und mit Erregerzentrum im Norden der neue

religiöse Fundamentalismus der sogenannten „Reformation“, der für sich wie gegen sich, viel an

intellektueller Energie des 16. und frühen 17. Jahrhunderts absorbiert.

Für die Philosophiegeschichte darf man diese großen Kreiswellen tatsächlich als

Nebenströmungen behandeln. Das schließt nicht aus, dass dort verborgene Schätze schlummern.

Aber die Themen und die Art der Verarbeitung dessen, was sich in den Philosophiegeschichten

etwa unter dem Stichwort "Philosophie der Renaissance" findet, sind doch erstaunlich weit von

den traditionellen und in der philosophiehistorischen Neuzeit wieder aufgenommenen Formen

entfernt.4

1.3. Die wissenschaftssoziologische Rahmen der Philosophie der Neuzeit

1.3.1. Die genialen Amateure

Eines fällt allerdings schon an den mehr oder weniger philosophierenden Schriftstellern der

Renaissance von Francesco Petrarca (1304 - 1374) bis zu Niccolo Machiavelli (1469 - 1527)

auf, was - wenn auch nicht inhaltlich, so doch wissenschaftssoziologisch in Richtung Neuzeit

weist: Im Mittelalter ist die Philosophie eine Sache von professionellen Philosophen an

Universitäten und in Klöstern; die Philosophen der Renaissance sind Höflinge oder gelehrte

weltliche Stadtbürger. Das sind auch manche Philosophen der philosophiehistorischen Neuzeit,

manch anderer ist dann Gentleman-Politiker, Mathematiker und Naturwissenschaftler (das heißt zu

dieser Zeit: Tüftler mit verwegenem Privatlabor), Hof-Bibliothekar, Linsenschleifer, tatkräftiger

Bischof, weltlicher Universitätsprofessor für alle möglichen Fächer... Professioneller Philosophie-

Mönch ist keiner mehr. Und wenn ich bei aller Verschiedenheit der Ansichten die frühe Neuzeit

3 Vgl. a.a.O. 2.5.3. (S.9). 4 Sonst typischerweise zur Renaissance gerechnete Philosophen werden einführend behandelt in den letzten Kapiteln von Kurt Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter, Stuttgart (Reclam) 1986. Für Textausschnitte empfiehlt sich wie üblich die “Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung bei Reclam” , Hg. Rüdiger Bubner, in diesem Fall Band 3 “Renaissance und frühe Neuzeit”, hg. v. Stephan Otto, Stuttgart 1986. Petrarcas Beschreibung seiner Wanderung auf den Mont Ventoux (die ihn mit ihrem Anschluss an Augustinus allerdings m.E. eher ins Mittelalter als in die Neuzeit verweist) und Machiavellis “Principe” (das ich eher als praktisches Handbuch lese denn als philosophisches Werk) sind bei Reclam in schönen zweisprachigen Ausgaben erhältlich.

3

insgesamt charakterisieren sollte, so würde ich sagen: Die frühe Neuzeit ist die Epoche der

genialen Amateure. Michel Foucault, der große französische Postmoderne, hat den Nagel auf den

Kopf getroffen, als er einmal auf die Frage eines Journalisten, wie sich die Philosophen denn in die

Gesellschaft integrieren könnten, zunächst mit einem historischen Exkurs antwortete:5 in der

Neuzeit habe sich diese Frage bis ins späte 18. Jahrhundert nicht gestellt, weil man bis dahin keine

hauptberuflichen Philosophen kannte.

1.3.2. Wissenschaftliche Zweisprachigkeit

Völlig anders als die Gelehrten des Mittelalters beginnen die Gebildeten der Neuzeit langsam statt

der allgemein-europäischen Wissenschaftssprache Latein verschiedene Regionalsprachen zu

schreiben. Noch sehr lange schreiben sie beides nebeneinander her - Italienisch und Latein,

Englisch und Latein, Französisch und Latein, Deutsch und Latein - und sie integrieren dabei ein

großes Stück lateinischer Gelehrtensprache in die modernen Sprachen. Das Französische hat dabei

den besonderen Vorteil, dass es nicht allein in Frankreich, sondern an jedem europäischen

Adelshof gesprochen wird.

Das wissenschaftliche Latein wird nicht etwa schlechter, aber es büßt das Kristallklare des

philosophischen Mittellateins ein und tritt zuweilen etwas aufgedonnert auf, gleichsam nicht mehr

Kutte, sondern Perücke tragend, was einen Schlag ins Vergrübelte nicht ausschließt.

Das mag auch daran liegen, dass die Texte nicht mehr Vorlesetexte für die cathedra sind,

sondern Lesetexte, vom Autor am Schreibtisch geschrieben, um in gedruckter Form vom Leser -

womöglich am anderen Ende der Welt - im Studierzimmer leise gelesen zu werden. Man fühlt sich

dabei allmählich als Mitglied einer globalen chatgroup, einer Gesellschaft des geschriebenen

Wortes, republique des lettres, der im Prinzip jeder angehörte, der Muße zum Lesen hatte.

Das soll an erster Skizze der Kulissen genügen, und die story kann beginnen.

2. Die story

2.1. Hobbes' "Leviathan"

Ich beginne mit Thomas Hobbes (1588 - 1679) - und das, obwohl das Hauptwerk des englischen

Gelehrten und Politikers ein paar Jahre später erscheint als Descartes' "Meditationes". Auf der

revolutionären ersten Seite des "Leviathan" scheint mir der Ausgangspunkt der neuzeitlichen

Philosophie einfach besonders deutlich zu sein: Ein Leviathan ist ein Großlebewesen. Ursprünglich

bezeichnet das Wort ein grauenerregendes Seemonster.6 Das Großlebewesen, das Hobbes

"Leviathan" nennt, ist ein Staat, ein großer Mensch, der sich aus lauter kleinen Menschen

5 Michel Foucault, Dits et Ecrits 1954 - 1988, Bd. I 1954 - 1969, Paris (Gallimard) 1994, S. 553. Original als: Qu’est-ce qu’un philosophe, in: Connaissance des hommes no22, automne 1966, S.9: “M’integrer... vous savez, jusqu’au XIXe siècle, les philosophes n’étaient pas reconnus. Descartes était mathematicien, Kant n’enseignait pas la philosophie, mais l’anthropologie et la géographie, on apprenait la rhétorique, pas la philosophie, il n’était donc pas question pour le philosophe de s’intégrer. C’est au XIXe siècle qu’on trouve enfin des chaires de philosophie; Hegel était professeur philosophie. Mais, à cette epoque, on s’accordait à penser que la philosophie touchait à son terme”. Auch wenn mir das im Detail (Kant, deutsche Universitätsphilosophie im 18. Jahrhundert!) nicht ganz korrekt zu sein scheint - die Richtung stimmt! 6 Altes Testament, Psalm 74, 14; Jesaja 27,1; ausführliche Schilderung: Hiob 40, ab 25 und 41 passim!

4

zusammensetzt. Sie sehen das auf der Folie, dem Titelblatt der Erstausgabe. Der Staat als

Lebewesen - das ist noch nicht allzu originell: Platons Staat hat Züge eines Lebewesens,7

Aristoteles' Staat ist eindeutig ein Gewächs8 und das Bild vom Staat als großem Menschen hat eine

lange Tradition in der römischen Staatsideologie.9 Originell ist, dass Hobbes' Buch eine

Bauanleitung für einen Leviathan ist. Kann man denn für ein Lebewesen, obendrein eines von der

Form eines Menschen, eine Bauanleitung schreiben?

"Aber sicher!", ist Hobbes' Antwort - und hier setzt die Neuzeit ein: "Lebewesen haben

dieselbe Grundstruktur wie Taschenuhren. Wenn Menschen Taschenuhren bauen, imitieren sie

Gott beim Bau von Lebewesen. Man muss ja nur einmal hinschauen, wie Lebewesen konstruiert

sind..."

“Was ist das Herz anderes als eine Antriebsfeder; was sind die Nerven anderes als Schnüre; was die Gelenke anderes als Räder, die die Bewegung auf den ganzen Körper so übertragen wie es der Konstrukteur beabsichtigt hat?”10

Es ist also möglich, eine Bauanleitung für den Staat zu schreiben, weil der Staat im Prinzip ein

großer Mensch ist und der Mensch wiederum im Prinzip eine Taschenuhr ist.

Ich glaube, am besten erklärt sich dieser kühne Gedanke als Verarbeitung einiger

beeindruckender kollektiver Erlebnisse:

1. Es gelingt schon seit dem 16. Jahrhundert, immer feinere Maschinen zu bauen, und tatsächlich

wird eine Taschenuhr mit ihren Metallrädchen zu Beginn mindestens so erstaunlich gewirkt haben

wie der erste Laptop vor einem Jahrzeht.11

2. Man vermag im Laufe des 17. Jahrhunderts das Verhalten schwerer starrer Körper auch immer

besser theoretisch zu berechnen (Galilei!).

Höhepunkt dieser Entwicklung sind eine Generation nach Hobbes die "Mathematischen

Prinzipien der Naturphilosophie" von Isaac Newton, denen zufolge den Bewegungen der

7 Vgl. die Analogie mit der menschlichen Seele (Pol. IV 435b) in Verbindung mit Pol. IX 588c - 591a und Timaios 69e; Zusammenfassung der “Politeia” unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/platon/staat1.doc. 8 Vgl. Pol. I 2 1252b30 - 1253a1. Gerade als erwachsenes Dorf ist der Staat deshalb kein Dorf mehr, so wie auch ein erwachsenes Kind kein Kind mehr ist (dies ist Aristoteles Antwort auf die theoretischen Gegner in Pol. I 1 1252a8 - 16!). Vgl. für den Text http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/politika.htm; und für eine Einführung meine “Lectures on Aristotle’s Politics” unter http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/pol/deck.html, besonders Lecture 3. 9 Der sagenhafte Auszug der Plebejer aus Rom in grauester republikanischer Vorzeit soll durch eine Rede rückgängig gemacht worden sein, in der die Republik mit einem menschlichen Körper und die Stände mit verschiedenen Körperteilen verglichen wurde. Vgl. dazu Livius, Ab urbe condita, Buch II, Kap. 32. Interessanterweise werden die Patrizier dabei mit nicht mit dem Kopf verglichen, sondern mit dem Bauch, was die Geschichte irgendwie schon humorvoller macht und wofür sich Livius denn auch gleich einleitend entschuldigt. Weniger konkretere Version: Cicero, De officiis, Buch III, Kap. 5. 10 Thomas Hobbes, Leviathan [1651], edited with an introduction by C.B. Macpherson, London (Penguin) 1985, S. 81 (erste Seite der “Introduction” des Haupttextes). Original: "What is the heart but a spring; and the Nerves, but so many Strings; and the Joynts, but so many Wheeles, giving motion to the whole Body such as was intended by the Artificer?”. Die für diese Vorlesung wichtigsten Textausschnitte auch unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/HOBBES3.html. 11 Der Brockhaus gibt als ungefähren Zeitpunkt der Erfindung der ersten Taschenuhren (durch Peter Henlein in Nürnberg) das Jahr 1510 an.

5

Himmelskörper dieselben in einfachen Gesetzen bechreibbaren Kräfte zugrunde liegen wie dem

Verhalten mittelgroßer Felsbrocken oder Maschinenteile auf der Erde, wenn man sie sich nur als in

gigantischen Entfernungen voneinander Weltraum verstreut denkt, wobei sie umeinander

taumeln.12

Man meint nun: Man versteht, was geschieht, wenn ein Zahn eines Zahnrades den eines anderen

Zahnrades wegdrückt und dadurch das eine Zahnrad das andere zwingt, sich in Bewegung zu

setzen; man versteht, was geschieht, wenn eine Kugel auf einer schiefen Ebene Schwung nimmt

und eine andere wegschubst; man versteht, was geschieht, wenn man einem Klingelseil zieht, eine

Feder aufzieht, eine Flüssigkeit durch einen Schlauch pumpt, eine Last mit einem Hebel bewegt,

einen Stützbalken einzieht...

3. Man schneidet Leichen auf (auf der Folie das berühmte Bild Rembrandts von einer

Leichenöffnung) - und siehe: man findet nichts als Klingelseile, Pumpen, Stützbalken und

dergleichen. Mitte des 18. Jahrhunderts schreibt der ansonsten vergessene französische Philosoph

Julien Offray de Lamettrie (1709 - 1751) dann ein Buch mit dem programmatischen Titel

"L'homme machine" - “Die Mensch-Maschine”.13

Hobbes' Konsequenz ist radikal: Was immer es gibt, ist "matter in motion" - Stoff in

Bewegung.14 Auch die menschliche Seele und wohl sogar Gott mutieren zu Materie-Wolken-aus

zwar sehr feiner Materie, aber im Prinzip doch stofflich15 (ein übrigens bereits in der antiken Stoa

vorgebildeter Gedanke16). Wie sollte man sich auch sonst die Einwirkung des Geistes auf andere

Körperteile vorstellen, wenn doch alle Einwirkung offenbar Druck, Zug, Pumpen und Hebeln ist?

Übrigens hindert das Hobbes nicht daran, die Seele als System zur Verarbeitung kleiner mentaler

Bildelemente17 - ein Ansatz, der noch eine ziemliche Karriere vor sich haben sollte.

Maschinenbau - und darum geht es im "Leviathan” - ist die Kunst der geschickten Koordination

von Kräften. Im unkoordinierten Zustand (Hobbes nennt ihn "Naturzustand"18) führt ausgerechnet

die allen Menschen innewohnende Tendenz zur Selbsterhaltung dazu, dass sie sich aus Misstrauen

gegeneinander in einem "Krieg aller gegen alle"19 gegenseitig umbringen - Der Mensch ist dem

Menschen dann ein Wolf. Aber sollte es nicht möglich sein, die jedem einzelnen innewohnende

12 Schöne deutsche Leseausgabe seit neuestem in der Übersetzung von Volkmar Schüller. Besonders lesenswert ist das “allgemeine Scholion”, die große philosophische Schlussbemerkung Newtons. Zur Entwicklung der modernen Astronomie vor Newton (Kopernikus - Kepler - Galilei) absolut lesenswert: Arthur Koestler, The Sleepwalkers, übers. v. W.M. Preichinger als "Die Nachtwandler", Wiesbaden (Emil Vollmer Verlag) 1959. 13 Die Übersetzung - viel schöner als das holprige “Der Mensch als Maschine” - stammt von Kraftwerk, die schätzungsweise ziemlich gut wussten, auf wen sie mit ihrem inzwischen klassischen Album von 1978 anspielten. 14 Die Formel, z.B. bei Priest, The British Empiricists, S.25, 27, ist angelehnt an Stellen wie Leviathan IV 46 (S.689 der Macpherson-Ausgabe). 15 Hobbes, Leviathan, Buch I, Kap. 1 (S. 86 der Macpherson-Ausgabe). 16 Vgl. z.B. Nemesius 78,7-79,2 (SVF 1.518, teilw.), LS 1 272 / LS2 269 (C) und Nemesius 81,6-10 (SVF 2.790, teilw.), LS 1 272 / LS2 269 (D) und weitere Textausschnitte (1 - 5) unter http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/therapy/stoa.html. (“LS” = Long / Sedley, The Hellenstic Philosophers, “SVF” = Arnim, Stoicorum Veterum Fragmenta). 17 Hobbes nennt sie im Leviathan noch nicht “ideas”, aber die späteren britischen Empiristen werden das tun. Vgl. Leviathan Buch I, Kap. 1 + 2 (S. 85 - 94, Macpherson). 18 Hobbes, Leviathan, Buch I, Kap. 13.

19 Vgl. ebd. (S. 185f , Macpherson).

6

Tendenz zur Selbsterhaltung mit derselben Tendenz jedes Anderen so zu koordinieren, dass sie

auch wirklich zur Selbsterhaltung führt? Dies gelingt, wenn Menschen einen Staat (ein "Common-

Wealth" im wörtlichen Sinn20) bilden, was man sich wie einen Vertragsschluss vorstellen mag:

Jeder überträgt dabei sein Recht auf Gewaltausübung auf einen "Souverän" genannten staatlichen

Machthaber.21

Daraus folgt, dass etwa ein König seine Legitimation zum Erteilen von Befehlen auch nur

daraus gewinnt, dass er als Schaltzentrale zur Koordination der Kräfte aller zum Zwecke der

Selbsterhaltung aller praktisch ist. Für Selbstherrlichkeit ist in solcher Konzeption nicht der

geringste Platz. Der nach den Wirren des englischen Bürgerkrieges gerade neu eingesetzte

englische König, mit dem Hobbes eigentlich auf gutem Fuß stand,22 war nicht besonders amüsiert,

und beließ es wie seine Kollegen lange noch lieber bei der Theorie, er sei Herrscher von Gottes

Gnaden.23 Aber ein interessanter Gedanke lässt sich nicht so einfach aus der Welt schaffen.

2.2. Descartes' "Meditationes"

Auch das philosophische Werk des französischen Mathematikers und Naturwissenschaftlers René

Descartes (1694 - 1651) lässt sich als Reaktion auf die Entdeckung des Maschinenhaften am

menschlichen Körper sehen. Doch er reagiert anders als Hobbes, der das Denken verkörperlicht.

Descartes nimmt eine radikale Trennung des Körpers von der Seele vor: Er denkt, anders als

Hobbes (aber ähnlich wie z.B. schon Platon), die Seele als immateriellen Gegenstand.

1641 veröffentlicht er ein kleines Büchlein über die "Erste Philosophie".24 Es besteht aus sechs

ziemlich kurzen Kapiteln, die er "Meditationen" nennt. Descartes betritt kein neues Gebiet: "Erste

Philosophie" ist nichts anderes als die originale Bezeichnung von Aristoteles für das, was man

später Metaphysik genannt hat.25 Doch das Fortbewegungsmittel der Meditation in diesem Gebiet

ist eine Neuerfindung. Was "Meditation" hier heißen soll, erläutert Descartes in der noch kürzeren

französischen Fassung desselben Gedankenganges, dem "Discours de la methode". Er tut dies

durch die Beschreibung der Umstände, in denen er die entscheidende Entdeckung für die zweite

Meditation machte: Ich war in Deutschland, wohin mich der Krieg... gerufen hatte, und ... der Einbruch des Winters hielt mich in einem Quartier fest, wo ich, ohne irgendein Gespräch zu finden, das mich zerstreute - und, zum Glück, auch ohne dass mich

20 So der Titel des gesamten 2. Buches des Leviathan.

21 Hobbes, Leviathan, Buch II, Kap. 17. NB: Der Souverän ist nicht mit dem Leviathan identisch!

22 Vgl. Stephen Priest, The British Empiricists, London (Penguin) 1990, S.23 23 Vgl. ebd. und S.49. 24 Text der ersten zwei Mediatationen: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/rene.html; Schlüsselstellen aus der 6. Meditation: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/MEDVI.html. Eine Zusammenfassung der “Meditationes” findet sich unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/berflug.htm. 25 Aristoteles, Metaphysik, Buch VI, Kap. (E) 1, 1026a15, a24.

7

irgendwelche Sorgen oder Leidenschaften beunruhigten, den ganzen Tag allein in einer warmen Stube eingeschlossen blieb und hier alle Muße fand, mich mit meinen Gedanken zu unterhalten.26

Die Meditationen sind also das Gegenteil des Philosophierens im Dialog (wie es Platons Sokrates

betreibt): Sie sind das (stilisierte) Tagebuch der gedanklichen Erlebnisse einer Woche einsamen

Philosophierens in der Kaminstube. Kein Wunder, dass sie, wie jedes Tagebuch in der Ich-Form

geschrieben sind. Anlass für seine Einkehr sind Descartes' Zweifel an der Glaubwürdigkeit aller

Sätze, für deren Begründung man sich auf irgendwie Bezweifelbares verlässt. Besonders wichtig

sind dabei für ihn "metaphysische" Aussagen wie:27

A) Gott existiert

B) Jedem lebenden menschlichen Körper wohnt eine Seele inne, die sich derart von ihm

unterscheidet, dass sie seine Zerstörung überleben kann. (Leib / Seele-Dualismus)

Zwar hatte Descartes in der Schule gelernt, dass diese Sätze wahr seien. Aber konnten sich die

Lehrer nicht alle irgendwo geirrt haben? Wenn man diese Sätze doch einmal beweisen könnte,

ohne auf irgendwie Bezweifelbares zurückgreifen zu müssen! Das hätte obendrein den schönen

Nebeneffekt, das sich auch Ungläubige von ihrer Wahrheit überzeugen müssten.28

Mit diesem Ziel vor Augen, macht sich Descartes daran, wenigstens einen Satz zu finden, der

über jeden Zweifel erhaben ist, um mit ihm als einziger inhaltlicher Prämisse Sätze wie A) und B)

logisch folgern zu können. Denn erst dann, aufgebaut auf einem "fundamentum inconcussum",29

einem unerschütterlichen Baugrund, können auch diese Sätze als bewiesen gelten. Descartes hat

ein sehr anspruchsvolles Kriterium dafür, wann etwas über jeden Zweifel erhaben ist:

Der genius-malignus-Test

Ein Satz p ist genau dann über jeden Zweifel erhaben, wenn selbst ein böser Geist mit

unbeschränkten Täuschungsmöglichkeiten (genius malignus) es nicht schaffen könnte, mir

vorzumachen, p sei wahr, obwohl p falsch ist.30

A) besteht diesen Test nicht. Man kann sich z.B. vorstellen, dass ein böser Geist mir vormacht, es

26 Descartes, Discours de la methode II 1, Übersetzung leicht abgewandelt nach der Ausgabe der “Philosophischen Schriften”, Hamburg (Meiner) 1996, S. 19 [Seitenzählung des “Discours”]. 27 Dies sind die schon aus dem Titel der zweiten Auflage von 1642 ersichtlichen und nochmals am Beginn des Widmungsschreibens direkt genannten Beweisziele: “Meditationes de Prima Philosophia, In quibus Dei existentia, et animae humanae a corpore distinctio, demonstrantur”. Im Titel der Erstausgabe hieß es noch: “...et animae immortalitas demonstrantur”. Dass die “a corpore distinctio” notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung für “immortalitas” ist, macht Descartes in der Zusammenfassung der 2. Meditation in der Synopsis sehr deutlich. 28 Vgl. Meditationes, Widmungsschreiben 2. Absatz. 29 Der Ausdruck “fundamentum inconcussum” findet sich m.W. in den Meditationen nicht direkt. Allerdings ist in Med I 1+2 die Metapher des Baugrundes als Leitmetapher für den ganzen Text eigeführt und wird in Med. II 1 deutlich wieder (Abschnittzählung nach der Meiner-Ausgabe). Von “etwas Unerschütterlichem” (inconcussum) ist dann in den entscheidenden Sätzen am Ende von Med. II 1 + 4 die Rede. Vorbild für die Metapher ist vermutlich Seneca, De vita beata. 30 Med. I 12.

8

gäbe Gott, obwohl es ihn gar nicht gibt.31 Und auch eine ganze Menge andere Aussagen fallen

dabei durch. Die beiden interessantesten unter ihnen kann man so wiedergeben:

C) Einer idea in meinem Geist entspricht in der Regel ein Gegenstand außerhalb meines

Geistes.32

C+) Wenn einer idea in meinem Geist ein Gegenstand außerhalb meines Geistes enstspricht,

dann bildet die idea den Gegenstand genau so ab, wie dieser an sich ist.33

Eine idea im wissenschaftlichen Latein der frühen Neuzeit (oder auf Französisch eine "idée") ist

gerade das, was bei Hobbes “fancy” heißt, und was und bei seinen englischsprachigen Nachfolger

"idea" nennen, also ein kleines Bild im Geist:34 es ist ungefähr das, was man im Comic in eine

Denkblase malen würde. Es hat übrigens nicht das Geringste mit dem zu tun, was im Griechischen

bei Platon zufällig auch manchmal "idea" heißt und in der Philosophiegeschichte unter dem

Stichwort "platonische Ideen" abgehandelt wird.35 Man sieht das schon an ihrer philosophischen

Grammtik: platonische Ideen gibt es, neuzeitliche Ideen hat man.

Darunter, dass einer idea ein äußerer Gegenstand entspricht, versteht Descartes, dass ein

äußerer Gegenstand diese idea verursacht. Man kommt selbst im Detail relativ weit, wenn man

sich das nach dem Modell einer Wachstafel vorstellt, in die man Eindrücke einstempelt (das Bild

wird in Platons Spätdialog "Theätet" bereits ausdiskutiert und mit guten Gründen verworfen,36 was

aber nicht verhindert hat, dass es in der Neuzeit für eine ganze Weile das philosophische

Paradigma für die Funktionsweise des Geistes wurde).

Die Aussage C) bedeutet also, dass ich mir meine ideae in der Regel nicht zurechtspinne wie im

Traum, sondern diese Eindrücke äußerer Gegenstände sind. Wäre C) falsch, so wäre eben das

ganze Leben ein Traum. Gerade deshalb besteht die Aussage C) den genius-malignus-Test nicht:

Es könnte ja sein, dass das ganze Leben ein Traum ist, bei dem der böse Geist Regie führt.37

Nun sollte man meinen, dass es mit der Suche nach einer Aussage, die den genius-malignus-

Test besteht, ziemlich mau aussieht, wenn selbst ein Satz wie C) dabei durchfällt, und das ist die

Situation am Ende der 1. Meditation.

Erstaunlicherweise findet sich in der 2. Meditation ein ganz einfacher Satz, der den Test

31 Med. II 3, vgl. auch Med. I 10.

32 Med. I 5 + 12. Descartes formuliert hier die Thesen nicht mit dem Wort “idea”, aber sein Gebrauch des Wortes im weiteren Verlauf und auch schon Vorwort (4. Absatz) rechtfertigt die vorgenommene Reformulierung. 33 Med. I 5-9. Vgl. zum Unterschied zwischen C) und C+) bes. Med. I 6 (meine Herv.): “...nec forte...tales manûs nec tale totum corpus [...sed] manûs totumque corpus...” (“...zwar vielleicht nicht solche Hände und einen solchen Körper [...aber doch wohl] Hände und überhaupt einen Körper...”). 34 Vgl. zum Begriff der “idea” v.a. Vorwort, 4. Absatz,und Med. VI 3.

35 Vgl. mit Belegen http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/hannover/hannover.html. Das griechische Analogon zu idea / idée ist eher phantasma. 36 Platon, Theätet 191c - 196c.

37 Med. I 5 - 12, II 2. Das Traumargument selbst ist auch anderweitig bekannt: vgl. z.B. Platon, Theätet 157e - 158e; Hobbes, Leviathan, Buch I, Kap. 2. Sehr schön ist die altchinesische Version mit Schmetterling (Tschuang Tse), die sich, neben weiteren Versionen verschiedenster Herkunft, findet in. Hans-Ludwig Freese, Gedankenreisen, Reinbek bei Hamburg (Rowohlt) 1996, S.59.

9

besteht. Er lautet:

D) Ich existiere.

Das ist das unerschütterliche Fundament. Der Trick ist ganz einfach: Wenn dieser Satz falsch wäre,

könnte der böse Geist mir nicht vormachen, er sei wahr, denn dann gäbe es mich nicht, und somit

könnte er mir auch nichts vormachen.38 Auch dieser Gedanke ist nicht ganz neu, sondern findet

sich in der Formulierung, "si enim fallor, sum" ("wenn ich mich täusche, gibt es mich") bei

Augustinus.39 Aber was soll's: Erst Descartes hat ihn wirklich ausgeschlachtet. Oft kürzt man ihn

in die Formel "Cogito ergo sum" ab, die zwar so nirgends bei Descartes steht, wohl aber im

"Discours de la methode" ihr französisches Gegenstück "Je pense, donc je suis" - "ich denke, also

bin ich".40

Die abkürzende Formel zeigt auch schon, wie Descartes weiter argumentiert. Da noch

ausgeklammert bleibt, ob mir der böse Geist meinen Körper nicht nur vormacht, bedeutet D) im

Zusammenhang mit dem Täuschungs-Szenario genau genommen:

D+) Ich existiere als ein denkendes Wesen und begreife mich als solches

("sum res cogitans" - Ich bin ein denkend Ding).41

Damit ist allerdings weniger gesagt, als man zunächst meinen mag - was Descartes auch klar

sagt,42 was aber trotzdem oft übersehen wird. Denn damit ist z.B. noch nicht die Existenz der

körperunabhängigen Seele bewiesen: Es könnte ja sein, dass ich ein denkendes Wesen bin und

mich als solches begreife, aber mit nichts anderem denke als einem meiner materiellen und

vergänglichen Körperteile - meinem Gehirn.

Descartes geht denn auch zunächst daran, die Existenz Gottes zu beweisen. In seinen beiden

Argumenten dafür, in der 3. und in der 5. Meditation, blickt er konsequent nach innen, denn die

Existenz der Außenwelt hat er ja noch nicht etabliert. Beide Argument ähneln etwas dem

(allerdings im Detail viel raffinierteren) Argument von Anselm von Canterbury: schon aus dem

Vorhanden sein einer idea von Gott im Geist soll folgen, dass Gott existiert. (Sie werden

wahrscheinlich schon die Nähe von Anselms Projekt zu Descartes' Projekt bemerkt haben: beide

suchen Vernunftbeweise, die auch den Ungläubigen bekehren, wenn er nur vernünftig ist).43

Um schließlich die Existenz der körperunabhängigen Seele zu beweisen, greift Descartes -

nunmehr bereits im großen argumentativen showdown der 6. Meditation - noch tiefer in die

38 Med. II 3.

39 Augustinus, De civitate dei XI 26, vgl. auch De libero arbitrio II 3, 7; dazu Kurt Flasch, Augustin, Stuttgart (Reclam) 19942, S.59- 61. 40 Discours IV 3.

41 Med. II 7 + 8 (“Sed quid igitur sum? res cogitans...”, II 8).

42 Vgl. Vorwort, 3. Absatz (1. Einwand), + Med. II 7: “nescio, de hac re non iam disputo” (“ich weiß nicht, darüber streite ich jetzt noch nicht”). 43 Zu Anselm: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/mittelalter/mittelalter.html;

10

Trickkiste.44

Und noch immer steht - schon mitten in der 6. Meditation - ein Beweis für die Existenz äußerer

Gegenstände aus. Descartes liefert ein Argument,45 es ist subtil und nach allen Regeln der Kunst

geführt (ich hatte es schon in der Logik-Vorlesung erwähnt). Aber es hat einen Haken: An einer

Stelle setzt es die Existenz Gottes voraus. Descartes glaubt diese zwar inzwischen bewiesen zu

haben, und so macht er mit dieser Voraussetzung an dieser Stelle keinen formalen Fehler. Aber

eher wenige Leser haben Zutrauen zu seinen Argumenten für die Existenz Gottes gefunden.

Immerhin war Blaise Pascal (1623-1662), ein Zeitgenosse von Descartes, prinzipiell gegenüber

Gottesbeweisen schon skeptisch genug, um für die Annahme der Gottes Existenz nur noch damit

zu argumentieren, dass man, auch wenn man nicht wissen kann, ob Gott existiert, mit einer Wette

darauf, dass er existiert, eine optimale Gewinnstrategie fährt.46

Descartes aber lehnt sich nach sechs Tagen harter Arbeit zufrieden zurück, und meint, dass alles

sehr gut geworden ist. Nur die Aussage C+), dass die Dinge auch an sich so sind, wie unsere ideae

von ihnen, ließ sich nicht beweisen. Aber er vertraut darauf, dass uns Gott über die Beschaffenheit

der Dinge schon nicht allzusehr hinters Licht führt, wenn wir uns nur Mühe geben zu erkennen,

und zumindest eine gewisse Strukturanalogie zwischen den Dingen und den von ihnen

hinterlassenen ideae besteht.47

2.3. Der Problemstand nach den "Meditationen"

Der Eindruck, den Descartes' "Meditationen" bei vielen Lesern hinterlassen haben und noch heute

hinterlassen, ist:

"Das unerschütterliche Fundament ist wohl tatsächlich gelegt. Aber überraschenderweise ist das

größere Problem offenbar, etwas Stabiles darauf zu bauen!"

Und so haben Descartes' "Meditationen" vor allem offene Fragen hinterlassen (vielleicht macht

http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/demo/philosophie im mittelalter.doc. 44 Vgl. Med. VI 9: Die von Descartes hier eingeführte Zusatzprämisse lautet, daß jede Sache, die sich abgesehen von einer anderen klar und distinkt (clare et distincte) erkennen läßt, auch eine selbständige Schöpfungseinheit ist. Das Argument ist m.E. erst in einer weit raffinierteren Version im zweiten Teil der dritten Vorlesung von Saul Kripkes “Naming and Necessity” von 1971 in eine diskussionswürdige Form gebracht worden. 45 Med. VI 10. Für eine Grobanalyse vgl.: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/berflug.htm. 46 Vgl. Pascal, Pensées Bd.2, hg. v. Léon Brunschvicg (Bd. 13 der Werkausgabe), Paris 1904, Fragment Nr. 233. Stark vereinfacht geht das Argument so: Wenn es Gott nicht gibt, aber ich glaube dran, dann verliere ich nichts; wenn es ihn nicht gibt, und ich glaube nicht dran, verliere ich auch nichts; wenn es ihn gibt, und ich glaube dran, komme ich (daraus resultierendes Wohlverhalten vorausgesetzt) in den Himmel; wenn es ihn gibt, und ich glaube nicht dran, komme ich in die Hölle. Genauere Analyse: Hermann Weidemann: Wetten, daß...?, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 81 (1999), S. 290 - 315. 47 Vgl. Med. IV 13 - 16, VI 24 (Schlussparagraph) in Verbindung mit VI 14: “...recte concludo aliquas esse in corporibus, a quibus variae istae sensuum perceptiones adveniunt, varietates iis respondentes, etiamsi forte iis non similes” (“...ich schließe mit Recht, dass in den Körpern, von denen mir diese verschiedenartigen Wahrnehmungen entgegenkommen, gewisse Verschiedenheiten vorhanden sind, die ihnen entsprechen, wenngleich sie ihnen

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gerade das ein großes philosophisches Buch aus):

Fragenkomplex 1: Wie soll man sich denn eine Wirkung einer immateriellen Seele auf den Körper

vorstellen? Welches Bild haben wir von Einwirkungen, wenn nicht das in diesem Fall offenbar

absurde von Druck, Stoß, Pumpen und Hebeln? Was ist das überhaupt abstrakt ausgedrückt:

Einwirkung?

Fragenkomplex 2: Wie kann man sich überhaupt noch der Existenz der Außenwelt gewiss sein,

wenn zwar das Gedankenexperiment des radikalen Zweifels so gut funktioniert, aber der

Gegenbeweis auf so tönernen Füßen steht?

Fragenkomplex 3: Was nützte uns selbst die Gewissheit über die Existenz der äußeren Dinge,

wenn wir keine Ahnung haben, ob unsere ideae von ihnen irgendetwas damit zu tun haben, wie sie

an sich sind? Könnte es da z.B. nicht sein, dass wir uns alle nur einbilden, Menschengestalt zu

haben, unsere Körper aber an sich Elefantenform haben?

Fragenkomplex 4: Lässt sich die Existenz Gottes nicht etwas überzeugender beweisen? Oder

deuten die "Meditationen" darauf hin, dass das gar nicht geht?

Mit den von Descartes hinterlassenen Fragen sind auf die eine oder andere Weise die Philosophen

der nächsten Jahrhunderte beschäftigt.

2.4. Erste Reaktionen

Die Radikalität der Reaktionen in der nächsten Generationen großer Philosophen lässt den Schock

ahnen, den Hobbes und Descartes hinterlassen haben müssen.

2.4.1. Spinoza

Eine Reaktion besteht darin, sowohl den Materialismus von Hobbes als auch Descartes' Trennung

in nur Materielles einerseits und nur Mentales andererseits radikal abzulehnen, und zu sagen:

Körperliche Ausdehnung und Denken sind zwei Attribute desselben Gegenstandes, und es

ist eine Frage des Blickwinkels, welches man gerade in den Blick bekommt.

Das ist dann gerade kein Dualismus wie bei Descartes, sondern ein Monismus, eine Ein-

Gegenstand-Lehre. Das Einwirkungsproblem ist damit ebenso vom Tisch wie das

Außenweltproblem. Es ist Baruch de Spinoza, der mit dieser These reagiert - vielleicht der

aktuellste Denker des 17. Jahrhunderts und einer der kühnste Denker überhaupt.48

Will man seiner kurzen Biografie von 43 Jahren etwas Positives abgewinnen, so mag man

vielleicht nicht ähnlich sind.”). 48 Vgl. für eine moderne Interpretation: Jonathan Bennett, A Study of Spinoza’s “Ethics”, Cambridge (CUP), 1984.

12

sagen, dass sie ihm sein kühnes Denken ermöglichte, indem er jeder Rücksichtnahme enthoben

war: die Traditionslast des Christentums musste er dank seiner Herkunft nie tragen, und aus der

jüdischen Gemeinde von Amsterdam wurde er schon als junger Mann als Ketzer unter

schrecklicher Verfluchung hinausgeworfen. Spinoza verdingte sich als Linsenschleifer und lehnte

schießlich eine Professur in Heidelberg ab, um auch weiterhin nicht Rücksicht nehmen zu

müssen.49

Spinoza macht klar, dass er die Monismus-These sehr radikal versteht: Es gibt streng

genommen, überhaupt nur einen Gegenstand, nämlich die ganze Welt. Jeder von uns ist eigentlich

kein Ding, sondern nur eine Eigenschaft des Großen Ganzen. Man mag dieses Große Ganze auch

"Gott" nennen.50 Damit wird die Existenz Gottes geradezu eine Trivialität (wie sollte man an der

Existenz er Welt zweifeln?). Allerdings wird man sich dann von einigen primitiven Deutungen der

traditionellen Attribute Gottes verabschieden müssen:

“Der Verstand und der Wille [Gottes sind] von unserem Verstand und Willen himmelweit verschieden [...]; nämlich

nicht anders, als das Sternbild Hund und das bellende Tier Hund einander gleichen.”51

All das verkündet Spinoza nun nicht etwa im Ton eines Schwärmers, sondern deduziert es in

einem der abstraktesten Texte der Philosophiegeschichte, dem 1. Buch seiner sogenannten "Ethik".

Er übernimmt nämlich von Descartes den Gedanken, in einem philosophischen Werk müsse jede

Behauptung durch eine logische Deduktion aus unbezweifelbaren Axiomen und Definitionen

etabliert werden; die Philosophen, so meint er, hätten "ordine geometrico"52 zu arbeiten, also wie

die Geometrie treibenden Mathematiker seit Euklid. Trotz viel Gewusel im Detail kommt Spinoza

mit diesem Projekt ziemlich weit. Das liegt natürlich daran, dass er sehr starke Axiome und

inhaltlich extrem aufgeladene Definitionen verwendet.

2.4.2. Leibniz

Auf völlig andere Weise stellt sich Spinozas Zeitgenosse Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 -

1716) der Herausforderung durch Descartes und den Mechanismus.

Leibniz war als brillianter Jurist und vielseitiger Hobbywissenschaftler für seinen Arbeitgeber,

den Herzog von Hannover, universell einsetzbar: als Bibliothekar, als Aufpasser auf der grand

tour, also der obligatorischen Bildungsreise des fürstlichen Nachwuchses durch Frankreich und

Italien, zur Durchsetzung von Erbansprüchen und zu vielem mehr. Wenn er in seiner Postkutsche,

z.B. auf dem Weg zur - nicht besonders erfolgreichen - Restrukturierung der Harzer

Silberbergwerke nicht gerade dabei war, sich mit der Kreiszahl π oder einem System der formalen

Logik zu beschäftigen, die Differentialrechnung, die binären Zahlen und die Feuerversichung zu

erfinden oder mit Missionaren in China zu korrespondieren, schrieb er auch in immer neuen, oft

49 Vgl. zu (leider dort schlecht belegten) Zitaten zur Biographie und Wirkungsgeschichte Wilhelm Weisschedel, Die philosophische Hintertreppe, München (dtv) 198817, S.134f. 50 Vgl. Spinoza, Ethik I, propositio 14 + 15 und die dazu gehörigen Anmerkungen.

51 Anmerkung zu propositio 17. Vgl. auch die große Schlussanmerkung zu Ethik I.

52 So im Titel der “Ethik”: “Ethica ordine geometrico demonstrata”.

13

unveröffentlichten Anläufen Metaphysisches; natürlich auf Französisch und Latein (auf Deutsch

konnte man dem Kutscher befehlen...)!53

Was Leibniz als Antwort auf Descartes bietet, ist vollkommen konsequent und vollkommen

abgedreht. Am leichtesten lässt sich seine' Antwort skizzieren, wenn man vom Problem der

Einwirkung eines Gegenstandes auf einen anderen ausgeht. Leibniz' Lösung ist:

Es gibt überhaupt keine Einwirkung von Gegenständen aufeinander,

es sieht nur so aus als ob.54

Wenn das so ist, dann gibt es natürlich auch kein Problem mit der Einwirkung der Seele auf den

Körper. Zugleich ist Leibniz' Ansatz die denkbar radikalste Gegenposition zum Bild von der Welt

als Maschine mit Kraftübertragung von einem starren Körper auf den anderen. Doch wie kommt

es, dass die Welt so aussieht, als wirke ein Ding auf ein anderes ein?55 Man mag es sich ein wenig

wie im Kasperletheater vorstellen:

Für den sehr jungen Zuschauer sieht es so aus, als schleudere das Krokodil genau deshalb einen

halben Meter zurück, weil ihm das Kasperle gerade einen gewaltigen Nasenstüber versetzt hat. In

Wirklichkeit koordiniert aber der Puppenspieler die Bewegungen der Puppen, indem er das

Krokodil gerade dann zurückzieht, wenn die Vorwärtsbewegung von Kasperles Faust seine

Schnauze erreicht hat. Eine Kraftübertragung findet nicht statt. Vielmehr stimmt der Puppenspieler

die Bewegungen der Puppen harmonisch aufeinander ab.

Der große Koordinator in Leibniz' Welttheater ist Gott, für dessen Existenz er, ebenso wie

Descartes, glaubt, einen hieb- und stichfesten Beweis zu haben.56 Nur hinkt das Bild vom

Puppenspieler, indem es voraussetzt, dass das Geschehen zurselben Zeit koordiniert wird, zu der

es geschieht. Leibniz ist dagegen der Meinung, dass die Koordinationsleistung Gottes eigentlich im

Augenblick der Schöpfung stattfindet: die Harmonie im Verhalten der Dinge ist prästabiliert -

vielleicht wäre es besser, sich statt eines Marionettentheaters ein Kasperletheater mit

Aufziehpuppen vorzustellen; auch dieser Vergleich hinkt, denn das Element der Selbstentfaltung

ist bei Aufziehpuppen nicht gegeben; aber ich habe einen besseren.

53 Vgl. zur Biographie Eike Christian Hirsch, Der berühmte Herr Leibniz, München (Beck) 2000 (philosophiehistorisch leider unergiebig - davon hat Hirsch nicht viel Ahnung - und daher ziemlich langweilig). 54 Der beste (wenn auch nicht leichte) Text zum Einsteigen in Leibniz’ System ist die “Metaphysische Abhandlung” von 1686 (z.B. zweisprachig bei Meiner), nicht die spätere, noch komprimiertere und befremdlichere “Monadologie”. Im kurzen Text der “Metaphysischen Abhandlung” finden sich die referierten Meinungen sämtlich belegt; zentral sind §§ 8, 13 und 15. 55 Leibniz kommentiert seine Lösung in §15 der Metaphysischen Abhandlung: “C’est donc ainsi qu’on peut concevoir que les substances s’entrempechent ou se limitent, et par consequent on peut dire dans ce sens qu’elles agissent l’une sur l’autre, et sont obligées pour ainsi dire de s’accommoder entre elles.” (“So also kann man sich vorstellen, dass sich Substanzen behindern oder begrenzen, und daher kann man in diesem Sinne sagen, dass sie aufeinander wirken und sozusagen verpflichtet sind, sich untereinander zu akkomodieren”; Herv. N.St.). 56 Vgl. Text Nr. XIII (De la demonstration Cartesienne) der Abteilung “Leibniz gegen Descartes und den Cartesianismus (1677 - 1702”) in: Die philosophischen Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz, hg. v. C.J. Gerhardt, Bd.IV, Berlin 1880, S. 405f.; weitere relevante Text: Theodicée § 7, Monadologie § 43, De vita beata (Gerhardt-Ausg. Bd. VII, S.96). Analyse: Gotfried Martin, Leibniz, Berlin (De Gruyter) 1967, Kap. XI §38, S.196-200.

14

Da Gott sowohl allmächtig als auch vollkommen gut ist, hat er im Augenblick der Schöpfung

übrigens die bestmögliche Koordinationsvariante, die "beste aller möglichen Welten", gewählt.

Denn nichts geschieht ohne Grund, und so wird erst recht Gott immer gute Gründe für seine Wahl

haben.57 Das mag zwar auf den ersten Blick nicht einleuchten und ist im Detail nicht

nachvollziehbar; aber gegen einen logischen Schluss kann man ja wohl nichts machen.58

Außerdem ist klar, dass es nicht jetzt noch offen sein kann, was ich morgen tun werde, denn das

würde die ganze Abstimmung meines Verhaltens mit dem Rest der Welt durcheinanderbringen:

Man stelle sich vor, das Krokodil pralle plötzlich wie vorgesehen zurück, obwohl sich das Kasperle

inzwischen dafür entschieden hat, es in Ruhe zu lassen.

2.5. Die britischen Inseln

2.5.1. Überleitung

Mit Descartes, Spinoza und Leibniz haben wir damit die Philosophen zusammen, die in

traditionellen Einteilungen das kontinentaleuropäische Dreigestirn des sogenannten

"Rationalismus" im 17. Jahrhundert bilden. Ich kann mit diesem Etikett wenig anfangen und werde

ebensowenig versuchen, es zu motivieren wie das des angeblich entgegengesetzten "britischen

Empirismus" des späten 17. und dann des 18. Jahrhunderts, dem man ebenfalls ein Dreigestirn

zuordnet. Ich habe es allerdings bei der traditionellen Gruppierung belassen, und so schalten wir

nun hinüber auf die britischen Inseln zu Locke, Berkeley und Hume.

2.5.1. John Locke

Verglichen mit dem geistigen Extremsport von Spinoza und Leibniz scheint es in England nach

Hobbes’ Tod vergleichsweise normal zuzugehen. Tatsächlich ist John Locke ein moderater

Philosoph des "Ja, aber" - was allerdings Gründlichkeit und auch geniale Lösungen nicht

ausschließt. Doch vielleicht finden wir Locke auch deshalb normal, weil seine Philosophie so

einflussreich war, dass sie in manchem Bereich definiert hat, was wir für normal halten.59

Vielleicht ist es auch die soziale Atmosphäre um die Entstehung seines Hauptwerkes "An Essay

concerning Human Understanding", die diesem einen gewissen entspannten Charakter verleiht, und

die Locke im Vorwort beschreibt: Wenn es sich ziemte, [lieber Leser], dich mit der Geschichte dieses “Versuchs” zu belästigen, so würde ich dir erzählen, dass fünf oder sechs Freunde, die sich in meiner Wohnung trafen und über ein Thema diskutierten, das sehr weit von diesem hier entfernt ist, bald steckenblieben, durch Schwierigkeiten, die sich auf jeder Seite ergaben.

57 Diese Ansicht reizt Leibniz im 2. und 3. Brief seines kontroversen Briefwechsels mit dem Newtonianer Samuel Clarke bis ins Letzte aus, indem er argumentiert: Wäre der Raum absolut, wie Newton meinte, so hätte sich Gott im Augenblick der Schöpfung nicht mit guten Gründen zwischen der Welt und ihrer exakten Punktspiegelung entscheiden können. Damit Gott nicht in die Situation von Buridans Esel kommt, der in der Mitte zwischen zwei Heuhaufen verhungert, muss also der Raum relativ sein; denn im Sinne des relativen Raumes sind die Welt und “Spiegelbild” voneinander ununterscheidbar und nur dasselbe aus verschiedenen Blickwinkeln. 58 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Essais de Théodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l‘homme et l’origine du mal, Philosophische Schriften Band II (zwei Halbbände), hg. und übers. V. Herbert Herring, Frankfurt a.M. (Insel) 1990. Zentral: Teil I, §10 - “vous le devez juger avec moi ab ef fectu” (“Ihr müsst es mit mir aus dem Ergebnis beurteilen!”) - und 2. Halbband, S. 286-289. 59 Priest, op. cit. S.53: "Locke's political theory is the blueprint for the West".

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Nachdem wir eine Weile herumgerätselt hatten, ohne einer Lösung der Zweifel, die uns verwirrten, irgendwie näher zu kommen, kam es mir in den Sinn, dass wir ganz auf dem falschen Weg waren. Und dass, bevor wir uns an Untersuchungen dieser Art machten, wir erst einmal unsere eigenen Fähigkeiten zu untersuchen hätten und zu sehen hätten, was für Objekte der Beschäftigung unseres Verstandes überhaupt angemessen seien und was für welche vielleicht nicht.60

Hier, im Gespräch unter Freunden, beginnt langsam das Jahrhundert der Aufklärung, des

"enlightenment".

"Ja, Gott existiert - irgendeine letzte Ursache muss es doch geben!61 aber eine eingeborene idea

Gottes als Signatur des Schöpfers auf dem Geschöpf, wie Descartes sich das dachte? Nein: Zu

Beginn ist die Wachstafel vollkommen leer.62

Ja, der Geist ist wie eine Wachstafel, auf der äußere Gegenstände ideas einprägen; aber der

Geist hat auch die Fähigkeit, ideas von seiner eigenen Tätigkeit zu bekommen, sich gewissermaßen

anhand von Gebrauchsspuren seiner selbst bewußt zu werden.63

Ja, ich habe eine Seele;64 aber viel wichtiger ist, dass ich eine Person bin, meiner selbst bewusst

mich daran erinnern kann, was ich gestern gemacht habe, worum ich Angst hätte, was ich zu mir

selbst als Körper rechne.65

Ja, der König sollte die Gottesdienste aller möglicher Konfessionen und Freikirchen tolerieren;

aber Katholiken mit ihrem angeblich unfehlbaren Papst nicht - die sind ja selbst intolerant und

deshalb gefährlich!66

Ja, es gibt ein Recht auf Privateigentum; aber nur auf soviel, wie ich auch selbst sinnvoll nutzen

kann.67

Ja, der Mensch sollte den Naturzustand überwinden und Staaten gründen; aber der

Naturzustand ist auch nicht so übel - nur auf die Dauer etwas unbequem.68

Ja, eine gerechte Staatsgründung muss man sich wie einen Vertragsschluss vorstellen; aber bei

diesem Vertragsschluss verzichten die Bürger nicht auf sämtliche Rechte. Es gibt nämlich

unveräußerliche natürliche Rechte jedes Menschen, weil er ein Geschöpf Gottes ist. Die kann er

60 Locke, An Essay Concerning Human Understanding, London (Dent) 1977, S.xl (“Epistle to the Reader”), meine Übersetzung. Vgl. auch: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/epistle.htm. 61 Locke, Essay Buch IV, Kap. 10.

62 Locke, Essay, Buch I passim, Buch II 1 + 2.

63 Locke, Essay Buch II, Kap. 1; Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/book2-1.htm. 64 Locke, Essay Buch II, Kap. 23 §15.

65 Locke, Essay, II, Kap. 27; Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/book1-27.htm 66 Vgl. Lockes vier verschiedene Letters on Toleration, die einen ganzen Band der Werkausgabe von 1823 füllen (Bd. 6, Reprint, Aalen (Scientia) 1963). Zu den Katholiken vgl. dort Brief I, S.44f sowie: Locke, An Essay on Toleration, in: ders.: political Essays, hg. v. Mark Goldie, Cambridge (CUP) 1997, S.134-159, bes. S.151. 67 Locke, Second Treatise on Government, Kap. V, bes. §§ 27 - 34.

68 Locke, Second Treatise on Government, Kap. II; Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/locke2t.htm.

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gar nicht abtreten."69

Das sind einige typische Ja-aber-Thesen von Locke. Ist es Zufall, wenn auf den Geldscheinen eines

der wenigen Staaten, die wirklich durch eine Art Vertragsschluss enstanden, und dessen

Unabhängigkeitserklärung auf einzigartige Weise von Locke inspiriert ist, steht: "In God we

trust"? Ich glaube nicht.

Das vielleicht folgenreichste "Ja - aber" von Locke habe ich mir noch aufgespart. Es ist Lockes

Antwort auf das, was ich im Anschluss an Descartes den Fragenkomplex 3 genannt habe. Zur

Erinnerung:

Fragenkomplex 3: Was nützte uns selbst die Gewissheit über die Existenz der äußeren Dinge,

wenn wir keine Ahnung haben, ob unsere ideae von ihnen irgendetwas damit zu tun haben, wie sie

an sich sind...?

Lockes Antwort ist:

"Ja, ok, die ideas, die ein Gegenstand hinterlässt, bilden den Gegenstand nicht in jeder

Beziehung so ab, wie er an sich ist; aber in mancher Beziehung doch. Es gibt nämlich zwei Sorten

von Eigenschaften eines Gegenstandes.

Eigenschaften der Sorte 1, die primary qualities, hinterlassen ideas, die ihnen selbst ähnlich sind.

Eine typische Eigenschaft der Sorte 1 ist z.B. die kubische Gestalt eines Würfels: Er ist, was seine

Gestalt angeht, an sich kubisch; und prompt hinterlässt auch genau die idea eines kubischen

Gegenstandes.

Eigenschaften der Sorte 2, die secondary qualities, hinterlassen dagegen ideas, die ihnen nicht

ähnlich sind. Eine typische Eigenschaft der Sorte 2 ist die Farbe des Würfels: Die

mikrophysikalische Oberflächenstruktur des Würfels, an sich ja ein farbloses Atomgitter,

hinterlässt nämlich nicht etwa die idea eines farblosen Atomgitters, sondern die idea von roter

Farbe."70

Das ist eine moderate Antwort: sie ist selbstkritisch und skeptisch genug, um nicht naiv zu wirken.

Und sie ist optimistisch genug, um uns hoffen zu lassen, dereinst mit immer besseren

Rasterelektronenmikroskopen zu erkennen, wie die Oberfläche des Würfels an sich ist.

69 Ebd. 70 Diese Interpretation weicht vom mainstream ab, der die sekundären Qualitäten stärker ins Subjekt verlegt, wozu Locke leider durch unvorsichtige Formulierungen mit beiträgt. Ich stütze mich auf Sätze wie Locke, Essay II 8, § 23 / 24 “... bulk, figure, number, situation, and motion or rest of their solid parts. [...] we have by these an idea of the thing as it is in itself [...]. These I call primary qualities. [...] The first are resemblances; the second thought to be resemblances, but are not; [...].” Text (Essay II 8) unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/book2-1.htm.

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2.5.2. George Berkeley

Doch während das 18. Jahrhundert seinen Lauf nimmt, gelingt es dem tüchtigen irischen Bischof

George Berkeley, die beruhigende Ausgleichsposition Lockes in bezug auf Fragenkomplex 3 als

schlicht unhaltbar zu erweisen. Sein Einwand lautet sinngemäß so:

"Um die Unterscheidung zwischen Eigenschaften der Sorte 1 und Eigenschaften der Sorte 2

zu machen, müsste ich die idea, die eine Eigenschaft in mir hinterlässt, mit der Eigenschaft an

sich vergleichen können. Denn nur so könnte ich sagen, ob die idea der sie hervorrufenden

Eigenschaft ähnlich ist. Aber ein solcher Vergleich ist unmöglich. Denn auch durch das beste

Mikroskop ist nie zu sehen, wie die Oberfläche des Würfels an sich ist, sondern ich bekommen

nur wieder eine idea davon - einfach, weil ja wieder ich es bin, der hinschaut."71

Berkeleys Reaktion auf den Zusammenbruch von Lockes Unterscheidung ist so heftig, dass im

Vergleich dazu (zumindest der frühe) Leibniz geradezu geerdet wirkt:72 Berkeley entscheidet sich

dafür, dass es überhaupt nichts Körperliches gibt. Alles, was es gibt, sind mentale Subjekte (minds)

und ideas als mentale Objekte in ihnen. Produziert werden die ideas in jedem einzelnen Subjekt von

Gott, der natürlich auch nichts anderes ist als ein mentales Subjekt. Und alle vermeintliche Physik

wird zur Grammatik der ideas.73

Tatsächlich erübrigen sich alle Fragen nach der Beziehung von Körperlichem und Geistigem,

wenn es keine Außenwelt gibt. Man fragt sich allerdings, ob das nicht etwas viel hat vom Prinzip:

"Operation gelungen - Patient tot".

2.5.3. David Hume

Die Kritik, die David Hume (1711 - 1776) 1740 in seiner "Treatise on human Nature" und später

in seiner "Enquiry concerning human Understanding" an Positionen seiner Vorgänger übt, geht in

ganz andere Richtungen als die Kritik Berkeleys an Locke, ist aber kaum weniger machtvoll.74 Die

Impulse, die von Hume ausgehen, sind vielfältig:

71 Berkeley, A Treatise concerning the Principles of Human Knowledge, Part I, §8: “But, say you, though the ideas themselves do not exist without the mind, yet there may be things like them, whereof they are copies or resemblances, which things exist without the mind in an unthinking substance. I answer, an idea can be like nothing but an idea; a colour or figure can be like nothing but another colour or figure. If we look but never so little into our thoughts, we shall find it impossible for us to conceive a likeness except only between our ideas.” Expliziter Bezug auf Lockes Unterscheidung: §9. 72 Die wichtigsten Ausschnitte aus Berkeleys Treatise finden sich unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/berkeleyshort.html 73 Berkeley, Treatise, Part I §50: “To explain the phenomena, is all one as to shew why, upon such and such occasions, we are affected with such and such ideas.”. 74 Hume ist der wichtigste Vertreter der sogenannten schottischen Aufklärung, zu deren Vertretern man auch Thomas Reid ( 1710 - 1796) und Humes Freund, den Moralphilosophen und Gründervater der Volkswirtschaftslehre, Adam Smith ( 1723 - 1790) rechnet.

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Er stellt dem Wachstafel-Mythos (den er allerdings selbst auch noch benutzt75) das Bild vom

Geist als bloßes Bündel von ideas gegenüber.76

Er zweifelt am Vorrang der Vernunft, die er zur voller Zustimmung zur Sklavin der

Leidenschaften erklärt (die Leidenschaften bestimmen, was man will, die Vernunft sucht bloß die

Mittel dazu).77

Er entwirft eine Ethik moralischer Gefühle,78 stellt aber auch als erster deutlich den Grundsatz

auf, dass man nicht von Sein aufs Sollen Schließen darf.79

Er stellt klar, dass eine endliche Zahl von Experimenten niemals ein Naturgesetz beweisen

kann.80

Und er polemisiert, wenn er auch sein letztes Wort zur Religion geschickt in der Dialogform

kaschiert, wie kein anderer gegen Leibniz' Behauptung, die Wirklichkeit sei die beste aller

möglichen Welten: “Wenn ich dir ein Haus oder einen Palast zeigte, in dem nicht eine Wohnung praktisch oder angenehm ist; wo die Fenster, Türen, Kamine, Flure, Treppen und der ganze Plan des Gebäudes eine Quelle von Lärm, Durcheinander, Stress, Dunkelheit und extremen Temperaturen wäre ... dann würde der Architekt vergebens seinen Scharfsinn zur Schau stellen und dir beweisen, dass, wenn man dieses Fenster oder jene Tür veränderte, alles noch schlimmer würde ...” 81

Unter all dem noch heraus ragen seine Ausführungen zum freien Willen und seine damit

verbundene Attacke auf den Kraftbegriff in der Physik. Sie werden schon ahnen, dass eine

bestimmte starke Art von freiem Willen im ganzen mechanistischen Weltbild zum Problem wird -

und selbst bei dessen Gegner Leibniz und bei Spinoza keinen Platz findet.

Am Ende des 18. Jahrhunderts, einige Jahrzehnte nach Hume, bringt der französische

Mathematiker Pierre Simon de Laplace die philosophischen Konsequenzen der Physik Newtons

mit seinem berühmten Dämonen-Gleichnis auf den Punkt: Wenn ein Dämon mit unbegrenzten

Rechenkapazitäten eine Art kompletten Schnappschuss des Universums zu einem Zeitpunkt vor

sich hätte, könnte er aufgrund der Gesetze der Physik dessen gesamte Geschichte und Zukunft

75 Vgl. z.B. Hume A Treatise of Human Nature, book I, part I, sections 1 + 2; First Enquiry (“Enquiry concerning Human Understanding”), section II. 76 Hume, Treatise, book I, part IV, section 6.

77 Hume, Treatise, book II, part III, section 3: “Reason alone can never be a motive to any action of the will. [Reason] can never oppose passion in the direction of the will. [...] Reason is, and ought only to be the slave of the passions, and can never pretend to any other office than to serve and obey them." 78 Im dritten Buch des Treatise und, lesbarer, in der zweiten Enquiry, “An Enquiry concerning the Principles of Morals”. Vgl. dort zum Projekt z.B. section 1, § 137: “it is probable [..] that this final sentence [concerning morality] depends on some internal sense or feeling, which nature has made universal in the whole species.”; Appendix 1, § 239: “...morality is determined by sentiment.” 79 Vgl. das Ende von Treatise, book III, part I, section 1.

80 Hume, First Enquiry, Section IV. 81 Hume, Dialogues Concerning Natural Religion, Abschnitt 11, meine Übersetzung. Original: “Did I show you a house or palace, where there was not one apartment convenient or agreeable; where the windows, doors, fires, passages, stairs, and the whole economy of the building were the source of noise, confusion, fatigue, darkness, and the extremes of heat and cold [...t]he architect would in vain display his subtlety, and prove to you, that if this door or that window were altered, greater ills would ensue.”

19

berechnen.82

Wie kann dann aber noch offen stehen, was ich morgen tun werde? Und wenn es nicht mehr

offen steht, bin ich dann überhaupt noch frei? Humes Antwort ist:

"Ja, nur in einem etwas schwächeren, aber eigentlich dem einzig vernünftigen Sinn von 'frei'.

'Freiheit' heißt 'Ungehindert-Sein, meinem Willen Taten folgen zu lassen', und in diesem Sinne bin

ich normalerweise frei, wenn ich nicht gerade in Ketten liege.83 Mein Wille aber wird von meinen

Motiven bestimmt,die festlegen, wie ich auf Umstände reagiere, und die Motive haben ihren

Ursprung in meiner Biographie. Das ist gut so, denn was soll es sonst überhaupt heißen, dass ich

es bin, der eine Tat begeht?84 Hätte ich anders handeln können? Sicher: in anderen Umständen, mit

anderer Biographie."

Man könnte viel darüber sagen, ob das an Freiheit reicht. Interessant ist Humes Vorschlag allemal.

Aber beinahe noch interessanter ist seine Antwort auf einen von Hume vorweggenommenen

Einwand gegen seine Theorie. Der Einwand lautet:

"Wenn ich auf bestimmte Umstände gar nicht anders kann, als in bestimmter Weise reagieren, dann

verhalte ich mich wie ein physikalischer Gegenstand, den z.B. eine Kraft zwingt, sich in bestimmter

Weise zu bewegen. Wieso spüre ich denn dann keinen Zwang, keine Kraft?"85

Und Humes Antwort ist sinngemäß: "Weil es auch im Falle des physikalischen Objektes keinen

Zwang und keine Kraft gibt. Was wir für Zwang in der Natur halten, ist in Wirklichkeit ein in uns

liegender psychologischer Zwang; und zwar der Denkzwang, nach wiederholten Erfahrungen in

bestimmten Umständen ein bestimmtes Ereignis zu erwarten. Dinge wie Billardkugeln spüren

keinen Zwang, wenn sie sich den Naturgesetzen gemäß verhalten. Es mag perfekte

Regelmäßigkeiten des Naturlaufs geben - Naturkräfte? Da kann man gleich an Voodoo glauben."86

Wenn man genau hinschaut, ist das die Aushöhlung des mechanistischen Paradigmas von innen:

82 Pierre Simon de Laplace, Introduction à la théorie des probabilités, zitiert nach: Ch.Brunot / J.Jacob (Hg.), Choix de textes philosophiques de Montaigne à Louis de Broglie, Paris (Librairie Classique Eugène Belin), Paris 1961, S.108: “Une intelligence qui pour un instant donné connaîtrait toutes les forces dont la nature est animée et la situation respective des êtres qui la composent, si d'allieurs elle était assez vaste pour soumettre ces données à l'analyse, embrasserait dans une même formule les mouvements des plus grands corps de l'Univers et ceux du plus léger atome. Rien ne serait incertain pour elle, et l'avenir comme le passé serait présent à ses yeux.” 83 Vgl. First Enquiry, section VIII, part 1, §73.

84 Vgl. das Ende von Treatise, book II, part III, section 1.

85 Vgl. First Enquiry, section VIII, part 1, § 71: “When [we] turn [our] reflections towards the operations of [our] own minds, and feel no [...] connexion of the motive and the action, [we...] thence [...] suppose, that there is a difference between the effects which result from material force, and those which arise from thought and intelligence". 86 Vgl. Treatise, book II, part III, section 2: “Let no one [object] that I assert the necessity of human actions, and place them on the same footing with the operations of senseless matter. I do not ascribe to the will that unintelligible necessity, which is suppos'd to lie in matter. But I ascribe to matter that intelligible quality, call it necessity or not, which the most rigorous orthodoxy ... must allow to belong to the will [predictability]. I change, therefore, nothing in the receiv'd systems with regard to the will, but only with regard to material objects."

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nach außen hin bleibt alles beim alten - nichts spricht dagegen, die Welt nach dem Modell des

Verhaltens von vermeintlich guten alten Bekanntem wie Pumpen, Hebeln, Klingelseilen und

Billardkugeln zu berechnen. Aber verstehen wir überhaupt deren Verhalten? Mit Humes

konsequenter Weigerung, sich in die Natur einzufühlen, werden die guten alten Bekannten des

mechanistischen Paradigmas mit einem Mal Fremde. Es ist eine Ironie der Philosophiegeschichte,

dass man das kaum wahrgenommen hat, sondern stattdessen versucht hat, in Humes Text eine

Kausalitätstheorie hineinzulesen, die es dort nicht gibt.87

2.6. Frankreich vor der Revolution

Hume konnte sich kurz vor seinem Tod noch über die amerikanische Revolution von 1776 freuen.

Und längst gärt es auch schon in Frankreich, wo die Monarchie in offensichtlichster Weise

abgewirtschaftet ist. Die französische Aufklärung ist im großen und ganzen politisch radikaler und

polemischer, zum Teil materialistischer, definitiv antiklerikaler als die britische und erst recht die

deutsche. Nach keiner Revolution in einem anderen großen europäischen Land - wenn es sie

gegeben hätte! - hätte man wohl flächendeckend Kirchen zu Lagerhäusern gemacht, den

christlichen Kalender abgeschafft und ein staatliches "Fest des höchsten Wesens" gefeiert. Aber -

“Unter dem Pflaster der Strand” - Radikalität schließt Feinsinnigkeit nicht aus. Und so ist die

Polemik eines Voltaire, Montesquieu oder Rousseau aus den Jahrzehnten vor der Revolution von

1789 noch heute ein Lesevergnügen. Montesquieu bringt die Staatsphilosophie mit seiner klaren

Forderung nach Gewaltenteilung auch theoretisch ein enormes Stück voran. Als Literat bedient

sich geschickt des satirischen Mittels des "fremden Blicks": Er veröffentlicht eine Sammlung von

fiktiven Briefen von persischen Gesandten, die aus Frankreich allerlei Exotisches zu berichten

haben. Kostprobe:

Dieser König von Frankreich ist übrigens ein großer Magier: Er herrscht sogar über den Verstand seiner Untertanen; er macht sie denken, wie er will. Wenn er z.B. nur eine Million Ecu in seiner Schatzkammer hat, aber zwei Millionen braucht, dann muss er sie bloß überreden, dass ein Ecu zweie wert ist - und sie glauben es. Wenn er einen schwierig zu finanzierenden Krieg führt und kein Geld hat, muss er ihnen bloß in den Kopf setzen, dass ein Stück Papier Geld ist; und schon sind sie davon überzeugt!88

Einige Stufen härter und druckvoller - aber auch mit einer Tendenz zum Überspannten - kommt

Jean-Jaques Rousseau rüber, und man wundert sich nicht, dass er nach seinem Tod 1778 bald

zur intellektuellen Galionsfigur der Revolutionäre wurde. Besonders zwei Details seiner Version

der Theorie des Gesellschaftsvertrages (die dritte bedeutende Variante neben der von Hobbes und

87 Diese Interpretation weicht vom mainstream erheblich ab. Ich hoffe, sie demnächst genauer ausarbeiten zu können. Ein Argumentgerüst ist enthalten in der Anordung der wesentlichen Zitate in: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/empiricists/HUME.html. Die relevanten Texte sind: Treatise, Book II "Of the passions", part III "Of the will and direct passions", section 1-2 "Of liberty and necessity", section 3 "Of the influencing motives of the will"; First Enquiry, Section VIII, Part I §§ 62-74, part II §§ 75-81. 88 Montesquieu, Lettres persanes XXIV, meine Übersetzung. Original: “...ce roi est un grand magicien: il exerce son empire sur l’esprit même de ses sujets; il les fait penser comme il veut. S’il n’a qu’un million d’écus dans son tresor, et qu’il en ait besoin de deux, il n’a qu’à leur persuader qu’un écu en vaut deux; et ils le croient. S’il a une guerre difficiele à soutenir, et qu’il n’ait point d’argent, il n’a qu’à leur mettre dans la tête qu’un morceau de papier

21

Locke) haben die Revolutionäre interessiert:89

(1) die Ansicht, zu ermitteln sei für die Gesetzgebung das etwas irreführend “volonté générale”

genannte Gemeininteresse, und unter natürlichen Bedingungen der Meinungsbildung sei ein Volk

dazu auch in der Lage, dieses Gemeininteresse zu ermitteln (Rousseau hat hier die

basisdemokratische Verfassung seiner Heimatstadt Genf als leuchtendes Vorbild vor Augen);

(2) die Ansicht, das Volk gebe beim Vertragsschluss nicht etwa die Souveränität, also das Recht

zur Machtausübung ab (wie Hobbes meinte), sondern das Volk sei selbst der Souverän und lasse

sich durch Regierende nur vertreten.

Hier ist Rousseaus endgültiger Kommentar zum Thema "Herrscher von Gottes Gnaden": Alle Macht kommt von Gott, das geb ich gern zu; aber alle Krankheit kommt auch von ihm. Soll das heißen, dass es verboten ist, den Arzt zu rufen?90

Wer Gegner hat, die so schreiben können, hat schon verloren. Wenn Marx mehr als ein halbes

Jahrhundert später schreibt, die Philosophen sollten die Welt nicht immer nur interpretieren,

sondern endlich auch mal verändern, so ist das gegenüber dem 18. Jahrhundert etwas unfair.91

2.7. Kant

Alles, was ich bisher an theoretischen Ansätzen des 17. und 18. Jahrhunderts referiert habe, wird in

einem der entlegensten Winkel des deutschen Sprachraums, in Königsberg in Ostpreußen, von

einem kleinen Universitätsprofessor für alle möglichen Fächer über Jahrzehnte aufgenommen und

verarbeitet. Was er bei Hume liest, beeindruckt ihn nach eigenem Bekunden besonders.92 Aber

nicht nur das, sondern auch die - an Leibniz orientierte - inzwischen entstandene deutschsprachige

Universitätsphilosophie eines Christian Wolff und die sensiblen Werke der deutschsprachigen

Aufklärung mit ihrer Vorurteilskritik: Lessings “Nathan” mit seinem Plädoyer für religiöse

Toleranz, Baumgartens erste Theorie des Schönen mit dem ungewöhnlichen Namen “Ästhetik”,

die eleganten Schriften seines Freundes Moses Mendelssohn.

Der da liest und liest und seine Heimatstadt nie verlassen hat, ist als Sohn eines Sattlermeisters

nicht gerade für die akademische Laufbahn prädestiniert gewesen, aber die Talentförderung klappt

damals noch einigermaßen. Mit Mitte vierzig beginnt er nur noch für den Zettelkasten zu

est de l’argent; et ils en sont aussitôt convaincus.” 89 Textausschnitte unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/rousseau.htm. 90 Rousseau, Du contrat social I 3 (“Du droit du plus fort”). Meine Übersetzung. Original: “Toute puissance vient de Dieu, je l’avoue; mais toute maldie en vient aussi. Est-ce à dire qu’il soit défendu d’appeler le medecin?” 91 Als ich neben der Arbeit an dieser Vorlesung eine CD mit Musik aus einem ziemlich entlegenen Winkel Afrikas eingeworfen hatte, konnte ich plötzlich mit dem Gedanken aufhorchen “Den Text kennst Du doch”...: “Vingt six aout Dix-sept cent quatre-vingt neuf. Declaration des droits de l’homme et du citoyen: Tous les hommes naissent libres et egaux en droits [...] La race n’a pas plus d’importance que la couleur des yeux. La liberté de chacun commence, où se termine celle d’autrui.” (26. August 1798. Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers. Alle Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren. Die Rasse hat nicht mehr Bedeutung als die Farbe der Augen. Die Freiheit jedes Einzelnen beginnt, wo die des Anderen aufhört.”) Ich habe übrigens bisher noch nicht einmal herausbekommen können, wo die CD (Hilaire Geoffroy, Dibidibile (Frank Productions)) genau herkommt. 92 Kant, Prolegomena A12 (Akademie-Ausgabe IV 260).

22

schreiben, und seine Kollegen vergessen ihn fast. Was ist auch aus so einem Nest im hohen

Nordosten zu erwarten? Doch zwischen 1781 und 1790, seinem 56. und seinem 66. Lebensjahr

veröffentlicht Immanuel Kant (1724 - 1804) drei dicke Bücher die allesamt das Wort “Kritik” im

Titel tragen, sowie zwei dazugehörige Einführungen - sein sogenannte “kritisches Werk”.93 Und

die Philosophie ist um einen ebenso kreativen wie systematischen Neuansatz reicher: die

sogenannte “Transzendentalphilosophie”.94

Kants Gedankengebirge wirkt einschüchternd, was nicht nur an der Komplexität der Gedanken

liegt, sondern auch am Stil: Kant muss - halb im Universitätslatein und halb im grammatisch

exzentrischen ostpreußischen Dialekt denkend - seine neuen Ideen in eine noch unfertige

Fachsprache fassen; und weil er soviel zu sagen hat, stopft er in jeden seiner Schachtelsätze ein

ganzes Argument, von dem er manchmal wohl selbst eher ahnt als weiß, wie es funktionieren soll:

wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über.

Man kann in das Gebirge des kritischen Werks auf verschiedenen Routen einsteigen.

Traditionell versucht man sich, eventuell nach einigem Training an den “Prolegoma zu jeder

künftigen Metaphysik” zunächst am höchsten Gipfel, der “Kritik der reinen Vernunft”, begibt sich

dann über die “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” zur “Kritik der praktischen Vernunft” und

meistert schließlich, wenn die Puste reicht, die “Kritik der Urteilskraft”. Das entspricht dem

Tourenverlauf “theoretische Philosophie - praktische Philosophie - Ästhetik”. Für die theoretische

Philosophie gibt es mehrere Möglichkeiten. Ich möchte in den nächsten 10 Minuten zwei mögliche

Routen dafür skizzieren:

(a) Die von Kant selbst vorgeschlagene, etwas gemächlichere Route

(b) Die direttissima, also den direkten Steilweg

Die Routen tatsächlich zu gehen, dauert mehrere Semester, aber vielleicht ergeben beide Skizzen

zusammen einen allerersten Eindruck von Gelände.

Kants eigene Route führt über die erstaunliche These, dass sämtliche folgenden Sätze dieselbe

besonders interessante logische Struktur haben:

1) 7 + 5 = 12

2) Die Winkelsumme jedes Dreiecks beträgt 180°

3) In einem geschlossenen System bleibt die Menge der Materie immer gleich

4) Jedes Ereignis hat eine Ursache

93 Als Biographie gut lesbar: Arsenij Gulyga, Immanuel Kant, Frankfurt / M. (suhrkamp), 1985.

94 Text der B-Vorrede und Einleitung in die KrV unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/krvtext.html (Text) Eine etwas ausführliche, aber immer noch sehr skizzenhafte Einführung mit einer Sammlung von wichtigen Kant-Zitaten unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/werke.html; (etwas ausführlicher: Hans-Michael Baumgartner, Kants “KrV”, Freiburg (Alber), 1985; inzwischen Standard der ausführliche Kooperativ-Kommentar zur KrV, hg. v. Georg Mohr und Marcus Willaschek, Berlin (Akademie) 1998; (evtl. nützliche) Analyse der Abschnitte 1 - 5 der B-Einleitung in die KrV: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/modul/analyse.html.

23

B) Ich habe eine Seele

5) Die Welt ist (un-)endlich

6) Es gibt (keine) Freiheit

A) Gott existiert.95

Was Kant an diesen Sätzen interessiert, ist, dass es sich dabei (seiner Einteilung von Sätzen

zufolge) weder um Erfahrungssätze handelt, noch um reine Begriffsanalysen, sondern eine Art

Mittelding dazwischen, das er “synthetische Sätze a priori” nennt.96

Dass die ersten vier Sätze wahr sind, meint Kant beweisen zu können. Seine Begründung ist

wieder höchst überraschend. Kant argumentiert nämlich als Informatiker: Diese Sätze, so meint er,

sind eigentlich Aussagen über die Formen, in denen wir unseren anschaulichen Input verarbeiten,

und zwar jeden anschaulichen Input. Deshalb, und nur deshalb, kann man sie allgemein beweisen:

Hat das Programm einen bestimmten bekannten Aufbau, so wird man nämlich allgemeine

Aussagen über die Struktur des Output machen können, ohne dass man sich die konkreten als

Input eingefütterten Daten im einzelnen ansehen muss.97 Ganz entfernt hat das wieder mit

Berkeleys Ideengrammatik zu tun.

Von den zweiten vier Sätzen (wobei 5) und 6) streng genommen sogar jeweils zwei Sätze sind)

meint Kant beweisen zu können, dass man sie nicht beweisen kann.98 Die Begründung lautet sehr

grob: Nur wenn es in diesen Sätzen ebenfalls um die Verarbeitung von anschaulichem Input ginge,

hätte man vielleicht eine Chance. Aber die Sätze, um die es geht, sind Sätze, in denen es allesamt

um etwas geht, das man prinzipiell nicht sehen kann: die Seele, die Welt als Ganzes, Freiheit und

Gott. Soviel zu Kants eigener Route, dem Aufbau der Kritik der reinen Vernunft.

Und nun zur direttissima. Ich skizziere sie deshalb, weil Sie eigentlich gut darauf vorbereitet

sind.

1. Stellen Sie sich einen vernünftigen Menschen vor, der Lockes Versuch kennt, zwei Sorten von

Eigenschaften der Dinge zu unterscheiden: Eigenschaften, die ihnen selbst ähnliche ideas

hinterlassen, und solche die ihnen unähnliche ideas hinterlassen.

95 Die Sätze 1) und 2) werden in der “Transzendentalen Ästhetik” der KrV untersucht, und zwar 1) in Verbindung mit der Zeit und 2) in Verbindung mit dem Raum. Die Sätze 3) und 4) werden in der “Transzendentalen Analytik” untersucht, und zwar 3) als die erste, 4) als die zweite Analogie der Erfahrung. Die zweite Vierergruppe bildet den Untersuchungsgegenstand der “Transzendentalen Dialektik; B) ist Thema des Paralogismus-Kapitels, 5) die erste und 6) die dritte Antinomie und A) wird im letzten Großabschnitt der Transzendentalen Dialektik untersucht. 96 Vgl. B-Einleitung in die KrV, Abschnitte 4 und 5 (B12ff).

97 Dies ist eine Möglichkeit, den berühmten Satz KrV B XV (Akademie-Ausg. III 11f) von der “kopenijanischen Wende” in der Philosophie zu lesen, der lautet: “Man versuche es [...] einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem [sic] Erkenntnis richten...”. 98 Besonders seine Argumentation gegen den ontologischen Gottesbeweis (KrV B 626, 627 (AA III 401)) scheint mir ein Volltreffer zu sein, wie er nur selten in der Philosophiegeschichte gelandet wurde. Allerdings wird sie meistens missverstanden: Kant behauptet nicht, dass “Sein” kein Prädikat ist, sondern lediglich, dass “Sein” kein reales, d.h. begriffserweiterndes Prädikat ist!

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2. Stellen Sie sich vor, Sie kennen Berkeleys Einwand:

"[Ein Vergleich zwischen der Beschaffenheit der Dinge an sich einerseits und meinen ideas

davon andererseits] ist unmöglich. Denn auch durch das beste Mikroskop ist nie zu sehen, wie

die Oberfläche des Würfels an sich ist, sondern ich bekommen nur wieder eine idea davon."

3. Stellen Sie sich vor, Sie kennen Berkeleys persönliche Konsequenz, die ja lautet: “Dann gibt es

eben keine Dinge, sondern nur mentale Subjekte und ideas.”

4. Stellen Sie sich schließlich vor, Sie finden Berkeleys Einwand richtig, aber Sie sehen plötzlich:

seine Reaktion ist völlig überzogen. Denn was liegt näher, als zu sagen?:

“Ich kann zwar tatsächlich die Beschaffenheit meiner ideas niemals mit der Beschaffenheit der

Dinge vergleichen, wie sie an sich sind. Auch das beste Mikroskop liefert bringt wieder nur mir

das Ding zur Erscheinung. Aber schon wenn ich so rede, setze ich doch voraus, dass es das

Ding gibt. Ich lerne es eben bloß nie kennen, wie es an sich ist, sondern immer nur, wie es mir

erscheint - auch wenn ich als Wissenschaftler durchs Mikroskop schaue!”99

Soviel zur direttissima.

Um die Wirkung zu verstehen, die Kants “Kritik der reinen Vernunft” hatte, lohnt es sich, sich

klar zu machen, warum ich die Sätze A) und B) nicht neu etikettieren musste: Sie kennen sie

bereits als die vorrangigen Beweisziele von Descartes’ Meditationen. Von diesen und ähnlichen

Sätzen der klassischen Metaphysik behauptet Kant nun nicht nur, dass alle bisherigen

Beweisversuche dafür defizitär sind. Er glaubt vielmehr, beweisen zu können, dass man diese Sätze

nie wird beweisen können, und zwar selbst falls sie wahr sind - was wiederum auch nicht

auszuschließen ist.

Glaubt man, dass Kants Begründungen alle stimmen - allerdings auch nur dann! - so kann man

auf zweierlei Weise reagieren. Die erste Reaktionsmöglichkeit ist fachliche

Weltuntergangsstimmung. Man sieht das am Beispiel von Kants Freund Moses Mendelssohn, der

nach dem Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft vom “alles zermalmenden” Kant sprach.100

Man kann das Ganze aber auch positiv sehen, und das tut Kant selbst, wenn er schreibt:

Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen...101

Soll heißen: Die Vernunft soll sich eben nicht übernehmen, und versuchen, Sätze zu beweisen, die

sie nicht beweisen kann (“Kritik” heißt soviel wie “Abstecken des zumutbaren

Aufgabenbereiches”). Aber was nicht auszuschließen ist, daran kann man ja immer noch glauben,

auch wenn man es nicht beweisen kann. Ganz besonders wichtig ist Kant dabei der Glaube an die

Freiheit (in einem stärkeren Sinn, als Hume an sie glaubte102). Interessanterweise meint er, dass der

99 Diese Interpretation stützt sich auf Sätze wie B-Vorrede in die KrV, B XXVI: “Gleichwohl wird [...] vorbehalten, daß wir eben dieselben auch als Dinge an sich selbst, wenn nicht gleich erkennen, doch wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint.” 100 Vgl. Willaschek / Mohr, Einleitung, S.5. 101 Kant, Kritik der reinen Vernunft B XXX (Akademie-Ausgabe III 19). 102 Vgl. KrprV A174 (AA V 97) - “Bratenwender”.

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Impuls zum Glauben an die starke Freiheit nicht aus der theoretischen, sondern der praktischen

Philosophie stammt. Die Idee ist ganz einfach, aber so wichtig, dass ich sie doch kurz skizzieren

will. Sie ist bekannt unter dem Schlagwort “Du kannst, denn Du sollst”:

Wenn es eine absolut gültige moralische Regel gibt, dann ist es meine Pflicht, mich nach ihr zu

richten. Angenommen nun, es gibt eine solche Regel, aber ich verstoße zu einem Zeitpunkt t

gegen sie. Später wird mir bewußt, dass ich zu t nicht getan habe, wozu ich eigentlich eine

Pflicht gehabt hätte. Es ist klar: Wenn ich zu t die Pflicht hatte, mich nach der Regel zu richten,

so muss das auch gekonnt haben. Denn ich kann nur eine Pflicht haben zu etwas, was ich kann.

Was mich überfordert, kann auch keine Pflicht für micht sein. Also konnte ich mich zu t nach

der Regel richten, obwohl ich es nicht getan habe. Offensichtlich konnte ich aber auch gegen die

Regel verstoßen, denn ich habe ja gegen sie verstoßen. Das heißt aber nichts anderes, als dass

ich wohl zu t die Freiheit hatte, mich danach zu richten oder nicht.103

Tatsächlich meint Kant, zeigen zu können, dass es genau eine absolut gültige moralische Regel

gibt, den sogenannten kategorischen Imperativ.104 Sie werden sich im Modulkurs Ethik Ihre eigene

Meinung darüber bilden können. Deshalb hier dazu nichts weiter als eine ernst gemeinte Warnung:

Es handelt sich beim kategorischen Imperativ nicht um die sogenannte Goldene Regel “Was Du

nicht willst, was man Dir tu, das füg auch keinem andern zu”.105

2.8. Das 19. Jahrhundert

2.8.1. Überleitung

Weil Kant, ohne viele Namen zu nennen, auf alles vor ihm in der Neuzeit Dagewesene reagiert, hat

man es sich im späteren 19. Jahrhundert in Deutschland etwas angewöhnt, die ganze

Philosophiegeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts als bloße Vorbereitung auf Kant anzusehen

und davon auszugehen, dass, was so komplex ist wie die Theorie von Kants kritischem Werk, gar

nichts anders als wahr sein kann (ein wenig Rätselhaftigkeit schadete dabei nichts, nützte eher; gab

es doch den Interpreten zu tun).

Kants unmittelbare Nachfolger zu Beginn des 19. Jahrhunderts haben viel vernünftiger reagiert.

Für sie war Kants Vorschlag einer von vielen, einer, gegen den es Einwände gab, und einer, über

den man hinausgehen konnte. Das mit den Gottesbeweisen war nicht so schlimm. Aber man fühlte

sich nicht wohl mit der Unerreichbarkeit des Dinges an sich, das - so verstand man Kant zu Recht

103 Vgl. KrprV A 171, 283; AA V 95f; KrprV A 283, AA V 159.

104 Kant argumentiert dafür in der “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” und in der “Kritik der praktischen Vernunft”. Die bekanntesten Formulierungen des kategorischen Imperativs (es ist immer derselbe, und es gibt nur einen) lauten: “handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde” GMS 52 (AA IV 421); “handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.” (ebd.); "Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne" (KrprV hat (A 54)); “ Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.” GMS 67f (AA IV 429). 105 So Kant selbst GMS, AA 430, Fußnote.

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oder zu Unrecht - gleichsam nur im Dunkeln von außen ans Fenster klopfte, ohne dass man es je

zu Gesicht bekam.106

Ich habe für das 19. Jahrhundert nicht mehr viel Zeit, und will mich daher für die ganz großen

Entwicklungslinien darauf beschränken, zu zeigen, dass sie letztlich allesamt eines gemeinsam

haben, das das 19. Jahrhundert auch in der allgemeinen Geschichte kennzeichnet: eine gewaltige

Dynamisierung, oft in Gestalt eines - heute etwas unheimlichen - Glauben an den nicht

aufzuhaltenden Fortschritt der Menschheit zum Besseren.

2.8.2. Von Hegel zu Marx

Schon Kants herrlicher Vierseiter “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?” von 1784,107

in dem er seine Epoche fast schon im Rückblick auf die Formel bringt, analysiert im Grunde

Geschichte als Entwicklungs-Prozess zum Besseren, in diesem Fall als “Ausgang aus der

selbstverschuldeten Unmündigkeit”.

Diesen Gedanken von der Geschichte als Entwicklungsprozess wird der vermutlich leicht

schwäbelnde Berliner Philosophieprofessor Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 - 1831) in den

ersten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ganz anderen Dimensionen weiter ausführen. Dabei

steht sein ganzes Philosophieren unter Spannung, drängt nach vorne, auch in der theoretischen

Philosophie tritt an die Stelle des Denkergebnisses der Gedankengang. So ein Gedanken gang mag

damit beginnen, dass man sich eine Position wie die folgende in allen ihren Konsequenzen zu Ende

denkt (heute würde man vielleicht sagen: “dekonstruiert”):

“Jedes Ding ist an sich eine Einheit; erst am Subjekt brechen sich die Eigenschaften (wie

Lichtstrahlen an einem Prisma)”

Dabei stellt sie sich als unbefriedigend heraus. Das motiviert die Beschäftigung mit der

entgegengesetzten Position, also mit der These:

“Die Einheit jedes Dinges entsteht erst dadurch, dass ein Subjekt viele Eigenschaften als

Eigenschaften eben eines Dinges zusammenfasst”

106 Vgl. zusammenfassend Mohr / Willaschek, Einleitung 1.4. (S.29 - 35). Das größte Problem besteht darin, dass Kant die Kausalbeziehung - ganz im Sinne der Ideengrammatik - in der 2. Analogie als Beziehung zwischen “Erscheinungen” erklärt, und meint, über die Beziehung zwischen Ding an sich und Erscheinung könne man gar nichts sagen. Was soll aber “Erscheinen” anderes sein als eine Kausalbeziehung (Kant bestätigt das selbst in KrV B344)? Insgesamt mag man sich wundern, ob die Rede von einer Trennung von Ding an sich einerseits und Erscheinung andererseits überhaupt von Kant beabsichtigt ist. Schließlich kann man den Ausdruck “Ding an sich” auch als Abkürzung für “[das] Ding [, so wie es] an sich [ist]” lesen. Das passt gut zur B-Vorrede (“dieselben.. Dinge”!). Doch Kant selbst leistet dem Gedanken von zwei verschiedenen Sorten von Gegenständen, den Dingen an sich einerseits und den Erscheinungen andererseits, leider umso mehr Vorschub, je weiter der Text der KrV geht (vgl. zu den problematischen Folgen, die das für die 1. Antinomie hat, mein “Prädikatnegation als Schlüssel zum Verständinis der 1. Antinomie in Kants KrV”, erscheint demnächst in den Akten des 4. Internat. Kant-Kongresses, Berlin 2000. Die schönste analytische Kritik an Kant ist m.E. Schopenhauers Anhang zu Band I seiner “Welt als Wille und Vorstellung”.

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Das bleibt, zu Ende gedacht, ebenso unbefriedigend. Doch erst wenn man diesen Weg gegangen

ist, ist man bereit für den in sich gespannten Gedanken, dass ein jedes Ding an sich sowohl Einheit

als auch Vielheit von Eigenschaften ist. Und das ist noch ein vergleichsweise einfaches Beispiel,

ziemlich am Anfang der “Phänomenologie des Geistes”108 und verglichen mit der “Wissenschaft

der Logik” noch geradezu anschaulich. Das alles präsentiert Hegel in kurzen Sätzen ohne jedes

Fremdwort, aber unter voller Ausnutzung der metaphorischen Ressourcen des Deutschen bis an

die letzten Grenzen des sprachlich Kommunizierbaren - und oft genug darüber hinaus.

Natürlich findet sich der Gedanke von der unaufhaltsamen Dynamik der Geschichte in extremer

Ausprägung auch bei Hegels wichtigstem Schüler Karl Marx. Dabei kann man sich streiten mag,

ob Marx sein ganzes Leben lang Philosoph im engeren Sinne bleibt oder nicht langsam zum - mehr

oder weniger guten - Wirtschaftswissenschaftler, Politaktivisten und Sektengründer mutiert. Einer

der Möbelpacker, die mir vor einem Jahr geholfen haben, hier mein Büro einzurichten, fragte mich,

mit was für Leuten wir uns denn hier so beschäftigen. Ich nannte unter anderem Marx und

kassierte die Antwort: “Der war Philosoph? - ich dachte immer, der war Kommunist!”; nach etwas

mehr Marx-Lektüre habe ich diese Antwort schätzen gelernt. Aber schätzen gelernt habe ich auch

die jugendlich-romantischen Manuskripte des 26-jährigen Marx von 1844, noch ohne

menschenverachtende Klassenkampf-Theorie,109 aber mit seiner Absage an die Reduktion des

einen Menschen Umgebenden auf seinen Marktwert, die - als “Entfremdung” - auch immer

Selbstreduktion ist: Das Privateigentum hat uns so dumm und einseitig gemacht, daß ein Gegenstand erst der unsrige ist, wenn wir ihn haben, (er) also als Kapital für uns existiert, oder von uns unmittelbar besessen, gegessen, getrunken, an unserem Leib getragen, von uns bewohnt etc., kurz gebraucht wird. [...][Aber alle] menschlichen Verhältnisse zur Welt, Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen, Denken, Anschauen, Empfinden, Wollen, Tätigsein, Lieben, [...]sind in ihrem [...] Verhalten zum Gegenstand die Aneignung desselben [...]110

2.8.3. England im 19. Jahrhundert: Mill und Darwin

Aber in England, wo Marx ja einen großen Teil seines Lebens verbracht hat, ist auch der größte

dort einheimische Philosoph vom Fortschrittsglauben gepackt. Nach Marx’ Klassifikation wäre

John Stuart Mill vermutlich ein typisches Mitglied der bürgerlichen Oberschicht. Mill selbst hat

sich eher in Opposition zu dieser Schicht sehen können, aus der er kam, ein Freidenker, der

107 Im Internet u.a. unter: http://www.netzhaus.ch/kantcd/aufklaer.htm

108 Vgl. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Kap. II (3. Band der Werkausgabe bei suhrkamp (Frankfurt), S. 99 - 101). 109 Es gelingt mir - im Gegensatz zu vielen anderen - nicht, am von Marx zusammen mit Engels 1848 verfassten Kommunistischen Manifest mit seiner primitiven Geschichtsdeutung und die organisierte Verketzerung Andersdenkender in den Literaturtips des 3. Abschnitts ein Dokument einer großen allgemein-menschlichen Utopie zu sehen. 110 Karl Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Heft III, (auch veröffentlicht als „Nationalökonomie und Philosophie“), Blatt VI / VII. Text nach: Karl Marx, Die Frühschriften, hg. v. Siegfried Landshut, Stuttgart (Kröner) 1971, 223-316 (vgl. S.240), abgeglichen mit Bd. I 2.1, 257ff der MEGA (Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KP der UdSSR und vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 1. Abteilung, Bd. 2, hg. v. Inge Taubert u.a., Berlin (Dietz) 1982). Vgl. auch: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/marx.htm

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vehement für Meinungsfreiheit eingetreten und die Forderung danach philosophisch begründet

hat,111 und der auch mal für das Verteilen von Flugblättern mit Informationen zur

Geburtenkontrolle ins Gefängnis ihrer Majestät ging.112

Seine theoretische Philosophie wird - wenigstens in Deutschland - völlig unterschätzt. Dabei hat

er immerhin das einzige Kriterium für das Vorliegen einer Kausalbeziehung geliefert, das praktisch

genug ist, um noch heute von jedem Staatsanwalt verwendet zu werden (auch wenn der den

Namen Mill nie gehört hat).113

Seine moralischen und politischen Ansichten begründet Mill mit einer Ethik, die völlig anders ist

als die Ethik Kants, nämlich mit seiner Version des sogenannten Utilitarismus. Während es - sehr

verkürzt gesagt - bei Kant vor allem darauf ankommt, ob eine Handlungsregel einen guten Willen

ausdrückt,114 kommt es für Mill vor allem darauf an, was eine Handlungsregel für Folgen hat.

Dabei sind Handlungsregeln alein damit zu rechtfertigen, dass sie möglichst es vielen Menschen

gut gehen lassen oder zumindest unnötiges Leid verhindern.115 Alle Rede von Rechten und

Pflichten muss sich an diesem Maßstab messen lassen. Dabei ist mit “gut gehen” nicht nur die

Befriedigung von Grundbedürfnissen gemeint, sondern auch die Beförderung der “permanent

interests of man as a progressive being”.116 Womit wir wieder beim Fortschritt wären:

... Die meisten tatsächlichen Übel in der Welt lassen sich beseitigen, und werden, wenn sich die menschlichen Angelegenheiten weiter zum Guten verändern, am Ende in enge Grenzen zurückgedrängt werden können. Die Armut, insofern sie Leid mit sich bringt, kann völlig ausgemerzt werden durch weises Vorgehen der Gesellschaft. [...] Sogar der widerspenstigste aller Gegner, die Krankheit, kann durch gute körperliche und moralische Erziehung in ihrem Ausmaß unendlich zurückgedrängt werden [..], während der Fortschritt der Wissenschaft für die Zukunft einen noch direkteren Sieg über diesen abscheulichen Feind verspricht. [...] Was die Wechselfälle des Schicksals und andere Enttäuschungen im Zusammenhang mit den irdischen Umständen angeht, so sind sie in erster Linie entweder das Ergebnis von großer Unvernunft, von unangemessenen Wünschen, oder von schlechten oder unvollkommenen gesellschaftlichen Institutionen. All die großen Quellen [...] des menschlichen Leidens sind in großem Maße, viele von ihnen vollkommen, durch menschliches Planen und Engagement besiegbar, [...] auch wenn ihre Beseitigung schmerzlich langsam vonstatten geht...”117

111 So in seinem berühmten Essay “On Liberty”.

112 Vgl. Karl Britton, John Stuart Mill, London 1953, S.17f .

113 Und zwar den Test mit kontrafaktischen Aussagen (“counterfactuals”) im “System of Logic” III 5, der seit ca. 1860 als Äquivalenztheorie in der deutschsprachigen Fachliteratur zum Strafrecht bekannt ist (vgl. Schönke-Schröder, StGB-Kommentar, Vorbemerkung zu §§13ff Randnummer 73). 114 Vgl. Kant GMS 1 (Beginn des Haupttextes) (AA IV 393): “Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille”. 115 Vgl. Mill, Utilitarianism, v.a. Kap.2. 116 Mill, On Liberty I. Vgl. auch: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/hroseminare/pol/mill.htm 117 Mill, Utilitarianism ch. II. Vgl. J.S. Mill and J.Bentham, Utilitarianism and Other Essays, hg. v. Alan Ryan, London (Penguin) 1987, S.286f. , meine Übersetzung. Original: ...most of the great positive evils of the world are [...] removable, and will, if human affairs continue to improve, be in the end reduced within narrow limits. Poverty, in any sense implying suffering, may be completely extinguished by the wisdom of society [...]. Even that most intractable of enemies, disease, may be indefinitely reduced in dimensions by good physical and moral education [...], while the progress of science holds out a promise for the future of still more direct conquests over this detestable foe. [...] As for vicissitudes of fortune, and other disappointments connected with worldly circumstances, these are principally the effect either of gross imprudence, of ill-regulated desires, or of bad or imperfect social institutions. All the grand sources [...] of human suffering are in a great degree, many of them almost entirely, conquerable by human care and effort; [...] though their removal is grievously slow...”

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Fast zeitgleich findet ebenfalls in England eine weitere wissenschaftliche Revolution statt, die tiefe

Auswirkungen auf das menschliche Selbstverständnis und damit auch auf die Philosophie hat (es

soll nicht die letzte sein, aber es ist die letzte im 19. Jahrhundert). Auch diese Revolution hat eine

Dynamisierungstheorie zum Ergebnis: Charles Darwin kommt zu einer plausiblen Erklärung der

verschiedenen Schnabelform von Finken auf den Galapagosinseln, indem er voraussetzt, dass sich

Tierarten langsam entwickeln und dass die - zuvor nur durch göttlichen Plan erklärbare - Ordnung

in der belebten Natur wahrscheinlich das Ergebnis von ewig unabgeschlossenen und ziellosen

Anpassungsprozessen ist.118

2.8.4. Von Schopenhauer zu Nietzsche

Zur gleichen Zeit wie der berühmte Hegel kündigt in Berlin der junge Privatdozent Arthur

Schopenhauer (1788 - 1860) seine Vorlesung an. Es kommt kein Mensch, und Schopenhauer

geht schmollend nach Frankfurt und schreibt bis zu seinem Tod 1860 zunächst ziemlich unbeachtet

(Geld ist genug da) an immer umfangreicheren Zusätzen zu seinem Jugendwerk “Die Welt als

Wille und Vorstellung”.119 Schopenhauer zu lesen ist übrigens ein reines Stil-Vergnügen, wenn

man von den Schimpftiraden gegen Hegel absieht, die ab der 10. Wiederholung etwas ermüden.

Schopenhauer sieht sein Werk als Weiterentwicklung der Philosophie des von ihm kritisch

verehrten Kant. Schopenhauer dynamisiert das Ding an sich.120 Denn er ist der Ansicht, was da zur

Erscheinung gebracht wird, ist eigentlich kein Ding, sondern „Wille“ - und das schon in der

Bewegung der Magnetnadel nach Norden oder dem Zu-Boden-Fallen eines Steines.121

Schopenhauer treibt die Einfühlung in die unbelebte Materie ins Extrem und bildet damit die

exakte Gegenposition zu Hume, der jede Einfühlung verweigert.

Menschen wird der Wille in ihnen unmittelbar bewusst. Das ist schlimm, denn dadurch sind sie

Getriebene, wollen immer, was sie nicht haben. Der erlösende endgültige Verlust des Bewußtseins

beim Tod und damit das Ende des Individuums, das "Zerfließen ins Nichts"122, von dem er

überzeugt ist, wertet er als Glücksfall: Schopenhauer ist der erste dezidiert nichtchristliche

Philosoph in unserer Geschichte, und seine (unsinnigerweise oft als „Pessimismus“ etikettierte)

118 Zum gegenwärtigen Stand der (erheblichen) Weiterentwicklung dieser Theorie inzwischen ein Klassiker: Richard Dawkins, The Selfish Gene, dt. als “Das egoistische Gen”. 119 Vgl. Weischedel op. cit., S.221. 120 Johann Gottlieb Fichte (1762 - 1814), der zusammen mit Hegel und Friedrich Wilhelm Schelling (1775 - 1854) wieder so ein Dreigestirn bildet - das des sogenannten “deutschen Idealismus” - hatte etwas Ähnliches schon einige Jahre vor Hegel mit dem Subjekt getan, was nach Kants Kritik am Subjekt als Ding in Form einer Seele nahelag, und hatte das “Ich” zu einer Art Handlungsstruktur erklärt. Das ist ein kühner und interessanter Schritt, der aber ansonsten nichts daran ändert, dass Fichte zu den eher unsympathischen Typen der Philosophiegeschichte zählt: so gehört nationalistische und antisemitische Hetze gehört ebenso zu seinem Repertoire, wie auch, jeden, der seine befremdlichen Thesen nicht teilt, von vornherein als schlechten und primitiven Menschen abzustempeln. Lesbarer Originaltext: Entwurf der Einführung in die Wissenschaftslehre im Meiner-Verlag. Sek.lit.: Peter Rohs, Fichte, München (Beck) 1991. 121Schopenhauer, WWV I, 2 §23 und §24. Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv2§23f.html. 122Schopenhauer, WWV I,4 Schlußparagraph (§71). Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv4§652.html.

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Wertung des Weltgeschehens übernimmt er explizit aus der Philosophie des alten Indien123 - oder

jedenfalls dem, was er dafür hält. Glücklich ist denn auch, wem es gelingt, schon zu Lebzeiten

zeitweise zur Selbsterlösung zu gelangen: das ist ein Zustand des rein passiven Schauens ohne

jedes Interesse, dem man in der meditativen Versenkung, aber auch beim Kunstgenuss, etwa beim

Betrachten eines Stillebens nahekommen mag.124 Dass Kant das Schöne gerade als Objekt des

interesselosen Wohlgefallens charakterisiert hatte, passt da ins Bild.125

Von Schopenhauer ausgehend, ist es eigentlich leicht zu beschreiben, was Friedrich Nietzsche

(1844 - 1900) eigentlich in seinen letzten Schriften aus den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts über

tut126 (wobei allerdings viel von Nietzsches Raffinement, kulturpsychologischem Scharfblick unter

den Tisch fällt). Den Schritt vom Ding zum Willen, zum Tätigsein, zur Kraftäußerung vollzieht er

mit Begeisterung und Vehemenz nach; gegen Schopenhauers Wertung rebelliert er mit

beispielloser Wortgewalt, wie es nur ein zuvor fanatischer Anhänger127 und wohl auch, wie es nur

ein fast schon Wahnsinniger tun kann: So kann man nicht leben, dagegen muss man „mit dem

Hammer philosophieren“,128 diese Werte sind nichts wert, es gilt sie „umzuwerten“.129 Steht nicht

Schopenhauer doch in einer Linie mit dem Christentum und seiner Forderung nach

Selbstverkleinerung durch Mitleid,130 seiner „Sklavenmoral“?131 Ist er nicht wie auch Kant einer

dieser „Hinterweltler“,132 einer, der die eigentliche Welt hinter die Erscheinung legt, wo wir doch

mitten drin sind? Ist er nicht auch wie Kant und die Naturwissenschaftler mit ihrem

Objektivitätsfetischismus einer, die immer nur interesselos schauen wollen und den Dreh zur Tat

nicht kriegen?133 Muss der Mensch nicht von alldem weg, sich zu einem freier auftretenden Wesen

entwickeln, das zu seinem interessegeleiteten Blick, zu seinen Vorurteilen, seinem

123 Vgl. z.B. die Vorrede der 1. Aufl. der WWV I (1818).

124 Schopenhauer WWV I, 3. Buch, v.a. §38; Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv3§38.html. 125 Kant, KdU 16, AA V 211 Text unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/kdu.html. 126 Für einen Leseeindruck aus “Also sprach Zarathustra” vgl.: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/Zara1.html http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/zar2neu4.html. Der Text ist an der Grenze zwischen Philosophie und Poesie angesiedelt, mit allem Größenwahn, bewusst ein neues Evangelium zu schaffen, und wohl der einzige Text der Philosophiegeschichte, zu dem es Richard Strauss gelingen konnte, eine heute vor allem aus der Werbung für Warsteiner Pils bekannte symphonische Dichtung zu komponieren. Dazu, dass diese - ebenso wie Bob Marleys “Redemption Song” - auf dem D7-Akkord enden muss, ließe sich viel sagen. 127 Noch stark unter dem Einfluss Schopenhauers steht z.B. die 2. Unzeitgemäße Betrachtung “Arthur Schopenhauer als Erzieher”. 128 So im Titel einer der Letzten und schon hart an der Grenze zum Wahn formulierten Schriften “Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert”, enthalten in Bd. VI der “Kritischen Studienausgabe”, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin u.a. (dtv / de Gruyter), 19882 [KSA]. 129 Vgl. z.B. ebd. Vorwort und die vergleichsweise argumentativste Schrift des späten Nietzsche, “Zur Genealogie der Moral” (i.f. ZGdM) [in Bd. V der KSA], I 14 - 16. 130 Vgl. zu Schopenhauers Ethik die Ausschnitte aus der Preisschrift zur Grundlegung der Moral unter: http://www.uni-rostock.de/fakult/philfak/fkw/iph/strobach/veranst/nietzsche/wwv3§38.html. 131 ZGdM I 4 - 12.

132 Nietzsche, Also sprach Zarathustra, 1. Teil, Abschnitt “Von den Hinterweltlern”.

133 ZGdM III 22 - 24.

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interpretierenden Umgang mit der Welt steht?134 Aber - ist das dann nicht schon eine

Weiterentwicklung zu einer Art neuen Art, einem Übermenschen?135

Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als ... vom großen Ekel, vom Willen zum Nichts ..., dieser Glockenschlag des Mittags und der großen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts - er muss einst kommen... Aber was rede ich da? Genug! Genug! An dieser Stelle ziemt mir nur Eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem „Zukünftigeren“, einem Stärkeren, als ich bin, - was alein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen...136

Ungefähr zur selben Zeit entwickelt Gottlob Frege (1848 - 1925), ein unbekannter

Mathematikprofessor in Jena, eine Technik, Argumente mit Diagrammen zu analysieren, die ein

wenig an Schaltpläne erinnern137 (ich hatte davon schon in der Sitzung über Logik erzählt). Auch

er glaubte an den Fortschritt - nämlich den, den seine neue Logik bringen sollte. Wären sich

Nietzsche und Frege einmal begegnet - sie hätten sich nichts, aber auch gar nichts zu sagen gehabt.

Daran sieht man, von welcher Spannbreite aus, aber auch unter welcher Spannung sich die

Philosophie im 20. Jahrhundert weiterentwickeln wird. Aber das ist nun endgültig eine andere

Geschichte. Vielen Dank.

134 ZGdM Vorrede 1, I 13, III 12.

135 Vgl. z.B. “Also sprach Zarathustra”, 1. Teil, Zarathustras Vorrede, Abschnitt 4. 136 ZGdM II 24 / 25. 137 Gottlob Frege, Begriffsschrift des reinen Denkens [1879].