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Best of | Frühjahr 2015 Die Zeitschrift für Forschung und Innovation Pictures of the Future www.siemens.de/pof Lösungen für die Welt von morgen Höhere Effizienz dank Elektri- fizierung und Automatisierung Innovationen für die de- zentrale Energieversorgung 3D-Druck, virtuelle Welten und digitale Zwillinge Die Zukunft von Öl und Gas Smarte Stromsysteme Die Fertigung von morgen

PoF: Best of Spring 2015

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Page 1: PoF: Best of Spring 2015

Best of | Frühjahr 2015 Die Zeitschrift für Forschung und Innovation

Pictures of the Future

www.siemens.de/pof

Lösungen für die Weltvon morgen

Höhere Effizienz dank Elektri-fizierung und Automatisierung

Innovationen für die de-zentrale Energieversorgung

3D-Druck, virtuelle Weltenund digitale Zwillinge

Die Zukunftvon Öl und Gas

Smarte Stromsysteme

Die Fertigungvon morgen

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2 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 3Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Die Zukunft ist digital

W as sind die wesentlichen Technik-trends der kommenden Jahr-zehnte? Die Energieversorgung

der Welt muss auf eine neue, nachhaltigeGrundlage gestellt werden. ElektrischerStrom, der sehr effizient erzeugt, übertra-gen und genutzt werden kann, wird nochweit mehr als heute zum allumfassendenEnergieträger werden. So steigt der globaleStromverbrauch derzeit dreimal so schnellwie die Weltbevölkerung. Zudem beginntein neues Zeitalter der Automatisierung undDigitalisierung: In den nächsten 30 Jahrenwerden sich Rechenleistung, Speicherfähig-keit und Datenübertragungsrate von Mikro-chips noch einmal vertausendfachen – unddigitale Maschinen werden zu vielfältigenHelfern im Alltag und Berufsleben. Auchwerden 2050 weltweit fast so viele Men-schen in Städten leben wie heute auf derganzen Erde – und es wird erstmals mehrSenioren geben als Kinder und Jugendliche.

Elektrifizierung, Automatisierung, Digitalisierung, urbane Infrastrukturenund neue Lösungen für die Gesundheits-systeme: Auf all diesen Feldern nimmt Siemens führende Marktpositionen ein undtreibt Forschung und Entwicklung massivvoran. Die größte Dynamik sehen wir dabeimit sieben bis neun Prozent Wachstum proJahr in den Geschäften der Digitalisierung.Daten sind heute DER Rohstoff der globalenWirtschaft – und im Gegensatz zu anderenRohstoffen nimmt ihre Menge stetig zu.Heute entstehen in jeder Stunde weltweitmehr Informationen, als je in Büchern auf-geschrieben wurden. Die Digitalisierungverändert massiv die wirtschaftlichen Wertschöpfungsketten: Von einem TabletComputer aus kann man Zeitungen undZeitschriften lesen, aber ebenso auch dieParameter eines Roboters steuern oder einganzes Kraftwerk überwachen.

Von Big Data zu Smart Data. Daten al-leine stellen allerdings noch keinen Wertdar. Nicht die Masse, sondern der Inhalt istentscheidend. Es geht also nicht um BigData, sondern um Smart Data! Ein Beispiel:In einer großen Gasturbine messen Hun-derte von Sensoren Temperaturen, Drücke,Strömungen und Gaszusammensetzungen.Wer diese Werte richtig analysiert, der kanndem Kraftwerksbetreiber Empfehlungen

geben, wie er seine Anlage effizienter einstellen und die Schadstoffemissionensenken kann. Er braucht also neben demGerätewissen auch das Anwenderwissenund geeignete Algorithmen zur Datenaus-wertung. Daraus entsteht dann ein echterMehrwert für den Kunden: sei es, um Ener-gie zu sparen oder umweltfreundlicher zuwirtschaften oder um die Kosten zu senken,die Prozesse zu beschleunigen oder die Zuverlässigkeit der Anlagen zu erhöhen.Mit Smart Data lassen sich auf allen Tätig-keitsfeldern von Siemens neue Lösungenentwickeln: für die Vernetzung von Ver-kehrssystemen ebenso wie für intelligenteStromnetze oder virtuelle Kraftwerke, die di-gitale Fabrik mit ihrer hoch automatisierten,flexiblen Fertigung oder auch für die com-putergestützte Auswertung von Daten desGesundheitswesens. Auf all diesen Gebietenliegen spannende Aufgaben vor uns, diejede Anstrengung lohnen. Wir bei Siemenshaben uns daher als eines unserer wichtigs-ten Ziele vorgenommen, die Digitalisierungin der ganzen Breite des Unternehmens voranzutreiben, damit daraus Innovationenmit einem hohen Kundennutzen entstehen.

Neues Online-Magazin. Zugleich ist esbei Siemens seit 2001 eine bewährte Tradi-tion, dass das Unternehmen in der Zeit-schrift Pictures of the Future über Forschung,Entwicklung und die Trends für die Welt vonmorgen berichtet. Dies werden wir auchweiterhin tun, doch ab jetzt vor allem ineinem hochwertigen Online-Magazin – mitall den Vorteilen, die die Digitalisierung inder Welt der Medien bietet. In den Ressortsder PoF Digital, die Sie einzeln oder im Ganzen abonnieren können, finden Sienicht nur Dossiers, die alle relevanten In-formationen zu den wichtigsten Themenzusammenfassen: in Zukunftsszenarien,Trendartikeln, Reportagen, Interviews und Wirtschaftsanalysen. Zudem werdendie Artikel unterstützt durch Videos und animierte Infografiken, Bildergalerien undinteraktive 360-Grad-Features. In der vorIhnen liegenden „Best of Pictures of the Future“ wollen wir Sie mit den aktuellstenArtikeln der PoF Digital neugierig auf unserOnline-Magazin machen. Begleiten Sie uns in die Zukunft der Digitalisierung – in der Forschung ebenso wie in der PoF Digital:www.siemens.de/pof !

EDITORIALBest of Pictures of the Future, Frühjahr 2015

INHALTBest of Pictures of the Future, Frühjahr 2015

Siegfried Russwurm, Technikvorstand der Siemens AG und Leiter der Corporate Technology, überden Trend der Digitalisierung in allen Bereichen des Lebens – und im Magazin Pictures of the Future

Szenario 2060: Die letzte Offshore-Arbeiterin 8News: Innovationen der Öl- & Gas-Branche 10Trends: Wir brauchen Öl und Gas – auf Jahrzehnte hinaus 12Interview OPEC: Technologie-Partner spielen eine wichtige Rolle 15Comos Walkinside: Online offshore – Virtuell auf der Ölbohrplattform 17Subsea Grid: Forschung für den Untergrund 20Flüssiggas: LNG gibt Gas 23Induktion: Revolution aus dem Kochtopf 26Fakten und Prognosen: Renaissance von Öl und Gas 28Energiesektor in Nigeria: Der nigerianische Traum 30

Szenario 2060: Europas lernende Stromsysteme 38News: Innovationen für Stromnetze 40Trends: Auf dem Weg zum dynamischen Netz 42Savona Micro Grid: Große Ziele fürs kleine Netz 44Interview Italien: Smart Grids unterstützen die Elektromobilität 46Interview Finnland: Finnlands Stromnetz ist Smart-Grid-Vorreiter 47Maschinelles Lernen: Windturbinen mit Köpfchen 48CO2 to Value: Aus Kohlendioxid Rohstoffe gewinnen 50Caterva: Ein Schwarm für die Energiewende 53

Szenario 2060: Produktion im Untergrund 62News: Innovationen der Fertigungsindustrie 64Trends: Tanz der Laserstrahlen 66Interview 3D-Experte: Drucken statt Meißeln 68Fakten und Prognosen: 300 Prozent Wachstum in einer Dekade 69PLM Software: Die Zukunft der Fertigung – im Weltraum wie in der Autoindustrie 71Interview Wissenschaftsphilosoph: Wir gehen eine Symbiose mit Maschinen ein 74

In aller Kürze 4Parkplatzsensoren: Parkplatzsuche ade 6Smarte Deiche: Sicheres Leben dank smarter Deiche 34Atemsensorik: Krebserkennung aus der Atemluft 37Röntgen: Die neue Revolution der Röntgentechnik 56eSie Valves: Personalisierte Beurteilung von Herzklappen 59360° Features: Interaktiver Blick hinter die Kulissen der Siemens-Technik 61Race: Plug&Play-Revolution im Auto 76Wuhan: Die App gegen den Verkehrskollaps 78Han Show: Siemens macht großes Theater in China 80PoF Digital: Multimedial und stets aktuell 83

Rubriken

Die Zukunft von Öl & Gas

Die Fertigung von morgen

Smarte Stromsysteme

Titelseite: Dream Chaser heißt der Welt-

raumtransporter, der derzeit von der Sierra

Nevada Corporation entwickelt und gebaut

wird. Siemens unterstützt dabei mit vielfäl-

tigen Software-Lösungen für Produktdesign,

Simulation und Fertigung (S.71).

Bildnachweis: © Sierra Nevada Corporation

Page 3: PoF: Best of Spring 2015

Der neue Gotthard-Basistunnel, der als längster Eisenbahntunnel der Welt zwischenErstfeld und Bodio in der Schweiz entsteht, hat die erste Testphase abgeschlossen. Herz-stück für die Überwachung der elektromechanischen Anlagen ist die Tunnelleittechnikvon Siemens in zwei Tunnel-Control-Centern (TCC). Von hier aus werden alle elektro-

mechanischen Anlagen überwacht. Die Sensoren, Steuerelektronik und Überwachungs-einrichtungen im 57 Kilometer langen Tunnel sind per Glasfaser mit den TCCs verbunden.

Reise- und Güterzüge werden die Strecke, diemehr als 2.000 Meter unter dem Gotthard liegt,

ab Mitte 2016 wesentlich schneller als im altenGotthardtunnel zurücklegen können.

4 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 5Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Best of Pictures of the Future In aller Kürze

Guinness World Records hat den Muldenkipper BelAZ-75710 zum stärkstenLkw aller Zeiten gekürt. Mehr als 500 Tonnen Material kann der Gigant trans-portieren – das entspricht rund sieben vollgetankten und beladenen AirbusA320-200. Angetrieben wird der Truck von jeweils 1.200 Kilowatt (kW) starkenElektromotoren von Siemens. Zwei 16-Zylinder-Dieselmotoren mit zusammenrund 3.400 kW liefern dabei die Energiemengen, die der Elektroantrieb braucht,um die riesigen Reifen in Bewegung zu setzen. Siemens hat den Antrieb in weniger als zwei Jahren entwickelt und gefertigt. Das Fahrzeug ist 20 Meterlang, knapp zehn Meter breit und rund acht Meter hoch. Die Höchstgeschwin-digkeit beträgt 64 km/h. Der Vierradantrieb sowie eine Vierradhydrauliklenkungsorgen dafür, dass die rund vier Meter hohen Reifen auf unwegsamem Geländenicht steckenbleiben. Der Gigant wird im Tagebau in Sibirien eingesetzt undtransportiert dort Kohle und eisenerzhaltiges Gestein.

Mehrere Jahre Lieferzeit und langwieri-ge Zulassungsverfahren bei jeder kleinenDetailänderung. Das war eine Herausfor-derung für Bahnbetreiber, die kurzfristigElektrolokomotiven, etwa für neue Aufga-ben im Güterverkehr, beschaffen wollten.Ein neues Baukastenkonzept bei der Universallok Vectron schafft hier Abhilfe.Rahmen, Führerstände, Wagenkasten, Gerüste und Drehgestelle werden auf Vorrat hergestellt. Der Maschinenraum hat feste Plätze für alle Komponenten undwird individuell bestückt. Zugsicherungs-systeme und Extras wie Rückschaukame-ras oder landesspezifische Dachstromab-nehmer, aber auch grundsätzliche Dingewie das Stromsystem und die Lok-Leistungkönnen die Kunden noch bis zu sechs Monate vor der Auslieferung ändern.

Siemens bringt stärkstenTruck der Welt ins Rollen

Serien-Zugim Maßanzug

Unvorstellbar schnell wächst die welt-weite Masse an Daten. Künftig gilt es, die-ses Datenvolumen drahtlos noch schnellerund sicherer zu übertragen und zu spei-chern. Deshalb untersuchen Siemens-Forscher Mehrkanalsysteme. Bislang istbeispielsweise ein Laptop nur mit einer Antenne ausgerüstet, die Daten sendet undempfängt. Mehrkanalsysteme dagegen basieren auf einer Vielzahl an Antennen,die gleichzeitig elektrische Signale austau-schen. Jede dieser Antennen besteht ausbis zu 100 kleinen Einzelantennen. Sie sichern einen gezielten Datenfluss und er-möglichen störresistente und verlustarmeDatenverbindungen. Siemens-Experten er-forschen, wie sich RFID-Chips, schwenkba-re Radarstrahlen oder auch winkelmessen-de Radarsysteme diese Vorteile von Mehr -kanalsystemen zunutze machen können.

Datentransferim Quadrat

Sicher durch den neuen Gotthard-Tunnel

Erstmals sollen auf einer öffentlichen Straße Lkw mit Stromabnehmern fah-ren: Siemens installiert in Kalifornien eine Oberleitung für Elektro- und Hybrid-Lkw. Biszu vier Test-Lkw fahren in beiden Fahrtrichtungen völlig abgasfrei. Auf dem zwei Meilenlangen eHighway in der Stadt Carson soll sich die Technik bis Mitte 2016 in der Praxisbewähren. Siemens realisiert das Projekt zusammen mit dem zum Volvo-Konzern ge-hörenden Fahrzeugbauer Mack und dem Umrüsterspezialisten Transpower. Der von Siemens entwickelte eHighway soll stark frequentierte Lkw-Pendelstrecken entlasten.Das System umfasst elektrische Oberleitungen für die Straße sowie Elektro- oder Hybrid-Lkw mit intelligenten Stromabnehmern. Sensoren auf dem Fahrzeugdach erkennen, obeine Oberleitung vorhanden ist und docken den Lkw automatisch an oder ziehen ihn ab. Dank des Elektroantriebs ist das Fahren auf einem eHighway mit rund 80 ProzentWirkungsgrad etwa doppelt so effizient wie der Transport mit Diesel-Lkw.

Emissionsfrei dank eHighway

Siemens-Forscher Kevin Zhou aus Princeton, USA, hat eine neue Software ent-wickelt, die den Brustkorb auf Computertomographie-Bildern selbstständig erkennen,in eine 2D-Ansicht umwandeln und alle 24 Rippen automatisch kennzeichnen kann.Damit erleichtert sie dem Radiologen die Arbeit und reduziert die Befundungszeit umdie Hälfte. Gleichzeitig können bei geringerem Fehlerrisiko Brüche und Metastasenbesser und schneller erkannt werden. Die Software wird über tausende Bilder – zumBeispiel der Leber – trainiert, von denen jedes von Experten kommentiert wurde. Siehat so die dreidimensionale Form und das Aussehen des anatomischen Zielobjektsgespeichert und kann auf diese Weise dieses Objekt in jedem medizinischen Bildidentifizieren und aus seiner Umgebung herauslösen – unabhängig von Verdeckun-gen, Blickwinkel, Bildgebungsverfahren oder Krankheitsbild. Die Methode lässt sichauf immer mehr Teile des Körpers anwenden, von Organen und Knochen bis zu denUmrissen eines Fötus oder einer Läsion. Mit der Software, die gemeinsam mit denSiemens-Geschäftseinheiten Computed Tomography und Syngo entwickelt wurde,lässt sich der Brustkorb automatisch vom Rest der Aufnahme segmentieren und„plattdrücken“, so dass der Prozess wesentlich beschleunigt wird. Die Software wurde2013 auf den Markt gebracht und wird bereits in 116 Krankenhäusern und radiologi-schen Praxen in 23 Ländern eingesetzt.

Alle Rippen in 2D

Tauchen Sie ein in den neuen Gott-

hard-Basistunnel in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/gotthard

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ursacht im Durchschnitt 630 Gramm unnötigerzeugtes CO2. Bei Stop-and-Go-Verkehr kanndieser Wert noch deutlich steigen.

30 Prozent des Stadtverkehrs. Ne ben Ab-gasen und Feinstaub gehören auch der Lärmfür die Anwohner und die strapazierten Ner-ven der Parkplatzsuchenden zu den negati-ven Folgen der Parkflächen armut. „Je nachGröße der Stadt macht der Parkraumsuchver-kehr rund 30 Prozent des Gesamtverkehrs-aufkommens einer Stadt aus“, weiß MarcusZwick, Projektleiter für intelligente Parkraum-überwachung bei der Geschäftseinheit Mo-bility der Siemens AG.

Deshalb entwickelt er seit Oktober 2013mit mehreren Kollegen das Advanced ParkingManagement. Die Idee: Radarsensoren, in Stra-ßenlaternen oder an Hauswänden montiert,überwachen permanent den städtischen Park-raum und melden freie und belegte Parkplätzean eine Software. Von dort kann die Stadt dieInformationen abrufen und an die Betreibervon Apps weitergeben. Dann kann sich jederVerkehrsteilnehmer jederzeit informieren, woer einen freien Parkplatz findet. Über ein be-

K eine Frage, Männer können es besserals Frauen. Das zumindest sagen diemeisten Männer dieser Erde. Eine

aktuelle Studie von der Dualen HochschuleBaden-Württemberg Mannheim behauptetdas Gegenteil. Sie beobachtete 400 Teilneh-mer und kam zu dem Fazit: Es sind dieFrauen, die besser und schneller einparkenkönnen als Männer.

Man sieht schon: Wer wirklich geschickterist, ein Auto in eine Parklücke zu manövrie-ren, ist seit Jahrzehnten umstritten. Eine Ant-wort auf diese Frage ist jedoch spätestensdann unerheblich, wenn es kaum Parkplätzegibt, an denen man seine Parkkünste unterBeweis stellen könnte. Und das ist in Groß-städten oft ärgerlicher Alltag. Eine Studie,2013 von der Apcoa Parking Holding GmbHin Auftrag gegeben, unterstreicht, dass einParkplatzsuchender in deutschen Städtendurchschnittlich 4,5 Kilometer braucht, umfündig zu werden. Nimmt man den durch-schnittlichen CO2-Ausstoß eines Autos, derlaut Kraftfahrtbundesamt derzeit bei rund140 Gramm pro Kilometer liegt, als Richt-wert, so heißt das: Jede Parkplatzsuche ver-

6 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 7Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

liebiges Endgerät wie Smartphone, Tabletoder Navigationsgerät. In Echtzeit.

Sensoren, die die Parkplatzsituation doku-mentieren, sind an sich nichts Neues. So gibtes im Londoner Stadtteil Westminster ein Ver-suchsprojekt mit 3.000 Bodensensoren. Siesind im Straßenasphalt eingelassen und er-kennen lediglich, ob sich über ihnen etwasbefindet, nicht aber Größe oder Position desFahrzeugs. Sobald Schnee auf den Bodenfällt oder auch Schmutz die Bodensensorenbedeckt, liefern sie meist keine Messergeb-nisse mehr. „Daraus entstand die Idee, dieStraße von oben zu überwachen“, erklärtDr. Florian Poprawa, Leiter der Hardware-Entwicklung im Forschungsprojekt ParkingManagement.

Radarsensoren statt Kameras. Die Sie-mens-Techniker entschieden sich in dem vomBundesumweltministerium geförderten Pro-jekt für radargestützte Sensoren. Sie habenzwar eine geringere Auflösung als Über-wachungskameras, bieten aber andere Vor-teile. So führt die niedrige Auflösung derAufnahmen dazu, dass Radarsensoren ledig-

Doch das ist nicht alles. Um die Transpa-renz in Anwohnerparkbereichen zu erhöhen,denken die Siemens-Experten daran, Autosmit RFID-Chips auszustatten. Bereits vor derAbfahrt könnte die daran gekoppelte Appdarauf hinweisen, wo der Fahrer in seinerZielregion parken darf oder nicht.

Bereits heute getestet: Vor Ort lesen zu-sätzliche RFID-Lesegeräte die Chips aus; eineLED-Anzeige am Parkplatz zeigt dann dieParkberechtigung in grüner oder roter Farbean. Davon könnten auch Politessen profitie-

Parkplatzsuche adeIn Großstädten ist die Situation besonders kritisch: Es mangelt überall an Parkplätzen. Siemens-Experten haben ein Radarsensorsystem entwickelt, das Verkehrsteilnehmern künftig helfen kann, im Großstadtdschungel stressfrei und schnell freie Parkbuchten zu finden.

Infrastruktur & Finanzierung Lebensqualität in Städten | Intelligente Parkraumüberwachung

Tageszeiten oder Wochentagen besonderskritisch oder entspannt ist. Daraus errechnetsie Prognosen für den Verkehrsteilnehmer:Welche Parkplatzsituation wird ihn am Zielvoraussichtlich erwarten, wenn er ankommt?

Dank automatischer Preismodelle könntedas Advanced Parking Management denParkverkehr auch auf verschiedene Stadt-viertel gleichmäßig verteilen. Denkbar wärebeispielsweise, in autoleeren Seitenstraßengünstigere Parkgebühren zu verlangen als anüberlasteten Hauptstraßen.

lich schematische Bilder aufzeichnen. „Daherlassen sich keinerlei Rückschlüsse auf Perso-nen ziehen, die sich vor dem Sensor bewe-gen. Die Persönlichkeitsrechte der einzelnenVerkehrsteilnehmer bleiben gewahrt“, bestä-tigt Zwick. Daneben sind Radarsensoren we-sentlich unempfindlicher bei Nebel, Re gen,wechselnden Lichtverhältnissen oder winter-lichen Wetterlagen und zudem kostengünsti-ger als Bodensensoren. Nicht zuletzt könnensie auch erkennen, ob ein parkendes Auto ge-rade oder schräg zum Bordstein steht.

Das Prinzip ist einfach: Die Sensorplatine,etwa so groß wie die Faust eines Erwachse-nen, sendet Mikrowellen auf eine definierteFläche aus, die reflektiert werden, sobald sieauf ein Hindernis treffen. Daraus errechnetder Sensor mit einem ausgeklügelten Algo-rithmus, ob und auf welcher Position sich einObjekt auf der Parkfläche befindet und wel-che Größe es hat. „Der Asphalt reflektiert per-manent Mikrowellen an den Sensor. Sobaldaber ein Auto auf der Fläche steht oder sichbewegt, erhält der Sensor die Strahlen anderszurückgeworfen“, erklärt Poprawa. Die Strah-lenbelastung liegt dabei weit unter den ge-setzlichen Grenzwerten.

Einfache Montage an Straßenlaternen.Um den Parkplatzmangel durch ein radarge-stütztes Überwachungssystem zu entschär-fen, müssen Städte weniger Mühen auf sichnehmen, als es auf den ersten Blick scheint.„Außer den Sensoren muss kaum neue Infra-struktur aufgebaut werden“, erklärt Poprawa.Warum? Ganz einfach: Die geringen Maßedes Sensors ermöglichen es, ihn in die Köpfevon Straßenlaternen einzubauen. Hier wer-den alle Bauteile – eine Antenne, eine ana-loge Elektronik, ein Ana log-Digital-Konverterund ein Bauteil zur Signalverarbeitung – zu-gleich auch mit Strom versorgt. So kann derSensor einen Kegelraum von etwa 30 mal 9Meter überwachen. Das entspricht bis zu sie-ben parkenden Autos in einer Reihe.

Die Sensoren geben ihre Messdaten überMobilfunk an eine Software in einem Kon-trollzentrum weiter. Sie verarbeitet die Datenund bereitet sie nutzergerecht auf, indem siedie Echtzeitbelegung der Parkflächen errech-net. Der Autofahrer kann über Smart phoneoder Navigationsgerät sein Fahrtziel einge-ben und sich gleich informieren lassen, ob undwo in seiner Zielregion freie Parkplätze sind.

Optimiert dank lernender Systeme. DerClou: Die Software arbeitet mit lernendenSystemen. Sie erkennt, wenn sich die Park-platzsituation in wiederkehrenden Zyklenidentisch gestaltet, also etwa zu bestimmten

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So erfahren Autofahrer von freien Parkplätzen

Verkehrs-leitzentrale

Smartphone

Parkleitschild

Radarsensoren inder Straßenlaterne

Parksituation auf dem

Armaturenbrett

NaviParkhilfe und AppsKontrollzentrum Parken

info

info

Vernetzte Kommunikation: Radarsensoren,

die etwa in Straßenlaternen integriert sind

(Bild unten) überwachen Parkplätze und mel-

den deren Belegung an ein Kontrollzentrum.

Von dort gelangen die Informationen in Echt-

zeit auf die Smartphones oder Navigations-

geräte der Autofahrer, um ihnen bei der

Suche nach freien Parkplätzen zu helfen.

Bild S.6: Radarsensoren in einer Testkammer.

ren. Eine sogenannte Enforcement Softwarewürde sie, auf Basis der Radarsensor-Mess-daten, auf Falschparker hinweisen. Auch dasBezahlen von kostenpflichtigen Parkplätzenüber eine RFID-Kennung wäre eine Erweite-rungsoption. Parken könnte somit künftigautomatisch, bargeldlos und minu tengenauabgerechnet werden. Weniger Bürokratie,weniger Parkautomaten – das wür de denStädten bares Geld sparen.

Noch ist das eine Vision, aber schonheute ist klar: Die intelligente Parkraum-überwachung würde es deutlich einfachermachen, im parkplatzarmen Großstadt-dschungel eine freie Stellfläche zu finden.Was das Advanced Parking Manage mentaber nicht leisten kann: einem Autofahrerdas Rangieren in eine enge Parklücke erleich-tern. Ganz egal, ob hinter dem Steuer einMann sitzt oder eine Frau.

Ulrich Kreutzer

Mehr Informationen zu intelligen-

ten Parksystemen in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/parksensoren

Page 5: PoF: Best of Spring 2015

Barsch zappelt am Harpunenpfeil. Zehn Mi-nuten später zieht sich Vanessa aus dem Was-ser. Sie greift nach der Leiter, reicht ihremMann Alfredo erst die Harpune, dann den ge-fangenen Fisch. Sie wringt ihre langen Haareaus und schaut auf ihre wasserdichte Smart-watch: „Prognose Ölpreis – fallend.“ Vanessahaucht ihrem Mann einen flüchtigen Kuss aufdie Wange.

„Schatz, da hast du wieder ein Pracht-exemplar erwischt“, schmeichelt Alfredo. Erreicht seiner Frau ein Handtuch. Während siesich abtrocknet, sagt sie: „Legst Du bitte denFisch schon auf den Grill? Ich muss in den Ho-

R uhig gleitet die Taucherin über die rie-sigen Stahlskelette hinweg. Ihre Flos-sen bewegen sich kaum, nur ab und

zu sieht man Luftblasen aufsteigen. Ihr Blickschweift von den großen Fächergorgonien zuden Reihen von Röhrenschwämmen, die daskünstliche Riff, das aus der Bohrinsel entstan-den ist, schon vor 20 Jahren besiedelt hatten.Inzwischen wachsen hier überall bunteSchwämme und Korallen – ein wahres Para-dies für die Fische im Golf von Mexiko.

Dann hat die Taucherin erspäht, was siesuchte. Eine leichte Bewegung aus dem Hand-gelenk, ein Schuss – und der imposante

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loraum.“ Ihr Mann zieht eine Augenbrauenach oben: „Schon wieder? Du bist ja süchti-ger als die Kinder.“ Vanessa lächelt nur milde:„Alfredo….“ Dann eine lange Pause. „Du woll-test doch auf dem Boot leben. Ich muss ebenzwischendurch arbeiten. Oder sollen wir zu-rück nach Houston ziehen?“ Alfredo bleibtstumm, dreht sich um und legt wortlos denFisch auf den Tisch neben den heißen Holz-kohlengrill.

Vanessa scheucht ihre Kinder aus dem Ho-logrammraum und konzentriert sich. IhreSmartwatch hatte schon vor dem Tauchgangein Absacken des Ölpreises für die kommen-

den Wochen vorhergesagt, und dieser Trendhat sich in der letzten halben Stunde ver-stärkt. Sie muss sich jetzt dringend einenÜberblick verschaffen, was da los ist.

„Hallo Vanessa. Du siehst wie immer superaus. Sicher möchtest du dir die Preis-Progno-sen genauer anschauen“, sagt ihr virtuellerAssistent, Geoff, zur Begrüßung. Die zwei sindein eingespieltes Team. Geoff weiß fast im-mer, was Vanessa als Nächstes tun möchte.Während er die Präsentation vorbereitet, siehtsie aus dem Unterwasserfenster, ihr Blickschweift aufs künstliche Riff. Noch vor zehnJahren wurden hier Öl und Gas gefördert.

Doch Umweltschützer hatten darauf be-standen, die altmodische und kostspieligeFörderung mithilfe von Plattformen aufzuge-ben. Mehrere Tausend solcher Plattformenmit ihren Stahlskeletten – wie die, wo sie sichhier befanden – waren seither umweltscho-nend versenkt und zu künstlichen Riffen um-gewandelt worden. Die Technologien fürSubsea-Oil, die Ölförderung mit automatisier-ten Förderanlagen am Meeresgrund, hattenin den vergangenen zwanzig Jahren erhebli-che Fortschritte gemacht; die Kosten sankendrastisch. Die Ausrüstung wird dabei vonSpezialrobotern am Meeresgrund installiert,

und die Förderfabrik arbeitet danach jahr-zehntelang autark. Das geförderte Öl fließtdurch induktionsgeheizte Rohrleitungen anLand und wird dort fast vollautomatisch raf-finiert. Nur für die anfängliche Installation unddas Bohrloch werden noch bemannte Spezial-schiffe benötigt, die den Bohrkern TausendeMeter tief in den Meeresboden treiben.

Vanessa setzt ihre Brille auf und blafftGeoff an: „Wieso geht der Preis so schnellrunter?“ Ihr virtueller Assistent erklärt ruhig:„Wir rechnen damit, dass viel Kapazität aufden Markt kommt. Einige Schiefergasfelderin Argentinien wurden schneller entwickelt,

Die letzte Offshore- ArbeiterinÖlfelder, die sich selbst warten, Produktionsingenieure,die vom Hausboot aus arbeiten, und digitale Assistenten: Sieht so die Ölindustrie im Jahr 2050 aus?

Die Zukunft von Öl & Gas Szenario 2050

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10 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

als gedacht. Irgendjemand bestellt zudemeine Menge neuer Ausrüstung an den auto-matisierten Auktionsmärkten. Es dürften alsoin den nächsten drei Monaten weitere Felderentwickelt werden. Und… da ist noch etwas,was dir nicht gefallen wird.“ Vanessa seufzt.

Ihr Leben hat sich verändert, seit die Pro-duktion weitgehend automatisiert wurde.Jobs auf Offshore-Stationen gibt es heutekaum mehr. Produktionsingenieure wie Va-nessa können inzwischen dank schnellerDatenverbindungen den Status von Ölfeldernüberall auf der Welt abfragen und steuerndeingreifen.

Vanessa konnte so mit ihrer Familie aufdas Hochsee-Hausboot ziehen, Alfredo hattesich das immer gewünscht. „Ich bin sicher derletzte Offshore-Arbeiter in der Öl- und Gas-industrie“, scherzt sie manchmal. Ein Zucker-schlecken ist das alles trotzdem nicht: „Dieeinzigen Arbeiten, die mir bleiben, sind diewirklich schwierigen, die wo man sich enormkonzentrieren und kreative Lösungen ent-wickeln muss“, meint sie dann.

Am Anfang ihrer Laufbahn musste sienoch entscheiden, ob ein einzelnes Ventilhier oder da geöffnet oder geschlossen wer-den sollte – und musste das teils selbst undvon Hand machen. Heute sprechen alle Bau-teile im Ölfeld automatisch miteinander undentscheiden ohne ihr Zutun, was sie tunmüssen, um im Zusammenspiel die optimaleProduktionsmenge zu erreichen. Diese wie-derum wird von Algorithmen bestimmt, dieunter anderem komplexe Prognosen für An-gebot und Nachfrage heranziehen.

Für Vanessa bleiben tatsächlich nur dieharten Nüsse übrig: Krisen, unvorhergese-hene Ausfälle, die Entscheidung, ob ganzeFelder am Netz bleiben oder nicht. So eineEntscheidung kann ihrem Arbeitgeber Milli-arden einbringen – oder kosten.

„Vanessa, hallo“, ruft Geoff. „Aufwachen,Süße. Die Produktion in einem untersee-ischen Ölfeld westlich von Grönland geht seiteiner Stunde zurück. Eines der älteren Ölfel-der, dessen Druck schon vor einiger Zeitnachgelassen hat. Seit ein paar Monaten wirdCO2 hineingepumpt, um die Reste herauszu-pressen. Doch offenbar ist jetzt einer derKompressoren ausgefallen.“ Ein 3D-Bild desReservoirs wird in Vanessas Brille eingespielt.„Schau mal“, sagt Geoff und dreht die Anima-tion. „Dieser Kompressor müsste es sein.“Eine Anlage blinkt auf. „Er hat sich selbst ab-geschaltet, zur Sicherheit. Wahrscheinlich ister irgendwo nicht mehr dicht.“

Das wäre nicht das erste Mal. Vor 20 Jah-ren, als der Kostendruck in der Ölindustrieimmer schärfer wurde, wollte Vanessas Ar-

beitgeber sparen, wo es nur ging – und kaufteKompressoren von einem neuen Anbieter fürunterseeische Ölfelder. Die Kompressoren wa-ren rund 40 Prozent günstiger als die Ausstat-tung von namhaften Herstellern. Doch jetzträcht sich die Sparsamkeit von damals. EinBauteil nach dem anderen geht kaputt – teils3.000 Meter unterhalb des Meeresspiegels.

„Wir können das Feld bis auf weiteres vomNetz nehmen oder sofort einen 3D-Druckerauf Grönland anwerfen und ein Ersatzteil pro-duzieren“, schlägt Geoff vor. Er fügt neckischhinzu: „Ich seh’s Dir an – Du weißt nicht, wasDu tun sollst. Aber diese Entscheidung kannich Dir nicht abnehmen.“ Vanessa ist sich un-sicher: Der Ölpreis sinkt gerade, da kann essogar sinnvoll sein, weniger zu produzieren.Andererseits ist das Feld lange abgeschriebenund produziert günstig. „Reparieren!“, sagtsie schließlich.

Geoff hatte mit einer Wahrscheinlichkeitvon 83 Prozent darauf getippt, dass sich Va-nessa so entscheiden würde. Es kostet zwareine Menge, das Teil drucken zu lassen, dieDrohne zu starten, die es zum mobilen Repa-raturschiff bringt, das dann ein Wartungs-U-Boot losschickt, um das Ersatzteil in derTiefsee auszutauschen. Aber … „Du hast voll-kommen recht. Meine Rentabilitätsberech-nungen würden das auch empfehlen.“

Der Geruch von Verbranntem steigt in Va-nessas Nase. Mist! „Ciao, Geoff“ murmelt sie,haucht einen Kuss ins Hologramm, nimmtihre Brille ab und öffnet die Tür. Alfredo stehtdavor. „Tut mir leid, Schatz“, entschuldigt ersich. „Der Fisch ist verbrannt.“

„Das macht gar nichts“, sagt Vanessaruhig. „Ich hole uns einen neuen.“ Sie be-ginnt, ihre Taucherausrüstung wieder anzu-legen, und wirft einen Blick auf ihre Smart-watch. Geoff ist darauf zu sehen; er zwinkertVanessa zu und lächelt. Ein Assistent zumVerlieben. Sie stürzt sich rücklings ins Wasser.

Platsch! Es wird mindestens eine Viertel-stunde dauern, bis sie zum Riff tauchen undeinen neuen Fisch holen kann, rechnet Al-fredo aus. Ihm war Vanessas Blick auf Geoffnicht entgangen – er hatte sich das alles ganzanders vorgestellt. Nur er, sie und die Kinderauf dem Hausboot, das hätte so schön wer-den können. Doch jetzt … Er schaut auf denStarterknopf. Er könnte jetzt einfach denhybridelektrischen Motor anwerfen. 100 See-meilen würde er bis Sonnenuntergang schaf-fen. Tiefkühlpizza für die Kinder wäre ja auchnoch da… „Ich könnte sie hierlassen“, flüsterter vor sich hin. Doch beim Blick auf das Navi-gationssystem sieht er Geoff: „Keine Chance“,sagt der Avatar mit einem geradezu teufli-schen Grinsen. Andreas Kleinschmidt

Die Zukunft von Öl & Gas Szenario 2050

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 11

Die Luftqualität in China ist schlecht. Kohle-

vergasung könnte helfen, die Luftverschmut-

zung zu senken – eine Technologie, auf die Sie-

mens spezialisiert ist. Dabei wird pulverisierte

Kohle bei hoher Temperatur mit Wasser vergast,

heraus kommt ein Synthesegas aus Wasserstoff

und Kohlenmonoxid, das mit noch mehr Wasser

zu Kohlendioxid und noch mehr Wasserstoff

umgesetzt wird. Damit liefert eine solche Anla-

ge hochreinen Wasserstoff, der mit Erdgas ver-

mischt und verstromt werden kann. Und das

CO2 ist auch schon abgetrennt und könnte un-

terirdisch gespeichert, statt in die Atmosphäre

geblasen werden. Siemens-Ingenieure in Peking

arbeiten sogar an der CO2-freien Kohlenutzung

in Kombination mit erneuerbaren Energien.

Chinas Kohlewird grün

Kleine, leichte Gasturbinen mit hohem Wirkungsgrad sind im Öl- und Gasgeschäft und in

der zunehmend dezentraleren Stromerzeugung unentbehrlich. Siemens hat mit dem Kauf des

Geschäftes mit den sogenannten aeroderivativen Turbinen von Rolls-Royce sein Portfolio für

Gasturbinen vervollständigt. Leicht zu transportieren, extrem robust und in Nullkommanichts

auf voller Leistung: Diese Eigenschaften bringen die aeroderivativen Turbinen aus der Luft-

fahrt mit, denn wie der Name schon sagt, sind sie eine Weiterentwicklung von Triebwerks-

turbinen für Flugzeuge. Auf hoher See, inmitten von Wüsten oder in eiskalten Regionen tun

sie ihren Dienst, schließlich wurden sie ursprünglich für den Einsatz unter Extrembedingungen

konstruiert: den Flug in über zehn Kilometer Höhe. Auf Bohrinseln, entlang Pipelines oder auch in

Flüssiggas-Anlagen (S.23) verrichten die aeroderivativen Turbinen ihren Dienst, entweder als mecha-

nische Antriebe oder in der Stromerzeugung vor Ort.

Sprinter unter den Gasturbinen

Siemens und das norwegische Unternehmen Sevan Marine tüfteln an einem Konzept

für ein schwimmendes Kraftwerk. Vor der Küste verankert, wäre eine solche Anlage

sicher vor ähnlich schweren Erdbeben und Tsunamis wie im März 2011 an der japani-

schen Ostküste. Infolge der Naturkatastrophe kam es damals im Kernkraftwerk Fuku-

shima zur Kernschmelze. Japan schaltete daraufhin alle Atommeiler ab. Seither kann das

Land seinen Energiebedarf nur zu höheren Kosten decken. Schwimmende Gaskraftwerke

könnten vor der Küste verankert und mit Flüssiggas betrieben werden. Eine einzige An-

lage könnte mit bis zu 700 Megawatt (MW) Leistung laufen und Strom für das Festland

produzieren. Die Installation enthielte ein kombiniertes Gas- und Dampfkraftwerk – von

Fachleuten als Combined Cycle Power

Plant bezeichnet –, sowie die Hoch-

spannungs-Übertragungstechnik für

den Stromtransport an Land.

Schwimmende Kraftwerke für Japan

Weltweit einzigartiger Einsatz einer Gas-

turbine: An der deutschen Ostseeküste sorgt

die SGT-750 dafür, dass Erdgas aus der North-

Stream-Pipeline wieder erwärmt wird. So kann

es weiter in das europäische Erdgasnetz trans-

portiert werden. Ganz nebenbei können mit

dem von der Gasturbine erzeugten Strom rund

50.000 Haushalte mit Strom versorgt werden.

Dies ist der erste Einsatz der SGT-750, die Sie-

mens in Schweden entwickelt hat; dort wird sie

auch gebaut. Die kompakte Turbine zählt mit

Wärme für Gaspipeline

ihren 37 Megawatt Leistung zu den kleineren

Gasturbinen. Ausgetüftelte Lösungen, wie eine

Erhöhung des Verdichterdruckverhältnisses, op-

timierte Strömungsverhältnisse in der Turbine,

die Anordnung der acht Brennkammern und

die Beschichtungen der Turbinenschaufeln,

haben dazu geführt, dass der Wirkungsgrad

der Turbine rund 40 Prozent erreicht. Diese

Leistung dient der Stromerzeugung. Die restli-

chen 60 Prozent der Leistung bestehen aus

Abwärme, es werden Temperaturen bis zu 459

Grad Celsius erreicht. Während diese Abwärme

in Gas- und Dampfkraftwerken (GuDs) zur

Dampferzeugung genutzt wird und dieser

Dampf eine weitere Turbine antreibt, wird der

Dampf in Lubmin dazu genutzt, das Gas aus

der North-Stream-Pipeline zu erwärmen.

DIE ZUKUNFT VON ÖL & GASBest of Pictures of the Future, Frühjahr 2015

Mehr zu den schwimmenden Kraft-

werken finden Sie in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/japan

Weitere Details zur umweltfreund-

lichen Kohlevergasung in der PoF

Digital: www.siemens.de/pof/china

Page 7: PoF: Best of Spring 2015

12 13Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Binnen weniger Monate – von Ende2014 bis Anfang 2015 – fielen die Öl-preise um rund 50 Prozent. Einerseits

war mehr Öl auf den Markt gekommen, an-dererseits hatte die Nachfrage nachgelassen.Dies war nicht das erste Mal, dass der Ölpreiseinbrach. Seit jeher schwankt er stark, dochin den vergangenen zehn Jahren hat die Vola-tilität weiter zugenommen, beobachtet LisaDavis, Mitglied des Vorstands der Siemens AGund zuständig für den Energiebereich, ins-besondere die Öl- und Gasgeschäfte.

Der niedrige Ölpreis ist Herausforderungund Chance für die Ölindustrie: Unter -

nehmen, die heute gut aufgestellt sind, wer-den – sobald die Preise sich wieder erholthaben – ihre Position im Markt weiter stärkenkönnen. Zwar ist die technische Verfüg-barkeit der Produktionsstätten in der Öl- undGas-Industrie stets oberste Priorität, doch inmageren Zeiten rückt der Blick verstärkt aufdie Produktionskosten. Sie lassen sich senken,indem Unternehmen neue Technologien ein-setzen und Prozesse weiter verbessern.

Breites Angebot. Siemens kann dazubeitragen: Das Unternehmen kaufte vonRolls-Royce das Geschäft mit aeroderivativen

Wir brauchen Öl und Gas – auf Jahrzehnte hinausDer weltweite Ölverbrauch steigt an, nicht zuletzt getrieben durch die derzeit niedrigen Preise. Umwettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Ölproduzenten ihre Kosten senken. Siemens unterstützt siedabei: mit Innovationen in den Bereichen Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung –über die gesamte Produktionskette hinweg. Von der Ölpumpe bis zur Zapfsäule.

Turbinen. Zudem plant Siemens die Über-nahme von Dresser-Rand, wichtiger Zulie -ferer der Industrie. „Wir haben einigesanzubieten, vor allem in drei Bereichen: Elek-trifizierung, Automatisierung und Digitali -sierung“, sagt Lisa Davis. „In allen drei Felderngeht es um höhere Effizienz.“ Die Öl-Industriemuss die Produktions kosten aus akuterNotwendigkeit heraus senken, aber auchlangfristig kommt sie nicht daran vorbei.Kostengünstiges, einfach zu förderndes Öl istvielerorts ausgeschöpft: Öl aus Lagerstättenan Land, nahe an der Oberfläche, derenDruck hoch genug ist, sodass es anfangs von

alleine aus dem Bohrloch sprudelt. Viele derschwieriger zu erschließenden Quellen fallenin die Kategorie „unkonventionelle För -derung“: Das Öl lagert in großer Tiefe, unterdem Meeresboden, oder ist in Ölsandeneingeschlossen. Eine deutlich kniffli gere Auf-gabe für die Produktions-Ingenieure.

Die Öl- und Gasförderung wird insgesamtschwieriger. Die gute Nachricht: Öl und Gasmüssen deshalb nicht teurer werden, solangedie Produktionsmethoden kontinuierlichverbessert werden. In der Vergangenheithaben technische Innovationen und effizien-tere Prozesse die Förderung unter immer her-

ausfordernderen Bedingungen wirtschaftlichgemacht. Was heute „unkonventionelles Öl“ist, könnte morgen als „konventionell“ gelten.

Einige Trends lassen sich bereits heute ab-sehen:

So werden bestehende Ölfelder in Zukunftlänger produzieren, indem der Druck durchdas Einbringen von Wasser oder Gas – zumBeispiel CO2 – erhöht wird.

Fracking wird über die Grenzen der USAhinaus üblich werden.

Die Produktion von Schweröl aus Ölsandenwird umweltverträglicher und weniger en-ergieintensiv (S.26).

Der weltweite Markt für Flüssiggas („lique-fied natural gas“, LNG) wird weiterhin kräftigwachsen. Dadurch kann Gas, das heute abge-fackelt und damit vergeudet wird, künftiggenutzt und vermarktet werden (S.23).

Die Vision automatischer Ölfelder kannWirklichkeit werden: Am Meeresgrund,mehrere tausend Meter unter der Wasser-oberfläche, könnten sie jahrzehntelangwartungsfrei arbeiten (S.20).

Allerdings reifen auch die Alternativen zuÖl und Gas. Elektrische Fahrzeuge könn tensich künftig am Markt durchsetzen. Underneuerbare Energien, wie die Windkraft,

Die Zukunft von Öl & Gas Trends

Page 8: PoF: Best of Spring 2015

Dr. Omar Abdul-Hamid ist Direktor der Forschungsabteilung der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) in Wien. Zuvor ar-beitete er bei Saudi Aramco, der nationalen saudischen Ölgesellschaft. Abdul-Hamid hat einen PhD in Material- und Ingenieurswissenschaftenvom Massachusetts Institute of Technology (MIT). An der Harvard Business School absolvierte er ein Managementprogramm. Seinen Bachelor-Abschluss in Chemical Engineering machte er an der King Fahd University of Petroleum & Minerals in Saudi-Arabien.

„Technologie-Partner spielen eine wichtige Rolle“

Wie sieht die Zukunft von Öl und Gasin den nächsten 20 Jahren aus?Abdul-Hamid: Die Nachricht vom Ende des Ölzeitalters stellt sich als Übertreibungheraus. Im Jahr 2014 haben wir einen tägli-chen Ölbedarf von rund 91 Millionen Barrelverzeichnet. Im Jahr 2040 dürften es 111Millionen Barrel pro Tag sein. Bei der OPECsind wir überzeugt, dass es ausreichendRessourcen gibt, um die wachsende Nach-frage nach Öl zu bedienen. Denken Sie allein an die neuen Kapazitäten aus un-konventionellen Quellen. Die wachsendeNachfrage ist vor allem auf Entwicklungs-und Schwellenländer zurückzuführen, insbesondere in Asien, aber auch auf dieOPEC-Staaten selbst. Ihr wachsender Öl-bedarf macht die schrumpfende Nachfragein hoch entwickelten Staaten wett, in denen

die Energieeffizienz ansteigt. Öl wird weiter-hin für den Transport und die petrochemi-sche Industrie benötigt.

Höhere Energie-Effizienz, mehr Elek-tro- und Hybrid-Fahrzeuge, erneuer-bare Energien werden wichtiger.Verliert die Menschheit ihr Interesseam Öl, lange bevor es ausgeht?Abdul-Hamid: Die Geschichte zeigt: NeueEnergieträger haben bestehende oft er-gänzt. Kohle war weltweit dominant, langebevor wir Öl nutzten. Heute verwenden wirimmer noch Kohle, obwohl Gas inzwischenwichtig wurde. Auf kurze wie auf lange Sichtwird die Menschheit fossile Energieträgernutzen. Dennoch: Auch wenn der Anteil erneuerbarer Energien wie Sonne und Windnoch gering ist, er wird wachsen.

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 15

Heute sind die USA ein Importeur vonÖl. Dank der riesigen Menge an un-konventionellem Öl durch Frackingkönnte das Land bald Exporteur wer-den. Was ist die Rolle von unkonven-tionellem Öl?Abdul-Hamid: Der Fracking-Boom in Nordamerika ist noch jung, der Anteil an derweltweiten Ölproduktion gering. Im OPECWorld Oil Outlook 2014 haben wir eine täg-liche Produktion von sogenanntem „tightcrude“ – durch Fracking gewonnenes Öl – in Höhe von 3,8 Millionen Barrel verzeich-net. Sogenannte „unconventional naturalgas liquids” tragen zwei Millionen Barrel bei.Verglichen mit einem täglichen Gesamtbe-darf von 91 Millionen Barrel ist das wenig.Zudem erwarten wir in naher Zukunft einAbflachen, bevor es zu einem Rückgang

Die Zukunft von Öl & Gas Interview Dr. Omar Abdul-Hamid

14 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

werden wirtschaftlicher und könnten fossileEnergieträger teils verdrängen (S.28). BritishPetroleum rechnet vor, dass vier Fünftel desderzeitigen Anstiegs beim weltweitenEnergieverbrauch auf Schwellen- und Ent-wicklungsländer zurückzuführen sind; dochselbst deren Energiehunger dürfte einesTages zurückgehen.

Einerseits schrumpft die Verfügbarkeitvon leicht zu förderndem Öl – andererseitsgibt es interessante Alternativen zu Öl undGas. Für Produzenten heißt das: Sie müssenmit den Kosten runter. Die Pioniere unterihnen machen vor, wie das mittels Automa-tisierung und Datenanalytik geht. Vereinfachtgesagt: In Zukunft werden mehr Ventile vonMaschinen geöffnet und geschlossen. Und

fener See virtuell Einsätze üben – währendihr künftiger Arbeitsplatz sich noch im Baubefand. Die Schulung an Bord ließ sichverkürzen, die Anlage nahm zwei Monatefrüher als geplant den Betrieb auf (S.17).

Einsparpotenziale lassen sich auch nut-zen, indem mechanische Antriebe durchelektrische ersetzt werden. Heute werdennoch viele Pumpen und andere Geräte direktangetrieben, statt mittels Generatoren und

Automatisierung und Digitalisierung wer-den dazu beitragen, dass Öl und Gas auch inden nächsten Jahrzehnten wettbewerbsfähigbleiben. Ob man das gut findet oder nicht:Sehr wahrscheinlich wird die Menschheitweiterhin jedes Jahr ein wenig mehr Öl undGas verbrauchen, als im Vorjahr. In absolutenZahlen steigt der Bedarf an. Dennoch: DerAnteil von Öl und Gas am Gesamtenergiever-brauch könnte zurückgehen.

auch die Entscheidung, wann ein Ventilgeschlossen oder geöffnet werden muss,wird häufiger von Maschinen getroffen wer-den. Dass menschliche Arbeiter zu Bohrinselnfliegen, wird eines Tages womöglich die Aus-nahme sein, nicht mehr die Regel.

Big Data wird Smart Data. AutomatisierteAusrüstung produziert laufend Daten – Mess-werte, die sich sammeln und aggregierenlassen. Durch intelligente Auswertung kannaus den vielen Daten, aus Big Data, SmartData werden. Smart Data hilft, Produktions-prozesse besser zu verstehen.

Entsprechende Visualisierungs-Softwarevon Siemens macht es beispielsweise schonheute möglich, in das virtuelle 3D-Mo delleiner Bohrplattform einzutauchen. In inten-siven Trainings können sich Techniker aufihren Einsatz vorbereiten. Das spart baresGeld. So konnte etwa die Mannschaft einerafrikanischen Ölverarbeitungsanlage auf of-

elektrischer Motoren. Elektrische Antriebesind aber meist effizienter – und können sohelfen, Kosten zu senken. Dies ist ein gutesEinsatzgebiet für aeroderivative Turbinen.

Der Verbrauch steigt kontinuierlich. Obder Ölpreis niedrig bleibt, womöglich aufJahre hinaus, keiner weiß es. Doch eines hatdie Geschichte der Industrie gezeigt:Während der Preis wilde Ausschläge zeigt,wächst der Verbrauch verblüffend stabil. Esgab Spitzen, zu denen ein Barrel Öl 140 US-Dollar kostete, und Talsohlen, da lag der Preisbei 20 Dollar. Doch der weltweite Verbrauchwuchs langfristig im Schnitt verlässlich umein bis zwei Prozent pro Jahr. Zudem mussrund fünf Prozent der bestehenden Produk-tionskapazität jedes Jahr ersetzt werden, umdie sinkende Ausbeute alternder Ölfelderauszugleichen. Dazu werden neue Felder er-schlossen und der Ertrag alter Felder durchdas Einbringen von Gas erhöht.

Bis es, eines Tages, wirtschaftlicher seinwird, das verbliebene Öl in der Erdkruste zulassen, statt es zu fördern. Die nötigen Anpas-sungen auf dem langen Weg dahin bedeutenjedenfalls gute Geschäftsmöglichkeiten für alljene, die den Mut zur Innovation mitbringen;die es wagen, neue Methoden zur Gewinnungund Nutzung von Öl und Gas auszuprobieren.

„Wenn man sich die Zunahme des Ver-brauchs vor Augen führt, wird schnell klar,dass Öl und Gas wenigstens für einige Jahr-zehnte sehr wichtig bleiben werden“, sagtLisa Davis. „Natürlich brauchen wir aucherneuerbare Energien. Zumindest heutebrauchen wir einfach alles, was wir haben –einschließlich Öl und Gas.“

Andreas Kleinschmidt

Über und unter Wasser: Siemens Technologie ermöglicht Ölgewinnung in extremen Umgebungen, offshore (rechts) und am Meeresgrund (links).

Automatisierung und Digitali sierungwerden zur Wettbewerbsfähigkeit von Öl und Gas erheblich beitragen.

Interaktive Einblicke in die Ferti-

gung von Gasturbinen bietet das

360°-Feature der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/360gas

Die Zukunft von Öl & Gas Trends

Page 9: PoF: Best of Spring 2015

17

Online offshoreMit den Softwarelösungen COMOS und COMOS Walkinside kön-nen Arbeiter der Öl- und Gasindustrie ein exaktes, dreidimensio-nales, virtuelles Abbild ihrer Anlage erzeugen, das Informationenüber jedes Bauteil dieser Anlage enthält – ohne jemals einen Fußdarauf zu setzen. Dadurch lassen sich Millionen Euro einsparen.

Nur zwei Klicks, und der Wartungs-techniker eines global führenden Öl-und Gasunternehmens steht direkt

vor der Pumpe. Zwei kleine Mausklicks inCOMOS, rechte Maustaste zum Menüpunkt„COMOS-3D-Viewing“, dann in der Auswahl-liste auf „Navigate“ gedrückt – und das Equip-ment, das gerade noch ein für Außenste-hende unscheinbares Symbol auf einer tech-nischen Zeichnung voll akkurat gezeichneterLinien und Kreise war, erscheint dank COMOSWalkinside realistisch und dreidimensionalauf seinem Bildschirm. Mittendrin im virtuel-len Anlagenmodell, umgeben von dicken,gelben Rohren und grauen Stahlträgern,steht der Techniker: als Avatar. Noch ein Klick,auf das Bauteil, und COMOS blättert dessen

seines Büros treten, wo ihm die kühle Briseder Nordsee entgegenschlägt und diefeuchte Luft vor der Westküste Norwegenseinen leicht salzigen Geschmack auf seinenLippen hinterlässt. Über Stahltreppen undRampen führt ihn sein Weg, vorbei an dickenLeitungen, Ventilen und anderen Elementen,hin zu besagter Pumpe.

Für diese Pumpe war eine Routineüber-prüfung angesetzt. Das Datum ihrer Prüfungwurde bisher aus durchschnittlichen Erfah-rungswerten errechnet – unabhängig davon,wie sich das konkrete Umfeld tatsächlich aufLeistung und Lebensdauer auswirkte. Hatteder Techniker seine Aufgabe erledigt, trug erdie neuen Informationen per Hand in dietechnische Zeichnung der Anlage ein. Papierzurück in den Ordner, Ordner zurück insRegal. Diese Vorgehensweise war zeitrau-bend und im schlimmsten Fall sogar äußerstgefährlich – etwa in Bereichen, in denen mitleichtentzündlichen Stoffen gearbeitet wird.Inzwischen gehört dieses Vorgehen endgül-tig der Vergangenheit an.

Ein Tag Stillstand kostet Millionen Euro.Zeit ist die Währung in kommerziellen Projek-ten. Sie bedeutet Geld, besonders im Öl- undGasgeschäft. Richtig teuer wird es, wenn Ar-beiten nicht nur lang dauern, sondern auchnoch den Stillstand eines Teils oder sogar der

komplette Historie auf: das Datum, wann diePumpe installiert wurde; die Anzahl der Stun-den, die sie seither in Betrieb war; genaueAngaben dazu, wie oft und wann sie seithergewartet wurde. Zwei kleine Schritte fürCOMOS und COMOS Walkinside, ein großerfür die Öl- und Gasindustrie.

Der Blätterwald ist Vergangenheit. Vordem Einsatz dieser innovativen Software-Lösungen bedeutete eine solche Prüfung,dass der Techniker inmitten von TausendenDokumenten genau dasjenige finden musste,das den jüngsten Inspektionsbericht jenerPumpe enthält – wie auch deren kompletteHistorie. Erst dann konnte er sich seinereigentlichen Aufgabe widmen: vor die Tür

Die Zukunft von Öl & Gas COMOS Walkinside

kommt. Im Jahr 2020 könnte die Produktionvon unkonventionellem Öl – unter den rich-tigen Bedingungen – bei rund 13 MillionenBarrel pro Tag liegen. Nichtsdestotrotz wirdAmerika zugleich importieren und exportie-ren und auf absehbare Zeit Öl vor allem ausdem Mittleren Osten beziehen.

Derzeit ist der Ölpreis niedrig. Dassetzt die Erzeuger unter Druck. Wiesteigern sie ihre Kosteneffizienz?Abdul-Hamid: Die Industrie ist von Hausaus zyklisch, ein schwankender Ölpreis istnichts Neues. Kosteneffizienz ist und bleibtwichtig. Allerdings war der Preis vor demEinbruch – Ende 2014, Anfang 2015 – füreinige Jahre recht hoch gewesen. Da kanneine gewisse Bequemlichkeit einreißen. Esist heilsam, sich auf Praktiken zu besinnen,die helfen, die Kapital- und Betriebskostenunter Kontrolle zu halten. Wenn es darumgeht, neue Produktionskapazität aufzu-bauen, haben Ölunternehmen und Investo-ren das im Hinterkopf. Innovation ist dabeiwichtig. Indem man etwa Daten aus derProduktion besser nutzt, um die Explorationund Förderung zu optimieren. Hier lässt sichan jedem Punkt in der Produktionskette an-setzen. Ein anderer wichtiger Trend in derÖlindustrie ist Automatisierung.

Manch einer hält die Ölindustrie fürkonservativ: Die Zuverlässigkeit derAusstattung gehe über alles. Ist dasein innovationsfreundliches Klima?Abdul-Hamid: Wir brauchen Innovation,

um auch in Zukunft entsprechend den Er-wartungen verlässlich und sicher zu produ-zieren. Spezifikationen sind uns wichtig,genauso wie die Robustheit der Ausstattung– vor allem im Hinblick auf die Sicherheit.Wir tragen Verantwortung für unsere Mann-schaft, wir tragen Verantwortung, überall,wo wir tätig sind. Und natürlich ist die tech-nische Verfügbarkeit der Ausrüstung auchaus wirtschaftlicher Sicht wesentlich. Wennein Ölfeld aufgrund eines technischen De-fekts die Produktion einstellt, verliert dasUnternehmen Geld. Deshalb heißt das nochlange nicht, dass die Öl- und Gas-Industrienicht innovativ wäre. In den letzten Jahr-

lässig laufen. Da muss man sie schon über-zeugen, aufzurüsten. Das ist ein bisschenwie beim Autofahren: Wer sich an Gang-schaltung gewöhnt hat, zögert mit demUmstieg auf Automatik.

Wo Sie schon von Autos sprechen:Was müsste passieren, damit Sie aufein Elektrofahrzeug umsteigen?Abdul-Hamid: Ich müsste damit günstigerund zuverlässiger von A nach B kommen.Gar nicht so einfach, hier in Wien. Es gibteinen hervorragend ausgebauten öffent-lichen Nahverkehr und jede Menge Alterna-tiven: Man kann laufen, Fahrrad fahren, indie Straßenbahn einsteigen. Und wenn manaus der Stadt hinausfährt, ist die Reichweitewichtig – da können Elektroautos nichtpunkten. Stromspeicher sind immer nochteuer. Wenn man nun anfinge, eine Lade-infrastruktur aufzubauen, dann ginge dasganz schön ins Geld. Ein Netz von Tankstel-len gibt es hingegen schon. Es wird alsonoch einige Zeit brauchen, bis Elektroautosfür mehr Menschen interessant werden.

Ihre Kinder sind derzeit im Teenie-Alter. In 20 Jahren werden sie Mitt-dreißiger sein. Werden sie Autos mitVerbrennungsmotor nutzen – oderdoch Elektroautos?Abdul-Hamid: Das kommt ganz darauf an, wo sie dann leben: in der Stadt oder auf dem Land. Wir bei der OPEC sind festüberzeugt, dass Öl ein wunderbarer Ener-gieträger und gerade für den Transport gutgeeignet ist. Das wird auf absehbare Zeitauch so bleiben. Es wird ja auch in die Wei-terentwicklung des Verbrennungsmotors investiert, sodass er immer effizienter undumweltfreundlicher wird. Wir werden ihnwohl auch weiterhin nutzen wollen.

Was sollten Ihre Kinder über Energieunbedingt wissen?Abdul-Hamid: Sie müssen sich vergegen-wärtigen, dass Energie für ihren Lebens-standard entscheidend ist. Woher dieseEnergie kommen soll, diese Frage ist nicht immer leicht zu beantworten. In den nächsten Jahrzehnten werden Luft-verschmutzung, Klimawandel und der effiziente Einsatz begrenzter Ressourcenwichtige Themen bleiben. Wir werden weltweit ein gesteigertes Umweltbewusst-sein sehen. Und Technologie kann helfen,diesen Anspruch einzulösen. Wer Ressour-cen nutzt, hat auch eine Verantwortung, sie weise einzusetzen.Das Interview führte Andreas Kleinschmidt.

zehnten haben wir massiv dazugelernt, wieman Öl unter immer schwierigeren Bedin-gungen fördern kann. Es geht beides zu-gleich: Eine konservative Kultur und eineKultur der Innovation – auch wenn das aufden ersten Blick widersprüchlich erscheint.

Was können Technologie-Unterneh-men beitragen?Abdul-Hamid: Sie spielen eine ganz be-sonders wichtige Rolle. Siemens und andereUnternehmen helfen uns dabei, technischdie nächste Stufe zu erklimmen. Ein wich-tiges Thema ist die Energieeffizienz unserereigenen Industrie: Bei der Ölproduktionbraucht man Energie für Pumpen, Kom-pressoren und andere Maschinen. Wenn wir lernen, sie effizienter zu betreiben, istdas gut für die Umwelt und es spart Geld.

Welche Rolle spielt dabei die Elektri-fizierung?Abdul-Hamid: Eine wichtige. Noch immerwerden viele Maschinen direkt angetrieben,beispielsweise von einer Gasturbine. Künf-tig werden viel mehr elektrische Motorenzum Einsatz kommen, um Energie und Geldzu sparen. Aber wir müssen bei solchenNeuerungen immer auch Kosten und Nut-zen klar gegenüberstellen, um die Ölfirmenzu überzeugen. Viele sind mit den vorhan-denen Technologien sehr zufrieden undmanchmal dauert es seine Zeit, bis man sichan eine verbesserte Technologie gewöhnt.Wir dürfen nicht vergessen: Die Unterneh-men besitzen bereits Maschinen, die zuver-

Siemens und andere Firmenhelfen uns, technisch dienächste Stufe zu erreichen.

16 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Die Zukunft von Öl & Gas Interview Dr. Omar Abdul-Hamid

Page 10: PoF: Best of Spring 2015

einem derart komplexen technischen Umfeldlauern im wörtlichen Sinne an jeder Eckeneue Fallen.

Was COMOS so alles kann, das lernenauch die Entwickler stetig neu. „Je mehr dieSoftware leistet, desto mehr neue Bedürf-nisse weckt sie“, erzählt Kristian Larsen. Dienächste Aufgabe, an der Larsens Team ge-rade sitzt, hat mit der steifen Nordsee-Brisezu tun. Die Plattform eines Kunden ist lautLarsen zwar so clever gebaut, dass sie idealzum Wind ausgerichtet ist. Dieser kühlt dieAnlage.

Dummerweise transportiert er auf hoherSee jedoch Salz durch die Luft. Als feiner Filmlegt es sich nicht nur auf Gesicht und Klei-dung der Techniker, sondern auch auf Stahl-bauteile wie Treppen oder Geländer. Siekorrodieren langsam, aber beständig – undzwar bisher von der Software nicht erfassbar,vor sich hin. Mit COMOS soll in Zukunft auchdieser Zustand des Equipments erfasst, be-wertet und mit nur zwei Mausklicks erreich-bar und optimal instandgehalten werden.

Sandra Zistl

Installationen wie der Pazflor FPSO vor derKüste Angolas mit dem sogenannten Immer-sive Training Simulator von COMOS Walkin-side – noch während sich das Förderschiff inder Werft in Korea befand. Die verkürzte Ein-arbeitungsphase durch die vorherigen Trai-nings im virtuellen Modell trug dazu bei, dassdie Pazflor mehr als zwei Monate früher denBetrieb aufnehmen konnte.

Redundanz war gestern. Ein immenserVorteil des Anlageninformationsmanage-ments mit COMOS besteht darin, dass alle Be-teiligten zu jeder Zeit Zugriff auf exaktdieselben, stets aktuellen Informationenhaben, natürlich inklusive der vollständigenHistorie. Noch mehr Zeit und Geld lässt sichsparen, wenn die Software-Lösung bereits imPlanungsprozess zum Einsatz kommt. Wennbeispielsweise ein Arbeitsschutzbeauftragter,der nicht im Lesen von technischen Zeich-nungen geschult ist, vorab sagen kann: Hiermuss eine Leiter angebracht werden, dennsonst gibt es im Ernstfall keinen Ausweg.

Die Software kann aber auch den Inge-nieuren plastisch vor Augen führen, dassbeispielsweise ein Ventil um 90 Grad gedrehtverbaut werden muss, um es in einer späte-ren Wartung einfacher zu erreichen. Denn in

der Nutzer direkt hinein ins Geschehen. In dieVisualisierung gelangt er per Klick, entwederüber eine Ordnerstruktur, in der alle Bauteileder Anlage aufgeführt sind, oder durch An-wählen des Elements in einer technischenZeichnung, beispielsweise in Rohrleitungs-und Instrumentierungsschemata.

Hinter jedem Ordner liegt die zugehörigetechnische Zeichnung, die für Fachleuteunter anderem die entscheidenden verfah-rens- oder elektrotechnischen Daten enthält.Alle Daten sind in COMOS zentral und objekt-orientiert gespeichert. COMOS, kombiniertmit COMOS Walkinside, funktioniert somitwie eine riesige, mit Avataren begehbare vir-tuelle Datenbank, die für jeden, auch ohneIngenieursstudium, lesbar ist.

Sie verknüpft alle Informationen, aktuelleund historische, zu jedem Bauteil miteinan-der und macht sie im 3D-Umfeld mit COMOSWalkinside sowie in den Engineering-Datenin COMOS sichtbar. Da kann der Containermit den abgehefteten Zeichnungen einfachnicht mehr mithalten. Ein Kulturwandel ist imGange.

Die dritte Dimension ist der eine Clou, dersich auch perfekt für Schulungszwecke ein-setzen lässt. So trainierte beispielsweise TotalE&P seine Mitarbeiter entlegenen Offshore-

In COMOS Walkinside lassensich Wartungstouren an Landplanen und simulieren.

Eintauchen in das virtuelle Modell

einer Ölförderanlage in der PoF

Digital: www.siemens.de/pof/comos

18 19Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

gesamten Anlage erzwingen. Doch wenn inautomatisierten, exakt aufeinander abge-stimmten Prozessen etwas repariert werdenmuss, bedeutet das oft genau dies.

Eine durchschnittliche Produktionsplatt-form fördert täglich etwa 100.000 Barrel Ölund um die 20 Millionen Kubikmeter Gas.Letzteres entspricht dem Jahresverbrauchvon bis zu 10.000 Haushalten in Deutsch-land. „Ein einziger Tag Stillstand ist für denAnlagenbetreiber gleichbedeutend mit meh-reren Millionen Euro Verlust“, erzählt KristianLarsen, Projektingenieur bei Siemens Indus-try Software. „Es ist also logisch, dass unsereKunden die Ausfalltage reduzieren wollen.Jeder einzelne Tag, sogar jede Stunde zählt.“

Larsen betreut für Siemens den KundenGDF SUEZ E&P Norge, der die SoftwareCOMOS und COMOS Walkinside nutzt. „Platt-formbetreiber wollen nicht nur weniger Still-stand. Die Unternehmen wollen auchweniger Personal in dieser schwierigen Ar-beitsumgebung einsetzen, das seltener aufdie Plattform geflogen werden muss, und dasHin- und Herfliegen mit Materialen so weitwie möglich minimieren.“

Perfekte Koordination. Der Weg dorthinführt über die perfekte Koordination: Wenn

die Produktion schon stillstehen muss, dannnicht wegen Arbeiten an lediglich einerPumpe. Sondern idealerweise wegen mehre-rer Wartungstätigkeiten, die parallel ausge-führt werden können – genau so werden fastalle größeren Wartungen in einem Bereichder Plattform System für System gleichzeitigausgeführt. Mit den Avataren in COMOSWalkinside können diese Wartungstourennicht nur vorab an Land geplant, sonderndazu noch visualisiert und simuliert werden.Dafür müssen die Mitarbeiter also gar nichtvor Ort auf der Plattform sein. Sie begebensich online offshore.

Das alte Sprichwort, das im Volksmundfür den Bereich der Gesundheit geprägtwurde, trifft auch auf industrielle Förder- undFertigungsanlagen zu: Vorsorge ist besser alsNachsorge. Denn Vorsorge ist günstiger. InsGeld gehen bei der Nachsorge die Einsätzeder Mitarbeiter auf der Plattform, gezählt in„Arbeitsaufträgen“.

Ein Beispiel: Während ein Kunde der Öl-industrie in dem Jahr, in dem die COMOSSoftware erstmals zum Einsatz kam, noch2.670 korrigierende Arbeitsaufträge zählte,konnten diese drei Jahre später auf nur noch1.778 gesenkt werden. Das sind bis dato im-merhin knapp 30 Prozent weniger.

Kulturwandel in der „Schneekugel“. MitCOMOS liegen die für eine vorausschauendgeplante und ideal koordinierte Wartung not-wendigen Daten nicht nur in digitalisierterForm vor. Sie sind zudem verknüpft miteinem 3D-Visualisierungs-Tool, das weitmehr kann als herkömmliche 3D-CAD-Mo-delle. „Man muss sich das vorstellen wie eineSchneekugel“, erklärt Manuel Keldenich, Mar-keting-Manager für die Plant EngineeringSoftware von Siemens mit einem Zwinkern.„Mit CAD kann ich die Schneekugel strukturellerzeugen und sie mir von außen ansehen.Mit COMOS Walkinside kann ich hineinbli-cken, bei Bedarf sogar darin herumlaufenund dazu noch mit intelligenten Informatio-nen verknüpfen – und erleben, wie der,Schnee’ herunterrieselt. Dabei stünden mirsogar Informationen zu seiner Zusammenset-zung zur Verfügung.“

Die Plattform werde auf dem Bildschirmerlebbar: „Wenn man beispielsweise auchnoch Sonnenauf- und -untergänge einblen-den oder die Windrichtung simulieren kön-nen wird, dann sind das keine romantischenSpielereien, sondern Faktoren, die für die Ab-läufe einer Anlage wichtig sind und über dieKosten mitentscheiden.“ Statt eine techni-sche Zeichnung zu betrachten, begibt sich

Zentrales Datenzentrum:

COMOS bündelt aktuelle

und historische Daten der

Anlage. Die Software er-

möglicht es, direkt von den

Engineering-Daten in deren

virtuelle Darstellung zu

wechseln. Innerhalb des

realistischen 3D-Umfeldes

kann sich der Nutzer als

Avatar bewegen. Die

Echtzeit-Information en aller

Bauteile liegen nicht nur

Engineering-Experten vor,

sondern allen am Projekt

Beteiligten.

Die Zukunft von Öl & Gas COMOS Walkinside

Page 11: PoF: Best of Spring 2015

20 21

M it Druck kann Jan Erik Lystad gutumgehen. Und das nimmt mandem 60-jährigen Norweger auch

sofort ab: Jeans, blaukariertes Flanellhemd,die Hände entspannt in den Taschen – nichtsscheint Lystad aus der Ruhe bringen zu kön-nen. Sein ganzes Leben hat der Ingenieur inTrondheim verbracht. Er hat hier studiert,seine Kinder großgezogen und vor 14 Jahrenbei Siemens angeheuert. Damit passt er per-fekt ins Bild der malerischen 180.000-Ein-wohner-Metropole, in der selbst die Polites-sen mit dem Fahrrad fahren und Kontinuitätgroßgeschrieben wird. Doch unter der behä-bigen Oberfläche Trondheims brodelt ein Vul-kan aus Geistesblitzen und Innovationen,befeuert von Wissenschaftlern wie Lystad,Dutzenden von Forschungsinstituten undTausenden Studenten der Technischen Uni-versität. Immer wieder kommt es zu Eruptio-nen von neuen Ideen. Im Epizentrum stehtoft das Siemens-Forschungszentrum amBratsbergveien, nur wenige Kilometer vonder Stadtmitte entfernt. Erst 2012 haben For-scher dort die erste Elektrofähre der Welt ent-wickelt und ein weiterer Ausbruch steht kurzbevor – denn in Lystads Labor wird buchstäb-lich mit Hochdruck gearbeitet.

Weltweit einzigartige Folterkammer.„Wir haben hier eine Art Folterkammer fürtechnische Bauteile“, sagt er. „Dabei setzenwir sie enorm unter Druck. Bis zu 460 Barmuss die Technik aushalten – soviel wie in4.600 Metern Tiefe herrscht.“ In Lystads welt-weit einzigartiger „Folterkammer“ wird aller-dings weniger gequält, als Pionierarbeitgeleistet. Hier testen zehn Ingenieure dieKomponenten für ein Stromnetz, das künf-tige Tiefsee-Fabriken mit Energie versorgensoll. Ab 2020 plant der norwegische Energie-konzern Statoil solche autarken Öl- und Gas-förderanlagen am Meeresgrund.

Die Pumpen, Verdichter und Kompresso-ren sollen von der Siemens-Technologieunter Strom gesetzt werden. Die einzelnenNetz-Bauteile müssen bis dahin beweisen,dass sie den extremen Bedingungen in Tiefenvon 3.000 Metern und mehr standhaltenkönnen. Eine enorme Herausforderung, dennbislang gibt es hierzu keine Erfahrungen – in

der ewigen Dunkelheit lastet auf jedem Qua-dratzentimeter ein Druck von 300 Kilo-gramm. „Transformatoren, Frequenzumrich-ter und Schaltanlagen müssen in dieser Um-gebung einwandfrei funktionieren, und dasüber einen Zeitraum von 30 Jahren, weil siedort unten schlecht gewartet werden kön-nen“, betont Lystad. „Denn nur wenn derStrom absolut zuverlässig fließt, kann manheutige Bohrinseln quasi auf den Meeres-grund verlegen.“

Solche autarken Tiefsee-Fabriken mit ei-gener Stromversorgung gibt es bislang nicht.Zwar arbeiten schon heute einige Anlagen di-rekt am Meeresboden, die Systeme hängenaber alle am „Tropf“ einer schwimmendenPlattform und müssen über Dutzende Kabelmit Energie versorgt werden. Auch die Verar-beitung der geförderten Rohstoffe geschiehtnach wie vor an der Oberfläche. Diese „Sub-sea-Technologie“ funktioniert nur in seichtenGewässern und ist aufwändig und teuer. DerGroßteil der heutigen Öl- und Gasförderungspiele sich daher noch auf klassischen Bohr-inseln ab, sagt Lystad, nur eine Minderheitam Meeresboden. Doch in Zukunft wird sichdieses Verhältnis umkehren, glaubt er. „DerTrend geht zu bislang unerschlossenen Lager-stätten in der Tiefsee und Arktis, die man mitherkömmlicher Technik nur schwer erreichenkann.“

Autarke Tiefsee-Fabriken. Gerade hierwür den autarke Unterwasser-Fabriken Sinnmachen. „Die Bedingungen am Meeresgrundsind, anders als an der Oberfläche, zwar ex-trem, aber stabil – konstante Temperaturenum die vier Grad Celsius, keine Stürme undkeine Eisberge“, erklärt er. „Die Anlagen in derTiefe sind daher viel weniger anfällig undzudem kostengünstiger.“ Die einzige Verbin-dung zur Oberfläche wäre ein Stromkabelund eine Pipeline, die je nach Entfernung zurKüste auch direkt an Land führen könnten.Mit einer tiefseetauglichen Stromversorgungließe sich die Produktionskapazität einer La-gerstätte erhöhen – etwa weil damit mehrPumpen konstant betrieben werden könnenals heute. „Mit der neuen Technik könntenwir rund 60 Prozent eines Reservoirs ausbeu-ten. Mit derzeitigen Subsea-Systemen sind al-

Forschung für den UntergrundIn Trondheim untersuchen Siemens-Forscher in einem weltweit einmaligenLabor, wie sich die Komponenten eines Stromnetzes unter extremem Wasserdruck verhalten. Das System soll künftig große Öl- und Gasfabrikenmit Energie versorgen – am Meeresgrund in 3.000 Meter Tiefe.

Die Zukunft von Öl & Gas Subsea-Technologie

Page 12: PoF: Best of Spring 2015

23

LNG gibt GasDie Produktion von Flüssiggas boomt. Etwa ein Dutzend neuer Anlagen, die viele Milliarden Euro kosten, sind weltweit in Planung. Siemens ist so gut wie an allen neuen Projekten beteiligt.

W eithin sichtbar ragt ein 40 Meterhoher, schlanker Industriebau inden Himmel. Im Inneren: eine rie-

sige Cold-Box, ein hoch komplexer Wärme-tauscher, ähnlich wie ein überdimensionalerKühlschrank. Sie ist das technologische Herz-stück einer Anlage zur Verflüssigung von Erd-gas (Liquefied Natural Gas, LNG). In diesemTurm kühlen hintereinander gestaffelte Kühl-kreisläufe das Erdgas auf minus 160 Grad Cel-sius herunter: Bei dieser Temperatur wird aus

dem Gas eine Flüssigkeit. Dabei wird es zuTransportzwecken auf sechs Hundertstel sei-nes natürlichen Volumens reduziert.

Rund um die Cold-Box gruppieren sichweitere technische Komponenten wie Kom-pressoren, Gasturbinen, Transformatoren,manchmal sogar ein ganzes Kraftwerk. Einemittelgroße LNG-Anlage nimmt die Flächemehrerer Fußballfelder ein. Trotzdem habendie wenigsten Menschen so einen industriel-len Komplex jemals gesehen: Die allermeis-

ten LNG-Anlagen stehen an der Küste, meistabseits jeglicher Zivilisation. Das Gas gelangtüber Pipelines zur LNG-Anlage, wird dort ver-flüssigt und auf Schiffe verladen.

Wer eine Anlage zur Verflüssigung vonErdgas plant, braucht einen langen Atem unddie Bereitschaft, sehr viel Geld zu investieren:„Von den ersten Probebohrungen bis zur In-betriebnahme vergehen meist zehn bis 15Jahre“, erklärt Jörg Drüen, bei Siemens Powerand Gas im Vertrieb der GeschäftseinheitCompressors verantwortlich für strategischeProjekte. Die Kosten sind enorm: Für eine An-lage im mittleren Größenbereich mit einerJahresproduktion von fünf Millionen TonnenLNG rechnet man mit fünf Milliarden Euro anInvestitionen. Trotzdem gibt es derzeit einenBoom von LNG, der etwa ab 2005 begann.Seit damals habe sich, so eine Studie desOxford Institute of Energy von 2014, LNG voneiner „Nischen-Versorgungsquelle“ zu einemder wichtigsten fossilen Energieträger ent-

Die Zukunft von Öl & Gas Gasverflüssigungsanlagen

22 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

lenfalls 40 Prozent möglich“, sagt Lystad. Im„Folterzentrum“ liegt ein leichtes Dröhnen inder Luft. Kabel und Steckverbindungen lie-gen sauber geordnet auf dem Boden. Erst seiteinem Jahr arbeiten die Wissenschaftler hier,zuvor war das nagelneue „Pressure Test Lab“eine Fabrik für elektrische Heizungen. JanErik Lystad hat sich eine Schutzbrille auf dieNase geschoben und trottet gemächlichdurch die Halle. Neben ihm reihen sich 19Kammern aus Stahlbeton. Jede der kleinenZellen ist von einer blauen Metalltür ver-schlossen, davor hängt ein Laptop mit Zah-lenreihen und Diagrammen. Eine der Türensteht offen: In der Mitte des Raums befindetsich ein silberner Zylinder. Aus den Enden derrund zwei Meter langen Röhre ragen mehrereKabel heraus. „Das sind unsere Druckbehäl-ter“, sagt Lystad und klopft gegen den Zylin-der. „150 Kilogramm massives Metall. Ins

Druck aushalten und unter diesen Verhältnis-sen noch funktionieren, sondern auch, ob sieüber 20 Jahre hinweg verschleißen. Für denHaltbarkeitstest versehen sie den Zylinder miteiner Heizschleife, die konstant 95 Grad Cel-sius liefert – damit soll der Alterungsprozesssimuliert werden. Am Ende der Tortur be-freien die Experten die Komponenten ausdem Druckbehälter und reinigen sie vom Öl,das gefiltert und wiederverwendet wird.„Nun folgt die mechanische Inspektion“, sagtLystad. „Wir nehmen die Bauteile auseinan-der und suchen nach feinen Rissen oder Ver-

schwere Schaltanlage haben Lystad und seinTeam montiert; in der Halle neben demDruck-Labor steht der Koloss wie ein U-Bootim Trockendock. Bis Ende 2015 soll der Fre-quenzumrichter, der die Ölpumpen oder Gas-verdichter mit der richtigen Betriebsspan-nung versorgt, das Licht der Welt erblicken –das Ungetüm wird rund 120 Tonnen auf dieWaage bringen. „Danach kombinieren wir alledrei zu einem Netzwerk und machen den fi-nalen Test“, freut sich Lystad. Dabei werdendie Systeme das erste Mal in die ewige Dun-kelheit hinuntergelassen.

Innere kommen Bauteile, die getestet werdensollen. Danach füllen wir die Röhre mit Öl,versiegeln sie und fahren den Druck auf biszu 460 Bar hoch.“

Das Öl, so der Forscher, soll den enormenDruck verteilen. „Später, bevor es richtig in dieTiefe geht, wird das komplette Gehäuse derNetz-Komponente damit gefüllt. So könnenwir es viel kompakter halten als herkömmlicheluftgefüllte Container. Zudem brauchen wirkeine aufwändigen Kühlsysteme – das Öl leitetauch die Wärme ab.“ Lystad durchmisst dieKammer mit drei Schritten. „Die Zelle um denZylinder herum ist oben offen und dient als Si-cherheitsbarriere. Falls bei den Drucktestsetwa schiefgeht, kann die Energie nach obenentweichen, und die Splitter fliegen gegen dieInnenwände.“

Bis zu sechs Monate werden Transistoren,Steckverbindungen und andere Bauteile inder Röhre im Dauerbetrieb „gequält“. Dabeiprüfen die Ingenieure nicht nur, ob sie den

formungen.“ Erst wenn die geübten Augender Prüfer keinen Makel feststellen, gilt dieTechnik als tiefseetauglich. Doch das, so derSiemens-Forscher, sei nicht immer die Regel.„Es ist eine Herausforderung, Bauteile zu fin-den, die solche Extrem-Bedingungen aushal-ten – denn kein Komponenten-Hersteller hatspeziell für diese Tiefe ausgelegte Produkte.Wir betreten hier also ständig Neuland.“

Reise in die ewige Dunkelheit. Wenn alleBauteile die Tests bestanden haben, werdensie zu einer Netz-Komponente zusammenge-setzt und fest auf einem Träger verschraubt.Die Plattform ist dabei mit Zinkplatten verse-hen, die Korrosion durch das Salzwasser ver-hindern sollen. Darüber kommt das Gehäuse.Einen ersten Tiefsee-Transformator haben dieIngenieure bereits fertiggestellt. Auch seinerstes Bad im Meer hat der Container schonhinter sich – wenn auch nur testweise, imTrondheimer Hafenbecken. Die 35 Tonnen

Der Siemens-Ingenieur kratzt sich zufrie-den am Bart. „Es fasziniert mich, Dinge he-rauszufinden, von denen die Leute dachten,sie seien unmöglich“, sagt er. Noch glückli-cher macht es ihn, wenn er die Fortschritteseiner jungen Mitarbeiter beobachten kann.„Wir sind hier eine große Familie und arbeiteneng mit der TU Trondheim zusammen. Allemeine Ingenieure haben dort studiert,ebenso wie ich.“ Kontinuität und Fortschrittgelten für Lystad auch außerhalb des Sie-mens-Forschungszentrums am Bratsberg-veien. Auf einer kleinen Insel unweit vonTrondheim hat er eine kleine Farm. Regelmä-ßig geht er dort mit seinen Enkelkindern fi-schen – und denkt dabei stets an seineandere Leidenschaft: die tiefe dunkle See.

Florian Martini

Überwachung und Wartung aus der Ferne (links): Schon heute werden die Komponenten der Zukunft im Hafenbecken von Trondheim getestet.

„Wir nehmen die Bauteile aus-einander und suchen nach feinenRissen oder Verformungen.“

Einblicke in Lystads

„Folterkammer“ in Trondheim:

www.siemens.de/pof/subsea

Die Zukunft von Öl & Gas Subsea-Technologie

Page 13: PoF: Best of Spring 2015

25

Siemens hat bei Anlagen fürBoil-off-Gas einen weltweitenIndustriestandard geschaffen.

Einheit für das Boil-off-Gas stellt, wegen desextrem kalten Gases, mit die größte techno-logische Herausforderung im LNG-Bereichdar“, erklärt Drüen. Siemens entwickelte be-reits 1972 Boil-off-Gas-Kompressoren füreine LNG-Anlage in Brunei und optimiert dieTechnologie bis heute. „Heute sind praktischalle Boil-off-Gas-Anlagen mit Siemens-Tech-nologie ausgestattet, wir haben also einen In-dustrie-Standard geschaffen“, erklärt Drüen.

Nachdem die globalen Energieunterneh-men früher sehr große LNG-Anlagen mitKapazitäten von mehr als zehn Millionen Ton-nen pro Jahr gebaut haben, geht der Trendzu Anlagen im mittleren Bereich: „Einige die-ser sehr großen Anlagen sind weit teurer ge-worden als geplant“, berichtet Drüen.Inzwischen halte man es für wirtschaftlicher,auf einem Betriebsgelände sukzessive meh-rere Verdichterstränge mit geringeren Kapa-zitäten aufzubauen. „Siemens ist zurzeit am

Bau von etwa einem Dutzend Anlagen betei-ligt, vorwiegend in Australien, Indonesienund Malaysia“, sagt Drüen.

Ein Trend sind schwimmende LNG-Anla-gen (Floating LNG, FLNG), die das unter demMeeresgrund geförderte Erdgas direkt aufdem Meer verflüssigen. Damit sparen sich dieBetreiber die teuren Unterwasserpipelines.Die größte, schwimmende Offshore-Anlageist Prelude, die das Unternehmen Royal DutchShell baut, um ab 2015 das gleichnamigeGasfeld vor Australien auszubeuten. Siemensist mit kombinierten Flash/Boil-off-Gas-Kom-pressoren bei dieser Weltpremiere vertreten.Zwei weitere FLNG-Anlagen für den Einsatzauf der Timorsee im Indischen Ozean sindebenfalls im Bau. Katrin Nikolaus

nomist“. Auch in Europa denkt man darübernach. Deshalb suchen die Betreiber der Ex-portanlagen verstärkt nach Möglichkeiten,die Effizienz bestehender Anlagen zu verbes-sern. Geringerer Energieverbrauch ist ein An-satzpunkt: Bei den Verdichtern erreicht mandies, indem man den Gasstrom mittels spe-zieller, einstellbarer Eintrittsleitapparate (InletGuide Valves, IGV) optimal auf die Schaufelnleitet, was den Wirkungsgrad erhöht.

In großen LNG-Anlagen entsteht soge-nanntes Boil-off-Gas, das den Tanks ent-weicht, da es sich trotz Isolierung der Tankserwärmt und verdampft. Auch bei diesenKompressoren lohnt sich der Einsatz vonIGVs. „Wenn die Tanks weit entfernt von derCold-Box stehen, kann es sinnvoll sein, eineeigene Verflüssigungsanlage für das Boil-off-Gas zu bauen, anstatt es hin und her zu trans-portieren und dabei weitere Verluste in Kaufzu nehmen“, sagt Loscha. „Die Kompressor-

Hier werden LNG-Anlagen gebaut, geplant und betrieben

in Betrieb (Zahl in Klammern: Millionen Tonnen LNG pro Jahr)im Baugeplantwichtigste Schiffsrouten für LNG-Transporte

Adgas LNG Plant (VAE)

Oman & Qalhat LNG Plant (Oman)

Marsa El Brega LNG plant (Libyen)

Kenai LNG Plant (Alaska, USA)

Atlantic LNG Plant (Trinidad & Tobago)

Peru LNG Plant (Peru)

EG LNG Plant (Äquatorialguinea)

Nigeria (17,2)

Damietta LNG Plant (Ägypten)

Katar (67,3)

Nordic (Skangass) LNG Plant (Norwegen)

Snøhvit LNG Plant (Norwegen)

Egyptian LNG Plant (Ägypten)

Brunei LNG Plant (Brunei)

Sakhalin LNG Plant (Russland)

Indonesien (15,8)

PNG LNG Plant (Papua-Neuguinea)

Malaysia (20,5)

Australien (17,8)

Angola LNG Plant (Angola)

Yemen LNG Plant (Yemen)

Algeria LNG Plants (Algerien)

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Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Mehr Grafiken zu LNG-Anlagen

und der Marktentwicklung unter:

www.siemens.de/pof/lng

Ein Land unter Spannung

24 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

wickelt. Liegen die auszubeutenden Erdgas-reservoirs in Gebieten, die weiter als etwa2.000 Kilometer von den Verbrauchern ent-fernt sind, rechnet sich die technisch aufwän-dige Verflüssigung von Erdgas. Schiffe undLkws transportieren es zu den Verbrauchs-zentren. Dort wird es wieder in den gasförmi-gen Zustand versetzt und in die nationalenVersorgungsnetze eingespeist.

Bewährte Technologie. Bereits in den1960er-Jahren entwickelte man die Methodezur Verflüssigung des Erdgases zur Markt-reife: Die erste LNG-Exportanlage wurde inAlgerien errichtet und das verflüssigte Gasnach Frankreich und Großbritannien ver-schifft. Seitdem hat sich die Technologie inihren Grundzügen nicht geändert.

Eine LNG-Exportanlage ist ein Monumenttechnologischer Höchstleistung, „an Komple-xität kaum zu überbieten“, erklärt Theodor

Loscha, Experte bei Siemens Compressors fürLNG. Gewaltige Kompressoren treiben dieKühlkreisläufe an, sie bringen es leicht aufüber 150 Tonnen Gewicht.

Die Energie dafür lieferten in den ersten30 Jahren der LNG-Geschichte vorwiegendGasturbinen. Sie haben den Vorteil, dass siedirekt mit dem geförderten Erdgas angetrie-ben werden können und die Anlage somit un-abhängig von der Anbindung an eineStromversorgung ist. Doch große Gasturbinensind unflexibel und können nicht an unter-schiedliche Fördermengen angepasst wer-den, was wenig effizient ist, so Loscha. DieLösung: Turbinen, die sich drehzahlgeregeltbetreiben lassen. Siemens hat solche aero-derivativen Turbinen seit dem Kauf der ent-sprechenden Rolls-Royce-Sparte im Portfolio.

Eine andere Möglichkeit, die Kompresso-ren anzutreiben, sind elektrische Motoren:Diese brauchen natürlich Strom. Siemens

kann deshalb gleich ein ganzes Kraftwerkneben die LNG-Anlage bauen. Dieses erzeugtpermanent Strom und erhöht dadurch dieEffizienz und Verfügbarkeit der Anlage.

Für elektrische LNG-Anlagen ist die ge-samte Netztechnik samt Schaltern, Umrich-tern und den dazugehörigen Automatisie-rungsprogrammen nötig. Vorzeigeprojekt istdie Anlage Snøvhit in Norwegen, die 2008in Betrieb genommen wurde (Bild oben undS.23). Hier setzte Siemens große, drehzahl-geregelte Motoren ein, was bei der Größe derAnlage ein Novum war. Seitdem hat Siemensetwa 40 viel kleinere Anlagen, vorwiegend inChina, mit etwa 0,4 Millionen Tonnen Pro-duktion pro Jahr gebaut, die mit Elektromo-toren angetrieben werden.

Zurzeit steigt die Nachfrage nach LNGkontinuierlich an: In Israel, Singapur und Ma-laysia wurden neue Importterminals gebaut,berichtet das Wirtschaftsmagazin „The Eco-

So funktioniert die elektrisch betriebene LNG-Anlage „Snøhvit“ in Hammerfest.

Tanks für Gas und andere

Kohlenwasserstoffe

Fünf Gasturbinen erzeugen den

Strom für sämt-liche Anlagen auf

dem Gelände.

Das verflüssigte Erdgas wird auf Tanker verladen und in die Ver-

brauchszentren verschifft.

Coldbox, mit 2 Hauptkälte-

kompressoren mit Elektromotoren

von Siemens angetrieben

In diese Rohr-leitungen wird

das Erdgas aus denUnterseepipelines

eingespeist und von Salz, Wasser

und anderen Stoffen gereinigt.

Komplexe Anlagentechnik: Das Erdgas, das unter dem Meeresboden gefördert wird, gelangt über eine

Pipeline zur LNG-Anlage. Zunächst wird es in der Gas-Treatment-Anlage links unten (weiße Rohre) ge-

reinigt und dann in die sogenannte Cold-Box geleitet, wo es verflüssigt wird. Die dazu notwendigen

Kompressoren werden durch große Elektromotoren von Siemens angetrieben. Den Strom dafür liefern

fünf Gasturbinen. Das verflüssigte Gas wird dann in großen Tanks gelagert und schließlich auf Schiffe

verladen. Diese bringen es zu den fernen Verbrauchszentren, wo das Erdgas wieder in gasförmigen

Zustand umgewandelt und ins Versorgungsnetz eingespeist wird.

Die Zukunft von Öl & Gas Gasverflüssigungsanlagen

Page 14: PoF: Best of Spring 2015

26 27Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Eine saftige Wiese, deren Halme undBlüten sich leicht im Wind wiegen. AmHorizont der Rand eines Waldes. Wenig

deutet darauf hin, dass hier, nahe demniederbayerischen Deggendorf, eine neueMethode für die Ölförderung erforscht wird.Zu dem Wenigen zählt ein weißer Containermit türkisfarbenem Siemens-Schriftzug, derin der Mitte der Wiese steht. Ein Pfad ausHolzplanken führt zu ihm, denn der Unter-grund ist mit Wasser gesättigt. Das ist wichtigfür die Technologie, die hier getestet wird.Elektromagnetische Induktionsheizverfahrenkönnten die Förderung von Schweröl erheb-lich verbessern. Eine echte Innovation, dennan dieses Öl ist nicht leicht heranzukommen.Quellen, aus denen Öl vergleichsweise ein-fach zu fördern ist, wurden weltweit schonweitgehend erschlossen. Deshalb werden

Hohe Effizienz, weniger Wasserbedarf und geringere CO2-Emissionen: Elektromagnetische Induktionsverfahren könnten künftig dabei helfen, mehr Öl aus Schwerölfeldern zu fördern – und das auch noch auf umweltfreundlichere Weise.

schwer zugängliche Lagerstätten immerinter essanter für die Öl- und Gasindustrie. Da-runter auch jene, die so genanntes Schwerölenthalten, das zähflüssig und daher schweraus den Gesteinsporen zu befreien ist.

Wärme durch Wirbelströme. Eine Mög-lichkeit, zähflüssiges Öl effektiv zu fördern,besteht darin, heißen Dampf mit hohemDruck in den Boden zu pressen. Beim Dampf-flutverfahren verflüssigt die Hitze des Damp-fes das Öl in den Gesteinsporen, so dass esbesser zur Produktionsbohrung und an dieOberfläche fließen kann.

Eine andere Methode, die gänzlich ohneWasserdampf auskommt, ist das elektromag-netische Heizen oder auch EM Heating, andem Siemens gemeinsam mit dem Erdöl-und Erdgasproduzenten Wintershall Holding

Experten haben weltweit mehrals drei Billionen Barrel schweres Erdöl nachgewiesen.

Tiefe verläuft eine 200 Meter lange Induk-tionsschleife unter der grünen Wiese.

Siemens hat mit der Wintershall HoldingGmbH, dem größten deutschen, internationaltätigen Erdöl- und Erdgasproduzenten, eineForschungskooperation geschlossen, mit demZiel, die Induktion für die Ölförderung ge-meinsam zu testen und im Erfolgsfall bis zurMarktreife zu entwickeln. „Die Induktionsme-thode bietet für die Zukunft durchaus großesPotenzial“, sagt Wintershall-Projektleiter Erich

30 Grad in die Erde ein, bis sie die ge-wünschte Tiefe erreicht hat. Von dort geht eshorizontal weiter und am Wendepunkt derSchlaufe wieder nach oben.

„Um die Ecke bohren geht noch nicht“, er-klärt Koch. Das Induktorkabel taucht also wie-der an der Oberfläche auf und tritt von dortden Rückweg an, erneut „unter dem Flusshindurch“. Im Querschnitt ergibt das einenVerlauf, der der Form eines Kanus ähnelt. Bis-her sind Bohrtiefen von bis zu 400 Meternrealistisch. Die Induktionsmethode bietet sichjedoch auch in Tiefen von mehr als 1000 Me-tern an.

Je nach Eigenschaften der Schweröl-Lagerstätte kann die Induktion in der erstenPhase der Produktion zur Erdölförderung aus-reichen. Damit die Technologie ihr volles Po-tenzial entfaltet, wird sie jedoch meist miteiner anderen Methode kombiniert werden.Bei den sogenannten Hybrid-Verfahren wirddas Dampffluten durch die induktive elektro-magnetische Erwärmung ergänzt.

Im Querschnitt sieht das so aus: DerDampf wird horizontal in eine Lagerstätte in-jiziert. Mit der Zeit wärmt sich der Unter-grund fächerförmig auf. Bereiche zwischenzwei Produktionsbohrungen bleiben jedochaußerhalb der Dampfkammer. Der Entölungs-grad liegt somit bei 40 bis 50 Prozent. In denBereichen jenseits der sich bildenden Dampf-kammer werden Induktionskabel installiert,die ihr direktes Umfeld aufheizen. Im Lauf derZeit kann somit auch das Öl aus jenen Berei-chen verflüssigt und produziert werden, in dieder Dampf nicht vordringt. Der Entölungsgradkann dadurch deutlich gesteigert werden.

Bis zu 20 Prozent mehr Ausbeute. Simu-lationen der Forschung von Siemens undWintershall haben ergeben, dass Reservoirsdamit um bis zu zwei Jahre schneller und –noch wichtiger – innerhalb dieser Zeit deut-lich effizienter ausgebeutet werden können.Zudem muss bei einer Kombination der bei-den Methoden deutlich weniger Dampf perproduziertem Barrel Öl eingebracht und da -mit weniger Wasser verwendet werden.

Mehr noch: Das Hybrid-Verfahren kannnoch umweltfreundlicher werden, nämlichdann, wenn die Energie für die Boden-heizung aus erneuerbaren Quellen stammt.

Sandra Zistl

GmbH arbeitet. Die Technologie hat viel mitdem heimischen Herd gemeinsam: „Sie funk-tioniert wie ein Induktionsherd in der Küche“,sagt Andreas Koch, Projektleiter für das For-schungsfeld EM Heating bei Siemens. EinUmrichter speist Wechselspannung mit einerFrequenz von zehn bis 200 Kilohertz in ein In-duktionskabel ein, das in einer länglichenSchlaufe unter der Erde direkt in der Öllager-stätte installiert ist. Voraussetzung dafür isteine gewisse Leitfähigkeit der Lagerstätte,also ihr Wasseranteil.

So, wie in der Kochplatte eines Indukti-onsherdes durch Wechselstrom ein elektro-magnetisches Feld erzeugt wird, entstehtdieses rund um das Induktionskabel. Das Felderzeugt Wirbelströme. Deren Ohmsche Ver-luste erwärmen direkt die Öllagerstätte. Das

Wirbelströme im Metall: Beim Induktionsherd wird durch Wechsel-

strom ein elektromagnetisches Feld erzeugt, das den Topf erhitzt.

Wirbelströme im Erdreich: Im Ölfeld erhitzt sich der Boden rund um das

Induktorkabel. Das Öl wird dadurch flüssig.

Test im Sandkasten: Bernd Wacker, Forscher der Corporate Technology, hat im Labor nach-

gewiesen, dass sich feuchter Sand durch Induktion erwärmen lässt.

Revolution aus dem Kochtopf

Strom: Beim Kochen mit Induktion bleibt die Herdplatte kühl, die Hitze entsteht direkt im Topf. Durch Kupferspulen unter dem Kochfeld fließt Wechselstrom.

Wärme: Die Wirbelströme heizen das Metall des Topfes auf – und damit auch dessen Inhalt.

Elektromagnetismus: Durch den Stromfluss

entsteht ein wechselndes elektromagnetisches Feld.

Wirbelströme:Dieses Feld erzeugt

Wirbelströme im Boden des Kochtopfes.

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Induktion im Kochtopf: Erhitzung trotz kühlem Herd1 4

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Durch die Induktions-schleife fließt Strom. Sie kann etwa 1000 Meter lang und 100 Meter breit sein.

Durch die Erwärmung wird das Öl in den Gesteinsporen flüssiger und fließt besser zum Bohrloch. Mehr Öl kann gefördert werden.

Das Öl fließt zu einer Produktionsbohrung,die sich auf Höhe der Induktionschleife befindet.

Durch den Wechsel-strom im Induktions-kabel entsteht ein elektromagnetisches Feld.

Das elektromagne-tische Feld erzeugt Wirbelströme. Sie erwärmen die Um-gebung des Kabels –so auch das Gestein, in dem das Öl lagert.

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Induktion im Ölfeld: Erwärmung ohne Dampf

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Öl wird dünnflüssiger und fließt zu einer Pro-duktionsbohrung, die sich unterhalb der In-duktionsschleife befindet. Beim heimischenInduktionsherd wird nicht die Induktions-spule, sondern der Kochtopf erwärmt. Auchim Ölreservoir bleibt der Induktor „kalt“ undnur die Umgebung wird erwärmt. Diese Er-wärmung ist lokal begrenzt und daher an derOberfläche nicht zu spüren.

Das Verfahren wurde von Siemens Corpo-rate Technology (CT) zunächst in einer ArtSandkasten in den Erlanger Forschungslaborsgetestet. CT-Forscher Bernd Wacker hat damitbewiesen, dass sich feuchter Sand alleinedurch elektromagnetische Induktion erwär-men lässt. Die aktuelle Installation untereiner Wiese nahe Deggendorf stellt nun dieerste Phase einer Testfolge dar: eine Feld-forschung im wörtlichen Sinne. In 15 Metern

Leßner. Immerhin haben Experten weltweitmehr als drei Billionen Barrel schweres Erdölnachgewiesen. „Ein großer Teil davon könntemit Induktion gefördert werden.“

Potenzial in oberflächennahen Feldern.Eine entscheidende Herausforderung wirddabei laut Projektleiter Koch darin bestehen,die in Zukunft etwa 1000 Meter langen, ho-rizontalen, schlaufenförmigen Bohrungen inden Boden einzubringen, darin Installations-rohre aus speziellem Kunststoff zu verlegenund in diese entsprechend lange Induktorka-bel einzuziehen.

Dies lässt sich zum Beispiel mit dem soge-nannten „River-Crossing- Drilling“ erreichen:Das ist eine Bohrung, die so verläuft, alswürde sie unter einem Fluss hindurchtau-chen. Sie dringt in einem Winkel von 20 bis

Die Zukunft von Öl & Gas Elektromagnetisches Induktionsverfahren

Page 15: PoF: Best of Spring 2015

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 29Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Zurzeit wandeln sich in vielen Ländern die Energiesysteme. Dezentrale Energieerzeu-

gung, intelligente Stromnetze, unkonventionelle

Quellen und natürlich die erneuerbaren Energien

stehen weit oben auf der Tagesordnung. Doch

trotz des Booms der Erneuerbaren spielen fossile

Rohstoffe weiterhin eine entscheidende Rolle.

So stieg nach Aussage des „BP Statistical Review

of World Energy“ von 2014 der Verbrauch fossiler

Rohstoffe im Jahr 2013 weltweit um 2,3 Prozent.

Zum Vergleich: 2012 waren es noch 1,8 Prozent.

Vier Fünftel des globalen Anstiegs entfielen

dabei auf Schwellenländer. Öl blieb gemäß dem

BP-Bericht mit einem Anteil von knapp einem

Drittel am weltweiten Energieverbrauch der am

häufigsten nachgefragte fossile Rohstoff. Aber

gleichzeitig verlor das „schwarze Gold“ im Jahr

2013 – wie auch in den Jahren zuvor – Markt-

anteile. Seit 1965 war sein Beitrag zum Energie-

bedarf nicht mehr so niedrig. Zugleich gab es

einen Preissturz: Kostete ein Barrel Öl im Juni

2014 noch über 110 US-Dollar, waren es im

Frühjahr 2015 nur noch gut 50. Die Gründe hier-

für sind vielschichtig. So führt beispielsweise eine

lahmende Weltwirtschaft zu einer reduzierten Öl-

nachfrage. Gleichzeitig reduzierten die USA als

wichtiges Nachfrageland die Ölimporte aufgrund

der eigenen boomenden Ölförderung drastisch;

und Saudi-Arabien als weltweit größter Ölexpor-

teur war nicht bereit, weniger Öl zu fördern, um

den Preis zu stabilisieren.

Weltweit auf Erfolgskurs: Erdgas. Bis zum

Jahr 2040 dürfte die weltweite Energienachfrage

gemäß dem „World Energy Outlook“ der Interna-

tionalen Energieagentur (IEA) von 2014 um 37

Prozent zunehmen. Allerdings wird das Wachs-

tum von bisher über zwei Prozent pro Jahr nach

2025 nur noch halb so groß sein. Wurde die welt-

weite Energieversorgung im Jahr 2012 zu knapp

82 Prozent durch fossile Rohstoffe gedeckt, wer-

den dies 2040 immer noch etwa 75 Prozent sein.

Insbesondere die globale Nachfrage nach Erdgas

wächst demnach um mehr als die Hälfte. Das ist

die höchste Wachstumsrate unter den fossilen

Brennstoffen. Auch in den OECD-Staaten wird

Erdgas nach den IEA-Berechnungen bis zum Jahr

2030 zum führenden fossilen Brennstoff, wäh-

rend sich der Anteil der Kohle reduziert und 2035

mit 27 Prozent noch etwa so hoch sein wird wie

der von Erdgas.

Vor allem unkonventionelles Erdgas wird für

fast 60 Prozent des weltweiten Wachstums ver-

antwortlich sein. Hierbei ist Schiefergas nach ei-

ner Analyse des Corporate Information Research

Center (IRC) das am schnellsten wachsende Seg-

Renaissance von Gas und Öl bei gleichzeitigem Boom der Erneuerbaren

ment. In den USA beispielsweise macht es bereits

heute 44 Prozent der gesamten Erdgasproduktion

aus. In den USA ist Energie nicht zuletzt dank der

Fracking-Technologie reichlich vorhanden und

günstiger als in anderen Ländern. Die Experten

der IEA erwarten, dass in den 2020er-Jahren die

durchschnittlichen Kosten für eine Energieeinheit

in den USA sogar noch unter jene Chinas fallen

werden.

Abhängigkeitsrisiko reduzieren. Die Europä-

ische Union deckt nach aktuellen Angaben des

Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) knapp

ein Viertel ihres Erdgasverbrauches mit Importen

aus Russland. Um die Abhängigkeit von Importen

zu verringern, empfiehlt das DIW insbesondere

eine effizientere Nutzung der bestehenden Infra-

struktur sowie den Ausbau von Pipelines und Im-

portkapazitäten für verflüssigtes Erdgas (Lique-

fied Natural Gas – LNG), welches beispielsweise

über Schiffswege importiert werden kann (S.24).

Mit 184 Milliarden Kubikmeter erreichten die

gesamten EU-Importkapazitäten von Flüssiggas

im Jahr 2013 knapp 40 Prozent des EU-Erdgas-

verbrauchs. Weitere Anlagen mit einer Kapazität

von über 30 Milliarden Kubikmetern sind derzeit

noch im Bau.

Ganz anders stellt sich die Situation in den

USA dar: Ab 2016 könnte das Land nach Angaben

des Energieinformationsdienstes der US-Regie-

rung sogar zum Netto-Erdgasexporteur werden.

Die größte Herausforderung hierbei ist jedoch die

fehlende Infrastruktur, um Rohstoffe weiter zu

veredeln und zu exportieren. „Es gibt in den USA

über ein Dutzend Projekte zum Export von Flüs-

siggas, das erste LNG-Terminal dürfte 2016/17

den Betrieb aufnehmen“, sagt Roberto Cominot-

to, Manager des JB Energy Transition Fund.

Gebremste Investitionen in Erneuerbareund Effizienztechnologien. Kritik übt die IEA

an den Subventionen für fossile Energieträger,

die im Jahr 2013 global mit 550 Milliarden US-

Dollar gefördert wurden – mit mehr als dem

Vierfachen der Subventionen für erneuerbare

Energien. Dies behindere laut IEA notwendige In-

vestitionen in erneuerbare Energien ebenso wie

in schwierig zu fördernde Ölvorkommen, eine

umfassende Gas-Logistik sowie neue Kohlekraft-

werke mit CO2-Abtrennung. Bei Fortführung der

heutigen Politik würden die CO2-Emissionen ge-

mäß IEA von 2011 bis 2035 um 20 Prozent stei-

gen – sie wären dann 2035 doppelt so hoch wie

1990. Dies würde weltweit bis 2100 einen durch-

schnittlichen Temperaturanstieg von 3,6 Grad

Celsius bedeuten statt der Zielmarke von zwei

Grad.

Nach Berechnungen des Weltklimarates darf

die Welt bis 2050 insgesamt nur noch 870 bis

1240 Gigatonnen Kohlendioxid ausstoßen. Nur

dann gebe es eine reelle Chance, die Erwärmung

auf zwei Grad zu begrenzen. Demnach müssten

laut einer Analyse der Forscher Christophe McGla-

de und Paul Ekins vom University College London

weltweit 30 Prozent aller Ölreserven, 50 Prozent

aller Gasreserven und sogar 80 Prozent aller Koh-

lereserven ungenutzt im Boden bleiben.

Bis 2040 erreichen Erneuerbare 20 Prozent.

Der Anteil erneuerbarer Energien am globalen

Energieverbrauch wird nach IEA-Angaben bis

2040 knapp ein Fünftel betragen. 2012 waren

dies noch rund 13 Prozent. Im globalen Energie-

mix wird sich der Anteil von Wind und Photo-

voltaik vervierfachen. Das höchste Wachstum

entfällt weltweit auf die Windkraft (34 Prozent),

gefolgt von Wasserkraft (30 Prozent) und Solar-

energie (18 Prozent). In der Europäischen Union

beispielsweise dürfte die Windenergie bis 2040

voraussichtlich etwa 20 Prozent an der gesamten

Stromerzeugung erreichen. Sylvia Trage

28

Unkonventionelle: Boom vor allem in Nordamerika

Que

lle: B

P 20

14

*Bcf/d = Billion Cubic Feet per Day = Milliarden Kubikfuß pro Tag

1995 2015 2035 1995 2015 2035 1995 2015 2035

Nordamerika Europa China

Netto Pipeline-ImportNetto LNG-ImportSchiefergasAndere Unkonventionelle Konventionell

120

100

80

60

40

20

0

-20

Während in Nordamerika die Bedeutung von Schiefergas bis 2035 erheblich

zunehmen wird, hat es dagegen in Europa sowie auch in China keine

bzw. nur eine sehr geringe Bedeutung.

Bcf/d*

1965

18

15

12

9

6

3

0

Que

lle: B

P 20

14

TransportAndereIndustrie

Milliarden Tonnen Öl-Äquivalent

Stromanteil

Hungrige Industrie

Das Wachstum beim weltweiten Energie-

verbrauch wird insbesondere vom Sektor

der Industrie getrieben. Dieser ist für

mehr als die Hälfte des Wachstums von

2012 bis 2035 verantwortlich.

20352000

Weltbank: Rohöl-Preis steigt nach 2015 wieder

Que

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015

2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2025

US-Dollar / Barrel

Nominaler Wert in US-DollarTatsächlicher Preis in US-Dollar

125

100

75

50

25

104,1

96,2

53,2

56,960,8

65,069,4

74,1

103,4

Die Marktexperten der Weltbank gehen davon aus, dass der Ölpreis mit gut 50 US-Dollar

pro Barrel seinen Tiefststand im Jahr 2015 erreicht, bevor er dann wieder ansteigen und

voraussichtlich 2025 wieder das Niveau von 2013 erreichen wird.

Gasnachfrage wächst vor allem in China … … die Produktion hingegen in den USA

800

700

600

500

400

300

200

100

0

Von 2010 bis 2035 wächst die Gasnachfrage in jeder Region. An der Spitze liegen vor allem

China mit 6,6 Prozent pro Jahr und Indien mit 4,2 Prozent pro Jahr.

Entwicklung der Nachfrage 2020 – 2035Entwicklung der Nachfrage 2010 – 20202010

Jährliche Wachstumsrate im Durchschnitt 2010 – 2035

Japan

0.5 %

2.1 % 0.6 %

0.7 % 6.6 %

4.2 %0.7 %

Milliarden Kubikmeter

IndienChinaRusslandEUMittlererOsten

USA

600

500

400

300

200

100

0

90

75

60

45

30

15

0

Bei der Förderung von unkonventionellem Erdgas werden die USA nach Angaben der

Internationalen Energieagentur im Jahr 2035 mit Abstand weltweit führend sein.

Que

lle: I

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012:

E S

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SchiefergasKohleflöz-MethanGas in gering durchlässigemGestein (Tight Gas)

Anteil unkonventionellenGases an der gesamten Produktion (rechte Skala)

Milliarden Kubikmeter Prozent

USA China Kanada Aus-tralien

Indien Russland Argenti-nien

Mexiko Indone-sien

Algerien EU

Die Zukunft von Öl & Gas Fakten und Prognosen

Page 16: PoF: Best of Spring 2015

dung zu investieren: Er wurde von Expertenfür die betreffenden Gasturbinen geschult,und zwar vor Ort in Schweden und in Eng-land, wo die Turbinen gebaut wurden.

Wenn es mal klemmt und Raji den Fehlernicht gleich alleine findet, weiß er sofort,wen er am besten anruft. Den jeweiligen Kol-legen am anderen Ende der Leitung kennt ervon seinen Besuchen meist persönlich.

Für die Siemens-Managerin Idiahi geht esnicht so sehr um Patriotismus, sondern vorallem ums Geschäft: „Wir sparen uns die teu-ren Flüge für unsere britischen Kollegen, aberwir bringen auch Wissen ins Land, das Raji anseine Kollegen weitergibt. Wir trainieren alsonicht nur einen Mitarbeiter, sondern mittel-bar Dutzende“, erklärt sie.

Aufgewachsen ist Idiahi in England, dorthat sie studiert. Statt einen Job in London an-zunehmen, ging sie nach Afrika. Sie wollteihre Karriere in einem Wachstumsmarkt auf-bauen, wie sie sagt: „Ich kann mir derzeit

halb des Meeresbodens fördern. Die Wasser-tiefe an dieser Stelle beträgt 62 Meter. Ausder Ferne sehen die Plattformen wie riesigeInsekten aus, die sich auf dem Wasser nieder-gelassen haben: mit ihren Ablegern und Brü-cken, den verästelten Gerippen aus Metall,die den Strukturen Festigkeit geben.

Gaskraftwerk auf der Plattform. Der Hub-schrauber hat fast aufgesetzt, ganz oben anDeck der Unity, auf dem Dach des Wohntraktsmit seinen 140 Betten und dem Kontroll-raum. Siemens-Mitarbeiter Raji zeigt auf diedrei Schornsteine, die über dem Gewirr anRohrleitungen thronen: Sie gehören zumGaskraftwerk, dessen Turbinen er wartet.Sollten diese ausfallen, müssten, über kurzoder lang, angeschlossene Ölfelder die Pro-duktion stoppen. Viel hängt davon ab, dassRaji sauber arbeitet. Ein kleiner Ruck, derHubschrauber steht. Rajis Arbeitstag beginnt.

„Fast fünf Megawatt Leistung bringt jede

30 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 31Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

„Wir haben drei identischeTurbinen an Bord, damit im-mer mindestens eine läuft.“

Im Stahl-Labyrinth: FSO Unity liegt vor der

Küste Nigerias (linke Seite). Waheed Raji

(oben und mitte) findet sich längst an

Bord zurecht. Sicherheit hat hier höchste

Priorität. Bei Start und Landung von Hub-

schraubern (linke Seite, unten) hält ein

Feuerwehrmann Wache (unten).

M ontagmorgen, 9 Uhr. Waheed RajisAugen sind geschlossen. Sein Kopfsinkt langsam zur Seite. Das mo-

notone Dröhnen der Rotoren und Triebwerkeschläfert ihn jedes Mal ein. Zu oft hat er dieStrecke schon hinter sich gebracht, als dassihn der Blick aus den Fenstern des Hub-schraubers noch überwältigen könnte: Re-genwald, so weit das Auge reicht. Die Sonnespiegelt sich auf der Oberfläche des BonnyRiver, der sich verästelt, bis er im Süden Ni-gerias in den Golf von Guinea mündet.

Waheed Raji öffnet seine Augen erst wie-der, als der Helikopter schon den Anflug aufFSO Unity begonnen hat, seinen Arbeitsplatz.57 Kilometer südlich von Port Harcourt, auf

dem offenen Meer. FSO steht für „floatingstorage and offloading“: ein 300 Meter lan-ger, schwimmender Ölspeicher, der überPipelines am Meeresgrund mit den Ölfeldernder Umgebung verbunden ist. Was immer sieproduzieren, landet im riesigen Bauch vonUnity. Das FSO kann bis zu 2,2 Millionen Bar-rel Öl aufnehmen, das sind fast 350 MillionenLiter. Tankschiffe docken zwei bis drei Mal imMonat an, pumpen die Ladung ab und ver-schiffen sie zu Kunden auf der ganzen Welt.

Der Hubschrauber-Pilot dreht nach linksab und fliegt in einer weiten Kurve um Unityherum, bevor er zur Landung ansetzt. Am Ho-rizont sind die Produktionsplattformen zu er-kennen, die das Öl aus dem Gestein unter-

Nigeria braucht Öl, um vom Öl loszukommen. Mit den Einnahmen aus dem Energiesektor will das Land seine Infrastruktur und neue Industrien aufbauen. Einheimische Ingenieure übernehmen dabei immer komplexere Aufgaben: Siemens-Mitarbeiter Waheed Raji wartet drei Gasturbinen auf offener See.

Der nigerianische Traumder Turbinen“, erklärt er, während er sich inder Umkleide den blauen Arbeitsoverall über-streift und seine eleganten schwarzen Leder-schuhe gegen Sicherheitsstiefel tauscht.„Eine einzige Turbine reicht, um die ganzeAnlage, die Ölpumpen, ja sogar eine Meer-wasserentsalzung zu betreiben. Wir habendrei identische Turbinen an Bord, damitimmer mindestens eine läuft.“

Wenn eine Anlage wie Unity doch einmalausfällt, kommt das den Betreiber teuer zustehen. In den Plattformen ist viel Kapital ge-bunden, die Mannschaft an Bord muss be-zahlt und versorgt werden, die Verträge mitZulieferern laufen weiter. Das geht schnell indie Millionen – jeden Tag. Daher ist die Ver-fügbarkeit der Maschinen besonders wichtig.Für die Wartung der Gasturbinen an Bord vonUnity ist Siemens zuständig. Noch Anfang2014 flog das Unternehmen die Ingenieuredafür aus Großbritannien ein, jeweils für eine28-tägige Schicht. Raji ist der erste Nigeria-ner, der diese Aufgabe übernimmt.

Den Job auf See verdankt Raji auch Mo-dele Idiahi, die für Siemens in der MegacityLagos das Energiegeschäft entwickelt. „Wirmüssen Talente vor Ort in Nigeria erkennenund fördern“, sagt sie. Sie hat sich von An-fang an dafür ausgesprochen, in Rajis Ausbil-

keinen besseren Ort für mich vorstellen: Dienigerianische Wirtschaft wächst rund sechsProzent pro Jahr. Das kann durchaus nochzehn, 15 Jahre so weitergehen – Nigeriawäre dann unter den 20 wichtigsten Wirt-schaftsnationen weltweit“, sagt sie.

Auf dem Weg dahin wird alles gebraucht:Straßen, Bahnlinien, Baumaterial, Nahrungs-mittel, Elektronik. Vor allem aber: Energie.600 Millionen Afrikaner leben ohne Stroman-schluss, rund 70 Prozent der Bevölkerung. Allein Nigeria hat 170 Millionen Einwohner –mit enormen Wachstumsraten: Bis 2050 sollnach UN-Schätzungen die Einwohnerzahl auf440 Millionen steigen. Das Land ist achtgröß-ter Ölproduzent der Welt, hat aber nur eineStromerzeugungs-Kapazität von rund 4,5 Gi-gawatt – zum Vergleich: In Deutschland sindderzeit Kraftwerke mit 194 Gigawatt Leistunginstalliert. Kein Wunder, dass in Nigeriaimmer wieder die Lichter ausgehen.

Um pro Kopf die gleiche Kapazität bereit-zustellen wie beispielsweise Südafrika,müsste Nigeria seine Kraftwerkskapazität aufdas Vierzigfache steigern. Und selbst danngäbe es noch Stromausfälle. Ein einzelnesneues Kraftwerk wie etwa Geregu 2, rund200 km südlich der Hauptstadt Abuja, ist daein Tropfen auf den heißen Stein. Es läuft seit

Die Zukunft von Öl & Gas Nigeria

Page 17: PoF: Best of Spring 2015

32 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 33Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

sage bestätigen. Doch Rukayat sieht auch dieMammutaufgaben, die Nigeria bewältigenmuss: „In den nächsten zehn Jahren muss dasLand seine Infrastruktur massiv ausbauen: Wirbrauchen Straßen, sauberes Wasser, Elektrizi-tät“, sagt sie. „Aber vor allem: Bildung.“ Ihrezwei älteren Töchter wollen beide Ärztinnenwerden, „um Malaria zu heilen“. Der Bruderder beiden hat auch einen Traumberuf: „Ichmöchte Ingenieur werden, wie mein Vater.“

Gemeinsam mit Rajis Kindern träumt einganzes Land: von mehr Chancen und weni-ger Korruption. Von Bildung, die bezahlbarist. Von sicheren Straßen. Von lebenswertenStädten. Die Abhängigkeit vom Öl muss Ni-geria dafür langfristig überwinden. Den fal-lenden Ölpreis sehen deshalb manche alsMahnung. Andererseits erlauben die Einnah-men, in Infrastruktur zu investieren und neueIndustrien aufzubauen. Nigeria braucht dasÖl, um vom Öl loszukommen.

2012 mit Turbinen und Generatoren vonSiemens. Die elektrische Leistung beträgt434 MW. Das Land bräuchte fast 400 solcherKraftwerke, um die Stromversorgungslückezu schließen. Und es fehlt nicht nur an Kraft-werken, sondern auch an Raffinerien. Öl undGas machen 95 Prozent der Exporte aus,doch oft wird das Rohöl ausgeführt, im Aus-land zu Benzin verarbeitet, und dann veredeltwieder ins Land gebracht. Knatternde Diesel-generatoren überall im Land überbrücken dieStromausfälle. 60 Prozent der Nigerianerhaben überhaupt keinen Anschluss ans Netz.

Wo nichts ist, ist der Bedarf groß. DerAufbau der Infrastruktur des Landes ist eineRiesenchance – nicht nur für Raji und Idiahi,sondern für Millionen ihrer Landsleute. Es hatsich eine wachsende Mittelschicht herausge-bildet, die sich vieles zum ersten Mal leistenkann. Raji beispielsweise profitiert von denerheblichen Zuschlägen für die Arbeit „off-shore“, also auf See. Vor kurzem konnte er

drehen und wenden, um in der Enge seinegeübten Handgriffe ausführen zu können.

Es ist sinnvoll, die Wartung der Turbinenan Siemens zu vergeben: Mit derart komple-xen Maschinen kennt sich der Hersteller oftam besten aus. Und sollte wegen eines War-tungsfehlers etwas schiefgehen, könnteschlimmstenfalls die Produktion angeschlos-sener Ölfelder zum Stillstand kommen. Ent-sprechend gut bezahlt sind solche Service-leistungen in der Öl- und Gasindustrie.

Technologie von Siemens kommt aufUnity auch beim Brandschutz zum Einsatzund in den Kabinen der Mannschaft. Mit Sie-mens-Thermostaten kann die Besatzung dieKlimaanlage auf angenehme Temperaturenregeln, wenn sie sich zur Ruhe legt. WaheedRajis Gedanken schweifen dann oft zur Fami-lie. „Ich denke an unser Haus, an meine Frau,vor allem an die Kinder. Wichtiger als alles,was ich meinen Kindern kaufen kann, ist die

sich mit seiner Frau sogar eine Pilgerreisenach Mekka, zur Hadsch, leisten.

Die Zulagen in der Ölindustrie sollen fürdie kleinen und großen Entbehrungen ent-schädigen. Die Familie ist weit weg, dieSchichten sind lang, viele Arbeiter – auch Raji– teilen sich ihre Kabine an Bord mit Frem-den. Wer gerne ein Feierabendbier trinkt,wird enttäuscht: Alkohol ist auf der FSO Unityverboten. Arbeitsplätze auf See zählen zu dengefährlichsten der Welt: „Ich verbringe denganzen Tag auf einem Riesen-Fass vollerbrennbarem Material“, sagt Raji. „Ich habe vorvielen Jahren sogar auf einer Offshore-An-lage gearbeitet, die Ziel von Piraten war.“

An der Reling der FSO Unity ist aus diesem

Grund Stacheldraht angebracht. Er soll imFalle einer Piratenattacke die Angreifer brem-sen, sodass die Mannschaft Zeit hat, sich ineinem schusssicheren Raum zu verbarrikadie-ren. Noch vor wenigen Jahren waren Piratenvor allem in den Gewässern um Somalia, inOstafrika, ein Problem. Heute gilt der Golfvon Guinea als gefährlicher: Fast ein Fünftelaller Piraten-Angriffe findet laut dem Interna-tional Maritime Bureau hier statt.

„Die statistisch größten Risiken an Borderscheinen dagegen auf den ersten Blick un-spektakulär: Stolpern, Ausrutschen, Unacht-samkeit“, sagt Waheed Raji und setzt seinenHelm und die Schutzbrille auf. Er öffnet dieTür zum Deck, eine salzige Meeresbrise weht

ihm ins Gesicht. Er befindet sich jetzt im Ar-beitsbereich, hier darf er sich nur mit schrift-licher Genehmigung aufhalten, mit einemsogenannten „work permit“. Solche Permitsbestimmen den Arbeitsalltag an Bord. „Nopermit, no job“, heißt es. „Keine Arbeits-genehmigung, keine Arbeit.“

Raji steigt stählerne Treppen nach unten,wandert durch das Labyrinth aus Rohrleitun-gen und Steigleitern, arbeitet sich zu den dreiTurbinenhäuschen vor, Ohrstöpsel schützenvor dem betäubenden Lärm. Er öffnet die Türdes mittleren Häuschens, im Inneren ist esdunkel, heiß und stickig. Diese Turbine ist ge-rade abgeschaltet – eine der anderen beidenversorgt das FSO mit Strom. Raji muss sich

„Unsere Kinder werden inNigeria leben wollen, stattauszuwandern.“

Ausbildung, die wir uns für sie leisten“, sagter. Rund 300.000 Naira im Jahr (1.400 Euro)kostet ihn die Privatschule für die zehnjährigeRahamatalah, das älteste der Kinder.

Solide Häuser aus Beton. Die Rajis ha-ben ihr Haus in Rukpokwu Town gebaut,einem Vorort von Port Harcourt. Die Haupt-straße ist ein buntes Durcheinander: UnterBananenbäumen hängt Wäsche zum Trock-nen, Plastikstühle stehen vor Holzhütten, Kin-der bieten sich als Schuhputzer an, Hühnerpicken im Abfall am Rand der verschlammtenStraße, die von Schlaglöchern übersät ist. Im-provisierte Läden in Bretterverschlägen bie-ten allerlei für den Haushalt, etwa eine win-zige Packung Seife für 20 Naira, rund neunEuro-Cent. In der Gegend entstanden in denletzten Jahren immer mehr solide gebauteHäuser aus Beton, so wie das Haus der Rajis.

Rukayat, seine Frau, passt dort auf die Kin-der auf. Sie betreibt nebenbei einen Zement-laden. In ein paar Jahren möchte sie aufGroßhandel umsteigen, wenn das nötigeStartkapital beisammen ist, und die Kinderetwas größer sind. „Bisher ist es jedes Jahr einStück aufwärts gegangen“, sagt sie. „Und ichglaube fest, dass es so weitergehen wird.“

Mit diesem Optimismus ist sie nicht allein:Die Mehrheit aller Afrikaner würde diese Aus-

Prof. Chinedu Nebo, nigerianischer Ener-gieminister, sagt: „Wir brauchen viel mehrWaheeds, wir brauchen Tausende wie ihn. In50 Jahren wird Nigeria eine der wichtigstenWirtschaftsmächte der Welt sein. Unsere Kin-der werden hier leben wollen, statt auszu-wandern.“ Er beschreibt den nigerianischenTraum. Wird er in Erfüllung gehen oder wieeine Seifenblase platzen?

Waheed Raji hat sein Tagwerk vollbracht.Er rückt den Helm zurecht, Wasser prasselt insein Gesicht. Unwetter sind aufgezogen. Undes gibt schlechte Nachrichten: Der Rückflugmit dem Helikopter verspätet sich, Raji wird –anders als geplant – die Nacht auf der FSOUnity verbringen müssen. „Mehr Zeit mit derTurbine. Weniger Zeit mit der Familie“, sagter. Um die Stunden zu füllen, wird er in seinerKabine die Wartungspläne durchgehen.

Langsam legt sich der Abend über denGolf von Guinea. Als Raji aus dem kleinenFenster der Kabine schaut, hat es aufgehörtzu regnen. Die Gasflammen der Produktions-plattformen leuchten in der Ferne wie magi-sche Fackeln über dem Meer.

Andreas Kleinschmidt

Hoffnung auf ein besseres Leben: Für Waheed

Raji und seine Familie (linke Seite) hat die

Hoffnung sich erfüllt. Sie leben in Rukpokwu

Town bei Port Harcourt. Raji konnte dort ein

geräumiges Haus bauen. Nur mit der Infra-

struktur – und vor allem der öffentlichen

Straße – ist er noch nicht zufrieden (oben).

Modele Idiahi: Zog von London nach Lagos. Strom für alle: Hoffnung vieler Nigerianer. Rohrgewirr: FSO Unity fasst 2,2 Mio. Barrel Öl. Handys gehören in Lagos längst zum Alltag.

Video-Reportage in der PoF Digital:

Offshore-Förderung in Nigeria.

www.siemens.de/pof/nigeria

Die Zukunft von Öl & Gas Nigeria

Page 18: PoF: Best of Spring 2015

sich der Abteilungsleiter Kurven anzeigenlassen, die ihm punktuelle Informationen inEchtzeit zu konkreten Deichabschnitten lie-fern oder zeitliche Verläufe automatisch ineiner Grafik zusammenführen. „Die Datensind im System, sie können beliebig kom-biniert werden“, erläutert der Vater des Sys-tems, Bernhard Lang.

Erhoben werden sie von Sensoren, dieetwa alle 100 Meter im Deich versenkt undüber und unter der Oberfläche von Wasser-läufen installiert werden. Sie messen dieTemperatur, den Druck und die Feuchtigkeitim Deich, Wasserstand und Wassertempera-tur im Kanal, und sind mit Komunikationsein-heiten verbunden: Kleine Kästchen, die miteiner SIM-Karte ausgestattet sind. Von dort

monitoring zählt also zu den Standardaufga-ben. Doch noch nie war es so exakt.

Echtzeitdaten im Minutentakt. „Je nachMaterial der Deiche wurden diese bisher allefünf bis 30 Jahre gewartet“, erzählt Jansen.Wie der Deich aufgebaut ist, welche Bereicheaus Sand, Lehm, Torf oder Erde bestehen, istaus Plänen ersichtlich. Wie es um ihre Stabili-tät bestellt ist, musste in regelmäßigen Inter-vallen gemessen werden. „Das sah so aus,dass eben alle paar Jahre ein paar Expertenhinausfuhren, sich umsahen und ihre Mess-geräte im Boden versenkten“, erzählt Jansenin saloppem Ton. Die Ergebnisse muss derBetreiber der Provinz melden. „Wir sind dafürverantwortlich, dass die Deiche stabil sind.“

34 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 35Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Beispiel Niederlande: Rund 60 Prozent des Landes sinddurch Hochwasser gefährdet.

Es bewegt sich etwas am Deich. Gras-flecken lösen sich von der Außenwanddes Bauwerks und rutschen ab. Dann

hebt sich der Lehm darunter. Für ein paar Se-kunden sieht es so aus, als werde der Wallvon innen aufgeblasen und dehne sich auswie ein Luftballon. Dann ist der Druck so stark,dass der Lehm nachgibt. Ein tiefer Riss ent-steht, und durch die Kerbe ergießt sich einSchwall brauner Brühe in die Wiese. Ein Con-tainer, der oben auf dem Damm stand, hängtnun, seines Untergrundes beraubt, schräg inden Riss hinein. Ein Bild der Zerstörung.

Deichbruch auf dem Tablet-Computer.Auf Bernhard Langs Gesicht breitet sich einzufriedenes Lächeln aus. Das Experiment ist

Digitalisierung & Software Digitale Assistenten | Deichmonitoring

Echtzeitüberwachung kritischer Infrastruktur – lernende Systeme mit einer intelligenten Daten-auswertung machen dies möglich. Ein neues Früh-warnsystem weiß, was die Deiche im Innersten zusammenhält. Damit si-chert es Menschenleben.

Der Natur voraus: Bernhard Lang (mit Helm)

hat das Deichmonitoring federführend ent-

wickelt. Nun wurde es in Amsterdam bei

einem Pilotkunden installiert.

Sicheres Leben dank smarter Deiche

geglückt. Langs Frühwarnsystem zum Schutzvor Hochwasser, dessen Entwicklung der Sie-mens-Ingenieur vier Jahre zuvor gemeinsammit Forschern in Russland begonnen hatte,funktioniert. Er hat seine Idee, „etwas zu ent-wickeln zum Hochwasserschutz“, zur Produkt-reife gebracht: zum Deichmonitoring.

Auf den Meter genau hat das ausgeklügel-te System im Experiment vorausberechnet, anwelcher Stelle der Wall brechen würde – undsogar wie: Ein visueller Querschnitt durch denDeich, den Lang auf seinem Tablet-Computeraufgerufen hatte, hatte sich bereits Tage vor-her an einer Stelle leuchtend rot eingefärbt.Rot bedeutet: Hier wird das Material wegrut-schen. Und genau so war es dann auch, zumprognostizierten Zeitpunkt.

Industrie vor Hochwasser schützen – amMeer ebenso wie an Flüssen, die über die Ufertreten. Und dieses Problem wird dringender,wenn, durch den Klimawandel bedingt, ex-treme Wettersituationen noch öfter auftreten.

So entfielen nach Angaben des Rückver-sicherers Munich Re im Jahr 2013 rund 37Prozent der weltweiten Schäden aus Natur-katastrophen auf Überschwemmungen. Dasist deutlich mehr als der Durchschnitt seit1980, der bei 22 Prozent liegt. Besondershart hat es immer wieder die Niederlande ge-troffen. Mehr als ein Viertel des Landes liegttiefer als der Meeresspiegel, 60 Prozent sindlatent durch Hochwasser gefährdet.

„Ich frage mich auch manchmal, wiesowir Niederländer in der Vergangenheit alles,

In diesem Fall haben die Forscher gelas-sen dabei zugesehen, wie sich winzige Risseim Deich allmählich zu einer Sollbruchstelleformten. Sie haben es sogar provoziert, indemsie den Test-Deich von mehreren Seiten mitWasser in Bedrängnis brachten. In der Realitäthätten sie jedoch schon Wochen oder Mona-te vorher sagen können: Genau hier könntees kritisch werden, hier muss der Deich ver-stärkt oder neu gebaut werden.

Voraussehen, wann die Bollwerke brechen,die der Mensch zum Schutz seiner selbst undseiner Infrastruktur errichtet hat, das ist einuraltes Ziel. So alt wie die ältesten Dämmeund Deiche. Und es wird immer wichtiger.Über zwei Drittel der Städte in Europa müs-sen sich heute regelmäßig damit auseinan-dersetzen, wie sie ihre Bewohner und ihre

was wichtig ist, unter Meereshöhe gebauthaben“, scherzt Peter Jansen, Abteilungsleiterbei Waternet Amsterdam, dem Pilotkundendes Siemens-Deichmonitoring. Waternet istverantwortlich für mehr als 1000 Deichkilo-meter im Großraum Amsterdam. Auf den 700Quadratkilometern Land dahinter leben mehrals eine Million Menschen. Waternet küm-mert sich im Auftrag der regionalen Wasser-behörde um deren Trink- und Abwasser – undum den Schutz vor Hochwasser. Das Deich-

Heute erhält Jansen diese Informationenstündlich, auf sein Smartphone. Sollten dieübermittelten Daten Grund zur Sorge geben,kann er die Frequenz sogar auf einen Minuten-takt erhöhen. Von 30 Jahren zu 60 Sekunden?Nicht ganz. Bisher sind es genau fünf Deich-kilometer des Ringdijks in Amsterdam, indenen das von Bernhard Lang und seinenKollegen der Siemens Corporate Technologyentwickelte Frühwarn- und Monitoring-Sys-tem zum Einsatz kommt. Auf Wunsch kann

Page 19: PoF: Best of Spring 2015

36 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

werden die Zahlen via GPRS-Mobilfunk ineine Zentrale in Karlsruhe übertragen. Dortverwandeln sich die zunächst wenig spekta-kulären Messergebnisse von puren Daten zusmarten Daten, die sich auf jedes mobile End-gerät senden lassen.

14 Grad Innentemperatur im Deich? Dannstimmt vielleicht etwas nicht. Denn das Grund-wasser – und somit auch das Deichinnere –hat um die acht Grad. Es ist also wärmeresWasser von außen eingedrungen. Doch bevordas System eine Alarmmeldung auslöst,gleicht es die Echtzeitdaten mit dem Wissenab, das ihm vorher antrainiert wurde: Wiehoch ist der Grundwasserpegel? Wieviel Nie-derschlag fällt normalerweise zu dieser Jah-reszeit an dieser Stelle? Herrschte zuvor eineTrockenperiode, kann der Deich also Wasseraufnehmen oder ist er schon gesättigt?

„Der Deich lebt“, erklärt Lang, „er dehntsich aus und sackt zusammen. Dass Wassereindringt, muss noch nicht bedeuten, dassGefahr besteht.“ Deshalb ist auch wichtig, zuwissen, aus welchem Material er an der kon-kreten Stelle besteht. Denn daraus lässt sichder Hangabrutschfaktor bestimmen. Es isteine Vielzahl an Faktoren, die sich dank aktu-eller Sensordaten, permanent gesammelter

Langzeitdaten eines lernenden Systems undmathematischer Berechnungsmodelle zu ei -nem faszinierenden Ganzen zusammenfügen.

Neuronale Netze für die Prognose. Das istmöglich dank neuronaler Netze, die zwischentypischen Schwankungen und untypischenAbweichungen unterscheiden. Die Software,die dahintersteckt, wurde Ende der 1990er-Jahre in der damaligen Siemens-AbteilungNeuro-Informatik erfunden und seither stetigweiterentwickelt. Heute ist sie in der Lage,die an Schlüsselstellen im Deich gewonnenenErkenntnisse zu extrahieren und zu extra-polieren: also aus dem Bekannten Schlüssezu ziehen für jene Deichabschnitte, in denenkeine Sensoren stecken.

Konkret bedeutet dies, dass der Kunde ingrafisch aufbereiteten Ansichten anhand vonFarbcodes sehen kann, welche Deichab-schnitte bei Hochwasser gefährdet sein könn-ten. Die Siemens-Lösung zeigt auch Szenarien:Was würde passieren, wenn sich an dieserStelle der Wasserstand erhöhen, was, wennan jener der Druck größer werden würde –und wie sehr könnte sich die Situation da-durch verschärfen, dass über den Deich eineStraße führt, auf der Schwerlastverkehr fährt?

Digitalisierung & Software Digitale Assistenten | Deichmonitoring

„Mit diesen Fragestellungen waren wir na-türlich schon immer konfrontiert“, sagt Jan-sen. „Doch bisher waren die Informationen,die wir zur Verfügung hatten, theoretischund ungenau. Jetzt sind sie konkret undexakt.“ Die Unsicherheit darüber, was dieDeiche im Innersten zusammenhält, hat lautJansen in der Vergangenheit dazu geführt,dass Sicherheitsmaßnahmen im großen Stilvorgenommen wurden – und zum Teil über-dimensioniert. „Das war teuer, der Neubaueines Deichkilometers kostet mindestens eineMillion Euro. Und dennoch war es noch nichteinmal sicher. Man wusste einfach zu wenig.“

Jansen rechnet damit, dass Waternet seineInstandhaltungskosten dort, wo die Siemens-Technologie zum Einsatz kommt, um bis zu20 Prozent pro Jahr reduzieren kann – und dasbei zugleich mehr und besseren Informatio-nen. Langfristig möchte er noch mehr Deich-abschnitte mit Sensoren ausstatten. „Wirkönnen das natürlich nicht überall machen,das wäre viel zu teuer. Aber wir könnten Orteauswählen, die exemplarisch sind, und diedort gewonnenen Erkenntnisse extrahieren.Verlässliche, smarte Daten, das ist das Rüst-zeug, mit dem wir Menschenleben schützenkönnen.“ Sandra Zistl

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Weltkarte der Naturkatastrophen im ersten Halbjahr 2014NaturkatastrophenAuswahl bedeutender Schadenereignisse

Wie Deichmonitoring funktioniert

und was es bringt, zeigt eine Grafik:

www.siemens.de/pof/deich

Geophysikalische Ereignisse(Erdbeben, Tsunami, Vulkanausbruch)

Hydrologische Ereignisse(Überschwemmung, Massenbewegung)

Klimatologische Ereignisse(Temperaturextreme, Dürre, Waldbrand)

Meteorologische Ereignisse(Sturm)

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 37

Den Atem eines Menschen auf Krankheiten zu untersuchen ist möglich, aber gar nicht so einfach. Wissenschaftler des New Technology Fields Chemical and Optical Systems bei SiemensCorporate Technology sind aber mittlerweile Spezialisten darin,die Atemluft fachgerecht aufzufangen und ihre Moleküle zu analysieren. Ihr Ziel: Krankheiten wie Lungenkrebs in einem frühen und daher besser behandelbaren Stadium allein an der Zusammensetzung des Atems erkennen zu können.

Das Ziel der Siemens-Spezialisten ist es,einen Sensor zu entwickeln, der in derAtemluft eines Menschen selbststän-

dig Auffälligkeiten entdecken kann, die aufeine Erkrankung hindeuten. In einem erstenSchritt haben die Forscher bereits einenSensor für das Detektieren von Asthma ent-wickelt. Für eine Frühwarnung zum ThemaLungenkrebs gehen die Forscher jetzt einengroßen Schritt weiter: „Hierfür mussten wirerst einmal herausfinden, auf welche Mole-küle der Sensor reagieren muss, um eindeu-tig Lungenkrebs zu diagnostizieren“, erklärtProf. Maximilian Fleischer, der bei SiemensCorporate Technology (CT) die Forschung anSensoren vorantreibt. Fest steht, dass es hierum eine ganze Reihe von Molekülen geht.

Die Siemens-Forscher entwickelten undkonstruierten ein spezielles Gerät, das sie inder Universitätsklinik Erlangen testeten, woLungenkrebs-Patienten verschiedener Stadienbehandelt werden. Vor allem bei dieser Krank-heit wäre eine frühestmögliche Diagnose vonVorteil, da dann die Möglichkeiten zur Be-handlung ungleich besser sind, als wenn derKrebs schon weit fortgeschritten ist.

Analyse Hunderter Moleküle. Das Klinik-personal nahm mit diesem Gerät Atempro-ben von rund 50 Krebs-Patienten, speichertesie in speziellen Röhrchen und schickte sienach München, wo die Siemens-Forscher denAtem in seine Moleküle zerlegten und analy-sierten. Dabei fanden sie Korrelationen zwi-

stoffmonoxid(NO)-Gehalt in seinem Atem zuermitteln. Überschreitet dieser Wert eine be-stimmte Marke, ist der Patient nicht ausrei-chend mit seinen Medikamenten therapiert,und es droht ein Asthmaanfall. Der Sensor istmit einem Mikrochip versehen, der mit einerspeziellen Substanz beschichtet ist, die selek-tiv die zu messenden Moleküle aus der Atem-luft an sich bindet.

Eine Atemprobe beim Arztbesuch. Dochtrotz aller technologischen Fortschritte understen Erfolge: Die Detektion von Krankhei-ten mittels Sensoren steht noch am Anfang.Forscher, Mediziner und Gesundheitsmana-ger setzen große Hoffnung in diese Projekte.Denn wenn solche Sensoren eines Tageszuverlässig für etliche Krankheiten funktio-nieren, könnten sie in Massenproduktion her-gestellt und ohne Belastung des Patientenzum Einsatz kommen – der Patient müsstedann nur eine Atemprobe abgeben, etwabeim Routinecheck bei seinem Hausarzt.Wenn dabei Auffälligkeiten entdeckt werden,erfolgt eine eingehende Diagnose, etwa miteinem Computertomographen. Der Blick inFleischers Labor zeigt deutlich: allzu ferne Zu-kunftsmusik ist das nicht mehr.

Katrin Nikolaus

Krebserkennung: Im Atem lesen

schen der Krankheit und etlichen Molekülen– und zwar mit einem Computerprogramm,das eigens für diesen Zweck entwickelt wurde.Denn jede einzelne Probe auf Hunderte vonMolekülen zu analysieren und die relevantenAusschläge zu dokumentieren, wäre manuellviel zu langwierig gewesen. Bei der Analyseder Atemprobe nutzten die Sensor-Forscherdie Hilfe ihrer CT-Kollegen der Forscher-gruppe Analytics auf dem gleichen Campusin München, die die einzelnen Substanzenund Verunreinigungen identifizierten.

„Mit dieser ganzen Basisarbeit vervollstän-digen wir unser Wissen, welche Moleküle imAtem von Lungenkrebskranken vorkommenund wie aussagekräftig sie sind“, sagt Fleischer.Die Ergebnisse müssen nun in einer Studie mitweitaus mehr Proben validiert wer den, wofürdie CT weitere Forschungskooperationen ein-geht. Das Ziel der Forscher: Die Entwicklungeines Sensors, der allein an der Zusammenset-zung des Atems diagnostizieren kann, ob derPatient Lungenkrebs hat oder nicht.

Nach den grundlegenden Vorarbeiten istdie Realisierung eines solchen Sensors lautFleischer für die Forschergruppe nur nocheine Frage der Zeit – sozusagen „Business asusual“: „Denn schon bei den Arbeiten für denAsthmasensor haben wir viel Erfahrung ge-sammelt und die Entwicklung bis zu einemPrototyp vorangetrieben. Auf diesen Ergeb-nissen können wir hier aufbauen“, erklärt er.

Beim besagten Messgerät für Asthma-kranke muss der Patient pusten, um den Stick-

Blicken Sie ins Labor von Prof. Fleischer!

Der Siemens-Forscher erklärt im Video,

was Atemsensoren leisten können:

www.siemens.de/pof/atemsensorik

Gesundheit & Mensch Sensoren | Krankheiten in der Atemluft detektieren

Page 20: PoF: Best of Spring 2015

Was waren das für Debatten! Seit dem Reak-torunglück Anfang des Jahrhunderts wolltendie Deutschen keine Kernkraftwerke mehr,keine Kohle, wenig Gas. Doch Windräder vorder Haustür wollten sie auch nicht.

„Was ist denn, wieso schüttelst du denKopf?“ Max reißt mich aus meinen Gedanken.„Entschuldige, ich war gerade am Grübeln.Wenn ich sehe, wie sehr du dich über diePflanzen und Tiere hier freust, dann freue ichmich mit dir. Aber ich werde auch immer einbisschen nachdenklich.“ „Wieso?“, fragt Max,während er versucht, so nah an einenSchwalbenschwanz heranzukommen, dassseine Sonnenbrille eine scharfe Makroauf-nahme des schönen Insekts machen kann.Als ich so alt war wie er, gab es diesenSchmetterling noch nicht auf 1.800 Metern.

Katastrophen und die Politik. „Na“, ichsuche nach den richtigen Worten, „weil eslange Zeit aussah, als würdest du diese Land-schaft nicht so erleben können, wie du es ge-rade tust.“ Max blickt mich an und runzelt dieStirn. Ich finde das lustig, wenn er versucht,ein kritisches Erwachsenengesicht aufzuset-zen. „Du redest manchmal so kompliziert“,sagt er, einen latent genervten Ton in derStimme. Wie soll ich ihm erklären, was allespassiert ist? Und was passieren hätte können?

Ich erinnere mich an die Jahre, in denendie erneuerbaren Energien begannen, sichdurchzusetzen. Dass wir nicht ewig Öl undKohle verbrennen und die Atmosphäre mitCO2 vollpumpen konnten, war uns theore-tisch bewusst. Doch erst als auftauender Per-mafrost gefährliches Methan freisetzte, dieGletscher der Alpen, Grönlands und der West-antarktis wegschmolzen und Stürme, Flutenund Dürreperioden immer häufiger und hef-tiger auftraten, rafften sich die Menschenweltweit auf und handelten.

Es war eine sehr ernste Zeit und eine sehrspannende, um in der Politik tätig zu sein. Alsdie ersten Kernkraftwerke in Deutschland ab-geschaltet wurden, stand unter anderem zurDebatte, auch in Süddeutschland massivWindräder aufzustellen. Die „Verspargelungder Landschaft“ war ein Riesenthema. Da-mals waren die Windräder auch noch vielwuchtiger. Nicht so filigrane Anlagen, wie wirsie jetzt in der Ebene unter uns sehen. Lauterwaren sie auch, und ineffizienter. Erst, als ihrStrom deutlich billiger wurde, setzten sie sichendgültig durch.

Ich war zu jener Zeit Ministerin für denAusbau der erneuerbaren Energien und desSuper Grids. Auch ich wollte nicht, dass daskomplette Voralpenland als Naherholungs-gebiet zerstört würde, und vor allem hielt ich

Jedes Mal, wenn ich hier oben stehe,werde ich nachdenklich. Einerseits ge-nieße ich den herrlichen Blick in die

Berge auf der einen und die Weite der Ebeneauf der anderen Seite, atme den Duft der sat-ten Wiesen ein und bin glücklich, mit mei-nem Enkel dort zu sein, wo ich selbst schonals Kind unterwegs war.

Andererseits wird mir dann jedes Mal wie-der bewusst, was alles auf dem Spiel stand.Nicht auszudenken, wenn wir es nicht ge-schafft hätten, unsere Mitbürger davon zuüberzeugen, dass wir unser angenehmesLeben in schöner Landschaft nur dann bei-behalten können, wenn wir eine Stromauto-bahn und einige Windräder in Kauf nehmen.

38 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 39Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Europas lernende StromsystemeEine ehemalige Ministerpräsidentin steht mit ihrem Enkel auf dem Gipfel eines Berges der Voralpen. Sie blicken hinab auf eine Landschaft, die anders aussieht als zu jenen Zeiten, in denen die Politikerin selbst Kind war. Der Grund: Europas Energieversorgung ist intelligent geworden.

Smarte Stromsysteme Szenario 2060

Page 21: PoF: Best of Spring 2015

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es für eine fatale Idee, die Kämme und Gipfelder Alpen mit Windrädern zu pflastern. Oh-nehin tobte diesbezüglich eine heftige De-batte, denn natürlich machten Naturschützerund der Alpenverein mobil gegen diese Maß-nahmen. Also mussten Alternativen her.

Windstrom aus dem Norden. „Weißt du“,sage ich zu Max, „als ich so alt war wie du,sahen die Berge hier genauso aus. Als ich abererwachsen war, sollten hier überall Wind-räder stehen und künstliche Seen als Pump-speicherkraftwerke angelegt werden. Das istnur deshalb nicht passiert, weil schlaue Men-schen all die Sachen erfunden haben, die dusiehst, wenn du hier in die Ebene schaust.Habt ihr in der Schule noch nie darüber ge-sprochen, woher unser Strom kommt?“

„Ach das“, erwidert Max und rollt mit denAugen, „das hab ich grad erst alles lernenmüssen: Dass der Strom bei uns in der Schulevon den Solaranlagen auf dem Dach und ander Fassade kommt. Und wenn keine Sonnescheint, kommt er aus dem Gaskraftwerk dahinten, das mit Wasserstoff befeuert wird.Und der Sprit für Papas Auto kommt aus denDingern, die auf unserem Haus sind. Diefunktionieren ähnlich wie Pflanzen, und amEnde kommt Treibstoff raus.“ „Stimmt. Da hastdu gut aufgepasst“, sage ich, „über künstli-che Photosynthese wird CO2 aus der Luft innützliche chemische Stoffe verwandelt.“

„Und der Strom für die Firma, in der Papaarbeitet, der kommt von ganz weit her.“ Ichnicke. Genau dafür hatte ich mich – dannschon als Ministerpräsidentin – vehementeingesetzt. Dass die Menschen die hoch effi-zienten Stromautobahnen akzeptierten, diedie großen Windparks in Nord- und Ostseemit unserem Alpenvorland verbinden. Die Ak-zeptanz für diese Stromtrassen stieg deutlich,als es finanzierbar wurde, die Stromkabel inlandschaftlich schönen Regionen auch ein-mal unter der Erde zu verlegen, statt sie viaFreileitungen über Land laufen zu lassen.

„Ihr wart doch in den letzten Sommer-ferien an der Nordsee ...“, sage ich zu Max.Seine Augen leuchten und er fällt mir aufge-regt ins Wort: „Das war toll, da sind wir mitFischern rausgefahren. Die haben“, er breitetseine Kinderarme aus, soweit es geht, „ein sogroßes Netz voll Krabben gefangen!“

Ich schmunzele und streiche ihm über denKopf. „Das war bestimmt toll. Der Strom, vondem dir der Papa erzählt hat, kommt vondort. Die Anlagen sind draußen auf demMeer.“

„Von so weit her?“ Max sieht mich ungläu-big an. „Ja, oder sogar aus Solaranlagen inSüdeuropa“, füge ich hinzu.

Auch das europäische Super Grid hatte ichmaßgeblich mit vorangetrieben – in derfesten Überzeugung, dass alle RegionenEuropas nur gewinnen würden, wenn sie dieerneuerbaren Energien dort erzeugten, wosie am meisten Strom liefern, und wenn die-ser dann dorthin transportiert würde, wo ergerade gebraucht wird.

Fahrzeuge als Energiehändler. „Stimmtes, dass die Autos früher mit Öl gefahrensind“, fragt Max, jetzt ganz bei der Sache. Icherzähle ihm, dass der Treibstoff lange Zeitvon noch weiter weg als Norwegen zu unstransportiert wurde, etwa aus den arabischenLändern. Mit seinen neun Jahren kennt er janur Fahrzeuge, die elektrisch fahren, oder mitGas – mit Wasserstoff oder Methan. Für ihnist es auch ganz normal, dass Autos manch-mal sogar Energie ins Netz zurückspeisen.

Schon unglaublich, dass das geklappt hatund wir Europäer tatsächlich ein smartesSuper Grid hinbekommen haben, bei demjede Region genau die erneuerbaren Ener-gien liefert, die für sie von ihren Naturgege-benheiten her am besten passen. Zusammenmit all den kleinen lokalen Energieerzeugern,den leistungsfähigen Energiespeichern, demSchwarm virtueller Kraftwerke und den mo-dernen Gaskraftwerken, deren CO2-Ausstoßin den vergangenen 50 Jahren auf ein abso-lutes Minimum reduziert werden konnte unddie zudem noch Fernwärme liefern, habenwir das große Ziel tatsächlich geschafft: einestabile Energieversorgung ohne Kernkraft-werke und ohne Kohle und Öl.

Der Enkel als lernendes System. „UnserLehrer sagt immer, dass wir in einem ganztollen Ort wohnen würden, weil wir vieleneue Sachen als Erste getestet haben. Undweil es hier schon früh Computer gab, die wis-sen, was passieren wird“, erzählt Max. „Ler-nende Systeme meinst du? Da hat er Recht,dein Lehrer“, sage ich. „Euer Dorf hat als Test-region fungiert. Die Leute haben Biomasse-kraftwerke installiert, und einige Windräderund Stromspeicher. Und natürlich ganz vieleSolaranlagen, die du da unten in der Sonneblitzen siehst. Und sie haben ihre Häuser mitMessgeräten und Sensoren versehen, die siezu schlauen Häusern machen. Mittlerweile istdas überall so. Damals wart ihr die Ersten.“

Max blinzelt und sieht mich spitzbübischan: „Weißt du, Omi, was ich jetzt ganz schlaufände“, fragt er, „wenn wir jetzt runtergehenund uns ein Eis kaufen würden. Ich bin näm-lich auch so ein lernendes Dings und weiß,dass da jetzt grad keine lange Schlange seinwird.“ Sandra Zistl

Smarte Stromsysteme Szenario 2060

Das Gas- und Dampfturbinen(GuD)-Kraftwerk am Standort Lausward im Düsseldorfer

Hafen, das derzeit gebaut wird und 2016 in Betrieb gehen soll, strebt gleich drei Weltrekorde

an: Mit 595 Megawatt wird es die höchste elektrische Leistung liefern, die ein einziger GuD-

Block erzeugt. Sein elektrischer Netto-Wirkungsgrad wird mehr als 61 Prozent betragen und

hier wird es zum ersten Mal gelingen, 300 Megawatt (thermisch) aus einem einzigen Kraft-

werksblock im GuD-Betrieb auszukoppeln. Der Gesamtnutzungsgrad des Brennstoffs Erdgas

steigt damit auf 85 Prozent. Herzstück der GuD-Anlage Lausward Block Fortuna ist die

extrem leistungsfähige Gasturbine SGT5-8000H von Siemens, die weltweit bereits mehr als

40-mal verkauft wurde und auf drei Kontinenten kommerziell zum Einsatz kommt. Hocheffi-

ziente und flexible GuD-Kraftwerke sind

eine ideale Ergänzung zu erneuerbaren

Energien wie Wind und Sonne, deren

Erzeugungsleistungen schwanken.

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 41

Die „Energy Engage Mobile“ Smartphone-App von Siemens erlaubt es Stromkunden in

Colorado, USA, ihren Verbrauch zu managen –

und damit Geld zu sparen. Mit Hilfe der App

lassen sich der aktuelle Energieverbrauch, die

voraussichtliche Monatsrechnung und die Er-

sparnis – oder Mehrkosten – gegenüber dem

Vormonat einsehen.

Das schafft ein Be-

wusstsein für den

persönlichen Energie-

verbrauch. Wenn

Kunden stetig im

Blick haben, wie viel

sie verbrauchen,

sinkt ihr Verbrauch

um ein bis fünf Pro-

zent. „Auch für den

Stromversorger ist

das relevant“, sagt

Farshid Arman

von Siemens.

„Für ihn bedeutet

ein reduzierter

Verbrauch in

dieser Größen-

ordnung eine

signifikante

Entlastung

der Netze.“

Strom sparen –von unterwegs

Kraftwerk mit drei Weltrekorden

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Weil immer mehr Solar- und Windparks Strom in die Netze liefern, steigt die Gefahr,

dass bei einem Kurzschluss die Netztechnik zerstört wird. Dem wollen Siemens-Forscher

vorbeugen, indem sie supraleitende Kurzschluss-Strombegrenzer entwickeln. Diese sind

nicht nur zuverlässig, sondern stabilisieren zudem das Stromnetz. Der Energiebedarf

zur Kühlung einer supraleitenden Sicherung ist dabei nur etwa halb so groß wie die Ver-

luste an einer konventionellen Drosselspule. Im Oktober 2014 startete Siemens ein Ko-

operationsprojekt mit den Stadtwerken Augsburg mit Unterstützung durch das Bayeri-

sche Staatsministerium für Wirtschaft und Medien, Energie und Technologie. Im Rahmen

des Programms „BayINVENT – Innovative Energietechnologien und Energieeffizienz“ soll

bis Ende 2015 ein Prototyp eines supraleitenden Kurzschluss-Strombegrenzers gebaut

werden. Dieser soll zwischen dem Netz der Stadtwerke Augsburg und dem Werk der Firma

MTU onsite energy (MTU) installiert werden, einem Hersteller von Blockheizkraftwerken.

Eiskalter Kurzschlusswächter

Weitere Details zum Weltrekord-

Kraftwerk liefert die PoF Digital:

www.siemens.de/pof/lausward

Siemens untersucht neue Konzepte, um

Energiesysteme mit dezentraler und schwan-

kender Stromerzeugung wirtschaftlich und

technisch optimal zu betreiben. Das dreijährige

Forschungsprojekt IREN2 schließt an das Projekt

IRENE an. Dabei wurde in Wildpoldsried im All-

gäu ein Smart Grid eingerichtet. Hier erproben

die Projektpartner nun unter anderem, wie in-

telligente Untereinheiten des Energiesystems

mit dezentraler Erzeugung die Versorgung sta-

bilisieren können. Außerdem wird untersucht,

wie man mehrere kleine Energieerzeuger und

eventuell Batteriespeicher so zu einem soge-

nannten topologischen Kraftwerk kombiniert,

Mikronetz mitgroßen Plänen

dass sie einen ähnlichen Beitrag zur System-

stabilität leisten können wie ein konventionel-

les großes Kraftwerk. Wildpoldsried erzeugt

zeitweise deutlich mehr Energie, als benötigt

wird, denn viele Bewohner betreiben Solar- oder

Biogasanlagen, Windräder und Blockheizkraft-

werke. Bei IREN2 werden nun zusätzlich Diesel-

generatoren installiert, die bei Bedarf schnell

elektrische Leistung bereitstellen können –

ähnlich wie dies Gaskraftwerke im Großen tun

können. Somit können künftig Teile des Wild-

poldsrieder Stromnetzes – über ein Regelungs-

system koordiniert – zu einem eigenständigen

Netzbereich verbunden werden.

SMARTE STROMSYSTEMEBest of Pictures of the Future, Frühjahr 2015

Page 22: PoF: Best of Spring 2015

42 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 43Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Smart Grids sorgen für Stabilität im Netz und balancieren Stromerzeu-gung und -verbrauch aus. Zusammen mit Energie-speichern ermöglichen sie zudem die Einbindung von dezentralen Energie-erzeugern in großem Stil.

Strompreisen führen, werden intelligenteStromnetze zur Energieübertragung undEnergieverteilung notwendig. Diese SmartGrids helfen, die Energieeffizienz zu steigern,indem sie Prosumer – Gebäude oder künftigauch Elektroautos – einbinden und Angebotund Nachfrage möglichst gut ausbalancieren.

Zuverlässige und sichere Netze. Für eineeffiziente Energieverteilung sind besondersin Ballungsräumen Smart Grids von größterBedeutung. Sie beruhen auf der Kommunika-tion zwischen allen am Strommarkt beteilig-ten Komponenten und binden sowohl großezentrale als auch kleine dezentrale Erzeu-gungseinheiten und Verbraucher in eine Ge-samtstruktur ein. Smart Grids steuern dieStromerzeugung und vermeiden Netzüber-lastungen, indem sie dafür sorgen, dass stetsnur so viel Strom wie nötig produziert wird.Mit Verfahren der Verbrauchssteuerung lässtsich zudem auch die Nachfrage besser demEnergieangebot anpassen. So können zumBeispiel Kühlanlagen für kurze Zeit ausge-

Auf dem Weg zum dynamischen Netz

Intelligente Stromnetze: Smart Grids balancie-

ren Stromerzeugung und -verbrauch aus und

vermeiden so Überlastungen im Netz.

schaltet werden oder Aufzüge langsamer fah-ren. Auch kann der Einsatz von Stromfressernin der Industrie so geplant werden, dass siegenau dann ihren maximalen Verbrauch er-reichen, wenn das Angebot am größten ist.

Siemens sorgt mit solchen Smart Gridsweltweit schon heute für die richtige Balancezwischen Erzeugung und Nachfrage. Ein Bei-spiel ist das süddeutsche Wildpoldsried. Die-ser Ort erzeugt sechs Mal mehr Ökostrom alser verbraucht. Da die schwankende Einspei-sung der Energie aus Solar-, Wind- und Bio-gasanlagen die Netzstabilität gefährdenwürde, sorgt ein intelligentes Stromnetz fürdie nötige Balance. Im Smart Grid regeln so-genannte Software-Agenten von Siemens dieInteraktion zwischen Energieverbrauchernund -erzeugern. Ein weiteres Beispiel stammtaus Italien, wo laut dem Smart Grid-ExpertenTullio Salmon Cinotti intelligente Netze eben-falls im Kommen sind (S.46): Hier haben dieUniversität Genua und Siemens auf demCampus in Savona erfolgreich ein Microgrid-Konzept für Städte entwickelt (S.44).

Elektrolyse im Energiepark Mainz: Wasserstoff im großen Stil

Seit Mai 2014 entsteht in Mainz ein großes Pilotprojekt. Im „Energiepark Mainz“ möchten

die Partner Siemens, Linde, die Stadtwerke Mainz und die Hochschule RheinMain mit ei-

ner gemeinsam entwickelten Elektrolyse-Anlage von 2015 an größere Mengen Wasserstoff

mit Hilfe von umweltfreundlich erzeugtem Strom, unter anderem aus benachbarten Wind-

kraftanlagen, herstellen. Der Wasserstoff wird gelagert, in Tankwagen gefüllt oder direkt

ins Erdgasnetz eingespeist. Übergeordnetes Ziel ist die Entwicklung, Erprobung und der

Einsatz von innovativen Technologien bei der Produktion von Wasserstoff durch Wasser-

elektrolyse mit erneuerbaren Energien. Herzstück der Anlage wird eine Elektrolysehalle

mit einem von Siemens entwickelten Elektrolysesystem sein. Der Unterschied zu anderen

kleineren Projekten: Hier wird eine hochdynamische PEM-Druckelektrolyse installiert, die

mit bis zu sechs Megawatt Stromaufnahme die weltweit größte Elektrolyse dieser Bauart

sein wird. Die Anlage in Mainz hat damit eine für Engpässe im Stromnetz und kleinere

Windparks relevante Leistungsgröße. Das Projekt umfasst Investitionen von etwa 17 Mil-

lionen Euro und wird vom Bundes-

ministerium für Wirtschaft und Ener-

gie im Rahmen der „Förderinitiative

Energiespeicher“ unterstützt.

Einst war Energieerzeugung eine simpleSache. Kraftwerke produzierten elek-trischen Strom, den Haushalte und

Industrie verbrauchten. Wärme und Kältewurden mit Gas- und Ölheizung sowie derKlimaanlage erzeugt. Schwankungen derNachfrage glichen die Energieversorger aus,indem sie Gaskraftwerke starteten oderPumpspeicherkraftwerke nutzten – uner-wünschte Schwankungen in der Strompro-duktion gab es eigentlich nicht. Seit vieleLänder nun auf erneuerbare Energien setzen,wird es aber komplizierter: Gab es etwa inDeutschland vor 20 Jahren ein paar hundertmittlere und große Kraftwerke, so sind esheute fast zwei Millionen Energieerzeugerwie Solaranlagen auf den Dächern, Windtur-binen oder Biomassekraftwerke.

Immer mehr werden Haushalte, Gebäudeund Industriebetriebe zu Prosumern, also zuKonsumenten, die gleichzeitig selbst Energieproduzieren. Aufgrund von fluktuierendenEinspeisungen erneuerbarer Energien, diedarüber hinaus zu stark schwankenden

In Zukunft können auch sogenannte „mul-timodale Energiesysteme“ ins Spiel kommen,die verschiedene Energieformen in einemSystem vereinen. Elektrische Energie kann al-ternativ zur Einspeisung ins Stromnetz auchin thermische Energie wie Wärme oder Kälteoder in chemische Energie umgewandeltwerden. So lässt sich Überschussstrom nut-zen, um in Elektrolyse-Anlagen umwelt-freundlichen Wasserstoff zu erzeugen, derdann beispielsweise Brennstoffzellen-Fahr-zeuge antreiben kann. Ein weiterer Schrittwäre, mit Hilfe eines Katalysators aus Wasser-stoff und Kohlendioxid Methan herzustellen.Dieses synthetische Erdgas wiederum lässtsich ins Erdgasnetz einspeisen, in unterirdi-schen Kavernen speichern oder über Gastur-binen in Strom zurückverwandeln.

Zudem können Batterien in Gebäudenoder in Elektroautos als Zwischenspeicher fürStrom dienen. Gleichzeitig entwickeln Sie-mens-Wissenschaftler eine Anlage, die mitHilfe überschüssiger regenerativer Energiedas Treibhausgas Kohlendioxid in für die In-dustrie wertvolle andere Kohlenstoffverbin-dungen umwandelt. In einem weiterenSchritt soll dies auch direkt mit Sonnenlichtfunktionieren – was dem Vorbild der pflanz-lichen Photosynthese nacheifert (S.50). DieVision: Module, die sich an Gebäuden anbrin-gen lassen und die mit Hilfe von Sonnenlichtund Kohlendioxid aus der Luft energiereicheMoleküle wie etwa Methanol produzieren.

Sebastian Webel

Zukunftstrend Energiespeicher. Stromaus Erneuerbaren fluktuiert aber je nach Wet-terlage. Zwar setzen Forscher alles daran, die-sen Nachteil zu minimieren – etwa indem sieden Turbinen in Windparks mit Hilfe maschi-nellen Lernens Intelligenz einhauchen, damitdiese ihre Stromerzeugung selbständig opti-mieren können (S.48). Trotzdem werdenkünftig verstärkt auch Energiespeicher gefor-dert sein, die überschüssigen Strom aus demSmart Grid über Stunden, Tage und notfallssogar Wochen hinweg speichern können.

Eine bewährte Speichertechnologie mithohem Wirkungsgrad sind Pumpspeicher-kraftwerke. Sie befördern Wasser mit über-schüssigem Strom in ein höher gelegenesBecken. Bei Bedarf fließt es dann wiedertalwärts und treibt dabei Turbinen für dieStromproduktion an. Doch für Pumpspeicher-kraftwerke gibt es – zumindest in dicht besie-delten Gegenden – nicht genug geeigneteStandorte.

Siemens arbeitet deshalb auch an Alterna-tiven. Eine bereits verfügbare Lösung ist dasmodulare Energiespeichersystem Siestorage.Es puffert kurzzeitige sekunden- oder minu-tenlange Schwankungen der Leistung aus er-neuerbaren Quellen. Siestorage basiert aufLithium-Ionen-Akkumulatoren und passt (ingroßer Ausführung) in einen üblichen Trans-portcontainer. So können 1000 Kilowattstun-den Strom gespeichert werden – dasentspricht ungefähr dem durchschnittlichenTagesverbrauch von 100 Haushalten.

Lesen Sie in der PoF Digital mehr

zum Thema Wasserstoff-Elektrolyse:

www.siemens.de/pof/elektrolyse

Smarte Stromsysteme Trends

Page 23: PoF: Best of Spring 2015

44 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 45Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

In Savona hat Siemens gemein-sam mit der Universität Genuaein intelligentes Stromnetz aufgebaut. Ziel war es, ein Micro-Grid-Konzept für Städtezu entwickeln. Mit Erfolg: Aufder Weltausstellung in Mailandpräsentieren Siemens und deritalienische EnergieversorgerEnel das Smart Grid, das schonheute die Stromkosten der Uni-versität Genua deutlich senkt.

W ie eine überdimensionierte Satel-litenschüssel streckt sich der Para-bolspiegel dem blauen Himmel

entgegen. Aber statt Fernsehprogrammenempfängt und konzentriert er Sonnenener-gie. „Concentrated Solar Power“ (CSP) nenntsich das Verfahren, das neben CO2-freierWärme auch umweltfreundlichen Strom liefert. Große CSP-Anlagen mit Leistungenvon vielen Megawatt stehen in den son-nenreichen Regionen Spaniens und Kalifor-niens, lassen sich aber auch in kleineremMaßstab mitten in einer Stadt wie Savonaeinsetzen.

Die drei Parabolspiegel in Savona lieferndrei Kilowatt elektrische und neun Kilowattthermische Leistung. Sie sind Teil eines ein-zigartigen Projekts – des ersten Micro-Gridsin Italien, das Anfang 2014 in Betrieb genom-men wurde und das als Referenz für ähnlicheLösungen für ganze Städte und Regionen die-nen soll. In Zukunft sollen solche intelligenten

Stromverteilnetze verschiedene konventio-nelle und erneuerbare Energiequellen sowieStromspeicher und steuerbare Verbraucherintegrieren und so eine ebenso nachhaltigewie sichere Versorgung garantieren. Die au-tarken Micro-Grids sind ein unverzichtbarerBestandteil für das dezentrale Energiesystemder Zukunft.

Siemens arbeitet mit seinen Forschungs-partnern weltweit an neuen Lösungen fürsolche Micro-Grids, die in den kommendenJahren Gemeinden, Städte und Unterneh-men versorgen sollen. Das „Smart Polygene-ration Microgrid“ (SPM) ist ein gemeinsamesProjekt der Universität Genua und des italie-nischen Forschungsministeriums. Siemenserhielt den Auftrag, das komplette Systemaufzubauen. Seit dem Start des intelligentenStromnetzes erzeugt die Außenstelle derUniversität Genua rund die Hälfte ihres jähr-lichen Energiebedarfs von einer Gigawatt-stunde selbst – wozu neben den drei

steller von Niederspannungskomponentenbevorzugen einfachere Standards, so dass dieeingesetzten Geräte, Sensoren und Aktuato-ren zunächst keine gemeinsame „Sprache“hatten. Hinzu kam, dass sie für den Einsatzproprietärer Überwachungsprogramme aus-gelegt waren und nicht ohne Weiteres miteinem zentralen SCADA-Programm zusam-menarbeiten konnten – SCADA steht für „Su-pervisory Control and Data Acquisition“ undbeschreibt Computersysteme, die gesamteAnlagen überwachen, visualisieren und steu-ern. In Savona kommt dafür SICAM PAS aufBasis der SIMATIC WinCC-Plattform von Sie-mens zum Einsatz, das alle Komponentenüberwacht, steuert und ihren Zustand gra-fisch darstellt.

Energiekosten sinken. Nach einem knap-pen Jahr sind die Forscher mit den Ergebnis-sen des Projektes mehr als zufrieden. Die Uniprofitiert von dem Microgrid: „Wir könnenschon jetzt die Hälfte unserer Energie selbstproduzieren, und das SPM ist so ausgelegt,dass wir in Zukunft den Campus sogar kom-plett versorgen könnten – diese Autarkie istvor allem dort wichtig, wo es kein oder nurein schwaches öffentliches Netz gibt“, berich-tet Delfino. „Außerdem ist unsere Energie-rechnung von 300.000 Euro auf 200.000Euro pro Jahr gesunken, und unsere CO2-Emissionen sind von 820 auf 700 Tonnen zu-rückgegangen.“ Auch für Bernd Koch, beiSiemens verantwortlich für den Aufbau desGeschäftes mit Microgrids, steht dem kom-merziellen Einsatz dieser intelligenten Ener-giesysteme nichts mehr im Weg: „In Savonahaben wir nur Komponenten eingesetzt, dieman heute schon kaufen kann“, betont er.„Die eingesetzten Algorithmen für den Be-trieb der Anlage laufen sehr zuverlässig, undauch sonst hat das SPM unsere Erwartungenteilweise deutlich übertroffen.“

Die breite Öffentlichkeit kann sich auf derkommenden Weltausstellung Expo 2015 inMailand (1. Mai bis 31. Oktober) ein eigenesBild von den intelligenten Energienetzen derZukunft machen. Der italienische Energiever-sorger Enel wird auf dem Ausstellungsge-lände mit Siemens-Technik ein Smart Gridaufbauen, das alle Pavillons, das Verteilnetzsowie Ladestationen für Elektrofahrzeugeumfasst. Zusätzlich zeigt hier ein „Smart CityControl Centre“, wie sich in Zukunft die Ener-gieverteilung in ganzen Städten optimal steu-ern lässt. Christian Buck

Leistungsstark: Das Micro-Grid auf dem

Universitäts-Campus in Savona umfasst

neben Stromspeichern auch konventio-

nelle sowie erneuerbare Energien –

beispielsweise Solar-Parabolspiegel.

Große Ziele fürs kleine NetzMeter) alle Energieflüsse in Echtzeit undsteuert den optimalen Betrieb aller Energie-erzeuger. Das System erstellt aus historischenDaten und aktuellen Informationen eineVoraussage über den Energieverbrauch.Gleichzeitig berechnet es mit Hilfe der Wet-tervorhersage eine in 80 Prozent der Fällezutreffende Prognose über die Ausbeute dererneuerbaren Energiequellen und kann soden Einsatz der Gasturbinen rechtzeitig pla-nen. Bei ausreichendem Angebot lädt dasDEMS auch die Energiespeicher des SPM auf,um Energieverbrauch und -kosten weiter zuverringern. „In dieser Hinsicht ist unser SPMsogar in internationalem Maßstab ein Pio-nierprojekt“, sagt Delfino.

Zu den größten Herausforderungen desProjektes gehörte es, die Informationen allerSystemkomponenten zentral zusammenzu-führen. Zwar definiert die Norm IEC 61850-7-420 ein Protokoll für die Kommunikationvon Smart-Grid-Bestandteilen – aber die Her-

CSP-Parabolspiegeln auch eine Photovoltaik-Anlage mit 80 Kilowatt Spitzenleistung unddrei Mikro-Gasturbinen mit 250 Kilowattelektrischer und 300 Kilowatt thermischerLeistung beitragen.

Echtzeitüberwachung der Energieflüsse.Noch versorgt das SPM nur den Campus derUniversität Genua in Savona. „Aber unserCampus ähnelt sehr einem kompletten Stadt-bezirk, denn hier gibt es Wohnungen, Büros,eine Kantine und Werkstätten“, erklärt Prof.Federico Delfino, Leiter des Projektes. „Insge-samt stehen auf unserem 60.000 Quadrat-meter großen Gelände zehn Gebäude, dietäglich von 1.700 Studenten genutzt werden.“

Herzstück des SPM ist der SICAM Micro-grid Manager. Er führt das Energiemanage-ment (Decentral Energy Management System,DEMS) und die SCADA Lösung SICAM PAS zu-sammen. Das DEMS von Siemens überwachtmit Hilfe intelligenter Stromzähler (Smart

Mehr zum Referenzprojekt

Savona in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/savona

Smarte Stromsysteme Micro-Grid Savona

Page 24: PoF: Best of Spring 2015

46 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Tullio Salmon Cinotti (65) istProfessor für Computerarchitek-tur, Logikdesign und Interoperabi-lität von eingebetteten Systemen an der Universität Bologna. Er koordiniert die Beteiligung derUniversität an europäischen For-schungsinitiativen in den Berei-chen Elektromobilität, Energie-effizienz und intelligente Räume.

„Smart Grids sorgen dafür,dass sich die Elektromobilitätimmer mehr durchsetzt.“

Italien gilt als weltweit führend in derEinführung intelligenter Stromzähler.Wo sind diese bereits im Einsatz?Cinotti: Der erste Smart Meter zur Messungdes Verbrauchs von elektrischer Energiewurde schon 2001 in Pisa installiert. 2007wurden in Italien gesetzliche Regelungenerlassen, die vorsahen, dass Smart Meter bis Ende 2011 95 Prozent der Verbindungs-punkte des Niederspannungsnetzes miteiner Nennleistung von weniger als 55 Kilo-watt überwachen sollten. Ich denke, dieseHerausforderung haben wir gemeistert.Ende 2011 gab es in Italien 33 MillionenSmart Meter. Heute haben wir sogar knapp36 Millionen – bei 60 Millionen Einwohnern.Damit nimmt Italien bei der Erfüllung derVorgaben der EU-Roadmap (80 Prozent bis2020) eine Spitzenposition ein. Die SmartMeter werden in allen Bereichen eingesetzt,also im privaten ebenso wie im öffentlichenSektor, in der Industrie, der Landwirtschaftund dem Dienstleistungssektor.

Wie soll es in Zukunft weitergehen?Cinotti: Smart Meter kommen nun auch bei der Gasversorgung zum Einsatz. Konkretlagen beziehungsweise liegen die Zielvor-gaben für intelligente Gaszähler bei dreiProzent bis Ende 2014 und 60 Prozent bis2018. Und irgendwann werden SmartMeter auch bei der Wasserversorgung ver-wendet werden.

Wofür wird die Intelligenz des SmartGrids eingesetzt?Cinotti: Die Konvergenz von Energie und Information – also die Intelligenz desSmart Grids – ist ein entscheidender Faktorauf dem Weg zu niedrigen Emissionen,niedrigen Betriebskosten, zurückgehenden Energieimporten, höherer Energieeffizienz,lokaler Energienutzung, neuen Dienstleis-tungen und einer besseren Energiequalität.So ermöglicht zum Beispiel ein Smart-Meter-Netzwerk die Verfügbarkeit allermöglichen innovativen Dienstleistungen,während die Betriebskosten für das Netz

deutlich sinken. Ein weiteres Beispiel: Ange-sichts von hohen und stark schwankendenLasten und Produzenten wie künftig ge-nutzten bidirektionalen Schnellladegerätenwird die intelligente Regulierung von Über-lastungen im Stromnetz die Energiequalitätsicherstellen. Auf diese Weise werden intel-ligente Stromnetze dafür sorgen, dass sichdie Elektromobilität in Smart Cities immermehr durchsetzt. Es ist damit zu rechnen,dass sich intelligente Stromnetze künftigimmer stärker auswirken werden.

Stichwort Energieeffizienz: Sind die italienischen Bürger denn auchbereit, in ihren Gebäuden mehr inmoderne Energietechnologien zu investieren?Cinotti: Die Italiener haben der Energie-wende von jeher einen niedrigeren Stellen-wert beigemessen als die Deutschen. Dashängt vor allem mit unserem milden Klimazusammen, wo die Pro-Kopf-Energiekostenrelativ niedrig sind. Seit einiger Zeit wächstjedoch das Bewusstsein dafür, über eine Anhebung der Endverbraucherpreise einehöhere Energieeffizienz zu erzielen. Zudemsind Investitionen zur Steigerung der Ener-gieeffizienz dank der steuerlichen Anreizefür private Investoren und Hausbesitzerrecht attraktiv. Deshalb würde ich sagen,dass die Bereitschaft, in zukunftsträchtigeEnergietechnologien zu investieren, derzeitsehr schnell wächst. Das wirkt sich auch positiv auf das Baugewerbe aus. Bei beste-henden Gebäuden geht es in erster Linieum Lösungen für die Wärmeisolierung. BeiNeubauten werden auch Investitionen imBereich der Stromversorgung und Kraft-Wärme-Kopplung zunehmend beliebter, ins-besondere aufgrund der Förderprogramme,aber zum Teil auch nur deshalb, weil es ein-fach im Trend liegt. Auch Elektrofahrzeuge,E-Bikes, Elektromotorräder und Elektroautosdürften in den kommenden Jahren als indi-viduelle Transportmittel auf wachsendes Interesse stoßen.

Das Interview führte Susanne Gold.

Lesen Sie die Langfassung des

Interviews in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/cinotti

Smarte Stromsysteme Interview Prof. Tullio Cinotti, Italien

Jan Segerstam (40) hat an der Aalto Universität in Finnlandstudiert und sein Studium mitdem EMBA (Executive Master of Business Administration) ab-geschlossen. In der Position als Entwicklungschef des finnischenDienstleisters für die Energie-branche Empower IM Oy wirkteer an verschiedenen europa-weiten Programmen zur Entwick-lung des Internet of Energy mit.

„Finnlands Stromnetz ist bereits Europas

Smart-Grid-Vorreiter“Gibt es Gegenden in Finnland, in denen bereits ein intelligentesStromnetz installiert wurde?Segerstam: Das finnische Stromnetz istbereits ein intelligentes Stromnetz, Version1.5. Es ist quasi Europas Smart-Grid-Vorrei-ter. Die Version 1.0 wurde vor ein paar Jah-ren eingeführt, mit einem netzgesteuertenLastmanagement und Lasttrennschalternmit Fernauslösung. Als in den letzten Jah-ren alle finnischen Privathaushalte mit in-telligenten Stromzählern und Kontrollrelaisausgestattet wurden, haben wir Version 1.5erreicht. Nun können wir jede Verbrauchs-stelle in Finnland ans Netz anschließen,vom Netz trennen und überwachen. Verbrauchsstellen mit Elektroheizung können mit eigenständigen Kalender-steuerelementen ausgestattet werden, die eine dynamische Preisgestaltung mitautomatischer Laststeuerung ermöglichen.Alle Stromzähler sind in der Lage, Einspei-sungen ins Netz zu erfassen, was die Ein-führung dezentraler Erzeuger ermöglicht. Außerdem werden alle an den Verbrauchs-stellen vorgenommenen Messungen ge-sammelt, verteilt und jeden Tag Stunde fürStunde auf einer rollierenden Basis zur Aus-balancierung des Marktes und des Energie-angebots genutzt.

Wenn das schon Version 1.5 ist, waswäre dann Version 2.0?Segerstam: In der Version 2.0 würde einintelligentes Stromnetz eine dynamische Regelung einzelner Netzbereiche ermög-lichen. Es würde dann auch die Bildung von Energiegemeinschaften rund um ge-meinsam genutzte Ressourcen zulassen und könnte noch weit mehr flexibel funk-tionierende Geräte – sowohl bei Verbrau-chern wie Erzeugern – einbinden, die fürdie Schaffung und Bereitstellung neuerDienste verfügbar wären. Informationenzum jeweiligen Status sollten schnellst-möglich verfügbar sein, damit sich damitneue Marktkonzepte schaffen und umset-zen lassen.

Wie könnten solche Konzepte aus-sehen?Segerstam: Vielen Gebäuden käme ein in-telligenteres Energiemanagement zugute:In Industriebetrieben und Gewerbeimmobi-lien ist die Gebäudeautomation schon seitlangem üblich, doch bisher gibt es nur sehrwenige, die die Chancen des Energiemark-tes mit den Steuermöglichkeiten ihrer Ge-bäudesystemtechnik verknüpfen. Wennerneuerbare Energien wie Wind- und Solar-energie berücksichtigt werden, ergebensich viele neue Chancen. Die Kombinationder innovativen Gebäudesystemtechnik vonSiemens mit Cloud-Diensten und Schnitt-stellen, die Empower IM zur Verfügungstellt, könnte Industriebetrieben und Gewer-beimmobilien viele Möglichkeiten eröffnen.

Es scheint, als würde schon geo-grafisch ein anderer Umgang mitEnergie und Wärme erforderlich sein– denken denn Finnen nachhaltigerals ihre europäischen Nachbarn?Wenn ja, gibt es Beispiele dafür?Segerstam: Finnland ist ein Land großerEntfernungen, spärlich besiedelter Gebieteund großer Ballungsräume. Die Umwelt-bedingungen sind geprägt von starken Temperaturgegensätzen zwischen eisigen,dunklen Wintern und heißen Sommern.Minus 35 Grad im Winter sind nicht unge-wöhnlich und plus 35 Grad im Sommerauch nicht. Der Durchschnittsfinne kann essich nicht leisten, viel Geld für Energie aus-zugeben, aber in dem rauen Klima ist derEnergiebedarf hoch. Darum sind Dreifach-verglasung mit Argon-Füllung, programmier-bare Heizkörperthermostate mit Zeitsteue-rung und Mehrschicht-Dämmplatten beiuns seit über 20 Jahren selbstverständlich.Es war immer die wirtschaftlich sinnvollereLösung, in Dämmung und moderne Heiz-technik zu investieren. Zudem hat Finnlandeine hohe Wohneigentumsquote. Dahersind die Finnen an einem langfristigen Werterhalt ihrer Häuser interessiert.

Das Interview führte Susanne Gold.

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 47

Lesen Sie die Langfassung des

Interviews in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/segerstam

Smarte Stromsysteme Interview Jan Segerstam, Finnland

Page 25: PoF: Best of Spring 2015

48 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 49Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Ob Stahlwerke oder Gasturbinen – sie lernen aus gesammelten Daten, erkennen Gesetzmäßigkeitenund optimieren ihren Betrieb. Siemens-Forscher zeigen, wie auch Windturbinen durchstetiges Dazulernen ihre Strom-erzeugung erhöhen können.

Der Regisseur für einen oberbayeri-schen Heimatfilm hätte keine besse-ren Bedingungen vorfinden können:

strahlender Sonnenschein, blauer Himmel,durchmischt mit weißen Cumuluswolken, amHorizont die scherenschnittartige Silhouetteder Alpenkette. Auch Volkmar Sterzing ist mitdem Szenario zufrieden. Doch weniger we -gen Sonne, Wolken und Panoramablick, son-dern vielmehr wegen der ordentlichen Brise,die aus Nordosten kommt. Sterzing ist keinRegisseur, sondern unter anderem Segellehreram Starnberger See im Süden von München.Vom Ufer aus verfolgt er das Wenden undHalsen seiner Schüler in den kleinen Jollen.

Segeln ist Sterzings Hobby. Doch auch be-ruflich spielt der Wind für ihn eine entschei-dende Rolle. „Zwischen dem Segelunterrichtund dem maschinellen Lernen, mit dem wirProdukte optimieren, gibt es durchaus Paral-lelen“, erklärt er. Denn während SterzingsSchüler lernen, die Kraft des Windes zu

verstehen, und dabei verinnerlichen, wannsie ihre Segel in den Wind zu stellen haben,untersucht der Ingenieur, wie komplexeSysteme – beispielsweise Windturbinen –selbständig aus erfassten Daten Gesetz-mäßigkeiten erkennen und damit lernenkönnen, ihren Betrieb zu optimieren.

Maschinelles Lernen steigert Effizienz.Seit 25 Jahren erforschen Siemens-Inge-nieure das maschinelle Lernen. „Die dahinterstehenden Verfahren bieten enorme Chan-cen, Systeme intelligenter und effizienter zumachen“, sagt Prof. Dr. Thomas Runkler, Ex-perte für maschinelles Lernen bei SiemensCorporate Technology in München und Pro-fessor an der TU München. „Siemens hat mitmaschinellem Lernen Industrieanlagen wieStahlwerke, aber auch Gasturbinen optimiert.“Rohstoff- und Energiepreise möglichst zuver-lässig zu prognostizieren oder den Energie-verbrauch ganzer Regionen vorherzusagen,

als bisher erzeugen“, sagt Sterzing stolz. VierJahre lang analysierten und modellierten dieSiemens-Forscher Abhängigkeiten und Zu-sammenhänge mit neuronalen Netzen. Hierliegt der Schlüssel zum erfolgreichen maschi-nellen Lernen der Windturbinen. „NeuronaleNetze sind Computermodelle, die ähnlich wiedas menschliche Gehirn funktionieren“, er-klärt Sterzing. Sie lernen an Beispielen, erken-nen Muster und ermitteln auf der Basis vonMessdaten aus der Vergangenheit Prognosenund Idealmodelle für das zukünftige Verhal-ten komplexer Systeme.

Dies funktioniert auch für Windturbinen.Die Software errechnet aus den Messdatender Vergangenheit optimale Einstellungs-muster für verschiedene Wetterszenarien wie

spielsweise die Rotorblattneigung. „Auf dieseWeise werden sie immer effizienter und lie-fern insgesamt mehr Energie“, fasst Sterzingzusammen und zeigt einer seiner Segelschü-lerinnen auf dem See mit ausladender Arm-bewegung die Richtung des Windes an.

Forschungsprojekt ALICE. Im Forschungs-projekt ALICE (Autonomous Learning in Com-plex Environments) sammelten die Siemens-Forscher gemeinsam mit der Firma IdaLabGmbH und dem Lehrstuhl für maschinellesLernen an der Technischen Universität Berlindie Erkenntnisse aus der Windturbinen-Optimierung. Im Sommer 2014 konnten siedas vom Bundesforschungsministerium ge-förderte Projekt abschließen. Wie lernfähig

Lernfähig: In Windparks bekommen

die vorderen Turbinen den meisten

Wind ab. Die entstehenden Wirbel-

schleppen verringern die Leistung der

nachgelagerten Rotoren. Volkmar

Sterzing (r.) arbeitet daran, ihre Effizienz

auch bei schwachem Wind zu optimieren.

Maschinelles Lernen hilft,die Kosten von Windenergiekünftig weiter zu senken.

Windturbinen mit Köpfchen

Sonnenscheinzeiten, Dunstwetterlagen oderGewitter. Die Regler der Windturbine erhaltendiese Daten und berücksichtigen sie fortanbei der Steuerung der Anlagen. Setzen be-reits bekannte Windlagen ein, wählen sie so-fort die durch maschinelles Lernen erkanntenoptimalen Einstellungen und verändern bei-

Windturbinen sind, haben die Praxistests imRahmen von ALICE gezeigt. 2013 lerntenzeitweise acht Turbinen in einem kleinen Off-shore- und einem kleinen Onshore-Windparkin Spanien und Schweden aus ihren eigenenMessdaten. Die Effizienz der Windkraftanla-gen stieg dabei merklich an. Um welchenProzentsatz, ist allerdings noch offen. Hierzusind weitere, größer angelegte Forschungs-projekte notwendig.

„Fall ab!“, ruft Sterzing plötzlich auf dasWasser hinaus. Ein Schüler versucht, zu hochsegelnd die in Luv – also in Windrichtung –liegende Übungsboje zu erreichen. Zwar se-gelt er einen kürzeren Weg, kommt abertrotzdem später an, weil er langsamer unter-wegs ist. „Die Kinder sammeln bei verschie-denen Wetterlagen Erfahrungswerte, wiesich ihr Boot verhält und wie sie reagierenmüssen – ähnlich wie es unsere Windturbi-nen tun“, sagt Sterzing.

Sterzing blickt auf den See. Zufrieden be-obachtet er, wie sein Schüler nun unter denErsten die Luvboje umrundet. „Lernen zahltsich aus“, schmunzelt der Pädagoge. Unddenkt dabei nicht nur ans Segeln, sondernauch an Siemens. Hobby und Beruf liegen beiVolkmar Sterzing sehr eng beieinander.

Ulrich Kreutzer

ist mit maschinellem Lernen möglich. Die Vo-raussetzung: Computersysteme, die in derLage sind, aus verschiedenen Daten zu lernenund eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Soerforscht Sterzing unter anderem, wie sichWindturbinen dank maschinellem Lernen anwandelnde Wind- und Wetterverhältnisse an-passen können – und damit ihre Stromerzeu-gung erhöhen.

„Grundlage für die Selbstoptimierung derWindturbinen ist die Messung ihrer eigenenBetriebsdaten in Verbindung mit Wetter-daten“, sagt Sterzing. Diese Werte werdenvon Sensoren in und auf der Windenergie-anlage ohnehin aufgenommen: Messdatenzu Windrichtung, Windstärke, Temperatur,Strom und Spannung und die Vibrationen angrößeren Bauteilen wie Generator oder Rotor-blatt. „Bisher dienten die Parameter der Sen-soren ausschließlich der Fernüberwachungund Diagnostik im Service. Doch mit ihrerHilfe können Windturbinen nun mehr Strom

Faszinierende Fotos von On- und Offshore-

Windanlagen zeigt die Bildergalerie:

www.siemens.de/pof/windturbinen

Volkmar Sterzing erklärt im Video, wie Wind-

turbinen lernen: www.siemens.de/

pof/maschinelles-lernen

Smarte Stromsysteme Selbstoptimierung von Windturbinen

Page 26: PoF: Best of Spring 2015

50 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 51Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Siemens-Wissenschaftler entwickeln eine Anlage, die mit Hilfe überschüssiger re-generativer Energie das Treib-hausgas CO 2 in für die Industriewertvolle andere Kohlenstoff-verbindungen umwandelt.

W ohl kein anderer chemischer Pro-zess auf Erden ist so produktiv wiedie Photosynthese – jene biologi-

sche Prozesskette, die in grünen Pflanzen ab-läuft und mithilfe von Sonnenenergie undWasser aus Kohlendioxid (CO2) energiereicheSubstanzen wie etwa Zucker aufbaut. Manschätzt, dass Pflanzen weltweit jährlich rund150 Milliarden Tonnen energiereicher Bio-masse produzieren – eine gigantische Men -ge. Schon lange versuchen daher Forscher,die Biomaschinerie der Photosynthese nach-zuahmen, um quasi kostenlos aus Sonnen-energie und Kohlendioxid chemische Sub-stanzen herzustellen.

Bisher jedoch mit wenig Erfolg: In denProzessen der Photosynthese wirken vieleeng gekoppelte, extrem komplexe Eiweiß-strukturen aus vielen tausend Atomen ingenau definierter Anordnung, die sich nichteinfach im Labor nachbauen lassen. DerTraum der Wissenschaftler, mithilfe vonSonnenlicht eine effiziente biochemischeFabrik zu betreiben, ist daher bislang uner-füllt geblieben.

Doch jetzt sind Entwickler von SiemensCorporate Technology (CT) in München derVision von der künstlichen Photosynthese eingutes Stück näher gekommen. Sie haben Mo-dule von der Größe eines Schuhkartons ent-wickelt, in denen sie Kohlendioxid wie in denZellen von Pflanzen energetisch anregen. Dasso aktivierte CO2 reagiert darin, je nach Ver-suchsbedingung, zu verschiedenen anderenMolekülen – etwa zu Ethen, das in der che-mischen Industrie für die Kunststoffproduk-tion benötigt wird. Oder zum energiereichenGas Methan, dem Hauptbestandteil von Erd-

gruppen, die versuchen, die Photosynthesein Gänze nachzuahmen“, sagt Prof. Maximi-lian Fleischer, der bei der CT die Forschungan der künstlichen Photosynthese im Projekt„CO2toValue“ leitet. „Das ist aufgrund derKomplexität bislang kaum zu schaffen. Wirgehen pragmatischer vor und nähern uns derPhotosynthese in mehreren Schritten. Einnotwendiger Weg, wenn man schnell miteinem Produkt auf den Markt kommenmöchte.“

So konzentrieren sich Fleischer, seine Kol-legen, die Chemiker Günther Schmid undKerstin Wiesner, sowie etwa zehn weitereMitarbeiter derzeit noch nicht darauf, Lichteinzufangen, sondern zunächst das CO2 zuaktivieren und in Produkte zu verwandeln.Dafür verwenden die Forscher regenerativ er-zeugten Strom.

Zusammenarbeit mit Hochschulen. DerDreh- und Angelpunkt für CO2toValue sindKatalysatoren, chemische Verbindungen, diedas träge CO2 mit energiereichen Elektronenbeladen. Die Herausforderung besteht darin,nicht das umgebende Wasser mit den Elek-tronen zu beladen, wodurch lediglich her-kömmlicher Wasserstoff produziert würde,sondern eben das Kohlendioxid. In Zusam-menarbeit mit Spezialisten von der SchweizerUniversität Lausanne und Materialkundlernvon der Universität Bayreuth, die in diesemProjekt im Auftrag von Siemens an Katalysa-toren forschen, sind bereits verschiedene Ka-talysatoren unter anderem auf Kupferbasisentstanden, mit denen das Team eine hoheAusbeute an Produkten wie etwa Kohlenmo-noxid erreicht.

Aus Kohlendioxid Rohstoffe gewinnengas. Oder zu Kohlenmonoxid, das man unteranderem für die Herstellung von Treibstoffenund Industriealkohol verwenden kann.

Kohlendioxid auf Trab bringen. In derNatur bringen Pflanzen das Kohlendioxid aufTrab, indem sie mit Farbstoffen wie dem grü-nen Chlorophyll Sonnenenergie einfangen.Dadurch werden im Chlorophyll energierei-che Elektronen frei, die anschließend durchEnzyme auf das CO2 übertragen werden.Damit wird das CO2 chemisch aktiv und rea-giert zu anderen Verbindungen. „Vor allem inden USA und in Japan gibt es einige Arbeits-

Die Entwicklung von Katalysatoren ist an-spruchsvoll. Nur zu einem Teil lässt sich dasVerhalten dieser Substanzen vorhersagen.Deshalb müssen die Wissenschaftler in lan-gen Versuchsreihen und unter verschiedenenVersuchsbedingungen jede neue Katalysator-Variante testen – ein aufwändiges Prozedere.Hinzu kommt, dass auch die Oberflächen-struktur des Katalysators seine Wirksamkeitbestimmt. Der Herstellungsprozess muss prä-zise gesteuert werden, damit am Ende einereaktionsfreudige, große Oberfläche ent-steht, die einer schroffen Gebirgslandschaften miniature ähnelt. Die Katalysatoren, die

Die Sonne einfangen: CT-Forscherin Sofie

Romero Cuellar arbeitet mit einer Elektrolyse-

Zelle. Unter Leitung von Prof. Maximilian Flei-

scher (Bild links) entstehen bei Siemens Module,

in denen Kohlendioxid ähnlich wie in Pflanzen

zu wertvollen Stoffen umgewandelt wird.

Schmid zusammen mit Hochschulpartnernentwickelt hat, sind schon sehr leistungsfä-hig, sodass ein Großteil des Kohlendioxids indie gewünschten Produkte umgesetzt wird.

Photosynthese in der Elektrolyse-Zelle.Fleischer schaut durch zwei Fenster aus Plexiglas in das kleine Photosynthese-Modul,in dem es kräftig blubbert. Im Grunde ist der kleine Kasten eine Elektrolyse-Zelle: Der Strom wird über Elektroden in eine ArtSprudelwasser geleitet, das ausreichend CO2

enthält und elektrisch leitfähig gemachtwurde.

Die Kunst besteht nun darin, den Minus-pol aus dem speziellen Katalysator so herzu-stellen, dass er die Elektronen gezielt auf dasCO2 überträgt und das gewünschte Produkterzeugt. Am anderen Pol wird Wasser umge-wandelt: Der im Wasser enthaltene Wasser-stoff wird zur Bildung der Kohlenwasserstoffebenötigt. Der aus dem Wasser frei werdendeSauerstoff kann, je nach gewünschtem Pro-dukt, ebenfalls verwertet werden.

Das im Wasser enthaltene Kohlendioxidwird im Labor zunächst aus Gasflaschen indie Elektrolyse-Zelle eingeblasen. „Bei derHerstellung von Kohlenmonoxid (CO) klappt

das bereits sehr gut. 95 Prozent des elektri-schen Stroms fließen tatsächlich in die CO-Produktion“, erklärt Fleischer. Durch die Wahleines entsprechenden Katalysators sowie dieVeränderung der Stromdichte oder gelösteSalze im Wasser können die Forscher dannexakt steuern, ob das Kohlendioxid zu Ethenoder etwa Kohlenmonoxid reagiert. Siemens-Forscher Fleischer zielt vor allem auf hoch-wertige Substanzen, die die chemischeIndustrie benötigt. Für diese Industrie sind siebesonders interessant, da sie heute noch fastgänzlich von Grundstoffen aus der schwin-denden Ressource Erdöl abhängig ist.

Smarte Stromsysteme Künstliche Photosynthese

Page 27: PoF: Best of Spring 2015

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 53

Mehr von der selbst erzeugtenSolarenergie nutzen und gleichzeitig zur Netzstabilitätbeitragen: Das können die Teilnehmer des Pilotprojektesvon Caterva, einer mit Hilfe von Siemens gegründeten undgeförderten jungen Firma.

Mehr Energie fürs eigene Haus: Dank des

Caterva-Systems kann Andreas Seubert

eine Menge Strom aus seiner PV-Anlage

selbst nutzen. Wie viel genau und was er

ins Netz einspeist, zeigt ihm eine App.

Ein Schwarm fürdie Energiewende

Es ist nur ein 1,8 Meter hoher und guteinen Meter breiter Stahlschrank imKeller von Andreas Seuberts Einfamili-

enhaus auf dem Land, mitten in Franken:übereinandergestapelte Lithium-Ionen-Batte-rien auf der einen Seite, Wechselrichter, einSmart Meter, elektronische Schaltungen undeine nur zigarettenschachtelgroße Platine mitProzessor und Mobilfunkeinheit auf der an-deren Seite. Zusammen mit Seuberts Photo-voltaik-Anlage auf dem Dach ergibt das einganz anfassbares Beispiel dessen, was Fach-leute meinen, wenn sie von dezentraler Ener-gieversorgung sprechen.

Wenn die deutsche Energiewende glückt,können Energiespeichersysteme (ESS) wiedas im Keller von Seubert künftig ein wichti-ger Bestandteil eines nachhaltigen Energie-systems sein. Denn solche Systeme werdendann dazu beitragen, dass die Stabilität derNetzfrequenz erhalten bleibt und dass Strom-

defizite, wenn die Sonne nicht scheint undder Wind nicht bläst, ausgeglichen werden.Bisher müssen in diesen Fällen konventionelleKraftwerke – wie etwa schnell hochfahrbareGaskraftwerke – diese Aufgabe bewältigen.

Wie es auch anders funktionieren kann,zeigt das junge Unternehmen Caterva: „Ca-terva heißt auf Lateinisch ‚Schwarm’“, erklärtGeschäftsführer Markus Brehler. Das Prinzipist einfach: Der Strom aus privaten Photovol-taik-Anlagen wie der von Seubert und ande-ren Solaranlagenbesitzern wird in den Li-thium-Ionen-Batterien gespeichert. Sie ha -ben pro Schrank eine Gesamtleistung von 20Kilowatt und eine Kapazität von 21 Kilowatt-stunden (kWh). Über das Stromnetz sind siezu einem Schwarm, zu einem virtuellenGroßspeicher mit mehr als einem MegawattLeistung, verbunden, der über Mobilfunk ko-ordiniert wird. Mittels der Elektronik in derrechten Schrankseite können die Batteriender Caterva-Teilnehmer von einer Steuerzen-trale angezapft oder aufgefüllt werden.Wenn also im Netz Bedarf nach zusätzlichemStrom besteht, um Schwankungen auszuglei-chen, „saugt die Zentrale Strom aus dem Bat-terieschwarm“, erklärt Seubert.

Dieses innovative Konzept entstand ur-sprünglich bei Siemens Novel Businesses (SNB,

Smarte Stromsysteme Schwarmlösung für dezentrale Energiesysteme

52 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

„Natürlich könnten wir auch Methangasproduzieren, aber das wäre für uns kein Ge-schäftsmodell – denn Methan aus Erdgas istsehr viel billiger.“ Produziere man aber ge-fragte Chemikalien wie Kohlenmonoxid,Ethen oder Alkohole, die derzeit zwischen650 und 1200 Euro pro Tonne kosten undvon denen viele Millionen Tonnen pro Jahrbenötigt werden, dann werde sich die Anlagerechnen. Bereits 2015 soll in Fleischers Laborein größerer Demonstrator in Betrieb gehen,dessen Leistung im Vergleich zur heutigenAnlage nicht mehr im Watt-, sondern im Kilo-wattbereich liegen wird.

Spätestens dann will Fleischer auch dieSonne einfangen. Ihm schwebt vor, die Pho-tosynthese in gläsernen Modulen, ähnlichPhotovoltaikzellen, zu betreiben, auf derenOberseite das Licht einfällt, während auf derUnterseite Kohlendioxid in das System ge-

langt. Die Arbeitsweise der Lichtfänger stehtlaut Fleischer bereits fest: Statt komplexeChlorophyll-Moleküle nachzuahmen, möchteer so genannte Lichtsammelkörner auf derBasis von Halbleitern einsetzen. Diese wer-den mit den Katalysatoren umhüllt. Funktio-niert alles nach Plan, wird der Halbleiterenergiereiche Elektronen bereitstellen, dieder Katalysator in Sekundenbruchteilen aufdas CO2 überträgt. Damit wird der Prozessdann direkt durch Licht getrieben.

In etwa zwei Jahren soll es soweit sein. Jenach Anwendung soll später CO2 erst einmalaus den Abgasen von Kraftwerken, Fabrikenund der chemischen Industrie genutzt wer-den. Im nächsten Schritt soll CO2 aus der At-mosphäre genutzt werden. Dieses ist dortnur in geringer Konzentration vorhanden. DieSiemens-Forscher arbeiten deshalb an Stof-fen, die CO2 wie ein Schwamm aufsaugen

können. Dann wird es sogar möglich sein,den Bio-Treibstoff Methanol zu erzeugen.Fleischer hält diese Perspektive für ausge-sprochen verlockend. „Mit den Modulenkönnte man Hausfassaden verkleiden und sodas CO2 aus der Luft und den Abgasen auf-fangen – und daraus wiederum Bio-Treibstoffherstellen.“

Doch auch in der ersten Stufe – ohneLichtsammeleigenschaft – ist die künstlichePhotosynthese faszinierend. Fleischer siehtdarin auch eine Möglichkeit, regenerativeEnergien zu speichern. „In Deutschland stehtschon heute an windreichen und sonnigenTagen mehr grüner Strom zur Verfügung alsbenötigt wird – Stromspeicher in ausreichen-der Menge fehlen jedoch. Speist man denStrom aber in Photosynthese-Module, ließeer sich für die Produktion wertvoller Chemi-kalien nutzen, was zugleich auch die wertvol-len Erdöl-Ressourcen schont und Treibhaus-gas-Emissionen reduziert. Nebenbei hätteder Mensch es dann geschafft, den produk-tivsten chemischen Prozess der Erde nachzu-ahmen. Der Traum, eine biochemische Fabrikeffizient mit Sonnenlicht zu betreiben,könnte Wirklichkeit werden.“ Tim Schröder

Que

lle: S

iem

ens

*Der Prozess nutzt die Katalysatoren der elektrisch angetriebenen Umwandlung.

Lokal gespeichertesCO2 – etwa aus Kraft-

werksabgasen

Nutzung von CO2 aus der Atmosphäre

Erste Demonstratoren nutzen überschüssigen Strom aus Erneuerbaren und lokal gespeichertes CO2.

In einer zukünftigen Entwicklung soll Sonnenlicht direkt dieUmwandlung von CO2 in nutzbare Stoffe antreiben.*

Zunächst soll elektrischer Strom den CO2-Umwandlungsprozess antreiben, später soll dafür – wie in der Photosynthese – Sonnenlicht ausreichen.

Ausgangs-stoffe für

die Chemie-industrie

Energiespei-cher zur Rück-umwandlung

in Strom

Energiespei-cher zur Rück-umwandlung

in Strom

Treibstoff für Kraftfahr-

zeuge

Treibstoff für Kraftfahr-

zeuge

Elektrische CO2-Umwandlung

Photoelektrokatalytische CO2-Umwandlung

Halbleiter

O2

CO2

MeOH, HC

H2O

C2H4

CO

V

CO2

Module an Hausfassaden könntenCO2 aus der Luft auffangen und daraus Bio-Treibstoff herstellen.

Elektrolyse als Basis: Der Strom wird über Elektro-

den in eine Art Sprudelwasser geleitet, das ausrei-

chend CO2 enthält und elektrisch leitfähig gemacht

wurde. Ein spezieller Katalysator sorgt dann dafür,

dass das gewünschte Produkt entsteht.

Smarte Stromsysteme Künstliche Photosynthese

Page 28: PoF: Best of Spring 2015

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 55

2030“ der Deutschen Energie-Agentur (dena)auch immer stärker wahrnehmen. Doch dafürmüssen neue Technologien eingesetzt underprobt werden, eben wie bei Caterva. „Wirmüssen heute etwas tun, damit es in fünfJahren Lösungen gibt, die das Netz stabil hal-ten“, sagt Caterva-Geschäftsführer Brehler.

Die Zentrale steuert den Schwarm. DieTeilnehmer des Pilotprojekts profitieren alsonicht nur, indem sie mehr Solarstrom selbstnutzen, sondern sie tragen auch zum Gelin-gen der Energiewende bei. Ihr ESS wird er-gänzt von einer Caterva-App, die neben demStromverbrauch im Haushalt stets anzeigt,wie hoch die Leistung der PV-Anlage ist, wieviel Strom in der hauseigenen Batterie ge-speichert ist und wie viel ins Netz eingespeistwird. Die Kontrolle über ihre eigene Batteriehaben die Projektteilnehmer allerdings nicht.In der Leitzentrale von N-Ergie laufen alleDaten zusammen, „selbstverständlich hochverschlüsselt und anonymisiert“, erklärt Si-gert, „und die Zentrale steuert, wann und wieviel Strom aus den Schwarm-Batterien für Re-gelleistung bereitgestellt wird“. Dabei geltengenau definierte Regeln: So wird der Leis-tungsbedarf im Haus parallel zur Leistungs-bereitstellung der Regelleistung erfüllt.

Das jetzt gestartete Pilotprojekt soll erstder Anfang einer weitreichenden Entwick-lung sein. N-Ergie denkt auch darüber nach,Besitzer von PV-Anlagen in ganz Deutschlandeinzubinden, „denn je größer der Schwarm ist,desto größer ist der Beitrag zur Netzstabilität“,erklärt Projektleiter Sigert. Deutschland ist fürdie Umsetzung des Konzepts „Mit der Sonneim Netz“, was der Slogan von Caterva ist, be-sonders gut geeignet. Mit rund 1,1 Millionenprivaten PV-Anlagenbesitzern hält es weltweitmit großem Abstand den Rekord. Die Ener-giewende bietet vielfältige Chancen für neueGeschäftsideen. So sieht es auch Markus Breh-ler: „Wir suchen jetzt Infrastrukturinvestoren,die Interesse an Geschäftsmodellen für dieEnergiekonzepte der Zukunft haben“, sagt er.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.Andreas Seubert ist erst mal zufrieden, dassdas System in seinem Keller jetzt zuverlässigläuft. „Eines Tages hoffe ich, auch bei einemgroßflächigen Stromausfall genug Energie fürmeinen Haushalt zur Verfügung zu haben“,sagt er. „Oder zumindest genug, damit ich einwichtiges Fußballspiel trotzdem am Fernse-her verfolgen kann.“ Das sollte bereits jetztmöglich sein. Katrin Nikolaus

Haushalt über die Differenz zwischen denKosten, die der Nutzer für Strom aus demNetz zahlen müsste – in Deutschland sind dasderzeit etwa 27 Eurocent pro kWh – unddem, was der eigenverbrauchte Strom kostet.Diese Einsparung liegt heute zwischen 10 und15 ct/kWh. Die Einnahmen, die Caterva ausder Vermarktung der Primärregelleistung anden Übertragungsnetzbetreiber erzielt, ge-statten die günstigen Mietkonditionen.

N-Ergie stellt die übergeordnete Infra-struktur zur Verfügung. Ihre Leitwarte steuertkünftig neben den Kraftwerken des Unter-nehmens auch den Schwarm des Caterva-Projekts. „Eine der wesentlichen Aufgaben istdie Koordination des Schwarms“, erklärtBrehler. Über Mobilfunk kommen die Datenaus den ESS in den Kellern der Teilnehmer indie Zentrale. So kennt man jederzeit den tat-

sächlichen Ladezustand der Batterien. Gleich-zeitig wissen die ESS, wann die Netzfrequenzschwankt, das heißt, wann es ein Ungleich-gewicht zwischen Stromangebot und -nach-frage gibt. Das ist beispielsweise dann derFall, wenn die dezentralen Stromerzeuger zuviel Leistung erbringen oder auch konventio-nelle Erzeuger wie Kraftwerke ganz ausfallen.Um die Differenz zwischen Ein- und Ausspei-sung auszugleichen und die Netzfrequenz bei50 Hertz zu halten, muss dann umgehendStrom zu- oder abgeführt werden. Dies über-nehmen klassischerweise konventionelleKraftwerke wie beispielsweise Gaskraft-werke.

Seit 2011 können auch dezentrale Energie-erzeuger ab einem Megawatt Leistung Regel-leistung einspeisen und sollen diese Aufgabelaut der „Roadmap Systemdienstleistungen

Win-Win-Win-Situation: Dank der Verbindung von PV-Anlagen und Speichern zu einem synchro-

nisierten Schwarm ergeben sich viele Vorteile – für Investoren, Hausbesitzer und Netzbetreiber.

Que

lle: C

ater

va

Rendite (für Investoren)

Autarkie und Umweltbewusstsein(für Hausbesitzer)

Unterstützung derNetzstabilität bei

dezentraler Energieerzeugung (für Netzbetreiber)

Was bringt der Verbund von Solaranlagen und Speichern?

Neue Geschäftsmodelle testen

Die Aufgabe von Siemens Novel Businesses, das seit 2012 zur Abteilung Innovative

Ventures bei Siemens Corporate Technology gehört, ist es, gezielt Start-up-Unternehmen

in Geschäftsfeldern zu gründen, die für Siemens interessant werden können. Auf diese

Weise lassen sich innovative Geschäftsmodelle flexibel und schnell testen. Diese jungen

Unternehmen werden unabhängig von Siemens betrieben und von erfahrenen Gründern

geleitet. Siemens Novel Businesses finanziert die Ausgründungen ähnlich wie ein Venture-

Capital-Investor. Zugleich kann Siemens später über eine Integration dieser Firmen in die

reguläre Organisation des Konzerns entscheiden, um den weiteren Ausbau der Geschäfts-

tätigkeit im Rahmen der Siemens-Organisation voranzutreiben.

Mehr Informationen zu Caterva

unter: www.caterva.de und

www.siemens.de/pof/caterva

54 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

ner Familie im Herbst 2013 sein neues Heimin der fränkischen Kleinstadt Dettelbachbezog, war es für ihn selbstverständlich, eineSolaranlage auf dem Dach zu installieren.Dabei war es dem Ingenieur, der bei Siemensals Branchenmanager für Verpackungsma-schinen tätig ist, ein Dorn im Auge, dass errelativ wenig des selbst erzeugten Stromsselbst nutzen konnte. Zwar wird der nicht be-nötigte Strom, der an sehr sonnigen Tagen imÜberfluss produziert wird, ins Netz einge-speist und vergütet, doch Seuberts Ziel ist einanderes: „Langfristig möchte ich unabhängigvon Energielieferanten werden.“

Selbst Batterien zu kaufen, um seinen So-larstrom speichern zu können, erschien ihmunrentabel: „Fachleute rieten mir ab, da siedie leistungsfähigen Batterien für den priva-ten Haushalt noch zu teuer finden.“ Zufälligerfuhr er dann vom Caterva-Projekt. „MeineKollegen bei Siemens, die an Technologienfür Smart Grids arbeiten, erzählten mir vonder Möglichkeit, mit Batterien und intelligen-ter Technik Teil eines Energieversorgungssys-

vorstellte, waren wir sofort begeistert“, er-klärt Sigert. Man einigte sich schnell auf eineZusammenarbeit und holte auch die Fried-rich-Alexander-Universität (FAU) in Erlangenins Boot. Deren Wissenschaftler werden dasPilotprojekt bis 2017 begleiten. „Jetzt könnenwir Erfahrungen sammeln für eine Zukunft,in der immer mehr Strom aus erneuerbarenEnergiequellen stammen wird“, sagt Sigert.

Stark positive Resonanz. Die Aufgabentei-lung sieht so aus: N-Ergie spricht gezielt Kun-den in ihrem Netzgebiet an, die eine relativneue Solaranlage installiert haben. „Die Re-sonanz ist sehr positiv: Wir haben in kürzesterZeit gut 25 Interessenten gefunden undgehen davon aus, dass auch die restlichenbald an Bord sein werden “, berichtet Sigert.Caterva ist der Vertragspartner der Teilneh-mer, liefert das System im Stahlschrank undschließt es an. „Dafür bezahlen die Teilneh-mer eine einmalige Mietzahlung, die jetzt, inder Pilotphase, bei rund 4.000 Euro liegt“, er-klärt Brehler. Rechnen tut sich dies für den

Private Solaranlagen-Besitzerkönnen dank Speicher mehrvom eigenen Strom nutzen.

siehe Kasten S.55) und wurde dann in ver-schiedenen Abteilungen von Siemens Corpo-rate Technology weiterentwickelt – bis hin zueiner Basisversion der Schwarm-Software. DieSNB-Experten halfen auch bei der Gründungvon Caterva, denn genau dies ist ihre Auf-gabe: junge Unternehmen zu gründen, wennein vielversprechendes Geschäft innerhalbder Siemens AG nicht so gut, so schnell undso flexibel weiterentwickelt werden kann wiein einer externen Firma. Caterva-Geschäfts-führer Brehler hatte bereits langjährige Erfah-rung mit einer weiteren Siemens-Ausgründunggesammelt, der EnOcean GmbH. Auch beider künftigen Geschäftstätigkeit von Catervaunterstützt Siemens auf vielfältige Weise: Sobaut Siemens derzeit die Schränke mit der ge-samten Hardware zusammen und ist zugleichMinderheitsgesellschafter von Caterva.

Pilotversuch mit PV-Besitzern. Gemein-sam mit dem Energieversorgungsunterneh-men N-Ergie hat Caterva vor einigen Mona-ten einen Pilotversuch gestartet, an dem etwa65 private PV-Anlagenbesitzer teilnehmensollen. Sie können dank der Batterien mehrvon ihrem eigenen Strom verbrauchen alsohne diese Speicherlösung: im Schnitt zwi-schen 60 und 80 statt bisher nur 30 Prozent.Andreas Seubert ist der erste Teilnehmer, derin das Projekt eingestiegen ist. Als er mit sei-

tems zu werden“, erinnert sich Seubert. Der52-Jährige meldete sich als Teilnehmer desPilotprojekts. Im Frühsommer 2014 instal-lierte Caterva ihr neues ESS in Seuberts Keller.

Menschen wie Andreas Seubert sind diePioniere, die Caterva braucht, um die Leis-tungsfähigkeit des Konzepts zu beweisen.Dasselbe gilt für N-Ergie, den fränkischenEnergieversorger, der das Pilotprojekt mitträgt.„Die Umsetzung der Energiewende beschäf-tigt uns massiv“, erklärt Ingo Sigert, Referentder strategischen Unternehmensentwicklungund Projektleiter. Nur wer innovative Lösungenanbieten kann, wird sich als Energieversor-gungsunternehmen auf Dauer behauptenkönnen, ist Sigert überzeugt. Erst kürzlich hatN-Ergie einen 70 Meter hohen Heißwasser-Wärmespeicher in Betrieb genommen, der zuden höchsten in Europa gehört und der aneine Gas- und-Dampf-Anlage mit integrier-tem Biomasse-Heizwerk angeschlossen ist.

Wie sich das Problem der Speicherung undNetzregulierung mit den stark schwanken-den Strommengen aus erneuerbarer Energielösen lasse, ist also genau eine der Fragen,mit denen sich N-Ergie beschäftigt. „Als Ca-terva anklopfte und das Schwarm-Konzept

Speichern und vernetzen: Lithium-Ionen-Batterien (links) und die Mobilfunk-Kommunikation, die

aus vielen Anlagen einen virtuellen Großspeicher macht, sind das Herzstück der Caterva-Lösung.

Smarte Stromsysteme Schwarmlösung für dezentrale Energiesysteme

Page 29: PoF: Best of Spring 2015

56 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 57Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Was am 8. November 1895 an einemspäten Freitagabend im Physikali-schen Institut der Universität Würz-

burg geschah, kann wohl ohne Zweifel alseine der umwälzendsten Entwicklungen derMedizingeschichte bezeichnet werden: Wil-helm Conrad Röntgen entdeckte eine „neueArt von Strahlen“, die Materie scheinbar mü-helos durchdringen konnten, und er erkannteschnell, welchen Nutzen eine solche Durch-leuchtung für die Medizin haben würde. Zwei

Blutgefäße ohne Kontrastmittel sichtbar machen, Tumore besser vongesundem Gewebe unterscheiden – und dies alles bei einer geringerenStrahlendosis und mit hoher Energieeinsparung. Darauf zielt eine neueGeneration von Röntgensystemen aus den Siemens-Labors.

gens Entdeckung erhielt das UnternehmenSiemens&Halske am 24. März 1896 einPatent auf eine neue Röntgenröhre, die sich„besonders zur Durchleuchtung des ganzenKörpers erwachsener Personen“ eignete. Undbis heute blieb Siemens der Weiterentwick-lung der Röntgendiagnostik treu: von mobilenGeräten über voll digitale Systeme bis zumComputertomographen für 3D-Aufnahmenhat das Unternehmen die entsprechendenLösungen im Angebot.

Perfekt abgestimmt: Prof. Alessandro

Olivo testet im Labor des University

College in London Komponenten des

Siemens-Röntgensystems mit völlig neu-

artigen Röntgenröhren und Detektoren.

Über 90 Prozent aller bildgebenden Unter-suchungen weltweit setzen heute auf Rönt-genstrahlen. Doch immer noch basiert dieTechnik auf dem grundlegenden Prinzip, dasschon vor 120 Jahren genutzt wurde: Elektro-nen, die in einer Kathode erzeugt und dannauf hohe Energien beschleunigt werden,prallen auf eine feste Anode – meist aus demSchwermetall Wolfram – und setzen dadurchRöntgenstrahlen frei. Die wiederum werdenvon Knochen stärker absorbiert als von wei-

chem Gewebe: Die Knochen erscheinen imRöntgenbild daher dunkel, die Weichteilehell.

So erfolgreich dieses Verfahren in der Me-dizintechnik ist, so hat es doch auch ein paarSchwachpunkte. Beispielsweise erzeugen diemeisten der auf die Anode treffenden Elek-tronen vor allem Hitze. Nicht mehr als einProzent der Energie wird in Röntgenstrahlenumgesetzt – eine enorme Energieverschwen-dung. Dazu kommt: Bei vielen Anwendun-gen, etwa bei der Tumordiagnose, möchtendie Ärzte verschiedene weiche Gewebe bes-ser unterscheiden können. Doch erhöht manden Kontrast, wird der Patient auch einer hö-heren Dosis an Röntgenstrahlen ausgesetzt –was eigentlich vermieden werden sollte, weildie energiereichen Strahlen das Gewebeschädigen können.

Bei der Untersuchung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wiederum braucht man oftKontrastmittel, um in Angiographie-Gerätendie Blutgefäße im Röntgenlicht sichtbar zumachen – nun reagiert aber fast jeder zehntePatient allergisch auf diese Stoffe, was zuSchock und Nierenversagen führen kann. EinVerfahren, das mit weniger oder sogar ganzohne Kontrastmittel auskommt, wäre daherfür viele Millionen Menschen ein Segen.

Innovationen bei allen Komponenten.„Die Technologie, die wir gerade bei Siemensentwickeln, könnte uns helfen, all dieseHerausforderungen zu meistern“, sagt Prof.Dr. Oliver Heid, Leiter des Technologiefeldes„Healthcare Technology and Concepts“ beiSiemens Corporate Technology. Heid ist Me-diziner und Inhaber von rund 300 Patentenauf den unterschiedlichsten Feldern, von derHochfrequenztechnik über Supraleitung undMaterialwissenschaft bis zu Beschleunigernund Software-Lösungen.

„Wir sind dabei, alles völlig neu zu denkenund alles zu ändern: die Methode, wie Rönt-genstrahlen erzeugt werden, ebenso wiedas Verfahren, sie zu detektieren. Wenn allesklappt mit unserem Röntgensystem dernächsten Generation, wird dies eine weitereRevolution in der medizinischen Diagnostiksein“, betont Dr. Heinrich Kolem, CEO fürAngiographiesysteme bei Healthcare.

In dem mehrjährigen Forschungs- undEntwicklungsprojekt, das bis 2017 läuft,haben genau die richtigen Innovatoren zu-einander gefunden: neben Heid und Kolemsind das auch das Team für Komponentenund Vakuumtechnologie bei Healthcare, dasvon CEO Dr. Peter Molnar geleitet wird, sowieForscher von Siemens Corporate Technologyin Russland und externe Partner, beispiels-

weise von der Universität Oxford sowie Prof.Alessandro Olivo vom University CollegeLondon, der Erkenntnisse aus Wissenschaftund klinischer Praxis ins Entwicklungsteameinbringt. Molnar, dessen Geschäftseinheitpro Jahr rund 22.000 Röntgenröhren für dieComputertomographie, die Angiographieund die Röntgentechnik von Siemens produ-ziert, betont den Wert dieser Kooperation:„Unser gemeinsames Ziel ist die wett-bewerbsfähige Industrialisierung und dieerfolgreiche Markteinführung des neuen Sys-tems. Erst dann wird aus einer guten Ideeeine echte Innovation.“

Kalte Kathode und flüssiges Metall. Waswird nun alles geändert? Es fängt schon beider Kathode an: Hier setzt das Team nichtmehr auf 2.000 Grad heiße Glühdrähte, diedie Elektronen emittieren, sondern auf eineringförmige, sogenannte kalte Kathodeaus nanostrukturiertem Kohlenstoff, die beihoher Spannung und Raumtemperatur arbei-tet. Der Vorteil: Sie ist energiesparender alsdie bisherigen Kathoden.

Die Elektronen treffen nicht mehr auf einfestes Target aus Wolfram, sondern auf eineNeuerfindung der Siemens-Forscher, die sieLiMA genannt haben. Die Abkürzung stehtfür Liquid metal jet alloy target, also einenhaardünnen Strahl aus flüssigem Metall. Erbesteht zu 95 Prozent aus Lithium, das sehreffektiv die Wärme abtransportiert, und zufünf Prozent aus schweren Elementen wieetwa Wismut oder Lanthan. Sie werden be-nötigt, um die Elektronen abzubremsen undso die kurzwellige Röntgenstrahlung zu er-zeugen. Die Energie der Elektronen, die dieflüssige Metallstrahl-Anode verlassen, könntedabei zu großen Teilen zurückgewonnen unddem Energie-Kreislauf wieder zugefügt wer-den. Der Effekt: Die Röntgenröhre brauchtweniger als die Hälfte des Stroms und derKühlung von bisherigen Geräten – was denEnergieverbrauch deutlich senkt.

20-fach höhere Bildauflösung. Doch nochwesentlich wichtiger ist, dass auf diese Weiseeine viel höhere Energiedichte im Target ent-steht. Bei gleicher Lichtstärke ist der Fokusder neuen Röntgenquelle 400-mal kleiner alsbei den konventionellen Röntgenröhren. „ImBrennfleck ist diese Röntgenstrahlung vier-milliardenfach heller als die Sonne auf derErdoberfläche“, erklärt Heid, „was zu einer20-fach höheren Bildauflösung führt.“

Dies ist nun wieder um die Voraussetzungfür ein ganz neues bildgebendes Verfahren,an dem Wissenschaftler in aller Welt schonseit Jahren tüfteln: dem Phasenkontrast-

Die neue Röntgen-Revolution

Tage vor Weihnachten gelang ihm das erste„Röntgenbild“: Es war eine Aufnahme derHand seiner Frau, bei der nicht nur der Ehe-ring, sondern auch die Knochen klar zu er-kennen waren. Dass Röntgen im Jahr 1901den ersten Nobelpreis für Physik erhielt, wardann nur die logische Folge seiner außer-gewöhnlichen Leistung.

Aber auch die ersten industriellen Pro-dukte ließen in der Folgezeit nicht lange aufsich warten: Schon drei Monate nach Rönt-

Gesundheit & Mensch Medizinische Bildgebung | Phasenkontrast-Röntgen

Page 30: PoF: Best of Spring 2015

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 59

Wissenschaftler von Siemenshaben einen Algorithmus entwickelt, der in Verbindung mit einer innovativen Ultra-schallsonde die Aorten- und Mitralklappen eines Patienten analysiert, in 3D visualisiertund binnen Sekunden automa-tische Messungen vornimmt.Über diese Informationen kön-nen die Kardiologen dann dieAnatomie und Physiologie derKlappen mit bisher unbekann-ter Präzision schnell beurteilen,um therapeutische Entschei-dungen objektiver zu treffen.

Auf dem Weg zum personalisierten Herz-

modell: Ein neues Ultraschallverfahren

und innovative Algorithmen erlauben die

Visualisierung von Herzklappen. Dies soll

Diagnose und Therapieplanung künftig

deutlich verbessern.

T ief in der Brust, unterhalb des Brust-beins, schnürt etwas den Atem immermehr ab. Die Ursache kann eine An-

strengung wie Treppensteigen oder auchAufregung, Überraschung oder Stress sein.Atemnot kann durch viele Krankheiten hervor-gerufen werden. Die Herausforderung ist, dieUrsache schnell herauszufinden und die rich-tige Diagnose zu stellen – als Grundlage füreine optimale und rechtzeitige Behandlung.

Genau dafür hat Siemens zwei Elementekombiniert: eine neue Ultraschallsonde, dieTEE (Transösophageale-Echokardiographie)-Sonde, und einen neuen Algorithmus namens„eSie Valves“. Die Sonde liefert Echtzeitbilderder Anatomie und des Blutflusses in 4D (3Dplus Zeitverlauf). Diese Daten analysiert undvisualisiert eSie Valves, um daraus personali-sierte Modelle der Aorten- und Mitralklappenabzuleiten. Dank maschinellen Lernens verar-beitet der Algorithmus Schlüsseldaten aus Tau-senden kommentierter medizinischer Bilder.

Bei minimalinvasiven Behandlungen wiedem kathetergestützten Aortenklappenersatzund dem Clipping des Mitralklappensegelszielt die Kombination dieser Technologien aufdie Haupttodesursachen und wesentlichenGründe für den Verlust von Lebensqualität.Sie ist bei zwei der wichtigsten Herzklappen-erkrankungen anwendbar: der Aortenklappen-stenose – der Verengung der Aortenklappezwischen der linken Herzkammer und derAorta – und der Mitralklappeninsuffizienz,

einem Rückfluss von Blut aus der linken Herz-kammer in den linken Vorhof aufgrund einernicht richtig abdichtenden Mitralklappe.

Rund 2,5 Prozent der weltweiten Bevölke-rung sind von Herzklappenerkrankungen be-troffen. Jedes Jahr sind in den USA und inEuropa etwa 200.000 chirurgische Eingriffeam offenen Herzen nötig, um kranke Herz-klappen wiederherzustellen oder zu ersetzen.Laut der American Heart Association1 gehörenin den USA Herzklappenoperationen zu denteuersten und riskantesten Herzverfahren, mitdurchschnittlichen Kosten von 164.238 Dol-lar und einer Sterberate im Krankenhaus von3,63 Prozent2. Eine bessere Bildgebung könntehelfen, die Diagnostik zu verbessern. Auchließen sich diejenigen Patienten identifizieren,die wirklich eine chirurgische oder minimal-invasive Behandlung benötigen und die eineChance haben, davon zu profitieren.

Hochpräzise Verfahren. Echokardiographieliefert eine umfassende Einschätzung desHerzstatus. Wird so eine Herzklappenerkran-kung festgestellt, kann es angezeigt sein, dieHerzklappe zu operieren oder zu ersetzen.Viele Patienten können aber aufgrund ihresAlters nicht am offenen Herzen operiert wer-den. Daher haben sich minimalinvasive – unddamit patientenfreundlichere – Behandlun-gen in den letzten fünf Jahren zu einer wert-vollen Alternative entwickelt. Beispielsweisekönnen der kathetergestützte Aortenklappen-

Personalisierte Beurteilung von Herzklappen

1 http://circ.ahajournals.org/content/123/4/e18.full.pdf2 http://health.costhelper.com/heart-surgery.html

In der PoF Digital wird in einem

Video das neue Verfahren erklärt:

www.siemens.de/pof/herzklappen

Gesundheit & Mensch Medizinische Bildgebung | Personalisierte Herzklappenmodelle

58 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Die Bildauflösung ist 20-fach höher als bisher –damit lassen sich auch Phasen-verschiebungen messen.

Neuer Detektor: Ein Wellenfront-Sensor besteht aus Millionen konkaver Metall- oder Silizium-

Linsen, die eine Matrix von Brennpunkten auf dem Detektor erzeugen. Über die Verschiebung

dieser Brennpunkte lässt sich die Wellenbrechung im Objekt, etwa einem Tumor, ermitteln.

Röntgenröhre der Zukunft: Hier ist alles anders, als man es von bisherigen Röntgenröhren

kennt. Die Elektronen kommen nicht aus einer heißen Kathode, sondern aus einem kalten

Kathodenring, der aus nanostrukturiertem Kohlenstoff besteht – und das Röntgenlicht entsteht

in einem dünnen Strahl flüssigen Metalls und nicht an einer festen Anode.

Röntgen. Beim bisherigen Absorptionsrönt-gen wird einfach erfasst, ob die Strahlen einGewebe durchdringen oder nicht. Beim Pha-senkontrast-Röntgen hingegen werden auchdie Brechungseigenschaften gemessen, alsowie stark das Gewebe die Abfolge vonSchwingungstal und Schwingungsberg – diePhase – der Strahlungswelle beeinflusst. Dasist derselbe Effekt, der bei Sonnenschein ineinem wassergefüllten Swimmingpool dieLichteffekte auf dem Pool-Boden erzeugt.

In der Phasenverschiebung sind viele wert-volle Informationen enthalten, denn sie vari-iert je nach Art des Gewebes, durch das dieStrahlung gebrochen wird. Weichteilgewebekönnten so unterschieden werden – insbe-sondere der Unterschied zwischen Fett undWasser oder der Eisenanteil im Blut werdengut sichtbar, was beispielsweise wesentlichist, um einen Tumor im Frühstadium gut vomgesunden Gewebe abgrenzen zu können.

„Um diese Phasenverschiebungen messenzu können, arbeiten wir auch an einem völligneuen Bauteil auf der Detektionsseite“, er-klärt Dr. Andreas Geisler, Projektleiter für dasneue Röntgensystem in Heids Team. Dabeisoll ein sogenannter Wellenfront-Sensor, wieer beispielsweise in der Optik oder der Astro-nomie eingesetzt wird, erstmals auch fürRöntgenlicht verwendet werden. Er bestehtaus Millionen konkaver Metall- oder Silizium-linsen, die eine Matrix von Brennpunkten aufdem Detektor erzeugen. Über die Verschie-bung dieser Brennpunkte lässt sich die Wel-lenbrechung im Objekt ermitteln. Dies ist mitkonventionellen Detektoren allein heute sonicht möglich.

„Diese Röntgensysteme der nächsten Ge-neration sollen also nicht nur sehr effizientbetrieben werden können, sondern auch beirelativ geringer Strahlendosis Weichteilkon-traste gut erfassen können“, sagt Geisler.Blutgefäße ließen sich auch ohne Kontrast-mittel sichtbar machen, Tumore könntendank einer 20-fach besseren Auflösung unddes Phasenkontrast-Röntgens klarer erkanntwerden und auch für minimal-invasive Ein-griffe wäre die neue Technik ideal geeignet.

„Wir wollen beispielsweise Katheter durchMagnetfelder steuern und navigieren und je-derzeit über die Röntgen-Bildgebung wissen,wo sie sich im Körper genau befinden“, sagtHeinrich Kolem. Mit konventionellen Rönt-genröhren geht das nicht, weil sie auf Mag-netfelder empfindlich reagieren – „die Rönt-gensysteme der neuen Generation habendiesen Nachteil nicht und sie werden zu-gleich diagnostisch aussagekräftigere Bilderliefern können.“ Ulrich Eberl

Röntgenstrahlen

Anode Auffangbehälterfür Flüssigmetall

Ringförmigekalte Kathodeaus nano-strukturiertemKohlenstoff

Kollektorfür Elektronen

Dünner Strahl aus flüssigem Metall (LiMA: liquid metal jet alloy target)

Que

lle: S

iem

ens

Siemens Röntgenröhre der nächsten Generation

Que

lle: S

iem

ens

Wellenfront-Sensor Detektor

Brenn-punkte

Objekt mit Brechung derWellen an einem „Tumor“

Wie ein Wellenfront-Detektor funktioniert

Gesundheit & Mensch Medizinische Bildgebung | Phasenkontrast-Röntgen

Page 31: PoF: Best of Spring 2015

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 61

Siemens 360° Technik, die Spaß macht: Ein Besuch hinter

den Kulissen von Fahrgeschäften und Bierzelten beim

Münchner Oktoberfest. www.siemens.de/pof/oktoberfest

Best of Pictures of the Future Siemens 360°-Features

Siemens 360° Weltraumforschung: Ob für Raketen, die Satelliten ins All tragen, oder den Mars Rover Curiosity, der bereits seit 2012

erfolgreich auf dem Roten Planeten unterwegs ist: Siemens PLM Software kommt bei der Entwicklung von Raumfahrzeugen zum

Einsatz. Seien Sie dabei, auf der Startrampe oder im Kontrollzentrum: www.siemens.de/pof/360weltraum

Siemens 360° Gasturbinen: Flexibel, effizient und zuverlässig:

detaillierte Einblicke in die Technologie der Gasturbinen von

Siemens. www.siemens.de/pof/360gas

Siemens 360° Gotthard Basistunnel: Siemens liefert die Tech-

nik für den längsten Eisenbahntunnel der Welt. Wie sieht es

tief unten im Berg aus? www.siemens.de/pof/gotthard

Siemens 360° Windenergie: Geflügelte Giganten – ganz nah:

Auf der Gondel der Windkraftanlagen und dort, wo die riesi-

gen Rotorblätter entstehen. www.siemens.de/pof/360wind

Ein Blick hinter die KulissenWollten Sie schon immer einmal auf einem Windrad im offenen Meer stehen? Zuschauen, wie Gasturbinen für Kraftwerke gefertigt werden? Als einer der Ersten im längsten Eisenbahntunnel derWelt stehen? Eine Rakete aus nächster Nähe auf der Startrampe sehen? Oder hinter die Kulissen desOktoberfests schauen? Wir laden Sie ein, genau dies zu tun – mit unseren interaktiven 360°-Features.

60 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

sich ein ganzer Herzzyklus visualisieren lässt.„Damit können Ärzte die Klappen im Zeitver-lauf besser modellieren und vermessen. Sokönnen sie etwa sehen, wie sich der Durch-messer des Faserrings der Mitralklappe überden Herzzyklus hinweg verändert“, sagt Mansi.Andere am Markt erhältliche Systeme könn-ten die Mitralklappe zum Beispiel nur in einereinzigen Position zeigen, erklärt er. „Wir da-gegen zeigen beide Klappen dynamisch“.

Und das sehr schnell. „Mit einer standard-mäßigen Quantifizierungssoftware dauert esmehrere Minuten, um die Messwerte für eineHerzklappe in einer Position auszugeben“, sagtMansi, der mit Mihai Scutaru und IngmarVoigt von CT sowie mit Dr. Razvan Ionasecvon Siemens Healthcare zusammengearbei-tet hat. „eSie Valves bietet automatische undreproduzierbare Messungen der Aorten- undMitralklappen binnen Sekunden. Mit diesen

um den Operationsablauf optimal planenund das Ergebnis einschätzen zu können.

Leider sind diese Informationen mit demfrüheren 2D-TEE-System vor der Operationoft nicht verfügbar. „Bisher müssen Chirurgenviele ihrer Entscheidungen treffen, wenn derBrustkorb des Patienten bereits geöffnet ist“,erklärt Mansi. „eSie Valves, das auf Echtzeit-Daten des 3D-TEE-Systems basiert, liefert dieSchlüsseldaten bereits vor der Operation, so-dass Herzchirurgen hoffentlich nicht längerdurch die reale Anatomie überrascht werden.“

Neben der Software eSie Valves ist auchdie neue Ultraschallsonde mit ihrer nahtlosenBildgebung eine bahnbrechende Neuigkeit.„Dies ist wichtig, weil sich die Aortenklappeund die Mitralklappensegel sehr schnell bewe-gen und man keine Stitching-Artefakte in denBildern haben möchte. Sie können entstehen,wenn der Patient etwa unter einem unregel-mäßigen Herzschlag leidet“, sagt Helene Houlevon Siemens Ultrasound. Sie ist die klinischeExpertin in der Entwicklung von eSie Valves.

Für eine ausreichende zeitliche Auflösung,sagt Houle, müssten andere Systeme Bilderaus aufeinanderfolgenden Herzzyklen zusam-menfügen, um durchgängige Ultraschall-pyramiden zu erhalten. „Unsere Technologieerzeugt diese Information durch kontinuierli-che Bildgebung. Dabei werden gleichzeitig dieAnatomie und der Blutfluss aufgenommen.Die Eigenschaften der neuen Ultraschallsondevon Siemens – hohe Volumenrate, echte Ab-bildung des Volumens ohne Stitching in Echt-zeit und mit Farbdoppler – gibt es in dieserKombination nur bei Siemens.“

Personalisiertes Bild. Die neue eSie-Valves-Technologie von Siemens in Verbindung mitdem kürzlich vorgestellten 3D-TEE-Katheter istein Meilenstein auf dem Weg zur personali-sierten Behandlung von Herzleiden. Dahintersteht noch eine viel ehrgeizigere Vision: DieWissenschaftler wollen irgendwann ein Mo-dell des gesamten Herzens eines Patienteninklusive Hämodynamik – also Bewegung,Volumen und Druck des Blutes – erstellenund an diesem personalisierten Modell The-rapien durchführen. So könnten die anschlie-ßenden Behandlungsmethoden optimiert unddie Nebenwirkungen minimiert werden. Mitdem Modell könnten Ärzte die Wirksamkeiteiner Therapie bereits vor der Behandlungtesten. „Hinter eSie Valves steht eine generi-sche Lerntechnik“, sagt Mansi. „Das ist keineEntwicklung für nur eine Anwendung. Genaudas macht die Software einzigartig: Sie hatdas Potenzial, uns eine ganz neue Welt vonAnwendungsmöglichkeiten zu eröffnen.“

Arthur F. Pease

ersatz in Fällen einer schweren Verengungder Aortenklappe und das Clipping der Mit-ralklappe bei schweren Funktionsstörungenvon der TEE-Sonde von Siemens profitieren.eSie Valves kann die diagnostische Einschät-zung verbessern, Daten während des Eingriffsanalysieren und die Funktion der künstlichenKlappe im Nachgang überwachen.

Um Anatomie und Funktion der Klappe zuvisualisieren, würde der Kardiologe künftigdie TEE-Sonde in die Speiseröhre des Patien-ten bis nahe an den linken Vorhof schieben.Sobald der Kardiologe mit den Bildern zufrie-den wäre, würde er sie speichern und eSieValves anwenden. Mit Hilfe dieses halbauto-matischen Softwarepakets würde die Klappeerkannt, indem Position und Ausrichtung desZielobjekts sowie Orientierungspunkte (etwawichtige anatomische Eigenschaften) identi-fiziert werden. Danach würde die Software

quantitativen Daten können Ärzte schnell undeinfach die Anatomie und Physiologie der Klap-pen beurteilen. Dadurch wird die Diagnosegenauer. Zudem lassen sich chirurgische oderminimal-invasive Eingriffe besser planen.“

Nahtlose Bilder. Dies ist vor allem bei derMitralklappe wichtig. Denn im Gegensatz zurAortenklappe werden die Mitralklappensegel,die den Blutzufluss aus dem linken Vorhof indie linke Herzkammer regeln, von Muskeln inPosition gehalten, was minimal-invasive Be-handlungen erschwert. Da oft Operationenam offenen Herzen nötig sind, um die ver-schiedenen Mitralklappenleiden zu behan-deln, ist es für Ärzte sehr wichtig, so vieleInformationen wie möglich über den Zustandder Herzklappe des Patienten zu sammeln,

Am Herzmodell: Dr. Tommaso Mansi (l.) erklärt Sasa Grbic, wie die neue Software funktioniert.

die Aortenklappe segmentieren, das heißt,aus ihrer Umgebung herauslösen.

„Dann legt die Software ein Modell einerdurchschnittlichen Klappe über das Bild derechten Klappe und passt die Modellklappe soan, dass ihre Abgrenzung mit der tatsächli-chen Klappe des Patienten übereinstimmt“,erklärt Tommaso Mansi, PhD, Senior Key Ex-pert bei Siemens Corporate Technology (CT),der an der Entwicklung des eSie-Valves-Algo-rithmus beteiligt war. Als Ergebnis erhält manein personalisiertes Klappenmodell. ZumSchluss klickt der Arzt auf „Analyse“, und eSieValves stellt automatisch Schlüsseldaten wieUmfang oder Ausdehnung bereit, damit sichdie Intervention besser planen lässt.

Anschließend kann der Arzt den dynami-schen Modus der Software aktivieren, mit dem

Gesundheit & Mensch Medizinische Bildgebung | Personalisierte Herzklappenmodelle

Page 32: PoF: Best of Spring 2015

Dann kam der Tag, an dem die Technik reifwar, um mich zurückzuholen. Ich tauchte ausdem Koma auf wie aus einem tiefen See. Ichblinzelte. Androgyne Arztwesen schwammenvor meinen Augen: „Herr Turner, wie fühlenSie sich?“

Körperzellen aus dem 3D-Drucker. Wäh-rend mein Körper allmählich wieder zu Kräf-ten kam und ich mich an den Gedanken zugewöhnen begann, in einer neuen Welt zuleben, erfuhr ich peu à peu, wie die Ärztemeine Organfunktionen wieder normalisierthatten und wie sie über eine Knochenrege-neration meine Bewegungsfähigkeit undKraft wiederhergestellt hatten. Man erzählte

So muss sich der Tod anfühlen. Meineletzte Erinnerung ist ein außer Kon-trolle geratener Lkw auf einer vereisten

Straße. Er rast auf mich zu, alle Sicherheits-systeme geben Alarm – nein, das kann nichtsein, denke ich, nicht mit all der Technik desautomatisierten Fahrens, den Sensoren, derCar-to-Car-Kommunikation... Dann wird esdunkel um mich. Das war 2020.

40 Jahre lang war ich nicht Teil dieserWelt: schwebend im sterilen, automatisiertenZwischenreich eines künstlichen Komas, dasvon der Versicherung bezahlt wurde. Ein35-jähriger, lediger und kinderloser Turbinen-schaufelingenieur weniger. Adieu, schöneWelt!

62 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 63Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

mir, dass Roboter, die mit besonders feinemWerkzeug arbeiten, die zerstörten Teile mei-ner Organe und Knochen aus meinem Körperentfernt hatten. Im nächsten Schritt hattensie winzig kleine Gerüste für den Neuaufbaukonstruiert und diese mit meinen eigenenStammzellen angereichert. Wie beim 3D-Druck zogen sie diese Schicht für Schicht auf.Als ich ein junger Ingenieur war, nannten wirdiese Vorgehensweise „additive manufactu-ring“. Damals war jedoch nicht daran zu den-ken, ganze Teile eines Menschenkörpers mitdiesen Verfahren zu reproduzieren!

Für jemanden wie mich, der sich vor sei-nem Unfall mit der Herstellung von Turbinen-schaufeln befasst hatte, war die Kunde von

diesen neuen Fertigungsverfahren ein ganzschön aufregender Einstieg in eine neueWelt. Allerdings muss ich zugeben, dass michvor allem praktische Dinge aus meinemfrüheren Berufsumfeld interessierten: Turbi-nenschaufeln, Metall-Keramik-Verbindungen,Fertigungstechniken und solcher Kram.

Und Giuseppe, mein alter Kumpel aus derKonstruktionsabteilung. Was wohl aus ihmgeworden war in den vergangenen 40 Jah-ren? Er musste jetzt Anfang 70 sein, unddamit laut den „Resozialisierungsinformatio-nen“, mit denen ich im Krankenhaus über-schüttet wurde, knapp im Rentenalter.

„Wegen guter Führung entlassen, was?“Da war Giuseppes ironisches Grinsen wieder,

als er mich zwei Wochen später herzlich be-grüßte. Es war ein schöner Frühlingsmorgen,und wir fuhren durch die schottische Land-schaft zum Standort unseres alten Produkti-onswerks.

Wie unberührt es hier ist, so frei von in-dustriellen Schandflecken, dachte ich, als wirüber die erstaunlich leere Autobahn glitten.Wenig später kamen wir zu einem Ort, deraussah wie ein großer Picknickplatz. „Zuganggenehmigt“, sagte eine Stimme aus dem Ar-maturenbrett, das Fahrzeug rollte hinein undparkte.

Unsichtbare Fabrik. „Warum halten wir hieran?“, fragte ich und blickte über die sanften

Hügel mit grasenden Schafen, wilden Hasenund ein paar Rothirschen. Dieser Ort erin-nerte mich an die Safariparks, in denen dieTiere frei herumliefen. Als Kind hatte mich inso einem Park in San Diego mal ein Pavianangesprungen. Ich war etwas nervös.

„Wirst schon sehen“, sagte Zeppy, wie ichGiuseppe nannte. Wir stiegen aus undschlenderten über die Wiese, wobei wir Grup-pen von Kaninchen aufschreckten.

Nach einigen Metern gelangten wir aneine von mehreren unauffälligen Wölbun-gen, die über die Wiese verstreut lagen. Wasging hier nur vor? Zeppy hockte sich hin undlegte seine Handfläche auf die Oberfläche. Zumeinem Erstaunen wurde die Wölbung

Produktion im Untergrund

2060. In Zukunft könnten viele Fabriken unter der Erde liegen – nicht sichtbar und hoch-automatisiert. Ein neues Wettbewerbsfeld eröffnet sich hier: Tausende Menschen konkurrieren darum, wer spezielle Teile am günstigsten fertigen kann, in Untergrundfabriken oder direkt beim Kunden. Diese neue Welt entdeckt Ambrose Turner, ein Turbinenschaufel-Ingenieur, als er nach 40 Jahren im künstlichen Koma zurück ins Leben geholt wird.

Die Fertigung von morgen Szenario 2060

Page 33: PoF: Best of Spring 2015

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durchsichtig. Wir befanden uns am Randeiner riesigen, versenkten Blase und blicktenin eine Welt hektischen Treibens hinunter.„Willkommen im neuen Werk!“, sagte Zeppy.„Es ist vor einigen Jahren in Betrieb gegan-gen. ’54, glaube ich.“

Fabrik unter der Erde. Ich muss so verblüfftausgesehen haben, dass Zeppy hinzufügte:„Entschuldigung. Ich sollte dir das erklären:Diese Blasen sind hart wie Stahl, werden fürautorisiertes Personal aber durchsichtig.Läuft alles mit Biometrie – hier über eineintegrierte Schicht, die Fingerabdrücke undgenetische Signaturen erkennt. So sind Vor-Ort-Inspektionen von Schlüsselbereichenmöglich – zumindest wenn sich jemand dieMühe macht, hier herauszufahren.“

Ich hockte mich neben Zeppy und spähtein die Fabrik hinunter. „Du meinst, das hier istes?“, fragte ich. „Das Produktionszentrum fürunsere Turbinenschaufeln?“ „Jawohl!“, ant-wortete er stolz. „Viele Hektar unter diesenblühenden Wiesen.“

Wo sind eigentlich die Arbeiter? „Und dieArbeiter?“, fragte ich, als eine 40 Jahre alteErinnerung an Linda aufblitzte, die umwer-fende Produktionschefin, die kurz vor mei-nem Unfall ins Unternehmen gekommenwar. „Die Büros? Die Parkplätze? Wo ist dasalles?“

„Langsam“, sagte Zeppy. „Wir haben Hun-derte von Arbeitern. Aber du wirst hier nichtviele sehen. Die meisten machen ihren Kramzuhause. Das ist auch in anderen Unterneh-men so. Daher die fast leeren Straßen, freienLandschaften und wildlebenden Tiere. Grup-pen aus aller Welt konkurrieren miteinanderum unser Geschäft. Wir nennen das heuteCo-Creation. Sie arbeiten an Aufträgen vonder Partikelsprüh-Anlage für Schaufeloberflä-chen, die per Additive Manufacturing herge-stellt werden, über hybride Komponenten,die aus mehreren Substanzen zusammenge-setzt sind, hin zu Logistikoptimierung, überSensornetze und Roboterschwärme bis zurFernwartung und der IT-Sicherheit. All dasmachen wir!“

„Ist ja irre“, sagte ich, während ich lang-sam begriff, was während der letzten Jahr-zehnte passiert war. „Guck mal hier runter“,fuhr Zeppy fort. Er deutete auf einen Bereichdirekt unter uns, wo kühlschrankgroße, fastdurchsichtige Maschinen über eine Röhreverbunden waren, in der es glühte, als ob sieaus purer Energie bestünde.

„Hier siehst du, wie das Skelett jederSchaufel sozusagen Muskeln und Sehnen er-hält“, sagte er. „Der vorgeformte Kern wird in

einem anderen Werk hergestellt, um struktu-relle Integrität zu garantieren. Dann werdenin verschiedenen Schritten Keramik-, Metall-und Karbon-Nanopartikel auf den Kern auf-gespritzt. Das ist ähnlich wie beim 3D-Druck,an dem wir vor deinem Unfall gearbeitethatten, aber tausendmal präziser – undproblemlos kundenspezifisch anzupassen.Das Ergebnis ist eine absolut abriebfeste kris-talline Atomstruktur. Für die Verbrennungdes reinen Wasserstoffgases, das von wind-und solargetriebenen Elektrolyseuren produ-ziert wird, ist das ideal.“

Durchbruch der Wasserstoffwirtschaft.„Die Wasserstoffwirtschaft hat also endlichden Durchbruch geschafft!“, rief ich. „Ja, alsEnergieträger für den Überschussstrom“, be-stätigte Zeppy. „Und unsere Fertigungstech-nik für Hochtemperaturschaufeln macht dasmöglich. Aber das ist nicht alles: Wir bettensogar mikroskopische Sensoren in die Schau-feln ein, die kontinuierlich Daten über denaktuellen Schaufelzustand liefern. Um Mikro-deformationen und Materialverunreinigun-gen zu verhindern, werden die Schaufelnnicht über ein Förderband von Maschine zuMaschine transportiert, sondern in Behälternüber ein starkes Magnetfeld, das gleichzeitigals Inspektionssystem dient.“

„Verstehe“, sagte ich. „Aber wie kommendie Teile und Produkte hier rein und raus?“„Fast alles funktioniert unterirdisch“, erklärteZeppy. „Die Materialien gelangen über einRohrsystem zu uns. Das sind ganz speziellePulver. Die fertigen Produkte werden über einweiteres Rohrleitsystem zum Vertriebszen-trum transportiert. „Was ist mit Reparaturenund Ersatzteilbeschaffung vor Ort – kann derKunde das jetzt alleine“, fragte ich.

„Na klar“, sagte Zeppy. „Wenn zum Beispieldie Oberfläche einer Schaufel erneuert wer-den muss, können die Roboter des Anlagen-betreibers einfach vor Ort eine neue Schichtbeliebigen Materials auftragen – je nachdem,was für die spezifische Anwendung notwen-dig ist. Sie können aber auch neue Teile vorOrt herstellen. Und mehr noch: Wenn sieselbst neue Ideen entwickeln …“

Wir nahmen im Augenwinkel eine Bewe-gung wahr und schauten auf. Nur wenigeMeter entfernt stand ein großer, grauer Wolf.Seine gefletschten weißen Zähne glänzten inder Morgensonne. Ich erstarrte. „KeineSorge“, meinte Zeppy. „Nur eins von unserenbionischen Sicherheitssystemen. Es erkenntmich.“ „Und mich?“, fragte ich, als ein furcht-erregendes Knurren zu hören war. „Daskönnte tatsächlich ein Problem sein“, sagteZeppy trocken. Arthur F. Pease

Die Fertigung von morgen Szenario 2060

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 65

Bei gasbetriebenen Kraftwerken sollen in

naher Zukunft Bewegungssensoren Messwerte

erfassen, die auf einen Verschleiß von Bauteilen

hinweisen. Forscher von Siemens wollen diese

Daten mit Zusatzinformationen – etwa über die

erzeugte Energiemenge, Veränderungen bei

elektrischen Strömen im Motor – und anderen

Parametern kombinieren und in Echtzeit aus-

werten. Nach konservativen Schätzungen ließe

sich damit die Zeit, die ein Techniker für den

Zugriff auf relevante Daten benötigt, um min-

destens 25 Prozent verringern. Im Schnitt ent-

fallen 80 Prozent der Bearbeitungszeit für eine

Anfrage auf die Datensammlung. Daher beläuft

sich allein beim Turbinen-Service das Spar-

potenzial auf über eine Million Euro jährlich.

Bei den neuesten Gasturbinen der H-Klasse von

Siemens gibt es diese Echtzeit-Auswertung

bereits. Mehrere hundert Sensoren messen an

diesen Turbinen die wichtigsten Betriebswerte.

Frühwarnungfür Turbinen

In der Fabrik der Zukunft ist alles miteinander vernetzt: Die Montagearbeitsplätze wissen, welcher

Mensch als Nächstes an ihnen arbeiten wird – und kooperative Roboter helfen bei schweren Tätigkei-

ten. Die Arbeiter werden wohl nach wie vor an Montageplätzen tätig sein, doch wird es weder starre

Schichten und Produktionsabläufe noch feste Arbeitsplätze mehr geben. Auch monotone und einsei-

tig belastende Tätigkeiten dürften in 15 Jahren schon weitgehend der Vergangenheit angehören,

glauben Johannes Scholz und Johannes Labuttis. Die beiden Ingenieure erforschen bei Siemens Cor-

porate Technology in München die Rolle des Menschen in der Produktion. Es geht dabei vor allem da-

rum, das individuelle Zeitmanagement der Arbeitnehmer mit dem Personalbedarf des Unternehmens

optimal zu kombinieren. Zukünftig werden die Menschen für die Flexibilität und die kognitiv anspruchs-

vollen Tätigkeiten und die Roboter für die effiziente und schnelle Fertigung zuständig sein.

Arbeitsplatz nach Maß

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Seit Jahren diskutieren Wissenschaftler, wie sich die Fertigung verändern wird. Wesent-

liche Elemente der „intelligenten“ Fabrik von morgen ließ sich Bundeskanzlerin Angela

Merkel im Februar 2015 im Elektronikwerk Amberg (EWA) von Siemens zeigen. Bereits

heute kommunizieren dort Produkte und Maschinen. Sämtliche Prozesse sind IT-optimiert

und -gesteuert – pro Tag werden 50 Millionen Messdaten erhoben und analysiert. Das

EWA hat dadurch eine minimale Fehlerquote von 11,5 Defekten auf eine Million Fehler-

möglichkeiten, also 99,99885 Prozent Qualität. Jährlich stellt die Fabrik zwölf Millionen

Simatic-Produkte her. Bei 230 Arbeitstagen pro Jahr bedeutet das: Jede Sekunde verlässt

ein Gerät das EWA. Die Fertigung funktioniert weitgehend automatisiert. 75 Prozent der

Wertschöpfungskette bewältigen Maschinen und Computer eigenständig, ein Viertel der

Arbeit wird von Menschen erledigt. Nur zu Fertigungsbeginn wird das Ausgangsbauteil,

eine unbestückte Leiterplatte, von menschlicher Hand berührt – ein Mitarbeiter legt es

in die Produktionsstraße. Von nun an

läuft alles maschinengesteuert. Der

Clou: Simatic-Steuerungen selbst

regeln die Herstellung von Simatic.

99,99885 Prozent Qualität

Siemens liefert die Steuerungs- und Antriebs-

technik für das größte transportable Riesenrad

der Welt. Gebaut hat den 80 Meter hohen und

750 Tonnen schweren Stahlgigant das Münch-

ner Unternehmen Maurer German Wheels nach

einem Entwurf von Bussink Design. Mit 74 Me-

tern Durchmesser vollzieht das Rad zwei oder

vier Umdrehungen pro Stunde und transportiert

in jeder seiner 27 Gondeln bis zu 16 Passagiere.

Mobile XL-Riesenräder sind nicht für die Kirmes

oder größere Volksfeste gedacht, denn dafür ist

ihre Auf- und Abbauzeit von drei bis vier

Wochen zu lang. Die Giganten sollen an wech-

selnden Orten als vorübergehende Touristen-

attraktion dienen. So zieht das erste Rekord-

Riesenrad die Besucher in Puebla, Mexiko, an.

Sicherheit ist bei den riesigen Anlagen oberstes

Hightech fürRiesenräder

Gebot. Doppelte Vorsorge ist zum Beispiel für

Stromausfälle getroffen. Es gibt zum einen ein

Notstromaggregat, außerdem sorgen die sehr

guten Lager dafür, dass das Rad immer mit dem

Schwerpunkt nach unten rollt, so dass auch

ohne Strom alle Passagiere aussteigen können.

Sicherheit gewährleisten auch zwei redundan-

te, als fehlersicher zertifizierte Simatic S7-300F

Steuerungen.

DIE FERTIGUNG VON MORGENBest of Pictures of the Future, Frühjahr 2015

Mehr zur digitalen Fabrik und dem

Werk Amberg finden Sie in der PoF

Digital: www.siemens.de/pof/ewa

Mehr zu Siemens-Technik, die Spaß

macht, in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/oktoberfest

Page 34: PoF: Best of Spring 2015

66 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 67Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

3D-Drucker kommen in der Fertigungan. Sie revolutionieren die Ersatzteilver-sorgung und machen völlig neuartigeDesigns für wichtige Bauteile möglich.

Tanz der Laserstrahlen

Immer wieder zucken orangerote Blitzeauf, kommen näher, ziehen Schleifenund entfernen sich. Olaf Rehme von Sie-

mens Corporate Technology beobachtet dasscheinbar chaotische Spiel der Funken, dassich hinter der Glasscheibe eines 3D-Druckersabspielt. Ein Laserstrahl zieht dort seineBahn, zeichnet in einem Bett aus Metallpulverden Querschnitt eines Bauteils nach. Dabeiverschweißt er die feinen Metallpartikel. EinePlattform, auf der das entstehende Bauteilliegt, senkt sich, eine 0,05 Millimeter dünneSchicht an frischem Pulver wird darüber aus-gestrichen. Der Laserstrahl beginnt seinen

Funken sprühen beim 3D-Druck: Wenn der Laserstrahl im Metallpulver den Querschnitt von Bauteilen nachzeichnet, entstehen hohe Temperaturen.

Schweißverfahren aufgebaut werden muss.Stattdessen wird der neue Brennerkopf ein-fach direkt auf den Brennerrumpf aufge-druckt. Die Reparaturkosten sinken dabeierheblich.

Einzelne Teile im Inneren von Turbinenmüssen sehr lange wartungsfrei laufen, dieSchaufeln von Gasturbinen beispielsweise für25.000 Stunden – und das bei Temperaturenum 1.300 Grad Celsius. Plastikteile wären dafehl am Platz. Sie würden sofort schmelzen.Siemens druckt deshalb mit Stahlpulver. „FürHochtemperaturanwendungen in Turbinenverwenden wir Legierungen auf Nickelbasis.Solche Stähle sind besonders stabil und hit-zebeständig“, sagt Rehme.

Nah beim Kunden. Das Beispiel mit denBrennerspitzen zeigt: 3D-Druck könnte die Er-satzteilversorgung revolutionieren. Heutewerden Ersatzteile gelagert und bei Bedarfeinzeln verschickt. Das kann im schlimmstenFall bedeuten, dass ein Kraftwerk oder eineFabrik abgeschaltet werden muss, bis dasdringend benötigte Teil endlich kommt.„Künftig könnte ein Netzwerk von kleinen 3D-Druckereien Ersatzteile entsprechend einemdigitalen Bauplan ausdrucken. Und zwargenau da, wo sie gebraucht werden: nahebeim Kunden“, erklärt Rehme.

Höhere Temperatur, höhere Effizienz.Außerdem ermöglicht 3D-Druck Formen, diemit anderen Produktionsverfahren schlichtnicht zu machen sind. Beispielsweise kom-plexe Geometrien für Bauteile, die das Gas-Luft-Gemisch optimal verwirbeln, um dieVerbrennung zu verbessern. Oder die Schau-feln in der Expansionsturbine: „Im Innerenvon Turbinenschaufeln gibt es filigrane Lüf-tungskanäle, die für Kühlung sorgen. Heutemüssen diese Kanäle gebohrt oder gegossenwerden. Doch genau dabei stoßen wir inzwi-schen an Grenzen. Wenn wir eine Turbinen-

schaufel aus einem Stück drucken könnten,ließe sie sich voraussichtlich besser kühlen“,so Rehme. Eine bessere Kühlung der Schaufelwürde den Kühlluftverbrauch in der Turbinesenken und damit eine höhere Effizienz er-möglichen. Und effiziente Turbinen verkau-fen sich gut.

Extreme Fliehkräfte. „Bis es so weit ist,müssen wir einige Fortschritte machen“,räumt Rehme ein und streicht mit einem Pin-sel das feine Pulver von dem fertig gedruck-ten Bauteil. „Noch dauert es relativ lange, eineinzelnes Teil auszudrucken. Je nach Größekann das ein paar Stunden oder sogar Tagedauern“, erklärt der Forscher. Zudem müssener und seine Kollegen die verwendetenMaterialien weiterentwickeln. Turbinen-schaufeln müssen extremen Bedingungenstandhalten: Bei hoher Drehzahl bewegensich ihre Spitzen schneller als eine Pistolen-kugel. Die Zentrifugalkraft zerrt mit einer Ge-walt, als würden 20 Autos an ihnen hängen.Gedruckte Metallteile sind bislang für Anwen-dungen unter derartigen Bedingungen nochnicht robust genug.

Die Fabriken von morgen werden alsoweiterhin schmieden, fräsen und gießen, ins-besondere wenn es um Massenware geht –da zählen Produktionsgeschwindigkeit undniedrige Stückkosten. 3D-Druck wird die be-stehenden Verfahren aber gut ergänzen. BeiKleinserien, Einzelstücken oder ausgefalle-nen Formen sind 3D-Druck-Verfahren kaumzu schlagen. Und um sie noch ein wenigschneller zu machen, tanzen in den neuestenDrucker-Modellen inzwischen bis zu vierLaser gleichzeitig über das Bett aus Metall-pulver. Andreas Kleinschmidt

Tanz aufs Neue. Nach und nach wächst ausdem Umriss im grauschwarzen Pulverbetteine dreidimensionale Struktur. Schablone istein 3D-Modell aus dem Computer, das demLaserstrahl seinen Weg vorschreibt.

Schicht für Schicht. Wo bisher geschmie-det, gefräst oder gegossen wurde, kommtimmer häufiger der Laser zum Einsatz. Lagefür Lage wird beim sogenannten Laser-strahlschmelzen ein Gegenstand erzeugt.3D-Druck gibt es seit den 80er-Jahren. Ur -sprünglich wurden dafür nur schnell aushär-tende Kunststoffe verwendet. Perfekt, um

Prototypen von Teilen herzustellen, die spätervon klassischen Stanz- oder Spritzgussmaschi-nen in Masse produziert werden sollen.

90 Prozent Zeitersparnis. „Doch die Welthat sich weitergedreht“, sagt Rehme. „Inzwi-schen werden nicht mehr nur die Modelleund Formen für einzelne Teile hergestellt –sondern die Teile selbst. Bei Siemens druckenwir inzwischen sogar Brennerspitzen als Er-satzteile für Gasturbinen.“ Das neuartige Ver-fahren reduziert die Reparaturzeit bestimm-ter Modelle um rund 90 Prozent, da die Er-satz-Brennerspitze nicht mehr aufwändig mit

Faszinierende Bilder von 3D-Druck-

Verfahren in der PoF Digital:

www.siemens.de/pof/3d-druck

Die Fertigung von morgen Trends

Page 35: PoF: Best of Spring 2015

Sinkende Kosten

50%billiger

400%schneller

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 69

Additive Manufacturing, umgangssprachlich

auch 3D-Druck genannt, wird die herkömmlichen

Herstellungsverfahren nicht ablösen – aber in

der Nische wird es die Fertigung revolutionieren.

Was wissen wir über diesen Markt, der in den

kommenden Jahren exponentiell wachsen soll?

Rapides Wachstum beim Rapid Prototyping.Aus Anwendersicht lässt sich der Markt des Addi-

tive Manufacturing (AM) grundsätzlich in zwei

Bereiche aufteilen: die mittlerweile auch für Pri-

vatkunden erschwinglichen Kunststoff-Drucker

und professionelle Anlagen für die Industrie zum

„Drucken“ mit Materialien aller Art, bis hin zu

Keramiken und Metallen. Analysten bezeichnen

diesen Markt der additiven Herstellungsverfahren

zwar derzeit noch als Nische, schreiben ihm für

2012 jedoch bereits einen Marktwert von bis zu

zwei Milliarden Euro zu. 20 Jahre hatte es ge-

dauert, bis die Branche einen Wert von einer

Milliarde erreicht hatte. Die zweite Milliarde war

dann innerhalb von fünf Jahren geschafft. Jetzt

gehen Analysten davon aus, dass in den kom-

menden zehn Jahren mindestens eine vierfache

Steigerung möglich ist.

Vom Prototyp zur Serienfertigung. Bisher

kommt das Additive Manufacturing vor allem

beim Rapid Prototyping zum Einsatz: Prototypen

für Luft- und Raumfahrt, Automobilindustrie,

Maschinenbau sowie Medizin- und Zahntechnik

werden Schicht für Schicht hergestellt. Allein in

Deutschland sind nach Erhebungen der „Fraunho-

fer Allianz Generative Fertigung“ in diesem Dienst-

leistungsmarkt etwa 150 Unternehmen aktiv.

Obwohl die Analysten von Wohlers Associates

davon ausgehen, dass der Rapid-Prototyping-

Markt von 1,5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2012

bis 2020 auf mehr als fünf Milliarden US-Dollar

anwachsen wird, liegt die Zukunft ihrer Einschät-

zung zufolge an anderer Stelle: „Geld wird mit

der Fertigung gemacht werden, nicht mit Prototy-

pen“, prophezeit Tim Caffrey, Berater bei Wohlers.

Ähnlich schätzt es Bernhard Langefeld ein,

Maschinenbau-Experte bei Roland Berger Strate-

gy Consultants und einer der Autoren der Studie

„Additive Manufacturing – A game changer for

the industry?“: Er sieht die Industrie bei der Pro-

duktion metallischer Strukturen durch AM bereits

an der Schwelle zur Serienfertigung für ausge-

wählte Produkte in der Medizin- oder Luftfahrt-

technik. Für Zahnkronen und Hüftgelenke bei-

spielsweise ist die Fertigung durch Additive

Manufacturing bereits Realität. Auf Basis der Da-

ten des Scans werden passgenaue Implantate in

Stückzahl „Eins“ gefertigt. Siemens druckt inzwi-

3D-Druck: 300% Wachstum in einer Dekadeschen sogar Brennerspitzen aus Stahlpulver als

Ersatzteile für Gasturbinen.

Effizienz der Anlagen steigt. Im Jahr 2013

klassifizierte die MIT Technology Review das

Additive Manufacturing als eine der zehn bahn-

brechenden Technologien des Jahres. Das Her-

stellungsverfahren ist auf die gesamte Branche

gesehen aber noch zu teuer und dauert zu lang.

Da bisher nur wenige Teile hergestellt werden

können, macht aktuell allein die Maschine bis zu

50 Prozent der Kosten aus. Größter Treiber, um

günstiger zu werden, sind der Roland-Berger-

Studie zufolge schnellere Anlagen. „Die Hersteller

*wenn es Herstellern von AM-Systemen gelingt, die Fertigungsrate zu vervierfachen und die Prozessstabilität zu verbessern.

2013 2018 2023 2013 2018 2023

4,5

2,21,7

1,00,90,80,50,40,50,40,30,2<0,1<0,1

19902000

20102013

20182023

73% Indirekt27% Direkt

59% Indirekt41% Direkt

75% Indirekt25% Direkt 10cm3/h

40cm3/h

80cm3/h

Prognose: Fertigungskosten für AM mit Metall (Euro/cm3)

Prognose: Fertigungsgeschwindigkeit (cm3/h)

So funktioniert das 3D-Drucken

Schicht für Schicht zum fertigen Produkt

Plattform

Metallpulver Laser

Additive Manufacturing (AM), umgangssprachlich auch 3D-Druck genannt, bezeichnet

ein Fertigungsverfahren, bei dem ein Bauteil auf Basis digitaler 3D-Konstruktionsdaten

Schicht für Schicht aufgebaut wird.

Rasantes Marktwachstum

Markt für Additive Manufacturing weltweit,

Entwicklung und Prognose (in Milliarden Euro)

Im Jahr 2023:7,7 Milliarden €

In den nächsten 5 Jahren*

Quelle: International Committee F42 for Additive Manufacturing Technologies (ASTM)

Quelle: http://www.rolandberger.com/media/pdf/Roland_Berger_Additive_Manufacturing_20131129.pdf

Die Fertigung von morgen Fakten und Prognosen 3D-Druck

68 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Dr. Ursus Krüger leitet die Forschungsaktivitäten von Corporate Technology im Be-reich Additive Manufacturing.

DruckenstattMeißeln

Was ist 3D-Druck?Ursus Krüger: 3D-Druck ist ein Verfahrenzum Aufbau dreidimensionaler Werkstücke– als würde man sie ausdrucken. Expertensprechen übrigens eher von Additive Ma-nufacturing. Dieser Fachbegriff beschreibtauch ganz gut die Revolution, die geradestattfindet. Über Jahrtausende wurdenWerkstücke hergestellt, indem Materialweggenommen wurde: durch Bohren, Fräsen, Schleifen, Meißeln. Der David in Florenz wurde beispielsweise aus dem Stein heraus gehauen. 3D-Druck baut dagegen Material auf, „additiv“. Das gibt Produktdesignern ganz neue Freiheiten. Sie können Designs verwirklichen, die mit herkömmlichen Verfahren unmöglichwären. Dadurch werden auch neue Funk-tionalitäten möglich, die Performance vielerTeile lässt sich verbessern.

Wie wird 3D-Druck die Produktion verändern?Ursus Krüger: 3D-Drucker werden in denFabriken Einzug erhalten. Bei Siemens sindsie dort zum Teil schon angekommen, bei-

spielsweise in einem unserer Gasturbinen-werke in Schweden. Dort drucken wir Bren-nerspitzen für Turbinen. Aber 3D-Druck wirdin den meisten Fällen bestehende Verfahrenergänzen, nicht rundweg ersetzen – es gehtschlicht schneller, einfache Teile auszustan-zen oder zu gießen. Aber bei komplexen Teilen wird 3D-Druck vieles verändern. Die Fertigung von Einzelstücken und Kleinserien wird wirtschaftlicher werdenund vermutlich zunehmen.

Welche Geschäftsmodelle könnte der3D-Druck verändern?Ursus Krüger: Künftig werden komplexereFormen für Bauteile möglich. AusgeklügelteDesigns, die beispielsweise den Wirkungs-grad von Gasturbinen erhöhen, lassen sichkünftig leichter umsetzen. Und das nichtnur in großen Serien: Weil Einzelstücke kos-tengünstiger gefertigt werden können, las-sen sich auch Spezialanwendungen für ganzspezielle Bedürfnisse wirtschaftlich umset-zen. Die Ersatzteilversorgung könnte sichkomplett umstellen: Bisher werden Ersatz-teile auf Vorrat produziert, zentral gelagertund bei Bedarf verschickt. Künftig könntenTeile vor Ort beim Kunden ausgedruckt wer-den. Das spart Zeit und Geld.

Woran arbeiten Sie gerade?Ursus Krüger: Schon heute können wir soeiniges ausdrucken. Aber es gibt doch sehrviele Verfahren, die jeweils ihre Stärken und Schwächen haben. Mein Team und icharbeiten daran, unterschiedliche 3D-Druck-Verfahren sinnvoll zu verbinden. Ein sehraussichtsreiches Verfahren ist beispiels-weise das sogenannte Kaltgasspritzen. Der Vorteil: Es geht sehr schnell und es las-sen sich damit relativ große Teile herstellen.Der Nachteil: es ist nicht so präzise.

Welchen Gegenstand wollten Sieschon immer mal ausdrucken?Ursus Krüger: Die große Vision, die unsantreibt, ist die Turbinenschaufel aus demDrucker. Turbinenschaufeln müssen extre-men Belastungen standhalten. Könnte man sie ausdrucken, ließen sich die Kühl-kanäle im Inneren der Schaufel filigranergestalten und das würde die Effizienz erhöhen. Aber die Schaufeln müssen ebenauch sehr robust sein. Wenn wir das mitHilfe von Druckern hinbekommen, dannwürde uns das schon sehr stolz machen.Das Interview führte Andreas Kleinschmidt.

Ein Faible für Filigranes: Dr. Ursus Krüger

schafft mithilfe von 3D-Druckern komplexe

Werkstücke aus extrem festen Materialien.

In der PoF Digital zeigt ein Video,

wie 3D-Druck funktioniert:

www.siemens.de/pof/video-3d

Die Fertigung von morgen Interview Ursus Krüger

Page 36: PoF: Best of Spring 2015

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 71

Ob in der Luft- und Raumfahrt, in der Automobilindustrie oder im Schiffsbau: Die Produkte werden immer komplexer und aufwändiger. Mit der Product Lifecycle Management Software von Siemens werdenFirmen zu digitalen Unternehmen – mit smarten Produkten und smarten Maschinen, die diese herstellen.

Die Zukunft der Fertigung

Heikle Mission: Der Dream Chaser

soll künftig Menschen und Güter zur

Raumstation bringen. Der Hersteller

SNC setzt bei der Entwicklung auf

PLM-Software von Siemens.

dieser erfolgreichen Missionen hat SNC fürdie NASA absolviert. Entsprechend hoch sinddie Anforderungen, die SNC an seine Partnerstellt. Für die Dream Chaser Mission, die Ent-wicklung eines „Traumjägers“, hat die Firmaein „Traumteam“ aus führenden Unterneh-men der Luft- und Raumfahrt sowie von Soft-ware-Anbietern und Forschungseinrichtun-gen rekrutiert – unter ihnen Siemens PLM.

Mit Teamcenter als zentraler Plattform fürdie Zusammenarbeit bietet die Product Life-cycle Management Software (PLM) das Rüst-zeug für Projekte, bei denen extrem vieleDaten eines extrem komplexen Produkts inhoher Geschwindigkeit integriert, analysiertund allen Beteiligten zur Verfügung gestelltwerden müssen. Das Team arbeitet in einerMulti-CAD-Umgebung: Unterschiedliche An-sätze im Computer-Aided-Design müssen alsounter einen Hut gebracht werden.

Es klingt simpel, ist aber wesentlich: Hatein Ingenieur all diese Daten dank PLM ineinem System, muss er sie nicht permanenthochladen, herunterladen und verschicken.Eine einzige sichere Quelle zu haben, das istes, was den Erfolg von Missionen wie demDream Chaser oder der Atlas-V-Rakete vonUnited Launch Alliance (ULA) entscheidend

Das schnellste Taxi der Welt wird ganzschön viel aushalten müssen. Wennes auf seiner Standardroute zwischen

der Erde und der Raumstation ISS unterwegssein wird, um Menschen und Fracht hin- undherzutransportieren, wird es über 27.000 Kilo-meter pro Stunde schnell sein. Zudem wirdder „Dream Chaser“ Temperaturen von über1.600 Grad Celsius standhalten müssen. DieReibung der Atmosphäre erzeugt eine Hitze,die viele Materialien sofort schmelzen würde.

Damit Material und Statik diesen Widrig-keiten gewachsen sind, müssen viele Fakto-ren stimmig zusammenwirken: Das Fahrzeugmuss die perfekte Form haben, aus den idea-len Materialien bestehen, und schon vor demErstflug müssen Start, Flug und Landung tau-sendfach simuliert werden – ein ambitionier-tes und aufwändiges Vorhaben.

Traumteam mit PLM. Die Sierra NevadaCorporation (SNC), die das Raumfahrzeugentwickelt und baut, ist mit Projekten dieserArt vertraut. Seit mehr als 25 Jahren ist dasUnternehmen in der Raumfahrt tätig, hatüber 420 Missionen im All unterstützt und4.000 Produkte ausgeliefert, die bislang keineinziges Mal ausgefallen sind. Mehr als 70

Die Fertigung von morgen Digitale Fertigung

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 201570

erhöhen derzeit die Effizienz der Anlagen erheb-

lich“, sagt Bernhard Langefeld. „Die neueste Ge-

neration arbeitet mit mehreren Lasern, größeren

Bauräumen, automatischen Wechselsystemen

und einer verbesserten Onlineüberwachung, so

dass eine deutliche Leistungssteigerung möglich

ist.“ Kosten verursacht jedoch auch das Pulver.

„Einige Druckmaschinen-Anbieter setzen bisher

auf das Geschäftsmodell der Hersteller von

Tintenstrahldruckern“, erzählt Langefeld: „Die

Unternehmen bieten neben dem 3D-Drucker

auch gleich die passenden Patronen, in diesem

Fall das passende Pulver, an.“ Bei der Marktana-

lyse für die Roland-Berger-Studie habe sich aber

gezeigt, dass erfahrene Betreiber mit mehreren

Anlagen bereits ein eigenes Lieferantensystem

entwickelt haben und so deutliche Preisvorteile

erzielen. Langefeld kommt in der Studie daher

zu dem Ergebnis, dass sich die Fertigungskosten

metallischer Druckerprodukte innerhalb der

nächsten fünf Jahre halbieren und innerhalb wei-

terer fünf Jahre um weitere 30 Prozent reduzieren

lassen. Vorausgesetzt jedoch, die aktuell durch-

schnittliche Herstellungsrate, die sogenannte

„build rate“ wird sich innerhalb der kommenden

zehn Jahre verachtfachen.

Wenn der Product-Lifecycle-Hebel greift.Dennoch gehen Marktforscher davon aus, dass

AM herkömmliche Fertigungsprozesse nicht ablö-

sen wird. Aber es wird sich in der Nische etablieren.

Ähnliche Teile, die minimale Unterschiede auf-

weisen, sind ein Beispiel dafür: exakt angepasste

Zähne oder Zahnkronen, Hüftgelenke oder Schä-

delimplantate. Das Additive Manufacturing bietet

jedoch Unternehmen jeder Branche die Chance,

Produkte so zu designen, dass sie Dinge können,

die herkömmliche Produkte nicht können. Daher

steckt auch in neuen Materialien noch Potenzial.

Legierungen sind denkbar, Edelmetalle oder Pro-

dukte, bei denen verschiedene Abschnitte mit

unterschiedlichen Materialien „gedruckt“ werden:

eines, das wegen seiner Hitzeresistenz eingesetzt

wird, ein anderes, das Stabilität garantiert. Metal-

le, die bei hohen Temperaturen schmelzen, könn-

ten vollkommen neu verwendet werden.

So könnten auch Ersatzteile für Maschinen oder

ganze Kraftwerke bei Bedarf schnell, passgenau

und lokal hergestellt werden. Dadurch fallen nicht

nur Lager- und Transportkosten weg, sondern es

verhindert auch den Ausfall – und spart somit

Geld. Das neuartige Verfahren bei der Herstellung

der Siemens-Brennerspitze für Gasturbinen bei-

spielsweise reduziert die Reparaturzeit bestimm-

ter Modelle um rund 90 Prozent, da das Ersatzteil

nicht mehr aufwändig mit Schweißverfahren auf-

gebaut werden muss. Stattdessen wird der neue

Brennerkopf einfach direkt auf den Brennerrumpf

aufgedruckt. Die Reparaturkosten sinken deutlich.

Langfristig wird deshalb greifen, was Analysten

den Product-Lifecycle-Hebel nennen. „Bei der Luft-

fahrt wird das eher der Fall sein als beim Auto“,

prophezeit Langefeld. Salopp gesagt: Ein durch

AM hergestelltes Produkt kann ruhig das Zehn-

fache kosten, wenn es zum Beispiel über seine

Lebensdauer dauerhaft eine Treibstoffersparnis

von einem Prozent bringt. In den kommenden

drei bis fünf Jahren gelte es, so Experte Lange-

feld, die Produkte zu identifizieren, bei denen

diese Rechnung aufgehe. Sandra Zistl

Rapid Prototyping

Bei der Produktentwicklung kommen immer häufiger Prototypen zum Einsatz, um bestimmte Eigenschaften vor der Serienfertigung zu testen.

Fertigung von Ersatzteilen

Der Einsatz von Additive Manu-facturing verkürzt Reparaturzeiten und vermeidet eine aufwändige Lagerhaltung. Siemens setzt das Verfahren bereits zur Reparatur von Brennerspitzen kleinerer Gasturbinen ein.

Hochkomplexe Werkstücke

Mit AM lassen sich hochkomplexeWerkstücke fertigen, die mit bis-herigen Verfahren kaum hergestelltwerden können. Ein mögliches Ein-satzfeld sind Gasturbinenschaufeln,in die Lüftungskanäle zur Kühlung integriert werden können.

Individualisierte Einzelstücke

Siemens setzte AM beispielsweisezur Herstellung von Im-Ohr-Hör-geräten ein, die individuell an den Gehörgang des Trägers angepasst werden.

Kleinserien

Bei Kleinserien ist die Fertigung von Formen und Fertigungsstraßenkostenintensiv. Hier kann AM wirtschaftlich eingesetzt werden.

Anwendungsfelder

90%schnellereReparatur

40%reduzierteArbeitskosten

Fertigung von EndproduktenAdditive Manufacturing wird die herkömmlichen Fertigungsverfahren nicht ersetzen,

sondern ergänzen. AM bietet Vorteile in folgenden Anwendungsfeldern.

Trend: Vom Rapid Prototyping zur (Serien-) Fertigung

2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012

Einnahmen durch AM-Endprodukte (%)30

25

20

15

10

5

0

3,96,6 8,3

9,611,7

14,017,2

19,6

24,0

28,3

Anteil von Endprodukten anGesamteinnahmen durchAM-Produkte und -Services

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Die Fertigung von morgen Fakten und Prognosen 3D-Druck

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Page 37: PoF: Best of Spring 2015

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 73

Gewinner des 34. America‘s Cup, verschie-dene Geometrien simulieren, analysieren undtesten und die richtige Balance finden für dieAnforderungen an Geschwindigkeit und Sta-bilität. „Dank NX können wir auf KnopfdruckHunderte Geometrien testen“, berichtet AndyClaughton, technischer Direktor von BAR.

Zudem sparen sich die Profi-Segler enormviel Zeit, die früher für bürokratischen Papier-kram aufgewendet werden musste. Das Re-glement des America‘s Cup verlangt von denTeilnehmern, die Historie jedes Teils zu doku-mentieren: Aus welchem Material besteht es,woher stammt dieses und wie wurde esverarbeitet? Dank Teamcenter läuft diesemühsame Dokumentation nun digital undbeinahe nebenbei. Und schließlich ermög-licht die Software sogar Optimierungen inletzter Sekunde: Noch während des Wettbe-werbs lässt sich prüfen, ob bestimmte Teileausgewechselt werden sollten, um jenesQuäntchen mehr aus dem Schiff herauszuho-len, das für den Sieg entscheidend sein kann.

„In solchen digitalen Planungen liegt dieZukunft der Fertigung“, sagt Chuck Grind-staff. „Man muss nicht nur wissen, was es zu

Virtuell zum Formel-1-Erfolg. In der For-mel 1 gibt es kein fertiges Produkt. Die Autossind ewige Prototypen, die sich permanentweiterentwickeln und pro Woche um die tau-send Veränderungen erfahren. Nur so kannder entscheidende Vorsprung auf der Streckeerzielt werden. Infiniti Red Bull Racing ver-lässt sich dabei auf Siemens PLM. Der Renn-stall, der viermal in Folge den Weltmeisterstellte, designt damit seine neuen Kompo-nenten, testet sie virtuell und lässt sie mit nureinem Mausklick herstellen – um sie dannüberall auf der Welt in die Autos einzubauen.

Im Vergleich zu den Kräften, die in einemFormel-1-Wagen auf die Insassen wirken,wird die Reise mit dem Dream Chaser gera-dezu gemütlich werden. Seine spezielle, imvirtuellen Raum ausgetüftelte Konstruktionwird es ermöglichen, dass im kritischenMoment des Eintritts in die Erdatmosphärelediglich eine Kraft von 1,5 g auf Insassenund empfindliche Güter wirkt. Im Inneren desschnellsten „Taxis“ der Welt spüren Passagieresomit weniger als ein Drittel der Kräfte, dersie bei der Fahrt mit schnellen Achterbahnenausgesetzt sind. Sandra Zistl

Kapp Niles lassen sich mit dem MechatronicsConcept Designer – einer Software, mit derbereits in einer frühen Phase des Entwick-lungszyklus alternative mechatronische Ent-wicklungskonzepte entstehen und geprüftwerden – innerhalb einer Woche vomSchreibtisch aus Programmierarbeiten erledi-gen, für die ansonsten drei Wochen Arbeit ander realen Maschine notwendig wären.

Im Fall des Dream Chaser zeichnete sichdie Engineering NX TM Software dadurchaus, dass eine Vielzahl an Simulationen mitnur geringen Kosten verbunden ist. Bereitsvor dem Bau eines Prototypen lässt sich he-rausfinden, welche Formen und Material-kombinationen die besten für die Zweckeeines Weltraum-Transporters darstellen.

So schützen beispielsweise Kacheln beimEintreten in die Erdatmosphäre die Raum-fahrzeuge vor Druck und hohen Temperatu-ren. Wenn ein Fahrzeug wie der DreamChaser mehr als 25-Mal eingesetzt wird,muss es zwischendurch gewartet werden.Während die vielen Schutzkacheln frühererSpace Shuttles unterschiedlich groß warenund ihr Austausch entsprechend teuer, haben

ein, um die Innovationswünsche unsererKunden bestmöglich zu erfüllen.“

Der reale Zwilling des digitalen. Dieideale Vorbereitung im virtuellen Raum istdas Eine. Entscheidend ist aber, egal in wel-cher Branche, dass dann digitale und realeWelt zusammenfinden: dass sozusagen derreale Zwilling des digitalen entsteht, dass derIdee Leben eingehaucht wird.

So nutzt der in den USA führende Werk-zeugmaschinenhersteller Kapp Niles die PLMSoftware, um seine Maschinen virtuell für dieProduktion fit zu machen. Nach Angaben von

mehr als die Hälfte der Schutzkacheln desDream Chaser dieselbe Größe. Das reduziertdie Herstellungskosten erheblich. PLM hathier dazu beigetragen, herauszufinden, wel-che Kachelform die beste ist.

Der Weg zum perfekten Katamaran. PLMkann aber auch bei der Realisierung sehr in-dividueller Wünsche greifen. Ein Beispiel ausder Schifffahrt ist die Entwicklung des Kata-marans, mit dem Ben Ainslie Racing (BAR)2017 den America‘s Cup zum ersten Mal seit1851 nach Großbritannien zurückholen möch-te. Mit PLM kann das Team um Sir Ben Ainslie,

tun gibt, sondern auch, wie man dorthinkommt. Dafür müssen alle Nutzer die richti-gen Informationen zum richtigen Zeitpunktim richtigen Kontext zur Verfügung gestelltbekommen, damit sie Entscheidungenschnell und präzise fällen können.“ DieseInformationen seien notwendig, um intelli-gente Modelle zu erstellen, die sich dann lau-fend selbst optimieren: „Die Modelle müssenwissen, welche Anforderungen sie erfüllensollen und wie sie dafür aussehen sollen. Siemüssen sozusagen verstehen, dass sie Teileines komplexen Systems sind und darin mit-einander verknüpft.“

72 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Mit PLM Software können Hersteller unab-hängig von der Branche genau dies erreichenund die Innovationen entwickeln, die ihnenden entscheidenden Wettbewerbsvorteil bie-ten. Das Ergebnis: schlauere Produkte undschlauere Maschinen, die diese fertigen.

Möglich wird dies dank der Simulation miteinem digitalen Zwilling, einem virtuellenAbbild des Produktes, in das sich dessen ein-zelne Bestandteile in unterschiedlicher Aus-führung einfügen und testen lassen – ent-lang der kompletten Entwicklungskette. DieLandung des Mars Rovers „Curiosity“ beispiels-weise, der seit 2012 auf dem Roten Planetenunterwegs ist, wurde auf diese Weise im Vor-feld Tausende Male simuliert.

Ein anderes Beispiel: American Axle. Dankder Simulation mit digitalen Zwillingen ist esdem Automobilzulieferer aus den USA gelun-gen, Fahrgeräusche und Vibrationen zu ver-ringern und die Gewährleistungskosten um20 bis 30 Prozent pro Jahr zu reduzieren.

Mit digitalen Zwillingen arbeiten also be-reits einige innovative Kunden von Siemens.Neu ist, dass diese Pioniertaten nicht nur inder Luft- und Raumfahrt stattfinden, sondern

Digitale Zwillinge:

Ob beim Weltraum-

taxi Dream Chaser

(links), bei der Atlas-V-

Rakete und dem Mars

Rover (unten) oder

beim Maserati Ghibli

(S.73) – überall helfen

Software-Lösungen von

Siemens, die Produkte

und die Produktion im

Vorfeld zu simulieren,

zu testen und damit

zu optimieren.

beeinflusst. Aus dem PLM-Portfolio wählteSNC eine integrierte Produktdesign-, Simula-tions- und Fertigungs-Software: die NX TM-Plattform, die die Entwicklungszeit desDream Chaser erheblich beschleunigt.

„Dieselben Kräfte, die bestimmen, welcheInnovationen entstehen, werden künftig auchbestimmen, wie diese entstehen“, sagt ChuckGrindstaff. Der heutige CEO und Präsidentvon PLM hat die vergangenen 36 Jahre ander Entwicklung der Software mitgearbeitet.„Fortschrittliche Computertechnik, 3D-Druck,automatische Wissensverarbeitung – all diessind Beispiele dafür, wohin sich smarte Ent-wicklungen bewegen. Gemeinsam ist diesenunterschiedlichen Bereichen ihr Kern: dieDigitalisierung. Für Hersteller, die die Chan-cen der Digitalisierung zu nutzen wissen, ent-wickelt sich diese zur treibenden Kraft für dieErschließung neuer Geschäftsfelder.“

Kriterien wie die Produktstrategie oder dasGeschäftsmodell, die einst die Wettbewerbs-fähigkeit von Firmen ausmachten, sind nichtmehr verlässlich. Wer in Zukunft im globalenWettbewerb bestehen will, muss seine Firmain ein digitales Unternehmen verwandeln.

auch in der Fertigung von Konsumgütern. Sohofft Maserati, mit dem neuen Modell Ghibliseine Position auf dem Markt der Premium-Automobile stärken und seine Verkaufszah-len steigern zu können. Dabei soll trotz höhe-rer Produktionsvolumina der exzellente Rufder Traditionsfirma in Bezug auf die Qualitätihrer Luxusautos erhalten bleiben. Dafür wirdder komplette Produkt-Lebenszyklus des Ghi-bli maßgeblich mit der Kollaborations-Platt-form Teamcenter bewältigt. Mit der SoftwareNX entsteht das Design, während Tecnomatixfür die Prozessdefinition und virtuelle Simu-lation der Produktion eingesetzt wird.

Mehr zu Weltraumforschung und den

Siemens-Beiträgen im 360°-Video:

www.siemens.de/pof/360weltraum

Die Fertigung von morgen Digitale Fertigung

50 Millionen Prozessdaten pro Tag. Sie-mens‘ eigene Vorzeige-Fabrik steht in Am-berg. Im Elektronikwerk (EWA) wird heuteschon produziert, wie es in zehn Jahren Stan-dard sein könnte. Die Produkte steuern ihreFertigung selbst. Simatic produziert Simatic:Speicherprogrammierbare Steuerungen steu-ern die Fertigung ihrer Artgenossen (S.5).Der Lebenslauf eines jeden Produkts lässt sichin Amberg bis ins kleinste Detail verfolgen.

Täglich entstehen so rund 50 MillionenProzessinformationen, die in das Manufactu-ring Execution System Simatic IT eingespeistwerden. Die Software definiert sämtliche Fer-tigungsregeln und -prozesse. Damit wird dieProduktion von Anfang bis Ende virtuell er-fasst und gesteuert. Zudem ist sie eng mit derF&E-Abteilung vernetzt. Neueste Daten überdie Weiterentwicklung von Simatic gelangenüber die Software-Lösungen NX und Team-center unmittelbar in die Fertigungsprozesse.

„Siemens ist die einzige Firma, die die Digi-talisierung entlang des ganzen Lebenszyklusvon Produkt und Produktion ermöglicht“, sagtGrindstaff. „Wir lernen aus den Erfahrungen,die wir in Amberg sammeln und setzen sie

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74 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 75Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Der WissenschaftsphilosophProf. Dr. Klaus Mainzer (68)

von der Technischen UniversitätMünchen setzt sich seit Jahren

mit dem Thema Komplexitätauseinander – in der Natur,Technik oder Gesellschaft.

Im Interview spricht er über dieRolle, die autonome Maschinen

künftig in unserem Leben spielen werden.

Was verstehen Sie unter autonomenMaschinen?Klaus Mainzer: Das sind Maschinen, dieFreiheitsgrade haben, Entscheidungen zutreffen. Zum Beispiel ein Roboter, wie es ihn an der TU München gibt, der die Zielvor-gabe hat, einen Frühstückstisch zu decken.Wie ihm das gelingt, ist nicht vorgegeben.Er kann den Weg aufgrund von Wahrschein-lichkeitsrechnungen frei wählen – also, ober zuerst die Tassen aus dem Hängeschrank,das Besteck aus der Schublade oder die Marmelade aus dem Regal holt. Das stehtim Gegensatz zu Industrierobotern, die nur

allgegenwärtigen Sensoren, Geschäfts-prozessen oder sozialen Netzwerken. Mithilfe immer schnellerer Rechner und intelligenter Software können Sie in diesenDaten Korrelationen ausmachen, die ihnen helfen, Trends zu erkennen und Entscheidungen zu treffen. Also etwa in der Wirtschaftsförderung, im Gesundheits-wesen oder im Verkehr. Daten werden soimmer mehr selbst zum ökonomischen Gut.Im Onlinehandel ist das manchmal schonfast gespenstisch: So sagt etwa Amazon mit Hilfe seiner gigantischen Datenmengenund einer intelligenten Software das Kauf-verhalten seiner Kunden voraus, so dass die Firma Produkte gezielt hortet, noch ehe man diese selbst bestellt hat. Oder denken Sie an 3D-Drucker: Wenn es einesTages Maschinen geben sollte, die damitauch sehr komplexe Produkte wie beispiels-weise Automobile preiswert herstellen können, kommt es nur noch auf die Datenan, die in die Drucker eingespeist werden.Die Daten sind dann das eigentlich Wert-volle.

Eine Utopie der fünfziger Jahre malteaus, mehr autonome Maschinen wür-den mehr Freiheit und Freizeit be-deuten. Heute fürchten Menschenhingegen Arbeitslosigkeit. Ist dieseSorge berechtigt?Mainzer: Das Problem sehe ich nicht so.Wenn Sie sich zum Beispiel die Arbeitslosen-zahlen in Deutschland ansehen, einem Landmit hoher Automatisierung, sehen Sie, dasswir im Vergleich zu anderen europäischenLändern niedrige Arbeitslosenzahlen haben.Aber das bedeutet nicht, dass es keine Herausforderungen gäbe. So haben sich dieInnovationszyklen stark beschleunigt. Des-halb wird schon lange lebenslanges Lernengepredigt, aber ich sehe im Bildungssystemnur wenig davon umgesetzt. In Zukunftwerden große Teile der Beleg schaft einesBetriebs auf allen Stufen in Weiterbildungs-zyklen sein müssen, um sich auf die neuenVeränderungen einstellen zu können –lebens lang. Auch unsere Schulen sind nachwie vor sehr kopflastig – sie bräuchten sicher einen stärkeren Technik- und Praxis-bezug, aber auch eine Besinnung auf diehumanen Herausforderungen einer durchTechnik geprägten Welt.

Das Interview führte Hubertus Breuer.

Autonome Zukunft: Roboter erleben einen

Entwicklungsschub. Sie kommunizieren, sind

lernfähig und werden immer selbstständiger.

„Wir gehen eineSymbiose mit denMaschinen ein“

vierte industrielle Revolution, Industrie 4.0– nach der Dampfmaschine, Henry FordsFließbandfertigung und dem stationärenIndustrieroboter mit elektronischen Steue-rungen. Der große Fortschritt ist, dass nunauch Dinge und Maschinen zu kommuni-zieren beginnen. Diese sogenannten „Cyberphysical Systems“ sind mit Sensorenausgestattet, mit RFID-Chips und Software.In einer Fabrik kann ein Werkstück so mitAuftraggeber, Werkbank, Transport, Ver-trieb und Versand kommunizieren, um dieeigene Produktion zu organisieren. Das hatden Vorteil, dass der Herstellungsprozess

vorprogrammierte Handlungen ausführen – sie haben keine Wahl. Je mehr Freiheits-grade eine Maschine aber hat, desto auto-nomer ist sie.

Sind autonome Maschinen dann auchschon intelligent?Mainzer: Wenn Sie die vielseitige Intelli-genz des Menschen zum Maßstab nehmen,ziehen Maschinen den Kürzeren. Aber wennSie Intelligenz als die Fähigkeit verstehen,Probleme zu lösen, dann trifft das zu. Ausdieser Sicht erscheint Intelligenz auch mess-bar – und zwar an der Komplexität der Pro-bleme, die gelöst werden. Viele Maschinen– seien es Expertensysteme, die Ende der1970er-Jahre populär wurden, Schachcom-puter oder autonom fahrende Fahrzeuge –verfügen über einen Grad an Intelligenz.Und wenn Sie jetzt einwenden, sie hättendoch kein Bewusstsein, verkennen Sie ein-fach, dass es für intelligente Leistungen nichtimmer Bewusstsein braucht. Die Natur machtes uns auf allen Stufen der Evolution vor.

Welche Rolle werden diese autono-men Maschinen in Zukunft spielen?Mainzer: Gegenwärtig erleben wir die

maßgeschneiderte Produkte zu Preisen derMassenfertigung ermöglicht.

Und wohin führt diese Entwicklung?Mainzer: Dieses „Internet der Dinge“, wieman es auch nennen kann, verändertgrundlegend, wie die gesamte Infrastrukturorganisiert ist: Verkehrssysteme, bei denenAutos miteinander und mit Verkehrsleitzen-tralen kommunizieren, Flughäfen, Kranken-häuser, Smart Grids bis hin zu Smart Cities.Soziologen nennen so etwas soziotechni-sche Systeme, da der Mensch einer ihrerzentralen Bestandteile ist.

Das klingt aber so, als würden unsdiese Systeme bald dominieren.Mainzer: Ganz im Gegenteil: Sie werdenunseren Alltag immer mehr vereinfachen.Technik ist nur dann erfolgreich und setztsich durch, wenn sie unserer Natur, unserenkörperlichen und kognitiven Eigenschaftenentspricht. Daher sollte der Umgang mit derTechnik in Zukunft einfacher werden, mehrnoch, man kann sogar sagen, wir gehen mitder Technik eine Symbiose ein. Das intuitivzu bedienende Smartphone ist ein gutesBeispiel dafür. Wir bedienen es nicht nur

durch Tasten, sondern sprechen mittler-weile auch damit. Die Technik selber tritt inden Hintergrund und es bleibt eine Bedie-nungsoberfläche, die unserem natürlichenUmgang mit der Umwelt durch Sprechen,Tasten, Fühlen und Gesten entspricht. Indiesem Sinn „vermenschlichen“ sich unsereInfrastrukturen.

Wie viel Autonomie würden Sie derTechnik zugestehen – was wäre eingesundes Maß?Mainzer: Die Autonomie – und das heißtdie Freiheitsgrade – bei Maschinen wirdweiter wachsen. Langfristig wird das wahr-scheinlich durch die Entwicklung sogenann-ter neuromorpher Rechnerarchitekturen an-geschoben, die das menschliche Gehirnnachbilden. Aber das ist keine darwinisti-sche Evolution, die von allein läuft, sondernwir können und sollten sie gestalten. Auto-nome Systeme helfen uns bereits heute,wenn ein Fahrzeug eine automatische Voll-bremsung einleitet, um einen Zusammen-stoß zu vermeiden. Es kann aber auch kritischsein, wie beim Hochfrequenzhandel an derBörse. Da haben Rechner den Vorteil, dasssie kleinste Veränderungen in Bruchteilen

einer Sekunde wahrnehmen und danachhandeln können. Aber das kann schiefgehen.Wir brauchen deshalb eine reflektierte De-batte, die uns erlaubt, sicherzustellen, dassdie Technik nicht aus dem Ruder läuft.

Und wie bewerten Sie die Entwick-lung, dass Maschinen lernfähig sind?Mainzer: Positiv. Die Lernfähigkeit ist fürautonome Systeme eine wichtige Voraus-setzung, um in der zunehmend komplexenWelt zurechtzukommen. Dazu gibt es mitt-lerweile ausgeklügelte Lernalgorithmen, dieden menschlichen Fähigkeiten sehr nahekommen. Intelligente Verkehrsleitsystemekönnen aus Dichtemustern Stop-and-Go-Wellen oder einen Verkehrsinfarkt vorher-sagen. Oder der IBM-Computer „Watson“versteht es, aus riesigen Datenmengen (BigData) neue Schlüsse zu ziehen – und kannso einem Arzt Therapien vorschlagen, diedem womöglich gar nicht in den Sinn ge-kommen wären.

Welche Rolle spielt hier die Auswer-tung großer Datenmengen?Mainzer: Natürlich eine große. Überall gibt es eine Unzahl an Daten – sei es von

Zukunft der Fertigung Interview Klaus Mainzer

Page 39: PoF: Best of Spring 2015

76 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 77Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Das von Siemens geleitete Forschungskonsortium RACE arbeitet daran, das Elektronik-wirrwarr im Auto durch eine Art„Betriebssystem“ zu ersetzen.Gleichzeitig sollen Lenkung,Gaspedal und Bremsen digitali-siert werden. Der erste Schrittin Richtung des digitalen Fahr-zeug-Superhirns ist der Elektro-transporter StreetScooter.

Plug&Play: Revolution im Auto

der das RACE-Projekt leitet. „Der PC hat dieseTechnologie vom Markt gefegt. RACE könnteÄhnliches in die Wege leiten.“

Das Auto „entrümpeln“. Eine übergrei-fende Software-Plattform ist im Auto alles an-dere als selbstverständlich. In einem Mittel-klassewagen gibt es über 70 elektronischeSteuergeräte wie das Antiblockiersystem ABSoder die Scheibenwischerautomatik sowiemehrere Dutzend Sensoren, die alle mit-einander harmonieren müssen. Hinzu kom-men mehrere hundert Teilfunktionen, die aufdiesen Geräten ausgeführt werden undDaten austauschen. Will man ein Fahrzeugnach der Auslieferung mit neuen Funktionenaufrüsten, ist das extrem schwierig und oftunwirtschaftlich, denn es müssen neue Kabelverlegt und die Anzeigesysteme und dieBordelektronik aktualisiert werden.

RACE dagegen ist eine Rechnerarchitektur,die die Stärken von zentralem und dezentra-lem Ansatz kombiniert – und der Lieferwa-gen StreetScooter ist ein erster Schritt, denneuartigen Ansatz in ein Serienfahrzeug zubringen. Die RACE-Ingenieure haben mitihren Kollegen von StreetScooter dafür ersteinmal ein Standard-Steuergerät gegen einRACE-Steuergerät ausgetauscht, das denMotorantrieb und die Energierückgewinnungregelt. Damit ist eine neue Software-Platt-form noch nicht komplett verwirklicht, aberes demonstriert, dass sich die Technologie inFahrzeuge mit traditioneller Systemarchitek-tur integrieren lässt. Daher wurde der Street-Scooter RACE-intern auch „Evolution“ getauft.

Dabei wird es freilich nicht bleiben: DieZahl der Steuergeräte soll im StreetScooterbis 2016 – und langfristig auch in anderenFahrzeugen, egal ob mit Verbrennungs- oderElektromotor – weiter reduziert werden. AmEnde werden nur noch wenige, aus Sicher-heitsgründen redundant ausgelegte, zentraleRechner die Aufgaben der Steuergeräte erle-digen. Die einheitliche Software-Plattformerlaubt, Funktionen nach dem Plug&Play-

Prinzip hochzuladen – etwa eine effizientereBatteriesteuerung oder schlicht eine App, diemehr Bass aus der Musikanlage herauskitzelt.

Außerdem können dann auch Sensoren –etwa eine Rückfahrkamera – und Aktoren wieMotoren oder Bildschirme einfach nachgerüs-tet werden. Sie werden über ein einheitlichesBussystem an die RACE-Rechner angeschlos-sen. So lassen sich Fahrzeuge kostengünstigund rasch auf den neuesten Stand bringen.

Auch die Fahrzeugentwicklung verkürztsich. So hofft Achim Kampker, Geschäftsfüh-rer von StreetScooter und Professor an derRWTH Aachen: „Kombiniert man die modu-lare Bauweise unserer Fahrzeuge und dieRACE-Technologie, glauben wir, die Entwick-lungszeit eines neuen Fahrzeugmodells hal-bieren zu können und dies bei gleichzeitigdeutlich sinkenden Entwicklungskosten.“

Das Auto neu erfinden – Wie die Zukunftaussehen könnte, demonstrieren die RACE-Forscher derweil an einem ungewöhnlichenForschungsfahrzeug: dem „Roding RoadsterElectric”, einem experimentellen Elektro-

Lenksäule, sondern über digitale Signale undeinen Stellmotor. Ein Radnabenantrieb ver-legt den Motor direkt in die Räder, und dasBatteriepaket wird kabellos induktiv aufgela-den. Kein Serienfahrzeug wartet heute miteiner solchen Kombination an Innovationenauf wie der Roding, der denn auch unter demNamen „Revolution“ firmiert. Nur in Seriegehen wird der Elektroflitzer nicht – er ist einreines Testfeld für die RACE-Technologie.

Firewall im Auto – Doch was, wenn einHacker über ein infiziertes Update den Com-puter eines künftigen All-Electric-Fahrzeugsdazu bringt, zu blockieren oder eine Notbrem-sung hinzulegen? Prof. Manfred Broy von derTU München, der im RACE-Projekt für Software-Sicherheit zuständig ist, gibt sich gelassen:„Wie man Software-Updates sicher gestaltet,ist im Prinzip bekannt. Das bedeutet denEinbau von Firewalls, die Einführung klarerSicherheitsanforderungen und ein generellesSecurity-Konzept für die Systeme im Auto.“

Die Digitalisierung des Autos schreitet alsovoran – und RACE fügt sich nahtlos in weitere

Komplexität reduziert: Der elektronische Aufbau eines heutigen Mittelklassewagens im Vergleich mit RACE (die beiden Illustrationen im linken Bild).

Mitte und rechts: Im Labor testen Siemens-Forscher die Software-Funktionen auf den finalen Steuergeräten, wie sie im Fahrzeug verbaut sind.

Ein wichtiger Schritt, um ein Fahrzeug mit RACE auszurüsten, ist die Inbetriebnahme des An-

triebstrangs (l.). Auf dem Siemens-Prüfstand in Neuperlach wird das Fahrverhalten getestet (r.).

Auto von morgen: Im RACE-

Projekt wollen die Forscher

die Komplexität heutiger

Autos radikal reduzieren.

„Wir glauben, die Entwick-lungszeit eines neuen Modellshalbieren zu können.“

Mobilität & Antriebe Elektromobilität | Plug&Play: Revolution im Auto

Cornel Klein lenkt einen gelben Klein-transporter durch eine Stadtszenerie.Links abbiegen, vorsichtig durch eine

große Pfütze fahren. Eine Alltagssituation,möchte man meinen, doch weit gefehlt: DerSiemens-Software-Ingenieur steuert denWagen einen Meter über dem Boden schwe-bend. Die Reifen drehen sich in der Luft. Trotzsurrender Elektromotoren bewegt sich dasFahrzeug keinen Meter vom Fleck.

Der Transporter steht auf einem Prüfstandim Forschungszentrum von Siemens Corpo-rate Technology im Südosten Münchens. Vorder Windschutzscheibe sieht Klein die Lein-wandprojektion einer Stadt. Gibt er Gas oderlenkt, reagieren externe Motoren, die mit denAchsen des Transporters verbunden sind, undhelfen so, Fahrsituationen zu simulieren. Dasvom deutschen Elektrofahrzeughersteller

StreetScooter gebaute Modell ist ein zentralerBaustein in dem von Siemens gelei teten, seit2012 laufenden Forschungsprojekt RACE(Robust and reliable Automotive ComputingEnvironment for future eCars). Gefördertvom Wirtschaftsministerium wollen achtPartner – neben Siemens und StreetScooterdas fortiss Institut der TU München oder dieRWTH Aachen – eine Revolution in der Fahr-zeugtechnik einleiten: das voll digitale Auto.

An die Stelle althergebrachter dezentralerElektronik setzt RACE eine Art Betriebssystemfürs Auto, auf das sich neue Funk tionen wieApps beim Smartphone spielen lassen. Len-ken, Gas geben und Bremsen funktioniertnicht mehr über Mechanik, sondern überdurch RACE angesteuerte Motoren. „ErinnernSie sich an die Speicherschreibmaschine der80er-Jahre?“, fragt Siemens-Ingenieur Klein,

sportwagen, der gleich neben dem Siemens-Prüfstand steht. Hier vereinheitlicht dasRACE-Betriebssystem nicht nur die Elektronik.Es entsorgt auch die komplette Mechanikzwischen Lenkrad, Brems- und Gaspedal ei-nerseits und Motor und Reifen andererseits –„Drive-by-Wire“ nennt sich das analog zur„Fly-by-Wire“-Steuerung von Flugzeugen. Aufdie Signale von Drucksensoren am Brems-und Gaspedal sendet ein Rechner entspre-chende Befehle an Bremsen und Motor. Unddas Lenkrad steuert die Räder nicht über die

Neuerungen ein: etwa das autonome Fahrenoder das „Internet der Autos“ mit der Kommu-nikation von Auto zu Auto oder zur Infrastruk-tur. Zudem kann die RACE-Technik helfen, dieSteuersysteme komplexer Maschinen etwabei Schienenfahrzeugen zu vereinfachen.

Vorerst soll aber die RACE-Architektur wei-ter in den StreetScooter integriert werden – mitweniger Rechnern und „Drive-by-Wire”. „Gehtalles nach Plan“, sagt Klein, „dann rollen dieersten ‘racifizierten’ Street-Scooter 2016 vomBand.“ Hubertus Breuer

In der PoF Digital zeigt ein Video

Konzept und Funktionsweise von

RACE: www.siemens.de/pof/race

Page 40: PoF: Best of Spring 2015

78 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 79Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

A cht Uhr, Rushhour in Wuhan. An derKreuzung Luoyu Road und ZhongnanRoad stauen sich die Autos hunderte

Meter, wie jeden Morgen. Hanzhong Zhang,Verkehrspolizist und zuständig für diese Kreu-zung, ruft mit dem Sprechfunkgerät seinenKollegen an, der eine Kreuzung weiter Diensthat. Ein paar Worte hin und her, dann greiftZhang zum letzten Mittel. Er öffnet eineKlappe an dem grauen Kasten am Straßen-rand, auf dem unter der Staubschicht das Sie-mens-Logo kaum noch zu erkennen ist, unddrückt ein paar Tasten.

Die Ampel für die Abbieger aus derZhongnan Road springt auf Rot. Der Stau auf

Mobilität & Antriebe Urbane Mobilität | Verkehrssteuerung in Wuhan

Der Verkehr in Chinas Megacity Wuhan ist chaotisch – keine gute Voraussetzung für eine automatische Verkehrssteuerung. Gemeinsam mit Kunden hatte Siemens Corporate Technology eine brillante Idee: Man bezieht die Polizisten ins System ein.

der Luoyu Road wird kürzer, von fließendemVerkehr kann dennoch keine Rede sein. Erstnach neun Uhr beruhigt sich der Irrsinnetwas, auch für die Fußgänger, die nun mitbesseren „Überlebenschancen“ die Kreuzungüberqueren können.

Verkehr in Wuhan ist die Hölle. Er hat inden letzten Jahren in der Zehnmillionenstadtenorm zugenommen. 2007 hat Siemens imAuftrag der Stadt ein Urban Traffic ControlSystem installiert, mit Verkehrscontrollern anmehr als 400 Kreuzungen, das sind etwazwei Drittel aller großen Knotenpunkte. DieController steuern die Ampeln automatisch.Jetzt zeigt sich: In den Stoßzeiten kann die

Automatik den Ansturm nicht mehr bewälti-gen, denn sie geht von einem vorhersehba-ren Verhalten der Autofahrer aus. Doch dasist eine Illusion.

Wenn die Staus zu lang werden und dieAutofahrer zu lange warten müssen, sindauch rote Ampeln kein Hindernis, im Zweifelgilt das Recht des Stärkeren. Dann muss HerrZhang eingreifen. Er steuert die Ampeln überdie Tasten im Controllerschrank vorüberge-hend manuell.

Autorität contra Automatik. Automatikgegen Autorität – bisher gab es ein striktesEntweder-Oder. Schaltet der Polizist auf ma-

planungsamt – ermittelt, unter anderemdurch Befragungen von Polizisten und Taxi-fahrern.

Heraus kam ein Konzept, das simpel undrevolutionär zugleich ist: An neuralgischenKreuzungen sollen die Verkehrspolizisten miteiner Smartphone-App ausgerüstet werden.Die dient einerseits als Informationsterminal,das die Verkehrsdichte aus den Daten desTraffic Control System anzeigt, andererseitsist die App in der Rushhour zugleich eine ma-nuelle Fernsteuerung für die Ampeln. HerrZhang muss dann nicht am Straßenrand hin-ter dem Controllerschrank stehen, sondernkann auf einer der Verkehrsinseln Präsenzzeigen.

20.000 Taxis als Stausensoren. Im Mai2013 hat Siemens in einem Vorort vonWuhan das Innovation Center gegründet,eine Außenstelle von Siemens CorporateTechnology, die eng mit den lokalen Behör-den zusammenarbeitet, um eine Infrastruk-tur für Datenservices für das künftigeMobilitätsmanagement zu entwickeln. Dorttüfteln mehrere Mitarbeiter an der Umset-zung des App-Konzepts.

Yi Liu, Mitarbeiter im Innovation Center,demonstriert auf einem Tabletcomputer, wiedie App einmal aussehen könnte. In einemPlan der Kreuzung zeigen grüne und rotePfeile an, wer fahren dürfte und wer nicht –wenn sich alle an die Regeln hielten. Und wielang der Stau vor der Ampel ist. Die Informa-

tionen stammen aus Kontaktschleifen imAsphalt und aus den Siemens-Controllern.

Vom Transportamt bekommt Siemens dengrößten Datenschatz: den Zugriff auf dieGeschwindigkeit fast aller 20.000 Taxis in derStadt. Die senden GPS-Positionsdaten viaMobilfunk an eine Plattform der Verwaltung,Siemens erhält davon die durchschnittlichenGeschwindigkeiten der Taxis. Das gibt eingutes Bild über den Verkehrsfluss in der Stadt.Ende 2015 soll die App fertig sein. Dann wer-den die ersten Polizisten mit Smartphone undApp ausgerüstet.

Das Konzept hat aber noch einige Hürdenzu überwinden. Denn wo etwa ein Stau wirk-lich endet, weiß selbst eine Schleife imAsphalt nicht. Nicht zuletzt, da die Autosständig die Spur wechseln, was in Chinageradezu Volkssport ist. Soll die App den Poli-zisten wirklich eine bessere Entscheidungs-grundlage für manuelles Eingreifen bieten,ist es notwendig, deutlich mehr Daten insSystem zu speisen. Die können von Kamerasauf den Ampelmasten kommen, die in Rich-tung der heranfahrenden Autos schauen.Oder von Radarmessgeräten. Oder auch vonmagnetischen Sensoren, die wesentlich billi-ger und robuster sind als Kontaktschleifenund die ihre Signale per Funk an die Control-ler übermitteln.

Bitte Motor starten. Das Siemens-Konzeptsetzt auf eine Bottom-Up-Philosophie. DieDaten aus den Controllern am Straßenrandwerden mit Siemens-Algorithmen aufbereitetund dann über ein Smart Data ServiceGateway Polizei, Transportamt und Stadt-planungsamt zur Verfügung gestellt, die da-raus eigene Services ableiten. Eine Idee ist,wartenden Autofahrern über das Gatewayeine Nachricht aufs Smartphone zu schicken,bevor die Ampel auf Grün springt, um denMotor zu starten.

Auf der Rückfahrt vom Innovation-Centerhält Wei Qiu neben einem Ampel-Controller,auf dem der Name eines Wettbewerberssteht. Die sind billiger als die von Siemens,aber sie sind nicht vernetzt und deshalb auchnicht wirklich tauglich für das Verkehrsmana-gement der Zukunft. Das Smart Data ServiceGateway erweitere den Wettbewerb um dieDimension Datenservice und damit zuguns-ten von Siemens, erklärt Wei Qiu: „Und indemwir das Wissen der Polizisten einbeziehen,geht unser System flexibler mit den Unwäg-barkeiten im Verkehr um.“ Automatik wosinnvoll, Autorität wo nötig – so könnte derVerkehrsinfarkt in Wuhan in Zukunft zumin-dest gemildert werden.

Bernd Müller

Dauerstaus in Wuhan:

Künftig sollen Polizisten

manuell ins Verkehrsgesche-

hen eingreifen – dirigiert von

einer Smartphone-App.

nuelle Steuerung, gehen wertvolle Informa-tionen über die Verkehrssituation verloren.Denn Herr Zhang sieht nur, was auf seinerKreuzung passiert, einen Gesamtüberblicküber den Verkehr in den Einfallsstraßen, derzum Beispiel mit Kontaktschleifen gemessenwird, hat er nicht. Wie könnte eine Lösungaussehen, die beide Vorteile kombiniert?

Vor zwei Jahren hat Wei Qiu genau dieseFrage gestellt. In einem Workshop nach denPrinzipien des Industrial Design Thinking hatder Technische Manager bei Siemens Cor-porate Technology in China mit Polizei undVerwaltung in Wuhan die Bedürfnisse derKunden – von Polizei, Transportamt, Stadt-

Die Appgegen den Verkehrskollaps

Page 41: PoF: Best of Spring 2015

80 Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 81Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015

Ein 30 Meter langer Blitz zuckt durchden Raum und löst sich in tausendBilder auf, Akrobaten springen aus

atemberaubender Höhe in glitzerndes Was-ser, aus dem bunte Fontänen in die Höheschießen, Bühnen und Ränge verwandelnsich wie von Geisterhand: Die Han Show istein zweistündiger Rausch aus Farben, Bewe-gung und Musik. Das Spektakel, das am 20.Dezember 2014 in der zentralchinesischen8,3-Millionenstadt Wuhan Premiere hatte,setzt Maßstäbe. „Bis 2014 gab es drei Top-Shows weltweit: ,O’ und ,Le Rêve’ in LasVegas sowie ,The House of Dancing Water’in Macau“, sagt Franco Dragone. „Ab jetztgibt es nur noch eine, die größte von allen:die Han-Show.“

Der italienische Theaterregisseur undMitglied des Cirque du Soleil muss es wissen.

Infrastruktur & Finanzierung Lebensqualität in Städten | Han Show

Am 20. Dezember 2014 feiertein Wuhan ein spektakuläres

Theaterstück Premiere: die HanShow. Hauptdarsteller hinter

der Bühne: drei riesige Roboter-arme und ausgefeilte Steue-

rungstechnik von Siemens.

Siemens macht großes TheaterEr hat die drei genannten Bühnenshows ent-worfen, die er nun in Wuhan noch über-trumpfen will. Gemeinsam mit dem 2013verstorbenen britischen Star-ArchitektenMark Fisher und dem Kostümdesigner TimYip hat er in vierjähriger Vorbereitung einGesamtkunstwerk aus Show und Raum ge-schaffen.

Das Han Show Theater, von den Einhei-mischen bereits liebevoll die „rote Laterne“genannt, ist neben dem fast 1.200 Jahrealten Turm des Gelben Kranichs das neueWahrzeichen der Stadt. In rotem Farbenspielilluminiert spiegelt sich das einer Papier-laterne nachempfundene Gebäude im Ost-See, dem weltweit größten Binnengewässermitten in einer Stadt. Theater hat in WuhanTradition: Am Zusammenfluss des Jangtse-kiang und des Han-Flusses liegt die Wiege derHan-Oper, einer wichtigen Vorläuferin derPeking-Oper.

Die Stars: drei bewegliche Bildschirme. Vieles in der Show dreht sich um das ThemaWasser, das Element, das in Wuhan allgegen-wärtig ist. Heimliche Stars neben dem büh-nenfüllenden Pool und den 80 Artisten sindaber die drei riesigen LED-Bildschirme, diefast die ganze Bühnenbreite ausfüllen. Wenndie Performance losgeht, merken die Zu-schauer schnell, dass die Monitore nicht bloßals Kulisse dienen, sondern eine aktive Rolle

im Geschehen spielen. In Sekunden schwen-ken die jeweils zehn Meter breiten Displayshoch zur Decke, um Bilder an den Bühnen-himmel zu zaubern, oder sie legen sich alsoptische Verlängerung der Wasserfläche hin-ter den Pool. Grenzen scheint es nicht zugeben: Mal reihen sich die Bildschirme zueinem langen Band, auf dem der Blitz insWasser fährt, mal rotieren sie wie gigantischeBlätter in einem imaginären Sturm.

Riesenhände sind hier nicht am Werk, viel-mehr drei Roboterarme, die größten, diejemals für eine Bühnenshow eingesetzt wur-den. Sie ähneln den bekannten Industriero-botern, die etwa in der AutomobilfertigungBleche schweißen – nur viel größer, dennschließlich wiegt jeder Monitor acht Tonnen,die in Sekunden bis zu 28 Meter weit über dieBühne bewegt werden müssen. Trotzdem

sind sie fast so präzise wie ihre Kollegen ausder Fabrik. Nicht mehr als zwei Zentimeterdürfen die Bewegungsbahnen der Stahlarmevon der vorberechneten Choreographie ab-weichen, andernfalls würden die Bildschirmekollidieren. Dazu muss die Steuerung anjedem Roboter sechs Gelenke mit zwölf Mo-toren und 14 Achsen koordinieren – in derSumme also 42 Achsen.

„Das schaffen wir dank Siemens MotionControl“, lobt Renrong Hu, Chefingenieur derBühnensteuerung bei der Wanda Group, diedas Han Show Theater gebaut und die Showproduziert hat. „Wir haben uns verschiedeneProdukte angeschaut, doch nur Siemens boteine präzise Multiachsenkontrolle mit einfa-cher Bedienung.“

Bühnenpremiere für Siemens in China.Diese Aufgabe übernehmen der Motion Con-troller SIMOTION D435 und das Antriebs-system SINAMICS S120. In der Industrie sindsie weit verbreitet, auch in der Bühnentech-nik in Europa und in den USA – allerdingsnicht in China.

Doch im Vergleich zum Han-Theater istder Einsatz der Siemens-Lösungen in derIndustrie eine leichte Fingerübung. In derBühnenshow sind sowohl die Roboter größerals auch die präzisen Bewegungen giganti-scher Bildschirme erheblich anspruchsvoller.„Dass das theoretisch möglich ist, haben wir

Das Han-Theater in Wuhan – ein Gebäude

der Superlative: Durchmesser 100 Meter,

Höhe 60 Meter, darin 2.000 bewegliche

Sitzplätze, eine 1.200 Quadratmeter gro-

ße und 8,5 Meter tiefe Wasserbühne und

drei 75 Quadratmeter große LED-Bildschirme

mit je acht Tonnen Gewicht, die dank Robo-

tersteuerung in Sekunden über 28 Meter

weit bewegt werden können (Bild links).

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nie bezweifelt, aber wir hatten schon etwasSorgen, ob es in der Praxis funktioniert“, ge-steht Renrong Hu, „aber dank Siemens sindwir nun doch sehr erleichtert.“ Vor allem dieArbeit der Techniker des Unternehmens fandHu beeindruckend. Zur Endmontage musstendiese auf ein 50 Meter hohes Metallgerüstklettern, „mit klammen Händen und Füßen“,wie Siemens-Ingenieur Jiaxing Xi freimütigzugibt.

So bekamen Xi und seine Kollegen einGefühl dafür, wie sehr das Leben der Darstel-ler von der Sorgfalt ihrer Arbeit abhängt. IhreInstallation steuert und treibt zum Beispieleine Trapeznummer an, bei der 60 Freiträgerund zwölf Eisenbahnwaggons an Seilen vonder Decke hängend über den Zuschauerndurch die Luft schweben. Auf ihnen vollfüh-ren Dutzende von Artisten halsbrecherischenFlugübungen.

Bewegliche Bestuhlung. Im Lauf der Showgeraten auch die Zuschauer in Bewegung,zunächst sitzen sie mit dem Gesicht zurBühne. Dann teilen sich die Ränge und ord-nen sich in Blöcken um den Pool, der bisdahin unter den Rängen verborgen lag. Dabeibewegen sich die Sitzreihen horizontal,vertikal und um sich selbst, ebenfalls dirigiertvon Motion Controllern SIMOTION D435und angetrieben von Hydraulikzylindern mitsechs Metern Reichweite. Auch das ist rekord-verdächtig: Die bewegliche Bestuhlung ist diegrößte, die jemals für Innenräume gebautwurde.

Die weitere Siemens-Technik im Theaterist weniger spektakulär, aber nicht wenigerwichtig: Zahlreiche Komponenten stecken inder Niederspannungsversorgung, speicher-programmierbare Steuerungen sorgen fürSicherheit für Artisten und Zuschauer, auchdie Gebäudesteuerung stammt von Siemens,ebenso die PROFINET-Infrastruktur zur Daten-übertragung.

Mit der Han Show hat Siemens in Chinaseine Feuertaufe für die Ausrüstung vonBühnenproduktionen bestanden. RenrongHu deutet an, dass die Zusammenarbeit zwi-schen Wanda und Siemens in Wuhan nichtdie letzte gewesen ist. „Wir planen den Bauweiterer Weltklasse-Theater an anderenOrten in China“, verrät Hu. „Und wir freuenuns auf die weitere Zusammenarbeit mitSiemens.“ Bernd Müller

Präzise gesteuert gleitenacht Tonnen schwere Monitoredurch die riesige Halle.

Alles andere als statisch: In Sekunden schwenken die zehn Meter breiten Displays hoch zur Decke.

Zuschauer in Bewegung: Unter den Sitzreihen taucht im Lauf der Show ein verborgener Pool auf.

Infrastruktur & Finanzierung Lebensqualität in Städten | Han Show

Best of Pictures of the Future | Frühjahr 2015 83

Multimedial und stets aktuellDas neue Online-Magazin der Pictures of the Future

Seit 2001 berichtete Siemens in der Zeitschrift Pictures of the Future (PoF)zweimal pro Jahr über wichtige Zukunftstrends und die spannendsten Entwick-lungen bei Forschung und Innovationen. Doch Lesegewohnheiten ändern sich.Zeitungen und Magazine werden immer weniger in Papierform konsumiert,sondern eher auf Tablet, PC oder Smartphone.

Ab Oktober 2014 haben wir daher Pictures of the Future in ein hochwertigesOnline-Magazin verwandelt – mit all den Vorteilen, die die Digitalisierung bie-tet. Wir werden aktueller: Mehrmals pro Woche publizieren wir neue Beiträge.Zugleich werden wir multimedialer: Textstrecken werden verstärkt durch Videosund animierte Infografiken, Bildergalerien und interaktive 360-Grad-Featuresunterstützt – und das Online-Magazin wird den Wünschen der Leser entspre-chend kontinuierlich ausgebaut. Es gilt „Digital First“: Aus der Pictures of the Future Digital heraus entstehenweitere Produkte: ob als gedrucktes Heft oder in Zukunft auch als Tablet- undSmartphone-Version. Zudem werden die Inhalte in eine Vielzahl anderer Kanäle gestreut, von Social Media bis zu internen und externen Medien.

Wie bei Online-Magazinen üblich, ist auch die PoF Digital in Ressorts unter-teilt, nur dass sie nicht Wirtschaft, Politik oder Sport heißen, sondern „Energie& Effizienz“, „Industrie & Automatisierung“, „Digitalisierung & Software“, „Gesundheit & Mensch“ usw. Der Leser kann diese Ressorts je nach Interesseeinzeln oder im Ganzen abonnieren. Einen besonderen Mehrwert bieten diesogenannten Dossiers, etwa zu Themen wie „Von Big Data zu Smart Data“, „3D-Druck“, „Fernwartung“ oder „Smart Grids und Energiespeicher“. Hier findensich alle relevanten Informationen zu den wichtigsten Themen: in Zukunfts-szenarien, Trendartikeln, Reportagen, Interviews und Wirtschaftsanalysen.

Ziel ist es, dem Leser einen umfassenden, kompetenten und dennoch mög-lichst knappen Überblick über ein Thema zu geben. Wer zum Beispiel das Dossier „3D-Druck“ liest, weiß danach, wie Additive Manufacturing in der Industrie funktioniert, welche Markttrends es hier gibt und was der Stand der Entwicklung bei Siemens ist. Inzwischen gibt es 22 Dossiers in der PoF Digital – und pro Jahr werden einige weitere hinzukommen.

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Herausgeber: Siemens AGCommunications and Government Affairs (CG) und Corporate Technology (CT)Otto-Hahn-Ring 6, 81739 MünchenFür den Herausgeber: Dr. Ulrich Eberl (CG), Arthur F. Pease (CG)[email protected] (Tel. +49 89 636 33246)[email protected] (Tel. +49 89 636 48824)

Redaktion:Dr. Ulrich Eberl (Chefredakteur) Sebastian Webel (Stellv. Chefredakteur & Chef vom Dienst)Arthur F. Pease (Executive Editor, English Edition)Susanne GoldJulia HesseDr. Andreas KleinschmidtKatrin NikolausSandra Zistl

Weitere Autoren dieser Ausgabe: Dr. Hubertus Breuer, Christian Buck, Dr. UlrichKreutzer, Florian Martini, Bernd Müller, Tim Schröder, Dr. Sylvia Trage

Bildredaktion: Judith Egelhof, Irene Kern, Oliver Schmitt, Publicis Pixelpark MünchenFotografie: Achim Bieniek, Andrew Brookes, Max Etzold, Dietmar Gust, Michael Herdlein, Volker Steger

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