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Politische Herrschaft jenseits des Staates: Zur Transformation von Legitimit¤t in Geschichte und

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Page 1: Politische Herrschaft jenseits des Staates: Zur Transformation von Legitimit¤t in Geschichte und
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John Akude · Anna DaunDavid Egner · Daniel Lambach (Hrsg.)

Politische Herrschaft jenseits des Staates

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Globale Gesellschaft und internationale Beziehungen

Herausgegeben von

Thomas Jäger

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John Akude · Anna DaunDavid Egner · Daniel Lambach (Hrsg.)

Politische Herrschaftjenseits des StaatesZur Transformation von Legitimität in Geschichte und Gegenwart

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1. Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

Lektorat: Frank Schindler | Verena Metzger

VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes istohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson derefür Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspei-cherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesemWerk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solcheNamen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachtenwären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergSatz: text plus form, DresdenGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in Germany

ISBN 978-3-531-18289-6

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

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Inhaltsverzeichnis Inhalt I. Einleitung und Theorie Legitimität und Funktionsweise politischer Herrschaft im synchronen und diachronen Vergleich John Emeka Akude/Anna Daun/David Egner ....................................................... 9 Jenseits des Staates: Neue Formen politischer Herrschaft Trutz von Trotha ................................................................................................. 25 II. Fälle Der Zerfall des aztekischen Staates in Zentralmexiko 1516-1521 Daniel Graña-Behrens ........................................................................................ 53 „Tupaj Katari vive y vuelve, Carajo!“ – Politische Herrschaft jenseits des Staates: Die Aymarakommunen und die CSUTCB in Bolivien Bettina Schorr ..................................................................................................... 83 Legitime Autorität in segmentären Gesellschaften: Die Igbo in Nigeria John Emeka Akude ............................................................................................ 103 Demokratisierung, neotraditionale Herrschaft und lokale Ordnung in Südafrika und Namibia Mario Krämer ................................................................................................... 137

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Inhaltsverzeichnis 6

Herrschaftslegitimation in den frühhellenistischen Dynastien Sabine Müller ................................................................................................... 157 Herrscherabsetzung, Herrschaftskonsolidierung und legitime Herrschaft im frühen Mittelalter: Childerich III., Pippin und Karl der Große Elke Ohnacker .................................................................................................. 183 Reziprozität und sanfte Regulierung: Legitimität und Funktionsweise politischer Herrschaft im Raum der alten Eidgenossenschaft Daniel Schläppi ................................................................................................ 209 Das politische System der Region Kurdistan im Irak seit 1991 Frank Wehinger ................................................................................................ 235 III. Zusammenfassung Die Empirie der Transformation politischer Ordnung Daniel Lambach ................................................................................................ 259 Autorenverzeichnis ........................................................................................... 277

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I. Einleitung und Theorie

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Legitimität und Funktionsweise politischer Herrschaft im synchronen und diachronen Vergleich1 John Emeka Akude/Anna Daun/David Egner Unter dem Stichwort Transformation wurde in der politikwissenschaftlichen Debatte der letzten beiden Dekaden in erster Linie Regimewandel diskutiert. Die sogenannte Transformationsforschung geht von der Annahme einer prinzipiell teleologischen Dynamik hin zur demokratischen Staatsform aus und untersucht diejenigen Faktoren, die diese Entwicklung möglichst gewaltfrei unterstützen und stabilisieren. Jedoch sind viele Prozesse politischen Wandels auf der Welt zu beobachten, die nicht in dieses Schema passen. Einige der jüngeren Staaten, die aus den zwei Wellen von Staatsgründungen im 20. Jahrhundert resultierten – der Dekolonialisierung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion – scheinen das Modernisierungsparadigma, das eine solche Zielrichtung normativ voraussetzt, nicht zu bestätigen. Auch in Staaten mit etablierten staatlichen Institutionen, wie zum Beispiel in Lateinamerika, hat sich zum Teil nicht die gewünschte Stabili-sierung demokratischer Staaten eingestellt, für die zuvor Anzeichen erkannt worden waren (Beissinger/Young 2002, Herbst 2000).

Die Staatszerfallliteratur hat einige dieser Phänomene seit den 1990er Jah-ren beschrieben und zu erklären gesucht. Das Prägnante an diesem Ansatz war, dass die Forscher analytisch einen Schritt zurückgingen und, anstelle der Form der Regierung, die Staatlichkeit selbst als wandelbar begriffen und in den Blick nahmen. Die Autoren dieser Forschungsrichtung haben seither die Merkmale von Staatlichkeit diskutiert und kategorisiert, wobei die entscheidende Variable meist die „Stärke“ des Staates war, in der Regel kontinuierlich konzipiert zwi-schen „Null Staat“ (zerfallener Staat) auf der einen und dem starken, institutio-nell ausgeprägten und stabilen Staat auf der anderen Seite (Rotberg 2004, Erd-mann 2003, Akude 2008, Lambach 2008). Zudem zeigt eine Vielzahl von Bei-spielen, dass die Annahme einer sich quasi von selbst bildenden Staatlichkeit für ein Verständnis relevanter politischer Verbände und Prozesse in der heutigen Welt nicht mehr ausreichend ist. Obwohl diese Erkenntnis inzwischen weit ver- 1 Die folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete und gekürzte Version eines Artikels von John Emeka Akude, Anna Daun, David Egner und Daniel Lambach, der unter dem Titel „Transformation politischer Ordnung: Ansätze zur Erweiterung des Transformationsbegriffs“ in der Zeitschrift für Politik (2009, Bd. 56, Nr. 2, S.142-161) erschienen ist.

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_1,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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breitet und akzeptiert ist, bleibt die politikwissenschaftliche Forschung zum Thema doch staatszentriert. Forschungsarbeiten, die ihren Ansatz theoretisch auch für alternative politische Ordnungsformen öffnen, stammen zumeist aus anderen Disziplinen (z.B. Trotha 2000, Bellagamba/Klute 2008, Lund 2007).

Die Herausgeber dieses Bandes hat die diesbezüglich noch dünne For-schungslage zu einer interdisziplinären Tagung motiviert. Aus einem weiten, die staatszentrierte Perspektive der Politikwissenschaft transzendierenden, Blick-winkel untersuchen wir, wie sich der Wandel politischer Ordnungen zu anderen Zeiten und an anderen Orten vollzogen hat. Wir sind sehr froh, dass wir für die-ses Vorhaben so ausgezeichnete Autoren aus „benachbarten“ Disziplinen wie der Soziologie, der Geschichtswissenschaft und der Ethnologie gewinnen konnten. Auf diese Weise konnten wir – unter der Fragestellung nach dem Wandel politi-scher Ordnung – so unterschiedliche Fälle wie den Zerfall des Aztekenreiches, die Bildung der Nachfolgereiche Alexanders des Großen und die politische Ent-wicklung Kurdistans im heutigen Irak nebeneinander stellen.

Mit diesem Buch wollen wir dazu beitragen, allgemeine Merkmale und Zu-sammenhänge der Transformation politischer Ordnung aus dem raum-zeitlichen Kontext zu heben und für die Theorie zu isolieren. Methodisch nehmen wir dazu den ursprünglich von Alexander George entwickelten „strukturierten fokussier-ten Vergleich“ (George 1979) zur Hilfe. Nach diesem Verfahren wird ein zuvor theoretisch bestimmter Satz von Fragen an unterschiedliche Fälle gestellt. Auf diese Weise können bestimmte Merkmale fokussiert, systematisch verglichen und die Ergebnisse verdichtend dargestellt werden (George/Bennett 2005: 67). In den folgenden drei Abschnitten legen wir zunächst die theoretischen Bausteine dar, aus denen wir im Anschluss den Fragen-Satz herleiten.

1 Die Legitimität von staatlicher und nicht-staatlicher politischer Ordnung

Max Weber beschreibt die souveräne Staatsgewalt als das Monopol legitimen physischen Zwangs, über das ein Verwaltungsstab zur Durchsetzung von Ord-nungen innerhalb eines politischen Anstaltsbetriebes verfügt. Von Max Weber über Wolfgang Reinhard bis zu Martin van Creveld sind sich die Staatstheoreti-ker einig, dass der Aufbau eines bürokratischen Verwaltungsstabes historisch das entscheidende Kriterium war, das den von den Fürsten erhobenen (normativen) Souveränitätsanspruch gegenüber den Ansprüchen sowohl der Kirche als auch der Stände in ein auch empirisch geltendes Gewaltmonopol überführte (Weber 1972: 815ff., Reinhard 1999a: 141ff., Creveld 1999: 148ff.). Schließlich befähigt das Monopol des legitimen physischen Zwangs den Staat, weitere Monopole

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aufrechtzuerhalten, die seinen dauerhaften Bestand garantieren. Davon sind zwei von herausragender Bedeutung. Erstens das Monopol der Steuererhebung, wo-durch der Staat die Aufrechterhaltung des Zwangs- und Verwaltungsapparats ökonomisch sichern kann (Elias 1939).2 Zweitens das Monopol zur Rechtset-zung, was einerseits Ausdruck und andererseits Zweck (und damit wieder Grundlage) der staatlichen Herrschaft ist.3 Neben dem Monopol legitimer physi-scher Gewalt können wir also auch die Monopole der legitimen Steuereintrei-bung4 und der legitimen Rechtsetzung innerhalb dieses Territoriums in eine De-finition des Staates mit aufnehmen.

Unter Herrschaft versteht Max Weber die „Chance, für einen Befehl be-stimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“ (Weber 1972: 28). Für ihn ist Legitimität nicht ein normativer Geltungsanspruch, sondern ana-lytisch wertfrei ein empirisch feststellbarer Legitimitätsglauben. Die Legitimität einer Herrschaft ist deshalb empirisch „natürlich auch nur [die] Chance, dafür in einem relevanten Maße gehalten und praktisch behandelt zu werden“ (Weber 1972: 123). Weber unterscheidet bekanntlich drei Typen legitimer Herrschaft: legale, traditionale und charismatische Herrschaft. Die Legitimität legaler Herr-schaft beruht für Weber „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und das Anweisungsrecht der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“ (Weber 1972: 124). Diese Legalität kann laut Weber den Beteiligten „als legitim gelten a) kraft Vereinbarung der Interessenten für diese; b) kraft Oktroyierung (auf Grund einer als legitim geltenden Herrschaft von Menschen über Menschen) und Fügsamkeit“ (Weber 1972: 19). Hier wird deutlich, dass Legalität für Weber die Legitimität von Herrschaft nicht aus sich selbst heraus begründen kann. Letztlich bezieht sich Legalität auf die Legitimität des Mittels der Herrschafts-ausübung, und zwar explizit auf das für den modernen Staat typische Mittel der Herrschaftausübung: die Bürokratie. Damit nun aber auch die von einem Staat verfolgten politischen Ziele als legitim gelten können, müssen sie entweder aus einer direkten Vereinbarung der Verbandsgenossen resultieren, was jedoch nur in sehr kleinen politischen Verbänden praktisch möglich ist, oder es bedarf wiede-rum einer legitimen Herrschaft, deren Legitimitätsgrund nun jedoch ein anderer als der der Legalität sein muss, denn sonst würde sich Webers Argumentation im Kreis bewegen. Es bleiben dann, wenn wir Weber weiterhin folgen, als Legitimi- 2 Bereits Weber (1972: 556) hatte darauf aufmerksam gemacht, dass der Aufbau einer modernen Bürokratie nur unter geldwirtschaftlichen (und nicht mehr naturalwirtschaftlichen) Bedingungen möglich war. 3 Das Kriterium der (Rechts-)Ordnung ist auch in Max Webers Definition implizit enthalten, da (paktierte oder oktroyierte) Ordnung bereits eines der Definitionsmerkmale von Verbänden aus-macht, zu denen Max Weber ja auch die Anstalt „Staat“ zählt (Weber 1972: 26). 4 Auf diese Weise soll Steuereintreibung von reiner Schutzgelderpressung unterschieden werden, obwohl Charles Tilly (1985) diese Unterscheidung vehement in Frage stellt.

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tätsgründe nur die Tradition und das Charisma. Wenn also Staatsbildungsprozes-se mit dem Aufbau eines bürokratischen Verwaltungsstabes einhergehen, so können wir daraus folgern, dass die Legitimität von Herrschaft in allen nicht-staatlichen politischen Ordnungen damit lediglich auf Tradition oder Charisma beruhen kann.

Der Weber’sche Legitimitätsbegriff ist nach unserem Dafürhalten weiterhin gültig – zumindest was die innere Legitimität von Herrschaft betrifft. Den Ver-änderungen des internationalen Systems seit den Lebzeiten Webers ist jedoch eine Ergänzung der Konzeption staatlicher Legitimität geschuldet, auf die Martin van Creveld aufmerksam gemacht hat. Van Creveld unterscheidet eine innere und eine äußere Dimension von Legitimität. Nach innen unterscheide sich der Staat von anderen Körperschaften dadurch, „dass er sie [die Körperschaften] alle autorisiert“; nach außen hin jedoch beruht sein rechtmäßiges Bestehen darauf, dass er „selbst allein durch andere Staaten autorisiert (anerkannt) wird“ (van Creveld 1999: 9). Legitimität fließt dem Staat also nicht nur von innen, sondern auch von außen her zu. Ähnlich unterscheidet auch Robert Jackson (1990) zwi-schen empirischer Staatlichkeit mit dem Kriterium eines effektiven Durchset-zungsvermögens der staatlichen Politik inklusive des Gewaltmonopols im In-nern, und juristischer Staatlichkeit mit der Anerkennung als Staat von außen.

Die Literatur zusammenfassend wollen wir unter Staat eine politische Ord-nung verstehen, die legitime Gewaltanwendung durch einen bürokratischen Verwaltungsstab – und folglich auch Rechtssetzung und Steuereintreibung – gegenüber der auf einem angebbaren Territorium lebenden Bevölkerung erfolg-reich monopolisiert hat und dabei äußere Anerkennung genießt. Eine nicht-staatliche politische Ordnung ist demnach eine politische Ordnung, die legitime Herrschaft ohne einen solchen bürokratischen Verwaltungsstab oder Anerken-nung von außen ausübt.

2 Transformationen der politischen Ordnung

Ausgangspunkt unseres Modells ist die Annahme eines kausalen Zusammen-hangs zwischen der Legitimität von Herrschaft und der Transformation politi-scher Ordnung. Eine signifikante Veränderung im Glauben an die Legitimität der gegebenen Herrschaft betrachten wir als eine bedeutende und allgemeine Ursa-che für politische Veränderungsprozesse. Dabei unterscheiden wir, ob die Delegitimierung die politische Zielsetzung betrifft und damit die funktionalen Komponenten innerhalb eines politischen Verbandes, auf denen die politische Willensbildung beruht; oder ob sie sich auf den Staat als Mittel politischer Orga-nisation per se bezieht. Der erste Fall würde zu einer Transformation innerhalb

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der staatlichen Ordnung führen, der zweite Fall zu einer Transformation hin zu einer nicht-staatlichen Ordnung. Eine Typologie von Transformationsprozessen lässt sich nun dadurch gewinnen, dass man die funktionale Komponente bzw. die Ebene des politischen Systems identifiziert, die von der Delegitimierung betrof-fen ist.

Im Anschluss an David Easton5 lassen sich drei Ebenen unterscheiden: Ers-tens die Ebene der Regierenden; zweitens die Ebene der herrschenden Eliten bzw. des Regimes6; und drittens die Ebene der politischen Gemeinschaft. Der Legitimitätsverlust der Regierungsmacht auf der ersten Ebene führt dazu, dass Herrschaft als Diktatur empfunden wird. Die Delegitimierung einer Elite auf der zweiten Ebene macht sie zur Oligarchie. Verliert (auf der dritten Ebene) die politische Gemeinschaft ihre Legitimität, so äußert sich dies in der Wahrneh-mung bestimmter Segmente der Gesellschaft, durch andere bevormundet oder unterdrückt zu werden (wobei es zunächst unerheblich ist, woher diese Segmente ihre Identität – ethnisch, religiös etc. – beziehen).

Der Verlust von Legitimität kann auf allen drei Ebenen mit gewalttätigen Konflikten um die Neuordnung der Herrschaftsverhältnisse einhergehen. Dies wird vor allem dann der Fall sein, wenn die Möglichkeit eines Machtwechsels, beispielsweise über Wahlen, nicht ausreichend institutionalisiert ist.

5 Vgl. Easton (1965), wo er political community, regime und political authorities als die Komponen-ten eines politischen Systems ausmacht, die als Gegenstand der Unterstützung und damit der Legiti-mierung in Frage kommen. 6 Vgl. dazu die Definition von „Regime“, die Wolfgang Merkel gibt und die enge Beziehung der Begriffe „Elite“ und „Regime“ (Merkel 1999: 71).

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Konfliktebene Delegitimierung mit institutiona-lisierter Kon-fliktlösung

Delegitimierung ohne institutio-nalisierte Kon-fliktlösung

(versuchte) Konfliktlösung mit Gewalt

Regierung Geordnete Ablö-sung einer Regie-rung

Diktatur Putsch bzw. Staatsstreich

Politische Elite (Regime)

Abstieg der alten und Aufstieg einer neuen Elite

Oligarchie Revolution, Anti-Regime-Krieg

Politische Gemeinschaft

Erneuerung der kollektiven Iden-tität

Unterdrückung bestimmter Seg-mente der Ge-sellschaft

Sezession; Zer-fall staatlicher Strukturen (Staatszerfall)

Abbildung 1: Transformationen politischer Ordnung Ein klassisches Beispiel für die kriegerische Eskalation von Konflikten des ers-ten Typus (Delegitimierung der regierenden Personen) sind die Erbfolgekriege der frühen Neuzeit. Die staatliche Ordnung als solche wurde hier von den han-delnden Akteuren nicht in Frage gestellt, vielmehr war dies ein Streit um den Besitz der Regierungsmacht über bestimmte Territorien. Der zweite Typus, die Delegitimierung der herrschenden Elite, zeigt sich in der europäischen Historie zunächst durch die Ablösung der Herrschaft des Adels durch das Bürgertum und später durch die Herausforderung der bürgerlichen Herrschaft durch das Proleta-riat. Klassische Beispiele für die kriegerische Eskalation solcher Konflikte sind die europäischen Bürgerkriege von der Puritanischen Revolution über die Fran-zösische und Russische Revolution bis hin zum Spanischen Bürgerkrieg. Beim dritten Typus ist die Delegitimierung von Herrschaft auf der Ebene der politi-schen Gemeinschaft verortet. Hieraus kann sich eine Transformation politischer Ordnung auf zweifache Weise vollziehen. Erstens kann eine Separation folgen, die entweder friedlich vonstatten gehen kann, wie im Fall der Tschechoslowakei, oder kriegerisch, was vor allem dann unvermeidbar ist, wenn sich territoriale Ansprüche überlappen, wie es zum Beispiel in Jugoslawien der Fall war. Doch auch hier wurde die staatliche Ordnung als solche nicht in Frage gestellt, sondern

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vielmehr in den postjugoslawischen Nachfolgestaaten rekonstituiert. Zweitens kann dieser Prozess in der Auflösung der staatlichen Ordnung, dem Staatszerfall, münden. Im Sinne der oben formulierten Staatsdefinition tritt Staatszerfall dann ein, wenn eine oder mehrere der Kriterien von Staatlichkeit nicht mehr bestehen – wenn also auf einem angebbaren Territorium legitime Gewaltanwendung ge-genüber der dort lebenden Bevölkerung und in der Folge Rechtssetzung und Steuereintreibung nicht mehr durch staatliche Bürokratie monopolisiert sind oder wenn das Territorium seine äußere Anerkennung als Staat verliert. Die Dezentra-lisierung von Gewalt kann dabei auf verschiedene Weise vor sich gehen und auch verschiedene Folgen haben. So zerfielen Liberia und Sierra Leone in Bür-gerkriegen; in Zaire war dagegen der Staat seit etwa 1991 praktisch verschwun-den, jedoch kam es erst durch den Aufstand der von Laurent-Désiré Kabila ange-führten Rebellen im Jahr 1996 zu einem organisierten Gewaltaustrag. Der Zerfall des Staates war für die Akteure bereits lange Realität, bevor es zum Bürgerkrieg kam, wie es auch Kabila selbst ausdrückte: „We are fighting for a vast movement to put an end to this useless state that no longer exists“ (zit. in: McKinley 1996: 1).

Während die zuvor angeführten Fälle einen Transformationsprozess inner-halb der staatlichen politischen Ordnung reflektieren, wird auf der letzten Ebene bereits auf einen Weg aus der staatlichen politischen Ordnung heraus verwie-sen. Wohin dieser Prozess führt, ist dabei noch nicht berücksichtigt. Auch dieses Modell ist also zunächst staatszentriert und trägt der Annahme Rechnung, dass politische Akteure Macht monopolisieren und ihre Herrschaft verstetigen wollen. So ist es trotz der Auflösung des legitimen Gewaltmonopols während eines Bür-gerkrieges doch meist das Ziel der Bürgerkriegsparteien, das Gewaltmonopol nach Beendigung des Krieges wieder neu zu errichten.

3 Wege aus der Staatlichkeit

Trotzdem hat es nicht-staatliche politische Ordnungen sowie dauerhafte Auflö-sungen staatlicher Ordnungen immer gegeben. Hieraus lässt sich schließen, dass entweder Staatsherrschaft von den politischen Akteuren erst gar nicht angestrebt wird, oder aber es zur Auflösung staatlicher Strukturen kommt, obwohl eine solche Entwicklung von den Akteuren nicht gewollt ist. Mit Bezug auf den ers-ten Fall sind theoretisch diejenigen Bedingungen zu identifizieren, die politische Akteure dazu motivieren, eine andere Form politischer Ordnung der staatlichen Herrschaft, sofern die Errichtung einer solchen überhaupt möglich wäre, vorzu-ziehen. Solche Bedingungen liegen zum Beispiel in Bürgerkriegsökonomien vor: Gewaltsituationen werden von den dominanten Akteuren aufrechterhalten, weil sie daraus Profit ziehen. Bürgerkriegsökonomien können sich einstellen, wenn

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ein Staat bereits zerfallen ist. Sie können aber auch durch ökonomische Interes-sen, zum Beispiel der Organisierten Kriminalität, erst herbeigeführt werden.

Auch der zweite Fall, also eine Entwicklung, die von keinem der maßgebli-chen Akteure intendiert zu Staatszerfall führt, tritt im Zusammenhang mit Bür-gerkriegen auf. Jedoch ist ein notwendiger Zusammenhang zwischen beiden Phänomenen – Bürgerkrieg und Staatszerfall – weder konzeptionell, d.h. aus der Definition von Staatszerfall noch empirisch gegeben.7 Denn nicht jeder politi-sche Konflikt endet in einem Bürgerkrieg, und nicht jeder Bürgerkrieg mündet im Zusammenbruch der staatlichen Ordnung.

In unserem Analyseschema haben wir die Legitimität von Herrschaft als unabhängige Variable untersucht. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Delegitimierung der politischen Gemeinschaft der Auflösung staatlicher Ord-nung im Allgemeinen vorausgeht. Empirisch ist beobachtbar, dass Staatszerfall vorrangig dort auftritt, wo die politische Gemeinschaft und damit die kollektive Identität des Staatsvolkes nur schwach ausgebildet sind. Dagegen ist der Staat in denjenigen Regionen am stabilsten, wo er entweder eine lange Tradition hat oder sich bei seiner Gründung auf bereits zuvor existierende politische Gemeinschaf-ten stützen konnte. Ersteres trifft vor allem auf Europa sowie auf Amerika zu, wohin bereits während der Kolonialzeit sowohl die staatliche Bürokratie als auch ein Teil des Staatsvolkes exportiert wurde; letzteres insbesondere auf Staaten, die aus alten Reichen wie dem Persischen oder den ostasiatischen, hervorgingen. Am fragilsten ist der Staat schließlich dort, wo er weder eine lange Tradition hat noch sich auf bestehende politische Gemeinschaften stützen kann. Dies ist vor allem in Afrika (mit verschiedenen Ausnahmen), in der arabischen Welt (wiede-rum mit einigen Ausnahmen) und in Mittelasien der Fall.

Der Prozess zwischen Delegitimierung und Staatszerfall kann sich nun – muss sich aber nicht – über einen Bürgerkrieg vermitteln. In Kolumbien bei-spielsweise übersetzte ein Anti-Regime-Krieg die Delegitimierung der politi-schen Elite (auf der zweiten Ebene im Modell) in einen Legitimitätsverlust auf der Ebene der politischen Gemeinschaft. In Somalia und Afghanistan, in denen Staatszerfall ebenfalls dem Bürgerkrieg gefolgt ist, lässt sich eine Ausweitung der Delegitimierung der Regierung auf die politische Gemeinschaft – also eine Dynamik von der ersten auf die dritte Ebene im Modell – beobachten.

In anderen Fällen hat sich eine staatliche Ordnung bzw. ein Staat aufgelöst, ohne dass es zum Bürgerkrieg gekommen wäre. In zerfallenen und zerfallenden

7 Waldmann (1997) weist darauf hin, dass Bürgerkriege sowohl zur Staatsbildung als auch zum Staatszerfall beitragen können. Genschel und Schlichte (2000) sehen einen zweifachen Zusammen-hang zwischen Gewaltmonopol und Bürgerkrieg: Einerseits ist der Verlust des Gewaltmonopols die Voraussetzung für Bürgerkrieg; andererseits ist ein intaktes Gewaltmonopol die Voraussetzung für einen (dauerhaften) Friedensschluss.

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Staaten, wo Dorfvorsteher, Stammesälteste, Lehrer, Geistliche, Händler oder Warlords für Ordnung sorgen, wird offensichtlich, dass der Staat keineswegs die einzig mögliche Instanz zur Regelsetzung ist. Solche gesellschaftlichen Autoritä-ten entstehen jedoch nicht plötzlich mit dem Zerfall des Staates. Vielmehr füllen sie repräsentative Funktionen aus und stellen damit gesellschaftliche Institutio-nen dar, die bereits vor dem Zerfall bzw. vor der Fremdauferlegung des Staates vorhanden waren. Trutz von Trotha zeigt beispielsweise in seiner Studie über die Rekonstruktionsphase in Mali, dass die Ifoghas erfolgreich auf die neotraditiona-le Instanz des Häuptlingstums zurückgreifen konnten, das in verschiedenen For-men schon seit vorkolonialen Zeiten bestand (Trotha 2000). Das sich von Soma-lia gelöste Somaliland verfügt über ein legitimes empirisches Gewaltmonopol, wird als Staat aber von außen nicht anerkannt. Andere Beispiele sind Teile Boli-viens, in denen tradierte Ordnungen zu neuer Geltung kommen, oder auch be-stimmte Gegenden in Italien, in denen die Mafia Ordnungsfunktionen über-nimmt.

Joel Migdal hat ein Modell aufgestellt, in dem die Art der Interaktion zwi-schen Staat und gesellschaftlichen Gruppen die Stärke des Staates entscheidend beeinflusst (Migdal 1988). Demnach streben während der Staatsbildung beide Seiten nach sozialer Kontrolle über Menschen und offerieren diesen konkurrie-rende Ordnungsangebote bzw. zwingen sie ihnen auf. Wenn es dem Staat nicht gelingt, sich als Ordnungsmacht durchzusetzen und zu konsolidieren, kann es unter Umständen zu Staatszerfall kommen. Dann übernehmen gesellschaftliche Instanzen zusätzliche Ordnungsaufgaben, die über ihre bisher eingeschränkte Rolle hinausgehen oder eignen sich diese mit Waffengewalt an. Dabei hat sich bei Untersuchungen in Somalia gezeigt, dass die Gewalt in Gebieten mit aner-kannten und funktionierenden sozialen Institutionen deutlich geringer war als in anderen Landesteilen (Menkhaus 2004). Demgegenüber weisen Situationen, die durch Anomie und Regellosigkeit gekennzeichnet sind, einen höheren Grad an Gewalt auf. In Sierra Leone ist beispielsweise das hohe Gewaltniveau eine Reak-tion der von der Staatsmacht ausgeschlossenen Bevölkerungsteile auf die Ver-schlechterung ihrer Situation im Zuge der Staatsrezession. Diese war ihrerseits aus der Krise des Neopatrimonialismus entstanden (Richards 1996). Anomie kann also eine Folge von Staatszerfall sein - wie es sich auch in Teilen Somalias zeigt.

Die in Tabelle 2 vorgeschlagene Typologie differenziert nicht-staatliche Ordnungsformen nach der Art und Weise der Ausübung physischer Gewalt. Als entscheidende Variablen einer derartigen Typologie schlagen wir den Zentrali-sierungsgrad der Gewaltmittel sowie die relative Stärke gesellschaftlicher Insti-tutionen vor.

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Organisation der

Gewaltmittel

Zentral Dezentral

soziale

Institutionen

vorhanden Übernahme der Autorität durch einzelne Gruppe

Interaktion (ggf. Konflikte) zwi-schen Gruppen

nicht vorhanden (Anomie)

Übernahme der Autorität durch Warlords

Anarchie

Abbildung 2: Typologie nicht-staatlicher Ordnungsformen

4 Die Transformation politischer Ordnung im synchronen und diachronen Vergleich

Auf der Grundlage dieser Hypothesen lassen sich Fragen an die Fälle in diesem Band formulieren. Über ihren inhärenten historiographischen Wert hinaus wei-sen die Einzelfallstudien so auch eine theoretische Orientierung auf: Sie beziehen sich auf allgemeine, vom konkreten historischen Kontext losgelöste Zusammen-hänge. Durch die Auswertung der Fragen versprechen wir uns Hinweise auf die Gültigkeit und Reichweite der theoretischen Überlegungen. Methodisch ist unser Vorgehen an das von Alexander George dargelegte Verfahren des strukturierten, fokussierten Vergleichs angelehnt. Nach dieser Methode soll ein Satz von stan-dardisierten, allgemeinen Fragen an jeden Fall gestellt werden, die den theoreti-schen Fokus der Untersuchung widerspiegeln. Der Gebrauch eines standardisier-ten Fragen-Satzes dient dazu, die Vergleichbarkeit von empirischen Daten si-cherzustellen. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht kann auf diese Weise ein Fall-strick der qualitativen Forschung umgangen werden: dass nämlich intensive und tiefe Einzelfallstudien nur für sich allein stehen. Der strukturierte fokussierte Vergleich soll mehrere Fallstudien so anleiten, dass Daten kumuliert und somit theoretische Ergebnisse ermöglicht werden (George/Bennett 2005: 69-70). George charakterisiert seine Methode wie folgt:

„The method is ‚structured‘ in that the researcher writes general questions that re-flect the research objective and that these questions are asked of each case under study to guide and standardize data collection, thereby making systematic compari-

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son and cumulation of the findings of the cases possible. The method is ‚focused‘ in that it deals only with certain aspects of the historical cases examined“ (George/Bennett 2005: 67).

Im Kern des hier verfolgten Forschungsinteresses stehen die theoretischen Be-ziehungen zwischen den Variablen Legitimität, Herrschaft, Gewalt und Trans-formation politischer Ordnung. Aus den bisher dargelegten theoretischen Über-legungen lassen sich die folgenden Fragen über zentrale, der Transformation politischer Ordnung zugrunde liegenden Zusammenhänge herleiten: Wie wird Herrschaft in der politischen Ordnung legitimiert? Wie ist die Kontrolle der Gewaltmittel organisiert? Auf welcher der drei Ebenen im Modell (Regierung, Elite, politische Ge-

meinschaft) findet eine Transformation politischer Ordnung statt? Inwiefern geht der Transformation eine Delegitimierung von Herrschaft

voraus? Auf welchen Ebenen ist diese Delegitimierung angesiedelt? In welchem Maße wird im Zuge des Transformationsprozesses Gewalt

ausgeübt? Bestehen Institutionen zur Bearbeitung bzw. Lösung des Konflikts und

werden diese genutzt? Wie wird nach einem Zusammenbruch die Kontrolle der Gewaltmittel or-

ganisiert? Die Ergebnisse unserer Auswertung werden im Schlusskapitel zusammengefasst. 5 Die Beiträge dieses Sammelbands

Den Fallanalysen des Hauptteils geht eine theoretische Untersuchung von Trutz von Trotha voraus. Von Trotha zeigt, dass der Staat als politische Herrschafts-form seinen Zenit überschritten hat. Er folgert, dass wir lernen sollten, mit nicht-staatlichen Formen politischer Herrschaft, die nicht auf dem Grundsatz des staat-lichen Gewaltmonopols beruhen, umzugehen.

Die Fallstudie von Daniel Graña-Behrens untersucht den Zusammenhang von politischer Herrschaft und Legitimität im vorkolumbischen Amerika. Graña-Behrens stellt die These auf, dass die Transformation der politischen Ordnung Mesoamerikas von der aztekischen Hegemonie zur Unterwerfung unter das spa-nische Imperium einer Verkettung der inneraztekischen Konflikte mit den au-ßenpolitischen Umständen zuzuschreiben ist. Dabei gab es lediglich für den inneraztekischen Konflikt eine Art institutioneller Konfliktlösung: den Königs-mord.

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Bettina Schorr zeigt in ihrem Beitrag, auf welche Weise indigene Gewerk-schaften im heutigen Bolivien politische Herrschaft jenseits des Staates ausüben. Die Ordnungsfunktion der Gewerkschaften kommt vor allem denjenigen Teilen des Landes zu, in denen der Staat selbst kaum Präsenz zeigt. Trotz regelmäßiger Konflikte steht Bolivien aber nicht vor dem Zusammenbruch der politischen Ordnung. Vielmehr existieren hier zwei politische Ordnungsmodelle, die teils kooperieren, teils im Konflikt miteinander stehen. Schorr zeigt, dass nicht jede Form des Rückgangs staatlicher Autorität unaufhaltsam in Chaos und Bürger-krieg enden muss.

John Emeka Akude widerlegt das Argument einer teleologischen Entwick-lung dezentralisierter Formen politischer Organisationen hin zu zentralisierten Formen. Anhand des Systems politischer Herrschaft im Land der Igbos, der drittgrößten ethnischen Gruppe im Osten des heutigen Nigeria zeigt er, wie das ursprüngliche segmentäre System die koloniale Imposition überlebte und unter-mauert damit die Eigenständigkeit dezentralisierter Formen. Er charakterisiert die traditionelle politische Gemeinschaft der Igbos als direktdemokratisch und konsensorientiert, ihre Herrschaft als hochgradig legitim und ihre Gewaltkontrol-le als dezentral. Da das egalitäre und direktdemokratische System der Igbos keinen Anker für die koloniale Herrschaft bot, institutionalisierte der Kolonial-staat dort das Chieftaincy-System (ähnlich wie das Häuptlingstum). Heute exis-tieren die politische Tradition der segmentären Dezentralisierung und das zentra-lisierte Chieftaincy-System nebeneinander.

Mario Krämer analysiert das neotraditionale Häuptlingstum im südlichen Afrika. Er zeigt, auf welche Weise die kolonialen Machthaber versuchten, ihre Herrschaft durch die Integration der traditionellen Ordnung zu legitimieren. Dies gelang nur sehr begrenzt und zum Teil mit regressiver Dynamik: Die traditionel-len Herrscher kooperierten zwar mit den Kolonialherren und später dem Apartheidssystem, jedoch führte dies nicht zu einem Legitimitätsgewinn der Kolonialherren, sondern im Gegenteil zu einem Legitimitätsverlust der traditio-nellen Herrscher.

Der Beitrag von Sabine Müller beschreibt den Wandel der politischen Herr-schaft in den frühhellenistischen Dynastien. Nach dem Tod von Alexander dem Großen und seinem Sohn kämpften zunächst Alexanders Heerführer (Diadochen) um dessen Nachfolge. Die Diadochen suchten sich also zunächst charismatisch, durch militärische Bewährung, zu legitimieren. Doch gab es nach dem Zerfall des Reichs auch Versuche der Gewinnung traditionaler Legitimität durch den Besitz des Bestattungsortes Alexanders und das Einheiraten in die Argeaden-Dynastie. Wie Müller am Beispiel des Ptolemäer-Reiches zeigt, kommt es ab der zweiten Diadochen-Generation sogar zur Behauptung einer direkten göttlichen Abstammung. Als ideologische Machtressource dienen dabei Hofdichter wie

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Kallimachos, die in ihren Werken die göttliche Abstammung des Königs propa-gieren.

Elke Ohnacker analysiert die Absetzung von drei Herrschern im frühen eu-ropäischen Mittelalter: Childerich III., Pippin und Karl der Große. Deren Herr-schaft war auf die Herstellung und Wahrung der „ordo“, des Friedens und des Rechts gerichtet; letzteres war eine Synthese aus dem tradierten Stammesrecht und dem römischen Provinzialrecht. Insbesondere zeigt Ohnacker, wie eine heidnisch-barbarische Legitimität, die sich in der „Königswahl“ realisierte, zu-nehmend durch eine christlich-römische Legitimität ergänzt wird. Letztere äu-ßerte sich in der Salbung und dem Papstsegen und gipfelte in der päpstlichen Krönung Karls des Großen zum Kaiser.

Daniel Schläppi beschreibt politische Herrschaft in der Schweizer Eidge-nossenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts. Das zentrale Organisationsprinzip politischer Herrschaft war die Subsidiarität: Die Selbstverwaltungsrechte der bildenden Teile wurden bis hin zur korporativ-kommunalen Ebene gewährleistet. Konfliktlösungsmechanismen bestanden nur auf der kommunalen Ebene und das Milizsystem wurde bis ins späte Mittelalter beibehalten. Auf der nationalen Ebe-ne gab es einen nationalen Kongress, in dem alle eidgenössischen Orte vertreten waren. Hier wurden die nicht auf unteren Ebenen gelösten Probleme einstimmig beschlossen. Insgesamt war politische Herrschaft stark etabliert und institutiona-lisiert, dennoch kam es immer wieder zu lokalen Machtkämpfen, die teils in der Absetzung einzelner Herrscher mündeten. Die Ebene der polity behielt dabei jedoch ihre Legitimität.

Frank Wehinger schließlich untersucht in seiner Fallstudie das politische System der Region Kurdistan seit 1991. Dieses ist durch zwei Konfliktlinien geprägt: erstens zwischen der irakischen Zentralregierung und dem kurdischen Autonomieanspruch und zweitens zwischen den zwei dominanten kurdischen Parteien, der KDP und der PUK. So wurde das staatliche Gewaltmonopol nicht nur innerhalb des Iraks, sondern auch innerhalb Kurdistans umfochten. Beide Gruppen stützen sich auf traditionelle Legitimität und haben sich zeitweise mit externen Mächten verbündet. Der Fall Kurdistan zeigt, dass eine gemeinsame Ethnie und Religion als Voraussetzung für eine erfolgreiche Staatsbildung nicht ausreicht.

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Legitimität und Funktionsweise politischer Herrschaft 22

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Jenseits des Staates: Neue Formen politischer Herrschaft1 Trutz von Trotha 1 Einleitung Der leitende Gedanke des folgenden Beitrags ist, dass der Staat als politische Herrschaftsform seinen Zenit überschritten hat. Wir müssen lernen, für die ab-sehbare Zukunft mit nichtstaatlichen Formen politischer Herrschaft, das heißt mit gesamtgesellschaftlichen Formen politischer Herrschaft umzugehen, die nicht auf dem Grundsatz des staatlichen Gewaltmonopols beruhen.2

Ich beginne meine Beobachtungen mit einigen Bemerkungen zum Aufstieg und Ende der Fiktion von Staatlichkeit. Im zweiten Abschnitt gehe ich auf die unverändert machtvolle Staatszentriertheit politischen Handelns und des politi-schen Diskurses ein. Im dritten Abschnitt werde ich schließlich auf die wachsen-de Bedeutung von neuen Formen politischer Herrschaft jenseits des Staates zu sprechen kommen und einige wenige davon kurz skizzieren.

2 Von der Fiktion von Staatlichkeit und ihrem Ende ‚Politik‘ ist ein soziales Handeln, das darauf gerichtet ist, Entscheidungen, Ent-scheidungsprozesse und Institutionen zu beeinflussen und zu kontrollieren, in denen um die Regelung gemeinsamer Angelegenheiten von Menschen, der Bin-nen- und Außenverhältnisse ihrer Gesellungsformen und im Besonderen um Machtverteilung gerungen und über sie entschieden wird. Politik ist dementspre-chend ein Feld des Konflikts, vor allem des Konflikts um die Durchsetzung von 1 Ursprünglich als Vortrag auf jener Tagung gehalten, die in diesem Band dokumentiert wird, habe ich mich in dieser schriftlichen Fassung nur unwesentlich vom Vortragsformat entfernt. Ich habe mich im Wesentlichen darauf beschränkt, den Vortragstext durch einige wenige Anmerkungen und Literaturnachweise zu ergänzen, und hier und dort eine Überlegung oder Beobachtung noch etwas näher zu erläutern. 2 Wenn ich vermute, dass der Staat als politische Herrschaftsform seinen Zenit überschritten hat, dann ist damit nicht gemeint, dass der Staat auf dem Weg ist, ausgemustert zu werden. Gemeint ist, dass der globale Aufstieg des Staates als politische Herrschaftsordnung und nahezu konkurrenzlose Herrschaftsutopie an sein Ende gekommen ist.

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_2,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Interessen, Normen, Werten, Ideen, religiösen Deutungen und Weltanschauun-gen. Im Kern der Politik liegt das Streben nach Herrschaftsanteilen oder nach Beeinflussung der Herrschaftsverhältnisse, hin und wieder nach dem Umsturz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse selbst. Aufgrund der neuzeitlichen Staatsentwicklung war und ist ‚Politik im westlichen Verständnis darüber hin-aus vorrangig das, was in dem komplexen Gefüge staatlicher Institutionen und derer, die unmittelbar mit ihnen verbunden sind und auf sie einwirken, verhan-delt und entschieden wird. ‚Politische Herrschaft wird in den Kategorien staatli-cher Herrschaft und damit unter den Prämissen einer politischen Ordnung be-trachtet, die in Anlehnung an das bekannte Konzept von Max Weber (1964: 39) auf einen zentralisierten Herrschaftsapparat gründet, der durch folgende Merk-male ausgezeichnet ist: Das wichtigste, weil folgenreichste Merkmal dieses Ap-parates ist, dass er das Monopol des legitimen physischen Zwangs, d.h. das Ge-waltmonopol, beansprucht und diesen Anspruch einigermaßen erfolgreich durch-setzen kann. Der Anspruch auf das Gewaltmonopol ist ein Anspruch auf das Monopol zur Ausübung von Gewalt im Binnen- und Außenverhältnis der Gesell-schaft, auf das Monopol über die Rechtfertigungsgründe für den Einsatz von Gewalt und auf das Monopol über die Gewaltmittel. Dieser Anspruch auf das Gewaltmonopol schließt ein, dass staatliche Herrschaft eine zentralisierte Ge-bietsherrschaft ist, die Monopole in den klassischen Bereichen der Normordnung geltend macht und diese zumindest teilweise durchsetzen kann. Es sind mittels Gesetzgebung beanspruchte Monopole in der Normsetzung und bei der Sanktio-nierung von Normabweichungen einschließlich des Sanktionsvollzugs, welche die Aufgabe des staatlichen Justiz- und Strafverfolgungssystems ist. Staatliche Herrschaft ist gekennzeichnet durch das, was ich die ‚Dominanz des Rechts genannt habe (Trotha 1982: 19ff.). Zur staatlichen Herrschaft gehört ebenfalls, dass sie über einen bürokratischen Herrschaftsapparat verfügt, mittels dessen die Verwaltung einen Anspruch auf direkte Herrschaftsausübung geltend macht und diesen Anspruch wenigstens teilweise verwirklichen kann.

An diesen Merkmalen von Zentralität, Territorialität, Gewaltmonopol, Do-minanz des Rechts und direkter Herrschaftsausübung mittels eines bürokrati-schen Verwaltungsapparats wird ersichtlich, wie immens voraussetzungsreich staatliche Herrschaft ist – vom modernen Verfassungs- und Rechts- oder gar Wohlfahrtsstaat gar nicht zu reden. Die Durchsetzung staatlicher Herrschaft ist der radikalste und ehrgeizigste Machtprozess, insofern er so gut wie keinen Bau-stein nichtstaatlicher Herrschaftsordnungen, selbst diejenigen zentralisierter, nichtstaatlicher Herrschaftsapparate unberührt lässt. Es ist ein durch und durch ‚unselbstverständlicher Vorgang.3 Staatliche Herrschaft ist das Ergebnis eines

3 Zur Kategorie der ‚Unselbstverständlichkeit staatlicher Herrschaft vgl. Trotha 1994: 1ff.

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gelungenen Akkumulationsvorgangs von Machtchancen und Machtverfestigun-gen, von Entmachtung und Entlastung der Machtunterworfenen. Dabei geht es stets auch um die Versorgungsansprüche des Verwaltungsstabes und der Gefolg-schaften derer, welche die Schlüsselpositionen der staatlichen Herrschaft – ins-besondere die Regierung – besetzen. In modernen demokratischen Gesellschaf-ten umfassen die Gefolgschaften im Grundsatz die Gesamtheit der Wahlberech-tigten, so dass die Versorgungsansprüche nahezu unbegrenzt sind. Nicht weniger wichtig und z.T. eng mit der Befriedigung von Versorgungsansprüchen der Ge-folgschaften verbunden ist die Sicherung von Legitimitäten. Sie reichen von Dolf Sternbergers Arten der ‚Regierungslegitimationen (Sternberger 1986: 20ff.) über die ‚diskursiven Legitimitäten im Sinne von Michael Schwab-Trapp (2007: 19ff.; 2002: 19) und Webers herrschaftssoziologische Strukturtypen der Legiti-mation bis zu den Basislegitimitäten (Weber 1964: 157ff.), die Heinrich Popitz (2004: 221ff.) hervorgehoben hat, und die ich in einer Typologie weiter zu ent-wickeln versucht habe (Trotha 1994b: 69ff.).

Diese und andere Voraussetzungen von Staatlichkeit unterstreichen, dass Staatsbildung so ziemlich alle schwerwiegenden Konflikte herausfordert, mit denen Menschen aneinandergeraten können. Deshalb ist für die Handelnden und kollektiven Akteure, die sie bewerkstelligen, Staatsbildung ein utopisches Unter-fangen. Das heißt, dass Staatsbildung vielerorts vor allem auch eine Kette des Scheiterns war und ist. Befehle verhallen und werden nicht gehört. Einrichtun-gen der Zentralgewalt fassen keinen Fuß oder zerfallen wie die schäbigen oder prachtvollen Bauten, in denen die Beamten ihren Dienst für die Sache der staatli-chen Herrschaft tun sollten. Über die Verbindungswege der Lokalverwaltung mit der hauptstädtischen Zentrale wächst das Gras, und die Brücken, die der jährli-che Anstieg der Flüsse nach der Schneeschmelze zerstört hat, bleiben unaus-gebessert, weil den Lokalbeamten sowohl die materiellen wie personellen Res-sourcen fehlen. Kommt es gar zu offenem, gewalttätigen Widerstand der Be-herrschten gegen den staatlichen Herrschaftsanspruch, ist die Verstrickung in die Spirale der Gewalteskalation nicht weit entfernt.

Angesichts des Voraussetzungsreichtums staatlicher Herrschaft und moder-ner Herrschaft im Besonderen ist es nicht überraschend, dass staatliche Herr-schaft nicht der historische Normalfall ist. Sofern seit der neolithischen Revolu-tion zentralisierte Herrschaftsapparate entstanden sind, hatten die erfolgreichsten und größten unter ihnen bis zur Entstehung des modernen Territorialstaates typi-scherweise die Form des ‚Reiches , in denen der Staat auf den Kernbereich der Hauptstadt und die Provinzzentralen beschränkt ist, und dessen territoriale Rän-der sich in beachtlichem Umfang selbst überlassen sind, sofern sie den Interessen der Zentralgewalt nicht unmittelbar in die Quere kommen und dann mit militäri-scher Gewalt wieder zur Ordnung gerufen werden (Mann 1990: 236ff.).

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Zu den folgenreichsten Wirkungen des europäischen Kolonialismus gehört, dass er versucht hat, die Utopie moderner staatlicher Herrschaft in den koloniali-sierten Gebieten zu verwirklichen, und im Besonderen, dass er die Utopie von moderner staatlicher Herrschaft globalisiert hat. Diese globalisierte Utopie von moderner Staatlichkeit hat die Dekolonisation überdauert: Bestimmt vom völker-rechtlichen Regelwerk nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinen Grundsätzen der Selbstbestimmung und Souveränität, hat die postkoloniale internationale Ord-nung an dieser Utopie festgehalten, und die juristischen Merkmale von Staatlich-keit sind der Zollstock für die Teilhabe an den internationalen Beziehungen ge-blieben.

Eine der vielen Folgen dieser Staatszentriertheit der internationalen Ord-nung war und ist, dass sie den Blick verstellte: zum einen dafür, dass der Koloni-alstaat selbst eine Ordnung sogenannter ‚schwacher Staatlichkeit war (Trotha 1994a; Spittler 1981), bestimmt von der ‚kolonialen Situation im Sinne von Georges Balandier (1982: 3ff.), einem Gewaltmonopol, das nur äußerst begrenzt in die Binnenverhältnisse der unterworfenen Gemeinschaften hineinreichte, einer Verwaltung, deren bürokratisches und direktes Verwaltungshandeln vom despo-tischen und intermediären Handeln überlagert, wenn nicht ganz verdrängt war, und einem so gut wie kompletten Mangel an Basislegitimität der kulturellen Zugehörigkeit (Trotha 1994b: 86ff.). Zum anderen sorgte die Staatszentriertheit der internationalen Ordnung dafür, dass in zahlreichen postkolonialen Staaten, hauptsächlich in Afrika südlich der Sahara, die Diskrepanz zwischen juristischer und empirischer Staatlichkeit, um eine geläufige Unterscheidung aufzunehmen (Hahn 2006: 19), so anwuchs, dass Staatlichkeit zur Fiktion wurde. Unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz der bipolaren Ordnung des Kalten Krieges hatte die Fiktion von Staatlichkeit funktionale Seiten.4 Sie entsprach dem Orga-nisationsgrundsatz der Blockbildung, in der für die internationalen Akteure die interne Ordnung und dementsprechend die ‚empirische Staatlichkeit hinter der Zugehörigkeit der nachkolonialen Staaten zu einem der Blöcke nachrangig war. Mittels der Entwicklungspolitik wurde der Mangel an empirischer Staatlichkeit als ein Problem nachholender Modernisierung definiert. Das eine wie das andere

4 Die Funktionalität von Fiktionen geht über spezifische historische Zusammenhänge hinaus. Sie ist grundsätzlicher Natur. Fiktionen gehören zum Inventar der Integrationsmechanismen von Gesell-schaften und Kulturen und sind Mittel sozialen und kulturellen Wandels. Das gilt für die „normative Konstruktion von Gesellschaft“ mit ihren Fiktionen über Normkonformität, die Heinrich Popitz (2006: 158-174) so brillant aufgedeckt hat, bis zu den Fiktionen der „imagined communities“ im Sinne von Benedict Anderson (1988) oder einheitlicher kultureller Ziele, die für die heterogene amerikanische Gesellschaft so bedeutend sind und deshalb z.B. von Robert K. Merton (1949) zur Grundlage der Anomietheorie gemacht worden sind. Fiktionen sind gleichfalls ein dynamisches Element im Wandel von Recht und Gesellschaft, wie wir seit Henry Maines wirkungsmächtiger Abhandlung über „Ancient Law“ aus dem Jahre 1861 wissen.

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stützte den Machtanspruch der einheimischen Eliten, welche im Prozess der Dekolonisation die kolonialen Herrschaftszentren erobert hatten. Die Fiktion der Staatlichkeit machte diese Eliten zu den Akteuren und Rentiers der nachkolonia-len Herrschaftszentren und erlaubte ihnen, an vielen Orten Modelle nichtstaatli-cher Herrschaftszentren zu entwickeln und hauptsächlich schwache Staatlichkeit fortzuführen, unter denen in Afrika südlich der Sahara insbesondere neopatrimo-niale Formen von Herrschaft gediehen sind.

Mit dem Zusammenbruch der UDSSR und dem Triumph des freiheitlich westlichen Liberalismus, dem Ende des Kalten Krieges und dem neuen Schub an Globalisierung ist auch die Fiktion der Staatlichkeit, wenn nicht ganz zerbro-chen, so doch sehr brüchig geworden. Unter den zahlreichen Zusammenhängen für diesen Sachverhalt seien hier nur drei hervorgehoben.

Erstens: Der Aufstieg des ökonomischen Neoliberalismus, der spätestens mit dem sogenannten ‚Ölpreisschock des Jahres 1974 erfolgt ist, hat im Verein mit den Demokratisierungs- und Menschenrechtsbewegungen nach dem Ende des Kalten Krieges zu einem deutlichen Wandel in der Entwicklungspolitik ge-führt. An die Stelle der Belohnung von Blockmitgliedschaft traten in der Ent-wicklungszusammenarbeit Forderungen nach der radikalen internen Neuordnung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse der Empfänger von Leistungen. Setzten die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank auf die Umgestaltung der Wirtschaft nach marktwirtschaftli-chen Vorstellungen, zielte und zielt die Demokratisierungspolitik auf die politi-schen Verhältnisse. Zusammengenommen liefen sie in nicht wenigen Fällen auf einen konfliktreichen Offenbarungseid der Entwicklungsländer hinaus. Wie Franz Nuscheler schreibt, „verschlankte“ die wirtschaftspolitische ‚Entstaatli-chung „nicht nur aufgeblähte Bürokratien, sondern schwächte auch die Hand-lungsfähigkeit des ohnehin schwachen Staates“ (Nuscheler 2004: 370). Die De-mokratisierung wiederum gefährdete die etablierten politischen Machtverhältnis-se, insbesondere innerhalb des neopatrimonialen Modells. Statt zu befrieden und zu einer demokratischen Interessensrepräsentation beizutragen, führten Wahlsys-tem und Wahlergebnis immer wieder – z.B. in Lesotho oder Burundi – zu schwe-ren gewalttätigen Konflikten. Im einen oder anderen Fall wie in Kongo-Brazzaville unter dem Präsidenten Sassou-Nguesso wurde der Demokratisie-rungsprozess zum Anlass von opferreichen gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen ethnisch organisierten Milizen. Wirtschaftsliberalisierung wie Demo-kratisierung trafen die Herrschaftsverhältnisse ‚schwacher Staaten an dem oben erwähnten wunden Punkt aller Herrschaftsbildung und dem der Staatsbildung im Besonderen: die Versorgung der Gefolgschaften. Strukturanpassungsprogramme entzogen den Eliten und dem Patron an der Spitze der Klientelbeziehungen die Möglichkeiten, die Versorgungsansprüche ihrer Klientel zu befriedigen – wozu

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nicht zuletzt die Universitätsabsolventen gehörten, die in vielen Ländern mit dem Studium zugleich die mehr oder minder gesicherte Anwartschaft auf eine Be-schäftigung im Staatsapparat erworben hatten.

Zweitens: Am augenfälligsten und in bedrückendster Weise wurde die Fik-tion der Staatlichkeit mit der Wahrnehmung der allerorten wütenden sogenann-ten ‚Kleinen Kriege oder ihrem Ausbruch in bisher davon verschonten Regio-nen zerstört. Die Hoffnungen auf eine friedlichere Welt, welche da und dort kurzfristig aufblühten, nachdem die unmittelbare Bedrohung durch die atomare Apokalypse – scheinbar (Trotha 2003: 70-94) – genommen war, wurden ange-sichts der Grausamkeiten und Opferzahlen der Kleinen Kriege pulverisiert. Die Kleinen Kriege und Genozide machten offenkundig, dass der Kern aller Staat-lichkeit, das Gewaltmonopol, in vielen Teilen der Welt eine Chimäre war und ist. Im kriegerischen Konflikt um das zerfallende Jugoslawien erreichte der Staats-zerfall sogar Europa. Die Begriffe ‚Staatszerfall oder ‚failed state fanden nicht nur Eingang in die wissenschaftliche, sondern ebenfalls in die politische Debatte (Nuscheler 2004: 405ff.).5

Drittens: Die nachhaltigste Zerstörung der Fiktion von Staatlichkeit erfolgte und erfolgt jedoch durch Erfahrungen, die das postkommunistische Russland an den Rändern der einstigen UDSSR macht, und welche die westlichen Staaten noch immer dabei sind zu machen: in den militärischen Interventionen in Soma-lia und im Kosovo, in zahlreichen Ländern in Afrika südlich der Sahara und insbesondere in Afghanistan und im Irak, wobei im letzteren Fall die militärische Eroberung und Besetzung erst den Staatszerfall herbeigeführt hat. In diesen mili-tärischen Interventionen und Eroberungen machen die Verantwortlichen und hauptsächlich das vor Ort eingesetzte militärische und zivile Personal die bittere Erfahrung, dass ein staatlicher Herrschaftsapparat nicht vorauszusetzen, sondern im Gegenteil erst zu schaffen ist.

2.1 Die Hartnäckigkeit der Utopie von Staatlichkeit Angesichts dieser Erfahrungen vollzieht die gegenwärtige Politik wiederum einen folgenreichen Wechsel: An die Stelle der Fiktion von Staatlichkeit macht sie es sich zur Aufgabe, staatliche Ordnungen in Regionen zu etablieren, die von Kriegen heimgesucht sind und in diesem Zusammenhang – und unter den Prä-missen des sogenannten „Krieges gegen den Terrorismus“ – als Bedrohungen der internationalen oder gar nationalen Sicherheit wahrgenommen werden. Unter 5 In nicht wenigen außerokzidentalen Fällen transportiert der Begriff des „Staatszerfalls“ noch die vergangene Fiktion von Staatlichkeit, weil er im Gegensatz zu den tatsächlichen nachkolonialen Verhältnissen unterstellt, dass das nachkoloniale Gebilde ein Staat gewesen ist.

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den Stichworten „zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsoli-dierung“ – so der Titel des Aktionsplans der Bundesregierung vom Mai 20046 – laufen personal- und kostenintensive und nicht zuletzt für die Soldaten lebensge-fährliche Einsätze darauf hinaus, demokratische Rechtsstaaten nach mehr oder minder westlichem Muster auf den Weg zu bringen. Die Einsätze im Kosovo, in Afghanistan und im Irak sind dafür beispielhaft – auch der Militäreinsatz der Bundeswehr im Nahen Osten hat innerhalb seiner komplexen Problemlage eben-falls eine staatsbildende Seite, welche hauptsächlich in der Durchsetzung des Gewaltmonopols des Beiruter Herrschaftszentrums besteht.

Während in dieser gegenwärtigen Wendung zur militärischen Konfliktregu-lierung mit staatsbildender Zielsetzung die ‚Fiktion der Staatlichkeit mehr oder minder aufgegeben ist, ist gleichzeitig die Staatszentriertheit politischen Han-delns ungebrochen und dokumentiert die unveränderte Kraft der globalisierten Utopie von Staatlichkeit. Auch der Mainstream in Politikwissenschaft und politi-scher Soziologie hält an dieser Utopie fest und unterstützt darin die Politik, wo-für zwei bekannte Stellungnahmen exemplarisch angeführt werden sollen.

Im Herbst 2000 haben eine Gruppe von namhaften Afrikawissenschaftlern verschiedener Universitäten und die „Stiftung Wissenschaft und Politik“ in Ebenhausen ein „Memorandum zur Neubegründung der deutschen Afrikapolitik“ formuliert (Engel et al. 2000). Das Memorandum zählt die lange Liste der Defi-zite und Blockaden auf, die wir uns angewöhnt haben, mit Schwarzafrika zu verbinden. Dazu gehört der Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols in vielen Regionen Schwarzafrikas. Wie andere Listen dieser Art ist auch diese düster und bedrückend. Zwei Jahre später, im Jahr 2002, haben der Sozialanth-ropologe Andreas Wimmer und der Geograph und Afghanistanexperte Conrad Schetter, beide damals vom Zentrum für Entwicklungsforschung in Bonn, eine Kritik der Wiederaufbaupolitik in Afghanistan formuliert (Wimmer 2002: 3, 16). Das „Hauptproblem Afghanistans“ sehen sie im „Fehlen eines staatlichen Ge-waltmonopols und anderer grundlegender staatlicher Funktionen, ohne die ein erfolgreicher Entwicklungsprozess nicht zu gestalten ist“ (Wimmer 2002: 3). Und ergänzend fahren sie fort: „(D)er Aufbau von Institutionen, welche die Grundfunktionen moderner Staaten ausüben, [sollte] neben der Linderung unmit-telbarer Armut das strategische Hauptziel des Aufbauprogramms darstellen. Gerade weil staatliche Strukturen in Afghanistan gegenwärtig nur noch rudimen-tär vorhanden sind und Staatlichkeit in Afghanistan über wenig Tradition ver-fügt, ist diese Zielsetzung sinnvoll. Ohne staatliches Gewaltmonopol und andere grundlegende staatliche Funktionen wird Afghanistan aus dem Teufelskreis von

6 http://www.auswaertiges-amt.de/diplo/de/Aussenpolitik/FriedenSicherheit/Krisenpraevention/ Uebersicht.html.

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politischer Desintegration, endemischen Konflikten, Armut und wirtschaftlichem Zerfall nicht ausbrechen können“ (Wimmer 2002: 16). Schetter und Wimmer schlagen dementsprechend eine Lösung vor, welche die Afrikawissenschaftler zwei Jahre zuvor für Schwarzafrika empfohlen hatten. Im sozialwissenschaftli-chen Jargon der Entwicklungsexpertise nannten die Wissenschaftler damals ihre Lösung: „strukturelle Stabilität“.

Was war damit gemeint? Hauptsächlich vier Sachverhalte: eine ausreichen-de Legitimation des Staates, ein „konstruktiver Gestaltungswille staatlicher Insti-tutionen, der zugleich eine hinreichende Normsetzungsfähigkeit voraussetzt“, „eine wirksame Gestaltungsmacht staatlicher Institutionen zur konstruktiven Durchsetzung dieser Normen“ und ein „ausreichend gesichertes staatliches Ge-waltmonopol [...], da die Diffusion von legitimer Gewalt eines der Kernprobleme für Konflikte und Krisen ist“ (Engel et al. 2000: 4). Wimmer und Schetter ver-schanzen sich in ihrem Beitrag über Afghanistan weniger hinter sozialwissen-schaftlichem Jargon und nennen ihre Alternative zu den offiziellen Wiederauf-bauplänen Afghanistans: eine „staatszentrierte“ Strategie (Wimmer/Schetter 2002: 9). Ausdrücklich wenden sie sich dagegen, beim Wiederaufbau Afghanis-tans vorrangig auf ‚zivilgesellschaftliche‘ Akteure“ zu setzen, weil eine solche Strategie voraussichtlich dazu führen würde, „die Herrschaft der Kriegsfürsten“ zu „zementieren“ (Wimmer/Schetter 2002: 3). Wie ihre Kollegen vom entwick-lungspolitischen Afrikadiskurs setzen Wimmer und Schetter auf die Utopie einer staatlichen Ordnung nach den Blaupausen des westlichen Staates.

Mit dieser Staatszentrierung befinden sich Wimmer, Schetter und die Afrikawissenschaftler in guter sozialwissenschaftlicher Gesellschaft. Es sind Programme, die sich in unterschiedlichen Akzentuierungen ebenso mit dem ‚zivilisatorischen Hexagon von Dieter Senghaas mit dessen Eckpunkten des staatlichen Gewaltmonopols, der Rechtsstaatlichkeit, der politischen Partizipati-on, Interdependenzen und Affektkontrolle, der sozialen Gerechtigkeit und einer demokratischen Streit- und Konfliktkultur (Senghaas 1996: 17-49; Senghaas 2004: 30ff., 124ff.), der Zivilisationstheorie von Norbert Elias (1997) oder ver-breiteten Überlegungen zur Globalisierung verbinden lassen. Selbst der „mini-male Staat“, den die eifrigsten Verfechter des „Globalismus“ propagieren (Beck 1997: 26-27, 196ff.), ist immer noch ein bemerkenswert machtvolles und stabiles Gebilde, das all die Sicherungen gewährleistet, derer ein moderner Markt bedarf: allen voran das Gewaltmonopol, innere und äußere Sicherheit, Rechtsstaatlich-keit und vor allem hocheffiziente Verwaltungsapparate. So ist z.B. in Robert Gilpins Vorstellung von Globalisierung eine staatliche Hegemonialmacht, in seinen Augen selbstverständlich die USA, eine notwendige Voraussetzung von Globalisierung (Gilpin 1987: 85, 88).

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In der Politik finden diese an der westlichen Staatlichkeit und ihrer Ent-wicklung orientierten Theorien und Politikempfehlungen ungeteilte Zustim-mung. In einem Strategiepapier der ehemaligen Bundesentwicklungshilfeminis-terin Heidemarie Wieczorek-Zeul zur Entwicklungszusammenarbeit mit Afrika vom Herbst 2003 machte sich die Bundesregierung die staatszentrierte Strategie noch einmal ausdrücklich zu Eigen.7 Die Utopie der Staatlichkeit ist ungebro-chen.

Ich halte diese Utopie und die ihr zugehörige staatszentrierte Strategie der Krisenprävention und Friedenskonsolidierung mit Blick auf weite Regionen der Welt für eine Sackgasse – und, wie ich ergänzen möchte, für den Weg in eine gewalttätige ‚koloniale Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft , die sich inzwischen von Afghanistan über den Irak bis nach Westafrika abzuzeichnen beginnt, und auf die zurückzukommen ist.

Um aber von vornherein möglichen Missverständnissen vorzubeugen und der Gefahr zu begegnen, dass die Debatte sich in unfruchtbare Gegensätze ver-strickt, möchte ich zweierlei betonen. Erstens bestreite ich nicht (und habe ich nie bestritten), dass der moderne demokratische Rechtsstaat eine besonders ge-lungene Ordnung ist, um all die Freiheiten und sozialen Sicherheiten zu gewähr-leisten, die wir im Westen als Errungenschaften betrachten. Wenn man mir da und dort „Romantisierungen des ‚einfachen, bäuerlichen Lebens “ (Kalman 2002: 77-78) vorgeworfen hat, dann missversteht man mich gründlich. Meine Überlegungen zur Erforschung der Ordnungspotenziale von nichtstaatlichen Herrschaftsformen in der gegenwärtigen Welt gehen von der empirischen Be-obachtung ‚schwacher oder zerbrochener Staatlichkeit in Teilen der postkolo-nialen Welt und darüber hinaus aus, und meine Überlegungen gelten der theore-tischen Aufgabe, diesen Beobachtungen begrifflich-konzeptuell gerecht zu wer-den. Zweitens: Meine Kritik an der Staatszentriertheit der theoretischen Modelle und der praktischen Entwicklungspolitik ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Kritik an der Ausschließlichkeit oder zumindest Vorherrschaft der staatszentrierten Theoriebildung und der analogen politischen Praxis. Worum es in meinen Augen geht, ist, sich der Tatsache nichtstaatlicher Ordnungen zu stel-len und sie in ihren Ordnungs- und Friedensmöglichkeiten auszuloten – und zwar nicht, weil diese Ordnungen besondere, der staatlichen Ordnung überlegene Möglichkeiten dieser Art hätten. Im Gegenteil: Gerade weil diese Ordnungen für gewaltsame Lösungen von Konflikten besonders anfällig, und Versuche, ihnen Staatlichkeit zu oktroyieren, besonders gewaltträchtig sind, muss man die in ihnen liegenden Ordnungs- und Friedensmöglichkeiten erkunden. Politikwissen- 7 Anders als Wimmer und Schetter betonte das BMZ unter sozialdemokratischer Führung allerdings stets die zivilgesellschaftlichen Aspekte sowie die der Dezentralisierung und Demokratisierung; vgl. Wieczorek-Zeul 2003: 7.

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schaft und Soziologie sind in empirischer, theoretischer sowie in friedens- und ordnungspolitischer Hinsicht gefordert, den Zollstock des Staates beiseite zu legen und sich auch nicht durch düstere Listen der Defizite in Bann schlagen zu lassen. Statt dessen ist es die Aufgabe dieser Disziplinen, der Kreativität auf die Spur zu kommen, mit denen Menschen und Gesellschaften neue Formen politi-scher Herrschaft herstellen, und diejenigen Strukturen und Prozesse ins Auge zu fassen, mit denen in diesen Ordnungen die Gewalt, in welcher Form auch immer, domestiziert wird.

2.2 Politische Herrschaft jenseits des Staates Trotz der vorangegangenen Hinweise auf die Staatszentriertheit der politischen Theorie hat die Theorie und Untersuchung von politischer Herrschaft jenseits des Staates eine Tradition, die mindestens so alt ist wie die Entstehung und Entwick-lung der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Tradition ist eng mit dem Prozess verbunden, den Helmuth Plessner die „Emanzipation der Macht“ genannt hat. Er meinte damit jenen Vorgang, in dem Macht und Herrschaft zunehmend aus ihren Bezügen zum staatlichen Zentrum herausgelöst und in die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Ordnungen hinein verlagert wurden (Plessner 1981: 259-282). Der Weber’sche und verwandte Machtbegriffe ebenso wie der von mir eingangs formulierte Politikbegriff sind ein Ergebnis dieser Entstaatlichung des Politi-schen. In den Antipoden von Marxismus und klassischem Liberalismus – auch der Anarchismus wäre hier noch zu nennen – erreichte die Entetatisierung der politischen Theorie ihre vermutlich stärksten Ausdrucksformen. Nach dem Zwei-ten Weltkrieg entsprachen ihnen die gegensätzlichen Schwestern von Funktiona-lismus und Neomarxismus. In diesen beiden Denkrichtungen wurde der Staat sogar so weit vernachlässigt, dass das Buch von Peter Evans, Dietrich Ruesche-meyer und Theda Skocpol aus dem Jahre 1985 mit dem programmatischen Titel „Bringing the State Back In“ die damalige politische Soziologie wie ein Donner-schlag getroffen und zu einem neuen Interesse am Staat, seinen Einrichtungen und Akteuren geführt hat. Unterschieden hat sich diese Tradition des staatsdezentrierten politischen Denkens von der heutigen Debatte über neue Herrschaftsformen jenseits des Staates darin, dass sie sich innerhalb der Vorstel-lung bewegte, die mit Ulrich Beck gegenwärtig als das ‚Containermodell der Gesellschaft kritisiert wird, d.h. einer Vorstellung, in der die Grenzen der Gesell-schaft mit denen des modernen Nationalstaats deshalb zusammenfallen, weil die Gegebenheit einer nationalstaatlichen Ordnung als selbstverständliche Voraus-setzung gedacht wird (Beck 1997: 49ff.). In den Gestalten des marktradikalen Neoliberalismus und seiner Kritik ist die staatsdezentrierte Problematisierung

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des Politischen heute wiederum aktuell. Wie erwähnt, hält der Neoliberalismus jedoch an der Vorstellung des Staates und zwar eines in vieler Hinsicht sehr starken Staates ebenso fest wie seine Kritik, die den entwickelten Wohlfahrts-staat nicht aufzugeben gedenkt. Dass der okzidentale Staat dabei sein könnte, die Grundlagen der Staatlichkeit im definierten Sinne selbst aufzugeben, wird kon-zeptuell meines Wissen nur selten problematisiert. Im Grundsatz sind zu letzte-rem das Konzept der Gouvernementalität von und im Anschluss an Foucault wie auch mein weniger anspruchsvolles Konzept der ‚präventiven Sicherheitsord-nung zu rechnen.8

Neben den marktliberalen und gesellschaftszentrierten Relativierungen der Staatszentriertheit wird die Staats-, oder besser, Nationalstaatszentriertheit in den Debatten um übernationale Institutionen politischer Herrschaft und vor allem anderen in der Globalisierungsdiskussion gebrochen, die beide neue Zugänge zum Problem der moderner Herrschaft eröffnen. Die einen nehmen politische Herrschaftsformen in den Blick, die wie UN, OECD, Weltbank, IWF oder EG jenseits des Nationalstaates liegen und auf lange Sicht als Vorläuferinstitutionen einer internationalen Ordnung gesehen werden können, in denen zentrale Formen des Regierens mittels solch übernationaler Einrichtungen erfolgen. Allerdings ist bei all diesen übernationalen Einrichtungen festzuhalten, dass sie zwar jenseits des Nationalstaates, aber alles andere als jenseits des Staates und unabhängig von den nationalstaatlichen Akteuren sind. Die bestimmenden Akteure dieser Institutionen sind unverändert und auf absehbare Zeit die Nationalstaaten empiri-scher – oder fiktiver – Art. Es sind nationalstaatliche Akteure, die sich in diesen Institutionen zusammenfinden und die Politik dieser Institutionen bestimmen und darüber hinaus vielfach die Adressaten, mittels derer diese Institutionen Politik machen.9 Anders ist es im Falle der Globalisierungsdebatte. Sie richtet ihr Augenmerk auf Einrichtungen und Akteure, die in der Tat nicht staatlichen Typs sind – von den multinationalen Unternehmen über die Internationale Handels-kammer in Paris, den translokalen Akteuren der sogenannten „Weltgesellschaft“ wie das Franchise-Unternehmen Attac bis zu den Netzwerken der Organisierten Kriminalität und des Terrorismus.

Abgesehen davon, dass zumindest diejenigen weltgesellschaftlichen Akteu-re wie multinationale Unternehmen, die sich auf dem Boden des nationalen und internationalen Rechts bewegen, mehr nationalstaatlich denken und handeln als Schlagworte vom ‚globalen Dorf oder ‚Global denken, lokal handeln suggerie-ren, und für ihr Handeln die Sicherheiten einer staatlichen Ordnung beanspru-chen, ist selbst die Debatte über Globalisierung in zweierlei Weise staatsorien- 8 Vgl. u.a. Bröckling/Krasmann/Lemke 2000; Hanser/Trotha 2002: 345ff.; vgl. auch unter histori-schen Gesichtspunkten Reinhard 1999a; Reinhard 1999b; Creveld 1999. 9 Das gilt auch und gerade für die EU; vgl. u.a. Rösel 1999: 251ff.

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tiert. Nicht anders als der Diskurs über übernationale Institutionen unterstellt sie die Gegebenheit staatlicher Akteure, welche mittels Gewaltmonopol bisher ge-nau das gewährleisten und weiterhin zu gewährleisten versprechen, was Voraus-setzung aller sicheren Translokalität ist, nämlich einigermaßen befriedete Räu-me. Zum anderen hält die Globalisierungsdiskussion an der staatszentrierten Utopie in der Tradition der Kant’schen Utopie von der civitas gentium, der Welt-republik fest (Kant 1977: 212-213; Gerhardt 1999: 102ff.). In einer der jüngsten Formulierungen hat Ulrich Beck dieser Kant’schen Utopie den Namen „kosmo-politischer Staat“ gegeben (Beck 2001: 55-56; Beck 2002).

Empirisch zeichnet sich anderes ab – was allerdings kein Argument gegen Utopien ist, um so weniger, als sie den Visionshunger politischer, wirtschaftli-cher und vor allem akademischer Eliten und ihrer Gefolgschaften stillen. Insbe-sondere über das, was ich den ‚Aufstieg des Lokalen nenne (Trotha 2005a: 32-38; Trotha 2005b: 99-118), treten neben staatlichen Akteuren in wachsendem Maße Akteure auf, welche politische Herrschaft in gesellschaftlichen Ordnungen ausüben und repräsentieren, die nicht die Merkmale der Staatlichkeit besitzen bzw. welche sich auf den Weg gemacht haben, neue Formen von lokaler und territorialer Herrschaft jenseits des Staates zu errichten.

Unter dem Konzept von den ‚Ordnungsformen der Gewalt , also im Blick auf den Kernbereich aller Staatlichkeit, habe ich an anderer Stelle vier Typen nichtstaatlicher Herrschaft zu bestimmen versucht. Ich nannte sie a) ‚neodespoti-sche Ordnung und hatte dabei insbesondere den postkolonialen Despotismus südlich der Sahara im Auge, b) die ‚Ordnung der vervielfältigten Gewalt , für welche mir nicht wenige Staaten Lateinamerikas Vorbild waren, c) die ‚Ordnung der gewalttätigen Verhandlung , die ich glaubte in Papua-Neuguinea gefunden zu haben, und d) jene schon erwähnte ‚präventive Sicherheitsordnung , die auf Entstaatlichungsprozesse im Kern der staatlichen Verfasstheit unserer eigenen Gesellschaften aufmerksam macht. Die Bestimmung dieser vier Typen erfolgte nach der Rolle der Gewalt in Politik und Verwaltung, der rechtlichen Domestika-tion der Zentralherrschaft, der Gewaltkultur und dem Urbanisierungsgrad der Gesellschaften (Hanser/Trotha 2002: 315ff.). Darüber hinaus habe ich unter der Perspektive vom ‚Aufstieg des Lokalen am Beispiel von Somalia und Mali zwei weitere Formen von sich abzeichnenden, nichtstaatlichen Ordnungen näher be-trachtet: erstens die ‚neosegmentäre Ordnung , die sich auf die bewaffnete politi-sche Autonomie von Klans und Subklans gründet, das politische Leben der So-malis von der vorkolonialen über die koloniale und nachkoloniale Zeit, ein-schließlich der Entwicklungsdiktatur Siad Barres, bis zur Gegenwart in immer neuen Formen bestimmt hat und sich heute im Kleid, aber notabene nicht in der materialen Substanz des Staates um internationale völkerrechtliche Anerkennung

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bemüht (Trotha 2005a). Zweitens diejenige Ordnung, die ich ‚parastaatlich bzw. ‚parasouverän nenne.10

Unter „Parastaatlichkeit“ verstehe ich eine Herrschaftsform, in der sich öko-nomische, soziale und politische Machtzentren oder organisierte Akteursnetze lokaler oder internationaler Provenienz als politische Machtzentren innerhalb einer formell als Staat anerkannten territorialen Einheit bilden. Kennzeichnend für diese Zentren ist, dass sie einen wichtigen Teil der Souveränitätsrechte der Zentralgewalt und der anerkannten, d.h. formell und deshalb zumeist rechtlich festgelegten, Aufgaben im Kernbereich der staatlichen Verwaltung an sich zie-hen. Als Enteignungsvorgang staatlicher Souveränität und Verwaltung ist der Weg zu Parastaatlichkeit und Parasouveränität ein konfliktreicher Vorgang der Autonomisierung lokaler Machtzentren und international verankerter Agenturen. Die Autonomisierung kann so weit gehen, dass das Grundmerkmal von Staat-lichkeit – das staatliche Gewaltmonopol – nicht nur herausgefordert wird, son-dern zerbricht: Das lokale Machtzentrum bewaffnet sich und übernimmt selbst die Aufgabe, Schutz vor Gewalt zu bieten.

Anders als die Statik des Begriffs ‚Parastaatlichkeit suggeriert, handelt es sich bei Parastaatlichkeit nicht um stabile Strukturen, sondern um Prozesse, um Vorgänge der ‚Paraverstaatlichung . An die Stelle der hierarchischen Ordnung des Staates tritt mit der Paraverstaatlichung der Prozess der Bildung von Herr-schaftszentren, die innerhalb eines horizontalen Gefüges, in dem die staatliche Zentralgewalt die Rolle des primus inter pares hat, um Rechte, Aufgaben und vor allem Ressourcen konkurrieren, die ihnen ein Maximum an Autonomie ver-sprechen. Parastaatlichkeit ist nicht von sich aus sezessionistisch, obwohl sie unter Umständen ein Weg zur Abspaltung sein kann. In der Parastaatlichkeit bleibt das Lokale an das nationale Zentrum gebunden und bestärkt dessen Funk-tion der „Schirmherrschaft“.11 Besonders groß ist die Bedeutung des nationalen Herrschaftszentrums in den Außenbeziehungen der national-parasouveränen Einheit, wo es seine Rolle als Akteur und als primus inter actores vorrangig bestätigt.

Neben der nationalen Regierung, der Verwaltung, den nationalen Parlamen-ten, Parteien und Politikern gehören zum Kreis der dominanten Akteure der Parastaatlichkeit einerseits Entwicklungshilfeorganisationen, darunter insbeson-dere die Organisationen der großen Geberländer und der Nichtregierungsorgani-sationen (NGO), andererseits die Machtgruppen der kolonialen und nachkolonia-len Intermediarität, allen voran die Trägergruppen des kolonialen und postkolo-

10 Hierzu und zum Folgenden vgl. u.a. Trotha 2004a: 188-223. Unter dem Begriff „Parastaatlichkeit“ verstehe ich die institutionelle, unter ‚Parasouveränität die Rechte betonende Seite dieser politischen Herrschaftsform. 11 Das Wort französischsprachiger politischer Akteure ist hierfür ‚tutelle .

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nialen Häuptlingtums. Mit Blick auf den Aufstieg von parastaatlichen Ordnun-gen ist in Afrika südlich der Sahara gerade letzteres eine Schlüsseleinrichtung.

Das Konzept der Parastaatlichkeit ist in meinen Augen analytisch deshalb hilfreich, weil es erstens auf der Ebene allgemeinerer Theoriebildung angelegt ist. Auf der einen Seite kann die neosegmentäre Ordnung im Kleid der Staatlich-keit im Grundsatz als eine zugespitzte Form von Parastaatlichkeit verstanden werden. Auf der anderen Seite ist das Konzept der Parastaatlichkeit, anders als das Konzept der Ordnungsformen der Gewalt in dem Sinne mehrdimensionaler, dass es sich nicht im Wesentlichen auf die Ausgestaltung des Gewaltmonopols konzentriert. Die Verbindung der verschiedenen Typen und ihrer Dimensionen zu einem einheitlichen mehrdimensionalen Konzept, welche die unterschiedli-chen Typen von nichtstaatlichen Herrschaftsformen zusammenführt, steht aller-dings noch aus.

Zweitens und im Speziellen wichtig – insbesondere im Unterschied zum Konzept der ‚Arena von Thomas Bierschenk (Bierschenk/Sardan 1999: 37-68; Bierschenk/Sardan 1998)12 – betont das Konzept der Parastaatlichkeit die Bezie-hungen zwischen dem lokalen und hauptstädtischen Machtzentrum, das typi-scherweise mit dem Pfund der juristischen Souveränität, welche ihm von außen zugeschrieben wird, bzw. mit der Fiktion von Staatlichkeit zu wuchern weiß. Schließlich ist drittens die dynamische Seite des Konzepts der Parastaatlichkeit herauszustellen, die auf die bemerkenswerte interne Dynamik von Parastaatlich-keit aufmerksam macht – und auf die Zerbrechlichkeit parastaatlicher Ordnun-gen, in denen immer die Gefährdung durch Gewalt enthalten ist.

Dieses empirisch und konzeptuell unvollständige und heterogene Tableau von neuen politischen Herrschaftsformen jenseits des Staates möchte ich mit einigen wenigen herrschaftssoziologischen Beobachtungen über jenen Typ von Herrschaft abschließen, der uns in seiner Gewalthaftigkeit augenblicklich mehr als jeder andere die Fiktion von Staatlichkeit nimmt. Es geht um die oben schon angesprochene ‚multinationale koloniale Befriedungs- und Demokratisierungs-herrschaft , womit ich jene Herrschaftsform vor Augen habe, welche sich in Form der multinationalen militärischen ‚Interventionen in Afghanistan, im Irak oder im Kosovo, um nur einige wenige der Schauplätze dieser Herrschaftsform zu nennen, abzuzeichnen beginnt. Sie bedarf dringend der Analyse, insofern nach meiner Einschätzung einiges dafür spricht, dass die Militarisierung der staatsbildenden „Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung“ keine vorübergehende Erscheinung ist, sondern erst an ihrem Anfang steht.13

12 Vgl. auch Klute 1999: 147-166 (insbes. 163); Dartiques 1997. 13 Meine wenigen Beobachtungen zu diesem neuen Typ nichtstaatlicher Herrschaft stehen unter dem methodisch wichtigen Vorbehalt, dass sie sich vorrangig auf die selektive, wenn auch kontinuierliche Lektüre von DIE ZEIT, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neue Zürcher Zeitung und vor allem New

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2.3 Beobachtungen über die koloniale Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft

Bestimmt von der Utopie des Staates gehört die koloniale Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft zu den Formen politischer Herrschaft jenseits des Staates, weil die Herrschaft in Gebieten errichtet wird, die zu den Räumen prekä-rer oder zerfallener Staaten zu rechnen sind, oder in denen der Staat aufgrund der militärischen Intervention auseinanderbricht, wofür der Verlust des staatlichen Gewaltmonopols das wichtigste Zeichen ist. Für das eine steht Afghanistan14, für das andere der Irak nach dem Zweiten Irakkrieg des Jahres 2003 unter der Füh-rung der USA. Gleichfalls ist sie ein Typ kolonialer Herrschaft, insofern sie we-sentliche Merkmale mit ihr teilt (Trotha 1982)15 – und darüber hinaus steht sie in der außereuropäischen Welt aus der Perspektive der Einheimischen im Zusam-menhang des historischen Kolonialismus (Trotha 2005c: 10-11).

Zu den konstitutiven Merkmalen kolonialer Herrschaft gehört die bestim-mende Gegenwart der Gewalt im Verkehr zwischen Herrschenden und Be-herrschten, einschließlich des Auftretens von Massakern hauptsächlich in den Phasen der Eroberung und in Fällen der Eskalation gewalttätigen Widerstands gegen die Eroberer. In den Worten eines amerikanischen Militärsprechers in Afghanistan drückt sich diese Gegenwärtigkeit der Gewalt augenblicklich in der Weise aus, dass die Einheimischen nicht zwischen Terrorismusbekämpfung und Wiederaufbaumaßnahmen der Interventionstruppen unterscheiden, nicht zuletzt, weil bei militärischen Einsätzen gegen vorgebliche Taliban regelmäßig Zivilisten zu Schaden kommen: „Die Menschen scheinen kaum einen Unterschied zu ma-

York Review of Books stützen. Die Beobachtungen sind folglich weit davon entfernt, sich zu einer systematischen Analyse der kolonialen Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft zu fügen. Sie sollen lediglich dazu anregen, diesen neuen Typ politischer Herrschaft zum Gegenstand einer syste-matischen Analyse zu machen, sich dabei der inzwischen sehr fortgeschrittenen Konzepte für die Analyse kolonialer Herrschaft zu bedienen und auf diese Weise die Möglichkeit zu schaffen, dass die Analyse der historischen Kolonialherrschaft und die ihrer zeitgenössischen Verwandten sich als wechselseitig nützlich erweisen und demzufolge zur allgemeinen Theorie der politischen Herrschaft beitragen können. (Die Nützlichkeit der Analyse historischer Kolonialherrschaft gilt nicht nur mit Blick auf die koloniale Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft, sondern naheliegender Weise auch für die anderen vielfältigen Formen gegenwärtiger kolonialer Herrschaft, für die die Herrschaft Chinas über Tibet, Russlands über Tschetschenien oder Israels im Gaza und in Westjordanien bei-spielhaft sind.) 14 Vgl. dazu den blendenden, packenden und sorgfältigen Bericht von Ahmed Rashid (2001), der nicht zuletzt deshalb aufschlussreich ist, weil er die vielfältigen Auseinandersetzungen während der und um die Herrschaft der Taliban sowie dementsprechend die politische Herrschaft in Afghanistan unmittelbar vor der internationalen militärischen Intervention im Winter 2001 analytisch genau lebendig macht. 15 Vgl. dazu auch zusammenfassend Trotha 2004b: 49-95.

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chen zwischen jenen in amerikanischer Uniform, die im Kampf gegen den Terro-rismus eingesetzt werden, und jenen, die im Rahmen der Isaf-Mission den Wie-deraufbau sichern“ (Ehrhardt 2006: 3).16 Und wenn ein Sprecher der Koalitions-truppen in Afghanistan abwehrend meint, „(w)ir treten doch nicht den ganzen Tag Türen ein“ (Ehrhardt 2006: 3), dann hat dies sein Echo im ‚sunnitischen Dreieck des Irak, in dem diese Praxis der amerikanischen Besatzungstruppen mehr als alltäglich zu sein scheint.17 Der Verkehr zwischen den Eroberern und den Eroberten ist in Afghanistan ebenso wie im Irak bestimmt durch „eine Kul-tur des Krieges“,18 in der die vergangene amerikanische Administration selbst die Folter wieder legitimiert hat (Greenberg/Dratel 2005).19 Zur Gewalt kommt ihre Schwester, die Willkür, hinzu.

Koloniale Herrschaft ist neben despotischer und bürokratischer Herrschaft vor allem intermediäre Herrschaft, eine Herrschaft der Mittler und Makler.20 Die Mittler und Makler reichen von den nach dem Modell der indirekten Herrschaft agierenden Machthabern der Regierungsapparate und Mitgliedern der Interims-verfassungsorgane über die Scheichs, Ajatollahs, Mullahs, Kriegsherren und Milizchefs bis hin zu dem Heer der ländlichen Ältesten und Honoratioren, der Inhaber mehr oder minder größerer und kleinerer öffentlicher Ämter, der Reprä-sentanten und Angehörigen einheimischer Nichtregierungsorganisationen oder der einheimischen Hausangestellten. Ihre Macht mag so groß sein wie die eines weitgehend unabhängigen Territorialherren oder Parasouveräns, der über ein lokales Gewaltmonopol verfügt, oder so klein wie die eines Hausangestellten, der die Rolle des Maklers der Alltagskultur erfüllt.21

Trotz aller ‚Verbindungen zwischen den kriegerischen Demokratisierungs-interventionisten auf der einen und den Einheimischen auf der anderen Seite 16 Isaf ist das Akronym für „International Security Assistance Force“, die Internationale Sicherheits-unterstützungstruppe in Afghanistan. 17 „Die Soldaten sprengen mitten in der Nacht das Metalltor zu deinem Gehöft“, gibt ein Mann als Beispiel für das Vorgehen der Besetzer, „dann treten sie die Türe zum Haus ein, werfen die Möbel um, und die Fenster gehen in Brüche. Sie fesseln die Männer und stülpen ihnen einen Sack über den Kopf“. Nachdem die Männer abgeführt worden seien, „blieben die Frauen und Kinder zurück, der kalten Nacht ohne den Schutz der Fensterscheiben ausgesetzt. [...] Die Amerikaner würden nieman-den respektieren, auch die Polizei nicht. Erst vor zwei Tagen hätten sie sein Haus durchsucht und dabei die Türe aufgewuchtet“, merkt der Polizeimajor Hamid in Khadiya nach dem Bericht des Schweizer Journalisten Iten an (Neue Zürcher Zeitung 2004: 7). 18 So drückt sich Ahmad N. Nadery von der Afghanistan Independent Human Rights Commission aus (Erhard 2006: 3). 19 Vgl. zur allgemeinen Debatte um die Relegitimation der Folter u.a. Beestermöller/Brunkhorst 2006. 20 Zum Konzept des intermediären Verwaltungshandelns vgl. Trotha 1994a, insbes. Kap. 4; vgl. auch Spittler 1981: 24-25. Zur Unterscheidung zwischen ‚Mittlern und ‚Maklern vgl. Trotha 1994a: 54. 21 Zur Soziologie der Hausangestellten unter den Bedingungen kolonialer Herrschaft vgl. Trotha 1994a: 215ff.

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bleiben die Antagonismen erhalten und weitgehend unüberbrückbar, welche Georges Balandier in seinem Konzept der ‚kolonialen Situation so genau und entdeckungsreich benannt hat (Balandier 1982: 3-38). Es sind die Antagonismen der Gewalt und der gewalttätigen Herrschaft, denen die ‚Strategien der Wider-ständigkeit entsprechen,22 welche in den Fällen der kolonialen Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft wesentlich durch offene Gewalt auf Seiten der Beherrschten geprägt ist. Es sind die Antagonismen des Raumes, welche die Provinzzentralen und allen voran die Hauptstadt radikal vom ‚Hinterland , also dem, was das Territorium ausmacht, trennt, und welche buchstäblich versteinert sein können, wofür die Bagdader Festung der Eroberer, die sogenannte ‚grüne Zone , ein bis zum Äußersten getriebenes Beispiel ist.23 Es sind die Antagonis-men des wechselseitigen Nichtwissens und insbesondere des Nichtwissens der Eroberer über die lokalen Verhältnisse,24 dem das zivilisationsmissionarische25 Überlegenheitsbewusstsein der Demokratisierungsinterventionisten komplemen-tär ist.26 Es sind die Antagonismen der ‚kolonialen Gesellschaft , in welcher Herrschende und Beherrschte durch einen Abgrund sozialer, kultureller und ökonomischer Gegensätze getrennt sind.27 Es sind die Antagonismen einer Psy-chologie von Eroberung und Herrschaft, in der beide, Herrschende wie Be-herrschte, in vertrackte Erfahrungen von Macht und Ohnmacht, Gewalt und Erniedrigung, Überlegenheit und Unterlegenheit, verächtlicher Distanz und hilfsbereiter Nähe, ‚Wir -Bewusstsein und Einsamkeit verstrickt sind. Kurz, ich gehe davon aus, dass die in der Kolonialismusforschung gewonnenen Konzepte, hauptsächlich herrschaftssoziologischer Art, mit der kolonialen Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft eine unerwartete Aktualität gewinnen.

Nicht weniger interessant sind allerdings auch die Unterschiede zur klassi-schen Kolonialherrschaft, von denen ich wiederum nur einige wenige nennen will. An erster Stelle steht die Tatsache einer Eroberung, die nicht Eroberung sein will. Die historische Kolonialherrschaft war im Bewusstsein der Eroberer

22 Zum Konzept und den Formen der Strategien der Widerständigkeit vgl. Trotha 1994a: 411 ff. 23 In den Regionen, in denen sich die Eroberer nur in der Manier des Feldzuges oder nur unter we-nigstens militärischem Schutz bewegen können, verknüpfen sich die Antagonismen der Gewalt und des Raumes unmittelbar. Beides gilt für zahlreiche Regionen Afghanistans (Hinz/Lehmann 2006: 9) und des Iraks. 24 Angesichts des Umstandes, dass die USA vermutlich für jeden Flecken auf diesem Globus eine Vielzahl von Experten und Expertinnen aufweisen können, verblüffte das Maß der Ignoranz der Bush-Administration von den lokalen Verhältnissen immer von neuem und dies um so mehr, als diese Ignoranz ein wichtiges Thema der kritischen Stimmen zum Irakkrieg ist (Galbraith 2006: 27). 25 Zum Konzept der ‚Zivilisierungsmission vgl. Barth/Osterhammel 2005. 26 Das zivilisationsmissionarische Überlegenheitsbewusstsein der Demokratisierungsinterventionisten teilt mit dem der einstigen Kolonialherren, dass es außerordentlich resistent gegenüber Erfahrungen des Scheiterns ist und deshalb umso hartnäckiger an der Utopie der Staatsbildung festhält. 27 Zum Konzept der kolonialen Gesellschaft vgl. Trotha 1994a: 205 ff.

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auf unbegrenzte Dauer angelegt – gleichsam ‚auf ewig . Die Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft ist stattdessen eine Herrschaft auf Zeit. Sie soll genau so lange währen, wie staatliche Strukturen der eroberten Region fehlen, allen voran das Gewaltmonopol, und enden, wenn wenigstens die stabile Befrie-dung und – so die Hoffnungen der Demokratisierungsinterventionisten – eine nicht weniger stabile politische Demokratisierung im Sinne einer Durchsetzung oder zumindest Annäherung an wesentliche Grundsätze des demokratischen Verfassungsstaates erreicht ist. Temporale Strukturen sind für den Charakter von Herrschaft stets wichtig. In diesem Typ von Herrschaft sind sie von besonderem Gewicht, weil sie den Herrschaftshorizont von vornherein zeitlich einschränken. Mehr noch: Die Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft ist eine Herr-schaft der Ungeduld, insofern die Herrschaft so schnell wie irgend möglich an einheimische Gruppen übergeben werden und der Weg zum geordneten und einvernehmlichen Rückzug der Eroberer frei werden soll.28 In direktem Gegen-satz zur klassischen Kolonialherrschaft ist die ‚Dekolonisation mit dem Ein-marsch der Interventionsstreitkräfte schon immer mitgesetzt und darüber hinaus ständig im Hinterkopf, wenn nicht gar auf der Tagesordnung der Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft.

Dieser Zeithorizont ist für die Befriedungs- und Demokratisierungsherr-schaft so folgenreich, dass ich trotz des begrenzten Raums der hier angestellten Beobachtungen nicht umhin komme, einige wenige Andeutungen zu machen. So wäre zu bedenken, dass der Zeithorizont die Organisationsmacht der Eroberer in ungeheurem Maße herausfordert. Der Eroberer muss rasch handeln und vor al-lem rasch etwas bewirken, was ihn seinen Zielen näher bringt. Eine der wichtigs-ten Herrschaftstechniken, nämlich Probleme ungelöst zu lassen – oder, wie es im zeitgenössischen bundesdeutschen Politikjargon heißt, ‚auszusitzen – ist nur beschränkt möglich. Die Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft ist eine Herrschaft des Zollstocks rascher Herrschaftseffizienz. Dies gilt in beiden Rich-tungen: im Verhältnis zu den Eroberten sowie vor allem, und in Kontrast zur historischen Kolonialherrschaft, gegenüber der Bevölkerung der Heimatländer der jeweiligen Interventionstruppen. Letztere hat, gerade weil sie typischerweise unter demokratischen Verhältnissen lebt, die Ungeduld des Steuerzahlers, der mit seinem Wahlzettel die Regierung zur Ordnung rufen kann. Unter den Bedin-gungen einer mehr oder minder „postheroischen Gesellschaft“29 verbindet sich diese Ungeduld des Steuerzahlers mit der Ungeduld einer Bevölkerung, deren

28 Reflex dieser temporalen Struktur der Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft sind die Mandatsverlängerungen für die Befriedungs- und Demokratisierungsintervention, die mit steter Regelmäßigkeit – und immer mehr oder minder konfliktreich – von den verantwortlichen Gremien und den Verfassungsorganen der Mitglieder der intervenierenden Allianz verabschiedet werden. 29 Zum Begriff der ‚postheroischen Gesellschaft vgl. Münkler 2006: 310ff.

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patriotischer Opfer- und Leidensbereitschaft enge Grenzen gezogen sind, zumin-dest dann, wenn das Kampfgeschehen weit jenseits der Grenzen des eigenen Landes stattfindet.30

Die Zeitdimension der Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft ist eng verbunden mit der extrem facettenreichen und nicht weniger extrem kriti-schen Dimension der Legitimität der Befriedungs- und Demokratisierungsherr-schaft. Da gibt es einerseits die Fülle der Fragen und Probleme, welche in den öffentlichen Diskursen über die Legitimität der Befriedungs- und Demokratisie-rungsherrschaft fast täglich thematisiert werden. Sie sind in der im Grundsatz doppelten Delegitimationstruktur der Befriedungs- und Demokratisierungsherr-schaft verankert, d.h. in der Delegitimation durch die Eroberten ebenso wie durch die konfliktuellen Diskurse in den Heimatländern der multinationalen Interventionisten.31 Da sind die Probleme der Basislegitimität, welche durch die temporale Struktur der Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft im Unter-schied zur Kolonialherrschaft verschärft sind. Wenn Heinrich Popitz im Zusam-menhang mit dem „Ordnungswert der Ordnung als Basislegitimität“ schreibt, dass der „wertvollste Gewinn [...] die gewonnene Zeit“ (Popitz 2004: 226) ist, dann steht die Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft vor dem kaum lösbaren Problem, dass ihr die Zeit davonläuft – und das Popitz’sche Diktum zur Trumpfkarte des Widerstands gegen diese Herrschaft wird. Schließlich verschär-fen sich für die Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft die Sachverhalte, die sich wie ein roter Faden durch die Legitimationsgeschichte der Macht, Ge-walt und Herrschaft und durch die der kolonialen Herrschaft im Besonderen ziehen: die Lüge und die Heuchelei.32 Unter den Bedingungen einer nachkolo-nialen Welt und eines demokratischen und freiheitlichen Selbstverständnisses der Eroberer und im Speziellen der Wählerschaften, denen gegenüber die Erobe-rer verantwortlich sind, gehört hierzu, alle Bezüge zur historischen Kolonialherr-schaft nicht nur nicht zu thematisieren, sondern das Offensichtliche nicht einmal zu sehen. Die Legitimation der kolonialen Befriedungs- und Demokratisierungs-herrschaft ist eine massenmediale Inszenierung von „Argumentationssalven“ (Daus 1983: 189), mit denen nach den Regeln „diskursiver Allianzen“ (Schwab-

30 Zusätzlich zur neoliberalen Kultur der Aufschneiderei liegen hier die entscheidenden Gründe, warum die Führung der USA, vor allem der ehemalige Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, eine Intervention im Irak geplant hat, die finanziell und personell mit geringsten Mitteln auskommen sollte – und deshalb keine relevante Planung für die Zeit nach der militärischen Niederlage des Sadam Hussein-Regimes einschloss (Packer 2005, ref. u. zit. in Galbraith 2006: 28). 31 Für die deutschen Legitimiationsdiskurse bis zum Vorabend des Irakkrieges vom Jahr 2003 vgl. die eindrucksvolle diskursanalytische Untersuchung von Michael Schwab-Trapp (2002). 32 Zu Recht zählt Ronald Daus (1983: 189) in seiner brillanten Studie über den Kolonialismus „Heu-chelei“, „Vorwände“ und die Inszenierung von „Argumentationssalven“ zu den „Leiteigenschaft[en] kolonialer Kontakte“.

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Trapp 2002: 48ff., 59f.) der Diskurs über die Befriedungs- und Demokratisie-rungsherrschaft mit dem Diskurs der Entwicklungszusammenarbeit so verknüpft wird, dass die Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft im Diskurs über ‚Entwicklung , ‚Entwicklungszusammenarbeit und ‚Menschenrechte selbst aufzugehen scheint – und sich zum Schaden der „Basislegitimation der Organi-sationsmacht“ (Trotha 1994b: 77ff.) noch in den Diskurs über Erfolg und Schei-tern entwicklungspolitischer Projekte verstrickt. Gleichzeitig stehen den „Argu-mentationssalven“ des Legitimationsdiskurses die „Argumentationssalven“ des globalisierten massenmedialen Delegitimationsdiskurses entgegen, welcher nicht nur jede Lüge und Heuchelei früher oder später aufdeckt, sondern mit seinen medialen Inszenierungen, für die die Bühne des World Wide Web immer wichti-ger wird, die nicht weniger verlogene und heuchlerische Schwester des Legiti-mationsdiskurses der Eroberer ist. War die historische Kolonialherrschaft im Vergleich mit heutigen Verhältnissen eine ‚dunkle Herrschaft in ‚dunklen Erd-teilen , ist die koloniale Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft eine Herrschaft im massenmedialen Scheinwerferlicht – auch wenn es hier deutliche Unterschiede zwischen den beteiligten Akteuren gibt. Aus vielerlei Gründen stehen die USA bekanntermaßen am meisten im Rampenlicht.

Ein weiterer Gegensatz zur historischen Kolonialherrschaft besteht in der multinationalen Zusammensetzung der Eroberer. Kolonialismus und Imperialis-mus des 19. Jahrhunderts waren ein ‚Wettlauf von Kolonialmächten, die um kolonialen ‚Besitz konkurrierten. Die koloniale Befriedungs- und Demokratisie-rungsherrschaft ist die Herrschaft einer Allianz von Nationalstaaten. Sie ist eine multinationale Herrschaft.33 Darin eingeschlossen ist, dass sich die Komplexität des Akteursinventars der historischen Kolonialherrschaft, der Beziehungen zwi-schen den Eroberern und den Eroberten und der Eroberer untereinander sowie das Spektrum der Machtformen und Konflikte dieser Beziehungen um ein viel-faches erhöht.

Eine Seite dieser Komplexität ist, dass die Demokratisierungseroberer un-terschiedliche Interessen, Vorstellungen und Aufgaben verfolgen und sich in ihrem Einsatz von Gewalt unterscheiden. Beispielsweise differenzieren sich die militärischen Einheiten der Eroberer entlang nationaler Zugehörigkeit räumlich und funktional. Sie bewegen sich zwischen den Polen der kriegführenden Ar-mee, die so gewalttätig und grausam ist wie Eroberer zu allen Zeiten und in allen Regionen, und des ‚Entwicklungssoldaten , der Lektionen interkultureller Kom-munikation im militärischen Ausbildungslager Hammelburg in der Rhön hinter sich hat und als Mitglied eines Provincial Reconstruction Teams im afghani- 33 In Afghanistan sind heute im Rahmen der ISAF 37 Staaten engagiert. Die Irak-Allianz des Krieges von 2003 bestand immerhin aus den USA, Großbritannien, Australien, Italien, Spanien, Polen, Dä-nemark, Ukraine, Bulgarien, Honduras, El Salvador, Südkorea, Japan und Ungarn.

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schen Feyzabad Waisenhäuser betreut34 – und eine dramatische Veränderung hin zur ‚Zivilisierung des Militärs35 und zur Militarisierung der Entwicklungshilfe anzeigt. Eine andere Seite ist das ‚Allianzmanagement , das die Stabilität der Allianz sozusagen ‚Tag für Tag gewährleisten muss und dabei die Herrschaft über die Eroberten ebenso wie die Beziehungen zwischen den Allianzmitgliedern und damit die internationalen Beziehungen berührt. In der Tatsache des Allianz-managements zeigt sich darüber hinaus, dass die Strategie des ‚teile und herr-sche , welche die Akteure der historischen Kolonialherrschaft so erfolgreich prak-tiziert haben, heute auch den Eroberten im Verhältnis zu den Eroberern zur Ver-fügung steht. Konnten sich die Eroberten in der historischen Kolonialherrschaft die spärlichen Differenzen zwischen Kolonialbeamtenschaft, Missionaren, Händ-lern, Unternehmern und Siedlern da und dort einmal zunutze machen,36 können die Eroberten heute die weit größeren Gegensätze unterschiedlichster Art und Ge-wicht zwischen den Allianzmitgliedern zu ihrem Vorteil wenden. Im Irak hat diese Politik des Teilens – durch Geiselnahmen im Irak und Attentate in den ‚Mut-terländern der Besatzungstruppen – bekanntlich seine Erfolge gehabt, wofür der Rückzug einiger Allianzmitglieder der Ausdruck ist. Allerdings gilt auch hier die Beobachtung über die Dekolonisation, dass der Rückzug von Mitgliedern der Alli-anz mehr in den ‚Mutterländern und in den Beziehungen zwischen den Allianz-mitgliedern als in der Strategie des Teilens auf Seiten der Eroberer zu suchen ist.

Eine weitere Seite der Komplexität ist eine koloniale Gesellschaft, die deut-lich heterogener und dementsprechend konfliktreicher und, sieht man von man-cher klassischen Siedlerkolonie ab, quantitativ wesentlich umfangreicher als die historische koloniale Gesellschaft ist (Trotha 1994a: 205f.). Sie besteht aus dem Heer der Angehörigen der multinationalen Streitkräfte, diplomatischem Personal, Mitarbeitern der Besatzungsverwaltungen, Geheimdienstlern, Angestellten priva-ter Sicherheitsunternehmen und einem nicht geringeren Heer aus Journalisten, Fotoreportern, Geschäftsleuten, Angestellten von Wirtschaftsunternehmen, Akti-visten von Missionskirchen, Entwicklungsexperten und Mitgliedern von Nicht-regierungsorganisationen. Anders als unter der historischen Kolonialherrschaft, in der die Einheit der Eroberer eine wichtige Herrschaftsressource war, ist die Einheit der Eroberer in der Befriedungs- und Demokratisierungsherrschaft prekär.

34 Vgl. den anschaulichen Bericht von Michael Jeismann (2006: 31). 35 Zu dem darin steckenden Funktionswandel der zeitgenössischen Streitkräfte vgl. Creveld 2001: 191ff. 36 Erst mit der wachsenden Dekolonisationsbewegung gewann die Strategie des ‚Teilens der Erober-ten an Bedeutung, wobei der entscheidende Gegensatz derjenige war, der in den sogenannten ‚Mut-terländern zwischen den Befürwortern und Gegnern der kolonialen Unternehmungen bestand. Der Sieg der Dekolonisation war hauptsächlich ein Sieg der vielgestaltigen antikolonialen Bewegungen in den ‚Mutterländern ; zur Geschichte der Dekolonisation vgl. zusammenfassend Curtin 2002: 208ff.; vgl. auch Mommsen 1990.

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2.4 Die Herausforderung: Frieden und Ordnung ohne staatliches Gewaltmonopol

Bei aller Vorläufigkeit dieses skizzenhaften Tableaus von Herrschaftsformen jenseits des Staates sollte jedoch ein Befund deutlich geworden sein, der uns an den – theoriegeschichtlich gesehen – konservativen konzeptuellen Ausgangs-punkt zurückführt: In allen Fällen handelt es sich um Herrschaftsformen ohne Gewaltmonopol bzw. mit Ansprüchen auf das Gewaltmonopol, die sich nicht durchsetzen lassen. Das ist die bitterste Einsicht über die neuen Formen politi-scher Herrschaft jenseits des Staates und die größte Herausforderung. Es ist die Herausforderung, Frieden und Ordnung ohne Gewaltmonopol zu stiften. Diese Herausforderung läuft einer säkularen abendländischen Erfahrung zuwider und verletzt den Kern des Selbstverständnisses entwickelter staatlich verfasster Ge-sellschaften. Sie ist aber auch deshalb so groß, weil Ordnung und Frieden ohne Gewaltmonopol in meinen Augen zweifelsohne wesentlich zerbrechlicher sein werden. Vielleicht kann hier die Geschichte der Nichtstaatlichkeit jedoch eine Ermutigung sein, welche davon erzählt, dass Frieden und Ordnung selbst ohne Gewaltmonopol gelingen, zumindest immer wieder gelingen können. Diese Er-mutigung ist umso größer, wenn wir gleichzeitig bedenken, dass, anders als uns Elias’ Zivilisationstheorie glauben machen könnte (Elias 1994), die Geschichte der Staatlichkeit nicht nur eine Geschichte der Domestikation der Gewalt und der Zivilisierung, sondern auch eine Geschichte historisch beispielloser Entfesselung von Gewalt war und ist. Literatur Anderson, Benedict (1988): Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen

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II. Fälle

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Der Zerfall des aztekischen Staates in Zentralmexiko 1516-1525 Daniel Graña-Behrens 1 Einleitung Um 1325 gründeten die Azteken auf einer Insel im See von Tetzcoco ihre Haupt-stadt Tenochtitlan – dort, wo sich heute das Stadtzentrum von Mexiko-Stadt befindet (vgl. Abb. 1). Nach anfänglichen Mühen, sich gegen andere ethnische Gruppen in der Region zu behaupten, dominierten sie seit 1428 in einem von ihnen angeführten politisch-wirtschaftlichen und militärischen Bündnis mit den benachbarten Stadtstaaten von Tetzcoco und Tlacopan Zentralmexiko und Teile des südlichen Mexikos.

Abbildung 1: Karte von Zentralmexiko mit dem aztekischen Reich

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J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_3,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Als 1517 erstmals Spanier an der Ostküste Yukatans und an der näher gelegenen Golfküste gesichtet wurden, verstärkte sich die Vorahnung des 1502 inthronisier-ten aztekischen Herrschers Motecuzoma Xocoyotzin, ausgerechnet in seiner Regierungszeit könnte die aztekische Hegemonie ein Ende finden. Im Jahre 1519 landeten weitere Spanier unter Hernán Cortés an der Golfküste von Mexiko. Beflügelt durch sagenumwobene Beschreibungen der mit den Azteken befeinde-ten Ethnien (Tlaxcalteken, Totonaken) zögerten die Eindringlinge nicht, den aztekischen Herrscher in seiner im Landesinneren gelegenen Hauptstadt aufzu-suchen. Dies mündete 1520 zunächst im gewaltsamen Tod Motecuzomas, in der anschließenden Inthronisation seines Bruders Cuitlahuac und als dieser kurz darauf an von Spaniern eingeschleppten Pocken starb, in der Einsetzung von Cuauhtemoc, einem Sohn des Amtsvorgängers von Motecuzoma Xocoyotzin, als offiziell letztem aztekischen Herrscher. 1521 folgten die Unterwerfung der Azte-ken und die Zerstörung ihrer Hauptstadt. Vier Jahre später wurde der letzte Herr-scher als Gefangener auf einer Expedition nach Honduras von Cortés hingerich-tet.

Die von außen bewirkte Veränderung der politischen Situation in Zentral-mexiko gefährdete den aztekischen Staat in seiner politischen Ordnung. Aber nicht nur das. Eine innere Krise rüttelte ebenso an den Grundpfeilern der herr-schaftlichen Legitimation und am kosmischen Zeitalter, in dem die Azteken zu leben glaubten. Innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahren versuchte Motecuzoma eine politische Krise zu meistern, noch bevor durch die militärische Eroberung der Spanier der abschließende Staatszerfall eintrat. Worin aber be-stand die Gefährdung der staatlichen Ordnung und welche Transformation der staatlichen Ordnung zeigte sich durch die Bedrohung? Wieso ließ sich der Staatszerfall nicht verhindern?

2 Geschichte und politische Organisation der Azteken Die Azteken, die sich selbst Mexica nannten und dem modernen Mexiko seinen Namen gaben, sind wohl die bekannteste vorspanische Kultur Mesoamerikas, eines Kulturraums, der sich von Mexiko bis hinunter nach Costa Rica erstreckt. Über sie haben sich im Wesentlichen autochthone und spanische Dokumente aus der frühen Kolonialzeit erhalten. Die zahlreichen, einstmals vorhandenen vor-spanischen Bilderhandschriften (Ritual- und Annalenbücher, Tributlisten, u.a.m.) wurden hingegen bis auf wenige Ausnahmen von den Spaniern zerstört. Auch bauliche Überreste ihrer einstigen königlichen Tempel- und Residenzstadt Tenochtitlan sind nur spärlich erhalten. Hierzu zählt, allem voran, der ihren Kriegs- und Regengöttern Huitzilopochtli und Tlaloc geweihte Haupttempel,

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neben dem sich heute der Amtssitz des mexikanischen Staatspräsidenten befin-det. Einzig die Sprache der Azteken, Nahuatl, wird noch heute in Zentralmexiko und in Gebieten entlang der Golfküste von Mexiko gesprochen.

Die Azteken sind irgendwann im 12. Jahrhundert n. Chr. aus einer wohl nur mythisch beschriebenen Urheimat in das Becken von Mexiko eingewandert, um dann auf einer kleinen Insel mitten im See von Tetzcoco, der heute weitgehend trockengelegt und nun größtenteils von Mexiko-Stadt bedeckt ist, ihre ersten Tempel und Behausungen zu errichten. Dieser Ort wuchs bis zur Ankunft der Spanier 1519 auf eine beachtliche Größe von vielleicht bis zu 200.000 Einwoh-nern an und war über Dammstraßen mit dem Festland verbunden. Der spanische Eroberer Hernán Cortés war von der unglaublichen Größe und Planausrichtung der Stadt mit ihren vielen großartigen Märkten, denen Spanien damals kaum etwas entgegen zu setzten hatte, höchst beeindruckt. Zur Zeit der Ankunft der Spanier dominierten die Azteken mit den zwei zu Anfang genannten benachbar-ten, ebenfalls Nahuatl sprechenden Kulturen bzw. Stadtstaaten als so genannter Dreibund weite Gebiete Zentralmexikos bis hinunter nach Süden in die Region der Maya im Hochland von Guatemala.

Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die politische Organisation der Azteken mit einem Staat gleichgesetzt. Zuvor war unter dem Einfluß von Louis Henry Morgan (1878) und Adolph Bandalier (1880) diese als egalitäre Stammes-gesellschaft vergleichbar mit der der Irokesen eingestuft worden (Smith 2000: 582). Später setzte sich der Begriff altepetl, Nahuatl für „Stadt“ bzw. „Stadtstaat“ als Bezeichnung für das politisch-territoriale Konzept und die Organisation eines Stadtstaates durch (Bray 1972, Calnek 1978, Hodge 1984). Allgemein schließt das altepetl sowohl das urbane Zentrum als auch das zur Stadt gehörige Land mit ein. Die politische Einheit basiert auf den Begriffen „Wasser“ (atl) und „Berg“ (tepetl). Die daraus hervorgegangene Bezeichnung altepetl verbindet sowohl die Idee der Herrschaft mit der Idee von Land (Hodge 1984: 17). Diese Stadt mit dazugehörigem Land, das altepetl, wird von einem tlatoani, einem Herrscher, regiert. Die Spanier benannten dies später als señorío. Politisch ist ein solcher Stadtstaat ein souveränes Gebiet mit einer eigenen Regierung (Bray 1972: 164). In jedem Stadtstaat regierte ein erblicher Herrscher; die Stadt war der Regie-rungssitz und dort befanden sich auch die wichtigsten religiösen Einrichtungen. Zuweilen wird in den kolonialzeitlichen autochthonen Texten die Größe einer solchen Einheit durch Hinzufügen des Attributs huey, „groß“, angezeigt, was insbesondere für Tenochtitlan gilt. Manchmal findet sich darüber hinaus der Begriff tlatocaaltepetl, ein Verweis darauf, dass ein Dorf regiert wird oder ein Dorf einen Herrscher hat. Andere Bezeichnungen für die politische Organisation sind altepemaitl, was soviel wie „Hand oder Arm einer Stadt“ bedeutet und „ima yxci yn altepetl“ eigentlich, „Hand, Fuß einer Stadt“. Diese metaphorischen

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Umschreibungen veranschaulichen letztendlich nach Pedro Carrasco (1996: 27-28) auch die politische Hierarchie des Dreibundes, in der Tenochtitlan, Tlacopan und Texcoco die Hauptorte sind, und alle abhängigen Orte als Hände und Füße verstanden werden. Weiterhin finden sich demnach in den Nahuatl-Texten für diese hierarchische Struktur die Bezeichnungen tlatocaaltepetl, „Herrschafts-staat“ und tzontecomatl, „Kopf“.

Aus historischer Sicht entwickelten sich Stadtstaaten in Zentralmexiko erst in einer späteren Kulturphase (Smith 2000: 581). Außerdem sind den vielen kleinen Stadtstaaten in der Zeit der Azteken schon andere große, einem Stadtstaat ähnliche, politische Einheiten wie Teotihuacan (bis etwa 700 n. Chr.) oder etwas kleinere Staaten wie Tula bzw. Tollan (bis um 1100 n. Chr.) zeitlich voran ge-gangen. Dabei hat sich gezeigt, dass Stadtstaaten auch dann bestehen blieben, wenn sich wie im Fall von Teotihuacan oder später Tenochtitlan übergroße poli-tische Machtzentren entwickelten. Die Gründung eines Stadtstaates in der Form eines altepetl implizierte immer auch den Bau eines königlichen Palastes, einer oder mehrerer Tempel-Pyramiden im Zentrum und eines Marktplatzes (Smith 1996: 163). Der königliche Palast war das Herzstück. Er diente dem Herrscher als Haus-, Amts- und Verwaltungssitz.

Außer diesen drei Elementen bestand der altepetl aus den calpolli, Vierteln mit einer bestimmten Sozialstruktur, die sich um das Zentrum legten, was zu einer Art „Zellenorganisation“ der Stadtstaaten führte (Lockhart 1991: 14, 436, 583). Die calpolli besaßen die Fähigkeit, größere Einheiten zu bilden, die ihre politische Selbstverwaltung bewahrten. Dies bedeutet, dass keine hierarchische Struktur existiert, in der der Hauptort politisch anders strukturierte Einheiten kontrolliert, sondern der Hauptort besteht aus der Verbindung dieser calpolli (Smith 2000: 584). Im Grunde genommen ist der altepetl sogar ein vergrößertes calpolli. Die Mitglieder eines calpolli konnten unterschiedlicher Ethnien sein (Azteken, Acolhua, Chalca usw.) und auch eine andere Sprache als Nahuatl spre-chen wie etwa Otomie, Matlatzince, Mixtekisch (Smith 1996: 163). Die mul-tiethnischen Einheiten durchtrennten also die politischen Grenzen der Ethnien.

Als Dreibund wird das Bündnis zwischen Tenochtitlan mit Tlacopan und Tetzcoco seit dem 18. Jahrhundert bezeichnet (Carrasco 1996: 32). Am nächsten kommt ihm im Nahuatl die Bezeichnung yn etetl tzontecomatl, „die drei Köpfe“. Der aztekische Dreibund bediente sich einer Strategie der Unterwerfung. Die eroberten Stadtstaaten wurden, so lange sie ihrer auferlegten Tributpflicht nach-kamen, nur indirekt über die alten Herrscher kontrolliert. Die eroberten Herr-scher konnten sogar von der Teilhabe am Dreibund profitieren (Smith 2000: 591). Auch wenn jeder der drei Hauptorte des Dreibundes seine Region autonom verwaltete, so wurde doch Tenochtitlan bis 1519 zur imperialen Hauptstadt (Hodge 1996: 21, Gibson 1971: 389).

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Vor der Entstehung des aztekischen Imperiums, d.h. der von den Azteken und ihren Verbündeten unterworfenen weitläufigen Gebiete bzw. der darin be-heimateten Stadtstaaten, gab es im Tal von Mexiko ungefähr vierzig weitere Stadtstaaten (Hodge 1996: 23). Nach der Eroberung dieser Stadtstaaten setzten die Azteken verschiedene Strategien der Kontrolle der abhängigen Herrscher ein. Eine Strategie war die Schaffung einer regionalpolitischen Hierarchie, in der neue hierarchische Strukturen geschaffen oder bereits bestehende Strukturen modifiziert wurden.

Das Zentrum zählte etwa dreißig Provinzen (Carrasco 1996: 586). Diese mußten gegenüber dem Dreibund in unterschiedlichem Maße verschiedene Dienste erbringen (Hodge 1996: 23ff.). Hierzu zählten Krieger und Bewaffnung, Arbeitskräfte und Material für den Bau öffentlicher Gebäude sowie Gebrauchs-güter für die Festlichkeiten. Eine verbindliche Verpflichtung für alle zentralen Provinzen war die Partizipation der lokalen Herrscher an den wichtigen Festlich-keiten. So mußten die Herrscher von Tetzcoco und Tlacopan sowie die von ihnen abhängigen Herrscher von Cuauhnahuac und die der Otomie-Stadtstaaten nörd-lich und westlich des Tals von Mexiko an zentralen aztekischen Festen teilneh-men. Die dem Herrscher beistehenden Berater rekrutierten sich aus der Adels-schicht, die verschiedene Bezeichnungen hatte (Hodge 1996: 32). Die Strategie der Azteken und ihrer Verbündeten lässt sich wie folgt zusammenfassen (Hodge 1996: 42): Lokale Herrscher wurden zeitlich begrenzt oder permanent ersetzt. Es gab zuweilen eine Umstrukturierung bestehender Hierarchien. Später wurden in allen aztekischen Stadtstaaten die gleichen Kulte und die gleiche Religion ver-ehrt (Smith 2000: 588). Jeder Stadtstaat besaß jedoch einen oder mehrere Patro-natsgottheiten. In dieser Phase etablierten die Azteken ihre Religion als Reichsre-ligion (imperial religion), in dem sie etwa Huitzilopochtli, eine Gottheit mit einstmals geringer Bedeutung, zu einer Schöpfungsgottheit machten und ent-sprechend hierzu die Mythen und Rituale modifizierten. Durch die Glorifizie-rung von Kriegern beförderte dies die Rekrutierung von Adligen aus dem Tal von Mexiko zu Kriegszwecken (Smith 2000: 588).

3 Aztekisches Geschichtsdenken und Herrschaft Im aztekischen Geschichtsdenken kann ein historisches Ereignis eine doppelte Funktion haben: es kann eine explizite Verheißung und zugleich ein jederzeit aktualisierbares Vorzeichen sein (Eschmann 1976: 267). Vollkommen unerwarte-te oder unvorhergesehene Ereignisse gab es demnach bei den Azteken ebenso wenig wie im Denken des antiken Europas; es gab nur Vorsehungen, die es zu deuten galt (Olivier 2005: 169). Das aztekische Wort für Vorsehung (tetzahuitl)

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bedeutet eigentlich „etwas Erschreckendes“, hergeleitet aus der Bedeutung tetzahuia („heftig erschrecken“). Es bezieht sich damit keinesfalls einzig auf ein „böses Vorzeichen“, sondern auf eine Verheißung, die sowohl gut als auch böse sein kann (Eschmann 1970: 355, 1976: 189). In der Geschichte erweisen sich so unmittelbar oder mittelbar die Götter, nach deren Willen sich die Menschen rich-ten müssen. Zu solchen Vorsehungen (tetzahuitl) wurden auffällige Naturer-scheinungen wie Sonnenfinsternisse, Erdbeben oder der Ruf der Tiere bei Nacht gezählt. Auch Huitzilopochtli, der Stammesgott der Azteken, wurde als „Er-scheinung“ tetzahuitl bzw. als „Schreckensgott“ tetzauhteotl bezeichnet, um damit die Art seines Wirkens in der Geschichte zu verdeutlichen. Als eigene Form der Epiphanie erschien er den Azteken mehrmals im Verlauf ihrer langen Wanderung bis zur Seßhaftwerdung im Becken von Mexiko, um durch seine Handlungen und Befehle, im Besonderen durch sein kriegerisches Gebaren, dem Schicksal eine neue (positive) Wendung zu geben. Was für Huitzilopochtli gilt, trifft gleichermaßen für andere Gottheiten zu, wie zum Beispiel für Tezcatlipoca, einen Schöpfungsgott, als dessen „Stellvertreter“ auch der aztekische Herrscher angesehen wurde, und für Quetzalcoatl, den Mit- und Gegenspieler Tezcatlipocas im Schöpfungsepos um Welt und Menschheit, mit dessen Namen auch ein Kul-turheld verbunden ist.1

Aber es gab nicht nur ein immanentes Wirken der Götter selbst, sondern auch menschliche Zauberer (nahualli). Sie konnten, vergleichbar den Göttern, „Kunststücke“ ausführen wie etwa ein „Haus in Flammen tauchen“ (Eschmann 1976: 190). Zugleich besaßen solche Zauberer als Mit- und Gegenspieler der Götter die Aufgabe, deren immanentes Wirken in seinen Spielarten zu erkennen oder dem sogar entgegenzuwirken (Eschmann 1976: 211). Das immanente Wir-ken der Götter bedeutete, die Zukunft vorherzusagen und den Geschichtsverlauf zu gestalten. Für den aztekischen Herrscher galt, aufgrund der noch nicht eindeu-tig festgelegten Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, den Willen der Götter aus den entsprechenden Situationen heraus zu lesen. Gleiches traf auch für andere Zauberer und Wahrsager (tlaciuhque) zu (Eschmann 1976: 209).

In einer solchen Rolle des Mit- und Gegenspielers der Götter sah sich Motecuzoma seit seiner Kenntnis um die Ankunft der Fremden. Er musste die Gegenwart anhand der Vergangenheit richtig deuten und feststellen, welche Be-deutung die gegenwärtige Situation selbst für sein eigenes Geschick bzw. das Wohlergehen der Azteken hatte. Der Herrscher konnte hierzu auf analoge histori-sche Situationen zurückgreifen, wobei die vom Herrscher dabei begangenen Fehler von der Gottheit korrigiert werden konnten. Der Herrscher musste in

1 Die drei genannten Gottheiten waren „Brüder“, Kinder des Weltelternpaars Tonacateuctli und Tonacacihuatl.

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gewissem Maße die Fähigkeit eines „Zauberers“ oder nahualli haben, ohne dass hierbei Fehlinterpretationen ausgeschlossen waren (Eschmann 1976: 266). In den aztekischen Büchern – von denen nur wenige als Abschrift aus der frühen Kolo-nialzeit erhalten sind – wurden daher alle Details vermerkt, die dem Herrscher das Deuten erleichterten.

Eingebettet in diese Vorstellungen glaubten die Azteken im Zeitalter der Sonne zu leben. Diesem waren vier andere Zeitalter vorausgegangen, die jeweils durch eine Katastrophe ihr Ende fanden (Elzey 1976). Auch das Zeitalter der Sonne galt den Azteken nicht als ewig, sondern bedurfte ihres Zutuns: der Spei-sung der Sonne durch Menschenblut und der Erneuerung der Welt alle 52 Jahre. Beides geschah durch einen Staatskult. Zum einen durch kultische Feste in jedem der 18 Monate, in die das Sonnenjahr eingeteilt war. Dem schloss sich eine na-menlose Periode von fünf Tagen an, die als unheilvoll galt und an denen keine Aktivitäten statt fanden. Zum anderen durch ein Neufeuer, dass zum Ende eines Großzyklus von Sonnenjahr und Ritualkalender von 260 Tagen (tonalpohualli), d.h. nach 18980 Tagen oder 52 Jahren entfacht wurde, in der Hoffnung, das auch am nächsten Tag die Sonne wieder scheinen würde.2 In diesem Sinne ist auch das zeitliche Konzept der Azteken von der Vorstellung einer Vorsehung und eines jederzeit aktualisierbaren Vorzeichens durchdrungen und keineswegs einzig auf Zyklizität ausgelegt. Auch aus einem anderen Grund ist anzunehmen, dass die Zeitvorstellung, auch im Hinblick auf das Geschichtsbewußtsein, mehr als linear war. So wird vermutet, dass die Zeit aus politischen Gründen und zu politischen Zwecken manipuliert wurde (Hassig 2001: xiii). Im Gegensatz zur zeitlichen Erneuerung religiöser Rituale, die eine zyklische Zeitvorstellung suggerieren, bedurften politische Entscheidungen wegen der eher zufälligen und chaotischen politischen Ereignisse einer linearen Zeitkonzeption. Einiges im politischen Leben läßt sich in zyklische Vorstellungen pressen, wie die an Wetter und Agrar-zyklen ausgerichteten militärischen Feldzüge der Azteken. Anderes, wie die Errichtung von Bauwerken, nicht. So wurde der Haupttempel in Tenochtitlan nicht Kalenderzyklen folgend erbaut bzw. erweitert, sondern nach den politi-schen Bedürfnissen der Könige (Hassig 2001: 61ff.). Nicht zuletzt dienten un-heilvolle Ereignisse dem Anlaß, den Zyklus der Zeit selbst zu manipulieren. Daraus folgt, dass auch die Azteken ihre Ideologie in der Praxis vorrangig politi-schen Überlegungen unterwarfen. Somit erhebt sich die Frage, inwieweit Motecuzomas politische Entscheidungen einzig die kalendarischen Strukturen

2 Dieses Ritual ist auch als Bündelung der Jahre bekannt (xiuhmolpilli). Das letzte Neufeuer war für 1506 vorgesehen. Da dies jedoch ein unheilvolles Jahr war, wurde es von Motecuzoma auf 1507 verschoben (Hassig 2001: 41). Jedenfalls lag damit das Ende der gegenwärtigen Periode von 52 Jahre noch weit vom Zeitpunkt der Ankunft der Spanier entfernt, so dass dieser Zyklus bedeutungslos für dieses Ereignis war.

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und historischen Erfahrungen bedachten. In jedem Fall aber stellte die Ankunft der Spanier eine Herausforderung für die historisch-mythologische Deutung um die erforderliche Einordnung einer solchen Verheißung und um die richtige Ant-wort dar.

Die aztekische Herrschaft beruhte auf einem Wahlkönigtum. Der Herrscher wurde von einem Rat aus Adligen, einem Wahlgremium aus politischen, religiö-sen und militärischen Funktionsträgern, ausgewählt. Als Wahlkandidaten kamen die legitimen Söhne und die Brüder des Vorgängers in Betracht. Schließlich fiel die Wahl aber auf einen von der Gottheit vorbestimmten Kandidaten. Inwiefern es sich bei dieser Gottheit um Tezcatlipoca handelt, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen (Hartau 1988: 12, 18f.). Die hierzu vorliegenden Kenntnisse entstammen den so genannten Inthronisationsreden, die Bernardino de Sahagún von einhei-mischen Adligen Mitte des 16. Jahrhunderts aufzeichnen ließ. Bei diesen Inthro-nisationsreden handelt es sich aber nicht um historische Reden, sondern um Re-demodelle, d.h. um nachgebaute Sprechhandlungen (Hartau 1988: 14). Außer der Verwandtschaft galten als weitere Kriterien für die Nominierung: Erfahrung und Tapferkeit im Krieg, tugendhafte und vernünftige Lebensweise, die Fähigkeiten, gut sprechen zu können und, nach Diego Durán, auch das Alter. Die Inthronisati-onsreden können im Sinne Van Genneps als rites de passages verstanden wer-den, „durch die der Herrscher von einem gewöhnlichen Menschen zum Stellver-treter der Gottheit wird“ (Hartau 1988: 16). Indem eine Gottheit die Wahl des Königs bestimmt und ein Wahlgremium die Entscheidung der Gottheit umsetzt, wird durch die Herrscherwahl die größtmögliche Legitimität verliehen (Hartau 1988: 20). Es gibt zwei Legitimationsprinzipen. Zum einen wird der Person des Herrschers Legitimität durch die Einsetzung durch eine Gottheit zugefügt. Zum anderen ist Herrschaft als Institution legitim, weil sie im Besitz der Gottheit ist. Ein weiteres Legitimationsprinzip ist die Schutzfunktion des Herrschers gegen-über den Untertanen (Hartau 1988: 29). Der Herrscher hat somit einen „Werk-zeug-Charakter“. Er ist der „Repräsentant, der Stellvertreter der Gottheit“, „die Flöte, die Rückenlehne der Gottheit“; „die Gottheit spricht durch den Herrscher, benutzt ihn als Lippen, Mund und Zunge“; „die Gottheit hört durch den Herr-scher, benutzt ihn als Ohr“; „die Gottheit sieht durch den Herrscher, benutzt ihn als Auge“; „die Gottheit hat den Herrscher mit Ehre [und] mit Macht ausgestat-tet“ (Hartau 1988: 21).

Das Regieren wird als ein großes Bündel (vei quimilli), als ein großer Trag-rahmen (vei cacaxtli), als eine große Last (vei tlamamalli) und als ein Traggerüst, ein Traggestell (tlatconi, tlamamaloni) verstanden. Das Regieren wird entspre-chend mit den Verben itqui und mama ausgedrückt, deren eigentliche Bedeutung „tragen“ ist. Die Tragelast sind die Untertanen, so dass die Gottheit die Unterta-nen auf den Rücken des Herrschers setzt (Hartau 1988: 31). Die Herrschaftsver-

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antwortung wird durch das Bild der Regierung als Tragelast ausgedrückt. Der Vorfahre gibt die schwere Regierungslast an seinen Nachfolger weiter (Hartau 1988: 36).

In der Beziehung des Herrschers zu seinen Untertanen ist der Herrscher der wahre Vater und die wahre Mutter sowie der Schutzspender der Untertanen (Hartau 1988: 22ff.). Der Tod eines Herrschers hat zur Folge, dass die Unterta-nen zugrunde gehen, vernichtet werden, die Stadt verhöhnt wird, die Stadt ent-völkert wird, die Stadt in Trümmer fällt, die Stadt dunkel und verlassen daliegt. Demnach kommt der Tod bzw. das Fehlen eines Herrschers der Dunkelheit, der Verlassenheit, der Verwahrlosung und dem Untergang gleich (Hartau 1988: 25). Im Idealfall hatte der verstorbene Herrscher eine „ruhige, friedliche Herrschaft“ ausgeübt und die richtige Kraft eingesetzt, um im Namen der Gottheit die Unter-tanen zu regieren (Hartau 1988: 34). Die Vorfahren werden häufig erwähnt und erfüllen „rhetorische Funktionen“ (Hartau 1988: 33). Sie sind ideale, vorbildliche Herrscher. Ihrem genealogischen Nachkommen hinterlassen sie die Regierungs-last (Hartau 1988: 37). Auch durch die Kontinuität der Erbfolge wird dem neuen Herrscher Legitimität verliehen (Hartau 1988: 35).

Zwei wichtige Herrschaftskonstituenten sind Prestige und Macht. Prestige erhielt der Herrscher in Form von „Ruhm und Ehre“, diese wurden auch meto-nymisch für Herrschaft verwendet. Das drückt sich auch darin aus, dass das Sy-nonym für Herrschaft, „Matte und Thron“, ebenso als „Platz der Ehre“ von der Gottheit vorgegeben wurde (Hartau 1988: 39). Mit seiner Inthronisation erhielt der Herrscher von der Gottheit „Prestige“ als „Vorschuß“ (Hartau 1988: 40). Der Herrscher wird positiv bewertet, wenn er seinen Vorfahren Ruhm und Ansehen gab, unter ihm die Herrschaft im Ansehen stieg und er für sich selbst Ruhm und Ansehen errang (Hartau 1988: 41). Umgekehrt bedeutete „Ruhm und Ehre ent-fernen“ die „Herrschaft entziehen“ (Hartau 1988: 40). Der Prestigeverlust setzt durch Erfolglosigkeit und negative Leistungen ein. Die Macht wird metaphorisch als „Reißzähne“ und „Klauen“ bezeichnet und steht in erster Linie für richterli-che Gewalt (Hartau 1988: 41). Damit wird der Richter als das Sinnbild für Macht verwendet. Demnach verfügt der von der Gottheit eingesetzte Herrscher über „Zähne und Klauen“; seine Macht ist „mit der Verpflichtung verbunden, beson-nen und gerecht eingesetzt zu werden“. So darf der Herrscher seine Macht nicht ausnutzen. Setzt der Herrscher seine Macht nicht richtig ein, kann er sogar zum „Feind“ der Untertanen werden (Hartau 1988: 43).

Zwischen Herrscher und Gottheit gab es auch eine normative Beziehung (Hartau 1988: 52). Die Gottheit ist der Normhüter, sie verfügt auch über Sankti-onsmöglichkeiten. Jeglicher Verstoß gegen Normen wurde von der Gottheit wahrgenommen. Handelte der Herrscher eigenmächtig, dann wurde das von der Gottheit negativ sanktioniert, worunter das Kollektiv, das „Volk in seiner Ge-

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samtheit“, zu leiden hatte (Hartau 1988: 54). Trat ein innerer Unfrieden in der Stadt auf oder wurde die Stadt mit Krieg überzogen, dann bedeutete dies, dass die Untertanen ihren Herrscher hassten. Gab es eine Hungersnot, dann gingen die Untertanen zu Grunde. Bei Krankheiten und Epidemien starben die Untertanen aus und die Stadt wurde zu einem verlassenen Ort. Hieraus leiteten sich spezielle Normvorstellungen ab. Hatte der Herrscher der Gottheit gegenüber innere Vor-behalte, sanktionierte dies die Gottheit mit schweren Katastrophen, die das ganze Volk trafen. Eine Katastrophe war das Kennzeichen für eine erfolglose Herr-schaft, die von der Gottheit bestraft wurde. Die positive Formulierung der Norm ist daher, dass der Herrscher geboten war, der Gottheit gegenüber demütig zu sein. Ein demütiges Verhalten des Herrschers wurde von der Gottheit „durch Inspiration und Hilfe“ belohnt. Diese Inspiration ist für eine erfolgreiche, also eine „ruhige, friedliche“ Herrschaft notwendig (Hartau 1988: 59).

Der Herrscher war damit ein „Gesandter der Gottheit“ (teixiptla) oder an-ders gesagt, die Gottheit manifestierte sich über eine kultische Repräsentation, mit der auch der Herrscher gleichgesetzt wurde (Eschmann 1976: 207). Hier-durch war wiederum das immanente Wirken der Gottheit zusätzlich durch die schon beschriebene Form eines Zauberers (nahualli) möglich. In letzterer Form trat Tezcatlipoca vor allem als Gegenspieler von Quetzalcoatl auf und konnte sich hierzu wohl in einen Affen oder in einen flügelschlagenden und lärmma-chenden Vogel verwandeln (Eschmann 1976: 191f.). Die Gottheiten konnten also verschiedene Erscheinungsformen annehmen, womit jeweils eine bestimmte Art des geschichtlichen Wirkens gemeint war (Eschmann 1976: 195). Als Abgesand-ter einer Gottheit (teixiptla) trug der Herrscher deutliche Züge eines sakralen Königtums. Doch war er nicht einem gleich bleibenden kultischen Verhalten verpflichtet, wenngleich von ihm ein strenges ethisches und moralisches Verhal-ten abverlangt wurde (Eschmann 1976: 227).

4 Legitimationskrise Der spanische Sieg über die Azteken und über die anderen Autochthonen Mesoamerikas wird, einer These folgend, auf die Überlegenheit der zweckorien-tierten Vernunft von Cortés über die traditionsgeleitete indigene Vernunft, d.h. auf eine andere Kommunikationsform, zurückgeführt. Ganz im Sinne des den Azteken zugeschriebenen Geschichtsbewusstseins wird angenommen, dass die Autochthonen viel zu viel Kraft innehatten und die meiste Zeit dazu verbrauch-ten, die Vorzeichen für ein bevorstehendes Ereignis zu deuten, während die Spa-nier unter Cortés weniger an den Referenten als an den Zeichen selbst interessiert waren (Todorov 1987: 70).

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Um zu verstehen, was 1519 in Mesoamerika vor sich ging als Hernán Cor-tés an der Golfküste von Mexiko mit etwa 500 Soldaten, nicht mehr als 16 Pfer-den, einigen Hunden und Kanonen landete, befragte Motecuzoma die Vergan-genheit, insbesondere das Ende der toltekischen Herrschaft. Einer Interpretation zu Folge glaubte er an die prophezeite Rückkehr von Topiltzin Quetzalcoatl, einem legendären toltekischen Herrscher, der in Tollan (vermutlich das heutige Tula) herrschte und als Sünder sein Reich um 1000 n. Chr. verlassen musste (Davies 1973: 239, Graulich 1994: 283-288, León Portilla 1984: 33). Und in der Tat ließ Motecuzoma mit Hilfe von Botschaftern dem anfänglich an der Küste weilenden Cortés als Geschenk ein Quetzalcoatl-Gewand überbringen, jedoch auch ein solches des Regengottes Tlaloc und des für die herrschaftlichen Geschi-cke so wichtigen Gottes Tezcatlipoca (Davies 1974: 239). Obwohl Motecuzoma so zunächst in Cortés eine Gottheit gesehen haben könnte, spricht seine spätere Taktik, diesen auf dem Weg nach Tenochtitlan in Cholollan (dem heutigen Cholula) mit Hilfe der dortigen Herrschenden zu überfallen, wiederum dagegen. So muss es andere Gründe gegeben haben, warum der aztekische Herrscher ge-genüber den zahlenmäßig wenigen, allerdings dank Armbrust, Feuerwaffen und Pferden waffentechnisch überlegenen Spaniern nur wankelmütig und nicht ent-schlossen auftrat (Davies 1974: 261). Dies wird eben mit dem magischen Den-ken Motecuzomas begründet, das dem entschlossenen, rationalen Handeln Cor-tés gegenübergestellt wird (Davies 1974: 246). Im Ergebnis wird also vermutet, dass der Untergang des Zeitalters der so genannten fünften Sonne, unter dem die Azteken ihrem Mythos zufolge lebten, bereits durch den vorzeitigen Weggang Quetzalcoatls aus Tollan und seiner prophezeiten Rückkehr eingeläutet schien. Motecuzoma hatte wohl Cortés von Anbeginn mit dem legendären Herrscher von Tollan gleichgesetzt (Graulich 2004: 71). Zugleich wurde von Cortés der Mythos von Quetzalcoatl zu eigenen Zwecken ausgenutzt. Seine Gleichsetzung mit einer Gottheit konnte er dank der Kenntnisse vom Quetzalcoatl-Mythos festigen (To-dorov 1987: 129).

Aus konstruktivistischer Sicht lassen sich aber auch Zweifel an einer von Motecuzoma vorgenommenen Gleichsetzung von Cortés mit Quetzalcoatl an-bringen und als ein historisches Konstrukt späterer Zeit erachten (Gillespie 1989: 228). So lässt sich das Auftauchen von Cortés analog zum Fall des 1779 auf Hawaii gelandeten und von den Einheimischen geopferten Captain Cook setzten. Dem Ethnologen Marshall Sahlins (1995) zufolge, der hierüber eine teilweise polemische Debatte mit seinem Kollegen Gananath Obeyesekere (1992) führte, richteten die Hawaiianer ihre Rituale zu Ehren einer ihrer Gottheiten erst im Nachhinein auf dieses Ereignis aus, weil zum Zeitpunkt der Begegnung keine empirische Übereinstimmung zwischen dem Europäer und der angebeteten Gott-heit vorlag, außer einer zeitlichen Überschneidung seiner Ankunft mit dem ein-

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heimischen Götterkult. Entsprechend wird die Gleichsetzung von Cortés mit Quetzalcoatl in den kolonialzeitlichen Quellen als eine konstruierte spätere Er-klärung für einen zur Kontaktzeit anders abgelaufenen Vorgang gesehen. Wenn dem so wäre, warum sollte dann aber eine durch die indianische Glaubensvor-stellung und von den Konstruktivsten ebenso akzeptierte, gegebene kulturelle Prädisposition erst im Nachhinein zu einer solchen Gleichsetzung geführt haben und nicht schon im Moment des unmittelbaren Aufeinandertreffens? Die konstruktivistische Auffassung scheint hier nicht geeignet zu sein, ein gewisses historisches Problem zu lösen. Sie stellt allenfalls die Faktizität der historischen Fakten in Frage. Die historische Wahrheit, wenn es eine solche geben kann, dürf-te irgendwo dazwischen liegen, denn Motecuzomas Verhalten ist nur indirekt über die frühen kolonialzeitlichen spanischen und indianischen Quellen überlie-fert. Im konstruktivistischen Sinne wird diesen Quellen allerdings unterstellt dem aztekischen Herrscher einzig Schuldzuweisungen wegen seines Versagens bei der Eroberung zu machen, so dass einzig Cortés Briefe an den spanischen König Karl V. über die Ereignisse von der Eroberung als objektiver gelten sollten (Graulich 2004: 71). Mit gewisser Sicherheit läßt sich einzig die spätere Gleich-setzung von Cortés mit einem „weißen (bärtigen) Gott“, eine weitere Version der vorherigen Vorstellung, als eine Erfindung der Kolonialzeit ansehen (Davies 1974: 239, Graulich 2004: 71).

Cortés Landgang an der Golfküste von Mexiko war jedoch mehr als ein Jahr zuvor eine ähnliche Begebenheit vorausgegangen. So berichtete 1517/18 ein Einheimischer von einem „Haus“ im Wasser. Vermutlich handelte es sich hierbei um Spanier unter der Führung Juan de Grijalvas, die ebenfalls an der Golfküste von Mexiko, in San Juan Ulua, geankert hatten. Auch auf diese Nachricht hin war Motecuzoma sichtlich irritiert und verhängte darüber eine Nachrichtensperre (Sahagún 1975: 6, Durán 1984, II: 502ff.). Der aztekische Herrscher ließ Feder-kronen, Goldkettchen, Nasen- und Ohrschmuck für die Ankömmlinge anfertigen, die adlige Botschafter diesen überbrachten, um herauszufinden, ob es sich bei ihnen Motecuzoma zufolge nicht bereits um die angekündigte Rückkehr des Topiltzin Quetzalcoatl handelte (Sahagún 1975: 9, Durán 1984, II: 507). Auf dem Schiff verständigten sie sich mit Hilfe einer doppelten Übersetzung, bei der ein der Maya-Sprache mächtiger Spanier, der als Gestrandeter einige Jahre unter ihnen gelebt hatte und eine des Putun-Maya und Nahuatl mächtige einheimische Frau namens Malintzin aushalfen. Die Spanier schickten Motecuzoma Speisen zurück, die dieser, weil es sich für ihn um „Dinge der Götter“ handelte, nicht essen wollte und sie stattdessen im Tempel von Quetzalcoatl in Tollan, d.h. wohl Tula, vergraben ließ (Durán 1984, II: 511). Auch ließ Motecuzoma nach den Vorgaben der Botschafter ein Bild von den Fremden malen, auf dem das Schiff und die Spanier mit ihren weißen Gesichtern und langen Bärten zu erkennen

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gewesen sein sollen (Durán 1984, II: 513). Außerdem versuchte der Herrscher in der Vergangenheit Erklärungen für diese Fremden zu finden. Allerdings konnten seine Schreiber keine Bilderhandschriften finden, in der das erlebte Ereignis dokumentiert war. Daraufhin befragte Motecuzoma benachbarte Orte (Malinalco, Chalco) auf dieses Ereignis hin und bekam stattdessen Bilderhandschriften zu sehen, die Menschen mit einem Auge in der Stirn oder mit Fischflossen statt Beinen zeigten. Andere zeigten ihm Wesen, die halb Schlange halb Mensch wa-ren. Letztendlich konnte unter seinen Leuten keine einzige Bilderhandschrift gefunden werden, die dem Erlebten entsprach. Lediglich ein alter Mann aus Xochimilco, einem weiteren Ort nicht unweit von Tenochtitlan, besaß Bilder-handschriften seiner Vorfahren, in denen sich die gegenwärtigen Ereignisse wi-derspiegelten. Der alte Mann jedoch erkannte darin nicht wie Motecuzoma ein freudiges Ereignis, sondern ein Unheil. So verlangte er sogar ihn und seine Fa-milie auszulöschen, denn die Absicht der Fremden sei es einzig, den Weg auszu-kundschaften, um in zwei oder drei Jahren wiederzukehren. Motecuzoma war darüber nicht erfreut und stellte diesen Mann in seinen Dienst. Der Herrscher ließ fortan die Küsten bewachen und ersetzte an zahlreichen Orten die lokalen Herrscher mit eigenen Leuten. Ohne dann allerdings weiterhin an die Rückkehr der Spanier zu denken oder zu glauben, tyrannisierte er weiterhin das Land und war so eingebildet, dass er sich nicht einmal mehr vor den Göttern fürchtete (Durán 1984, II: 514ff.).

Als nun also ein Jahr später Cortés an der Golfküste ankerte, entschloss sich Motecuzoma zunächst den Fremden die zuvor schon genannten Gewänder von Gottheiten und andere Geschenke durch Botschafter überbringen zu lassen (Sahagún 1975: 11f., Klaus 1999: 127). Nach einer Demonstration der Bordka-none und dem Einflößen von Wein kehrten die Botschafter angstvoll mit einigen Eisenwaffen als Gegengeschenk nach Tenochtitlan zurück. Dies verunsicherte Motecuzoma umso mehr (Sahagún 1975: 17ff.). Er ließ eine Ratssitzung abhal-ten, in der besprochen wurde, ob die Fremden in Tenochtitlan zu empfangen seien oder nicht. Während sich Cuitlahuac, der Bruder, ebenso wie Motecuzoma dagegen aussprach, befürwortete Cacama, der Herrscher von Tetzcoco, die Fremden gebührend aufzunehmen (Ixtlilxochitl 1985, II: 200f.). Bereits diese erste politische Entscheidung führt also vor Augen, wie wenig solche Ereignisse auch unter der Führungsschicht der Azteken und deren Verbündeten frei von politischen Kalkülen waren. Motecuzoma wünschte sich jedenfalls, die Fremden fern zu halten, allenfalls wohl, weil er glaubte, dass es sich um Götter handelte, die nicht davor zurückschrecken würden, ihn zu töten (Durán 1984, II: 520). Cacama hingegen, immerhin ein Verbündeter Motecuzomas, mochte hierin auch eine gewisse Möglichkeit gesehen haben, die Macht der Azteken zu seinen Gunsten zu schwächen.

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Auf diese Episode hin entschloss sich der aztekische Herrscher die Fremden im Rahmen seines Denkens nicht mit Waffengewalt, sondern mit magischen Mitteln zu bekämpfen, eine Strategie, die im aztekischen Denken sowohl für Götter als auch Menschen Sinn macht. Motecuzoma entsandte so Magier, Hexer, Wahrsager und einige zu opfernde Gefangene, deren Blut sie vor den Spaniern tranken. Die Spanier, angewidert, konnten dem nichts abgewinnen. Zugleich konnten ihnen aber auch die Zauberflüche nichts anhaben (Sahagún 1975: 21f.). In einem weiteren Versuch beauftragte Motecuzoma dann Hexer, die mit Hilfe von Schlangen, Skorpionen und Spinnen Träume erzeugen sollten, welche die Spanier vertreiben bzw. töten sollten, was ebenfalls misslang. Im Ergebnis stell-ten die Azteken fest, es müsse sich bei den Spaniern um Götter handeln (Durán 1984, II: 522, Sahagún 1975: 33f.). Zu dieser Zeit war die Stadt Tenochtitlan bereits in Aufruhr, weil niemand wusste, wie mit den Fremden umzugehen sei, so dass man deswegen lange zu weinen pflegte. Allen voran war bekannt geworden, dass den Zauberern auf dem Weg zu den Fremden Tezcatlipoca in Gestalt eines Betrunkenen erschienen war, der unmissverständlich Motecuzomas Fehlverhal-ten und seine Tyrannei für die missliche Lage verantwortlich machte und Tenochtitlan durch Zauberei bereits (vermeintlich) in Brand gesetzt hatte (Sahagún 1975: 33ff.).

Auch hier wird Motecuzomas Verhalten typologisch erklärt. Das erst durch die Gleichsetzung von Cortés mit Quetzalcoatl geschaffene Problem der Bedro-hung der Herrschaft Motecuzomas wird vom aztekischen Herrscher entsprechend durch die Erfahrung aus der Analogie zum Fall des Kulturhelden Quetzalcoatl gelöst, der von Tetzcatlipoca und Huitzilopochtli als Trunkenbold verunglimpft bzw. überführt wurde und daraufhin seine Herrschaft aufgeben musste (Eschmann 1976: 245). Als der aztekische Herrscher letztendlich aber feststellte, dass er nichts gegen die Fremden unternehmen konnte, fing auch er bitterlich zu weinen an und fragte seine Berater, wo er sich denn verstecken könnte. Dann entschloss sich Motecuzoma nach Cincalco, zum „Haus der Maiskolben“, zu gehen, einen mythischen Ort, der auch als ein Ort des Überflusses galt, im Wes-ten gelegen, an dem auch Huemac, ein ebenfalls wie Topiltzin Quetzalcoatl aus Tollan geflüchteter Herrscher, seit seiner Flucht residierte (Durán 1984: 493, Sahagún 1975: 26, Tezozomoc 1987: 669ff.) (vgl. Abb. 2). An diesen Ort kamen auch die noch vor der Pubertät verstorbenen Kinder und möglicherweise alle, die Selbstmord begangen hatten. Es handelt sich im aztekischen Denken also um einen privilegierten Ort, in dem ausschließlich Tonacayotl, „der Mais“, herrscht (Johansson 1998: 39).

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Abbildung 2: Motecuzoma Xocoyotzins Flucht über den See von Tezcoco nach Cincalco

Quelle: Durán 1984: Fig. 52.

Motecuzoma schickte zuerst seine Botschafter zu Huemac vor. Dreimal gingen die Botschafter dorthin. Jedes Mal wollte Huemac nichts mit Motecuzoma zu tun haben und teilte diesem vielmehr mit, dass der Grund im prophezeiten Nieder-gang der aztekischen Herrschaft in seiner Eitelkeit und Grausamkeit lag. Zu guter Letzt, wollte er Motecuzoma doch noch aufnehmen, verlangte aber von ihm 80 Tage lang zu fasten und weitere vier Tage zu warten bis er, Huemac, auf einem Hügel von Chapultepec erscheinen würde. Obwohl Motecuzoma danach versuchte an den Ort überzusetzen, verhinderte letztendlich der dort residierende Tempelwärter die Flucht von Motecuzoma, indem er ihn auf seine Feigheit hin-wies (Durán 1984, II: 496, Tezozomoc 1987: 679). Aus Scham und Schande rückte Motecuzoma von seinem Vorhaben ab. Es wird vermutet, dass diese ver-suchte Flucht nach Cincalco möglicherweise das Bestreben Motecuzoma wider-spiegelt, sich nicht den Gesetzen des Kosmos und dem Schicksal zu unterwerfen, sondern wie ein Mensch sterben zu wollen. Denn vom Stammesgott Huitzilopochtli verlassen geglaubt, hatte er versuchte die geltenden Gesetze auszuheben und sich in seiner Arroganz entschieden, selbst nach Cincalco zu gehen (Johansson 1998: 37).

Cortés indes war ein geschickter Stratege und ein Diplomat, der die politi-sche Lage in Zentralmexiko zu seinen Gunsten zu nutzen wusste (Prem 1996: 109ff.). Nachdem Cortés die mit den Azteken verfeindeten Tlaxkalteken besiegte

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und sie anschließend auf die spanische Seite zog, beglückwünschte Motecuzoma sogar den Fremden zu seinem Sieg und brachte ihnen weitere Goldgeschenke. Dadurch wurde ihre Neugierde auf das aztekische Reich nur verstärkt und hielt sie noch weniger ab, nach Tenochtitlan zu marschieren (Davies 1974: 250). Motecuzoma aber enthielt sich indes gewaltsamer Aktionen gegen die Spanier. Stattdessen offerierte er ihnen Tribut, weil im aztekischen Modell derjenige, der sich nicht entgegenstellt und Tribut leistet, dadurch seine Macht behält (Graulich 2004: 73).

Nach dem vergeblichen letzten Versuch, die Spanier in Cholollan mit Hilfe der lokalen Herrscher zu attackieren, kam es schlussendlich im November 1519 in Xoloco unmittelbar vor Tenochtitlan zur Begegnung zwischen Motecuzoma und Cortés (Durán 1984: 540f., Sahagún 1975: 43) (vgl. Abb. 3). Der aztekische Herrscher überreichte Cortés eine Goldkette und eine Armmanschette mit Fe-dern, vielleicht ein quetzalmachoncatl, die auf der Höhe des Ellbogens getragen wurde und aus Quetzalfedern bestand.3

Abbildung 3: Motecuzoma Xocoyotzin und Hernán Cortés bei ihrer ersten Begegnung unmittelbar vor Tenochtitlan

Quelle: Durán 1984: Fig. 58.

3 Solche Armmanschetten sind eigentlich nur in Verbindung mit den Mumienbündeln anderer Herr-scher bekannt, außer bei Motecuzoma und einem namengleichen Vorgänger, von denen sie auch zu Lebzeiten getragen worden sein könnten (Gillespie 1989: 125ff.).

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Nachdem Motecuzoma so schließlich bemerkte, dass die Fremden nicht aufzu-halten waren und ihren Weg von der Golfküste unbeirrt fortgesetzt hatten, ja sogar nach anfänglichen kriegerischen Auseinandersetzungen die Unterstützung verfeindeter Völker wie der Tlaxcalteken gewonnen hatten, entschloss sich der aztekische Herrscher hier in Xocoloco seinem Schicksal zu ergeben und in einer durch Sahagún festgehaltenen Rede, seinen Thron in die Hände des vermeintli-chen Quetzalcoatl zu legen (Eschmann 1976: 247f., Sahagún 1975: 43).4 Dann lud Motecuzoma den Spanier zu sich in die Stadt ein, wo die Spanier über ein halbes Jahr lang verweilten. Unter dem Vorwand, dass einige an der Küste zu-rückgebliebene Spanier von Azteken getötet worden seien, stellte Cortés den aztekischen Herrscher bald unter Hausarrest und legte ihn in Ketten. Der für den Überfall verantwortliche Adlige wurde vor den Augen des aztekischen Herr-schers exekutiert. Im Sinne der aztekischen Herrscherideologie hatte Motecuzo-ma versagt und damit sowohl seine Legitimation als auch die bedingungslose Anerkennung seiner Untertanen verloren (Hartau 1988: 69).

Cortés (1979) berichtet in seinen zeitnahen Briefen zur Eroberung an den spanischen Königen von seinen Begegnungen mit Motecuzoma. Darin wider-spricht er keineswegs den vorherigen Beschreibungen. Er verweist darauf, dass der aztekische Herrscher sich wohl im Glauben wiegte, es handelte sich bei den Spaniern um die prophezeite Rückkehr der Ahnen, was von Cortés, nur allzu gut ausgenutzt werden könne. Schlussendlich befehligte Motecuzoma seinen Leuten, sich der spanischen Oberherrschaft zu beugen und willigte ein, den Spaniern Tribut auszuhändigen (Cortés 1979: 60). Stärker als dies dürfte aber die Beteili-gung des aztekischen Herrschers an der spanischen Zerstörung der eigenen „Göt-terbilder“ in Tenochtitlan gewogen haben (Cortés 1979: 65). Mit seiner Gefan-gennahme signalisierte er seine eigene Niederlage (Davies 1974: 264).

Motecuzoma folgte zuvor nur dem Beispiel von Quetzalcoatl und Huemac, indem er eine Flucht in das Jenseits antrat. Als Huemac ihn jedoch nach seinem Gang nach Cincalco tadelte, versuchte Motecuzoma sich an Tezcatlipoca und Huitzilopochtli zu orientieren und Cortés durch vermeintliche Zauberei zu ver-treiben. Weil dies scheiterte, erschien Tezcatlipoca selbst und machte Motecuzo-ma dafür verantwortlich, dass sich der aztekische Herrscher von Cortés allzu leicht in Ketten legen und demütigen ließ. Es bedeutete im Sinne der aztekischen Herrschaftsideologie ein Versagen und löste eine Legitimationskrise aus (Hartau 1994: 69). Sollte diese Legitimationskrise aber nicht schon durch das Verhalten

4 Anncharlott Eschmann (1976: 251) verweist unmißverständlich darauf, dass Motecuzomas Rede von der Thronübergabe an Quetzalcoatl nur die Sichtweise einiger Quellen wie Sahagún und Durán wiedergibt und es bei Ixtlilxochitl noch das theologisch-mythische Modell gibt, wonach Quetzalcoatl selbst die Ankunft von Abgesandten des christlichen Gottes vorhersagte. Beide Modelle spiegeln eine ähnliche Problematik wie im Fall von Captain Cooks Tod 1779 auf Hawaii wider.

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von Motecuzoma im Vorfeld der Ankunft der Spanier ausgelöst und durch Cortés späteres Erscheinen lediglich verstärkt worden sein?

Jedenfalls widerfuhren dem aztekischen Herrscher, noch bevor er seine Bot-schafter Cortés an der Küste entgegenschickte, mehrere Vorsehungen (tetzahuitl), die neben seinen ehrgeizigen und in der politischen Führungsschicht nicht unum-strittenen politischen Zielen, eine gewisse Krise bereits vorwegnahmen. Denn seit seiner Inthronisation 1502 hatte Motecuzoma zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht. Er schuf sich ein System wie das römische Reich und vereinte neben speziell ausgebildeten Adligen alle Götter in Tenochtitlan. Er verschob das wichtige Fest, mit dem die kosmische Welt symbolisch durch ein Feuer erneuert wurde, die so genannte Neufeuerzeremonie (siehe Fußnote 2), um ein Jahr, weil es sonst in ein Hungerjahr gefallen wäre. Fortan fiel das Fest durch diese Ver-schiebung auf jenen Monat, in dem auch die aztekische Stammesgott Huitzilopochtli verehrt wurde. In diesem Vorgehen wird auch der Versuch gese-hen, den in Cholollan über Zentralmexiko hinaus bedeutenden Kult von Quetzal-coatl als Staatskult abzulösen und an seine Stelle Huitzilopochtli zu stellen. Letztendlich war es Motecuzomas Anliegen, das aztekische Reich zu festigen und seine Macht zu zentralisieren. Dies brachte ihm viele Feindschaften und Verleumdungen ein (Graulich 2001: 74ff.). Das Schreckgespenst vom Ende der aztekischen Herrschaft trat also nicht erst in Form der Spanier auf, sondern 1516 als Verheißung, verkündet von dem mit Motecuzoma verbündeten Herrscher von Tetzcoco, Nezahualpilli, kurz bevor dieser starb. Dieser hatte ihn eindringlich vor der dem unmittelbar drohenden Ende seiner Herrschaft gewarnt (Durán 1984: 459) (vgl. Abb. 4). Gleichzeitig rief er Motecuzoma auf, sich gegen das prognostizierte Schicksal zu erheben und dagegen anzukämpfen. Indes begann dieser zu weinen. Er fragte die Gottheiten, warum sie ihm das antäten und was er denn tun solle und wo er sich verstecken solle und dass er am liebsten zu Stein oder ein Stock werden würde, um das nicht mit anzusehen (Durán 1984: 469).

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Abbildung 4: Nezahualpilli (rechts) warnt Motecuzoma Xocoyotzin (links) vor einem hereinbrechenden Unheil5

Quelle: Durán 1984: Fig. 46. Dieser weinerlichen Szene schloss sich an, dass er Wut entbrannt seine Gefolgs-leute zu sich rief, um alle Wahrsager und Astrologen und deren Familien zu töten und deren Häuser zu zerstören, weil diese nicht in der Lage gewesen waren, diese Vorsehung zu erkennen. Nach der Ermordung der alten Wahrsager und Astrologen, holte sich Motecuzoma aus seinem Reich andere, die angewiesen wurden, wachsam und sorgsam den Sternenhimmel zu beobachten (Durán 1984, II: 470f.). Eine weitere Episode berichtet, dass der prahlerische Motecuzoma einen Opferstein (temalacatl) anfertigen ließ, weil ihm der Stein seiner Vorgän-ger zur Dokumentation seiner Machtfülle als zu gering vorkam (Durán 1984, II: 485).6 Ein neuer Stein sollte seinem Herrschaftsanspruch gerecht werden. Gerade der größte Stein war ihm genug, musste aber hierzu erst nach Tenochtitlan ge- 5 Gemeint ist das Ende seiner Herrschaft und der aztekischen Herrschaft. Zwischen ihnen ist Tenochtitlan sichtbar, versinnbildlicht als Steinkaktus über einem Stein-, Berg- und Wasserzeichen. 6 Es handelt sich um einen großen runden, in der Mitte mit einem Loch versehenen Stein, an den gewöhnlich zum Fest im Monat Tlacaxipehualiztli Gefangene vor ihrer Opferung gebunden und sich mit Waffenattrappen gegen richtige aztekische Krieger verteidigen mußten (Nicholson 1971: 432, Sahagún 1981: 52).

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bracht werden, was angesichts fehlender Zugtiere eine schwierige Aufgabe war. Im Zuge dieses Transports sprach der Stein auf einmal und verkündete den Ar-beitern, sich nicht weiter zu bemühen, weil die aztekische Herrschaft bald zu Ende ginge (Durán 1984, II: 488). Dieser sprechende Stein wurde von Motecuzoma als viel bedrohlicher als die Prophezeiung Nezahualpillis empfun-den, weil die Überheblichkeit des Herrschers gegenüber den Göttern als einziger Grund für den Untergang genannt wurde (Johansson 1998: 35). Mit Opferungen versuchte Motecuzoma daraufhin das Schicksal zu wenden. Auch ließ er eine Brücke bauen über die er den Stein auf die Insel transportieren lassen wollte. Doch die Brücke versagte und der Stein versank zunächst in den Fluten des Sees, nicht ohne eine Anzahl an Arbeitern mit in den Tod zu reißen (Durán 1984, II: 488). Motecuzoma schickte dennoch nach dem Stein und holte diesen zurück, um ihn letztendlich in Chapultepec, einem geschichtsträchtigen Ort im heutigen Mexiko-Stadt, bearbeiten und aufstellen zu lassen. Als der Stein endlich fertig war, weinte Motecuzoma wiederum. Sanftmütig belohnte nun Motecuzoma so-gar die Sklaven, die ihren Beitrag geleistet hatten, worauf sogar die 14 Steinmet-ze anfingen zu weinen, weil der Herrscher so großzügig mit den einen und so grausam mit den anderen war. Jede Woche kehrte Motecuzoma nun voller Trau-rigkeit zum Stein zurück und weinte dabei auch (Tezozomoc 1987: 668f.).

Von den vorherigen Ereignissen weiterhin tief beeindruckt, ließ Motecuzo-ma seine Wahrsager zusammenkommen, denn die Alten, Priester und Wahrsager waren dafür verantwortlich, Träume zu deuten (Durán 1984, II: 500, Tezozomoc 1987: 682ff.). Motecuzoma wollte von ihnen wissen, was sie geträumt hatten. Diese eröffnetem ihn, dass sie schreckliche Dinge geträumt hätten wie etwa, dass der Tempel ihrer Stammesgottheit Huitzilopochtli in Flammen aufgehen würde (Durán 1984, II: 500). Erneut erzürnte sich Motecuzoma und warf diese Wahrsa-ger ins Gefängnis. Die Priester hingegen, vom Umgang mit den Wahrsagern vorgewarnt, sagten fünfzehn Tage später nichts über ihre ebenso schrecklichen Träume aus (Durán 1984, II: 501). Motecuzoma erzürnte sich nun aufgrund die-ser Lügen und sperrte sie ebenfalls ein, worauf die Priester verlangten, lieber gleich getötet zu werden, als unter Qualen zu sterben. Motecuzoma ließ weitere Wahrsager aller Art von den umliegenden Herren kommen. Diese verneinten ebenso von schrecklichen Vorzeichen zu wissen und fügten hinzu, dass sie vor einem so großen Herrn niemals lügen würden. Auch sie wurden ins Gefängnis gesteckt, nicht ohne sich über Motecuzoma lustig zu machen, weil sie um seine Strafe wussten. Da die Wahrsager wohl aufgrund ihres Geheimwissens von den Gefängniswärtern gefürchtet waren, wurden sie freigelassen. Motecuzoma ließ daraufhin deren Häuser zerstören und Familien töten.

Insgesamt entsteht der Eindruck, der aztekische Herrscher hätte schon seit Nezahualpillis Vorsehung vom Untergang des aztekischen Reiches innere Vorbe-

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haltene gegen die eigene Gottheit Tezcatlipoca hervorgebracht. Dies galt gerade als die schlimmste Herrschaftsverfehlung und bedeutete die Sanktion der Gott-heit in Form einer schweren Katastrophe, die das Volk als ganzes treffen würde. Hinzu kam seine Arroganz der Gottheit gegenüber wie es der sprechende Stein bekundete und sein Machtmissbrauch, indem er seine Wahrsager verachtete und sie und deren Familien töten ließ. Im Sinne der aztekischen Herrschaftsideologie bedeutete dies einen Legitimationsverlust aus Sicht der Gottheit. Der Herrscher hatte versagt, „Ehre und Ruhm“ als Vorschuss verwirkt. Als Folge, dass sich der Herrscher gegenüber der Gottheit nicht demütig zeigte, konnte er von ihr keine Inspiration und Hilfe erwarten. Weder Tezcatlipoca noch eine andere Gottheit verrieten ihm die wahre Gestalt Cortés. Und auch die vermeintliche Gottheit Quetzalcoatl alias Cortés, selbst wenn sie es gewesen wäre, hätte ihm nicht wei-ter geholfen. Die sich anbahnende Katastrophe wurde augenscheinlich durch eine hausgemachte politische Krise verstärkt oder sogar verursacht, die in der Verlet-zung der ideologischen Normen seitens des aztekischen Herrschers begründet war. Der Staatszerfall war schon vor Ankunft der Spanier durch eine Legitimati-onskrise eingeleitet worden. Damit sind die Fremden nur noch ein Spiegelbild bereits bestehender Problem und nicht die alleinige Ursache für den einsetzenden Staatszerfall.

5 Institutionalisierte Konfliktlösung und Staatszerfall Die staatliche Ordnung der Azteken war durch die Gefangennahme Motecuzo-mas keineswegs soweit gefährdet, dass hierdurch schon ein Zerfall der staatli-chen Ordnung einsetzte. Vielmehr lässt sich erst eine Delegitimierung mit instituionalisierter Konfliktlösung beobachten. Die diesem Artikel zugrunde liegende These besagt, dass diese Konfliktlösung in dem Königsmord bestand. Wie dieser Tod sich ereignete, ist aber umstritten und wird vielleicht nie geklärt werden, weil sich hierzu nicht einmal der Zeitzeuge Cortés äußert. Die kolonial-zeitlichen Quellen verweisen darauf, dass Motecuzoma im Zuge eines Aufstan-des der Azteken gegen die Spanier, den der aztekische Herrscher unterbinden wollte, ums Leben kam (vgl. Abb. 5).

So soll Motecuzoma entweder durch einen Steinschlag eigener Leute oder von den Spaniern getötet worden sein. Eine plausible Erklärung im Lichte der Hypothese von der Legitimationskrise könnte sein, dass Motecuzoma tatsächlich von den eigenen Leuten getötet wurde, weil seine Unterwerfung gegenüber den Spaniern das Wohl und die Unabhängigkeit des Königtums gefährdeten (Davies 1974: 264, 269, Gillespie 1989: 227). Auch der von Motecuzoma unternommene Gang nach Cincalco, als eine rituelle Verarbeitung des nach wie vor mysteriösen

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Todes, reiht sich hier ein und wäre dann faktisch nicht vor, sondern während der Anwesenheit Cortés in Tenochtitlan erfolgt. Die Huemac-Cincalco-Episode wäre so die mythologische Verarbeitung einer in Vergessenheit geratenen Geschichte (vgl. Johansson 1998: 50). In gewisser Hinsicht sprechen sowohl diese mythopoetische Selbstmord-Theorie als auch die mögliche Ermordung durch die eigenen Landsleute für einen rituellen Königsmord. Der sakrale Königsmord oder die rituelle Königstötung ist eine aus der ethnologischen Literatur wohlbe-kannte Form: Eine schwacher König, der für Unheil verantwortlich ist oder we-gen seines Alters keine für die Gemeinschaft mehr nützlichen Kräfte besitzt, wird getötet oder in den Selbstmord getrieben. Letztendlich sollte diese Tötung auch das Königtum über die gefährliche Zeit des Interregnums hinwegretten (Kohl 1999: 65ff.). Auch schon zuvor hat es in der aztekischen Geschichte einen Königsmord gegeben. So wurde der seit 1415 regierende dritte Herrscher, Chimalpopoca, 1427 unmittelbar bevor die Azteken zur stärksten Macht in der Region aufsteigen konnten, ermordet. Lange Zeit wurde sein Erzrivale Maxtla aus dem damals mächtigen Azcapotzalco der Tat bezichtigt, nun soll es sich um einen aztekischen „Staatsstreich“ handeln, weil die vorherige politische Elite der Azteken in ihrem damaligen, dem Herrscher von Azcapotzalco noch unterwürfi-gen, eigenen Herrscher ein Hindernis zur weiteren politisch-militärischen Expan-sion sah (Santamarina 1998: 278).

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Abbildung 5: Motecuzoma Xocoyotzins Tod in Tenochtitlan durch Pfeildurchschuss auf den Stufen einer Pyramide Quelle: Codex Azcatitlan 1995: folio 23r. Weitere politische Umstände zum Zeitpunkt der spanischen Eroberung sprechen ebenso für einen Königsmord als eine institutionalisierte Konfliktlösung im azte-kischen Staat. So hatte noch vor dem Tod Motecuzomas Cacama, sein Neffe und zugleich der Herrscher von Texcoco einen Umsturzversuch unternommen, der einzig dadurch scheiterte, dass Motecuzoma ihn bei den Spaniern anzeigte. Da-raufhin schwand Motecuzoma Macht vollends und die Spanier stellten fest, dass er die von den Spaniern bereits verbotenen Menschenopferungen nicht mehr gegenüber seinen eigenen Landsleuten durchsetzen konnte. Cortés zerstörte oder beschädigte darauf die einheimischen Götterbilder als Demonstration seiner Übermacht. Als die Spanier den Azteken erlaubten ihr Monatsfest Toxcatl in Anwesenheit aller Adelsleute abzuhalten, wurden diese von den Spaniern in einen Hinterhalt getrieben und ein Großteil der aztekischen Führungsriege getö-tet (Durán 1984, II: 547f.). Dies war auch der Auslöser für den Aufstand, der

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zum Tod Motecuzomas führte. Der aztekische Herrscher muss sich von den Spa-niern betrogen gefühlt haben und fing an zu weinen. Er wusste, dass seine Landsleute Rache nehmen und ihm und seiner Familie nach dem Leben trachten würden, weil sie ihm die Schuld gaben (Durán 1984, II: 549). So geschah es, dass er und all seine Kinder getötet wurden. Der Tod bedeutete, dass Motecu-zoma seinen bei der Inthronisation geleisteten Eid sinnbildlich im Thron an einen Nachfolger übergab.

Aber auch nach Motecuzomas Tod zerfiel der aztekische Staat nicht unmit-telbar. Vielmehr ernannte die verbleibende aztekische Führungsriege zunächst Cuitlahuac, den Bruder von Motecuzoma und nach dessen Tod Cuauhtemoc, einen Neffen, zum neuen Herrscher. Cuauhtemoc konnte aber schon aufgrund des Vormarsches der Spanier nicht mehr in Tenochtitlan, sondern nur in der Schwesterstadt Tlatelolco inthronisiert werden. Hierzu hatten die Azteken, wie die Anales von Tlatelolco berichten (Klaus 1999: 137), auch das Kultbild von Huitzilopochtli mitgenommen und befanden sich in diesem Sinne bereits auf einem militärischen Rückzug, der auch den Verlust ihrer politischen Vormacht-stellung in der Region bedeutete. Im Gegensatz zu Motecuzoma stellte sich Cuauhtemoc – von Cuitlahuac wird nicht weiter berichtet – weiterhin in die Tra-dition des aztekischen Stammesgottes Huitzilopochtli und versuchte die Spanier kriegerisch zu vertreiben (Eschmann 1976: 253ff.). Allen voran erkannte er in den Fremden nicht Quetzalcoatl, sondern Barbaren (tenime). Letztendlich stellte sich erst jetzt eine militärische Konfrontation zwischen den Azteken, ihren Ver-bündeten und den inzwischen wieder aus Tenochtitlan vertriebenen Spaniern ein, die, nachdem sie eine Strategie entwickelt hatten, wie sie die Insel einnehmen könnten, im Mai 1521 zurückkehrten und nach 75 Tagen der Belagerung und einem grausamen Gemetzel an der Zivilbevölkerung, Tenochtitlan eroberten und in Schutt und Asche legten. Dieser letzte, mit allen kriegerischen Mitteln geführ-te, Verteidigungskampf wird jedoch, so aus Sicht des benachbarten Tlatelolco, nicht den Azteken, sondern den eigenen Leuten zugeschrieben. Cuauhtemoc hingegen wird als Feigling dargestellt (Klaus 1999: 139). Dies zeigt auch einen weiteren Prozess, der den aztekischen Staatszerfall von vorne herein begünstigte: Die Fremden verdeutlichten den autochthonen Stadtstaaten erstmals seit Jahr-zehnten wieder, dass die Azteken nur eine vermeintliche politisch-militärische Übermacht im Becken von Mexiko und weiter südlich davon besaßen. Im Unter-schied zu Motecuzoma glaubten sie aber, wie das Beispiel des einstigen Verbün-deten Tetzcoco (Cacama) und von Tlatelolco bezeugt, dass im Nachhinein zwar nicht mit den Fremden, aber wegen der Fremden eine wieder für sie günstigere Machtbalance entstehen würde.

Schließlich geriet Cuauhtemoc zusammen mit anderen Herrschern verbün-deter und benachbarter Stadtstaaten in Gefangenschaft. Die erste Amtshandlung

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Cortés danach war es, außer nach Gold zu verlangen, diesen und anderen autoch-thonen Herrschern klar zu machen, dass mit der spanischen Oberherrschaft die Aztekische automatisch beendet sei; es weder ihnen gegenüber weiter eine Tri-butpflicht gab, noch ihnen weiterhin das usurpierte Land gehörte (Klaus 1999: 151, León Portilla 1984: 138). Dem offiziellen Ende der aztekischen Herrschaft, verkündet durch den Sieger, folgte die Enteignung zugunsten der spanischen Krone. An die Stelle aller autochthonen Herrschaften trat die spanische Krone unter Karl dem Fünften. Auf einem neuen im Oktober 1524 begonnenen Expedi-tionszug Hernan Cortés nach Honduras nahm er den Gefangenen Cuauhtemoc mit. Als die Spanier und ihre autochthonen Gefolgsleute sowie ihr prominentes-ter Gefangener im März 1525 Station bei den Maya von Acalan machten, soll der aztekische Herrscher diese zu einem Aufstand gegen die Spanier angestachelt haben. Cortés zögerte nicht auf die Mitteilung des einheimischen Maya-Herrschers, Cuauhtemoc unmittelbar nach seiner sofortigen Taufe zu hängen (Cortés 1979: 237).7 Im entfernten Tlatelolco berichten die Einheimischen nicht weniger als mit Wehmut über das verhängte Todesurteil (Klaus 1999: 43).

6 Fazit Die staatliche Ordnung der Azteken war in zweierlei Hinsicht noch vor Ankunft der Spanier bedroht. Diese Bedrohung kam zum einen aus dem aztekischen Ge-schichtsdenken und zum anderen aus einer zwar institutionalisierten, aber letzt-endlich einzig auf den Herrscher zugeschnittenen politischen Macht, die nur wenige Mittel kannte, Krise und Überwindung einer Krise zu verbinden. Für das politische Handeln der Azteken war das zyklische Denken zwar nicht maßgeb-lich, aber zugleich konnte sich der Herrscher nicht ganz der Vorgabe der Vergan-genheit für sein eigenes zukünftiges Handeln entziehen. Dies lag vor allem da-ran, dass seine Macht gerade nach prophetischen Fähigkeiten verlangte, die bei Motecuzoma in einen Konflikt mit den eigenen politischen Ambitionen gerieten. Schon früh warnte sein Bündnispartner Nezahualpilli nicht nur vor einem dro-henden Unheil als Teil eines unveränderlichen Geschichtsverlaufs, sondern deu-tete hiermit wohl bereits auch seine herrschaftlichen Verfehlungen an: seine Ar-roganz vor den Göttern und seine Missachtung gegenüber den Untertanen, so

7 Während zentralmexikanische autochthone Quellen wie die Anales von Tlatelolco, aber auch Bil-derhandschriften wie der Codex Vaticanus 3738 auf Cuauhtemocs Tod durch Erhängung hinweisen bzw. diese auch bildlich wiedergeben, wird in der einzigen Maya-Quelle auf Chontal zu diesem Vorfall von einer Enthauptung gesprochen (Smailus 1975: 61, Scholes & Royes 1948: 392). In der Crónica Mexicayotl (Riese 2004: 324) wird die Schuld des Verrats an Cuauhtemoc einem Adligen aus Tlatelolco (Cotzemexi) zugeschrieben.

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wie es später im Umgang mit dem sprechenden Stein ganz deutlich werden soll-te. Entsprechend löste das Auftauchen der Spanier keine Staatskrise aus, sondern verschärfte bereits dahingehende politische Probleme, für die im Ausnahmefall die aztekische Herrschaft wohl den rituellen Königsmord vorsah.

Weil außer über das politische Handeln des Herrschers bei den Azteken nicht viel bekannt ist, bleiben die genauen Gründe für die Legitimationskrise, in der sich Motecuzoma seit 1515 befand recht vage. Diese konnte mit der Ankunft der Spanier nur ver- oder entschärft werden; führte vorläufig aber erst einmal zu einer Verschiebung der vielleicht sonst früher vollzogenen Delegitimierung. Da Motecuzoma anstatt mit den Wahrsagern gemeinsam einen Ausweg aus den Vorsehungen und dem durch die Spanier drohenden Unheil zu finden seine eige-nen wahrsagerischen Ansichten und politischen Ambitionen überordnete, wurden insgesamt gleich mehrere Legitimationsprinzipien der Herrschaft verletzt und dürften für Entrüstung beim aztekischen Adel gesorgt haben. Weil seine Deutung der Spanier als Rückkehrer des legendären Quetzalcoatl Topiltzin sich spätestens beim Töten der aztekischen Führungsschicht in Tenochtitlan als falsch erwies, dürfte klar gewesen sein, dass ihm von der Gottheit das Vertrauen entzogen wor-den war. Mit der Beteiligung an der Zerstörung der eigenen Götterbilder miss-achtete Motecuzoma unwiderruflich die göttliche Herrschaft und seine Gefan-gennahme und Unterwerfung gegenüber den Spaniern führten die Azteken wie-der in die dunkle Zeit ihrer Anfänge am See von Tetzcoco zurück, als sie selbst Vasallen anderer Stadtstaaten wie Azcapotzalco waren. Dies kam einem Bruch mit dem Auftrag ihrer Stammesgottheit gleich. Motecuzomas Bemühungen in den alten Bilderhandschriften Anweisungen für seinen Umgang mit den Spaniern zu finden, blieben erfolglos, weil er sich auf eine falsche Deutung eingelassen hatte. Da half auch die durch einen alten Mann gewonnene Einsicht nicht mehr, dass die Spanier eine unmittelbar drohende Gefahr für den aztekischen Staat darstellten. Letztendlich hatte Motecuzoma zuvor schon seine Möglichkeiten verspielt, den Azteken als Herrscher weiter nützlich zu sein.

Die Episode um seinen Selbstmord in Cincalco und sein letztendlich ge-waltsamer Tod auf den Stufen einer Pyramide in Tenochtitlan könnten Ausdruck für einen von den Azteken praktizierten rituellen Königsmord sein, mit dem die verlorene Kraft des fehlgeleiteten Herrschers restituiert werden sollte. Leider ist über seinen kurz nach der Inthronisation bereits an Pocken verstorbenen Nach-folger (Cuitlahuac) nicht viel bekannt. Doch zeigt die anschließende Einsetzung des letzten aztekischen Herrschers (Cuauhtemoc), dass es trotz der bedrohlichen Situation noch eine funktionierende institutionelle staatliche Ordnung gegeben haben muss. So kam es in der Legitimationskrise zunächst nur zu einer Trans-formation innerhalb der staatlichen Ordnung auf der Basis einer geordneten Ab-lösung einer Herrschaft auf Ebene der Regierenden. Mit dieser Delegitimierung

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änderte sich die politische Zielsetzung. Der neue Herrscher und seine Führungs-schicht brauchten die Vergangenheit nicht weiter zu hinterfragen, weil inzwi-schen ihre politische und militärische Machtposition viel zu sehr bedroht war. Statt dessen ergriffen sie ihre Waffen, um einen drohenden Staatszerfall aufzu-halten, für den maßgeblich Kräfte von außen verantwortlich waren, deren Ein-greifen die bereits vorhandene Legitimationskrise verschärft und auch zu erheb-lichen Spannungen innerhalb der Regierenden geführt hatte. Die neue Ausrich-tung blieb letztendlich deswegen erfolglos, weil die Azteken weder in der Positi-on waren, die von den Spaniern als Verbündete gewonnenen Feinde der Azteken von der Falschheit der Spanier zu überzeugen, noch die Zeit hatten, ihre eigenen Verbündeten für eine militärische Zielsetzung zu gewinnen, von der letztendlich auch sie profitiert hätten.

Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass der aztekische Staatszerfall einer Verkettung von innen- und außenpolitischen Umständen zuzuschreiben ist, für die es nur für die von innen herbeigeführten Verfehlungen eine institutionelle Konfliktlösung, den Königsmord, gab. Für die von außen zusätzlich entstandene bedrohliche Lage gab es im Rahmen des eigenen Geschichtsdenkens nur das altbewährte Mittel, sich zunächst mit Hilfe von Zauberei zur Wehr zu setzten und, im Falle eines Scheiterns, die Macht weiterhin durch Unterwerfung bzw. durch Tributleistungen (jedenfalls dem mesoamerikanischen Verständnis nach) aufrecht zu erhalten. Neben diesen traditionellen Lösungen kam die militärische Konfrontation erst im Zuge einer wirklich ernsten Bedrohung des Staatsapparats selbst als größere Lösung in Frage.

Der aztekische Staatszerfall nahm jedoch seinen Anfang vor Ankunft der Spanier, als Folge von herrschaftlichen Anmaßungen und Verfehlungen im Zuge eines ehrgeizigen politischen Programms. Der aztekische Staat befand sich ent-sprechend schon in einer politischen Krise, die sich mit Ankunft der Spanier nur noch verschärfte. Nunmehr ergaben sich allerdings im Inneren des aztekischen Staates andere Zielsetzungen. Hätte ohne die Spanier vielleicht schon bald ein Königsmord als institutionelle Konfliktlösung gedient, die Tyrannei Motecu-zomas zu beenden, bedurfte es jetzt einer anderen Strategie. In Frage gestellt schien (vorläufig) nicht mehr (einzig) der aztekische Herrscher, sondern entwe-der, wie es Motecuzoma sah, die politisch-religiöse Doktrin um den Kult um Huitzilopochtli und Tezcatlipoca oder wie es andere, vor allem die Verbündeten (Cacama) taten und insgesamt hofften, schlechthin die gesamte aztekische Herr-schaftsordnung. Analog zur Situation vor Ankunft der Spanier bei den verschie-denen Vorsehungen, erwies sich allerdings auch in dieser Situation Motecuzoma als unfähig, die Ereignisse richtig zu deuten bzw. die richtigen Gegenmaßnah-men einzuleiten. Zugleich wurde durch dieses neue Ereignis der Königsmord als institutionelle Konfliktlösung trotz des schwelenden internen Konflikts sicherlich

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hinausgezögert. Erst viel zu spät versuchte dann die aztekische Führungsriege hierdurch, längst mitten im Verteidigungskampf gegen die Spanier, den azteki-schen Staat vor seinem inneren Zerfall zu retten. Letztendlich war aber der von außen forcierte Staatszerfall nicht mehr aufzuhalten, zumal die Verbündeten und andere autochthone Stadtstaaten in der Schwächung der Azteken eher ihre eigene Stärkung erkannten als sich selbst von den Spaniern bedroht zu sehen. Eine vor-zeitige Unterwerfung war bereits deswegen schon nicht mehr möglich. Die Er-oberung Zentralmexikos durch die Spanier im 16. Jahrhundert bedeutete aber das Ende jeder autochthonen staatlichen Organisation in Zentralmexiko. Literatur Bandelier, Adolph (1880): „On the Social Organization and Mode of Government of the

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„Tupaj Katari vive y vuelve, Carajo!“ – Politische Herrschaft jenseits des Staates: Die Aymara und die CSUTCB in Bolivien Bettina Schorr

1 Einleitung Bolivien im Herzen Südamerikas gilt als einer der ärmsten und politisch insta-bilsten Staaten des Subkontinentes. Neben der schlechten ökonomischen Lage sind in den letzten Jahren vor allem die anhaltende Diskriminierung der indige-nen Bevölkerung und die Korruptionsanfälligkeit der politischen Eliten immer wieder Auslöser schwerwiegender politischer Krisen gewesen. Aufgrund dieser Entwicklung wurde dem Land zu Beginn des neuen Jahrtausends ein einsetzen-der Staatszerfall diagnostiziert (Grabendorf 2003: 3).

In dem weitläufigen und infrastrukturell nur gering erschlossenen Territori-um ist die staatliche Präsenz seit jeher dünn. Ganze Landstriche zeichnen sich vor allem durch Staatsferne aus. Darüber hinaus kam es in den Jahren zwischen 2000 und 2004 zu mehrfachen Aufständen und anhaltenden Protesten, in deren Rahmen der Zentralstaat und seine Funktionäre aus einigen Regionen vollständig verdrängt wurden. In der Folge zeigte sich, dass dort nicht-staatliche Organisati-onen politische Ordnungsfunktionen übernahmen und damit als „parasouveräne“ Machtzentren neben der Zentralgewalt bestanden. Zu diesen Gebieten zählen die Region Chapare, das größte illegale Kokaanbaugebiet des Landes, und die von den Aymara bewohnten hochandinen Gebiete, vor allem im Department La Paz. Im Chapare findet politische Regulation vor allem im Rahmen der Kokaproduzen-tengewerkschaften statt. Bei den Aymarakommunen spielen neben den ländli-chen Gewerkschaften, die im nationalen Dachverband CSUTCB (Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia) zusammengeschlossen sind, auch autochthone Ordnungsmodelle eine große Rolle.

Der folgende Beitrag konzentriert sich auf die politischen Organisations-formen der Aymaragemeinden und ihre Beziehungen zum bolivianischen Zent-ralstaat. Er gliedert sich in fünf Abschnitte: Nach einem Abriss über die Ge-schichte der Aymaragemeinschaften und die Entwicklung der ländlichen Ge-werkschaftsbewegung wird das traditionale Ordnungssystem der Aymara vorge-

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_4,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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stellt. Dabei ist zu beachten, dass es sich um die Beschreibung eines Idealtypus handelt, dessen Ausgestaltung in der Realität stark variiert.

Danach werden die Organisation und die Funktionsweise des ländlichen Gewerkschaftsdachverbandes CSUTCB erläutert, der insbesondere über die lokale Ebene hinaus von großer Bedeutung ist. Daran anschließend stellt sich die Frage nach den Ursachen für die Legitimität der parastaatlichen Ordnungen.

Zuletzt folgt eine Analyse der Beziehungen zwischen Aymaragemein-schaften, Gewerkschaftsverband und Zentralstaat, die seit jeher zwischen Koope-ration und Konfrontation schwanken. Nach 2000 verschlechterte sich das Ver-hältnis allerdings zunehmend. Als Proteste der Gewerkschaften vom Militär blutig niedergeschlagen wurden, kam es 2001 zwischen den Parteien zum offe-nen Bruch, der in eine kurzzeitige de facto-Autonomie der Aymaragebiete im Department La Paz mündete. Der letzte Teil des Beitrags resümiert die Entwicklungen seit 2004, die, verstärkt durch die Wahl des Aymara Evo Morales Ayma zum neuen bolivianischen Prä-sidenten (Ende 2005), die Rückkehr des Staates in die Aymaragebiete ermöglich-ten. Zentralgewalt und parasouveräne Ordnungen leben seither in einer Art fried-licher Koexistenz, die jedoch nach wie vor zerbrechlich ist.

2 Historischer Abriss Die traditionellen Gebiete der Aymara erstrecken sich über das andine Hochpla-teau, das heute zu drei Nationalstaaten gehört: Peru, Bolivien und Chile. Mit ca. zwei Millionen Menschen stellen die Aymara in Bolivien nach den Quechua die zweitgrößte der insgesamt 36 ethnischen Gruppen des Landes dar. Sie siedeln vorrangig in den Departments Potosí, Oruro und La Paz. Kleinere Migran-tengemeinschaften finden sich auch im Tiefland (in den Departments Santa Cruz, Beni und Pando) und in den traditionellen Kokaanbaugebieten der Yungas am Ostabhang der Anden. Neben Quechua, Guaraní und Spanisch ist Aymara als offizielle Landessprache verfassungsmäßig anerkannt.

Die Aymara gelten als eine der ältesten noch lebendigen Volksgruppen der Hochanden. Aus dem Großreich von Tiahuanacu, das aus bislang unbekannten Gründen um das 12. Jh. zerfiel, entstanden mehrere Aymara-Fürstentümer (señoríos aymaras). Deren Herrscher befahlen über Territorien, auf denen kleine, weit verstreute Agrargemeinschaften lebten, die ihrerseits in größeren verwandt-schaftlichen Zusammenhängen, so genannten ayllus, organisiert waren. Trotz großer kultureller Ähnlichkeiten kam es häufig zu kriegerischen Auseinanderset-zungen zwischen den einzelnen Herrscherhäusern (Ibarra/Querejazu 1986: 261).

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Im 15. Jh. dehnten die Inka, deren Zentrum die Stadt Cusco im Süden des heutigen Peru war, ihr Imperium auf die andine Hochebene aus. Ihre Herrschaft berührte die sozioökonomische Organisation der Aymara allerdings kaum. So-lange diese den ihnen auferlegten Verpflichtungen nachkamen, wie z.B. der Erbringung regelmäßiger Abgaben, genossen sie weitgehende Selbstverwal-tungsrechte (Espinoza Soriano 1997: 379-380).1

Etwa hundert Jahre später drangen die Spanier in die Hochanden vor und begannen, sie zu kolonisieren. Trotz der massiven Versklavung, Unterdrückung und Missionierung der autochthonen Bevölkerung ermöglichte die, von der spa-nischen Krone für das gesamte Kolonialreich verfügte, strikte formale Trennung in eine „Republik der Spanier“ und eine „Republik der Indios“ den präkolonialen kommunalen Organisationsformen ein Fortbestehen – wenngleich sie sich an die neuen Verhältnisse anpassen mussten.2 Erst die Gründung der Republik Bolivien 1825 wurde für die Aymara-gemeinschaften (wie auch für andere autochthone Gruppen) zur existentiellen Bedrohung. Das sich mit der Unabhängigkeit ausbreitende Hazienda-System verdrängte die Gemeinschaften vielerorts. Während sie mit der Privatisierung der kollektiven Ländereien ihre materielle Grundlage verloren, wurden die Bewoh-ner gezwungen, auf den Landgütern der hacendados Zwangsarbeit zu verrichten. In diesem Kontext überlebten die originären Organisationsformen nur in sehr reduzierter Form. Grundsätzlich gilt: Je stärker das Hazienda-System in einer Gegend ausgeprägt war, desto weniger konnten sich die autochthonen Organisa-tionen erhalten.

1952 gelangte nach einem kurzen Volksaufstand die mestizisch-bürgerliche nationalrevolutionäre Partei MNR (Movimiento Nacional Revolucionario) an die Macht, die, gestützt auf die organisierte Arbeiterschaft, tiefgreifende Reformen auf den Weg brachte: Allgemeine Bürgerrechte wurden eingeführt und das stark restriktive Zensuswahlrecht durch ein allgemeines ersetzt. Dadurch wurde die ländliche, indigene Bevölkerung erstmalig am politischen Leben des Landes beteiligt. Die feudalen Abhängigkeitsverhältnisse des Hazienda-Systems ver-schwanden mit der Landreform, die im Altiplano die Umverteilung der fruchtba-ren Ländereien zu Gunsten der bis dahin rechtlosen Bauern verfügte. Darüber 1 Die Inka verlegten zur Herrschaftssicherung quechuastämmige Gruppen aus der Gegend um Cusco in die Aymaragebiete (so genannte mitimaes). Zusammen mit den Migrationsbewegungen, die im Andenraum während der Kolonialzeit im Rahmen der Mitaverpflichtung (Zwangsarbeit u.a. im Silberbergwerk von Potosí) stattfanden, sind dies die Gründe für die Existenz der beiden großen ethnischen Gruppen im Gebiet des Nationalstaates Boliviens. 2 Mit den Toledanischen Reformen von 1572 wurde die Zusammenlegung der indianischen Streuge-höfte in größere Orte, so genannte Reduktionen, verfügt. Dies löste die autochthonen Strukturen zum Teil auf, zum Teil erneuerten sie sich und passten sich den neuen Gegebenheiten an. Vor allem in entlegenen Gebieten konnten sie überleben.

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hinaus instruierte das Dekret zur Agrarreform (Decreto Ley de Reforma Agraria y de Sindicalización) die flächendeckende Gründung ländlicher Gewerkschaften (Hurtado 1986: 23). Nur über diese Gewerkschaften hatten die Bauern Zugang zu Ländereien. Diese Politik der staatlich kontrollierten gewerkschaftlichen Or-ganisation verfolgte zwei Ziele: Zum einen sollten die Bauerngewerkschaften, an der Seite der Arbeiter und flankiert durch bewaffnete Milizen, Bollwerke gegen etwaige Angriffe auf die revolutionären Errungenschaften bilden. Zum anderen entsprach sie der von der MNR propagierten Vision eines kulturell homogenen Nationalstaates. Um die bis dahin ausgegrenzten indigenen Bevölkerungsteile des Hochlandes auf der Grundlage eines staatskapitalistischen Entwicklungssys-tems in den Nationalstaat zu integrieren, mussten zuvor ihre identitären Selbstzu-schreibungen und politischen Loyalitäten verändert werden. Aus dem Indio soll-te der den revolutionären Zielen verpflichtete Campesino (Bauer) werden, der sich mit der modernistischen Gesellschaftsvision der nationalrevolutionären Regierung identifizierte. Die gewerkschaftlichen Organisationen lieferten die Infrastruktur für die Verbreitung des nationalrevolutionären Gedankengutes und für die Beteiligung der Bauern. Gleichzeitig stellten sie auch ein effektives In-strument zur Kontrolle der ländlichen Einwohnerschaft dar (Dunkerley 1984).

In den Jahren nach der Revolution kam es unter Anleitung der seit 1953 im Dachverband COB (Central Obrera Boliviana) organisierten Arbeiter, unter Führung der besonders militanten Bergarbeitergewerkschaften, zu einer Ausbrei-tung der gewerkschaftlichen Organisationen im ländlichen Raum. Besonders dort, wo die traditionalen Strukturen infolge der Hazienda-Ausbreitung nicht mehr existierten, avancierten die Basisgewerkschaften zu lokalen Regierungssys-temen.

Die Allianz zwischen den ländlichen Gewerkschaften und den Arbeiterver-bänden einerseits und der nationalrevolutionären Regierung andererseits hielt allerdings nicht lange an. Bereits ab 1956 zeichnete sich eine deutliche Rückbil-dung der revolutionären Errungenschaften ab. Die MNR-Regierung versäumte es, ihren Integrationsversprechen gegenüber der ländlichen Bevölkerung Taten folgen zu lassen. Letztlich führte die Enttäuschung über die Regierungspolitik, zusammen mit einem wachsenden Unmut über die Funktionäre der COB, die den Bauern ein größeres Mitspracherecht im Rahmen ihres Dachverbandes verwehr-ten, zum Bündnis der Landgewerkschaften mit dem Militär (Ticona/Rojas/Albó 1995: 134). 1964 putschte sich General René Barrientos gegen die zerstrittene MNR-Regierung an die Macht. Zur Absicherung seiner Herrschaft gegen die in den Minengebieten erbittert Widerstand leistenden Bergarbeitergewerkschaften rief der quechuasprachige und bei der Landbevölkerung, vor allem der Region Cochabamba, beliebte Barrientos einen Pakt zwischen Bauernschaft und Militär ins Leben (Pacto Campesino Militar, PCM). Bald darauf schlossen sich die

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Landarbeitergewerkschaften in dem staatlich kontrollierten Dachverband CNTCB (Confederación Nacional de Trabajadores Campesinos de Bolivia) zusammen (García Linera et al. 2004: 111-113).

Der Pacto Campesino Militar geriet erstmalig schon 1967 ins Wanken, als Barrientos versuchte, eine allgemeine Steuer auf Agrarprodukte einzuführen. Zum Bruch kam es schließlich während der Diktatur Hugo Banzers (1972-1978), der Proteste gegen seine Finanzpolitik blutig niederschlagen ließ (Masacre de Valle 1974) und danach einen stark repressiven Kurs gegen jede Form von Op-position einschlug (Hurtado 1986: 65).

Die fortschreitende Delegitimierung des PCM nach 1967 führte zur Grün-dung kleiner, unabhängiger Gewerkschaften, die zum Teil von aus dem Unter-grund operierenden, marxistischen Parteien unterstützt wurden. In diese Zeit fällt auch der Beginn der Kataristenbewegung der Aymara. Deren Leitfigur und Na-mensgeber war Julián Apaza Tupaq Katari, der Ende des 18. Jh. einen der größ-ten Aufstände gegen die spanische Kolonialmacht in Lateinamerika angeführt hatte. Mit einem Diskurs, der die ethnische Identität stark betonte und eine An-erkennung der kulturellen Eigenheiten der indigenen Völker einforderte, ver-suchten die Kataristen – in der Mehrzahl studierte und urbanisierte Aymara aus La Paz, die in engem Kontakt zu ihren Heimatorten standen – die Aymara-gemeinschaften zu mobilisieren (Hurtado 1986). Im „Manifest von Tiahuanacu“, das 1973 vor über zweitausend Bauernvertretern in der gleichnamigen histori-schen Tempelanlage verlesen wurde, nannten die Autoren erstmalig neben öko-nomischen und politischen Faktoren auch kulturelle und ideologische Motive als verantwortlich für die Ausbeutung der Bauernschaft. Das Manifest gilt als Aus-gangspunkt einer verstärkten Politisierung der ethnischen Identität, die zur Ent-stehung eines Nationalbewusstseins unter den Aymara führte (Assies/Salman 2005; Rivera 2003).

Nachdem mit Genaro Flores 1978 eine der Gründungspersonen der Kataris-tenbewegung die Führung des offiziellen Gewerkschaftsdachverbandes CNTCB übernommen und ihn in CNTCB-Tupaq Katari umbenannt hatte, folgte eine Phase der neuerlichen Annäherung an die Arbeiterschaft. Infolgedessen fusionier-ten auf Betreiben der COB 1979 drei unabhängige Verbände zur Confederación Sindical Única de Trabajadores Campesinos de Bolivia (CSUTCB), die sich zur alleinigen Vertretung der bolivianischen Bauern erklärte und ihre Bereitschaft zur Allianz mit den Arbeitern, den „natürlichen Verbündeten“, bekräftigte. An der Seite der COB wurde die neu geschaffene CSUTCB bald zum treibenden Motor im Kampf um die Rückkehr zur Demokratie, die schließlich 1982 durch-gesetzt werden konnte.

Die Kataristen besetzten lange Zeit Schlüsselpositionen an der Spitze des Dachverbandes. Ihr ethnisch geprägter Diskurs blieb langfristig allerdings auf

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elitäre Aymara-Kreise beschränkt und schaffte keinen Durchbruch an der gesell-schaftlichen Basis – schon gar nicht über die Aymara-Territorien hinaus. Auch im Inneren der CSUTCB konnte sich keine einheitliche, auf die Politisierung der ethnischen Identität abzielende Linie etablieren. Noch heute konkurrieren indianistische Positionen mit links-reformistischen, leninistisch-trotzkistischen und nationalistischen Strömungen (García Linera et al. 2004: 117-118). Mit der Rückkehr der Demokratie gerieten die Kataristen in eine schwere Krise. Interne Streitigkeiten und Rivalitäten führten zur Spaltung der Bewegung in eine Viel-zahl kleiner, untereinander zerstrittener Parteien (Pacheco 1992). Ein Teil der Kataristenelite ließ sich zudem im Rahmen eines „staatlichen Indigenismus“ auf eine Allianz mit der liberalen Regierung von Gónzalo Sánchez de Lozada ein. Deutlichster Ausdruck dieses Bündnisses war der damalige Vizepräsident Víctor Hugo Cárdenas, einer der Mitbegründer der Kataristenbewegung (Albó 1993).

Bereits ab 1986 nahm ein radikaler Aymaraflügel als ayllus rojos (Rote Ayllus) bzw. als Ejército Guerrillero Túpaq Katari (EGTK) den bewaffneten Kampf auf. Einer ihrer Anführer war Felipe Quispe Huanca, der eine Ideologie propagierte, in der sich indianistische mit leninistisch-revolutionären Positionen mischten – daher das „rot“ im Namen – und der die Selbstbestimmung der „ori-ginären Nationen“ forderte (García Linera et al. 2004: 118). Anfang der 1990er Jahre wurde Quispe gefasst und inhaftiert. Während der Gefangenschaft schrieb er ein Buch mit dem Titel „Tupaq Katari vive y vuelve, Carajo!“ („Túpaq Katari lebt und kehrt zurück, verdammt!“), das seine politischen Ideen resümierte und der Katariverehrung neuen Auftrieb verschaffte.

Währenddessen setzten sich an der Spitze der CSUTCB Funktionäre durch, die sich erneut an linksnationalistischen Ideen orientierten. 1994 übernahm der Quechua Félix Santos den Vorsitz des Dachverbandes, woraufhin sich die ethni-schen Verweise im Vokabular der Funktionäre zunächst deutlich reduzierten. Felipe Quispe, 1995 aus der Haft entlassen, schaffte 1998 den Aufstieg zum Exekutivsekretär der CSUTCB. Unter seiner Führung kehrte die Politisierung ethnischer Fragen mit Nachdruck zurück und wandelte sich von einem Elitendis-kurs zu einer Idee, der schließlich Massen folgten. Sein radikal-ethnischer Kurs führte aber auch zur Spaltung der CSUTCB in eine Aymara-Fraktion unter Quis-pe und ein moderateres Lager unter Román Loayza aus Cochabamba. Nach eini-gen Jahren des „gewerkschaftlichen Parallelismus“ ermöglichte Quispes Rück-tritt im Jahre 2005 die „Wiedervereinigung“ des gespaltenen Dachverbandes. Heute steht der geeinten CSUTCB mit Isaac Ávalos zum ersten Mal ein Landar-beiter aus dem östlichen Tiefland vor, der wie Loayza als treuer Verbündeter der Regierung Morales gilt.

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3 Versammlungssouveränität und Rotationsprinzip Trotz aller Veränderungen, denen die Aymarakommunen im Laufe der Zeit un-terlagen, zeichnen sie sich auch heute noch durch einen hohen Grad an Selbst-verwaltung nach traditionalen Vorstellungen aus. Die kleinsten Einheiten sind die comunidades originarias (originäre Gemeinschaften), die teilweise mit ande-ren zusammengefasst ayllus bilden. Der Begriff ayllu benennt nicht nur be-stimmte Formen der politischen Entscheidungsfindung, sondern beinhaltet eine breite Verflechtung politischer, sozialer, verwandtschaftlicher und religiös-kosmologischer Anschauungen und deren Institutionalisierungen im alltäglichen Zusammenleben (Ströbele-Gregor 1994: 468). Nicht alle ayllus entsprechen althergebrachten Strukturen. Gerade in den letzten Jahren ist in manchen Gegen-den ein Prozess der „Neugründung“ von ayllus durch den Zusammenschluss mehrerer comunidades initiiert worden (Mamani 2004: 50; García Linera et al. 2004: 325).

Die oberste Entscheidungsinstanz einer Aymaragemeinschaft ist die kom-munale Vollversammlung, in der die politisch Mündigen – im Aymara als jhaqi bezeichnet – zusammenkommen. Jhaqi sind in der Regel Familienvorstände, verheiratete Männer, die kommunale Ländereien bewirtschaften. Die Koppelung von politischer Mündigkeit und Landbesitz resultiert aus dem im andinen Raum vorherrschenden reziproken Weltverständnis: Die Aymaragemeinschaften ver-walten ihre Ackerböden traditionell im Kollektiv, Land wird von der Versamm-lung zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug dafür ist der jhaqi verpflichtet, der Gemeinschaft zu dienen, was neben der Teilnahme an der Versammlung auch die Übernahme öffentlicher Ämter umfasst (Ticona/Rojas/Albó 1995: 79-81). Frauen spielen in den politischen Strukturen der Kommunen eine untergeordnete Rolle und partizipieren an den politischen Entscheidungen in der Regel indirekt über ihre Ehemänner. Politische Ämter bekleiden sie nur in seltenen Fällen (Ticona/Rojas/Albó 1995: 86-87; Spedding/Arnold 2005).3

Die Versammlung regelt alle Aspekte des gemeinschaftlichen Zusammen-lebens: Neben der Verwaltung und Kontrolle der Umweltressourcen, vor allem des Acker- und Weidelandes, obliegt ihr die interne Regulierung und Streit-schlichtung sowie die Ausgestaltung religiös-ritueller Praktiken. Sie kommt regelmäßig zusammen, meistens einmal im Monat, bei Bedarf aber auch öfter. Entscheidungen trifft sie mit wenigen Ausnahmen, etwa in besonders dringenden Fällen, im Konsens. Das bedeutet in der Praxis, dass die Zusammenkünfte so 3 Witwen können anstelle ihrer verstorbenen Ehemänner an den Versammlungen teilnehmen. In einigen Gemeinschaften hat sich aber auch ein „duales Machtprinzip“ erhalten bzw. ist wieder einge-führt worden, nach dem die wichtigsten Ämter von Frau und Mann (chacha-warmi) bekleidet werden müssen (Ticona/Rojas/Albó 1995: 86-87).

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lange andauern, bis ein für alle Anwesenden tragbarer Beschluss gefasst werden kann. Dabei ist es durchaus gängig, dass Einzelne die Entscheidung der Mehrheit mittragen, ohne selbst davon überzeugt zu sein. Kulturelle Basis dieses Verhal-tens ist eine tief im kollektiven Gedächtnis der Aymara (und anderer andiner Völker) wurzelnde Vorstellung vom unbedingten Primat des Kollektivs vor dem Individuum. Die Gemeinschaft stellt in den tradierten autochthonen Sinnsyste-men den Ausgangs- und Zielpunkt individueller Handlungsentscheidungen dar. Obwohl diese Verhaltenslogik durch die Berührung mit der von den Städten ausgehenden westlichen Moderne zu bröckeln beginnt, verfügt sie in den meisten Gemeinschaften noch immer über eine ungebrochene – und zum Teil in den letzten Jahren gestärkte – Gültigkeit (Kaltmeier 1999; García Linera 2005: 40).

In institutioneller Hinsicht ist das politische System der Aymara nur wenig ausdifferenziert. Nach der kommunalen Vollversammlung gilt der jilakata als die höchste Autorität der Gemeinschaft.4 Von der Versammlung für ein Jahr bestellt, vereint das Amt exekutive, legislative, juridische und religiös-magische Funktionen. Der jilakata beruft die Vollversammlung ein und trägt Sorge für die Ausführung ihrer Beschlüsse. Er fungiert als oberster Richter im Rahmen der oral tradierten und von Gemeinschaft zu Gemeinschaft variierenden kommuna-len Justiz (justicia comunitaria) und ist für religiöse Aspekte, etwa die Durch-führung von Ritualen, verantwortlich. Insofern der jilakata in der Versammlung Recht spricht und interpretiert, entwickelt er dieses weiter und erfüllt damit le-gislative Aufgaben (Ströbele-Gregor 1994: 472). Im Rahmen der Versammlun-gen agiert er als Moderator und gibt in der Regel bei den zur Entscheidung ste-henden Fragen die Marschrichtung vor. Neben dem jilakata existieren noch eine Reihe weiterer Ämter, die kleinere oder weniger wichtige Aufgaben umfassen und von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedlich ausfallen.5 Sie alle werden durch die Versammlung für ein Jahr im Konsens bestimmt.

Für die Ämtervergabe gilt das Rotationsprinzip. Jeder erwachsene Mann, jeder jhaqi, sollte idealerweise im Verlauf seines Lebens die gesamte Skala der Ämterhierarchie durchlaufen. Diese Ämterlaufbahn wird als thaki (Weg) be-zeichnet und beginnt mit der Übernahme kleinerer Aufgaben in jungen Jahren. Werden diese zufriedenstellend ausgeführt, rücken die Amtsträger in verantwor-tungsvollere Positionen nach. Der Weg endet mit der Begleitung des obersten Amtes der jeweiligen Gemeinschaft, in der Regel das des jilakata (Ticona 2003: 125-146). Die Amtsträger erhalten keine materielle Vergütung, vielmehr wird die politische Arbeit im Sinne des kollektivistischen und reziproken Weltver- 4 Der Begriff Jilakata bedeutet im Aymara „großer Bruder“, was seine Funktion als Primus inter Pares unterstreicht. Die Bezeichnung variiert; in anderen Gegenden heißen die obersten Amtsträger jilanqu, kuraca oder mallku (Ticona/Rojas/Albó 1995: 84). 5 Z.B. Schriftführer, Schul- oder Viehbeauftragte, Organisatoren bestimmter Feste etc.

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ständnisses als Verantwortung und Dienst an der Gemeinschaft verstanden, dem jeder nachzukommen verpflichtet ist (Schilling-Vacaflor 2007: 5; Ticona/ Rojas/Albó 1995: 83-84; Tapia 2006: 76). Gerade die Übernahme höherer Funk-tionen gilt nicht nur als Ehre, sondern auch als Last, da sie den Verantwortlichen zum Teil erhebliche materielle Opfer abverlangt. So fordern manche Ämter, als Mechanismus der sozialen Umverteilung, die (zumeist religiös inspirierten) Feste der Gemeinschaft auszurichten (Ticona/Rojas/Albó 1995: 81).

Die von der Versammlung besetzten Amtsträger sind keine Delegierten; es ist ihnen nur in Ausnahmefällen gestattet, eigenmächtig Entscheidungen zu tref-fen. Sie tragen in erster Linie Verantwortung für die Ausführung der zuvor ge-meinsam getroffenen Beschlüsse und deren Vertretung nach außen (Schilling-Vacaflor 2007: 5; Van Cott 2000: 192). Dabei unterliegen sie einer permanenten Kontrolle durch die Gemeinschaft, vor deren Versammlung sie regelmäßig zur Ablegung von Rechenschaft verpflichtet sind. Stößt eine Amtsführung auf Miss-fallen, ist die Versammlung berechtigt, Sanktionen auszusprechen, die von der einfachen öffentlichen Rüge über Geldbußen bis hin zu körperlichen Strafen und, im schlimmsten Falle, der Aberkennung der Landrechte reichen können (García Linera et. al. 2004: 166-167). Insbesondere die kollektive Kontrolle des Acker-landes wirkt stark regulierend gegenüber dem Einzelnen und damit systemstüt-zend gegenüber dem Ganzen (Ticona/Rojas/Albó 1995: 93). 4 CSUTCB: Organisation und Funktionsweise Bei den ayllus und Kommunen handelt es sich um kleine, überschaubare Einhei-ten, deren politischer Wirkbereich nicht über die lokale Ebene hinausgeht. Be-ziehungen zwischen den Gemeinschaften bzw. zwischen ihnen und höheren Ebenen bis hin zum Zentralstaat finden deswegen vorwiegend im Rahmen der gewerkschaftlichen Strukturen der CSUTCB statt (Ticona/Rojas/Albó 1995: 126).

Die CSUTCB zeichnet sich durch eine strikte formelle Hierarchie aus, die in den Gründungsstatuten von 1979 festgelegt ist. Auf ihrer untersten Ebene befinden sich die Basisgewerkschaften oder sindicatos agrarios, die deckungs-gleich mit den Kommunen sind. Als Folge des massiven „Vergewerk-schaftlichung“ nach 1952 ist jede comunidad automatisch auch ein sindicato. Mit Blick auf die traditionalen Organisationen ergeben sich hier drei verschiedene Konstellationen: Teils sind die gewerkschaftlichen Strukturen in unterschiedli-chem Maße mit dem traditionellen Ordnungsgefüge fusioniert. Der jilakata fun-giert dann gleichzeitig als Gewerkschaftsführer seiner comunidad. In anderen Gegenden existieren Gewerkschaften und traditionale Ordnungen getrennt und

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parallel zueinander, was mitunter zu Konkurrenzkämpfen führt. Dies ist etwa in einigen Aymaragemeinschaften im westlichen Altiplano des Departments Oruro der Fall, wo die gewerkschaftliche Organisationsform inzwischen als fremd und von außen auferlegt abgelehnt wird. Seit 1997 organisieren sich die dortigen ayllus, deren Ordnungsvorstellungen in den letzten Jahren auch in anderen Ge-genden des Landes auf Resonanz gestoßen sind, im „Nationalen Rat der Markas und Ayllus des Kollasuyo“ (Consejo Nacional de Marcas y Ayllus del Qullasuyu, CONAMAQ), der sich als ethnische Gegenorganisation zu den Ge-werkschaften begreift. Im Rahmen des CONAMAQ sind die traditionalen Ord-nungen nicht nur auf der lokalen Ebene gestärkt worden, auch größere überregi-onale Einheiten wurden neu geschaffen und haben sich als so genannte markas neu konstituiert (García Linera et al. 2004: 323-328). Zuletzt gibt es Gegenden (die Täler von Cochabamba, Chapare, die Kolonisationsgebiete im Tiefland oder die Yungas von La Paz) in denen die traditionalen Systeme keine Rolle (mehr) spielen. Dort treten die Gewerkschaften als alleinige lokale Ordnungsformen auf, in deren Rahmen die Gemeinschaften ihr Zusammenleben organisieren.

Die sindicatos eines Gebietes gruppieren sich auf der nächsten Stufe der Gewerkschaftshierarchie in subcentrales, die zusammengefasst centrales bilden – jeweils mit eigenen Funktionären und Delegierten für die Organisationen der höheren Ebene. Die centrales wiederum organisieren sich, teilweise vermittelt durch provinzielle Instanzen, in neun Föderationen, eine je Department. Alle Organisationen zusammen bilden die CSUTCB, an deren Spitze ein Exekutiv-komitee steht.

Die höchste Entscheidungsinstanz der CSUTCB ist der alle drei Jahre ta-gende Nationale Kongress, zu dessen Hauptaufgaben die Wahl der Exekutive zählt. Darüber hinaus erarbeitet er politische Strategien und formuliert Forderun-gen und Vorschläge (häufig zu agrarpolitischen Themen), die anschließend in Form von „Deklarationen“ schriftlich verbreitet werden und als eine Art „ge-werkschaftliches Regierungsprogramm“ gelten. Außerdem ist der Kongress die einzige Instanz, die zur Modifikation der Organisationsstatuten des Dachverban-des berechtigt ist. Entscheidungen werden durch Wahl (Handzeichen) oder Ak-klamation getroffen.

Das Exekutivkomitee, die „Gewerkschaftsregierung“, wird jeweils für drei Jahre gewählt. Es setzt sich aus 27 „Ministerien“ (secretarías) mit unterschiedli-chen Funktionen und 11 Beisitzern (vocales) zusammen (García Linera et al. 2004: 133). An seiner Spitze steht der Exekutivsekretär (secretario ejecutivo), der die Ausführung der Kongressbeschlüsse verantwortet. Zu seinen Aufgaben zählen im Besonderen die Verhandlungen mit der Zentralregierung über politi-sche Anliegen und Forderungen der Gewerkschaft. Außerdem hält er den Kon-takt zu den unteren Ebenen der gewerkschaftlichen Struktur, der durch so ge-

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nannte ampliados institutionalisiert ist, in denen das Exekutivkomitee mit den Delegierten der Föderationen und Provinzen zusammenkommt. Die ampliados werden bei Bedarf einberufen, meist in dringenden Fällen angesichts drohender Konflikte mit der Regierung, und bieten Raum für die Diskussion konkreter politischer Maßnahmen. Außerdem dienen sie der Schlichtung interner Streitig-keiten. In ihrem Rahmen werden Mobilisierungen gegen die Regierungspolitik beschlossen, die schriftlich festgehalten anschließend von den anwesenden Pro-vinzfunktionären in die unteren Ebenen der Gewerkschaftsordnung „herunter-kommuniziert“ werden. Kommen auch die centrales, subcentrales und sindicatos den Beschlüssen nach, werden Protestmaßnahmen, meistens die Blo-ckade wichtiger Zufahrtsstraßen, eingeleitet. In der Praxis verliert diese formale Hierarchie jedoch oft ihre Gültigkeit. Es kommt häufig vor, dass Protestmaß-nahmen von Kommunen oder Provinzen ausgehen und erst im Nachhinein vom Exekutivkomitee unterstützt werden (García Linera et al. 2004: 136)

Die lokalen und regionalen Gewerkschaftsfunktionäre erhalten für ihre Ar-beit keine Vergütung. Deckt sich die gewerkschaftliche Struktur mit der tradionalen Organisation, dann ist die Übernahme eines Amtes sogar Pflicht. Eine ihrer wichtigsten Aufgaben im Sinne des Dienstes an der Gemeinschaft ist die Erledigung bürokratischer Notwendigkeiten (Ausstellung von Landtiteln oder von persönlichen Dokumenten), wofür mitunter längere Reisen und Aufenthalte im Regierungssitz La Paz in Kauf genommen werden müssen (Ticona/Rojas/ Albó 1995: 93-94). Einzig die Mitglieder des Exekutivkomitees beziehen ein Gehalt. Dafür wird von ihnen erwartet, dass sie von der Zentrale der CSUTCB im Regierungssitz La Paz aus die nationalen politischen Entwicklungen begleiten und neben gewerkschaftlicher Lobbyarbeit auch Informations- und Aufklärungs-arbeit gegenüber den Mitgliedsorganisationen des Dachverbandes leisten (García Linera et al. 2004: 134-135).

In Anbetracht der chronischen Finanzierungsprobleme der CSUTCB hat das Exekutivkomitee ein großes Geschick entwickelt, Allianzen mit anderen, finanz-kräftigeren Organisationen zu schließen. Dazu zählt auch die Regierung, die häufig mit Hilfe finanzieller Zuwendungen versucht, die Gewerkschaftsführung gefügig zu machen. Nicht zu unterschätzen ist außerdem die Unterstützung durch vor allem ausländische Nichtregierungsorganisationen (NRO). Einer Studie aus dem Jahr 2004 zufolge finanzieren von deutscher Seite her etwa die Organisatio-nen „Brot für die Welt“, „Terre des Hommes“ und der Deutsche Entwicklungs-dienst (DED) gewerkschaftliche Aktivitäten (Ströbele-Gregor 2004). Auch die schweizerische „Ayuda Obrera“ und die sozialistische Partei Schwedens treten häufig als Geldgeber in Erscheinung.

Die Abhängigkeit von externen Finanzen ist einer der Gründe für die an der Gewerkschaftsspitze verbreitete Korruption und gibt häufig Anlass zu Kritik aus

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den Basisverbänden. Da die durch das Rotationsprinzip und die Rechenschafts-pflicht institutionalisierten Kontrollmechanismen allenfalls bis zur provinziellen Ebene greifen, unterliegen die professionellen Mitglieder des Exekutivkomitees nur einer sehr geringen Kontrolle. Die Folge ist eine spürbare Entfremdung zwi-schen der Gewerkschaftsführung und den Basisorganisationen (García Linera et al. 2004: 140-141).

Ungeachtet dieser internen Probleme gilt die CSUTCB als eine der mäch-tigsten sozialen Organisationen des Landes, die seit ihrer Gründung wiederholt durch Massenmobilisierungen politische Entscheidungen beeinflusste. 5 Legitimität und Parasouveränität Die in den Aymaragemeinschaften stark ausgeprägte kollektive Identität bewirkt eine hohe interne Kohäsion, die das traditionelle Ordnungssystem stützt und perpetuiert, während es seinerseits die identitären Zuschreibungen stärkt. Es ist in den Worten Max Webers die „Heiligkeit altüberkommener Ordnungen“, die der politischen Organisation der Aymara eine besondere Legitimität verleiht. Dabei muss es sich nicht wirklich um althergebrachte Strukturen handeln, wich-tig ist nur, dass sie von den Akteuren als solche wahrgenommen werden (Weber 2005: 167). Diese traditionale Systemlegitimation bedingt aber nicht nur eine große Beharrungsfähigkeit. Gerade in Zeiten politischer Instabilität geht von ihr auch eine starke Anziehungskraft aus.

Die Legitimität der gewerkschaftlichen Organisationen dagegen ist, um bei der Terminologie Max Webers zu bleiben, zunächst rationaler Natur. Die aner-kannte Satzung von 1979, der freie Zusammenschluss der Landarbeiter, stattet die Gewerkschaften gleichsam mit Legalität und Legitimität aus. Trotz der ge-nannten Unstimmigkeiten zwischen Basis und Führung gelten das Exekutivko-mitee und die Einzelorganisationen des Dachverbandes in den Augen der Mehr-heit der Landbevölkerung als einzige legitime politische Vertretung.

Gerade die chronische Abwesenheit des Nationalstaates im ländlichen Raum bekräftigt den Herrschaftsanspruch der lokalen und gewerkschaftlichen Organisationen. In der Regel erschöpft sich die Präsenz des Zentralstaates in seltenen Abgeordneten- oder Ministerbesuchen, die meist ohnehin im Rahmen gewerkschaftlicher Verhandlungen stattfinden. Selbst in größeren Ortschaften beschränkt sich die staatliche Autorität auf dünn besetzte Polizeistationen und schlecht ausgestattete munizipale Verwaltungen. Ähnlich gering, wenn es um die Belange der Landbevölkerung geht, ist seit jeher das Interesse der Traditionspar-teien – das sind jene, die vor oder während der Militärdiktaturen gegründet wur-den –, die im abgelegenen Hinterland allenfalls zu Wahlzeiten erscheinen. In den

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formaldemokratischen Institutionen war die indigene Bauernschaft bis vor Kur-zem nicht vertreten. Diese Lücke füllen insbesondere die Gewerkschaften – wenngleich inzwischen Parteien entstanden sind, die sich als Repräsentanten der Landbevölkerung und der ethnischen Gruppen verstehen – und fungieren damit als Bindeglied zwischen lokalen Ordnungen und dem nationalstaatlichen Zent-rum.

Die CSUTCB konnte seit ihrer Gründung Ende der 1970er Jahre eine an-sehnliche Infrastruktur aufbauen. In jedem noch so kleinen Ort stehen ihr Räum-lichkeiten zur Verfügung und in größeren Städten verfügt sie über ganze Gebäu-de, die ihren Mitgliedern als Anlaufstelle dienen. Mit dieser Infrastruktur neh-men die Gewerkschaften auch einen Bildungsauftrag wahr: Vor allem politische Bildung in Form von Seminaren und Informationsveranstaltungen werden gebo-ten. Wo vorhanden, findet diese Arbeit zudem über gewerkschaftseigene Radio-sender statt, die auf dem Land das wichtigste Kommunikationsmittel darstellen. Auch im sozialen Leben der Gemeinden, Städtchen und Provinzen spielen die Gewerkschaften eine wichtige Rolle. Von Blaskapellen über Tanzgruppen bis hin zu Fußballclubs werden um die gewerkschaftlichen Strukturen vielfältige Freizeitaktivitäten organisiert. Dadurch sind die Gewerkschaften wiederum fest in den Lebenswelten der Landbevölkerung verankert und bilden den Rahmen für politische Sozialisationsprozesse. Insofern legitimieren sie sich vor allem auch durch Leistung und Einsatz für ihre Mitglieder.

Zusammen mit den traditional-ethnischen Ordnungen können die gewerk-schaftlichen Organisationen als „parasouveräne“ Herrschaftsformen innerhalb des bolivianischen Territoriums bezeichnet werden, die einen wichtigen Teil der formal dem Staat vorbehaltenen Souveränitätsrechte ausüben – bis hin zur Über-nahme lokaler Gewaltmonopole.4 Dabei lässt sich eine funktionale Teilung zwi-schen den Ebenen beobachten: Besonders ausgeprägt sind die regulativ-politischen Funktionen auf der Mikroebene, wo die sindicatos, zum Teil fusio-niert mit den tradierten ethnischen Strukturen, als de facto-Regierungen auftre-ten. Das Exekutivkomitee der CSUTCB und die intermediären gewerkschaftli-chen Gruppierungen von den Provinzen bis zu den Föderationen hingegen sind für die „Außenbeziehungen“ der Gewerkschaften und Gemeinschaften verant-wortlich (Ticona/Rojas/Albó 1995: 126). Dabei geht es in erster Linie um die konfliktreichen Beziehungen zu den nationalstaatlichen Regierungen.

4 „Unter ‚Parasouveränität ist eine Herrschaftsform zu verstehen, in der sich ökonomische, soziale und politische Machtzentren oder organisierte Akteursnetze lokaler oder internationaler Provenienz als politische Machtzentren innerhalb einer formell als Staat anerkannten territorialen Einheit bilden“ (Trotha 2005: 3-4).

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6 Vom Aufstieg des Lokalen und der Rückkehr des Nationalen „Parasouveränität“ ist kein stabiler Zustand. Vielmehr handelt es sich um einen andauernden Prozess, der unterschiedliche Ausformungen kennt und in dem der Zentralstaat und die parastaatlichen Ordnungen als gleichberechtigte Herr-schaftszentren nebeneinander stehen, ohne voneinander unabhängig zu sein. Oft übernimmt die Zentralgewalt die Funktion eines „Schirmherrn“. Infolge dieser Verknüpfung beider Herrschaftsformen sind die Beziehungen zueinander poten-tiell konfliktiv. Tatsächliche Konflikte beginnen meist dort, wo sich eine Ord-nung durch das Verhalten der anderen in ihrer Souveränität und in ihren als legi-tim erachteten Rechten verletzt fühlt. In solchen Fällen kann Parasouveränität zu Sezessionismus und der vollständigen „Autonomisierung des lokalen Machtzen-trums“ führen (Trotha 2005: 35). Aber auch diese Entwicklung ist kein unum-kehrbarer Prozess.

Bis zur Einführung der Demokratie war das Verhältnis zwischen den Herr-schaftsformen im Nationalstaat Bolivien größtenteils durch offene Gewalt und Zwang geprägt, die das Zentrum auf die Peripherie ausübte. Mit der Demokratie brach zunächst eine Zeit der friedlichen Koexistenz an. Gerade die Landbevölke-rung setzte hinsichtlich der Verbesserung ihrer ökonomischen Lage und der politischen Partizipationsmöglichkeiten große Hoffnungen in das demokratische Regierungssystem. Insbesondere die staatlich garantierten Bürgerrechte, die formal allen zugestanden und angesichts der entscheidenden Rolle der Bauern-schaft in der Demokratisierungsbewegung als eigene Errungenschaft verstanden wurden, machten die neue Ordnung attraktiv für die marginalisierte indigene Landbevölkerung.

Dieser Legitimitätsglaube erhielt einen weiteren Schub durch die zeitweili-ge Allianz zwischen der MNR-Regierung unter Gónzalo Sánchez de Lozada und einigen Aymara-Politikern ab 1992. Darüber hinaus verfolgte De Lozada ein ambitioniertes Reformprogramm, dessen proklamiertes Ziel einmal mehr die Integration der indigenen Bevölkerung in den Nationalstaat war (Jost 2003). In diesem Sinne deklarierte eine Verfassungsänderung Bolivien zum plurikul-turellen Staat und eine Verwaltungsreform teilte das Staatsgebiet in insgesamt 311 neue Gemeinden ein, die zur Selbstverwaltung eigene finanzielle Mittel erhielten. Mit dieser „Munizipalisierung“ sollte insbesondere die staatliche Prä-senz auf dem Land gestärkt werden.

Die Reformen wurden jedoch übereilt und ohne Beteiligung der Bevölke-rung durchgeführt, so dass der symbolpolitisch ausgeschmückten Inklusionsrhe-torik nach wie vor die Exklusion großer Bevölkerungsteile entgegenstand (Birle 1998: 235). In dem Maße, wie die Diskrepanz zwischen inkludierendem An-spruch und ausgrenzender Wirklichkeit von indigenen und Gewerkschaftsführern

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artikuliert wurde, kam es zu einem schleichenden Legitimitätsverlust der zentral-staatlichen Herrschaft. Eine entscheidende Rolle in diesem Prozess spielte Felipe Quispe Huanca. Ab 1998 ausgestattet mit den weitreichenden Kompetenzen und der großen Autorität des Exekutivsekretärs der CSUTCB, begann er seine autonomistischen Ideen im Rahmen der gewerkschaftlichen Organisationen zu verbreiten. Sein Diskurs lokalisierte die Ursachen für das anhaltende Elend der ländlichen Bevölkerung in einem von den weißen Eliten perpetuierten „neokolonialen Zustand“. Damit stand Quispe ganz in der Tradition der Kataristen, er ging in seinen Aktivitäten allerdings weit über diese hinaus.

In einem langwierigen Prozess, der mit den Kataristen begonnen hatte und den Quispe mit seinen Anhängern später beschleunigte, entwickelte sich ein massenmobilisierender „Aymaranationalismus“, der von einer umfassenden symbolischen Transformation begleitet wurde (García Linera et al. 2004: 171). Diese vollzog sich unter Anwendung verschiedener Instrumente, darunter die Verbreitung eines „eigenen“ und „nationalen“ Geschichtsbildes mit dem Schwerpunkt auf dem Kampf der Aymara um Selbstbestimmung. Vermittelt in gewerkschaftlichen Seminaren und mehr noch durch die Übertragung histori-scher Hörspiele über aymarasprachige lokale Radiosender, erstanden aus dieser „historischen Bewusstwerdung“ neue Heldenfiguren und Märtyrer. Wiederent-deckte Anführer vergangener Aufstände und Widerstandsbewegungen wie San-tos Marka T´ula, Pablo Zárate Willka und Juan Lero avancierten zu neuen politi-schen Leitfiguren, für die teilweise eigene Gedenktage eingeführt wurden. Die herausragendste Symbolfigur des Widerstands der Aymara blieb Tupaq Katari, dessen Name schon bald in keiner Rede mehr fehlte. Felipe Quispe selbst, der sich mit dem autochthonen Herrschaftstitel eines mallku (Kondor) schmückte, versäumte keine Gelegenheit, sich als Nachfolger Kataris zu inszenieren.5

Damit einhergehend erlebten vielerorts autochthone Feste und Rituale eine Renaissance. Es kam zur langsamen Aufwertung der traditionellen Bekleidung, der andinen Religion und der traditionalen Ordnungsformen. Die Feste, Rituale und Veranstaltungen bildeten ihrerseits den Rahmen für die Weiterentwicklung und Weiterverbreitung des neuen Selbstbildes als eigene Nation, ohne dass vor-erst sezessionistische Überlegungen eine Rolle spielten. Begleitet wurde diese Entwicklung von einer allmählichen Ersetzung der nationalstaatlichen Symbolik

5 Zum Beispiel im Oktober 2000, nachdem in Auseinandersetzungen mit dem Militär mehrere Ayma-ra getötet worden waren: „Por qué nos matan? […] Me da pena ver a estos sanguinarios, se han manchado con la sangre indígena […] Maténme si son hombres, ahorita fusílenme. O si no pueden descuartizarme como Tupaq Katari. Si a Tupaq Katari ustedes han descuartizado con cuatro caballos, a mi me descuartizarán con cuatro tanques, o si no con cuatro aviones […]“ (Felipe Quispe zitiert in Mamani 2004: 37.)

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in den Gemeinden und Provinzen durch indigene Herrschaftssymbole, die be-sonders deutlich in der Selbstinszenierung lokaler Autoritäten zu Tage trat. Zu-nehmend präsentierten sich diese bei öffentlichen Auftritten mit indigenen Herr-schaftsinsignien, etwa besondere Ponchos, Zepter (bastones de mando) oder Signalhörner (pututus). An die Seite der bolivianischen Flagge rückte vermehrt die aus bunten Rechtecken bestehende Wiphala, deren Ursprung fälschlicherwei-se oft in vorkolonialen Zeiten verortet wird, und anstelle der Porträts boliviani-scher Präsidenten fanden sich immer häufiger die Konterfeis indigener Persön-lichkeiten (Mamani 2004: 35).6

Zum Bruch zwischen der derart symbolisch gestärkten parasouveränen Ordnung und der Zentralgewalt kam es anlässlich der Regierungsentscheidung, die Wasserversorgung im Land zu privatisieren (Gesetz 2029). Im Rahmen der angestrebten Konzessionen sollten nicht nur Versorgungsdienstleistungen priva-tisiert werden, sondern auch die Nutzungsrechte an Wasserquellen, was direkt die Existenz der vielen alternativen Wasserversorgungssysteme vor allem in den ländlichen Gebieten in Frage stellte (Fritz 2006: 53). Anlässlich des Wasserge-setzes intensivierte der Kreis um Felipe Quispe seine Aktivitäten. Nach unzähli-gen Informationsveranstaltungen und Beratungen in den einzelnen comunidades organisierte die Führung der CSUTCB Straßenblockaden, denen die Basisge-werkschaften massenhaft nachkamen und die mit der Übergabe eines umfangrei-chen Forderungskatalogs an die Regierung endeten (Mamani 2004: 102). Das Wassergesetz wurde zurückgenommen.

Im September 2000 kam es zu erneuten Blockaden, die zu einer der größten Protestaktionen in der Geschichte des Landes werden sollten. Fast vier Wochen hielten die Gewerkschaften und Kommunen die wichtigsten Verkehrsrouten der Region besetzt. Ging es im April noch in erster Linie um die Vermeidung der Wasserprivatisierung, standen nun Themen der ländlichen Entwicklung und insbesondere die Forderung nach dem Ende der andauernden Diskriminierung der autochthonen Bevölkerungsteile auf der Protestagenda (Maydana/Uzieda 2006). Die Regierung beantwortete beide Blockaden mit dem Einsatz von Mili-tär. Die dabei ausgeübte Gewalt, die einige Tote und viele Verletzte zur Folge hatte, radikalisierte die Aymarakommunen. Als Reaktion wurden alle Repräsen-tanten der Zentralregierung aus den Dörfern vertrieben, zentralstaatliche Einrich-tungen und Symbole – vom Mauthäuschen über Polizeistationen bis zu den Ge-bäuden der Subpräfekturen – niedergebrannt und zerstört. Der Zentralstaat ver-schwand buchstäblich aus dem Aymaraterritorium (García Linera et. al. 2004: 125-126). 6 Die Wiphala ist ein gutes Beispiel für die „Erfindung einer Tradition“ (Hobsbawm 1983) im Rah-men nationaler Konstruktionsprozesse. Für einen vorkolonialen Ursprung fehlen bislang die Nach-weise (Mamani 2004).

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Einer weiteren Blockadewelle im Juni 2001, mit der die Erfüllung der im-mer noch ausstehenden Forderungen erreicht werden sollte, folgten erneute Aus-einandersetzungen mit dem Militär, die zu weiteren Todesfällen führten. Dies nahmen die Aymaragemeinschaften zum Anlass, einen Bürgerkrieg zu erklären, der sich jedoch eher symbolisch als tatsächlich vollzog (García Linera et al. 2004: 127). Beispielsweise konzentrierten sich in der Nähe von Quispes Heimat-ort Achacachi innerhalb kürzester Zeit über 20.000 vorwiegend junge Aymara, die sich als „Kaserne von Q´alachaka“ bezeichneten. Am gleichen Ort tagte fortan das aus indigenen Autoritäten und Gewerkschaftsführern zusammenge-setzte „indigene Parlament“, dem die Regierungsgewalt über die Aymaragebiete übertragen wurde (Mamani 2004: 47). Eine „gewerkschaftliche Polizei“ (policía sindical) übernahm die Wahrung der öffentlichen Sicherheit; Recht wurde aus-schließlich im Rahmen der kommunalen Justiz gesprochen. Mittels der massiven Blockade der Zufahrtsstraßen durch Steine, Autoreifen und sonstige Materialien trennten sich die Aymara auch physisch vom nationalstaatlichen Territorium ab. Eine Durchquerung der Region war zeitweise nur mit einer besonderen, von den Gewerkschaften ausgestellten, Genehmigung möglich (García el al. 2004: 155).

Die de facto-Autonomie der Gebiete dauerte einige Monate. Schon im Wahljahr 2002 begannen sich die Positionen zu flexibilisieren. Felipe Quispe zog als Präsidentschaftskandidat seiner 2000 gegründeten Partei MIP (Movi-miento Indígena Pachacuti) in den Wahlkampf und erreichte ansehnliche 6% der Stimmen. An seiner Seite gelangten mehrere aymarasprachige Delegierte ins Parlament. Die Auseinandersetzung mit dem Zentralstaat verlagerte sich damit vorläufig in die nationalen Institutionen.

Nach einem weiteren kurzem Intermezzo ab September 2003, als es zu mas-siven Protesten nach neuen gewalttätigen Auseinandersetzungen mit dem Militär kam, fand der Zentralstaat allmählich seinen Weg zurück in die Aymaragebiete. Bedingt vor allem durch die Popularität des parteilosen Carlos D. Mesa, der im Oktober 2003 auf den gestürzten Sánchez de Lozada ins Präsidentenamt folgte, und verstärkt durch Zugeständnisse seitens der Regierung – etwa derart, dass der Subpräfekt fortan durch die Provinzversammlung der Gewerkschaft bestimmt und vom Präfekten lediglich ratifiziert wird – entspannte sich das Verhältnis. Quispes nach wie vor radikaler Diskurs verlor zusehends an Boden und Mobili-sierungskraft. Bis Mitte 2004 kehrten die zentralstaatlichen Instanzen – auch die Polizei – in alle Gemeinden zurück (Maydana/Uzieda 2006).

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7 Fragile Koexistenz Der Grad an Autonomie und Selbstverwaltung über die lokalen Einheiten hinaus war im Gebiet der Aymara nie wieder so hoch wie in den Jahren zwischen 2001 und 2004. Verstärkt durch die Wahl von Evo Morales genießt der Staat inzwi-schen eine neue Legitimität. Neben der Herkunft des Präsidenten, der selbst Aymara ist, lässt sich diese Entwicklung vor allem auf sein Reformprojekt zu-rückführen, das eine Inklusion ethnischer Ordnungselemente in die staatlichen Institutionen (z.B. die Justicia Comunitaria) und eine Ausweitung der autono-men Rechte indigener Gemeinschaften vorsieht. Darüber hinaus legt die Regie-rung Morales großen Wert auf die gleichberechtigte Pflege der indigenen Sym-bolik – auf Augenhöhe mit den nationalstaatlichen Symbolen.

Die Aymarakommunen und die Gewerkschaften existieren nach wie vor als parallele politische Herrschaftsformen, deren sezessionistisches Potential jeder-zeit wieder mobilisiert werden kann. Obwohl diese Existenz unterschiedlicher Machtzentren innerhalb eines Nationalstaates nicht per se konfliktiv ist, bleibt ihre derzeit friedliche Koexistenz fragil. Dabei hat die bisherige Entwicklung gezeigt, dass in der Frage des Charakters der Beziehungen zwischen den Herr-schaftsformen das Verhalten des Zentralstaates entscheidend ist. Erst Regie-rungsbeschlüsse, die das Leben der Kommunen bedrohten, und mehr noch der unverhältnismäßige Einsatz von Gewalt führten zum offenen Konflikt. Freilich wäre die kurzzeitige Abspaltung der Aymaragebiete nicht denkbar gewesen ohne den langwierigen symbolischen Transformationsprozess, der von einer kleinen Elite, insbesondere unter der Führung Felipe Quispes, vorangetrieben wurde. Dennoch lieferte letztlich die Zentralgewalt den Anlass.

Darüber hinaus verdeutlicht der kurze Blick auf die bolivianische Variante des „Staatszerfalls“, dass nicht jede Form des Rückgangs staatlicher Autorität unaufhaltsam in waffengestützten Gewaltherrschaften, in Chaos und in Krieg endet. Ein hohes Maß an gesellschaftlicher Organisation, das in Bolivien nicht nur im Rahmen indigener Gemeinschaften, sondern auch in Gewerkschafts- und Stadtteilorganisationen existiert, ist in der Lage, ordnungspolitische Funktionen friedlich auszuüben. Letztlich wird die zukünftige Entwicklung in Bolivien vor allem im Rahmen der verfassungsgebenden Versammlung auch zeigen, inwie-weit sich die parallelen Ordnungsformen in das nationalstaatliche Institutionen-gefüge integrieren lassen bzw. integrieren wollen.

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Legitime Autorität in einer segmentären Gesellschaft: Die Igbo von Nigeria1 John Emeka Akude2 1 Einführung Aktuelle Analysen der Transformation politischer Ordnung wenden sich – zu Lasten dezentralisierter Formen – bevorzugt staatlichen Machtgebilden zu.3 Sie untersuchen verschiedene und allgemeingültige Formen des fundamentalen Wandels von politischen Regimes und Ordnungen (vgl. Huntington 1992, Mer-kel 1999).4 Hierbei geraten nationale Besonderheiten in den Hintergrund. Zu diesen zählen u. a. Arten von dezentralisierten Formen, wie akephale/segmentäre Gesellschaften, die eine Rolle bei der Stabilität des Staates bzw. der Transfor-mation politischer Ordnung spielen können.

Wie Braudel (1980) in seiner Analyse der europäischen Staaten herausfand, hat der Zustand der internationalen politischen Ökonomie Auswirkungen auf Formen der internen Gewaltorganisation. Allerdings ist diese Methode (der Er-klärung der internen politischen Organisation bezogen auf den Zustand der inter-nationalen politischen Ökonomie) in den vergangenen Jahrzehnten in der westli-chen Welt vorübergehend in Vergessenheit geraten. Die aktuelle Auswirkung der Globalisierung auf Staatlichkeit hat jedoch dazu geführt, dass diese Methode in neuerer Zeit eine Renaissance feiert. Dieser Beitrag wird sich auf diese Darstel-

1 In der Literatur wird üblicherweise Igbo „Ibo“ geschrieben. Der Ursprung dieses Fehlers war die Schwierigkeit der Europäer, besonders der Engländer, die Buchstabenkombination „gb“ auszuspre-chen. Sie sprechen den Namen „Ibo“ aus und schreiben ihn dementsprechend. Segmentäre Gesell-schaften werden im Deutschen auch akephale Gesellschaften genannt. Beide Begriffe werden im vorliegenden Text gleichbedeutend verwendet. 2 Der Autor möchte sich bei Trutz v. Trotha, Daniel Lambach und Fred Oldenburg für ihre Kritik- und Anregungspunkte bedanken. 3 Es bleibt fraglich, ob man von Politik in einem System der undifferenzierten und unzentralisierten Regierungsinstitutionen sprechen darf. Dieses Bedenken gilt auch für andere hier verwendete aber in der Wissenschaft hauptsächlich europäisch verstandene Konzepte. 4 Der Wandel von politischen Regimes meint den Systemwechsel von verschiedenen Stufen und Arten der Diktatur zu verschiedenen Typen der Demokratie, während der Wandel von Ordnungen diejenigen von Staatlichkeit zu nicht-staatlichen Gebilden, insbesondere den sich abzeichnenden partikularistischen und transnationalen Formen, meint. Die übliche Beschränkung auf Staaten ist selbstverständlich, da akephale Gesellschaften heute dem Staat untergeordnet sind.

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_5,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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lungsweise, die sich in den Sozialwissenschaften etabliert hat, stützen. Die Rele-vanz der Darstellung einer segmentären Gesellschaft in einer Diskussion der Transformation politischer Ordnung besteht darin, dass solche Gesellschaften erhebliche Probleme bei der Akzeptanz einer zentralisierten Form haben können, zumal die Zentralisierung durch Kolonialmächte willkürlich aufoktroyiert wurde. Hier könnte u. a. eine mögliche Erklärung für instabile Staatlichkeit oder Schwierigkeiten mit Regimetransformation versteckt liegen.

Ein wesentliches Ziel dieser Tagung ist die Durchleuchtung von verschie-densten Arten „moralischer Autorität“, und dazu gehören auch akephale Gesell-schaften. Denn dies (moralische Autorität) ist genau das, was Max Weber (1922: 122-124) mit „legitimer Herrschaft“ meint. Bezogen auf akephale Gesellschaften gibt es eine Art Herrschaft (die Herrschaft des Brauchs), die jedoch nicht an einzelne Personen gebunden ist, sondern bei der sich die Gesellschaft selbst die Aufstellung und Durchführung von Regeln vorbehält.

Das Ziel dieses Beitrags besteht daher in der Definition und theoretischen Abklärung segmentärer Gesellschaften, einschließlich der Ausarbeitung ihrer Charakteristika und Einbettung ihrer Entstehung in die materiellen Gegebenhei-ten ihrer Umwelt. Dies wird anhand der dezentralisierten politischen Struktur und des direkt-demokratischen Systems der Igbo-ethnischen Gruppe illustriert. Weitere Erkenntnisinteressen bestehen in der Demonstration der Funktionsweise dieses Ordnungssystems in Igboland und in der Darstellung der Transformatio-nen innerhalb dieses Systems im Zuge der materiellen und systemischen Verän-derungen als systemische Anpassungsversuche, die noch bis heute andauern. Daher beginnt die vorliegende Darstellung nach der theoretischen Diskussion mit einem historischen Rückblick und geht anschließend zum Zeitgenössischen über. Ich werde dann mittels der Process-tracing-Methode, die eine wesentliche Ver-besserung sowie ein wichtiger Teil der historischen Analyse geworden ist (vgl. George and Bennett: Kap. 10), die Struktur der Igbo Gesellschaft und deren Funktionieren zeigen, und dabei strukturelle Veränderungen, inklusive deren Quellen, darstellen. Schließlich wird ein Fazit gezogen.

2 Segmentäre Gesellschaften5 Segmentäre Gesellschaften sind durch ihre mangelnde soziale Stratifikation – oft eine Vorstufe der Machtzentralisierung – und Egalitarismus gekennzeichnet. In Andeutung an das Fehlen einer Machtinstanz werden sie akephale Gesellschaften 5 Das Konzept der segmentären Gesellschaften geht auf die Arbeit von Emile Durkheim (1893) zurück und ist ein Begriff, mit dem er versuchte, die sozialpolitische Organisationsstruktur indigener Gesellschaften zu beschreiben.

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genannt. Anthropologisch betrachtet, geht soziale Stratifikation einer Gesell-schaft individualisierter Herrschaft voraus (vgl. Newman 1983). Soziale Stratifi-kation ist indessen u. a. auf die Differenzierung wirtschaftlicher Aktivitäten zu-rückzuführen. Diese Gesellschaften sind daher oft durch wenige Wirtschaftsdif-ferenzierungen gekennzeichnet. Demzufolge ist es in der Regel unmöglich für eine Gruppe, eine andere zu dominieren und dadurch politische Macht für sich allein zu beanspruchen. Segmentäre Gesellschaften sind weder marktwirtschaft-liche noch kapitalistische Gesellschaften. Zwar existieren Produktion und Aus-tausch, aber sie sind stärker auf die Befriedigung der unmittelbaren Bedürfnisse und weniger auf die Akkumulation von Reichtum gerichtet. Damit ergibt sich eine Quasi-Gleichheit aller. Ökonomische Gleichheit bildet oftmals die Grundla-ge für politischen Egalitarismus.

Das Konzept segmentärer Gesellschaften bezieht sich auf solche, deren Teilgebiete (Segmente) gleichartig und gleichrangig sind und daher autonom im Verhältnis zueinander stehen. Ihr Ordnungsprinzip ist die Blutsverwandtschaft, obwohl unmittelbare geographische Nähe, möglicherweise aufgrund von Migra-tion, eine Rolle beim Ordnen der Segmente spielen kann. Durch weitere Unter-gliederung in Subsegmente unterschiedlicher Größenordnung versuchen diese Gesellschaften, die Abstammung und Verwandtschaft der Mitglieder nachzu-zeichnen und darauf basierend ihre Angelegenheiten, etwaige Fehden und Kon-flikte auch ohne die Notwendigkeit einer fest und dauerhaft zentralisierten Machtinstanz substanziell friedlich zu regeln.Dementsprechend sind segmentäre Gesellschaften u. a. als staatenlose Gesellschaften bekannt. Eine auf diesem System organisierte ethnische Gruppe ist dann in Klane untergegliedert, die Klane in Dörfer, die Dörfer in kleinere Ortschaften (Towns) und die kleinen Ortschaften in Familien aufgeteilt.6 Das Fehlen einer zentralisierten Machtin-stanz erscheint auf den ersten Blick oftmals anarchisch. Dem ist aber nicht so! Intersegmentäre Beziehungen laufen in der Regel friedlich und geregelt ab. Um das Prinzip, das diesem System zugrunde liegt zu verstehen, empfahl Evans-Pritchard (1940: 272) eine Analyse der Umwelt solcher Gesellschaften.

6 Towns bestehen aus einer Ansammlung von Dörfern und sind deshalb nicht gleichzusetzen mit dem deutschen Wort „Stadt“. Das deutsche Wort „Stadt“ bedeutet auf Englisch übersetzt Urban Town. Diese Untergliederung ist nur eine Idealform: In Realität gibt es verschiedene Abweichungen, das Prinzip der Untergliederung bleibt jedoch erhalten. Beispielsweise deutet Evans-Pritchard (1940: 278-291) an, dass Sippen, Niederlassungen und Ethnien die Untergliederungsbasis bilden können. Evans-Pritchard and Fortes (1940) (eds.) wenden dieses Konzept in der Analyse mancher afrikani-scher Gesellschaften zum ersten Mal an. Siehe z.B. Evans-Pritchard (1940), „The Nuer of the South-ern Sudan“ in Evans-Pritchard/Fortes (1940).

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2.1 Die Charakteristika segmentärer Gesellschaften Es ist notwendig, segmentäre Gesellschaften durch die Erhebung ihrer unter-scheidenden Merkmale genauer zu definieren. Robin Horton (1971: 78) identifi-ziert vier definitorische Idealmerkmale: 1. Kaum Herrschaftskonzentration – es ist äußerst schwierig, ein Individuum

oder Mitglieder von exklusiven Gruppen als Herrscher der Gesellschaft auszumachen.

2. Herrschaftsrollen, wenn vorhanden, haben Auswirkung auf nur einen be-grenzten Aspekt des Lebens der Unterworfenen.

3. Die Ausübung von Herrschaft ist fachbezogen: Individuen dürfen Herr-schaft nur in jenen Bereichen ausüben, wo sie überragende Fähigkeiten be-sitzen. Hauptamtliche Machtausübung ist unbekannt.

4. Die Einheit, innerhalb derer die Menschen eine Verpflichtung zur Beile-gung ihrer Konflikte durch friedliche und allgemein akzeptierte Mittel und ohne Rückgriff auf Gewalt eingehen, ist relativ klein.

Horton identifiziert weiterhin zwei Arten der segmentären Gesellschaften in Westafrika: die der Agrarbauer und die der Pastoralisten. Er unterstreicht die Tatsache, dass die Mehrheit der westafrikanischen segmentären Gesellschaften aus sesshaften Bauern besteht.7 Ob in den Savannen oder in Forstgebieten, seg-mentäre Gesellschaften sind denselben ökologischen und demographischen Be-dingungen ausgesetzt, wobei diese Bedingungen die Entstehung von Segmen-tarismus beeinflussen. Die wichtigsten dieser Bedingungen sind: 1. Eine auf Subsistenzwirtschaft beruhende Ökologie, wobei der Austausch-

und Monetärsektor wenig entwickelt ist. 2. Langfristige Nutzung fester Anbauböden anstelle von rapiden

Umsiedlungen. 3. Im Vergleich zur Bevölkerung ist der Agraranbauboden relativ knapp. 4. Obwohl die Familie die fundamentale Produktionseinheit ist, verlangen

einige wichtige Aspekte der Landwirtschaft die Kooptation größerer Grup-pen von ungefähr zwanzig bis fünfzig Menschen.

5. Kommunikation findet hauptsächlich durch Personen statt (ohne technische Hilfsmittel).

7 Dieses Kapitel konzentriert sich auf die Agrarbauern, zu denen die Igbos gehören.

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Diese Faktoren führen dazu, dass gegenseitige Unterstützung und nicht das An-werben von Arbeitskräften die einzige Möglichkeit ist, Arbeitskraft für groß angelegte Agrarproduktionen zu organisieren. Die Erbschaft ist durch das Verbot der Veräußerung von Agrarboden, welches aufgrund seiner existentiellen Signi-fikanz eines der Hauptmerkmale segmentärer Gesellschaften darstellt, das we-sentliche Mittel des geordneten Zugangs zu dieser lebenswichtigen Ressource. Um ein Grundstück zu bekommen, ziehen es junge Männer vor, nahe bei ihren Familien zu siedeln, was wiederum dazu führt, dass Abstammungslinien die Basis der Organisation der Gesellschaft bilden. Folglich, „throughout West Af-rica, indeed, the lineage appears as the basic building block of stateless agricul-tural society“ (Horton 1971: 84). Gemessen an dem Ausmaß und Umfang der Organisation von Abstammungslinien, identifizierte er drei Typen der segmentä-ren Organisation (Horton 1971: 84-104): Das segmentäre Abstammungslinien-system (Typ 1), die auseinander lebende, territorial definierte Gemeinde (Typ 2) und das große kompakte Dorf (Typ 3). Die Igbos gehören Typ 1 an, daher wird hier kurz auf diesen Typus eingegangen.

Dieses System brachte drei essentielle Merkmale der sozialen Organisation hervor. Das erste ist die Relativität der politischen Gruppierung: Die autonom erscheinenden Dörfer bilden in einem anderen Zusammenhang eine einzelne Großeinheit. Politische Zugehörigkeit, Identifizierung und gesetzliche Verpflich-tung sind deshalb fließend. Demzufolge ist das Politische in Igboland nicht fi-xiert, sondern je nach aktueller Gruppierung wechselnd. Daher wird Politik in Igboland als die Organisation, Regelung und Durchführung öffentlich-verbindlicher Angelegenheiten definiert. Dies sind Angelegenheiten, deren Re-gelung die kollektive Aktion eines bzw. mehrerer Segmente benötigen, wie z.B. die Reinigung eines Brunnens oder Opfergaben an ein Orakel oder solche, deren Erfüllung das/die Segment(e) zusammenhält. Das zweite ist die Gleichheit aller Segmente: Kein Segment ist über ein anderes zu heben. Die Menschen streiten und kooperieren unter sich, um übergreifende Angelegenheiten zu regeln. Ge-nealogie der Familien ist die Basis der Kooperation.8 Das dritte ist die Vorherr-schaft von Führerschaft über Autorität. Autorität liegt im Fall der Igbos bei den Älteren. Dennoch werden Menschen mit Führungsqualitäten respektiert, zu Rat gezogen und wenn nötig, über den autoritativen Menschen positioniert.9 Im Falle von Konflikten zwischen Menschen mit Führungsqualitäten und autoritativen Personen werden Dorfversammlungen abgehalten. Auf der Grundlage des Prin-zips direkter Demokratie wird von den Versammelten entschieden. 8 Dies impliziert, dass alle kooperierenden Dörfer „Söhne“ eines einzelnen Vaters sind. 9 Es gibt ein Igbo-Sprichwort, dass „wenn ein Kind seine Hände sauber gewaschen hat, es auch mit den Eltern essen darf“. Dies bedeutet, dass jeder Mensch, Frauen inbegriffen, durch seine Errungen-schaften Respekt und Anerkennung verdient hat.

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Sippen und Abstammungslinien bilden die Grundlage segmentärer politi-scher Organisationen. Die augenfälligsten Charakteristika einer Sippe sind deren territoriale Einheit und Exklusivität, fand Evans-Pritchard (1940: 278) nach sei-ner Studie der Nuer heraus. Weiterhin weisen Sippen die folgenden Merkmale auf: Wirtschaftliche Unabhängigkeit, Patriotismus, einen dominanten Klan, wel-cher den Verwandtschaftsrahmen für den Aufbau eines politischen Aggregats stellt und ein Gesetz als Mechanismus zur Konfliktbeilegung. Jedes Segment regelt die Angelegenheiten der jeweiligen Altersgruppe autonom. Trotz der Ex-klusivität einer Sippe ist die soziale Grenze um einiges weiter als die politische. Dies ist darauf zurückzuführen, dass es Sippenmitgliedern gestattet ist, Kontakte zu Nichtmitgliedern bis hin zur Eheschließung zu pflegen, vorausgesetzt, es werden keine Gesetze gebrochen. Eine Sippe bildet die größte Gruppe, innerhalb derer gesetzliche Verpflichtungen anerkannt und die Kooperation für Angriff und Verteidigung arrangiert werden. Eine Sippe wird deshalb definiert als „the largest community which considers that disputes between its members should be settled by arbitration and that it ought to combine against other communities of the same kind and against foreigners“ (Evans-Pritchard 1940: 278). Sie ist wei-ter in territoriale Segmente unterteilt, von denen sich jedes als eine separate Ge-meinde betrachtet. Solche Untergliederungen innerhalb einer Sippe werden dann als primäre, sekundäre oder tertiäre Sektionen bezeichnet. „Primary sections are segments of a tribe, secondary sections are segments of a primary section, and tertiary sections are segments of a secondary section“ (Evans-Pritchard 1940: 281). Die tertiären Sektionen werden weiter in Dörfer, die Dörfer in Häuser oder Familien untergliedert. Diese Form der Unterteilung ist nicht einheitlich, denn verschiedene segmentäre Systeme haben unterschiedliche Untergliederungsfor-men mit fließender politischer Zugehörigkeit. So hält Evans-Pritchard fest: „A man counts as a member of a political group in one situation and not as a mem-ber of it in another situation, e. g. he is a member of a tribe in relation to other tribes and he is not a member of it in so far as his segment of the tribe is opposed to other segments” (Evans-Pritchard 1940: 282).

Die Abstammungslinie bildet die Grundlage für die Rechtfertigung sippen-basierter Segmente. Demnach ist die Beziehung unter den Stammesmitgliedern klar und bekannt. „The defining characteristic of a lineage is that relationship of any member of it to other members can be exactly stated in genealogical terms“ (Evans-Pritchard 1940: 284). Dieses Gefühl der gemeinsamen Zugehörigkeit erleichtert die Regelung von Konflikten, die sich bekanntlich unter Verwandten leichter lösen lassen. Familienzuwachs führt zu einer kontinuierlichen Entfer-nung der Familienmitglieder von ihrer Ahnenbasis, welcher die Gesellschaft entgegen wirkt, indem sie ihren Ursprung und ihre Verwandtschaft durch Seg-mentierung immer weiter zeichnet.

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3 Die Igbo von Nigeria Die Igbos sind im Südosten Nigerias beheimatet, nördlich des Deltas zwischen dem River Niger und dem Cross River. Sprachlich gehören die Igbos der Kwa-Subfamilie der Niger-Kongo-Sprachfamilie an und bilden die östlichste Erweite-rung dieser Sprachfamilie (Greenberg 1966: 8). Die Igbos machen 18% der circa 150 Millionen Personen umfassenden nigerianischen Bevölkerung aus (CIA Factbook Nigeria 2010) und sind somit die drittgrößte ethnische Gruppe Nige-rias.

3.1 Geographie, Demographie und Produktionskapazität Eine Analyse der sozialen und politischen Organisation der Igbo geht von ihrer geographischen Lage und ihren Umweltbedingungen aus. Das Klima des Igbo-Gebiets ist heiß und feucht, da das Gebiet zwischen vier und acht Grad nördlich des Äquators liegt. In den urgeschichtlichen Zeiten produzierte das Regenmuster zwei Vegetationszonen: eine tropische Regenwaldzone, welche sich von der atlantischen Küste ungefähr 160 Kilometer ins Inland bis ins Gebiet der stärksten Regenfälle (ungefähr 203 bis 356 ccm pro Jahr) hinzieht und eine Zone zuneh-mend dünner werdenden Regenwaldes bis zur relativ offenen Savanne (Northrup 1978: 10).10 Der Regenwald in Igboland ist daher dichtbewachsen und nur schwer zu durchqueren und grenzt dadurch die Dörfern voneinander. Diese Be-schaffenheit hat Konsequenzen für das politische System. Nicht nur, dass der Kontakt und die Kommunikation zwischen Dörfern erschwert ist, der Erfah-rungshorizont der Dorfbewohner wird dadurch ebenfalls erheblich eingeschränkt. Dies bedeutet, dass der Lebenseindruck eines Menschen kaum über das Dorf oder die umliegenden Dörfer hinausgeht. Plakativ gesagt: Die Welt fängt in dem Dorf an und hört spätestens in den umliegenden Dörfern auf. Eine weitere politi-sche Konsequenz dieser Geographie besteht im Abgeschirmt-Sein der Igbos vor externen Aggressoren, wie den Fulani Jihadisten. Nach der Studie eines Igbohis-torikers:

„The physical environment is one dominated to a large extent by thick forest. On the one hand, the heavy vegetation was excellent defence against large-scale invasion from outside. On the other, its inaccessibility did not aid movement and easy inter-course among people who were primarily agriculturists. The Ibo, therefore, never came under a single pyramidal system“ (Anene 1966: 12).

10 Dieser geographische Zustand hat sich im Zuge des Bevölkerungszuwachses und nicht zuletzt in Folge des Klimawandels verändert.

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Land ist der wichtigste Produktionsfaktor und befindet sich nicht in Privatbesitz, sondern gehört der Gemeinde. Es wird je nach Größe der Familie zur Bebauung aufgeteilt, beinhaltet jedoch privates Eigentumsrecht auf die Produkte. Zwar darf Land nicht veräußert werden, es darf aber verpachtet werden.

„Ownership of land is the basis for defining communities and their sub-divisions and is governed by 3 cardinal principles: 1) Land belongs to the community and could not be alienated from it without its consent. 2) Within the community the individual shall have security of tenure for land he acquires for his compound, garden and farms. 3) No member of the community shall be without land“ (Nzimiro 1972: 3).

In der Regel gibt es kein Arbeitgeber/-nehmerverhältnis. Jeder verfügt über die Möglichkeit, selbständig tätig zu sein. Der daraus folgende Mangel an Produkti-onsüberschüssen führt zu einer relativen ökonomischen Gleichheit, die eine Grundlage für politische Gleichheit darstellt.

Das Bestellen von Ackerboden erfordert einen hohen körperlichen Ansatz. Daher werden diesbezügliche menschliche Eigenschaften über andere menschli-che Qualitäten gestellt. Demzufolge ist der durchschnittliche Igboman eher flei-ßig und ehrgeizig: Diese Eigenschaften sind stark mit seiner bloßen Existenz und gesellschaftlichen Anerkennung verbunden, zumal er relativ unfruchtbaren Bo-den bebauen muss, um zu überleben. Der Bevölkerungsdruck auf Lebensressour-cen verstärkt diese Tendenz noch. Es ist mittlerweile unumstritten, dass in Igboland eine der größten Bevölkerungsdichten Afrikas herrscht (Henderson 1972: 23, Korieh 2006). Die Bevölkerungsdichte in den 1950er Jahren lag zwi-schen 100 bis 1000 Menschen pro Quadratmeile (Forde/Jones 1950: 10-11).11 Die hohe Bevölkerungsdichte Igbolands geht zurück bis in die Antike und wurde von Historikern und Wissenschaftlern bezeugt, wie das folgende Zitat zeigt:

„Despite the losses during the overseas slave trade, the population of south-eastern Nigeria has attained densities among the highest in rural Africa, in some cases in ex-cess of 800 persons per square mile. Since there have been no major migrations into the area within recent centuries, this density must have occurred through natural re-production, indicating a relatively dense population for several centuries before the present era” (Northrup 1978: 13).

11 Es ergäbe keinen Sinn, an dieser Stelle aktuelle Zahlen zu nennen. Bevölkerungszählungen werden in Nigeria immer politisiert und somit gefälscht. Um gegen die Politisierung von Ethnizität zu wir-ken, wird statt der ethnischen Zugehörigkeit das Bundesland des Geburtsortes angegeben.

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3.2 Sozialer und politischer Einfluss von Geographie und Demographie Der Bevölkerungsdruck im Bezug auf den Ackerbau hat die Organisation der Gesellschaft in Abstammungslinien zur Folge. Die Zunahme der Zahl der Fami-lienmitglieder macht es notwendig, festzulegen, wer erbberechtigt ist. Dement-sprechend bildet die Abstammungslinie die Grundlage für die soziale und politi-sche Organisation und kann so als Erklärungsfaktor für die wichtigsten Merkma-le der Igbo-Gesellschaft herangezogen werden. Dörfer bestehen somit aus Nach-kommen eines gemeinsamen Vaters. Klane werden durch eine Ansammlung von Dörfern gebildet, die wiederum einen gemeinsamen Urvater haben. Die Gleich-heit aller Familien, Stammlinien, Dörfer und Klane erfordert die segmentäre Organisation der Gesellschaft. Somit haben wir einen Erklärungsansatz für eines der Hauptmerkmale der Igbo-Gesellschaft: die Segmente. Die Lebensweise der Igbos wird stark von der Umwelt beeinflusst und somit entstand die Basis einer sozialen Ordnung, die Eisenstadt (1959) als partiell universalistisch beschreibt und Stevenson (1968) als „unusually open social systems in the precolonial period“ (in Henderson 1972: 25) schätzt.12

3.3 Abweichungen von der politischen Organisation der Igbos Es ist bemerkenswert, dass die oben geschilderte soziale Organisation der Igbos keineswegs einheitlich ist. Es gibt durchaus Variationen von diesem Muster. „Considerable variation exists in Ibo culture and social groupings (…)“ (Ottenberg 1958: 295). Forde und Jones (1950) teilen Igboland in fünf kulturelle Regionen ein.13 Aus dieser Unterteilung erarbeitete Nzimiro (1972) drei leicht divergierende politische Systeme: erstens das Segmentäre System, zweitens das Chieftaincy System und drittens das zentralisierte Königreichsystem. Obwohl Chieftaincy auf ein Regieren durch Chiefs verweist, ist es ebenso wie das zentra-lisierte Königreich ein primär segmentäres System. Der Chief und der König sind relativ schwach: Sie haben Einfluss, aber besitzen keine legislative oder

12 Diesen Universalismus und diese Offenheit sieht man auch an der Reaktion der Familie, wenn ein Familienmitglied ein Verbrechen begeht: Die Familie beschönigt die Tat nicht. Sie kritisiert die Tat, fordert die geeignete Strafe und unterstützt den Verbrecher beim Verbüßen der Strafe. Dies im Ge-gensatz zu westlichen Gesellschaften, wo die Gesellschaft akzeptiert (und gar erwartet), dass Fami-lien ihre Mitglieder in so einer Situation unterstützen. 13 Diese sind: die nördlichen oder Onitsha-Igbo, die südlichen oder Owerri-Igbo, die westlichen Igbo, die östlichen oder Cross River-Igbo und die nord-östlichen Igbo. Von Interesse hier sind die nördli-chen oder Onitsha-Igbo (jedoch ohne die Stadt Onitsha), die südlichen oder Owerri-Igbo, die nord-östlichen Igbo und ein beträchtlicher Teil der westlichen Igbos aufgrund der Gemeinsamkeit ihrer politischen Organisation.

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exekutive Macht. Diese leichten Unterschiede im politischen Arrangement sind möglicherweise auf Unterschiede hinsichtlich der Umweltbedingungen zurück-zuführen. Die westlichen Igbos etwa bewohnen das Gebiet rund um den Fluss Niger und seine Nebenflüsse und verfügen über andere Lebensbedingungen. Der Boden ist weich und fruchtbar und der Fluss erleichtert den Fischfang. Dies kann zu relativen Produktionsüberschüssen führen, was nach Jack Goody (1971) die Entstehung zentralisierter Formen begünstigt. Folglich entstanden dort zentrali-sierte Königreiche. Denn für die Entstehung zentralisierter Formen werden Agrarproduktions- zugunsten von Verwaltungsaufgaben aufgegeben. Dies bedeu-tet, dass die Gesellschaft über einen Produktionsüberschuss verfügen muss, um den Anteil der an der Produktion ausfallenden Bevölkerung auszugleichen. Zu diesen „andersartigen“ Igbos (als die Ólú bekannt) zählen die Königreiche von Oguta, Onitsha, Osomari, Aboh und Asaba.14 Ein weiterer Unterschied ist, dass im Vergleich zum eher zerstreuten Wohnmuster des typischen Igbodorfs eher kompakte Wohnmuster dieser fünf Königreiche, wie auch bei den Königreichen der Binis und Yorubas, auftreten (Nzimiro 1972: 21).15

4 Igbo-politische Organisation und das System der sozialen Kontrolle Die politische Einheit der Igbos ist das Dorf. Jedes ist unabhängig und bildet eine politische Gemeinde für sich. Eine Ansammlung von Dörfern bildet den Klan. Über die Klane hinaus existiert keine politische Gemeinschaft. Dies ist selbstverständlich, denn die nächste Stufe oberhalb der Klane wäre die ethnische Gruppe. Aber eine solche ethnische Zugehörigkeit kennt das Igboland nicht, möglicherweise, weil es in präkolonialer Zeit kaum Kontakt zwischen den Igbos als einer geschlossenen Einheit und den anderen ethnischen Gruppen gab. Dieser Kontakt ist erst seit der Zeit des Kolonialismus bekannt. Demgemäß entstand das ethnische Selbstbewusstsein der Igbos erst in der kolonialen Ära (vgl. Nnoli 1978).

14 Nur diese Königreiche in Igboland lassen sich qualitativ mit dem neuen Konzept der „neotraditio-nellen Häuptlingstümer“ vergleichen. Da sie eine Randerscheinung der Igbopolitik sind, spielen sie in dieser Analyse keine Rolle. Manche Igbos stellen sogar das Igbo-Sein dieser am Fluss liegenden Igbos in Frage, u. a. weil sie Könige haben. Schließlich sagt ein Igbo-Sprichwort: Igbo enwe Eze (Igbos haben keine Könige). 15 Manche Autoren meinen, dieses königliche System sei von Benin Kingdom kopiert, da das Benin Königreich an der südlichen Grenze der westlichen Igbos liegt und Einfluss auf jene Igbos hatte. Siehe Henderson 1972, Okonjo 1976. Gegen diese These spricht die Tatsache, dass die Anam Igbos gar keine Grenze mit Benin hat, obwohl es dort Könige gibt. Sie liegt am Fluss Anambra und hat ähnliche geographische Bedingungen wie die anderen Igbos mit zentralisierten Königen.

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Die politische Vertretung in Igboland basiert auf dem Prinzip der direkten De-mokratie: Jedes erwachsene männliche Mitglied eines Dorfes darf an der Dorf-versammlung teilnehmen und seine Meinung äußern. James Africanus Horton, dessen Vater ein Igboman war, bevor er nach Amerika als Sklave verschleppt wurde, schrieb im 18.Jahrhundert über die Igbos, „they would not, as a rule, allow anyone to act the superior over them; nor sway their conscience by coer-cion, to the performance of any act, whether good or bad, when they have not the inclination to do so; (…) in fact, every one likes to be his own master“ (Horton 1965: 164). Um diese Qualität des Igbo-Systems zu benennen, titelte Prof. Hen-derson sein Buch über die Onitsha-Igbos „King in everyman“ (Henderson 1972). Das System ist daher klassisch egalitär und republikanisch.16 Afigbo (1972) kategorisiert die zwei Varianten des politischen Systems der Igbos als ‚democra-tic village republic’ (für die akephalen Igbos) und ‚constitutional village monarchy’ (für die Igbos mit zentralisierten königlichen Systemen). Thorsten Shaw (1970) erklärt, dass sogar der König im altertümlichen Igbo-Ukwu, als erster und einziger König, lediglich ein "Priester-König" war. Dieser überwachte das Anbeten der schützenden Gottheit der Agrarproduktion und besaß keine politische Macht. Die Igbopolitik weist keine Trennung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative auf. Nur das Religiöse scheint sich von den anderen Teilfunktionen losgelöst zu haben, denn es gibt in jedem Dorf „Native Doctors“, die oftmals die Souveränität über spirituelle und auch medizinische Belange besitzen. Bei den Igbos mit zentralisierten Systemen teilen die Native Doctors diese Aufgabe mit den Frauenverbänden. Entscheidungsfindung in Igboland wird „ad hoc“ nach dem Konsensprinzip oder aufgrund von Tradition und Brauch hergestellt. Urteile werden in der Regel in Sprichwörtern abgefasst und dabei wird Fehlverhalten den Streitparteien zugewiesen.

4.1 Die Struktur der Igbo-politischen Organisation

„The basic principle of social and political life in south-eastern Nigeria was descent. The basic unit of residence and of many economic activities consisted of a living pa-triarch and his sons with their wives, children, and other dependants. This ‘extended family’ was self-governing in all internal matters“ (Northrup 1978: 90-91).

Die „erweiterte“ Familie, angeführt von dem lebenden Patriarchen, bildet den Kern der politischen Organisation, indem sie ihre Angelegenheiten unabhängig regelt. Familien mit einem gemeinsamen Vorfahren, als Umunna bekannt, woh- 16 In egalitären Gesellschaften existieren nur Geschlecht und Alter als Rangunterschiede zwischen Menschen (vgl. Fried 1967).

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nen und organisieren alles zusammen, wobei die Umunna sowohl die nächste politische Stufe als auch die Grundbesitzeinheit darstellt.17 Jede Familie und jede Umunna wird von dem ältesten männlichen Mitglied geführt. Benachbarte Umunna mit einem gemeinsamen Vorfahren bilden ein Unterdorf bzw. Dorf – die politische Haupteinheit in Igboland.18 Eine Ansammlung von Dörfern mit ge-meinsamen Vorfahren bildet einen Klan.

4.2 Quellen legitimer Autorität in Igboland Autorität versteht man in Igboland nicht im Sinne von Herrschaft, sondern als moralische Berechtigung, öffentliche Macht auszuüben oder Gehör in der Ge-sellschaft zu finden. Die Prinzipien der Gerontokratie und der Primogenitur so-wie der Glaube an die Intervention des Jenseits und die Wertschätzung persönli-cher Leistungen konstituieren die Quellen legitimer Autorität. Führungspositio-nen werden von den Ältesten in den Familien übernommen. Da sie oftmals die Erstgeborenen sind, ist die Position des erstgeborenen männlichen Kindes eine Institution und als „Di Okpala“ oder „Okpara“ bekannt. Dies gilt ebenfalls für die Umunna, das Dorf und den Klan. Sie besitzen enormen Einfluss als Mittels-männer zwischen den Familien- bzw. Großfamilienmitgliedern und den Geistern der Vorfahren. Ihre politische Autorität ist lediglich auf den Vorsitz im Familien-rat beschränkt. Persönliche Leistungen erfahren in vielen Fällen eine höhere Achtung als das Alter.

„In most aspects of life in south-eastern Nigeria leadership was achieved by personal talent and determination. The natural leaders of the community rose to the fore through their skills in oratory, valour in battle, success in farming, hunting or trad-ing, strength in wrestling, general intelligence and good judgement” (Northrup 1978: 93).

Personen mit diesen Talenten werden in der Gesellschaft geachtet. Solche Füh-rungspersönlichkeiten und Meinungsmacher erzielen ungeachtet ihres Alters eine Wirkung auf die Gesellschaft und können zu gegebener Zeit Führungsaufgaben übernehmen. Weisheit ist ebenfalls ein Talent, das in Igboland sehr begehrt ist.

17 Wörtlich übersetzt bedeutet Umunna „Kinder eines Vaters“, wobei Kinder in diesem Sinne nur die Jungen bezeichnet. Frauen verlassen ihre Familien durch Heirat und spielen somit keine Rolle bei der Stammesnachzeichnung. Aus diesem Grund ist die Geburt eines Sohnes für jeden Igboman sehr wichtig, denn nur so wird die ‚Familienexistenz’ aufrechterhalten. 18 Harneit-Sievers (1998: 2) nennt sie „village groups“ - eine Gruppe von Dörfern. Die Bezeichnun-gen Dorf, Stadt oder Dörfergruppe (village groups) beziehen sich auf ein und dieselbe soziale Forma-tion.

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Um Weisheit auszudrücken, sprechen die Igbos gerne mit Sprichwörtern. Durch diese Achtung von persönlichen Errungenschaften fördert das Igbosystem indi-viduelle Initiative und Ehrgeiz. Eine Folge dieses sozialen Wertes waren die schnellen Erfolge der Igbos in den neueren Epochen (internationaler Handel, Kolonialismus), gepaart mit der Eindämmung der Entstehung von autoritären Persönlichkeiten. Kolonialismus und die post-koloniale Politik Nigerias trugen erheblich zu einer Veränderung der Igbo-Persönlichkeit sowie zu einer Verfäl-schung und damit Illegitimierung des politischen Systems bei, wie später gezeigt werden soll. 4.3 Politische Organe Igbolands Entsprechend der Dezentralisierung von politischer Macht ist Gewaltkontrolle in akephalen Gesellschaften dezentralisiert: Familien behalten das Recht der Ge-waltausübung. Es ist vielleicht unangebracht, in akephalen Gesellschaften von Gewaltkontrolle zu sprechen, denn dies setzt eine gewisse Zentralisierung vo-raus, was bei ihnen nicht zutrifft. Die Rede ist eher von Fehdenregelung, insbe-sondere bei der Blutfehde, die auf Familien oder Klanen basiert. Da die Igbos keine zentralisierten Organe haben, folgt die Schlichtung von Fehden dem Segmentärprinzip: Geschädigte Familien verlangen einen Schadenersatz von der Gegenfamilie, entsprechend Tradition und Brauch. Wenn dies nicht erfolgt, wird der Dorfrat um entscheidende Ratschläge gebeten. Dieser Prozess verläuft oft-mals friedlich, es sei denn, das betroffene Segment ist groß. Das Erkenntnisinte-resse hier gilt eher den Bedingungen, die die Entstehung von Gewalt beeinflus-sen, weniger den Mechanismen zur Verhinderung von Gewalt. Meines Erachtens führen Sozialstratifikation und Sozialkontrolle durch verfasste (aufgeklärte) Gesetze zur Ausübung von Gewalt, was deren Kontrolle in entsprechenden Ge-sellschaften notwendig macht. Beim sozialen Egalitarismus, gekoppelt mit der Angst vor Strafen durch „allmächtige“ Orakel, reduziert sich die Möglichkeit der Entstehung von Gewalt erheblich.19 Man kann daher argumentieren, dass Aufklä-rung und Modernität Gewaltbereitschaft erhöhen. Es gibt kein permanentes Or-gan der Dorfverteidigung in Igboland: Bei Kriegen zwischen Dörfern werden

19 Dies kann man mit religiösen Gesellschaften vergleichen: Der unaufgeklärte Glaube an eine Gott-heit, die alles sieht und beurteilt, erhöht den Respekt vor den Gesetzen dieser Gottheit und verringert dadurch Gewaltausübung.

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junge Männer ausgewählt, die in den Kampf ziehen und nachts Wache halten, um überraschende Angriffe abzuwehren.20 4.3.1 Council of Elders Das einflussreichste politische Organ Igbolands ist der Council of Elders (Ältes-tenrat). Wie der Name sagt, besteht dieser Rat aus Familien- bzw. Umunna- oder Dorfführern, die die Ältesten ihrer Gemeinschaften sind. Jüngere Menschen mit besonderen Talenten und Leistungen werden in der Regel als Mitglieder aufge-nommen. Jede politische Einheit innerhalb des Segments hat ihren Council of Elders. Die Mitglieder zeichnen sich gerne aus, durch die Anwendung von präg-nanten Sprichwörtern beim Reden. So untermauern sie ihre Weisheit. Dieser Rat hat keine exekutive Macht, trifft aber rechtsverbindliche Entscheidungen. Die Exekution von Entscheidungen wird ad hoc an dafür zuständige Gruppen über-geben. Geht es z.B. um die Ausübung von Gewalt oder Kraft, wird die Aufgabe den jüngeren Männern übergeben. Wenn ein Fall weise Ratschläge erfordert, werden die älteren Altersgruppen mit der Aufgabe betraut.

Bei der Beilegung von Streitigkeiten wird Wert darauf gelegt, dass Fehler aller Seiten aufgezeigt werden. Dies zielt darauf, das zukünftige Miteinander unter den Streitparteien nicht zu gefährden. Es ist also eine Gesellschaft, die Wert auf Harmonie legt. Ein Widerspruchsrecht gegen Urteile gibt es nicht. Die Urteile sind gegen jeden Verdacht erhaben, denn es herrscht der Glaube, dass das Jenseits solche Vergehen früher oder später bestraft. Außerdem glaubt man an die göttliche Intervention.21

4.3.2 Die Altersgruppe(n) Altersgruppen stellen eine wichtige politische Institution in Igboland dar. Sie bestehen jeweils aus Männern, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes (meist im Abstand von vier Jahren) geboren sind. Im Jugendalter bilden sie eine Alters-gruppe. Jede wird der Öffentlichkeit in einer feierlichen Zeremonie vorgestellt. Entsprechend der Fähigkeiten der unterschiedlichen Altersgruppe wird die Durchführung gesellschaftlicher Aufgaben verteilt. Die Aufgaben der zivilen

20 Akephale Gesellschaften sind vergleichsweise friedlich. Meist sind es die intensiven und zerstöre-rischen Kontakte zwischen diesen Gesellschaften und ausbeuterischen Nationen, die zu Kriegen führen (vgl. Davis/Matthews 1976). 21 Dies sollte jedoch nicht dahingehend missdeutet werden, als gäbe es keine Missverständnisse und Konflikte – es sind nur wenige, insbesondere im Vergleich zu zentralisierten Formen.

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gesellschaftlichen Organisationen und der politischen Parteien in moder-nen/staatlichen Gesellschaften (Interessenartikulierung, Interessenvertretung, Bevölkerungsschutz usw.) werden durch die Altersgruppe erledigt. Dies ist da-rauf zurückzuführen, dass Lebensbedürfnisse und Fähigkeiten zum großen Teil altersbedingt sind. Prof. Afigbo hält fest: „The age grade system has been graphically described as that method by which segmentary communities organ-ised themselves for work, war and government“ (Afigbo 1972: 22). In der Regel beschäftigen sich die noch nicht volljährigen Altersgruppen mit der Instandhal-tung von öffentlichen Versorgungseinrichtungen und Ressourcen. Solche Age Grades dienen auch als Gelegenheit für den Nachwuchs, ihre Führungsqualitäten zu demonstrieren. Die volljährigen Altersgruppen kümmern sich um die Kriege und die Vollstreckung der Entscheidungen des Council of Elders, während sich die Älteren um Beratungen und die Justizverwaltung kümmern. 4.3.3 Die Ozo-Titel Der Ozo ist ein Verband von Männern mit dem gleichnamigen Titel. Dieser Titel verleiht den Inhabern politische Macht. Jeder Ozo-Titelinhaber darf z.B. an den Sitzungen des Council of Elders teilnehmen. Ein Ozo-Titel bedeutet die Erlan-gung von Reichtum und ist eine Anerkennung für besondere Leistungen, insbe-sondere durch Geldverdienen. Die Idee hinter dem politischen Einfluss dieses Titels ist, dass sich ein reicher Mann kaum bestechen lässt und sich daher nur der Wahrheit verpflichtet fühlt.22 Die Titelinhaber werden dann zu politischen Füh-rern, Beratern und Schlichtern. Es ist ein erstes Anzeichen schleichender sozialer Stratifizierung und Transformation politischer Ordnung Igbolands. Dies unter-mauert die Annahme, dass segmentäre Gesellschaften kaum soziale Stratifikation aufweisen und ökonomische Gleichheit die Basis des Egalitarismus ist. Mit sozi-aler Stratifikation durch internationalen Handel jeglicher Art entstanden in Igboland politische Verbände die nichts mit Stammlinien zu tun hatten. Dies gilt ebenfalls für die Ogboni Society.23 Die Mitgliedschaft in diesem Verband ist nur für Männer offen und aufgrund ihrer Beitrittsrituale wurde (und wird) die Ogboni als eine Geheimgesellschaft angesehen.

Northrup (1978: 108) datiert die Entstehung der Ozo-Titel in Zusammen-hang mit den Expansionen des internationalen Handels mit Sklaven und Palmöl auf das 18. Jahrhundert. Die politische Signifikanz des Ozo wuchs so sehr, dass die Ozo-Society in manchen Dörfern die Position des Council of Elders komplett 22 Der reiche Mann hat seine Zunge gewaschen, sagt man in Igboland. Mit zunehmendem Reichtum und „Aufklärung“ werden Sinn und Signifikanz dieses Gedankens jedoch verfälscht. 23 Ogboni ist das südnigerianische Pendant zu den europäischen Freimaurern.

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übernahm. Es stellt sich die Frage, was aus dieser Entwicklung ohne die Koloni-sierung Nigerias geworden wäre, denn der Ozo war die erste auf Verband und nicht auf Sippen gegründete politische Organisation in Igboland, die eine Ähn-lichkeit mit zentralisierten politischen Gebilden (z.B. Staaten) aufzeigte. Aber hier soll nicht der Fehler vieler Autoren wiederholt werden, die das Igbo-System als ein Entwicklungsstadium zu etwas anderem betrachten. Hier wird das Igbo-System als ein eigenständiges System betrachtet. Die Igbos haben eine offene Gesellschaft, in der Anerkennung auf Leistung basiert. Erst der Ozo und in grö-ßerem Maße die Ogboni Society brachten Elemente der Geschlossenheit in dieses System hinein. Die Ogboni ist eine viel geschlossenere Vereinigung als der Ozo, weshalb die Ogboni als mysteriös und beängstigend angesehen wird. Die Vo-raussetzung für eine Mitgliedschaft und die Initiation in den Ozo sind offen. Bei der Ogboni dagegen muss ein prospektives Mitglied von einem anderen Mitglied empfohlen werden; zudem sind die Initiationsrituale und die Mitgliedschaftsbe-dingungen in Mythos und Mysterien verborgen, da bei der Initiation Stillschwei-gen vereinbart wird. Diese Tatsachen verhindern die breite gesellschaftliche Akzeptanz (Legitimität) der Ogboni, einer der Gründe, weshalb sie in Igboland nicht so angesehen ist. Im Gegenteil zu Ozo hat Ogboni keine politische Macht.

4.3.4 Orakel Kulturanthropologische Studien sehen Regelsetzung und Aufrechterhaltung des Sozialkontrollsystems durch Orakel als ein hervorstechendes Merkmal der akephalen Gesellschaften. Dementsprechend ist Igboland voll von Orakeln.24 In der Tradition der Evolutionstheoretiker des 19. Jahrhunderts sah Max Weber (1922: 386-512) religiös abgeleitete Gesetzgebungen (z.B. Orakel) als die Mit-telstufe in der dreistufigen Evolution von primitiven zu verfassten Gesetzge-bungsverfahren an. Die Igbos glauben an eine Verbindung zwischen den Leben-den, den Verstorbenen und sogar den Ungeborenen. Die Verstorbenen überwa-chen die Taten der Lebenden, schützen und bestrafen sie und werden bei den Urteilsfindungen aufgesucht. Das macht die Position der Native Doctors bedeut-sam. So besitzen sie u. a. die Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit dem Toten, wobei diese Kontaktaufnahme z. T. durch das Orakel geschieht. Entscheidungs-findungen werden durch die Recherchen der Orakeldiener herbeigeführt, was vorurteilslos geschehen muss (Ottenberg 1958: 303), um den Zorn des Orakels nicht auf sich zu ziehen.25 Dessen Urteilen darf sich niemand widersetzen. Die- 24 Jeder Igboklan hat ein eigenes Orakel. Igwekaala, Agbala, Idemili, Ozuzu sind einigermaßen länderübergreifend bekannt. 25 Dies sollte nicht so verstanden werden, als ob es keinen Missbrauch gegeben hätte.

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ser Glaube schweißt die Gesellschaft zusammen und ist von erheblicher Bedeu-tung bei der Ausübung sozialer Kontrolle, einschließlich der Kontrolle von Machtmissbrauch.26 Orakel stellen somit die höchste gerichtliche Instanz dar. 4.3.5 Frauenvereinigung Entgegen der im Westen gängigen Meinung, wonach Frauen in Afrika kein Mit-spracherecht haben, besitzen diese in Igboland ausgesprochen viel politische Macht bzw. Einfluss, wenngleich diese auch unklar definiert und manchmal den Männern untergeordnet ist. Gruppeninteressenvertretung in Igboland ist haupt-sächlich alters- und geschlechtsbestimmt. Daher verfügt Igboland u. a. über mächtige Frauenverbände. Das Frauenvolk – wie man in Igboland sagt – hat eigene Kompetenzbereiche und politische Institutionen und ist unabhängig von dem Männervolk.27 Die politische Unabhängigkeit der Frauen geht auf ihre wirt-schaftliche Unabhängigkeit zurück, denn die finanzielle Unabhängigkeit der Frauen ist stark im System verankert und geschützt. Es gibt z. B. unterschiedli-che Anbaupflanzen sowie unterschiedliche Tiere für die beiden Geschlechter: Die Jamswurzel (die Hauptanbaupflanze) gehört den Männern, alles andere (ins-besondere Obst und Gemüse) den Frauen. Bei der Eheschließung bekommt eine Frau ihr eigenes Grundstück bzw. ihren eigenen Viehbestand vom Ehemann. Alle Entscheidungen über das Bestellen des Grundstücks und die Haltung der Tiere sind das exklusive Recht der Frau. Dies gilt auch für die Erlöse aus dem Verkauf dieser Agrarerzeugnisse/Tiere. Bei der Viehhaltung steht dem Mann das Halten von Kühen zu; Frauen dürfen Schafe, Ziegen und Hühner halten.28 Der Klein-handel auf Märkten gehört den Frauen, während die Männer den Fernhandel innehaben. Frauen sind auch eine Art Ordnungsmacht der Gesellschaft. Sie ent-scheiden auf regelmäßigen Treffen, wie sie Ehemänner disziplinieren, die sich nicht angemessen verhalten.29 Disziplinäre Maßnahmen schließen etwa das „Auf dem Mann sitzen“ ein.30 Ehebruch zählt ebenfalls zum Kompetenzbereich der

26 Macht – die Vollstreckung von gesellschaftlichen Entscheidungen und Wünschen – wird ad hoc von der Gesellschaft, je nach Gegebenheiten, delegiert, mit Ausnahme von religiösen/spirituellen Fragen. 27 Männliche und weibliche Angelegenheiten werden in Igboland so getrennt voneinander geregelt, dass es Sinn macht, von den beiden Geschlechtern zu sprechen, als ginge es um unterschiedliche Völker. 28 Das moderne Igboland (wie das moderne Afrika auch) befindet sich im Wandel, mit dem Ergebnis, dass diese Regeln nicht mehr so zu halten sind. Heute darf jede bzw. jeder alles machen. 29 Das Vorenthalten von Sex ist hier ein gerne eingesetztes Mittel. 30 „Auf dem Mann sitzen“ ist ein weitverbreitetes und anerkanntes Mittel der Frauen, ihren Willen durchzusetzen. Es wird oft eingesetzt, wenn das Frauenvolk ein Problem mit einem aufsässigen

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Frauen (vgl. Okonjo 1976: 53). Für diese Aufgaben existieren politische Organi-sationen der Frauen, wie etwa die „Unyomdi“ oder „Umuada“.31 Unyomdi ist ein Verband der Frauen, die in ein Segment (Umunna, Dorf, Town) eingeheiratet haben. Umuada bezeichnet die Töchter eines Segments.32 Diese sind politisch mächtige Verbände.33 Umuada haben eine besondere Aufgabe bei der Aufrecht-erhaltung friedlicher Beziehungen zwischen Dörfern.34 Frauen, die besondere Leistungen erbringen, werden als Gleiche anerkannt, indem ihnen politische und soziale Verantwortung übertragen wird. Es gibt auch weibliche Titel für diejeni-gen, die sich durch Leistung oder Reichtum ausgezeichnet haben. Die Grenzen zwischen den weiblichen und männlichen Institutionen sind so stark ausgeprägt und werden dermaßen respektiert, ergänzen sich auf der anderen Seite jedoch so sehr, dass Okonjo (1976) zu Recht das Igbo-politische System generell als ein ‚dual-sex political system’ mit ‚gendered complementary structures’ bezeichnet. Damit wird die Anerkennung der Zwei-Geschlechter-Öffentlichkeit der Igbos betont.

Jedes Dorf hat seine Frauenvereinigung und individuelle weibliche Füh-rungspersönlichkeiten, die mit Vorschlägen und Taten aktiv werden, besonders im Bereich des Familienmanagements oder bei der Einschränkung der Männer in ihren Handlungen. Dies war, um nur ein Beispiel zu nennen, der Fall bei den Aba Women Riots von 1929, wo Frauen in der Stadt Aba gegen den Warrant Chief wegen zu hoher Besteuerung ihrer Männer und aus Angst vor eigener Besteue- Mann hat. Dabei versammelt sich die Umuada vor dem Haus des Mannes und stimmt laute Sprech-chöre an, bis der Mann nachgibt und die Bedingungen der Frauen akzeptiert. Je länger das Sitzen dauert, umso aggressiver werden die Frauen. Sie fangen dann an, sein Haus auseinanderzunehmen. 31 In manchen Teilen Igbolands gibt es ebenfalls die „Otu Umuagbogho“ (Jungmädchengruppe). 32 Das Wort „Ada“ bedeutet Tochter. Umuada ist mancherorts das weibliche Pendant zu den Age Grades bei den Jungen. Manche Igbos mit zentralisierten Königreichen haben auch Age Grades für die Mädchen bzw. Frauen. 33 Die Aufgaben der Frauen sind oft spiritueller Art und das macht sie sehr wichtig. Zum Beispiel, bei der Beerdigung eines Mannes muss die endgültige Beerdigungssitte von den Umuada seiner Familie geleistet werden. Somit wird die Beerdingung gültig. Ohne diese Leistung, ist der Mann nicht beerdigt, sogar wenn er schon unter der Erde liegen würde. Dies ist immer eine Gelegenheit für das Frauenvolk, alle ihre Rechte, Privilegien und was auch die Männer Ihnen enthalten hatte, aus den Männern zu quetschen. Es ist das Anliegen der Männer, zu sehen, dass es nicht dazu kommt, indem sie den Frauen ihre Rechte und Privilegien immer wieder gewähren. 34 Durch die Mitgliedschaft der Umuada halten Frauen die Beziehung zur ihrer gebürtigen Familie aufrecht. Demnach sagt man, dass eine Frau zwei Heimaten hat. Frauen, die aus einem Dorf stammen aber in ein benachbartes Dorf verheiratet sind, haben i. d. R. eine Organisation für die Regelung gemeinsamer Angelegenheiten. In Falle eines Konflikts zwischen diesen zwei Dörfern übernehmen die Frauen durch ihre Organisation die Verhandlungen, damit der Konflikt nicht in Krieg ausartet. Sie tun das, weil sie im Falle eines Krieges auf beiden Seiten Verluste zu erleiden haben. Auf einer Seite ihre Brüder, und auf der andere Seite ihre Ehemänner. Solche Verhandlungen werden oft mit Erfolg gekrönt. Trotz des Verheiratet-Seins bleibt eine Frau politisch mächtig in ihrer angeborenen Familie.

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rung rebellierten (vgl. Allen 1972).35 Mehr als 60 Frauen wurden bei der Rebel-lion durch die britischen Kolonialisten erschossen (Okonjo 1976: 46). Des Weite-ren untermauerten die Igbofrauen durch diese Tat ihre Ablehnung gegenüber der britischen Kolonialherrschaft sowie gegenüber der Beugung ihrer Männer vor dieser Herrschaft.

Bei den Igbos mit königlichen Systemen haben die Frauen eine eigene zen-tralisierte Institution, die Omu.36 Diese Position wird in der Regel von einer Frau mit Titeln bekleidet und verfügt über ein „Regierungskabinett“, genauso wie der König. Ihr Zuständigkeitsbereich ist unantastbar und schließt die Durchführung von Ritualen zum Wohle der Gesellschaft sowie die Organisation der Märkte ein. Sollte der König und sein Kabinett einen Beschluss fassen, der eine Aufgabe für die Frauen vorsieht oder sich mit ihren Zuständigkeitsbereichen überschneidet, muss das Einverständnis der Frauen durch die Omu erworben werden. Okonjo (1976: 48) warnt davor, die Omu als „Königin“ im westlichen Sinne zu bezeich-nen. Dies führe zu einer Verzerrung ihrer Bedeutung, denn sie ist eine gesonderte Institution, die es in westlichen Gesellschaften nicht gibt. Königinnen in westli-chen Gesellschaften sind Frauen, die männliche Positionen aufgrund mangelnden männlichen Nachwuchses bekleiden. Die Omu ist eine rein weibliche Führungs-position für weibliche Angelegenheiten. Allerdings haben sowohl die durch Ko-lonialismus und Christianisierung eingeführten Veränderungen in der Gesell-schaft sowie auch die Nach-Unabhängigkeitspolitik Nigerias die politische Macht der Igbo-Frauen erheblich unterminiert. Diesbezüglich zieht Van Allen (1976: 75) ein treffendes Fazit:

„All three - colonial government, foreign investment and the church - contributed to the growth of a system of political and economic stratification that made community decisions less public in both senses we have discussed and that led to concentration of national political power in the hands of small, educated, wealthy, male elite. For though we are here focusing on the political results of colonialism, they must be seen as part of the whole system of imposed class and sex stratification.”

5 Zentralisierungstendenzen im politischen System der Igbos? Zustand und Veränderungen der internationalen politischen Ökonomie haben starken Einfluss auf die afrikanischen Staaten. Kolonialer Imperialismus (eine

35 Diese Rebellion unterstrich die Unzufriedenheit der Igbofrauen mit ihrer politischen Marginalisie-rung, die die Kolonialisten eingeführt haben. 36 „Omu“ ist eine Abkürzung für „Omunwa“ und bedeutet sowie „Gebärerin von Kindern“. So zollt die Gesellschaft Respekt für den Beitrag der Frauen bei der Erhaltung des Lebens in der Gesellschaft.

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Epoche der internationalen politischen Ökonomie) gründete diese Staaten und stieß Afrika in die Moderne. Folgerichtig bilden dieses historische Ereignis und dessen Auswirkungen den natürlichen Ausgangspunkt für eine Analyse der poli-tischen und wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas. Dieses Verfahren ist in post-kolonialen Staaten zur Tradition geworden.37

Vor dem Eindringen der Europäer handelte es sich bei den Igbos um relativ arme Gesellschaften, die in kleinen Dörfer organisiert waren und hauptsächlich von der Agrarwirtschaft lebten. Güteraustausch existierte zwar rudimentär, dien-te aber nicht der Akkumulation, sondern lediglich der Deckung der Grundbe-dürfnisse. Obwohl das Interesse an Akkumulation vorhanden war, blieben die Mittel hierzu außerordentlich begrenzt. Die Penetration der Igbo-Gesellschaft durch die Europäer differenzierte zunächst die Wirtschaft, und führte schließlich zur Stratifikation der Gesellschaft. Ab dem 16. Jahrhundert bot der internationale Handel Akkumulationsgelegenheiten und veränderte dadurch das politische System. Durch die Anhäufung von Reichtum bildeten sich Entwicklungen her-aus, die zunächst durch Schichtendifferenzierung Tendenzen einer Machtzentra-lisierung aufwiesen. Hier kann lediglich von Tendenzen gesprochen werden, da diese Entwicklung zur politischen Zentralisierung nicht eindeutig nachgewiesen wurde. Die Tatsache etwa, dass Männer mit Ozo-Titeln versuchten, die politische Struktur aufrechtzuerhalten, anstatt die Basis einer autokratischen Machtaus-übung aufzubauen, deutet darauf hin, dass sie keine Machtübernahme intendier-ten (Northrup 1978: 112).

5.1 Internationaler Handel „The history of modern West Africa is largely the history of five centuries of trade with Europeans”. So eröffnet Prof. K. O. Dike (1956: 1) seinen Klassiker Trade and Politics in Niger Delta 1830-1885 und unterstrich damit den überwäl-tigenden Einfluss des internationalen Handels auf die soziale Organisation in diesem Gebiet. Geschäftstüchtige und talentierte Menschen nutzten die sich hierdurch bietenden Möglichkeiten, Reichtum anzuhäufen. Die Einführung des Handels mit teuren Konsumgütern, Sklaven und später Palmöl veränderte nicht nur die ökonomische Grundlage der Gesellschaft (mehr Differenzierung), son-dern beseitigte auch die ursprüngliche Basis des sozialen Egalitarismus. Die Reichen hatten offenkundig einen Weg gefunden, um sich politische Macht an-zueignen. Mangels dokumentierter Studien über die Entstehung der Ozo-Titel ist 37 Der Einfluss der internationalen politischen Ökonomie auf afrikanische Staaten währt noch fort. Der aktuelle Triumph des Neoliberalismus als das Leitprinzip internationaler politischer Ökonomie hat zu Staatszerfall, Bürgerkriegen und Gewalttaten in Afrika geführt.

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eine Nachzeichnung dieses Entwicklungsprozesses sehr schwierig. Tatsache ist aber, dass „by the nineteenth century titles and trading wealth were clearly linked“ (Northrup 1978: 111). Der Titel selbst verleiht politische Macht bzw. Einfluss. Dies ist eine sich auf Wirtschaftskraft und Verbände gründende Macht, ähnlich der des Staates oder anderer Formen zentralisierter politischer Organisa-tionen. Wie in meinem theoretischen Ausgangspunkt bereits angedeutet, leitete internationaler Handel die erste dokumentierte Transformation des politischen Systems der Igbos ein. 5.2 Das Long Juju von Arochukwu (Ibini Ukpabi) Nicht wenige Wissenschaftler und Historiker betrachten das Ibini Ukpabi-Phänomen als eine Zentralisierungstendenz in Igboland. Die Aros, ein Igbo-Klan, instrumentalisierten ihr Orakel (Ibini Ukpabi), um ihren Einfluss und ihre Dominanz in beträchtlichen Teilen Igbolands auszuweiten. Dies führte zu einer Debatte unter Sozialwissenschaftlern und Historikern, in der von einer Seite die Dominanz der Aros als eine Zentralisierungstendenz (eine Transformation der politischen Ordnung) betrachtet wurde, und von der anderen Seite als reine Wirt-schaftsaktivität ohne politische Intention oder Konsequenz. Primär waren die Aros Händler, die ihre spirituelle und gerichtliche Souveränität sowie den Glau-ben der Igbos an Orakel für profitable Geschäfte mit den Europäern ausnutzten und auf diese Weise politische Prozesse in Igboland beeinflussten. Die Relevanz des Aro-Einflusses für diese historisch abgeleitete Diskussion besteht in der Gewährung einer tieferen Einsicht in die Funktionsweise des politischen Systems der Igbos, dem Aufzeigen der Wirkung des internationalen Handels hierauf so-wie in der Demonstration der Überzeugung der Igbos von der Aufrechterhaltung ihres politischen Systems und der Untermauerung der Eigenständigkeit dieses Systems.

Das prominenteste und bei Weitem politisch einflussreichste Orakel in Igboland war das Long Juju von Arochukwu. Der Entstehungszeitpunkt der Aros ist mangels dokumentierter Informationen ungewiss. Die am meisten akzeptierte rekonstruierte Datierung geht von der Gründung der Aros um 1700 aus (vgl. Ottenberg 1969: 16, Ekejiuba 1972: 13). Wie die Igbos zum Glauben an die Sonderbeziehung zwischen Gott und dem Klan der Aros kamen, bleibt vorerst ungeklärt. Aufgrund dieser A-Priori-Setzung wurden die Aros überall in Igboland zur Lösung von Konflikten hinzugezogen. Daraufhin blieben sie oft am Ort und nahmen an Zahl zu, so dass in fast ganz Igboland ‚Aro-Kolonien’ ent-standen, besonders in Afikpo und Ohafia. Die Aros waren hervorragende Ge-schäftsleute und nutzten ihre Kenntnisse über das Igbohinterland für wirtschaftli-

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chen Erfolg. Zu Zeiten des Sklavenhandels waren die Aros die wichtigsten Händler, die Sklaven entführten und an Europäer verkauften. Im besonderen Fällen initiierten sie sogar Kriege zwischen Dörfern, um dann die Kriegsgefan-genen beider Seiten als Sklaven zu verkaufen. Ottenberg notiert, dass „in some areas the Aro, as traders or as agents of the oracle would scout the villages to be attacked and would pass on the information to the mercenaries who would use it for a surprise engagement, usually in the very early morning“ (Ottenberg 1958: 302). Aus ganz Igboland kamen Menschen für gerichtliche Entscheidungen durch den Long Juju nach Arochukwu. Und plötzlich wurden Todesurteile und Versklavungen in Fällen ausgesprochen, für die es vorher leichtere Strafen gege-ben hatte. „For serious crimes death or compensation seem to have been the traditional penalties. However, with the growth of the slave trade sale into slav-ery became a distinct and profitable alternative” (Northrup 1978: 70). Ottenberg schreibt weiter, “The Long Juju functioned as a supreme court of appeals for much of the southeastern part of this region and in the course of its functions produced, as fines or victim, a considerable number of slaves for the export market” (Ottenberg 1969: 71).

Für ihre militärischen Aktivitäten, die u. a. die Aufrechterhaltung des Skla-venhandels zum Ziel hatten, engagierten die Aros die Abam-Ohafia Krieger und erlangten so religiöse, gerichtliche und militärische Souveränität.38 Auf diese Weise kam ein großer Teil Igbolands unter den Einfluss oder gar die politische Dominanz der Aros. Das segmentäre System blieb zwar erhalten, aber darüber wurde die Quasi-Herrschaft der Aros installiert. Durch ihre Kontrolle der Bin-nenwirtschaft und der Haupthandelsroute, die Fähigkeiten der Abam-Krieger und das Gericht der höchsten Instanz (Long Juju) sollen die Aros einen Staat oder ein staatsähnliches Gebilde aufgebaut haben, und zwar einen Handelsstaat (vgl. Stevenson 1968). Stevenson bezeichnete das Aro-System in seiner Analyse als „partial state formation“ (Stevenson 1968: 190), „a fairly well defined state organisation“ (Stevenson 1968: 204) und ebenfalls als eine Organisation „which in terms of the major functions it fulfilled must be considered a state“ (Stevenson 1968: 231). Aufgrund dieser Entwicklungen könnte das Aro-System als eine Form der Transformation, in diesem Fall als eine manifeste Zentralisierung der Igbo-Politik, betrachtet werden.

Entgegen dieser Interpretation konnte ein absichtlicher Drang zur Zentrali-sierung seitens der Aros nicht festgestellt werden. Sie taten das Notwendige, um ihr Wirtschaftsinteresse zu schützen. Nur in Afikpo wurden die Aros zu einer 38 Die Abam sind ein kriegerischer Igbo-Klan, der den Umgang mit Macheten meisterhaft beherrscht. Um als Mann anerkannt zu serden, muss dieser zunächst das Haupt eines Feindes aus einem Krieg zurück nach Hause bringen. Für weitere Informationen über die Abam siehe Jeffreys, M. D. W. (1956) und Uka, N. (1972).

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dominanten politischen Macht, indem sie Veto-Macht beim Dorfrat ausübten, was wiederum darauf zurückzuführen sein könnte, dass die Aros im Laufe der Zeit ungefähr 20% der Afikpo-Bevölkerung ausmachten (Northrup 1978: 121). Daher könnte der britische Wissenschaftler Northrup Recht haben, wenn er aus-führt, dass „while a political force in Afikpo, elsewhere the Aros were more economic imperialists than colonisers. Except where the interests were at stake, they left local politics to follow its usual course” (Northrup 1978: 121). Die Aros waren nicht an einer Staatenbildung interessiert, obwohl sie über genug finanzi-elle und militärische Mittel verfügen (Vgl. Anene 1966: 17, Ottenberg 1958: 299, Henderson 1972: 25). Sogar in Arochukwu selber blieb das System, trotz der Existenz eine Königs hauptsächlich direkt-demokratisch und segmentär. Dennoch ging die Entwicklung der Aros in Richtung Staatenbildung oder we-nigstens in Richtung Zentralisierung der politischen Macht. Da aber die Absicht fehlte, führte sie weder zur Machtzentralisierung noch zur Staatenbildung. Mög-licherweise waren die Aros als Igbos so durchdrungen von Ideen und Praxen der Machtdezentralisierung und direkter Demokratie, dass sie kein Interesse daran zeigten. Sie blieben, wie alle andere Igbos „segmentary at heart“ (Henderson 1972: 25).

5.3 Die Warrant Chiefs 5.3.1 Ursprung In einer historischen Analyse des Widerstands eines segmentären Systems gegen Zentralisierungstendenzen, wie es das der Igbos darstellt, ist eine Darlegung des Warrant Chiefs-Systems vonnöten. Das Warrant Chiefs-System stellte eine Spielart der Machtzentralisierung unter Beibehaltung der Hauptelemente von Segmentierung dar. Benachbarte Dörfer wurden zusammen in ein Distrikt gelegt, wobei eines davon die Distrikthauptstadt unter der Führung eines britischen Distriktoffiziers wurde. Von dort aus, mittels Distriktgerichte, regierte er die Warrant Chiefs, die dann ihre jeweiligen Dörfer regierten. Es war die Strategie der britischen Kolonialisten, die deutlich den Einfluss der internationalen Märkte auf die sozio-politische Organisation Igbolands dokumentierte. Dass ein vorko-loniales Chiefs-System in Teilen Igbolands existierte, ist in dieser Arbeit schon erwähnt worden.39 Die Einführung des Warrant Chief-Systems durch die briti- 39 Das System des Regierens durch Chiefs (ähnlich wie Häuptlinge, sie besitzen jedoch im Gegensatz zu diesen keine Entscheidungsmacht) ist irgendwo zwischen einem zentralisierten Königreich und einem segmentären System anzusiedeln. Das System ist in der Praxis akephal, mit einem Chief als Symbolfigur. Siehe Nzimiro (1972) für eine detaillierte Diskussion.

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sche Krone (eine Ausdehnung dieses Systems auf ganz Igboland) war allerdings ein Novum und stellte insofern eine Transformation der politischen Ordnung dar, als Chiefs dort per Warrant eingesetzt wurden, wo sie vorher nicht existent wa-ren. Diese Chiefs erhielten exekutive und judikative Macht, die legislative Ho-heit jedoch behielt die Kolonialmacht. Jedes Dorf bzw. jeder Town bekam ein Oberhaupt (Chief) zugewiesen, der die Verantwortung für die Implementierung und Interpretation kolonialer Verwaltung bzw. Gesetze innehatte. Dieser musste zwar der Gesellschaft keine Rechenschaft ablegen, wohl aber den britischen Kolonialisten.40 Es war daher ein autoritäres und diktatorisches System, gegen das sich eine an direkte Demokratie gewöhnte Gesellschaft immer widersetzte. Die bereits erwähnten Aba Women Riots von 1929 sind ein eklatantes Beispiel der Proteste gegen die Illegitimität dieses Systems.

Die Einführung des Warrant Chiefs-Systems ist auf die Verwaltungsprob-leme des bis dahin geltenden kolonialen Verwaltungssystems des direkten Regie-rens, auch als das „Crown Colony“-System bekannt, zurückzuführen (Afigbo 1972: 44). Die wichtigsten Aspekte dieses Verwaltungsproblems beziehen sich auf personelle Engpässe sowie auf das mangelnde britische Vertrauen in das traditionelle politische System, Stabilität herzustellen (Flint 1960: 230-234, Afigbo 1972: 44). In Bezug auf die personellen Engpässe spielte die hohe Todes-rate der britischen Beamten infolge tropischer Krankheiten eine große Rolle. Sie betrug zu jener Zeit ungefähr 35 % (Kingsley 1901: 250, 283).

Den Ursprung dieser Verwaltungsprobleme bildete das vorherige System des Protektorats, wonach britische Beamte den lokalen Chiefs bei der Durchfüh-rung der kolonialen Politik beratend zur Seite standen.41 Das Protektoratssystem geht auf die Empfehlungen der Berliner Konferenz 1885 zurück, wobei die euro-päischen Kolonialmächte den effektiven Besitz ihrer Kolonien nachweisen muss-ten, um das Eigentumsrecht zu behalten: ein Lösungsansatz der konfliktträchti-gen europäischen Konkurrenz um Kolonien in Afrika. Folglich haben der Zu-stand und die Veränderungen der internationalen politischen Ökonomie einen gewaltigen Einfluss auf die politische Organisation Afrikas, denn die Einführung der Warrant Chiefs fand in der kolonialen Epoche statt, eine spezifische Epoche der internationalen politischen Ökonomie.

40 Ein Warrant hat in diesem Verständnis die Bedeutung eines Zertifikats, das jemanden berechtigt, im Native Courts als Mitglied zu sitzen. 41 Ein Protektorat bezeichnet eine politische Beziehung zwischen einer beschützenden Macht und einem beschützten Staat, wobei sich die beschützende Macht um die externen Beziehungen des beschützten Staates kümmert, während der beschützte Staat Souveränität über seine internen Angele-genheiten behält.

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5.3.2 Auswahlmethode Es gab zwei Auswahlmethoden für die Warrant Chiefs: die erste war eine will-kürliche Auswahl der Kandidaten durch die koloniale Regierung, ohne Rücksicht auf die Bevölkerung. Mit zunehmender Kritik am Auswahlsystem, welches Machtmissbrauch zur Folge hatte, wurde eine zweite Methode eingeführt, die eine Konsultation des Volkes beinhaltete. Die Kriterien für die willkürliche Aus-wahl der Kandidaten waren oft trivial.42

5.3.3 Struktur und Funktion Eine Proklamation von 1900 schuf zwei Kategorien einheimischer Gerichte: die Native Authority und der Native Council. Die Native Authority war das niederrangige Gericht. Sie wurde von einem lokalen Chief geleitet, während das Native Council das höhere Gericht war und von einem politischen (britischen) Beamten geführt wurde. Mitglieder der beiden Gerichte besaßen die Warrants und waren auch in vielen Fällen Chiefs in ihren Dörfern bzw. Dorfgruppen. Sie genossen kaum die Legitimität der Gesellschaft, waren dennoch gefürchtet. Als Konsequenz willkürlicher kolonialer Machtausweitung etablierte sich das Sys-tem immer deutlicher. Die Hauptaufgabe der Warrant Chiefs bestand in der will-kürlichen Rekrutierung von Zwangsarbeitern für den Bau von Eisenbahnen, Straßen, Autobahnen und Kais. Weitere Aufgaben waren die Schlichtung von zwischenmenschlichen und -dörflichen Konflikten nach „native law and custom not opposed to natural morality and humanity“ und wenn nötig, nach Kolonial-gesetzen (Laws of Southern Nigeria for 1900 and 1901, 1903: 430). Sie waren zuständig für Erbschaften, Grundbesitz, Kriminalität, Ungehorsam und Körper-verletzung. Der Native Council überwachte den Native Court. Anwälte waren nicht zulässig. Es überrascht nicht, dass die Warrant Chiefs ihre Position in un-zähligen Fällen zur Selbstbereicherung benutzten. So verwundert es auch nicht, dass sie wegen Korruption heftig kritisiert wurden (vgl. Afigbo 1981: 322-23).43

42 Manche Igbos wurden zu Chiefs ernannt, weil sie den Eindruck von starken Persönlichkeiten vermittelten, obwohl sie keine gesellschaftliche Anerkennung genossen und in einigen Fällen sogar kriminell waren. Andere, wurden von den Kolonialisten als intelligent angesehen, weil sie einen Stuhl zur Dorfversammlung mitgebracht hatten, obwohl es in Realität mit der Unfähigkeit dieser Menschen zusammenhing, über Stunden hinweg zu stehen. 43 Es ist wichtig, diesen Ursprung der „traditionellen Chiefs“ in Igboland bei der Analyse ihrer politi-schen Position zu berücksichtigen, insbesondere, wenn man dies im Rahmen der neotraditionellen Häuptlingstümer tut, denn diese Entstehungsgeschichte unterscheidet die Igbo-Chiefs qualitativ von anderen heutigen neotraditionellen Herrschern, besonders in Bezug auf Legitimität. Nicht zuletzt die erhebliche Korruption unter den Chiefs war der Legitimität abträglich

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5.3.4 Dekolonisierung und Chieftaincy in Igboland Zu Zeiten der Dekolonisierung (die regionalen Regierungen Nigerias erlangten Unabhängigkeit in den 1950er Jahren) wurde das House of Chiefs als zweite parlamentarische Kammer in nördlichen und südlichen Regionen Nigerias ge-schaffen.44 Ostnigeria (wo sich Igboland befindet) wurde wegen seines akephalen traditionellen Systems kein House of Chiefs zugestanden. Politiker aus Ostnigeria kritisierten diese Tatsache und verlangten ein eigenes House of Chiefs, denn die dominante regionale Partei, der National Council of Nigeria and Cameroon (NCNC), sah darin eine Gelegenheit, ihre Popularität durch eine Alli-anz mit den lokalen Machteliten zu steigern (Sklar 1963: 445-446). Zu dieser Zeit hatte sich die Politik als Hauptquelle der Akkumulation von Reichtum etab-liert und Politiker setzten alles daran, ihre Möglichkeiten zu vermehren. Im Jahr 1957 wurde unter der Führung des Cambridge-Anthropologen und ehemaligen Kolonialverwalters Ostnigerias, Prof. G. I. Jones, eine Untersuchungskommissi-on einberufen, um die Kolonialregierung über die Modalitäten der Integration von traditionellen und modernen europäischen Institutionen zu beraten. Prof. Jones empfahl eine eingeschränkte Aufnahme von Chiefs von Amts wegen in die lokalen Councils, sowie ein Prozedere für ihre offizielle Anerkennung und Abbe-rufung durch die Regierung und ebenfalls Gehälter für Chiefs in höheren Verwal-tungsebenen. Dementsprechend wurden zwei Klassen von Chiefs anerkannt. Es entstand damit praktisch ein House of Chiefs für Ostnigeria, wodurch die Trans-formation fortwährte. Das segmentäre System wurde beibehalten ohne einen weiteren Versuch zu unternehmen, ganzs Igboland zu zentralisieren.

5.3.5 Igbo-Chieftaincy im postkolonialen Nigeria Das koloniale System des indirekten Regierens funktionierte aufgrund vorhan-dener legitimer zentralisierter Systeme besser in Nord- und Südnigeria als bei den Igbos.45 Das koloniale System versuchte, sich mittels Kooperation mit die-sen traditionellen Herrschern zu legitimieren. Das Vermächtnis dieses Systems für das postkoloniale Nigeria ist der Einsatz von traditionellen Titeln als Mittel zur Erlangung politischer Positionen. Mit traditionellen politischen Titeln wird ein Eindruck der Popularität eines Politikers unter der lokalen Bevölkerung er-weckt, somit wird der Politiker für die Parteien interessant. Dies widerspricht 44 Durch die grundgesetzliche Reform von 1947 schufen die britischen Kolonialisten ein föderatives System in Nigeria, bestehend aus drei Bundesregionen: Nord, Süd und Ost. 45 Bezüglich der zentralisierten Systeme in Nord- und Südnigeria kann man heute korrekterweise von neotraditionellen Häuptlingstümern sprechen.

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nicht der Unbeliebtheit und Illegitimität der Chiefs. Titel verbesserten das Anse-hen ihrer Träger und machten sie zu „wichtigen Menschen“ (Big Men). Und darum geht es in Nigeria: Wahlkandidatur bleibt ein Privileg dieser „Big Men“. Mit der Etablierung des kolonialen und postkolonialen Staates als Arena der Klassenbildung durch Selbstbereicherung gab es eine Inflation der Chieftaincy-Titel in Igboland. Ursache (der Inflation) war der Versuch Ehrgeizige Igbos in das System der neopatrimonialen und klientelistischen Netzwerke der nigeriani-schen politischen Klasse eingegliedert zu werden. Diese Chieftaincy-Titel waren nicht auf Dorfoberhäupter beschränkt, denn mittels Bestechung der Mitglieder des Dorfrats wurden künstliche und nicht-traditionelle Titel zur Zufriedenstel-lung ehrgeiziger Persönlichkeiten geschaffen. Bedeutsam dabei war, dass ihnen der Titel „Chief“ verliehen wurde. Im Verlauf der Zeit nahmen sich begüterte Igbos ohne das Einverständnis des Dorfoberhauptes und Dorfrats Chieftaincy-Titel. Das Resultat ist, dass Igboland heute voller Persönlichkeiten mit Chieftaincy-Titeln ist, sogar mehr als in nigerianischen Regionen mit zentrali-sierten Systemen.46

Der Erwerb von einem Titel gehört zur Strategie führender Schichten, die sich auf künstliche Legitimation stützen. Zu Zeiten der Militärdiktaturen war es z.B. üblich, eine Allianz mit traditionellen Herrschern zu schließen, um nach der Machtergreifung durch Putsche eine Basis zur Legitimierung militärischer Dikta-tur zu gewinnen.47 Der Militärgouverneur von Anambra State erließ im Jahr 1976 ein Chieftaincy Edict, wonach viele traditionelle Herrscher anerkannt wer-den sollten. Innerhalb von sechs Monaten wurden etwa 208 traditionelle Herr-scher anerkannt, die danach für die Unterstützung des Gouverneurs in der Be-völkerung sorgten (vgl. Harneit-Sievers 1998: 7). In Nigeria ist es für Machtha-ber jeglicher Art üblich, die einflussreichen traditionellen Herrscher kurz nach der Machtergreifung aufzusuchen, um für Unterstützung zu werben. Auf die hier beschriebene jedoch unbeabsichtigte Weise funktioniert die Integration des tradi-tionellen in das moderne westliche System, wie von der Prof. G. I. Jones-Kommission empfohlen.

In Igboland sind viele dieser Chiefs nur Galionsfiguren ohne Macht und Le-gitimität. Missbrauch der Chieftaincy-Titel hat ebenfalls zu einem Ansehensver- 46 Chief Emeka Odumegwu Ojukwu, der Sezessionsanführer von Biafra (1967-1970), hatte schon im Jahr 1996 90 Titel (vgl. Harneit-Sievers 1998: 12). Seitdem sind noch mehr dazugekommen. 47 Die von der Regierung anerkannten Titel werden offiziell Traditional Ruler genannt. Somit sind sie Dorf- bzw. Townherrscher. Chief bezeichnet Menschen in Führungspositionen durch angenom-mene Titel mit Bezug auf traditionelle Legitimität. Leider haben viele der hier beschriebenen Chiefs kaum Legitimität. Es gibt jedoch auch reiche, altruistische Chiefs, die durch ihre philanthropischen Taten in ihren Dörfern sehr beliebt sind. Das heißt, sie verdienen sich ihre Akzeptanz (Legitimität) durch ihren Einsatz (oft finanzieller Natur) für ihre Gemeinden, eine Art charismatische Legitimität, anstelle von traditioneller Legitimität (nach Weber 1922:122-176).

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lust geführt. Reiche Kriminelle eignen sich Titel an, um ihren Ruf zu „säubern“. Diejenigen, deren Verbrechen bekannt sind, werden von der Gesellschaft geäch-tet. Dies führt sogar zur Selbstjustiz gegen die Chiefs, weil die Polizei aufgrund von Korruption kein Vertrauen in der Bevölkerung genießt.48

Die Institution der Chieftaincy in Igboland ist zu einem zusätzlichen Auslö-ser für Gewalt und Unruhe geworden. Der Drang zur Machtanmaßung hat bereits in zahlreichen Fällen zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit tödlichen Fol-gen geführt. Die Frage der Nachfolger der verstorbenen Chiefs ist in vielen Dör-fern bzw. Dorfgruppen ungelöst. Viele Dörfer bzw. Dorfgruppen regeln dies demokratisch, indem sie keine Erbfolge erlauben, sondern einen Kandidaten durch den Dorfrat wählen lassen, der dann gekrönt wird. Natürlich werden die Mitglieder des Dorfrats von den prospektiven Kandidaten bestochen. In anderen Fällen wird von Familie zu Familie rotiert. Die Auseinandersetzung um einen Chieftaincy-Titel in Folge des Versterbens des bisherigen Amtsinhabers ist in vielen Fällen tödlich verlaufen. Andererseits kann nicht geleugnet werden, dass auch Beispiele für eine direkte Erbfolge in der Literatur angegeben werden (vgl. Osuji 1984/85). Trotz der allgegenwärtigen Illegitimität und seines nicht-traditionellen Ursprungs hat sich das Chieftaincy-Phänomen in Igboland durch-gesetzt. Es muss daher korrekterweise als eine systemische Transformation der politischen Ordnung – wenn auch dem nigerianischen politischen System unter-geordnet – betrachtet werden.

6 Fazit Die hier vorgelegte Studie hat folgende Ergebnisse gezeitigt: 1. Akephale Gesellschaften sind ein eigenständiger und voll ausgebildeter

Typus der sozio-politischen Organisation. Sie stellen nicht unbedingt die Vorstufe zur Zentralisierung dar. Dies stellt jedoch nicht den anthropologi-schen Befund in Abrede, dass einige zentralisierte politische Systeme aus akephalen Gesellschaften entstanden seien. Dies entspricht aber nicht der Entwicklung in Igboland. Obwohl sich die Igbos erheblich an Sklavenhan-del beteiligten (ein Phänomen, das in einem anderenTeil Westafrikas zu

48 Im September 1996 z.B. wurde das Schloss des Eze Onu Egwunwoke, Vorsitzender der Imo State Council von Ndi Eze, von wütenden Demonstranten angegriffen, weil er angeblich in Ritualmorde verwickelt war (Harneit-Sievers 1998: 10). Gleichermaßen wurde der Palast von Eze Isaac Ajuonu Ikonne, Enyi I von Aba, der auch ein Mitglied des Imo State Council of Ndi Eze war, im Juli 1997 von Demonstranten wegen seiner angeblichen verdeckten Teilnahme an Raubüberfällen verbrannt (CLO Human Rights Update 1997).

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Staatenbildung führte), blieben sie akephal und segmentär. Die Dominanz des Staates als Units internationaler Beziehungen hat diesen Typus in Ver-gessenheit geraten lassen. Das macht einen Diskurs ihrer Funktionsweise in einem synchronen und diachronen Vergleich verschiedener Formen legiti-mer Autorität notwendig. Dies ist umso wichtiger, da die Charakteristika akephaler Gesellschaften haben offenbar Wirkungen auf die Funktionsweise staatlicher Herrschaft.49

2. Die wichtigsten Merkmale segmentärer Gesellschaften bestehen in der Nicht-Existenz eines Machtzentrums. Ihre sippenbasierte Ordnungsstruktur ist in gleichgestellten Dörfer, darüber Towns und über diesen in Klans ge-ordnet. Jedes Dorf ist eine politische Einheit. Dorfversammlungen und der Rat der Älteren bilden die mächtigsten politischen Institutionen, deren Ent-scheidungen von allgemeiner Verbindlichkeit sind. Die Einberufung dieser Institutionen findet ad hoc statt. Gewaltkontrolle ist dezentralisiert. Jede Familie behält sich das Recht der Ausübung von Gewalt – entsprechend dem Brauch und der Tradition – vor. Den Entscheidungen der Dorfver-sammlung und des Rates der Älteren sind die Orakel übergeordnet, die da-mit die höchste Form der Rechtsprechung darstellen. Der Glaube an Orakel sichert weitgehend die soziale Kontrolle. Altersgruppen bilden das Durch-führungsorgan sowohl für allgemeinverbindliche Entscheidungen als auch für Interessengemeinschaften. Sie fungieren außerdem ähnlich wie politi-sche Parteien.

3. Umweltbedingungen bestimmen die Entstehung von akephalen Gesellschaf-ten. Die Tatsache, dass die in den Nigerbecken beheimateten Igbos andere Umweltbedingungen und konsequenterweise ein abweichendes politisches System vorweisen, untermauert diesen Ansatz.

4. Subsistenzagrarwirtschaft ist die Hauptwirtschaftsaktivität, was zum Man-gel an ökonomischer Differenzierung und Sozialstratifizierung und damit Egalitarismus führt.

5. Die Studie zeigt weiter, dass internationaler Handel, Imperialismus und Kolonialismus die größten Einflussfaktoren im Prozess der Transformation des politischen Systems der Igbos waren. Die Igbos sind akephale Segmen-taristen und direkte Demokraten, deren Überzeugung noch nicht einmal durch die von den wirtschaftlichen Veränderungen eingeführten Zentralisie-rungstendenzen geschmälert werden konnte. Die Transformation der politi-schen Ordnung wurde erst durch die administrative Kosten-Nutzen-

49 Einer der Erklärungen für den Ausbruch des nigerianischen Bürgerkrieges (1967-1970) war, dass die aus Igboland stammenden Militäroffiziere (die Anführer des Putsches, woraus der Krieg entstand) die mangelnde Leistung der nigerianischen politischen Elite nicht dulden konnten, denn es entspricht nicht dem auf Leistung basierten Führungsanspruch in Igboland.

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Rechnung, die zur Umstrukturierung des demokratischen und dezentralisier-ten politischen Systems in Igboland unter Anwendung despotischer Mittel durch die Kolonisten führte, veranlasst. Die Machtlosigkeit der Gesellschaft gegenüber den kolonialen Instrumentarien zwang die Igbos, nach heftigen Widerständen aufzugeben.

6. Überall in Igboland entstanden als Konsequenz Chieftaincy-Throne, die über Einfluss und Prestige verfügten, jedoch ohne Macht und Legitimität waren. Die koloniale Verwaltung baute eine Elite auf, die keine produktive Geldquelle und kaum Legitimität besaß. Mit Gewährung der Unabhängig-keit wurde die politische Macht an diese Elite übergeben, die dann ihre Po-sition einsetzten, um ihren Mangel an Wirtschaftskraft zu kompensieren. Dies führte zur Korruption und Bad Governance, was wiederum die Illegi-timität der Elite erhöhte. In Igboland versuchte diese Elite, sich durch den Erwerb und Anhäufung von in vielen Fällen künstlich geschaffenen Titeln einen Anschein von Legitimität zu geben. Geschäftsleute mit undurchsich-tigen Wirtschaftspraktiken „kauften“ sich Titel und wurden sogar zu Köni-gen ernannt, um ihren schlechten Ruf zu säubern. Die genannten Titel er-laubten die Teilnahme am nigerianischen Kapitalismus (Akkumulation von Reichtum durch Staatsmacht). Als Folge davon entstand eine Allianz zwi-schen den beiden mächtigsten und einflussreichsten, aber illegitimen Schichten Nigerias.

7. Das fremdbestimmte Oktroyer der Transformation des politischen Systems der Igbos führte dazu, dass diese Transformation nicht vollständig ausgebil-det wurde. Im Ergebnis dessen blieb die Struktur der Igbo-Gesellschaft weitgehend erhalten.

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Demokratisierung, neotraditionale Herrschaft und die lokale Ordnung in Südafrika und Namibia

Mario Krämer

Aus der Perspektive der Demokratisierung scheint das neotraditionale1 Häupt-lingtum ein Anachronismus zu sein: Hier wird Macht vorrangig qua Vererbung (zumeist innerhalb von Verwandtschaftsgruppen) und selten mittels Wahlen und des für sie gültigen Repräsentationsgrundsatzes auf Dauer gestellt. Aber die Stabilität des Häuptlingtums ist über alle Maßen bemerkenswert. Ungeachtet aller Umbrüche in den letzten zweihundert Jahren, trotz der vielfältigen und nicht selten gewalttätigen Anstrengungen postkolonialer Regime, das Häuptlingtum zu beseitigen, und entgegen der Einschätzung, dass Häuptlinge zur Bedeutungslo-sigkeit verurteilt sind, sobald gewählte Repräsentanten die politische Bühne betreten, hat sich das Häuptlingtum behauptet. Mehr noch, mancher Beobachter sieht dem Häuptlingtum in der Gegenwart neue politische, kulturelle und gesell-schaftliche Kraft zuwachsen (Skalník 2004) und kann hierbei auf die vielfältigen Funktionen und Kompetenzen des Häuptlingtums verweisen.

Die Forschung über das Häuptlingtum im Prozess der Demokratisierung hat einen weiterhin ungelösten Streit zwischen zwei gegensätzlichen Positionen entfacht: Zum einen hat Mamdanis (1996) These vom „decentralized despotism“ für einiges Aufsehen gesorgt. Mamdani behauptet, dass Häuptlinge im gesamten kolonialen Afrika (einschließlich Südafrikas in der Apartheidzeit) die ländliche Bevölkerung auf Grundlage dezentralisierter, despotischer Herrschaft regierten und kontrollierten. Die Auswirkungen dieser Form indirekter Herrschaft sei eine Zweiteilung der Bevölkerung in „citizens“, jene Bevölkerungsschichten, die

1 Mit „neotraditional“ bezeichne ich im Folgenden jene Institutionen, die maßgeblich durch koloniale und/oder postkoloniale Interventionen umgestaltet wurden, insbesondere um diese vom in den ein-schlägigen Gesetzgebungen Namibias und Südafrikas so üblichen und unreflektierten Begriff „tradi-tional“ (im Sinne von althergebracht, unveränderlich) unterscheiden und abgrenzen zu können. Ein anschauliches Beispiel für solch eine neotraditionale Institution ist das Häuptlingtum (isiZulu: ubukhosi) in KwaZulu-Natal (Südafrika), das zumindest seit Mitte des 18. Jahrhunderts, also bereits vor der Kolonisierung, Bestand hat und weitreichenden Veränderungen in Kolonial- und Apartheid-zeit unterworfen war (siehe Abschnitt 2.) Zu den neotraditionalen Akteuren sind dort neben dem König (isilo) vor allem die Häuptlinge (amakhosi) und headmen (izinduna) zu zählen.

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_6,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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nicht vom „customary law“ betroffen waren bzw. sind und einige bürgerliche Freiheiten genossen bzw. genießen, und in „subjects“, die ländliche Mehrheits-bevölkerung unter der willkürlichen Herrschaft des Häuptlingtums. Laut Mamdani brachen die postkolonialen Staaten nicht mit dem System des dezen-tralisierten Despotismus, und die Demokratisierung scheiterte an der Tatsache, dass der Großteil der afrikanischen Bevölkerung ungenügend auf ihre Rolle als Bürger in einem modernen Staat vorbereitet gewesen sei. Vereinfachend gesagt, stellt das Häuptlingtum gemäß dieser Perspektive ein unüberwindliches Hinder-nis für demokratische Konsolidierung dar.2

Der mit der großen Publizität der Studie einsetzende Streit über die Thesen Mamdanis ist weiter ungelöst, doch wenden sich neuere Studien zunehmend von dessen polarisierender Darstellung des Häuptlingtums ab, in der unter dem To-pos der Demokratisierung eine postkoloniale Tradition der diskursiven Diskredi-tierung „traditionaler“ Einrichtungen bruchlos fortgeführt wird. Im Gegensatz dazu werden die Anpassungsfähigkeit und die teils sehr unterschiedlichen Reak-tionen von Häuptlingen auf die einschneidenden politischen Veränderungen im südlichen Afrika der 1990er Jahre (Rouveroy v. Nieuwaal 1996; Kessel/Oomen 1999; Rouveroy v. Nieuwaal 1999; Peires 2000; Williams 2004; Oomen 2005) sowie Prozesse „institutioneller Mutationen“ zwischen „traditionalen“ und „mo-dernen“ Institutionen geltend gemacht, welche in neu entstehende Formen loka-len Regierens münden (Beall/Vawda/Mkhize 2004). Demokratisierung ist in diesem Zusammenhang weniger eine Anpassung okzidentaler demokratischer Institutionen an die jeweiligen lokalen Verhältnisse als ein Vorgang, in dem neuartige Institutionen geschaffen werden – von Parlamenten, in denen Opposi-tionsparteien marginalisiert sind, bis zu Wahlen unter den Augen internationaler Wahlbeobachter, mit denen Demokratisierungsansprüche großer Geberländer und Einrichtungen der internationalen Zivilgesellschaft mit den lokalen politi-schen Bedingungen und Akteuren versöhnt werden, nicht selten zum Preis der Verschärfung lokaler Konflikte.

Der vorliegende Beitrag nimmt diesen zweiten, differenzierteren Ansatz auf und untersucht zum einen die Rolle des neotraditionalen Häuptlingtums im Pro-zess der Demokratisierung und die Auswirkungen auf das Verhältnis zum südaf-rikanischen Staat. Zum anderen analysiert er die Beziehungen zwischen Häupt-lingen und gewählten Regional- und Lokalräten in Namibia und Südafrika infol-ge der Demokratisierung. Hierbei steht die Frage nach der Legitimität neotradi-tionaler Häuptlinge im Vergleich zu anderen lokalpolitischen Akteuren im Mit-telpunkt der Betrachtung. Meine These lautet, dass Demokratisierungsprozesse

2 Eine ähnlich skeptische Sichtweise bezüglich des Häuptlingtums in Südafrika nehmen Crais (2002) und Maloka/Gordon (1996) ein.

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nicht den oft prophezeiten Niedergang des Häuptlingtums bewirken. Neotradi-tionale Herrscher sind ganz im Gegenteil in der Lage, die Umsetzung demokrati-scher Ideale substantiell zu beeinflussen und zur Konsolidierung ihrer Legitimi-tät und Macht zu nutzen.3

1 Legitimität und Funktionen des neotraditionalen Häuptlingtums im subsaharischen Afrika

Im Zuge der Demokratisierungsanstrengungen im subsaharischen Afrika seit Beginn der 1990er Jahre hat die Literatur zum neotraditionalen Häuptlingtum einen neuen Aufschwung genommen (vgl. Fisiy 1995; Mamdani 1996; Rouveroy v. Nieuwaal 1996; Trotha 1996; Lentz 1998; Dijk/Rouveroy v. Nieuwaal 1999a; Vaughan 2000; Nyamnjoh 2003; Skalník 2004; Williams 2004; Friedman 2005; Oomen 2005; Beall 2006; Ntsebeza 2006; Buur/Kyed 2007; Myers 2008; Ubink 2008). Vorrangiges Merkmal des afrikanischen Häuptlingtums ist seine Vielfalt. Diese Diversität resultiert sowohl aus unterschiedlichen Beziehungen zwischen Häuptlingen und der zentralen Regierung als auch aus unterschiedlichen präkolonialen politischen Strukturen (vgl. Trotha 1994: 225; Rouveroy v. Nieu-waal 1996: 40f.). Dennoch lassen sich einige gemeinsame Grundzüge der afrika-nischen Häuptlingtümer hervorheben.

Im Zuge der Kolonialstaatsbildung versuchten die europäischen Kolonial-herren die Vielfalt der Häuptlingtümer in einer administrativen Struktur, dem „administrativen Häuptlingwesen“, zu vereinheitlichen und folgten dabei den Grundsätzen der Devolution, Hierarchie und des administrativen Bezirks (zu den Einzelheiten vgl. Beck 1989; Trotha 1994: 222ff.). Dieses administrative Häupt-lingwesen ist noch heute Teil der Grundlagen des afrikanischen Häuptlingtums, das eine bemerkenswerte Langlebigkeit und die Fähigkeit auszeichnet, sich trotz tiefgreifender Veränderungen als wesentliche Institution über die Jahrhunderte zu behaupten. Das Häuptlingtum war und ist weiterhin in der Lage, in sozialen und politischen Transformationen auf regionaler wie nationaler Ebene eine ent-scheidende Rolle zu spielen (Rouveroy v. Nieuwaal 1996: 40f.).

Häuptlinge haben in der Regel zwei Legitimitätsgrundlagen: Die neotradi-tionale Ordnung und die staatliche Verwaltung. Diese Tatsache erlaubt es und verlangt von ihnen, unterschiedlich gegenüber Staat und Bevölkerung zu agieren. Als eine Art Knotenpunkt versucht der Häuptling beide Welten zu verbinden. 3 Popitz (1992: 22ff.) unterscheidet zwischen vier „anthropologischen Grundformen“ der Macht, die vielfach in Kombination auftreten: Aktionsmacht, instrumentelle Macht, autoritative Macht und datensetzende Macht. Im folgenden orientiert sich mein Machtverständnis an den Formen eins bis drei. Herrschaft wird hier als institutionalisierte Macht verstanden (Popitz 1992: 232ff.).

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Aber diese duale Position beinhaltet große Schwierigkeiten, da es eine Versöh-nung zweier inhärent konfligierender Loyalitäten erfordert – nämlich loyaler Diener einer übergeordneten (und fremden) Verwaltung und gleichzeitig Vertre-ter der lokalen Gemeinschaft zu sein (Rouveroy v. Nieuwaal 1999: 23). Diese Rolle als double gatekeeper macht Häuptlinge zu intermediären Herrschern, also Herrschern angesiedelt zwischen Staat und Lokalbevölkerung. Sie kontrollieren staatliche Interventionen in lokalen Angelegenheiten und sind der Schlüssel für die Bevölkerung, um Zugang zu den klientelistischen Netzwerken der staatlichen Elite zu erlangen (Trotha 1996: 83f.). Obwohl administrative Integration und politische Instrumentalisierung die Entwicklung des postkolonialen Häuptling-tums begleitet haben, ist die Autorität der Häuptlinge von großer Bedeutung für die lokale Ordnung und ihre lokale Macht eine der wesentlichen Ressourcen ihrer wichtigen Stellung im Gefüge der vielfältigen politischen und sozialen Positionen.

Zur institutionellen Vielfalt und Verschiedenartigkeit des Häuptlingtums kommt die Vielfalt ihrer Funktionen und Kompetenzen hinzu. Sieht man von Fällen einer Paraverstaatlichung des postkolonialen Häuptlingtums ab, die bis zur Aneignung des Anspruchs auf ein lokales Gewaltmonopol zu gehen vermag (Klute/Trotha 2004), beruht die Autorität des Häuptlings auf Patronage, symboli-scher Macht, ritueller Autorität, vielerorts magischer Macht, sprich: Hexerei (Dijk/Rouveroy v. Nieuwaal 1999b: 7; Beall/ Vawda/Mkhize 2004: 6), und der mehr oder minder ungebrochenen Stellung und Funktion des Häuptlingtums in der Streitschlichtung. Häuptlinge dominieren lokale Gerichte und die alltägliche Konfliktlösung. „Im Schatten des Staates“ (Hanser/Trotha 2002) gewährleisten sie die Lösung vielfältiger Konflikte und bewahren gleichzeitig das lokale „Recht gegen das Gesetz“ (Schott 1978). Von erheblicher Bedeutung ist dabei das Management natürlicher Ressourcen und insbesondere die Landverteilung sowie die Schlichtung in Landrechtskonflikten (Goheen 1992: 97f.; Dijk/ Rouveroy v. Nieuwaal 1999b: 6). Mit der Kontrolle über die Landverteilung sichert sich das Häuptlingtum auch eine gewisse Unabhängigkeit von der staatli-chen Zentrale. Wo ihnen die Kontrolle über die Landvergabe entgleitet, ist auch ihre Stellung in der lokalen Ordnung gefährdet (Fisiy 1995: 50f.; Herbst 2000: 173f.).

Die politischen Funktionen des Häuptlings sind komplex. Einerseits steht er im Zentrum des lokalen politischen Lebens, seiner Kämpfe und Streitigkeiten (siehe Abschnitt 3). Andererseits wurde der Häuptling zunehmend in den staatli-chen Verwaltungsapparat integriert und an die neopatrimoniale Struktur ange-bunden, welche durch das Staatsoberhaupt bzw. die regierende Partei dominiert wird. Insbesondere in der postkolonialen Zeit wich die lokale Anbindung in vielen Fällen der Loyalität zur nationalen Regierung, wobei das ganze Spektrum

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zwischen freiwilliger und erzwungener Loyalität beobachtet werden kann. Wo Häuptlinge sich von den nationalen Machthabern instrumentalisieren ließen, war dies häufig mit ihrer Kompromittierung in den Augen der lokalen Bevölkerung verbunden, vor allem dann, wenn sie sich öffentlich auf die Seite postkolonialer Despoten schlugen, um Demokratisierungsbestrebungen zu bekämpfen.

2 Die konfliktreichen Beziehungen zwischen (post)kolonialem Staat und neotraditionalem Häuptlingtum: Das Fallbeispiel KwaZulu-Natal, Südafrika

Im heutigen KwaZulu-Natal entwickelten sich bereits in vorkolonialer Zeit Häuptlingtümer, die sich in einigen Gebieten zu noch umfassenderen politischen Einheiten, den sogenannten paramountcies, zusammenschlossen. Die Zentrali-sierung politischer Herrschaft erreichte mit den Eroberungszügen Shakas (ca. 1787–1828) und der Etablierung eines Zulu-Königtums nördlich des Thukela-Flusses einen vorläufigen Höhepunkt (Wright/Hamilton 1989: 57ff.; Wright 1995: 165). In der Kolonial- und Apartheidzeit unterlief das Häuptlingtum weit-reichende Veränderungen: Das Shepstone system4 ließ zunächst die Macht der Häuptlinge über ihre Gefolgschaft vergleichsweise unangetastet, jedoch deutete sich schon mit der Benennung Shepstones als Supreme Chief ein substantieller Eingriff in die Institution des Häuptlingtums an. Nach ihrem endgültigen militä-rischen Sieg gegen die Streitkräfte des Zulu-Königs Cetshwayo 1879 setzten die britischen Kolonialherren vielfach Ortsfremde als Häuptlinge ein, die sich der treuen Zusammenarbeit mit der Kolonialverwaltung verdient gemacht hatten. Zudem wurde der politische Spielraum der Häuptlinge ab 1887 eng beschränkt und die rechtlichen Funktionen durch Übertragung von Kompetenzen an die koloniale Gerichtsbarkeit stark beschnitten (Morrell/Wright/Meintjes 1996: 35ff.).

4 Benannt nach dem Secretary for Native Affairs in Natal, Theophilus Shepstone (1817–1893).

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Abbildung 1: KwaZulu-Natal, Südafrika Quelle: The Cartography Unit, School of Environmental Sciences, University of KwaZulu-Natal

Weiterhin gab der Native Administration Act von 1927 der südafrikanischen Verwaltung die Macht, Häuptlinge nach eigenem Gutdünken zu ernennen, anzu-erkennen, aus dem Amt zu entfernen und administrative Dienstleistungen von diesen zu erzwingen. Mit dem Bantu Authorities Act von 1951 instrumentalisier-te die regierende National Party das südafrikanische Häuptlingtum für ihre Poli-

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tik der Apartheid und ernannte Häuptlinge, wo es diese niemals zuvor gegeben hatte. So erhielten Häuptlinge weitreichendere Vollmachten (beispielsweise die Kontrolle über Schlüsselressourcen wie Land), verloren aber gleichzeitig als Werkzeug politischer Repression des Apartheidstaates vielerorts ihre Legitimität in der afrikanischen Bevölkerung (Bank/Southall 1996: 410ff.; Oomen 2000: 12).5 In der Regel nutzten die südafrikanischen Häuptlinge die ihnen vom Apart-heidregime neu zugewiesenen Kompetenzen, um ihre lokale Machtposition wie-derzuerlangen und auszubauen. Die Mehrzahl der Häuptlinge arrangierte sich demnach mit der Politik der Apartheid und nur eine Minderheit begab sich in Opposition zur Regierung in Pretoria. Aus dieser regimekritischen Gruppe von Häuptlingen entwickelte sich der Congress of Traditional Leaders in South Africa (CONTRALESA) im Jahr 1987, der den Widerstand gegen das Ban-tustan-System der National Party zum Ziel hatte. Besonders an KwaZulu-Natal ist jedoch, dass CONTRALESA dort nur wenig Sympathie bei den Häuptlingen fand (Bank/Southall 1996: 414ff.).

Hier suchten die Häuptlinge mehrheitlich die Nähe der Inkatha Freedom Party (IFP), die dominierende politische Kraft des ehemaligen und von der Apartheidregierung geschaffenen „self-governing territory“ KwaZulu. Zur Apartheidzeit verstand es der Vorsitzende Inkathas und Premierminister KwaZu-lus, Mangosuthu Buthelezi, mittels Drohungen, Gewalt aber auch Überzeu-gungskraft, die amakhosi und izinduna eng an sich und Inkatha anzubinden und somit ein klientelistisches System zu etablieren. Noch im Jahre 1990, das heißt zu Beginn der demokratischen Transition, beschloss das Parlament KwaZulus, welches komplett von Inkatha kontrolliert wurde, den KwaZulu Amakhosi and Iziphakanyisa Act. Dieses Gesetz und verschiedene Änderungen in den Folgejah-ren legten die Verfahrensweise zur Ernennung, Entlassung und Disziplinierung der Häuptlinge in KwaZulu fest: Amakhosi waren demnach nicht nur verpflichtet sogenannte (aber oft von Inkatha manipulierte) „traditionale“ Regeln und Nor-men aufrechtzuerhalten, sondern ihnen wurde zudem eine aktive politische Rolle in Regionalräten garantiert. Beispielsweise fiel den Häuptlingen die Zuständig-keit für Bildung, Straßenbau, Gesundheitsfürsorge und ländliche Entwicklung zu und sie konnten mittels dieser Schlüsselressourcen ihre Macht in lokalpolitischen Angelegenheiten erheblich ausbauen (Beall/Mkhize/Vawda 2003: 26). Dies erklärt auch, warum der Widerstand des neotraditionalen Häuptlingtums gegen verschiedene Gesetzgebungen der Post-Apartheidzeit beträchtlich und teils ge-waltsam war.

5 Crais (2002: 178ff.) beschreibt anhand der Ermordung eines Häuptlings während der Pondoland-Revolte 1960 im heutigen Eastern Cape sehr anschaulich die Auswirkungen der Instrumentalisierung und des Verlustes von Legitimität.

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KwaZulu-Natals jüngere Geschichte ist geprägt von politischer Gewalt (vgl. Taylor 2002; Krämer 2007a): Hier bekämpften sich Unterstützer des African National Congress (ANC) und Inkathas, wobei letztere von Polizei und Armee des Apartheidstaates aktiv unterstützt wurden. Mit schätzungsweise 20.000 To-ten seit Beginn der 1980er Jahre war und ist KwaZulu-Natal im südafrikanischen Vergleich am stärksten von politischer Gewalt betroffen und das neotraditionale Häuptlingtum spielte eine wesentliche Rolle in gewaltsamen Konflikten. Häupt-linge mobilisierten gewaltbereite Gruppen (amabutho) ländlicher Bewohner für den Kampf gegen militante und dem ANC nahestehende Jugendliche mit meist städtischem Hintergrund, die gegen Inkatha und das Häuptlingwesen aufbegehr-ten.6 Infolge der lang anhaltenden Gewalt durchläuft KwaZulu-Natal einen schwierigen (Beall/Vawda/Mkhize 2004) – und meiner Bewertung nach weiter-hin ergebnisoffenen (Krämer 2007a) – Übergang zur Demokratie.

In der Post-Apartheidzeit werden „traditional leaders“ (so die offizielle Terminologie) durch die südafrikanische Verfassung anerkannt, jedoch sind deren Kompetenzen und Handlungsspielraum nicht eindeutig niedergeschrieben, was manchen Beobachter zu der Einschätzung veranlasst, Häuptlinge verblieben “at the periphery of transformation in the country” (Tshehla 2005: 16). Häuptlin-ge sind im National House of Traditional Leaders repräsentiert und Provincial sowie Local Houses bestehen in sechs Provinzen, unter anderem in KwaZulu-Natal. Die Sitzungen des National House erfüllen eine beratende Funktion: Re-levante Angelegenheiten werden in diesem Gremium diskutiert und anschließend in Parlamentsdebatten integriert (Schmidt 1999: 6). Das White Paper on Local Government und der Municipal Structures Act von 1998 verankerten die konsul-tative Rolle der Häuptlinge ebenfalls auf der Ebene der Lokalregierung. Insbe-sondere bei neotraditionalen Herrschern aus KwaZulu-Natal provozierte diese Beschränkung auf konsultative Aufgabe großen Widerstand. Das gleiche Ergeb-nis hatte der Municipal Demarcation Act von 1998, der zusätzlichen Unmut unter den Häuptlingen dadurch schuf, dass er die Gemeindegrenzen veränderte. Häuptlingtümer wurden in neu gegründete Gemeinden inkorporiert, wobei sich einige der Gemeinden mit den Grenzen der Häuptlingtümer überschneiden, was einem Machtverlust der Häuptlinge gleichkommt. Zahlreiche Häuptlinge drohten daher mit einem Boykott der Lokalwahlen im Jahr 2000. 6 Eines der zahlreichen Beispiele für die Beteiligung von Häuptlingen in gewaltsamen Auseinander-setzungen ist das sogenannte „Christmas Day“-Massaker in Izingolweni-Shobashobane an der Süd-küste KwaZulu-Natals. Lokale amakhosi riefen ihre Gefolgschaft zu einem Angriff auf die ANC-unterstützende Gemeinschaft von Shobashobane auf, einer der wenigen in einer ansonsten von der IFP dominierten ländlichen Region. Mehr als 600 bewaffnete Männer folgten ihrem Aufruf in den frühen Morgenstunden des 25. Dezember 1995: 19 ANC-Unterstützer starben in Shobashobane am gleichen Tag und der Ort fand sich für wenige Stunden in den Schlagzeilen der internationalen Presse wieder (Taylor 2002: 476ff.).

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Dieser Konflikt über die Demarkation der Gemeindegrenzen veranschau-licht beispielhaft die Beziehungen zwischen dem südafrikanischen Staat der Post-Apartheidära und den Häuptlingen KwaZulu-Natals. Anhand des Konflikts lässt sich aufzeigen, wie Häuptlinge gegen die nationalen Gesetzgebungen mobi-lisierten, dem Staat bedeutsame Zugeständnisse abringen und damit ihre Macht auf lokalpolitischer Ebene stärken konnten. Im Januar 2000 fanden sich zahlrei-che amakhosi in der eThekwini Municipality (vormals Durban Metropolitan Area) ein, um gegen die neuen Grenzziehungen sowie gegen eine Klausel zu protestieren, die ihnen 10% der Sitze in den demokratisch gewählten Lokalräten zugestand. Nur einen Monat später war die nationale Regierung gezwungen, die angesetzten Lokalwahlen zu verschieben, um eine Eskalation des Konflikts mit den Häuptlingen zu vermeiden. Zudem bildete sie einen Ausschuss, der das Ge-setz zur Rolle der Häuptlinge in der Lokalregierung erneut untersuchen sollte. Dennoch waren die Häuptlinge mit dem Erreichten unzufrieden und viele ver-weigerten ihre Mitarbeit in den neuen lokalpolitischen Strukturen. Im März 2000 boykottierten sie ein Treffen des Municipal Demarcation Board und verlangten eine Revision der Eingliederung ländlicher Häuptlingtümer in die eThekwini Municipality. Aufgrund der engen historischen Verbindung förderte und unter-stützte die IFP den Protest der Häuptlinge und griff zu einem bewährten Mittel: Der Androhung einer Fortsetzung bzw. des erneuten Aufflammens gewaltsamer Konflikte in KwaZulu-Natal. Nachdem auch der Druck innerhalb des ANC auf die nationale Regierung stärker wurde, erhöhte Präsident Mbeki den Anteil der Häuptlinge in den Lokalräten auf 20% der Sitze. Was wiederum eine Mehrzahl der Häuptlinge in KwaZulu-Natal zu erneuten Protesten motivierte, da ihre For-derung nach gleichberechtigter Repräsentation in lokalpolitischen Angelegenhei-ten unerfüllt blieb. So erreichte der Konflikt eine weitere Steigerung mit der erneuten Verschiebung der Lokalwahlen. Schließlich konnten die Wahlen im Dezember 2000 stattfinden, jedoch erst nachdem sich die Regierung bereit er-klärte, die nationale Gesetzgebung zu ändern und den Häuptlingen mehr Macht und Funktionen in der Lokalregierung zuzugestehen (Independent Projects Trust 2000a 8ff.; Human Rights Committee / Network of Independent Monitors 2001: 2ff.; Beall/Mkhize/Vawda 2003: 27ff.).

War die Einstellung des ANC gegenüber dem neotraditionalen Häuptling-tum gegen Ende der Apartheidära noch von tiefer Ablehnung geprägt, die so weit reichte, dass man noch 1988 eine Abschaffung der Institution ankündigte (Beall 2006: 461), so veränderte sich die Häuptlingspolitik des ANC in der Post-Apartheidzeit und insbesondere nach dem Demarkationskonflikt grundlegend. So sprach der Communal Land Rights Bill von 2003 den Häuptlingen die alleini-ge Kontrolle über die Vergabe von kommunalen Land zu (KwaZulu/Natal Violence Monitor 2004). Schließlich stärkte der Traditional Leadership and

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Governance Framework Act (2003) die Rolle des neotraditionalen Häupt-lingtums in der Lokalregierung und führte sogenannte „traditional councils“ ein, die parallel zu den demokratisch gewählten Strukturen operieren (Beall/ Vawda/Mkhize 2004: 8ff.). Das Gesetz betont die Bedeutung von Häuptlingen in den Bereichen Sicherheit und Recht, Wohlfahrt und Gesundheit, wirtschaftliche Entwicklung und Management natürlicher Ressourcen. Es ist Ausdruck der An-erkennung des neotraditionalen Häuptlingtums als bedeutender lokalpolitischer Akteur durch die nationale ANC Regierung. Gleichzeitig bringt das Gesetz aber auch eine Vielzahl an neuen Konflikten hervor, weil es nicht eindeutig die Zu-ständigkeiten und Funktionen von gewählten und „traditionalen“ Räten unter-scheidet und sich daher die Kompetenzen beider Institutionen überschneiden (Independent Projects Trust 2000b 6f.; Tshehla 2005: 16ff.).

3 Macht und Legitimität neotraditionaler Häuptlinge in den lokalen Ordnungen Südafrikas und Namibias

Die Beziehungen zwischen neotraditionalem Häuptlingtum und gewählten Lo-kal- und Regionalräten sind nicht weniger problematisch als das Verhältnis der amakhosi zum südafrikanischen Staat. Vereinfachend gesagt sind Konflikte eher die Regel als die Ausnahme, doch besteht eine beträchtliche regionale und lokale Varianz in der Interaktion beider Akteursgruppen. Diese Diversität resultiert zum einen aus unterschiedlichen lokalhistorischen Prozessen – beispielsweise ob ein Häuptling in Opposition zum Apartheidregime stand und den politischen Wider-stand unterstützte oder aber im Auftrag der Zentralregierung und gegen die Inte-ressen der Lokalbevölkerung handelte – und zum anderen aus den sehr diversen Ansichten jedes einzelnen Häuptlings über die persönlich zu erwartenden Vor- oder Nachteile des Demokratisierungsprozesses auf lokaler Ebene.

Peires (2000) berichtet aus der südafrikanischen Provinz Eastern Cape, dass Konflikte zwischen Lokalräten und Häuptlingen um die Unterstützung der Lo-kalbevölkerung an der Tagesordnung sind. Beide Akteursgruppen betrachten ihre Rollen und Funktionen nicht als komplementär, sondern konkurrieren um die Loyalität der Menschen vor Ort. Wie schon weiter oben angedeutet, trägt hierzu die neuere Gesetzgebung in erheblichem Maße bei, da die Zuständigkeitsberei-che nicht eindeutig abgesteckt sind und zu Kompetenzstreitigkeiten einladen. Überraschenderweise, so Peires, konnten die Häuptlinge einen hohen Grad an Legitimität bewahren, trotz ihrer Instrumentalisierung durch das Apartheidre-gime in der Vergangenheit. Hingegen sind gewählte Lokalräte häufig unpopulär, da sie meist nicht in der Lage sind, die hohen Erwartungen bezüglich sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung in der Post-Apartheidzeit zu erfüllen, obwohl

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ihnen die größeren finanziellen Mittel staatlicherseits zur Durchführung von Infrastruktur- und Entwicklungsmaßnahmen zur Verfügung stehen. Zudem ver-schärft das Verhältniswahlrecht das ohnehin bestehende Misstrauen in die Lokal-räte, da parteiinterne und für die Öffentlichkeit undurchsichtige Auswahlverfah-ren ortsfremde Kandidaten hervorbringen, die wenig Vorwissen über lokalpoliti-sche Gegebenheiten haben und der Bevölkerung vielfach unbekannt sind. Ganz im Gegensatz dazu leben die meisten Häuptlinge vor Ort, sind der Allgemeinheit leicht zugänglich und können aufgrund ihrer Vertrautheit mit lokalen Angele-genheiten alltägliche Probleme unbürokratisch und flexibel angehen (Peires 2000: 106ff.).

Die von Peires beschriebene große Zustimmung für das neotraditionale Häuptlingtum beschränkt sich nicht auf das Eastern Cape, auch Oomen (2005: 164ff.) kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen in ihrer Studie zur Provinz Limpopo (ehemalig: Northern Province). Auch hier kooperierten zahlreiche Häuptlinge in der Vergangenheit mit dem Apartheidregime und können dennoch im neuen, demokratischen Südafrika auf den Rückhalt eines Großteils der ländli-chen Bevölkerung zählen. Jedoch weist Oomen in ihrer differenzierten Analyse darauf hin, dass die Unterstützung der Häuptlinge weniger materiell, selten ex-klusiv und darüber hinaus veränderlich ist. Als Begründung für die Unterstüt-zung des Häuptlingtums werden von den Befragten vor allem Tradition, staatli-che Anerkennung und der Mangel an Alternativen genannt, jeweils abhängig von der geographischen Lage und sozialen sowie kulturellen Charakteristika lokaler Gemeinschaften.

Auch in KwaZulu-Natal besitzt das Häuptlingtum weiterhin eine ausgepräg-te Legitimität. In einem Vergleich der Bedeutung von Lokalräten und Häuptlin-gen verweist Williams (2004) nicht nur auf Konflikte zwischen beiden Akteursgruppen sondern auch auf deren Kooperation im lokalpolitischen Alltag: Häuptlinge benötigen die größeren finanziellen Ressourcen und Informationen der Lokalräte, welche besser mit der Provinzregierung vernetzt sind; die Lokalrä-te hingegen bedürfen der Zustimmung des Häuptlings, um Entwicklungsmaß-nahmen vor Ort umsetzen zu können. Dementsprechend kann sich das neotradi-tionale Häuptlingtum nicht einfach dem demokratischen Prozess entziehen und ist zudem noch dem Druck von Teilen der Lokalbevölkerung ausgesetzt, demo-kratische Reformen (beispielsweise Maßnahmen zur Gleichberechtigung von Frauen) auf der lokalen Ebene einzuleiten. Hieraus folgert Williams, dass das Häuptlingtum in KwaZulu-Natal keine Bedrohung für die Dauerhaftigkeit von Demokratisierung darstellt, sein Handeln sich aber auf die Qualität von demokra-tischen Prozessen auswirkt. Wahlen bewirken nicht den Niedergang des Häuptlingtums und den Aufstieg gewählter Institutionen, sondern führen ganz im Gegenteil dazu, dass sich neotraditionale Häuptlinge demokratische Verfahren

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aneignen und somit ihre Macht in der lokalen Ordnung und in den Beziehungen zu gewählten Lokalräten weiter ausbauen.

Eigene Forschungen in KwaZulu-Natal7 bestätigen das Bild der ausgepräg-ten Macht und Legitimität neotraditionaler Herrscher unter der Bedingung von Demokratisierung. Lokale Legitimität und Macht der derzeit 15 staatlich aner-kannten amakhosi in der eThekwini Municipality beruhen unter anderem auf ihrer Funktion als Streitschlichter in den „traditional courts“ und mehr noch auf der exklusiven Kontrolle über kommunalen Landbesitz. Hierzu zählt 67% des Landes in der eThekwini Municipality und fast 90% des Landes in KwaZulu-Natal. Plant der eThekwini Municipality Council beispielsweise eines seiner zahlreichen Infrastrukturprojekte, so ist er auf das Einverständnis zur Landnut-zung durch den jeweiligen Häuptling, seine izinduna und seinen traditional council angewiesen. Andererseits richtet die ländliche und periurbane Bevölke-rung seit dem Ende der Apartheid hohe Erwartungen hinsichtlich wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung sowohl an die Municipality als auch an die amakhosi, d.h. es besteht eine gegenseitige Abhängigkeit beider Akteurskategorien.

Lokale Macht und Legitimität können Häuptlinge auch akkumulieren, in-dem sie zusätzlich zu ihren neotraditionalen Ämtern Führungspositionen in poli-tischen Parteien einnehmen. Als Beispiel sei hier der ehemalige Häuptling des Ximba Traditional Councils genannt, der Mitte der 1990er Jahre gleichzeitig stellvertretender Vorsitzender des ANC in KwaZulu-Natal war und sein Häupt-lingtum mittels dieser politischen Funktion mit umfassenden Entwicklungsmaß-nahmen versorgen konnte. Es ist vor allem diese institutionelle Verschränkung von neotraditionalen Ämtern, parteipolitischen Positionen und kommunaler Verwaltung, – oder anders formuliert: Die Akkumulation und Kombination von neotraditionaler, politischer und administrativer Macht – welche die ungebro-chene Bedeutung neotraditionaler Herrschaft absichert und ihren neuerlichen Aufstieg beflügelt.

Schließlich hilft ein Blick über die Grenze nach Namibia, die hier vorgetra-gene These des Aufstiegs des neotraditionalen Häuptlingtums im Kontext der Demokratisierung weiter zu differenzieren. Auch hier verstand es das Apartheid-regime, Häuptlinge für ihre Politik der ethnischen Segregation (auf Grundlage des Odendaal-Plans) zu instrumentalisieren. Häuptlinge wurden in die Home-land-Verwaltungen integriert und gegen die Widerstandsorganisation South West

7 Diese und die weiter unten folgenden Anmerkungen zur Topnaar Traditional Authority resultieren aus einer vergleichenden ethnographischen Feldforschung des Autors in Namibia (März bis Novem-ber 2007) und KwaZulu-Natal (Dezember 2007 bis Mai 2008 und Februar bis April 2009) im Rah-men eines Forschungsprojektes von Trutz von Trotha (Universität Siegen) über „Demokratisierung und neotraditionales Häuptlingtum“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird und der gleichzeitig unser Dank für die freundliche Unterstützung gilt.

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Africa People’s Organisation (SWAPO) in Stellung gebracht. Vor allem im Süden des Landes wurde das Häuptlingtum infolge des Odendaal-Plans ge-schwächt und hatte vor der Unabhängigkeit Namibias auch im Norden erhebli-che Probleme, seine Autorität zu wahren (Kößler 2001: 357f.; Düsing 2002: 94ff.). Verschiedene Gesetze nach der Unabhängigkeit (Traditional Authorities Act 1995, Council of Traditional Leaders Act 1997, Traditional Authorities Act 2000) bewirkten die staatliche Anerkennung des Häuptlingtums. Hinz (1999: 224) bezeichnet die gesetzlichen Regelungen als ein „Modell des kontrollierten Dualismus“: Häuptlinge sind angewiesen, mit Regional- und Lokalräten zu ko-operieren, diese zu beraten und zu informieren, und im allgemeinen für die Auf-rechterhaltung der Ordnung in den jeweiligen „traditionalen Gemeinschaften“ zu sorgen. Demnach hat auch das neotraditionale Häuptlingtum in Namibia keine Exekutivbefugnisse auf der lokalen Ebene, sondern nimmt eine beratende und mit Einschränkungen administrative Funktion wahr. (Namibia Institute for De-mocracy/Ministry of Regional and Local Government and Housing 2002; Hinz 2003: 11ff.). Ein wesentlicher Unterschied zwischen der namibischen und südaf-rikanischen Gesetzgebung besteht jedoch darin, dass staatlich anerkannte Häupt-linge in Namibia nicht gleichzeitig ein offizielles politisches Amt bekleiden dürfen.

Wie ist es aber abseits dieser formaljuristischen Regelungen in der empi-risch zu beobachtenden Praxis um die Legitimität des neotraditionalen Häupt-lingtums, seine Machtausübung auf lokaler Ebene und das Verhältnis zu Regio-nal- und Lokalräten bestellt? Zunächst lässt sich festhalten, dass das Häupt-lingtum in Namibia auf der vertikalen Ebene – das heißt in Beziehung zur natio-nalen Regierung – schwächer ist als in Südafrika. Sein Einfluss auf die nationale Gesetzgebung zu regional- und lokalpolitischen Angelegenheiten ist bislang sehr begrenzt und es sind bei weitem nicht solche Zugeständnisse erreicht worden, wie sie am Beispiel des Demarkationskonflikts in Südafrika zuvor geschildert wurden. Der Gesetzgeber verpflichtet die Häuptlinge, loyal zur nationalen Regie-rung zu sein und in finanzieller Hinsicht werden nur geringe Gehälter gezahlt, anstatt eines vergleichsweise hohen monatlichen Einkommens im Falle Südafri-kas (Kößler 2006: 15). Doch auch die Kompetenzen und Machtfülle der Regio-nalräte sind eng begrenzt, und die regierende SWAPO beäugt nicht nur das neo-traditionale Häuptlingtum mit Skepsis, sondern tut sich generell mit allzu weit-reichenden Dezentralisierungsbestrebungen schwer und in Regierungskreisen wird gelegentlich eine gänzliche Auflösung der Regionalräte diskutiert (Hop-wood 2005).

Häuptlingtümer in den nördlichen Regionen Namibias (Owambo, Kavango und Caprivi) genießen laut einer quantitativen Studie (Katjaerua 2006) weitrei-chende und hohe Akzeptanz in der Lokalbevölkerung – angeblich unabhängig

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von der Tatsache, ob in der Vergangenheit eine Instrumentalisierung durch die Kolonial- oder Apartheidverwaltung erfolgte oder nicht. Darüber hinaus betrach-tet eine Mehrheit der Befragten Häuptlinge als die substantielle Seite des lokalen Regierens, während Regional- und Lokalräte als deren verlängerter, mit vorran-gig technischen Fragen betrauter Arm verstanden werden. Dementsprechend schreiben auch mehr Befragte dem neotraditionalem Häuptlingtum eine größere Machtfülle zu als den mittels demokratischer Wahlen ermittelten Lokal- und Regionalpolitikern. Dass sich Häuptlingtum und Wahlen nicht gegenseitig aus-schließen, verdeutlicht die gegenwärtige Situation im südlichen Namibia, wo mehrere Nama Häuptlingtümer aus einer Anzahl von Kandidaten den favorisier-ten Häuptling auswählen und diese Position nicht ohne weiteres weitervererbt werden kann (Keulder 1998: 292f.).8 Allerdings ist zu beachten, dass Wahlen nicht gleich demokratische Wahlen sind und die Neubesetzung des Amtes so-wohl ein erbliches Element als auch eines der Wahl beinhaltet.

Auch im Süden Namibias scheint die Legitimität des Häuptlingtums hoch zu sein, wenn auch geringer als im Norden des Landes. Jedoch gilt es hier erneut zu differenzieren, zumal Keulders Kurzzeitstudie in zwei von fünf Fallbeispielen zu vom Gesamtbild erheblich abweichenden Ergebnissen kommt (Keulder 1998: 301f.). Im Falle der in der Erongo Region gelegenen Topnaar Traditional Autho-rity hat beispielsweise der derzeitig amtierende Häuptling erhebliche Legitimati-onsprobleme (vgl. Krämer 2007b). Etwas verkürzt dargestellt ist die Topnaar Traditional Authority insbesondere durch folgende Aspekte charakterisiert: Die (für Häuptlingtümer insgesamt ungewöhnliche) fehlende Kontrolle über kom-munales Land, eine (auch im namibischen Vergleich) geringe Bevölkerungszahl, eine schwache traditionale Verankerung des mittels Gemeinschaftswahlen be-stimmten Häuptlingamtes und die Einheit des Häuptlingtums stark strapazieren-de Konflikte um lokale Macht und das Amt des Häuptlings. Wie im Süden Na-mibias nicht unüblich9 ist das Häuptlingtum zwischen zwei Faktionen gespalten: Die ländliche Bevölkerung im Namib-Naukluft Park entlang des Kuiseb-Flusses unterstützt mehrheitlich den Häuptling, während die städtischen Topnaar in Walvis Bay seinen Rivalen favorisieren.

Vordergründig scheint der Konflikt von persönlichen Streitigkeiten zu han-deln, jedoch liegt ihm eine grundsätzliche Kontroverse zugrunde: Eine Ausei-nandersetzung über die generelle Sinn- und Zweckhaftigkeit neotraditionaler Herrschaft, die vor allem von urbanen Topnaar angezweifelt wird. Dieser Bruch in den Auffassungen über die legitime Herrschaftsform setzte nach der Unab- 8 Wahlen aus einer begrenzten Anzahl erblich vorbestimmter und konkurrierender Kandidaten für das Amt des Häuptlings waren im vorkolonialen Afrika weit verbreitet (vgl. Trotha 1994: 235ff. zum vorkolonialen Häuptlingtum in Togo). 9 Siehe beispielsweise Kößler (2006: 167ff.) zum Berseba Häuptlingtum.

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hängigkeit Namibias und im Zuge neuer Entwicklungsmaßnahmen ein. Von außen einfließende finanzielle Ressourcen ermöglichten bzw. verschärften Klien-telismus und Korruption, die sich entscheidend auf die Legitimität des Häupt-lings und seines Kontrahenten auswirkten: Beiden wird von der jeweils anderen Faktion vorgeworfen, sich an Fischfang- und Tourismuskonzessionen bereichert und lediglich die engere Gefolgschaft beteiligt zu haben, ohne dass die Gesamt-heit der Topnaar von den nicht unbeträchtlich sprudelnden Einkommensquellen profitiert hätte. Trotz erheblicher „innerer“ Legitimationsprobleme ist eine „äu-ßere“, durch den namibischen Staat sowie durch seinesgleichen herangetragene Legitimität entscheidend für den derzeit bestehenden Machtvorsprung des Häuptlings gegenüber seinem städtischen Rivalen: Hierzu zählen seine Ernen-nung als Ausschussvorsitzender im nationalen Council of Traditional Leaders durch andere Häuptlinge – also die Entfaltung von Legitimität in der Horizonta-len nach dem „Gegenseitigkeitsprinzip“ (Popitz 1992: 197ff.), seine staatliche Anerkennung als neotraditionaler Herrscher und seine bessere Vernetzung zu nationalen Ministern und der Verwaltung in einem stark zentralistisch und klientelistisch geprägten Staat.

4 Fazit Es wurde eingangs behauptet, dass das neotraditionale Häuptlingtum als eine – am Kriterium der Wahl gemessene – undemokratische Institution trotz relativ erfolgreicher Demokratisierungsprozesse in Südafrika und Namibia nicht dem Untergang geweiht ist, sondern seine Macht und Legitimität auf lokaler Ebene und gegenüber gewählten Institutionen ausbauen konnte. Der Demarkationskon-flikt in KwaZulu-Natal veranschaulicht, wie die eingangs ablehnende Haltung der südafrikanischen Regierung gegenüber neotraditionalen Institutionen auf-grund massiver Proteste und Androhung von Boykott sowie Gewalt einer dem Häuptlingtum freundlicher gesonnenen Politik wich und diesem zusätzliche Rechte und Kompetenzen einräumte. Auch der namibische Staat erkannte neo-traditionale Akteure nach der Unabhängigkeit an, jedoch konnten Häuptlinge die nationale Politik nicht in einem solchen Maße beeinflussen und mitgestalten wie im Falle Südafrikas.

Warum aber kann das neotraditionale Häuptlingtum trotz Demokratisierung fortbestehen und an neuer Kraft gewinnen? Liegt es lediglich an seiner großen Flexibilität und Fähigkeit, sich an verschiedene Herrschaftsformen anzupassen? Oder aber ist diese These missverständlich formuliert und sollte stattdessen lau-ten: Wegen des Demokratisierungsprozesses ist das Häuptlingtum in der Lage, seine Macht und Legitimität zu stärken? Hierfür spricht, erstens, die Tatsache,

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dass Häuptlinge in der neuen demokratischen Ordnung vom Ballast der Instru-mentalisierung durch koloniale Herrscher und das Apartheidregime befreit und wie ihre demokratisch legitimierten Gegenspieler als bedeutende lokalpolitische Akteure von der staatlichen Verwaltung anerkannt sind.

Zweitens, haben Häuptlinge gegenüber den neu geschaffenen Lokalräten generell den Vorteil eines Mindestmaßes an traditionaler Legitimation, wenn diese auch in der Vergangenheit instrumentalisiert und manipuliert wurde. Ein Vergleich des Ximba Traditional Councils mit der Topnaar Traditional Authori-ty unterstreicht diese Behauptung: Im Fall KwaZulu-Natals wird das Amt des Häuptlings in der Regel nach dem Prinzip der Primogenitur weitervererbt und obwohl es nicht selten zu (teils gewaltsamen) Konflikten zwischen verschiede-nen Kandidaten um das neu zu besetzende Amt kommt, wird dieses prinzipiell nicht in Frage gestellt und als unveräußerlicher Bestandteil der lokalen Identität und Gemeinschaft erachtet. Im Fall der Topnaar hingegen trägt der demokrati-sche Grundsatz der Häuptlingswahl den Keim der Delegitimation – des Amtsin-habers wie in letzter Konsequenz des Amtes selbst – stets in sich. So wie die gewählten Lokalräte muss sich der Topnaar Häuptling kontinuierlich für sein Handeln rechtfertigen, da mit dem Prinzip der Wahl zumindest immer auch die Möglichkeit einer Abwahl droht, während Häuptlinge in KwaZulu-Natal zumeist erst mit dem Tod aus ihrem Amt scheiden.

Schließlich: Legitimität durch Leistung. Seine intermediäre Stellung erlaubt dem neotraditionalen Häuptlingtum im Gegensatz zu Lokalräten einerseits als verlängerter Arm des Staates, andererseits aber auch als sein schärfster Gegen-spieler und wahrer Vertreter lokaler Interessen aufzutreten, beispielsweise wenn staatliche Entwicklungsprojekte scheitern oder gänzlich ausbleiben. „Entwick-lung“ ist ein zentraler Diskurs und die in Gesprächen und Interviews meistge-nannte Forderung sowohl der Topnaar als auch der amaXimba an staatliche Ein-richtungen und Akteure. In beiden Fällen wird „Entwicklung“ in einen untrenn-baren Zusammenhang mit Demokratisierung gebracht, aber im Vergleich zu der jüngst gewonnenen Freiheit und den politischen Rechten generell als bedeutsa-mer eingeschätzt. Die immensen Schwierigkeiten sowohl der südafrikanischen als auch namibischen Verwaltung den Erwartungen hinsichtlich sozialer und wirtschaftlicher Entwicklung gerecht zu werden, bieten wiederum dem neotradi-tionalen Häuptlingtum durch die Übernahme von Funktionen in den Bereichen infrastrukturelle Entwicklung, Gesundheitsfürsorge und auch Sicherheit die Machtchance, staatliche Repräsentanten in ihre Schranken zu verweisen. Was jedoch bei ausbleibender Leistung geschehen kann, zeigt das Beispiel der Topnaar Traditional Authority: In diesem Fall gerät der Häuptling in Gefahr, jegliche „innere“, lokale Legitimität einzubüßen und nur die „äußere“, staatliche Anerkennung kann ihn vor dem Verlust seines intermediären Amtes bewahren.

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Herrschaftslegitimation in den frühhellenistischen Dynastien Sabine Müller 1 Einleitung Die antiken hellenistischen Monarchien entstanden aus einem „Prisma der Macht“, einem Bruch von Herrschaftslinien, wenn „Macht diffus wird“ oder endet (Rader 2003: 60; 2000: 311-346). Der Schnitt in der Herrschaftskontinuität war bedingt durch den Zusammenbruch des riesigen Reichs Alexanders des Großen, das in nur elf Jahren (334-323 v. Chr.) durch eine wahre Tour de force erobert worden war. Als Alexander unerwartet früh – oder, bedenkt man die massive Opposition gegen sein Regime, vielmehr unerwartet spät – 323 v. Chr. in Babylon starb, hinterließ er sein noch ungeborenes Kind und seinen geistig indisponierten und wohl regierungsunfähigen Halbbruder Arrhidaios (Plutarch, Alexander: 10,2; 77,5; Justin 13,2,11). Beide waren nicht von ihm designiert worden, bekamen aber, nachdem der Sohn, Alexander IV., auf die Welt gekom-men war, von der makedonischen Heeresversammlung gemeinsam eine in ihren Strukturen und Kompetenzen recht undefinierbare Samtherrschaft übertragen (Curtius 10,7,3-10; Funke 2005: 45-56). In der Folge kamen sie in den Wirren der ausbrechenden Kriege um Alexanders Erbe ums Leben. Die faktische Macht hatte ohnehin nicht bei ihnen, sondern in den Händen einer Gruppe von Alexan-ders einflussreichen Generälen gelegen, die als „Diadochen“ – griechisch für „Nachfolger“ – in die Geschichte eingingen. Sie teilten das Alexanderreich unter sich auf, riefen ihre Satrapien zu Königreichen aus, klärten in insgesamt sechs Diadochenkriegen die Fronten und dezimierten sich dabei gegenseitig (Bosworth 2002). Bestand hatten die Herrscherhäuser der Ptolemäer in Ägypten, der Seleukiden in Babylon und Teilen von Syrien und der Antigoniden im Mutter-land Makedonien. Als Sonderfall sind die Attaliden im Gebiet von Pergamon zu betrachten, da Pergamon anfangs eine Vasallenposition innehatte und sich erst aus der Abhängigkeit von anderen Diadochen lösen musste.1

1 Der erste Herrscher, Philetairos, war keiner von Alexanders Generälen, sondern stand in einem Abhängigkeitsverhältnis zu verschiedenen Diadochen. Er bekleidete erst den Posten des Schatzmeis-ters unter Lysimachos, König von Thrakien und Makedonien, wechselte dann die Fronten und wurde

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_7,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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Die hellenistischen Reiche gingen somit aus dem Machtvakuum hervor, das durch das Erlöschen einer Dynastie, der makedonischen Argeaden,2 entstanden war. Sie lehnten sich an die Strukturen des makedonischen Herschertums an, entwickelten sich aber unter anderen Voraussetzungen: Keiner der Reichsgrün-der entstammte der bislang regierenden makedonischen Familie. Daher mussten die Gründer der hellenistischen Dynastien, die keinerlei Geblütsrecht auf einen Thron hatten, ihre Herrschaftsansprüche besonders nachdrücklich rechtfertigen und diesen Bruch der Regierungskontinuität inszenatorisch neutralisieren oder zumindest überdecken. Es war für sie vor allem von Relevanz, den Adel, aus dessen Reihen sie selbst kamen und ihm kurz zuvor noch gleichrangig gewesen waren, davon zu überzeugen, ihre Statuserhöhung und ihr Königtum anzuerken-nen. Die Herrscher mussten sich von den adligen Familien politisch distanzieren und diese Hierarchisierung auch in ihrer Repräsentation sichtbar gestalten.

Im Folgenden stehen die Kriterien und Maßnahmen der Legitimation der Diadochen und die Methoden der Herrschaftssicherung in der zweiten Generati-on der hellenistischen Dynastien zur Untersuchung. Unter „Legitimation“ wird dabei eine rechtfertigende Darstellung von Herrschaft verstanden, die mittels fester Codes den Konsens und die Akzeptanz der Beherrschten bewirken soll.

Der Fokus der Untersuchung liegt auf dem ägyptischen Ptolemäerreich, da es von allen hellenistischen Monarchien am längsten existierte: bis ins Jahr 30 v. Chr., als die letzte Königin Kleopatra VII. nach der Niederlage gegen Octavian, den späteren princeps Augustus, den Tod fand. Bis dahin war die ptolemäische Herrschaft durch verschiedene legitimierende Strategien gesichert worden: ers-tens die Berufung auf – faktische oder fiktive – kriegerische Erfolge, zweitens die Inszenierung des Herrscherpaars als Wohltäter für Reich und Verbündete (Euergetismus), drittens die genealogische Anbindung an die Argeaden, viertens die symbolische Aufwertung der Haupt- und Residenzstadt Alexandria als Grab-lege und Kultzentrum des Stadtgründers Alexander sowie als führende Kultur-metropole der hellenistischen Welt mit Bibliothek und Museion, fünftens die Anknüpfung an die pharaonische Tradition gegenüber den Ägyptern und sechs-tens die sakrale Überhöhung des Königtums mittels der Adaption von Götterat-tributen in bildlicher Darstellung, der Integration olympischer Gottheiten in den Stammbaum und der Gestaltung der Geschwisterehe im Sinne einer „Heiligen Hochzeit“ und eines königlichen Privilegs zum dynastischen Markenzeichen.

ein Gefolgsmann Seleukos’ I. (Schalles 1985: 31-39; Radt 1999: 27-29). Der erste Attalide, der sich basileus nannte, war Attalos I. Soter, der dritte Dynast von Pergamon (Polybios18,41,7). 2 Der Name kommt daher, dass sie sich seit Alexander I. im 5. Jh. v. Chr. darauf beriefen, aus der griechischen Stadt Argos zu stammen (Herodot 5,22,2) und griechische Nachkommen des Herakles zu sein, um in Hellas nicht wie die restlichen Makedonen als „Barbaren“ aus dem Hinterland zu gelten (Demosthenes 2,18).

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Diese Sakralisierung des Königtums führte hin zur siebten Legitimationsstrate-gie, der Apotheose der Herrscherpaare und ihrer Verehrung im Reichskult.

Die Untersuchung ist folgendermaßen gegliedert: Einführend werden die Legitimationsstrategien der Argeaden als Vorgaben für die Diadochen betrachtet und mit ihren Maßnahmen der Herrschaftsstabilisierung verglichen. Daran schließt sich die Behandlung der Legitimation der zweiten Generation in den hellenistischen Monarchien, der Erben der Diadochen. Das Hauptaugenmerk gilt den Faktoren der kriegerischen Leistung und der sakralen Überhöhung, da sie besonders zentrale Bestandteile des ptolemäischen Images bildeten. Dies wird anhand eines Textbeispiels aus der hellenistischen höfischen Dichtung, das in poetischer Form die wichtigsten symbolischen Codes der ptolemäischen Selbst-darstellung widerspiegelt, verdeutlicht. Abschließend folgt eine zusammenfas-sende Betrachtung zur Kontinuität der argeadischen Traditionen im Kontext der Legitimationsmuster der ersten und zweiten Generation in den hellenistischen Monarchien.

2 Die Legitimation der Diadochen Nach Alexanders Tod standen seine einflussreichen Generäle vor dem Problem, dass sie zwar faktisch die politische Entscheidungsbefugnis in der Hand und die Kontrolle über ihre verschiedenen Reichsgebiete hatten. Aufgrund ihrer fehlen-den Zugehörigkeit zum Argeadenhaus befanden sie sich aber in Legitimations-not, was ihre Adaption des Königtitels und ihre entsprechende Positionierung gegenüber den übrigen einflussreichen Familien innerhalb des Machtgefüges betraf. Zur Rechtfertigung, Konsolidierung und Stabilisierung ihres neuen Rangs trafen sie daher vielfältige Maßnahmen. Sie traten mit Stiftungen und Schenkun-gen als Wohltäter in der hellenistischen Welt auf, ließen sich mit göttlichen Attri-buten abbilden und stellten sich gegenüber der eroberten Bevölkerung ihrer Rei-che in die einheimischen Herrschaftstraditionen. Besonders zwei weitere Legiti-mationsfaktoren wurden in der Selbstdarstellung der Diadochen explizit betont, auf die sich die Untersuchung daher im Folgenden konzentriert: das Prinzip der kriegerischen Leistung und die Aufwertung der Genealogie mittels der Strategie der ideellen Ansippung.

3 Das Kriterium der Leistung: Von den Argeaden zu den Diadochen Zum besseren Verständnis, welche Bedeutung die militärische Exzellenz in der makedonischen Gesellschaft für den Herrscher hatte, empfiehlt es sich, die Rolle

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des Leistungsprinzips unter den argeadischen Strukturen zu betrachten, an denen sich die Diadochen orientierten.

Traditionell war der makedonische Herrscher ein Primus inter pares, der primär die Position des obersten Feldherrn über die territorial nach makedoni-schen Fürstentümern gegliederten Truppen inne hatte (Hatzopoulos 1996: 267, 334; Hampl 1934: 17; Granier 1931: 14). Aufgrund dieser sehr begrenzten Machtposition der makedonischen Herrscherlinie der Argeaden ist es problema-tisch, in ihrem Fall überhaupt von „Königen“ zu sprechen (Heinrichs/Müller 2008). In offiziellen argeadischen Dokumenten und den Legenden ihrer Münz-prägungen taucht der Titel basileus auch gar nicht auf, sondern nur der jeweilige Name des Herrschers und bei Urkunden teilweise das Patronym.3 Wahrschein-lich benutzte nicht einmal Alexander selbst den Königstitel (Troxell 1997: 97).

Nach Max Webers Einteilung in herrschaftliche Idealtypen entsprachen die Argeaden dem Modell des charismatischen Herrschers (Weber 1972: 140-148), der „zum Siegen verurteilt war“ (Gehrke 1982: 277): Seine Autorität baute er auf militärischen Erfolgen auf, die er wieder und wieder erringen musste (Gruen 1985: 256; Austin 2000: 132; Mehl 2000: 32). Auf eine knappe Formel gebracht lautete die Prämisse: „conquer or perish“ (Chaniotis 2005: 58). Angesichts der durch und durch kriegerischen Prägung der makedonischen Gesellschaft waren Feldherrnqualitäten und Durchsetzungsvermögen die Grundvoraussetzungen, die ein makedonischer Herrscher – neben der unentbehrlichen Zugehörigkeit zum Argeadenhaus – mitbringen musste. In Makedonien wurde so großen Wert auf Kriegstüchtigkeit gelegt, dass sogar die argeadischen Frauen im militärischen Bereich öffentliche Präsenz zeigten. Um das Ansehen ihrer Dynastie zu steigern, wurden einige Argeadinnen entweder symbolisch oder aktiv in der Feldherrnrol-le tätig; so konnten auch sie die kriegerischen Pflichten und Qualifikationen des Herrscherhauses repräsentieren (Müller 2007: 260-265; Carney 2004: 184-195).

Den Argeaden konnte es jedoch nicht nur darum gehen, sich als Krieger zu bewähren, um damit ihre militärische Exzellenz unter Beweis zu stellen. Da erobertes Land stets persönliches Eigentum des Herrschers war und nicht etwa allen Makedonen oder dem Land Makedonien an sich zufiel (Funck 1978: 46-48; Hampl 1934: 22-25, 47-49), erweiterte sich die Machtbasis eines Argeaden mit jedem eroberten Gebietsteil. Dem militärischen Ruhm- und Einflussgewinn des argeadischen Herrschers setzte das dualistische Verhältnis zu den makedoni-schen großen Familien jedoch Grenzen. Sein expansives Kriegertum durfte nicht

3 Herodot als Hauptquelle für die frühen Argeaden bezeichnet nur in einem Fall den makedonischen Herrscher, hier Alexander I., als basileus (Herodot 9,44,1). Es handelt sich dabei aber um eine prob-lematische Passage, deren Historizität umstritten ist. Zudem zitiert Herodot an dieser Stelle offenbar etwas Literarisches und reflektiert nicht die faktischen politischen Strukturen Makedoniens (Hein-richs/Müller 2008: 289, Anm. 35).

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in einem solchen Maß zum Erfolg führen, dass sich die Waagschale des politi-schen Einflusses deutlich zu Ungunsten der bedeutenden Familien senkte. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, achtete der Adel sorgfältig darauf, dass der Herrscher sich nicht zu weit von ihm distanzierte. Daher musste es zu gravieren-den innenpolitischen Konflikten kommen, als Makedonien im 4. Jh. v. Chr. unter Philipp II. zur Hegemonial-, unter Alexander sogar zur Weltmacht aufstieg.

Philipp II. war es gelungen, den obermakedonischen Fürstentümern ihre Autonomie zu entziehen, und die sakrale Überhöhung des Herrschertums zu for-cieren, um eine sichtbare Distanz zu den einflussreichen Familien zu schaffen. In diesem Kontext hatte er in der Organisation seines Hofs Anleihen beim Vorbild der persischen Achaimenidenkönige gemacht und strukturelle Elemente ihres Hofs adaptiert (Kienast 1973: 251-268). Ohnehin hatte Makedonien seit der Unterwerfung unter die achaimenidische Hoheit ca. 510 v. Chr. verstärkt persi-sche Einflüsse erfahren (Paspalas 2000: 531-560; Carney 1993: 318-319; 1996: 565-566; Zahrnt 1992: 245-249; Walser 1984: 123-124; Kienast 1973: 269-270; Herodot 7,108,1; 8,136,1-2). Man kann sogar davon ausgehen, dass erst die per-sische Protektion Makedoniens unter Xerxes die argeadische Herrschaft auf eine etwas eigenständigere Grundlage gestellt hatte (Heinrichs/Müller 2008: 289-291).

Alexander der Große hatte auf der Politik seines Vaters, die makedonische Herrschaft auf eine neue autokratische, vom Adel emanzipierte Grundlage zu stellen, aufgebaut und diese Entwicklung vorangetrieben. Ebenso wie vor ihm Philipp II. hatte er dabei gegen den Widerstand der großen Familien zu kämpfen und den traditionellen politischen Strukturen Tribut zollen müssen. Ab einem bestimmten – geographischen und zugleich politischen – Punkt opponierten die makedonischen einflussreichen Familien gegen seine Eroberungspolitik im Per-serreich. Mit dem Sieg bei Issos 333 v. Chr. war die Grenze erreicht, die Ale-xander noch auf einem Level hielt, das den Einfluss der großen makedonischen Familien nicht gravierend beeinträchtigte und daher für sie noch tolerierbar war. Die Mehrheit der Forschung geht davon aus, dass Philipp II., dem es wohl zu-vorderst um die Arrondierung seines Balkanreichs durch die Inbesitznahme der kleinasiatischen Küstengebiete gegangen war, nicht über diesen Punkt der Er-oberung hinausgegangen wäre (Wirth 1993: 292; Walser 1984: 128). Die jenseits der Halyslinie liegenden Eroberungen drohten die Machtbalance jedoch in einem für den Adel ungünstigen Maß zu verschieben. Es ist daher nur verständlich, dass die Opposition proportional zu Alexanders Expansion anstieg. Alexander versuchte diesem Problem mit der traditionellen argeadischen Legitimationsme-thode beizukommen: durch immer neue Feldzüge und weitere militärische Siege. Der zuletzt geplante Arabienfeldzug wurde nur durch seinen Tod verhindert (Heckel 2008: 150). Die fortgesetzte Eroberungskampagne verschärfte jedoch

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den Dualismus mit dem Adel, so dass es für Alexander aus dem Teufelskreis letztendlich keinen Ausweg gab.

Blickt man auf die Nachfolger Alexanders nach dem Erlöschen seiner Dy-nastie, hat sich in Bezug auf die Bedeutung des Leistungsprinzips nichts geän-dert. Auch die Diadochen entsprachen Webers Idealtypus des charismatischen Herrschers. Entsprechend findet das Kriterium der kriegerischen Befähigung auch in antiken Berichten zu den hellenistischen Monarchien gebührende Er-wähnung. So heißt es in der Suda, einem byzantinischen Lexikon aus dem 10. Jh. n. Chr., unter dem Stichwort basileia: Die Voraussetzung für die Königsherr-schaft in den hellenistischen Monarchien sei die Fähigkeit gewesen, ein Heer zu führen und Politik zu treiben.4 Nicht unbegründet steht die militärische Exzellenz dabei an vorderster Stelle. Die Ambivalenz des Krieges, wie sie teilweise in der griechischen Literatur angerissen wird – was bis zur Kritik am Krieg bei dem Ausnahmehistoriographen und „Geschichtsdenker“ (Heinrichs 1989: 130) Herodot im 5. Jh. v. Chr. reicht –5 war in der hellenistischen politischen Praxis nicht vorhanden; die militärische Rolle des Herrschers galt als Selbstverständ-lichkeit (Austin 2000: 133-134). Impliziert wurde, dass der Herrscher persönlich an den Schlachten teilnahm, seinen Heldenmut und seine Schlagkraft demons-trierte und im Idealfall stets an vorderster Front kämpfte (Gehrke 1982: 256).

Bei den Diadochen bezog sich die kriegerische Bewährung, ein zentrales Element und Argument ihrer Legitimation, konkret auf die Teilnahme an Ale-xanders Kriegszügen. Wer nicht an der Bezwingung der Perser beteiligt gewesen war, befand sich im Hintertreffen. Dies zeigt die Laufbahn von Kassander, dem Sohn von Alexanders Statthalter Antipater in Makedonien. Kassander war erst 324 zu Alexander an den babylonischen Hof gekommen, als die wichtigen Ero-berungsschlachten schon geschlagen waren. Da er an den entscheidenden Feld-zügen nicht teilgenommen hatte, bereitete es ihm später große Mühe, seine Kö-nigsherrschaft in Makedonien durchzusetzen (Landucci Gattinoni 2003: 44).

Um den Herrschaftsanspruch auf ihre Teilreiche zu rechtfertigen, beriefen sich Alexanders Erben auf den „Speererwerb“ (Bringmann 2000: 53; Funck 1978: 46), die Aneignung eines Gebiets durch militärische Eroberung. Dieses politische Schlagwort rekurrierte darauf, dass erobertes Land, wie erwähnt, Ei-gentum des makedonischen Herrschers war. Das Konzept findet Bestätigung in einer Episode, die sich zu Beginn von Alexanders Persienkrieg 334 v. Chr. abge-

4 Der griechische Historiograph Diodor führt in seiner im 1. Jh. v. Chr. entstandenen Weltgeschichte, in der er auch die hellenistischen Reiche behandelt, aus: Wer nach Herrschaft strebt, gewinnt sie durch Tapferkeit, andreia, und Verstand, synesis (Diodor 32,2). 5 Herodot 1,87,4: „Denn niemand ist so unverständig, dass er aus freien Stücken den Krieg wählt statt des Friedens. Denn hier begraben die Söhne ihre Väter, dort aber die Väter ihre Söhne.“ Zitiert nach der Übersetzung von Walter Marg.

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spielt haben soll. Diodor berichtet: „Er selbst [Alexander] fuhr mit sechzig Schif-fen hinüber in die Troas, wo er seinen Speer als erster von den Makedonen vom Schiff aus schleuderte, sodass er im Boden stecken blieb. Dann sprang er vom Schiff und machte deutlich, dass er Asien von den Göttern als speergewonnen (doriktetos) empfange“ (Diodor 17,17,2-3; Justin 11,5,10). Ob dieser Speerwurf am Hellespont nun historisch ist oder als Code der Propaganda erst von den Diadochen erfunden wurde, ist umstritten (Zahrnt 1996: 129-147). Die Symbolik wird in jedem Fall deutlich und Alexanders Generäle machten sie sich für ihre Zwecke nutzbar: Da sie am Persienfeldzug teilgenommen und tatkräftig ihren Anteil an der Eroberung geleistet hatten, besaßen sie berechtigte Herrschaftsan-sprüche auf die Gebiete. Der Krieg wurde zu einem Hauptargument ihrer Legi-timation (Chaniotis 2005: 57-62; Gruen 1985: 253-262).

4 Geformte Genealogien Wenn die Diadochen auch das Kriterium der kriegerischen Leistung erfüllten, haperte es doch bei der herrschaftlichen Abstammung. Da der tote makedonische Monarch üblicherweise von seinem Nachfolger bestattet wurde und die Ausrich-tung der Beisetzung daher ein prestigeträchtiger Akt der Anknüpfung an die Herrschaftstradition war, der zugleich die Illusion von Kontinuität vermittelte (Erskine 1995: 41), entstand um den Besitz und den Bestattungsort von Alexan-ders einbalsamierter Leiche ein Konkurrenzkampf. Ptolemaios, der Satrap von Ägypten, ging als Sieger daraus hervor: Es gelang ihm, seinem Konkurrenten Perdikkas, der Alexander traditionell in der alten makedonischen Herrscherstadt Aigai bestatten lassen wollte, die sterblichen Überreste auf ihrem Transport durch Syrien abzunehmen und sie im ägyptischen Memphis – seiner damaligen Residenz, die er später, vielleicht zusammen mit Alexanders Grablege, nach Alexandria verlegte – aufwändig beizusetzen (Pausanias 1,6,1-3; Curtius 10,10,20; Aelian, Varia Historia: 12,64; Strabon 17,1,8; Diodor 18,28,3-5; Rathmann 2005: 75; Hölbl 1993: 27).

Ein zweites Mittel, mit dem die Diadochen das Manko der fehlenden herr-schaftlichen Abstammung beheben wollten, war der Versuch, über die verblie-benen weiblichen Mitglieder ins Argeadenhaus einzuheiraten. Man wetteiferte um die Hand von Kleopatra, Alexanders Vollschwester (Gruen 1985: 254). Auch in diesem Fall sah es so aus, als trage Ptolemaios den Erfolg über den konkurrie-renden Heiratskandidaten Perdikkas davon, doch dann wurde Kleopatra auf ihrer Reise nach Ägypten ermordet (Diodor 18,23,3; Justin 13,6,4).

Anscheinend ersannen Ptolemaios und seine Berater aber einen anderen Weg, um den Kontinuitätsbruch zu kaschieren. Zu diesem Zweck wurde eine

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verwandtschaftliche Bindung zu den Argeaden erfunden. Das Gerücht entstand, Ptolemaios sei eigentlich ein illegitimer Sohn Philipps II. und somit Alexanders Halbbruder gewesen (Pausanias 1,6,2; Curtius 9,8,22). Die Legende wurde – vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt, eventuell aber schon unter Ptolemaios selbst – zusätzlich ausgeschmückt. Der Mann von Ptolemaios’ Mutter, Lagos, soll das Kind ausgesetzt haben, als er erfuhr, dass es nicht von ihm war. Ein Adler habe sich seiner angenommen und es mit seinen ausgespannten Flügeln vor dem Unwetter geschützt (Suidae Lexikon, Lagos; Aelian, De natura animalium: 12,21). Diese Mär ist hoch symbolisch. Der Adler war der Botenvo-gel des Zeus und wurde, auf einem Blitzbündel stehend, zum standardisierten Reversmotiv der ptolemäischen Münzprägungen bis zum Untergang des Reichs (Mørkholm 1991: 66). Da Zeus wie im Fall von Ganymeds Entführung Adlerge-stalt annehmen konnte, um sich den Menschen zu nähern, lag die Schlussfolge-rung nahe, dass der eigentliche Pflegevater des Kindes der oberste olympische Gott Zeus gewesen war. Diese Art von ptolemäischem Gründungsmythos lehnt sich an östliche Königsmythen an, in der die Aussetzung des königlichen Kindes in der Wildnis und seine Aufzucht durch ein ungezähmtes Tier gängige Elemente sind, die seine naturgemäße Gabe und Berufung zur Herrschaft unterstreichen (Huys 1995: 27-40; Banaszkiewicz 1982: 267-269; Binder 1964: 21-22). Als literarisches Urmodell des ausgesetzten Königs, der einen göttlich gelenkten Aufstieg aus dem Nichts an die Spitze der Macht erlebt, kann die Geschichte des mesopotamischen Herrschers Sargon von Akkad gelten, dessen Aufstieg ins 3. Jahrtausend v. Chr. fiel (Kuhrt 2003: 350). Es existieren ähnliche Sagen über Zeus, der in den Bergen Kretas von einer Ziege genährt wurde (Kallimachos, Hymnen: 1,47-49), über die von einer Wölfin umsorgten Zwillinge Romulus und Remus, über den legendären Vorfahren des Perserkönigs Dareios’ I., Achaimenes, dem auch ein Adler zur Hilfe eilte (Aelian, De natura animalium: 12,21), und über den Gründer des Perserreichs, Kyros den Großen, der von einer Hündin aufgezogen worden sein soll. Seine variantenreiche Kindheitslegende wurde der griechisch-makedonischen Welt zuerst durch Herodot bekannt (Herodot 1,111-118).6

Auch bei den anderen Diadochen stand eine Gottessohnschaft hoch im Kurs (Fowler/Hekster 2005: 31). Klaus Bringmann erläutert, welcher hohe ideologi-sche Wert solchen Herkunftsmythen zukam: „Beides, Sieghaftigkeit und göttli-che Abstammung, hing in der Anschauung der Zeit miteinander zusammen. Von Göttern und Heroen abstammen bedeutete, unter ihrem Schutz zu stehen, gottge- 6 Demnach wurde er in den Bergen ausgesetzt und von einer Hündin aufgezogen (vgl. Justin 44,4). Die Haupttradition spricht davon, dass Kyros von einem Rinderhirten namens Mithradates adoptiert wurde, hinter dem sich wohl Gott Mithras als wahrer Pflegevater verbarg (Kuhrt 2003: 354; Drews 1974: 388-393; Binder 1964: 19-28; Rank 1909: 24-33).

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liebt zu sein, und dies war zugleich das stärkste Unterpfand des Sieges in kriege-rischen Konflikten“ (Bringmann 2000: 79). Seleukos I., der das Gebiet um Baby-lon erhielt, war gemäß dem dynastischen Mythos, den sein Nachfolger Antiochos I. etablierte, ein Sohn des Apollon (Bringmann 2000: 81-82; Weber 1995: 19, Anm. 63). Demetrios Poliorketes (griechisch für „Städtebelagerer“), Sprössling Antigonos’ I., des Begründers der makedonischen Antigoniden-dynastie, wurde in Athen als Sohn des Poseidon und der Aphrodite gefeiert (Thonemann 2005: 83; Athenaios 6,253 D-F). Die Attaliden zogen nach, dräng-ten ab einem bestimmten Zeitpunkt der Reichsentwicklung die Erinnerung an ihren wenig prestigeträchtigen Stammvater, den Eunuchen und abhängigen Schatzmeister Philetairos, in den Hintergrund, konzentrierten sich auf die Mythi-sierung ihrer Residenzstadt und führten ihr Geschlecht auf den Gründer und ersten König Pergamons zurück, den Heraklessohn Telephos (Radt 1999: 24; La Rocca 1998: 15, 21). Im Mythos war auch er einer der ausgesetzten Erben, deren Fürsorge wilde Tiere übernahmen, in seinem Fall eine Hirschkuh (Binder 1964: 22, 130-131; Rank 1909: 61).

Nachdem sie den basileus-Titel angenommen hatten, ließen Demetrios, Pto-lemaios und vermutlich auch Seleukos ihr Selbstporträt auf den Avers ihrer Münzen setzen, wo traditionell die Porträts der olympischen Götter ihren Platz gehabt hatten. Sie statteten ihre Bildnisse zudem mit verschiedenen göttlichen Attributen aus, die mit den Herrschaftssymbolen verschmolzen (Svenson 1995: 185; Kyrieleis 1976: 148). So trug Demetrios Poliorketes Stierhörner als Zeichen des Meeresgottes Poseidon, die auf seine Seesiege verwiesen (Ehling 2000: 154-160). Ptolemaios zeigte sich in seiner Ausstattung bescheiden und adaptierte neben dem makedonischen Herrschaftssignum des Diadems nur die auf Zeus verweisende Ägis, das Ziegenfell, um die Schultern (Hazzard 1995: 1; Mørkholm 1991: 64-65). Auf Seleukos’ Münzen ist ein Porträt mit einem pan-ther- oder leopardenfellbezogenen Helm mit Stierhörnern und Stierohren, zu sehen (Brown 1995: 27, 53; Mørkholm 1991: 72). Es handelt sich um dionysi-sche Elemente der Alexanderikonographie, da Alexander aufgrund seines Indien-feldzuges an den mythischen ersten Indiensieger Dionysos angeglichen wurde und in der politischen Kunst der Diadochen mit dem Gott verschmolz. Die sakra-le Überhöhung der Argeadenherrscher, die von Philipp II. und Alexander forciert worden war, stellte einen integralen Bestandteil der hellenistischen Repräsentati-on dar und war einer der Wege, die zum Herrscherkult führten.

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5 Legitimation in der zweiten Generation der hellenistischen Königreiche Im Anschluss an diesen Überblick über die Legitimationsmaßnahmen bei der Entstehung der hellenistischen Reiche werden am Beispiel Ptolemaios’ II. die Probleme erörtert, vor die sich die Nachfolger in der Phase der Reichskonsolidie-rung gestellt sahen. Die Konzentration auf Ptolemaios II. bietet sich als instruktiv an, da er besondere Probleme mit seiner Nachfolge hatte und aus diesem Grund zu massiven Rechtfertigungsmaßnahmen griff, die schnell zu standardisierten, für die Repräsentation der nachfolgenden Generationen modellhaften Formeln wurden. Seine vielfältigen legitimierenden Strategien erwiesen sich zudem über die Reichsgrenzen hinaus als einflussreich in der hellenistischen Welt.

5.1 Legitimationsstrategien Ptolemaios’ II. Die Schwierigkeiten, mit denen Ptolemaios II. sich bei seinem Regierungsbeginn konfrontiert sah, zeigen paradigmatisch, was in allen hellenistischen Monarchien zur Instabilität geführt hatte: Anfänglich hatten die Diadochen in Anlehnung an die Argeaden polygam gelebt; erst im Laufe ihrer Herrschaft waren sie zur Mo-nogamie übergegangen – allerdings meist zur seriellen Monogamie, die nicht weniger problematisch für die Nachfolgeregelung war. Die Konsequenz war, dass mehrere Prätendenten um den Thron wetteiferten, die von verschiedenen Hofgruppierungen und ihren Müttern unterstützt wurden. Ptolemaios II. machte Erfahrungen mit den Folgen einer solchen Konstellation. Er wurde von seinem Vater Ptolemaios I. designiert, obwohl er nicht sein ältester Sohn gewesen war. Leider ist aufgrund der spärlichen, nicht zeitgenössischen Quellen wenig über das Modell des argeadischen Makedoniens bekannt, aber es zeichnet sich ab, dass es dort üblich gewesen zu sein scheint, dass der älteste patrilineare Herr-schersohn nachfolgte (Hampl 1934: 13). Einschränkend muss man sagen, dass es wiederum von anderen Faktoren abhing, ob er am Ende Erfolg hatte: von den machtpolitischen Möglichkeiten seines Vaters, von der Akzeptanz des Prätenden-ten beim makedonischen Adel und von seiner eigenen Durchsetzungskraft. An-scheinend hatten die Herrschaftsträger aber eine gewisse Erwartungshaltung, dass der älteste Sohn bevorzugt wurde. Das war in der antiken Welt kein Einzel-fall. Glaubt man Herodot, musste sich in Persien auch Dareios I. dafür rechtferti-gen, dass er seinen jüngeren Sohn Xerxes zum Nachfolger ernannte (Herodot 7,1-4; Justin 2,10).7 Dies findet Bestätigung in einer Inschrift des Xerxes in Per- 7 Demnach war Artobazanes (bei Justin heißt er Ariamenes), der älteste Sohn von Dareios’ erster Frau – die er noch vor seiner Thronbesteigung geheiratet hatte –, einer Tochter des Adligen Gobryas, Xerxes’ Konkurrent. Xerxes berief sich aber darauf, der älteste Sohn des Dareios aus der Ehe mit der

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sepolis, die aufgrund des Fundorts, der Frauengemächer, problematischerweise in eurozentrischer orientalisierter Diktion als „Haremsinschrift“ bekannt ist (Lecoq 1997: 254). Darin betont Xerxes, dass sein Vater ihn im Einklang mit dem Willen des höchsten Gottes Auramazdah unter seinen Söhnen als Nachfol-ger ausgewählt hatte.8 Die Nachdrücklichkeit deutet darauf hin, dass die Desig-nation des jüngeren Sohnes zumindest problematisiert geworden war.

In Alexandria hatte Ptolemaios I. sich über die Erwartungshaltung am Hof hinweggesetzt und offenbar das Kind gewählt, das er für das Fähigste gehalten hatte, einen Sohn aus seiner letzten Ehe mit der Makedonin Berenike. Die unge-schriebene und durchlässige Regel der Primogenitur wurde, wie auch teilweise zuvor in der argeadischen Vergangenheit, übergangen (Buraselis 2005: 101).9 Da der ältere Halbbruder von Ptolemaios II., Ptolemaios Keraunos (griechisch für „Blitzstrahl“) – der aus einer früher geschlossenen Ehe Ptolemaios’ I. mit Bere-nikes Verwandten Eurydike stammte – sich aber ebenfalls Hoffnungen auf den Thron gemacht hatte und von Teilen der Hofgesellschaft unterstützt worden war, kam es zu Spannungen in Alexandria. Um seinem Wunschkandidaten Ptole-maios II. den Rücken zu stärken, ernannte Ptolemaios I. ihn 285 v. Chr., als er selbst ungefähr 82 Jahre alt war (Buraselis 2005: 92), zum Mitregenten. Ein solcher Akt war bei den Argeaden nicht bekannt gewesen und bürgerte sich erst in der Diadochenzeit ein. Die Maßnahme sollte dazu dienen, einen problemlosen Regierungsantritt Ptolemaios’ II. zu gewährleisten und hatte wohl mehr den Charakter einer offiziellen Nominierung und Ankündigung für die Zukunft, als einer faktischen regierungspolitischen Konsequenz (Buraselis 2005: 94). Die Rechnung ging jedoch nicht auf, der Thronwechsel verlief nicht reibungslos, obwohl Keraunos, der direkte Konkurrent, Alexandria verließ und in der Folge in den Kampf um den makedonischen Thron eintrat (Heinen 1972: 54-63). Als Ptolemaios I. 282 v. Chr. starb, sah sich der neue König von Ägypten mit schar-fem Gegenwind konfrontiert. Dafür sprechen die rigiden Absicherungsmaßnah-men, die er traf oder treffen musste: Zwei seiner Halbbrüder, von denen der eine – dessen Namen die Quellen nicht nennen – auf Zypern gegen ihn revoltiert hatte, wurden beseitigt (Pausanias 1,7,1). Der prominenteste von Keraunos’ Fürsprechern, der griechische Philosoph Demetrios von Phaleron, starb im Ge-

Kyrostochter Atossa zu sein, die er zur Frau genommen hatte, nachdem er König geworden war, somit also der legitime Erbe. 8 XPf § 4,27-32: „Es spricht Xerxes der König: Es gab andere Söhne des Dareios, (aber) – so wie es Auramazdas Wunsch war – machte mein Vater Dareios mich zum Größten nach ihm. Als mein Vater Dareios vom Thron wegging, wurde ich gemäß dem Willen Auramazdahs König auf meines Vaters Thron.“ Zitiert nach der Übersetzung von Roland G. Kent. 9 Troncoso (2005: 103; 2001: 85) ist der Meinung, dass Ptolemaios II. schon früh durch seine gute Erziehung zum künftigen Thronfolger ausgebildet worden sei.

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fängnis (Diogenes Laertios 5,78-79). Eine Fremdeinwirkung ist nicht explizit bezeugt, aber wahrscheinlich.

Den Eliminierungen ließ Ptolemaios II. vielfältige Maßnahmen der Legiti-mierung und innerdynastischen Stabilisierung seiner Herrschaft folgen. So be-tonte er die Rechtmäßigkeit seiner Nachfolge, indem er negierte, die Alleinherr-schaft gerade erst angetreten zu haben, und den Eindruck erwecken wollte, als sei seine Regierung nichts Neues, sondern etwas bereits seit drei Jahren Bewähr-tes. Mittels einer Kalenderreform datierte er kurz nach Antritt seiner Alleinherr-schaft seine Regierungsjahre auf Münzen und offiziellen Dokumenten zurück und zählte die Jahre seiner Mitregentschaft als Jahre der Alleinregierung mit (Huß 2001: 254; Hazzard 1989: 148, 150; 2000: 3). Sein eigentlich erstes Jahr als Alleinherrscher wurde somit zu seinem vierten erklärt. Außerdem ließ er verbreiten, sein Vater hätte 285 v. Chr. freiwillig abgedankt, um den Thron für ihn zu räumen (Pausanias 1,6,8; Justin 16,2,7-9; Nepos 21,3,4). Dass das nicht stimmt, belegen die offiziellen Datierungsformeln auf den griechischen und demotischen Urkunden aus den Jahren der Mitregentschaft, in denen immer Ptolemaios I. als Alleinherrscher aufgeführt ist (Skeat 1954: 29, Anm. 5; Bura-selis 2005: 94).

Auch die Berufung auf die kriegerische Leistung, die Erweiterung und Ar-rondierung seines Herrschaftsbereichs, spielte bei der Legitimation Ptolemaios’ II. eine Rolle. Dieser Code der ptolemäischen Selbstdarstellung wird in einem Werk des griechischen Dichters Theokrit reflektiert, der am Hof Ptolemaios’ II. tätig war. In einem Loblied auf den König beschrieb er in panegyrischen Tönen dessen Politik des Speererwerbs: „… von Phoinikien schneidet er sich einen Teil ab und von Arabien und Syrien und Libyen und den dunklen Aithiopern; über alle Pamphylier und die Lanzenkämpfer Kilikiens gebietet er, die Lykier, die kriegsliebenden Karer und die Kykladen-Inseln, denn für ihn befahren die besten Schiffe die See, und alles Meer und Land und rauschende Flüsse gehorchen Ptolemaios als ihrem Herrn, und viele Reiter und viele Schildkämpfer, mit fun-kelndem Erz gerüstet, sammeln sich um ihn“ (Theokrit 17,86-94).10

Dass der für einen hellenistischen Monarchen bedeutende Nachweis militä-rischer Erfolge auch in die fiktive Ebene hineinspielen konnte, zeigt sich anhand des Tatenberichts des Sohns und Nachfolgers Ptolemaios’ II., Ptolemaios III., über seine Leistungen im Dritten Syrischen Krieg gegen die Seleukiden (246-241 v. Chr.). In einer Inschrift aus der ptolemäischen Neugründung Adulis, einer Elefantenjagdstation am Roten Meer, rühmt er sich, auf Alexanders Spuren die Gebiete des ehemaligen Perserreichs von Kleinasien über Mesopotamien bis hin

10 Zitiert nach der Übersetzung von Bernd Effe.

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zum östlichen Baktrien erobert zu haben, während eine Paralleltradition bezeugt, dass er eigentlich nur bis Babylon gekommen war (Burstein 1985: 126, A. 9).

Die Adulis-Inschrift belegt zudem, dass sich der Herrscher im ptolemäi-schen Reich zur kriegerischen Profilierung nicht nur als siegreicher Feldherr darstellte, sondern auch in der speziellen neuen Rolle des königlichen Elefanten-jägers. So betont Ptolemaios III., zusammen mit seinem Vater Ptolemaios II. Elefanten im Küstengebiet des Roten Meers gejagt, zu Kriegselefanten ausgebil-det und überdies bei seinem Feldzug die indischen Elefanten des Gegners erbeu-tet zu haben (Burstein 1985: 126, Nr. 99, Z. 10-13, 16). Diese Repräsentation rekurriert auf die Indienfeldzüge von zwei ptolemäischen Ahnen, die aufgrund ihres legitimierenden Prestiges sehr prominent in der Genealogie der Ptolemäer figurierten: der mythische erste Eroberer des Ostens, Dionysos und Alexander, der die Kriegselefanten des indischen Königs Poros erobert hatte. Ihre Bilder verschmolzen in der höfischen Symbolsprache miteinander und wurden als hero-ische Schablone seit Ptolemaios II. auch auf die Darstellung des kriegerischen Königs übertragen.

Neben der Rolle als Eroberer zeigte sich Ptolemaios II. als Wohltäter und knüpfte gegenüber der ägyptischen Bevölkerung an die pharaonische Tradition an. Als besonders einflussreich erwiesen sich indes seine Maßnahmen zur Sakra-lisierung des Königtums: Ptolemaios II. ließ seinen verstorbenen Vater unter dem Kultnamen Ptolemaios Soter, der Retter, vergöttlichen und richtete ein vier-jährliches Gedenkfest, die Ptolemaieia, für ihn ein (Walbank 1994: 152; 1984: 97; Thompson 2000: 367; Hölbl 1994: 87; Hazzard 2000: 31; Ellis 2002: 60). Nach dem Tod seiner Mutter Berenike wurde auch sie divinisiert und ihrem verstorbenen Gatten Ptolemaios Soter an die Seite gestellt. Sie bildeten das Paar der theoi soteres, Rettergötter. Als Konsequenz konnten sich alle Kinder aus ihrer Ehe, Ptolemaios II. und seine Schwestern, darauf berufen, Abkömmlinge von Göttern zu sein (Theokrit 17,121-127).

Um aus der sakralen Überhöhung eine Vergöttlichung zu machen, den ent-scheidenden Schritt von isotheos (gottgleich) zu theos (göttlich) zu gehen, fehlte noch der Aspekt der eigenen Göttlichkeit der ptolemäischen Geschwister. Er blieb nicht ausgespart: 272/271 v. Chr. wurden Ptolemaios II. und Arsinoë II. unter dem Kultnamen theoi adelphoi, Geschwistergötter, divinisiert und in einem makedonisch-griechischen und einem separaten ägyptischen Kult verehrt (Huß 2001: 325; Carney 2000: 33; Walbank 1994: 218; Hölbl 1993: 87-88; Lanciers 1992: 207). Sie waren die ersten Ptolemäer, die zu Lebzeiten göttlich verehrt wurden, und dienten den nachfolgenden Generationen als Modell. Der grie-chisch-makedonische Kult wurde dem Reichskult des vergotteten Alexanders angeschlossen und bildete den Grundstein für die Verehrung des Herrscherhau-ses im Ptolemäerreich (Huß 2001: 325; Lanciers 1992: 207; Minas 2000: 86).

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Die Legitimität eines Gottessohns, der selbst ein Gott war, konnte – wie man sich zumindest wohl erhoffte – kaum angezweifelt werden.

Dazu kam, dass Ptolemaios II. in seiner Repräsentation nicht alleine als Sohn eines Götterpaars auftrat, sondern zusammen mit einem zweiten Kind der göttlichen Eltern: seiner Vollschwester Arsinoë. Sie trat allerdings nicht nur als seine Schwester in Erscheinung, sondern auch als seine Frau; zu einem unbe-stimmten Datum zwischen 278 und 274 v. Chr. hatte er sie geheiratet, ein spek-takulärer Akt, der in griechischer und makedonischer Sicht ungewöhnlich und fragwürdig war (Plutarch, Moralia: 736 E). Im Ptolemäerhaus wurde die Endo-gamie jedoch rasch zum Rollenmodell; bereits in der nachfolgenden Generation hatte sich eingebürgert, dass das Königspaar als „Bruder und Schwester“ figu-rierte – auch diejenigen, die gar nicht verschwistert waren. Man sollte nicht lange nach ägyptischen oder achaimenidischen Parallelen für endogame Ehen suchen; sowohl bei den Pharaonen als auch im persischen Königshaus wurden Geschwis-terehen nur sporadisch eingegangen und zudem wohl zwischen Halbgeschwis-tern, wie die aktuelle Forschung annimmt (Hölbl 1994: 106; Wiesehöfer 2005: 126-127). Als Vorbild für die Ptolemäer kommen vielleicht eher die Heka-tomniden in Frage, eine Satrapendynastie im südwestlichen kleinasiatischen Karien. Die vier Kinder des Dynastiebegründers Hekatomnos, der 392/1 v. Chr. von Artaxerxes II. eingesetzt worden war, heirateten untereinander und präsen-tierten sich jeweils in dynastischer Zweieinigkeit (Carney 2005: 66-78; Schmitt 2005a: 523). Kulturelle Anlehnung hatte mit der ersten ptolemäischen Geschwis-terehe jedoch weitaus weniger zu tun als Dynastiepolitik – die im Übrigen auch bei den Pharaonen und Achaimeniden eine bedeutende Rolle spielte. Ptolemaios II. wollte bei seiner Nachfolgeregelung ähnliche Konflikte wie bei seinem Regie-rungsbeginn vermeiden. Daher verfolgte er die Politik, die Nachfolge auf einen Familienzweig zu verengen (Müller 2005: 47-48). Er hatte Söhne aus seiner ersten Ehe mit einer anderen Arsinoë, die nicht mit ihm verwandt gewesen war, einer Tochter des thrakischen Königs Lysimachos (Pausanias 1,7,3). Die Nach-folge von einem dieser Söhne sollte gesichert und ein Zugriff von außen auf den Thron unterbunden werden. Arsinoë II. adoptierte sie.

Diese „endogame Notlösung“, die sich aus konkreten dynastiepolitischen Problemen ergeben hatte, prägte das ptolemäische Image allerdings entschei-dend. Seit der ersten Geschwisterehe zwischen Ptolemaios II. und Arsinoë II. war das Prinzip der Dualität auf dem Thron, das doppelten Segen, doppelten Wohlstand des Landes und doppeltes Wohlergehen der Bevölkerung garantieren sollte, ein fester Bestandteil der ptolemäischen Selbstdarstellung. Zu betonen ist dabei, dass sich davon keineswegs per se ein politisches Mitspracherecht oder sogar eine Mitregentenstellung der Königin ableiten lässt. Der Grad ihres Ein-flusses war von der jeweiligen politischen Situation abhängig; prinzipiell bedeu-

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tete ihre Präsenz als Komplement zum König erst einmal nichts anderes als ihre Sichtbarkeit in der Repräsentation.11

Betrachtet man die Leistungen Ptolemaios’ II. in der Innen-, Außen- und Dynastiepolitik während seiner jahrzehntelangen Regierungszeit von 283 bis 246 v. Chr., ist festzustellen, dass sein Vater sich nicht in ihm geirrt hatte. Unter Ptolemaios II. und seinem Sohn Ptolemaios III. erlebte das ptolemäische Reich seine größte Ausdehnung, die Wirtschaft blühte und es wurde ein dichtes Han-delsnetz über den ägäischen Raum gespannt. An diese Blütezeit des Ptole-mäerreichs knüpfte die letzte ptolemäische Königin Kleopatra VII. in ihrer Re-präsentation wieder an, um an den alten Glanz zu erinnern (Huß 2001: 741; Bemmann 1995: 85-88; Hölbl 1994: 218). 5.2 Die Reflektion der Legitimationsstrategien Ptolemaios’ II. in der

höfischen Dichtung Im Folgenden werden die verschiedenen erwähnten Legitimationsstrategien Ptolemaios’ II. anhand eines Beispiels aus der höfischen Dichtung reflektiert. Zeugnisse der hellenistischen Dichtung zählen zu den spärlichen zeitgenössi-schen Quellen neben Inschriften und Münzen, die ohne eine durch zeitliche Dis-tanz erfolgte Brechung Einblicke in die höfische Kultur, ihre Deutungsmuster und politische Orientierung gewähren. Das Medium der Dichtung erlaubt Auf-schlüsse über die ideologischen Codes der ptolemäischen Selbstdarstellung so-wie über die Art, wie sie vermittelt wurden. Die ptolemäischen Herrscher prote-gierten die Dichtkunst, da sie dazu beitragen konnte, ihre Ideologie zu verbreiten und somit zumindest indirekt ihr Image zu unterstützen (Effe 2007: 276).

Wie aktiv sich die Dichter an der Vermittlung königlicher Ideologie betei-ligten beziehungsweise in welchem Maß sie in das Legitimations- und Repräsen-tationssystems der hellenistischen Herrscher eingebunden waren, ist in der For-schung umstritten. Die extremen Positionen sind durch eine strikte Negierung jeglicher ideologischen Färbung der Poesie auf der einen Seite und durch eine Charakterisierung der Dichter als königlicher Chefpropagandisten auf der ande-ren Seite bestimmt.12 Für einen Mittelweg tritt Gregor Weber ein, der einen kriti-schen Umgang mit den Begriffen „Propaganda“ und „Opposition“ anmahnt und betont, dass die höfische Dichtung nicht prinzipiell ideologischen Charakter

11 Dies wird besonders am Beispiel Arsinoës II. deutlich, da sie nach ihrem Tod in der Selbstdarstel-lung Ptolemaios’ II. noch mehr Raum zu erhalten scheint als zu ihren Lebzeiten – nun als omnipoten-te und omnipräsente Göttin. 12 Überblicke zum Stand der Diskussion und zu den Positionen bieten Effe 2007: 263; Ambühl 2005: 6-7; Weber 1995: 285-286.

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haben musste (Weber 1993: 35, 60, 123-124). Es ist angebracht, nicht von der modernen, aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts resultierenden Prämisse auszugehen, dass Kunst und Politik getrennt bleiben müssen und die Lobprei-sung eines Politikers durch einen Künstler per se als Form der Meinungsmanipu-lation negativ konnotiert ist. Das Herrscherlob der hellenistischen Dichter stand in der griechischen literarischen Tradition und wurde nicht automatisch als ver-werflich eingestuft. Zugleich besaßen die Dichter auch einen gewissen Freiraum, um die höfischen Themen humorvoll und spielerisch zu behandeln und selbst etwas Distanz zu wahren (Effe 2007: 275-278). In summa spiegelte die hellenis-tische Poesie die Hauptelemente der königlichen Ideologie wider und half, sie im öffentlichen Bewusstsein und kulturellen Gedächtnis zu verankern. Dies ge-schah, indem die symbolischen Codes in eine Tradition von bekannten Denk-mustern und Erfahrungshorizonten eingebettet wurden.

Wie auch bei bildlichen Medien ist als letzter wichtiger Punkt vorab zu klä-ren, welches Publikum mit den poetischen Werken angesprochen wurde. Es ist davon auszugehen, dass sich die höfische Dichtung in ihrer gelehrten Komplexi-tät und ihrem anspruchsvollen Allusivitätscharakter – gemeint ist die vielfältige Anspielung auf griechische literarische Traditionen – primär an die gebildete griechisch-makedonische Oberschicht als den bedeutendsten Herrschaftsträger des Königs richtete (Effe 2007: 262-263; Hopkinson 1984: 139). Im Folgenden soll als diskursanalytisches Beispiel die Umdeutung einer homerischen Szene untersucht werden, vorgenommen von dem bekannten hellenistischen Dichter Kallimachos aus Kyrene, der am Hof Ptolemaios’ II. und Ptolemaios’ III. lebte und zeitweise die berühmte Bibliothek von Alexandria leitete (Köhnken 2005: 506). Der Umgang der alexandrinischen Dichter mit den literarischen Texten der Vergangenheit, die dort gesammelt und katalogisiert wurden, gilt daher als ein zentraler Aspekt ihrer Poesie (Ambühl 2005: 12).

Vor der Beschäftigung mit Kallimachos’ Interpretation steht kurz das Ori-ginal, auf das er sich bezieht, zur Betrachtung: Im 15. Gesang der Ilias wird die Aufteilung der Herrschaftsgebiete unter die Söhne des Göttervaters Kronos the-matisiert. Poseidon spricht:

„Denn drei Brüder sind wir von Kronos her, die Rheia geboren: Zeus und ich und als dritter Hades, der über die Unteren Herr ist. Dreifach ist alles geteilt, und jeder er-hielt seinen Teil an Ehre. Ja, da erlangte ich, das graue Meer zu bewohnen immer, als wir losten, und Hades erlangte das neblige Dunkel, Zeus aber erlangte den Him-mel, den breiten, in Äther und Wolken. Die Erde aber ist noch allen gemeinsam und der große Olympos“ (Ilias 15,187-193).13

13 Zitiert nach der Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt.

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Zugleich betont Poseidon seine Ebenbürtigkeit mit Zeus und macht klar, dass es sich nicht um eine hierarchisierte Aufteilung der Gebiete gehandelt hatte: „So lebe ich auch durchaus nicht nach dem Sinn des Zeus, sondern ruhig, und ist er auch ein Starker, soll er bleiben in seinem Drittel! Mit Händen soll er mich aber nicht in Furcht setzen wie einen Geringen!“ (Ilias 15,195-198). Kallimachos unterzog die Szene in seinem Hymnos auf Zeus einer entscheidenden Revision. Über die Laufbahn des Zeus schrieb er:

„… himmlischer Zeus, schnell wurdest du erwachsen... Doch selbst, als du noch ein Kind warst, sannest du allein, was sich erfüllte: Deswegen verargten dir deine Brü-der, mochten sie auch früher geboren sein, auch nicht, den Himmel als Palast zuge-teilt zu bekommen. Die alten Sänger aber sagten ganz und gar nicht die Wahrheit: Sie behaupteten, dass das Los den Kronossöhnen die Wohnstätten in drei Teilen zu-gesprochen habe. Wer aber würde wohl um Olymp und Hades das Los werfen, der nicht vollkommen verrückt ist? Denn um Gleichwertiges losen ist vernünftig – die aber unterscheiden sich so weit davon, wie es überhaupt nur möglich ist! Wenn ich mir schon ein Märchen ausdenke, dann hoffentlich eines, das das Ohr des Hörers überzeugt! Nicht das Los hat dich zum Götterherrscher gemacht, sondern die Taten deiner Hände (erga cheiron), deine Gewalt (bia) und deine Kraft (kartos)...“ (Kallimachos, Hymnen: 1,55-67).14

Eine Grundvoraussetzung für die Neugestaltung der Szene durch Kallimachos ist die Charakterisierung der Ependichter als Lügner. Die Verunglimpfung eines literarischen Vorgängers als Märchenerzähler war zwar durchaus griechische Tradition (Hopkinson 1984: 144). In diesem Falle verfolgte Kallimachos aber auch einen darüber hinausgehenden Zweck: In seiner Version wurde Zeus auf-grund seiner Leistungen und seiner Macht die hochrangigste aller Herrschaften zugesprochen – die über den Olymp, im Epos noch gemeinsamer Sitz aller drei Söhne und nicht Teil des Losverfahrens. Seine Brüder waren einverstanden, weil seine größere Kraft augenscheinlich war. Die Auslosung, die erstens auf eine gewisse Zufälligkeit der Entscheidung und zweitens auf die Gleichrangigkeit der Einflussbereiche schließen ließ, wird von Kallimachos bewusst als Lüge zurück-gewiesen und ersetzt. Er lehnt sich dabei an die Version in Hesiods Theogonie an, in der die Götter Zeus einhellig die Herrschaft übertragen (Hesiod, Theogo-nie 881-885; Hopkinson 1984: 144; Ambühl 2005: 243).15 Bei Kallimachos basiert Zeus’ Wahl als Herrscher des Olymps auf dessen erga, Taten – dem Sturz des Kronos und dem Sieg im Kampf gegen die Titanen – (Kallimachos, Hym-nen: 1,3), sowie in enger Anlehnung an Hesiod auf bia und kartos/kratos (Hop-kinson 1984: 145; Yu 1971: 31). Bia, die Gewalt, und kratos, die reglementierte, 14 Zitiert nach der Übersetzung von Markus Asper. 15 Hesiod lebte ungefähr 720-670 v. Chr. und beschrieb in seiner Theogonie die Entstehung der griechischen Götterwelt.

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innerhalb einer bestimmten Ordnung wirkende Macht, sind Ausformungen von Macht und treten im Prometheus Desmotes als Geschwisterpaar und Begleiter des Zeus auf (Aischylos, Prometheus: 1-89). Zugleich war bia negativ konnotiert und wurde mit einem willkürlichen Gebrauch von Herrschergewalt jenseits des Rechts assoziiert (Arrian, Anabasis 4,11,6). Kratos stand hingegen nomos, dem Gesetz, nahe und beinhaltete die Möglichkeit, innerhalb eines rechtlichen Rah-mens Dinge ins Werk zu setzen. Das Wirken von bia allein wäre daher mit einer Gewaltherrschaft gleichzusetzen gewesen, doch da gemäß Kallimachos kratos als ordnende und lenkende Komponente hinzukam, die Kraft von bia so kanali-siert wurde beziehungsweise sich bia in kratos zu wandeln vermochte, lobte der Dichter beide Eigenschaften des Zeus. Zusammenfassend hatte Zeus, um seine Machtübernahme durchzusetzen, zwar bia nötig gehabt, die aber durch kratos in geordnete Bahnen gelenkt worden war. Da Zeus’ Eigenschaften ihn als den Er-wählten auswiesen, bestand Konsens unter den Brüdern, dass er die höchste Würde erhalten sollte. Eine gemeinsame Herrschaft gab es nicht. Es konnte nur einer, nämlich der Beste, an der Spitze der Macht stehen: Der Olymp als der dezidiert höchstrangige Einflussbereich stand Zeus allein zu. Die These, der Hymnos kreise zentral um den Gedanken des Ursprungs in vielerlei Hinsicht (Ambühl 2005: 236), trifft zu: Kallimachos reflektiert den Ursprung von Herr-schaft und ihrer Legitimation. Als ein weiteres zentrales Element wurde die Ewigkeit ausgemacht (Hopkinson 1984: 140), die Unsterblichkeit und Unend-lichkeit von Zeus, seiner Herrschaft und ihrer Rechtmäßigkeit. Beide Elemente sind in ihrer Verknüpfung Faktoren der Legitimität.

Hinter Kallimachos’ Gedankenspielen steht die aristotelische Vorstellung vom idealen Herrscher, der kraft seiner überragenden Fähigkeiten nicht einmal mehr der Gesetze bedurfte, um gerecht zu regieren. Seine Handlungen waren per se weise und rechtens, weshalb seine Herrschaft von allen anerkannt wurde (Aristoteles, Politik 3,8,7,1284 B). Kallimachos verdeutlichte diese Theorie anhand von Poseidons und Hades’ Haltung, die sich beide dem jüngeren Bruder bereitwillig unterordneten. Es scheint sich bei Kallimachos’ Behandlung des vermiedenen Generationenkonflikts durch eine harmonische Regelung um weit mehr zu handeln als um den Ausdruck einer künstlerischen aemulatio seiner literarischen Vorgänger, wie Annemarie Ambühl vermutet (Ambühl 2005: 232). Dies mag eine Meta-Ebene ausmachen, genügt als alleinige Erklärung jedoch nicht. Die Betonung, dass Zeus der Jüngste war, ist auffällig.16 Kallimachos’ Version der Aufteilungsszene ist daher kaum von der Situation seines Mäzens Ptolemaios II. getrennt zu sehen (Effe 2007: 275; Stephens 2003: 77-79; Weber

16 Bei Hesiod ist im Gegensatz zum homerischen Epos zwar auch Zeus der jüngste der Brüder (Theo-gonie 478-479), aber dieser Umstand wird nicht so explizit betont.

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1993: 236). Deutlich wird auch, wie weit diese Fiktion von der politischen Reali-tät entfernt war, da Ptolemaios II. anders als Kallimachos’ Zeus gerade nicht die ungeteilte Zustimmung seiner Brüder erfahren hatte. Das artifizielle Konstrukt der Verse war eine literarische Verbrämung seines problematischen Regierungs-beginns; es operierte mit Versatzstücken ptolemäischer Programmatik.

Zum Abschluss soll ein letzter Blick auf Kallimachos’ Neuinterpretation der homerischen Szene eine noch ausstehende Frage klären. Wenn man die epische Vorgabe der Ilias betrachtet, fällt auf, dass ein Element im Hymnos auf Zeus fehlt. Im homerischen Epos regierte Zeus als König den Himmel, Hades be-herrschte die Unterwelt und Poseidon das Meer. Was aber geschah mit der Erde, die in der Ilias allen drei Kronossöhnen gemeinsam unterstehen sollte? Kallimachos erwähnt in seinem Gedicht nicht, welche Lösung für die Erde vor-gesehen war. Um die Frage zu beantworten, ist es hilfreich, ein Epigramm zum Vergleich heranzuziehen, das ungefähr im gleichen Zeitraum am ptolemäischen Hof entstand (Müller 2006b: 19-21). Vermutlich stammt es von dem Epigram-matiker Asklepiades von Samos, der um die Wende vom 4. zum 3. Jh. v. Chr. in Alexandria lebte (Seelbach 2005: 151). Als Alternative gilt Archelaos von Chersonesos, der ebenfalls als Autor der Verse genannt wird (Beckby 1965: 16,120; Sens 2001: 6). Auch in seinem Fall führt die Spur nach Ägypten und an den frühptolemäischen Hof in die Regierungszeit Ptolemaios’ III., des Sohns und Nachfolgers Ptolemaios’ II. (Sens 2005: 213).

Das Epigramm beschreibt eine Porträtskulptur, geschaffen von dem be-rühmten griechischen Bildhauer Lysippos, die Alexander, eine der Leitfiguren Ptolemaios’ II., darstellt: „Die Statue scheint zu Zeus zu blicken und zu sagen: Unterstelle mir die Erde, Zeus, aber habe du den Olymp inne“ (Plutarch, Moralia: 335 A-B). Der Dichter legt dem Makedonen demnach die Forderung nach einer Partizipation an der Aufteilung der Einflusssphären in den Mund. Alexander verlangt für sich allein, was im homerischen Epos gemeinsamer Be-sitz von Zeus, Poseidon und Hades ist. Zeus billigt er – fast möchte man sagen: gnädig – zu, den Olymp behalten zu dürfen. Da der Makedonenherrscher zum Zeitpunkt der Entstehung des Epigramms in Ägypten bereits postum vergöttlicht worden war, thematisierte der implizierte Dialog zwischen Zeus und Alexander, dass ein Gott zu einem anderen Gott sprach. Offensichtlich handelte es sich um eine Art des später in der bildenden Kunst geläufigen Darstellungstypus der sacra conversazione (Müller 2006b: 18).

Zugleich fällt auf, dass die zwei anderen Kronossöhne, Hades und Posei-don, wiederum ausgeblendet werden. Diese Auslassung entspricht Kallimachos’ Schilderung der Verteilungsstruktur der göttlichen Einflussgebiete. Zeus bleibt in seiner Position nicht nur unangetastet, sondern wird gegenüber seinen Brüdern aufgewertet, weil er nicht allein der höchste olympische Gott, sondern auch der

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Urstammvater der ptolemäischen Dynastie war, die sich matrilinear über Diony-sos und patrilinear über Herakles jeweils auf Zeus zurückführte, wie die bereits erwähnte Adulis-Inschrift zeigt, in der Ptolemaios III. seine Herkunft dokumen-tiert: „Der große König Ptolemaios, Sohn von König Ptolemaios und Königin Arsinoë, den Geschwistergöttern, die Kinder von König Ptolemaios und Königin Berenike, den Rettergöttern, väterlicherseits abstammend von Herakles, Sohn des Zeus, mütterlicherseits abstammend von Dionysos, Sohn des Zeus“ (Burstein 1985: Nr. 99, Z. 1-6).

Es verwundert nicht, dass Hades und Poseidon sowohl bei Kallimachos als auch in dem Epigramm auf die Alexanderstatue unter den Tisch fielen. Sie waren für das Hauptargument nicht von Bedeutung, dessen Inhalt die Herrschaftsüber-tragung durch den höchsten aller Götter an den ideellen Stammvater der Ptole-mäer war: Alexander als ptolemäischer Amtsvorgänger. Die Erde, die territoriale Herrschaft, fiel dem makedonischen Herrscher zu, die sphärische Herrschaft über den Olymp dem Gott Zeus.

6 Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die zentralen Legitimationsfaktoren in politischen makedonischen Strukturen – die symbolische Aufwertung der Genea-logie und die kriegerische Leistung – von den Argeaden bis zu den hellenisti-schen Herrschern ihre Bedeutung nicht verloren hat, wenngleich der Nachweis der militärischen Erfolge in hellenistischer Zeit teils auf der symbolischen Ebe-ne, durch die bildliche oder literarische Glorifizierung als triumphierender Feld-herr erfolgte. Dem Ideal von Alexander und seiner Eroberung des Perserreichs konnten die hellenistischen Herrscher nicht annähernd gerecht werden; sein Expansionszug war in seinen Ausmaßen ein unerreichtes Phänomen, der frühe Kollaps des Riesenreichs folgerichtig gewesen. Die Alexander-imitatio drückte sich daher primär durch die Adaption von Attributen aus, die für sein Porträt als charakteristisch galten, durch die genealogische Zurückführung auf ihn oder durch die literarische Parallelisierung von begrenzten Kriegshandlungen mit dem Alexanderzug.

Die familiäre Zugehörigkeit zum Argeadenhaus wurde als Legitimations-faktor naturgemäß in dem Moment obsolet, als die Dynastie der Argeaden er-losch und neue Reiche mit neuen Herrscherhäusern entstanden. Sobald sich diese Reiche etabliert hatten, spielte die Zugehörigkeit zur Dynastie erwartungsgemäß bei den nachfolgenden Thronwechseln wieder eine wichtige Rolle.

Als neue Legitimationsfaktoren, die in den hellenistischen Reichen Anwen-dung fanden, sind die Dualität des Königspaars in der monarchischen Repräsen-

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tation und der Herrscherkult zu nennen. Bei der göttlichen Verehrung handelt es sich um den konsequenten Abschluss des Prozesses der sakralen Überhöhung des Herrschertums, der bei den späten Argeaden begonnen hatte und mit der Apotheose des lebenden Herrschers seinen Endpunkt erreichte. Insofern handelt es sich auch in diesem Fall um eine weitere Aufwertung der Genealogie, die nun nicht mehr nur olympische Götter und Heroen, sondern auch vergöttlichte Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern listete. Wie bedeutend jedoch die traditionellen griechischen Götter neben den „neuen“ ptolemäischen Göttern in der Ahnenreihe blieben, verdeutlicht eine Passage bei Kallimachos, in der er einmal mehr auf den frühgriechischen Rhapsoden Hesiod rekurriert: „‚Von Zeus kommen die Könige , denn nichts ist göttlicher als die Herrscher des Zeus“ (Kallimachos, Hymnen: 1,79-80). Literatur Aelian (1997): „Various History“, in: Historical Miscellany. Varia Historia, Übers. v.

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Herrscherabsetzung, Herrschaftskonsolidierung und legitime Herrschaft im frühen Mittelalter: Childerich III, Pippin III und Karl der Große Elke Ohnacker 1 Einleitung Einhard, der Biograph Karls des Großen, schildert in seiner Vita Karoli Magni die Ereignisse des Jahres 751 in folgenden Worten:

„Das Geschlecht der Merowinger, aus dem die Franken ihre Könige zu wählen pflegten, herrschte nach allgemeiner Ansicht bis zur Zeit Childerichs. Childerich wurde auf Befehl des römischen Papstes Stephan abgesetzt, geschoren und ins Klos-ter geschickt. Obwohl das Geschlecht dem Anschein nach mit ihm ausstarb, hatte es schon lange seine Bedeutung eingebüsst und besaß nur mehr den leeren Königstitel. Die wirkliche Macht und Autorität im Königreich hatten die Hofmeier des Palastes, die sogenannten Hausmeier, die an der Spitze der Regierung standen (quos summa imperii pertinebat). Dem König blieb nichts anderes übrig, als sich mit seinen Titel zu begnügen und mit wallendem Kopfhaar und ungeschnittenem Bart (crine profuso, barba sumissa) auf dem Thron zu sitzen und den Herrscher zu spielen. ... Der König besass fast nichts, das er sein Eigen hätte nennen können, außer dem wertlosen Kö-nigstitel und einem unsicheren Lebensunterhalt (precarium vitae stipendium), den ihm der Hausmeier gewährte. ... Wenn er eine weitere Reise machen musste, wurde er nach Bauernart (rustico more) in einem Wagen gefahren, den ein Ochsengespann zog.“ (Einhard, Vita: c. 1)

Das idealtypische Gegenstück zu dieser lächerlichen Armut und Machtlosigkeit bildete die Familie der Hausmeier, der nachmaligen karolingischen Dynastie:

„Als Childerich abgesetzt wurde, bekleidete Pippin, der Vater Karls des Grossen, das schon fast erblich gewordene Amt des Hausmeiers. ...Das Volk (populus) übertrug die Würde des Hausmeiers gewöhnlich nur solchen Männern, die sich durch hohe Geburt und großen Reichtum auszeichneten.“ (Einhard, Leben: c. 2)

Die propagandistische Ausrichtung dieser Quelle ist unverkennbar und geprägt von Einhards Absicht, die überlegene Legitimität von Pippins Anspruch auf das fränkische Königtum unanfechtbar zu begründen und eine Handlung – Abset-

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_8,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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zung des rechtmäßigen Königs oder Usurpation - zu rechtfertigen, die nicht legitimierbar scheint. Was aber bringt eine Geschichte über den offensichtlichen Bruch herrscherlicher Legitimation in einen Sammelband über die Legitimation politischer Herrschaft?

Diese Frage ist eng verbunden mit der Quellenlage zur frühmittelalterlichen Geschichte, besser: mit dem endemischen Quellenmangel für diese historische Epoche. Textgattungen, die für die Analyse politischer Phänomene späterer Zei-ten zentral sind, wie Traktate zur politischen Philosophie und zum Staatsrecht fehlen, ebenso die modernen Dokumente individuellen Erlebens von Politik, Augenzeugenberichte, Memoiren, Tagebücher etc.. Die spärliche lateinische Schriftlichkeit reflektiert die orale Gesellschaft des 8. und 9. Jahrhunderts allen-falls punktuell und keineswegs systematisch. Der politische Alltag, Normen und Institutionen politischer Legitimation, aber auch die an der Politik maßgeblich beteiligten sozialen Gruppen außerhalb des Königtums scheinen nur selten auf. Eine relative Verbesserung der Quelleninformationen findet sich bei Ereignissen, die mit Norm und Normalität brechen, so z.B. Herrscherabsetzungen. Hier be-steht die Chance, schlaglichtartig zu erkennen, oder zumindest rekonstruieren zu können, welche Institutionen der Herrschaftslegitimation (zeitweilig) negiert oder außer Kraft gesetzt und welche weiterbestanden oder modifiziert wurden. Zentrale Krisen des frühmittelalterlichen Königtums sind daher wesentliche Quellen für das Verständnis des Funktionierens von Herrschaft und Herrschafts-legitimation.

Wie die Lektüre frühmittelalterlicher Quellen zeigt, waren weder Herr-scherabsetzungen noch Herrschermord eine Seltenheit (Bund 1979: 79ff., 514ff.). Die Absetzung des letzten merowingischen Königs und die Etablierung der karolingischen Dynastie wirft daher die zentrale Frage auf: Worin glich sich die Legitimation von merowingischem und karolingischem Königtum und worin unterschied sie sich? Um diese Frage zu beantworten, müssen zunächst die legitimativen Strukturen des merowingischen Königtums und der Prozess der sukzessiven Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Hausmeier des austrasischen Reichsteils, der Vorfahren Pippins und Karls des Großen, darge-stellt werden. Der Quellenmangel erfordert hier eine komparative Vorgehens-weise, da sich Informationen über das merowingische Königtum oft nur über den Umweg einer generalisierenden Analyse des Königtums und der damit verbun-denen legitimierenden Institutionen der Völker, die sich seit der Spätantike in Westeuropa angesiedelt hatten, erschließen lassen.

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2 Institutionen und Akteure frühmittelalterlicher Herrschaft Das frühmittelalterliche Königtum ist unmittelbar mit dem Herkunftsmythos der jeweiligen gens, ihrer Geschichte und ihrem ehrenvollen Stammesnamen ver-knüpft. Die Dynastie der Merowinger soll – so erzählen die Quellen - aus einer Allianz der Mutter ihres Stammvaters Merovech mit einem Meeresungeheuer hervorgegangen sein (Liber Historiae Francorum LHF: 342). Zur Entstehung und Etymologie des Stammesnamens Franci existieren unterschiedliche Überliefe-rungen, die sich jedoch darüber einig sind, dass es sich um einen sehr ehrenvol-len Namen handelt (LHF: 342). Die merowingischen Könige hoben sich durch ihre Erscheinung von ihrer Umgebung ab; sie trugen als Zeichen ihrer Herr-scherwürde einen Haarknoten auf der Stirn, den crinis. Der im 7. Jahrhundert entstandene anonyme Liber Historiae Francorum schildert in seiner Herkunfts-saga der Franken die Einsetzung ihres ersten Königs wie folgt: „[die Franken] beschlossen, wie andere gentes einen König einzusetzen ... und erhoben über sich (eleverunt) einen König, der den crinis trug. ... Seit dieser Zeit haben sie Könige, die den crinis tragen (crinitos reges).“ (LHF: 344). Obgleich derartige in den Quellen überlieferte Mythen mit Vorsicht zu genießen sind, treten hier doch grundsätzliche Aussagen zum Königtum zu Tage: es war wichtig, einen König zu haben, königlose Zeiten wurden als schwere Krisen wahrgenommen (Wenskus 1961: 34ff., 307ff.). Die Einsetzung eines Königs erfolgte auf der Basis eines gesellschaftlichen Konsenses; der König war durch bestimmte Herr-schaftszeichen erkennbar (Schramm 1954: 101ff.). Der Begriff "Königswahl" kann nicht im modernen Sinn einer Auswahl unter mehreren Kandidaten ver-standen werden. "Wahl" bedeutet vielmehr die öffentliche Bestätigung von Thronprätendenten durch die Versammlung von Adel und Freien, gefolgt von einer zeremoniellen Amtseinsetzung. Die solchen öffentlichen Akten vorausge-henden Entscheidungen wurden durch die Großen des Reiches1 initiiert und in

1 Als die Großen des Reiches werden üblicherweise die sich im unmittelbaren Umfeld des Königs befindenden weltlichen und geistlichen Eliten bezeichnet. Die Angehörigen dieser heterogenen Gruppe waren, entweder qua Geburt oder aber qua Ernennung, privilegiert und verfügten über be-trächtliche Macht, sowohl auf lokaler Ebene als Grundherren als auch als Funktionsträger und Ratge-ber des Königs und als unmittelbare Stützen des Königtums. Sie sind diejenigen, die königliche Beschlüsse auf Reichstagen etc. mittragen und bezeugen. Die meisten lateinischen Quellen bezeich-nen diese Personengruppe uneinheitlich als nobiles, aber auch als optimates, potentes oder proceres. Die fränkischen Gesetzescodices, die Lex Salica und die Lex Ribuaria hingegen unterschieden die fränkische Gesellschaft hierarchisch lediglich in Freie und Unfreie und schreiben die Privilegierung der freien und unfreien Mitglieder des königlichen Haushalts fest. Die Bezeichnung dieser sozialen Gruppe als Adel oder gar Hochadel ist vor diesem Hintergrund anachronistisch, dies um so mehr, als von einer erblichen und geburtsständischen Abschließung und Undurchlässigkeit, die den Begriff des feudalen Adels zentral charakterisiert, im betrachteten Zeitrahmen noch nicht ausgegangen werden kann, obgleich bereits starke Tendenzen in diese Richtung ausgemacht werden können.

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die Wege geleitet. (Wood 1994: 55ff.) Die in den entsprechenden Quellen for-melhaft bestätigte Einmut der Anwesenden ist auf ein Charakteristikum frühmit-telalterlicher politischer Praxis zurückzuführen: politische Versammlungen wie Reichstage dienten nicht, wie dies ein modernes westliche Politikverständnis nahe legen würde, der öffentlichen Diskussion, sondern eher der zeremoniellen Legitimierung von Beschlüssen, nachdem die Phase inhaltlicher Auseinanderset-zungen bereits abgeschlossen war. Der soziale Ort, wo Unstimmigkeiten geklärt und Auseinandersetzungen ausgetragen wurden, war ein vorgeschaltetes kleine-res Gremium mächtiger Entscheidungsträger. Dennoch waren Versammlungen wie Reichs- und Gerichtstage keine bloßen Akklamationsorgane ohne eigentli-che politische Bedeutung. Öffentliche Zustimmung war ein integraler Bestandteil von Rechtsakten wie der Königserhebung. Dass wenig und nur fragmentarisch darüber berichtet wird, welche Ausdrucksformen Unzufriedenheit mit herr-scherlicher Machtausübung annehmen konnte, liegt einerseits daran, dass das Gros der Quellen in einem herrschernahen Umfeld entstand und daher bestrebt war, oppositionelle Bestrebungen tendenziell zu verschweigen oder zu vertu-schen. Zudem ist das auffällige und omnipräsente Streben nach Einstimmigkeit und Einmütigkeit tief in der frühmittelalterlichen Vorstellung von Herrschaft verankert: weltliche Herrschaft diente dem Zweck der Herstellung und Wahrung von ordo, von Frieden, Harmonie und gutem Herkommen; Uneinigkeit (discor-dia) war ein pejorativ konnotierter Begriff. Wer also mit der jeweils inszenierten Einmütigkeit einer Entscheidung nicht einverstanden war, stellte seine Ableh-nung durch Fernbleiben unter Beweis (Althoff 1997: 60); politische Opposition artikulierte sich durch Nicht-Teilnahme an Riten und Institutionen der Legitima-tion.

Die frühmittelalterlichen Formen der Thronfolge waren alles andere als ein-heitlich. Von einer grundsätzlichen Einschränkung auf die direkten Nachkom-men oder gar einer Primogenitur kann nicht ausgegangen werden. Zwischen den einzelnen Reichen bestanden zum Teil grundlegende Differenzen in der Rege-lung der Herrschernachfolge. Anders als etwa bei den oberitalienischen Nach-barn des Frankenreichs, den Langobarden, die in der Regel nur einen König hatten, bei denen aber häufig die Dynastie wechselte (vgl. Schneider 1972: 3ff.), war bei den Franken das Mehrkönigtum (von Brüdern, aber auch von Vätern und Söhnen oder Onkeln und Neffen) allgemein üblich. Die jeweiligen Prätendenten rekrutierten sich in aller Regel aus der Königssippe (stirps regia) der Merowin-ger, wenn auch nicht notwendigerweise in direkter Linie. Jeder König herrschte über einen der beiden Reichsteile, Neustrien und Austrasien. Die Nachfolge von mehr als zwei Königen führte in aller Regel, weil das Reich nur schwierig gleichberechtigt in mehr als zwei Teile zu teilen war, zu erheblichen Konflikten, die meist mit der gewaltsamen Verdrängung des oder der "überzähligen" Präten-

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denten endete. Prinzipiell konnte das Königtum auch an Prätendenten anderer Herkunft, sogar an Nicht-Franken vergeben werden, ohne dass dies zwingend zu einem Bruch der merowingischen dynastischen Tradition geführt hätte. So setz-ten während des auf seine Absetzung folgenden Exils Childerichs I. 459-467 die Franken auf einer Reichsversammlung mit dem erforderlichen legitimativen Zeremoniell den römischen magister militum Egidius als König ein, der bis zur Rückkehr Childerichs aus dem thüringischen Exil und dessen Wiedereinsetzung regierte (Jarnut 1994: 129ff.; Gregor, Hist.: II, 12). Auf eine nähere Bezeichnung der Akteure, die sich hinter dem Sammelbegriff des populus Francorum verber-gen, verzichtet die Quelle ebenso wie auf eine glaubwürdige Darlegung der Gründe für die Absetzung. Die von Gregor angeführte exzessive Promiskuität Childerichs I. und seine Vorliebe für einen verschwenderischen Lebensstil (Gre-gor, Hist.: II, 12) waren wenig geeignet, in der Gesellschaft des 5. Jahrhunderts Anstoß zu erregen.

Im komplexen Feld unterschiedlicher Ansprüche auf das Königtum lassen sich jedoch grundlegende Prinzipien und Strategien erkennen, die im Fall konfligierender Ansprüche den Kampf um die Macht entscheidend beeinflussen konnten: so scheint der Zeitfaktor entscheidend gewesen zu sein; der Prätendent, der als erster vor Ort war und sich als Nachfolger proklamieren ließ, war eindeu-tig im Vorteil. „Vor Ort“ kann zu Zeiten eines mobilen Königtums unterschiedli-che praktische Bedeutungen haben: eines der symbolischen Zentren der Herr-schaft, dort, wo sich um den sterbenden König die Mächtigen des Reiches ver-sammelt hatten, oder dort, wo sich die Witwe des Königs und sein Schatz befan-den. Obgleich die legitimierende Dimension symbolischer Zentren der Herr-schaft nicht vernachlässigt werden kann, scheinen bei der tatsächlichen Durch-setzung von Nachfolgeansprüchen die beiden letztgenannten Faktoren entschei-dender gewesen zu sein. Der königliche thesaurus befand sich nach dem Tod des Königs meist in der Hand seiner Witwe; eine Heirat mit ihr konnte den Anspruch auf den Thron sichern (Schneider 1972: 242ff.). Bei einer solchen Einheirat, einer nicht nur im Frankenreich häufigen Nachfolgestrategie, brachte der thesau-rus dem jeweiligen Akteur nicht nur eines der wichtigsten Zeichen königlicher Herrschaft ein, er versetzte ihn auch in die Lage, mit der Aussicht auf reiche Belohnung um Anhänger zu werben. Nachdem sich die Großen des Reiches (oder zumindest eine ausreichend große Fraktion dieser) auf die Anerkennung von Nachfolgeansprüchen im kleinen Kreis geeinigt hatten, erfolgte die eigentli-che Bestätigung des Nachfolgers in einer öffentlichen Einsetzungszeremonie. Der genaue Ablauf des Zeremoniells der Herrschereinsetzung ist für diese Zeit nicht klar. Der erste erhaltene ordo sublimationis, der sog. Mainzer ordo, stammt aus dem Jahr 960. Frühere Quellen erwähnen lediglich einzelne Aspekte wie Akklamation oder Schilderhebung und beschränken sich im Übrigen auf Hinwei-

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se, dass alles nach alter Sitte und unter öffentlicher und einstimmiger Zustim-mung, also rechtlich gültig, abgelaufen sei. Auch hierfür kann die eingangs zi-tierte Vita Karoli Magni als Beispiel dienen. Schon die Beschreibung der Herr-schaftsnachfolge der Söhne Pippins III., Karl (der spätere Karl der Große) und Karlmann, nach dem Tod ihres Vaters 786, lediglich fünfzehn Jahre nach dem Sturz einer jahrhundertealten Dynastie, bedient sich der zeitgenössisch üblichen Formeln des business as usual: Reichstag, öffentliche Aufteilung des Reichs (nach den genannten merowingischen Prinzipien der Reichsteilung), sublimatio in regnum, öffentliche und einstimmige Zustimmung (Einhard, Leben: 3). Ge-nauere Informationen, etwa über die Beteiligten, den Verlauf des Zeremoniells und die verwandten Herrschaftszeichen und rituellen Akte fehlen. Derartige Einsilbigkeit kann darauf hindeuten, dass der Ablauf der Einsetzung der beiden Könige den Erwartungen der Anwesenden entsprach und von diesen als legitim anerkannt wurde. Auch die abschließende Bemerkung Einhards, der Friede zwi-schen den beiden Königen sei kaum zu wahren gewesen (Einhard, Leben: 3), deutet kaum auf ein Problem der Legitimation hin: schon das merowingische Mehrkönigtum zeichnete sich durch gewaltsam und rücksichtslos ausgetragene Rivalitäten aus.

3 Das merowingische Königtum: Vorläufer und Legitimationsmodell Dass die merowingische Dynastie fest in der fränkischen Gesellschaft verankert war, zeigt sich nicht zuletzt an ihrem Jahrhunderte langem Bestehen. Die lange Dauer dieser Dynastie ist für das Frühmittelalter unüblich, umso mehr, wenn man die endemischen und mit exzessiver Gewalt ausgetragenen Machtkämpfe und Thronstreitigkeiten in Betracht zieht. Das Bild chaotischer merowingischer Anarchie, das sich bis in die Gegenwart erhalten hat und mit zur modernen Wahrnehmung der Machtergreifung von 751 als einem der großen Ereignisse im historischen Prozess der Rationalisierung von Herrschaft beigetragen hat, sollte nicht einfach übernommen werden (Schiefer 2004: 1-2). Der Eindruck "agona-ler" (Scheibelreiter 1999: 236-237) Anarchie reflektiert eher die Kritik der kleri-kalen Autoren der Schriftquellen am weltlichen Lebensstil ihrer Zeitgenossen als die gesellschaftliche Realität. Zu einer weiteren anachronistischen Verzerrung der Wahrnehmung des frühmittelalterlichen Gesellschaft und ihrer Herrschafts-praxis als „agonal“ oder „barbarisch“ tragen noch weitere spezifisch moderne Wahrnehmungskriterien bei: bei der omnipräsenten Anwendung physischer Gewalt wird selten differenziert zwischen (nicht nur im frühmittelalterlichen Denken) legitimer Gewaltanwendung, d.h. Strafen wie dem Züchtigungsrecht und der Züchtigungspflicht von Herren gegenüber ihren Leibeigenen und Klien-

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ten, Ehemännern gegenüber ihren Familien, Bischöfen und Äbten gegenüber ihrer kirchlichen familia, der Verpflichtung der Sippen zu Blutrache, aber auch zur Durchsetzung verhängter Strafen gegen ihre Mitglieder, und dem, was als punktuelle Abweichung von der Norm stigmatisiert wurde: unangemessene Ge-waltanwendung, und im Falle des Königs: tyrannische Grausamkeit. Auch für mittelalterliche Autoren sind die Grenzen fließend und oft genug parteiisch. Zudem tendieren die Quellen aus den angeführten Gründen dazu, das Königtum als legitimes Zentrum von Politik und Gesellschaft darzustellen und ihm, auf Kosten von nur selten als eigenständige Akteure in Erscheinung tretenden pressure groups unreale Machtkompetenzen zuzuschreiben – eine Darstellung, die sich mit dem modernen Konzept staatlicher Souveränität deckt (Schneidmül-ler 2005: 489ff.). Eine kritische Analyse frühmittelalterlicher Herrschaft sollte sich zwingend von beiden Prämissen trennen und versuchen, legitimative Struk-turen jenseits des Bildes königlicher Machtfülle herauszuschälen.

Die Geschichte der merowingischen Dynastie ist – auch dies ein typischer Zug frühmittelalterlicher Gesellschaftsentwicklung – geprägt von der Verflech-tung gesellschaftlicher Institutionen und Vorstellungen der barbarischen Völker2 mit römischen Konzepten von Zivilisation und gesellschaftlicher Legitimität (Goffart 1980: 40). In Verbindung mit Einnahmequellen wie Kriegsbeute und Tributzahlungen erhöhten sich Glanz und Prestige des Königtums durch die römischen Jahreszahlungen an Roms angesiedelte Föderaten signifikant. Viele römische Institutionen der Provinzverwaltung bestanden nach Abzug der römi-schen Herrschaftsspitze fort und wurden von den neuen Machthabern bereitwil-lig übernommen, insbesondere weite Teile des römischen Provinzialrechts und des römischen Steuersystems (Scheibelreiter 1999: 23ff.). Das römische Fiskal-system garantierte auch den neuen fränkischen Herrschern reiche und von den Zufällen der Kriegsbeute unabhängige regelmäßige Einnahmen. Finanzielle Ressourcen können nicht in einer modernen Sichtweise zu bloßem ökonomi-schen Kapital verkürzt und genauso wenig vereinfachend als "Schatz" bezeichnet werden, der einen eher rituellen Charakter trägt. Der königliche thesaurus war ein Herrschaftszeichen, ein König ohne Schatz war nicht denkbar und ein armer König hatte, neben unmittelbaren Problemen in der Herrschaftspraxis, ein Legi-timationsdefizit. Reichtum und, damit untrennbar verbunden, seine großzügige Verteilung in Form von Geschenken war eine elementare Grundlage von adli-gem und königlichem Status. Vom Ideal der mäßigen Lebensführung entspre-

2 Zur Terminologie: die neuere Forschung ist davon abgekommen, die spätantiken und frühmittelal-terlichen Invasoren ins römische Reich mit dem schwammigen und ideologisch überfrachteten Be-griff "Germanen" zu bezeichnen. Die Verwendung des Begriffs "Barbaren" erfolgt in diesem Zu-sammenhang wertneutral im Sinne von "nicht römisch" (vgl. den Sammelband von Beck et al., 2004).

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chend der stoischen und auch christlichen mores-Lehren3 war die mittelalterliche Gesellschaft weit entfernt. Der von Mauss beschriebene Gabentausch und Kreis-lauf der Geschenke (Mauss 1990: 15ff.) hatte aber auch zusätzliche Funktionen. Die Pracht der herrscherlichen Lebensführung hatte durchaus legitimierende Wirkung. Die Zirkulation von Gaben und Geschenken beinhaltete zudem eine zusätzliche rechtliche Komponente: So wurden viele Verträge und Vereinbarun-gen erst durch Rechtsakte wie die Beiziehung von Zeugen, festgelegtes Zeremo-niell, gemeinsames Essen und Trinken und eben auch den Austausch von Ge-schenken gültig. Die Begriffe "Gabe" oder "Geschenk" sind in diesem Zusam-menhang nicht sehr zutreffend, weil sie eine Freiwilligkeit des Aktes implizie-ren, die nicht existierte.

Elemente des römischen Herrscherethos’ und -zeremoniells, so etwa das elaborierte Zeremoniell des Herrscheradventus (Schneider 1972: 232), wurden von den barbarischen Königen genauso bereitwillig übernommen wie römische Ehrentitel, die mit dem Föderatenstatus einhergingen. Oft fielen römische und barbarische Institutionen der Herrschaftslegitimation auch weitgehend zusam-men, wie z.B. im Fall des Rechts. Die Setzung und Wahrung von Recht ist in römischer wie auch in barbarischer Sicht eine zentrale Herrscheraufgabe (Gurjewitsch 1989: 188ff.). Die Stellung eines frühmittelalterlichen Königs konnte grundlegend gefährdet werden durch den Vorwurf, er missachte Recht und Herkommen. Ein grundlegender Unterschied beider Rechtsvorstellungen und -praktiken besteht jedoch in der Schriftlichkeit des römischen Rechts und der lange Zeit oralen Tradierung des barbarischen, dessen erste Verschriftlichun-gen nach der Ansiedlung auf ehemaligem römischem Reichsboden einsetzten. Wenn auch manche römische Autoren wie Tacitus oder Ammianus Marcellinus, oft in provozierender Intention, den barbarischen mores und consuetudines den-selben gesellschaftlichen Stellenwert zugestehen konnten wie dem geschriebenen römischen Recht (Tacitus, Germania: 17; Ammianus Marcellinus, Römische Reichsgeschichte: I, 12), wurde der Mangel an geschriebenem Recht doch häufig als stereotypes barbarisches Stigma wahrgenommen (Cassiodor, Variae: III, XVII). Wie die so beschriebenen sich neu etablierenden Gesellschaften zwischen dem vierten und dem achten Jahrhundert dazu standen, ist nicht überliefert. Mit Sicherheit kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Erhöhung der kö-niglichen Position und die damit verbundene Vergrößerung der Distanz zu den mächtigen Großen im königlichen Umfeld mittels der römischen Institutionen herrscherlicher Legitimität (durch Titel und Einkünfte, Prestigebauten und nicht zuletzt durch das geschriebene Recht, das die Vorrangstellung des Königs und

3 Hier soll der lateinische Begriff beibehalten werden, da mores eine stärkere und andere normative Bedeutung zugrunde liegt als den Übersetzungen "Sitte" oder "Moral".

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seines Haushalts zweifelsfrei postulierte) durchaus im königlichen Interesse lag. Die Verschriftlichung und Erweiterung der Rechtscodices wurde daher von so gut wie allen frühmittelalterlichen Königen vorangetrieben.

Römische und christliche Institutionen und Vorstellungen wurden in das barbarische Herrscherethos übernommen, sofern sie in die bestehende Lebens-welt integrierbar waren. Was dieser fremd war oder widersprach, ging entweder verloren oder zog sich in gesellschaftliche Nischen zurück, wie etwa die bereits erwähnten christlichen Vorstellungen von der Ehe oder das römisch-christliche Ideal der Mäßigkeit. Herrscherliche Aufgaben wie die Satzung schriftlichen Rechts wurden hingegen bereitwillig übernommen, wohl auch, weil sie eine der wenigen Herrschaftsfunktionen waren, über die die Großen des Reiches nicht verfügten, was wiederum die Distanz zwischen ihnen und dem König über das Verhältnis eines primus inter pares hinaus vergrößern und die Macht des König-tums auf ihre Kosten festigen konnte. Die Auswirkungen dieses gesatzten Rechts dürfen jedoch nicht überschätzt werden: die Rechtspraxis war nach wie vor mündlich, die Gültigkeit eines Rechtsaktes bemaß sich nach der Wahrung des „richtigen“ Zeremoniells, der entsprechenden Anzahl von Zeugen etc. Wichtige Rechtsgeschäfte wurden zwar niedergeschrieben, diese Verschriftlichung erfolg-te aber oft erst nach dem eigentlichen Rechtsakt, die Rechtsgültigkeit einer Ur-kunde sollte also von diesem nicht isoliert werden (Richter 1994: 399). Die Aus-übung von Herrschaft war an die Präsenz des Herrschers oder seiner Beauftrag-ten vor Ort gebunden, Herrschaft per schriftlichem Dekret war weder vorstellbar noch durchsetzbar.

4 Die letzten Merowingerkönige, ihre Hausmeier und der Staatsstreich Pippins III.

Die grundlegende Schwierigkeit für die Analyse des Staatsstreichs Pippins III. 751 begründet sich aus der Quellenlage. Außer einer einzigen zeitnahen Quelle (Fortsetzung des Pseudo-Fredegar, Cont. Fred.), die allerdings im direkten Ein-flussbereich der Pippiniden entstand, liegen nur Quellen vor, die Jahre nach dem erfolgreich vollzogenen Dynastiewechsel im Umfeld des karolingischen Hauses entstanden. Für die Vorbereitung und Durchführung der Absetzung Childerichs III. sind zwei Quellen zentral, die bereits zitierte Polemik Einhards und die Schilderung der Reichsannalen:

„Bischof Burchard von Würzburg und der Kaplan Fulrad wurden nach Rom zu Papst Zacharias abgesandt, um seinen Rat einzuholen wegen der Könige, die damals im Frankenland waren und nur den Namen eines Königs, aber keine königliche Gewalt hatten (interrogando de regibus in Francia, qui illis temporibus non habentes rega-

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lem potestatem) Der Papst ließ durch sie erklären, es sei besser, dass der König hei-ße, der die höchste Gewalt in Händen habe, (ut melius esset illum regem vocari, qui potestatem haberet, quam illum, qui sine regali potestate manebat) und befahl kraft seiner Vollmacht, dass Pippin zum König gemacht werde. .... In diesem Jahre ward Pippin dem Ausspruch des römischen Papstes gemäß zum König der Franken erho-ben, durch die Hand des Erzbischofs und Märtyrers Bonifatius seligen Angedenkens mit heiligem Öl zu der Würde dieser Ehre gesalbt und nach der Sitte der Franken zum König gewählt (secundum morem Francorum electus est ad regem) und auf den Thron des Reichs erhoben in der Stadt Soissons. Childerich aber, der fälschlich Kö-nig genannt wurde (qui false rex vocabatur), wurde geschoren und ins Kloster ge-schickt.“ (Annales Regni Francorum, ARF: a. 751)

Beide Quellen stellen propagandistisch verbrämt den Herrschaftsanspruch der merowingischen Dynastie in Abrede. Die letzten Merowinger verfügten zwar über die zentralen Herrschaftszeichen und den Königstitel (nomen regis), nicht aber über königliche Macht. Ein König ohne Macht hingegen werde nur fälschli-cherweise König genannt. Die Vita Karoli Magni treibt die Propaganda noch weiter, indem sie behauptet, die Hausmeier seien gleich Königen gewählt wor-den (vgl. oben). Hierzu ist anzumerken, dass die austrasischen Hausmeier zwar schon längere Zeit die eigentlichen Regenten des Reiches waren, das Haus-meieramt allerdings immer noch ein Hofamt war, das vom König vergeben wur-de. Ein legitimierender Rechtsakt wie die zeremonielle Wahl und Anerkennung durch den populus Francorum, die dieses Amt dem Königtum gleichgestellte hätte, fand nicht statt. Das sukzessive Eindringen der Vorfahren Pippins in die Sphäre königlicher Macht wurde von den anderen Großen auch nicht unwider-sprochen hingenommen (Geberding 1994: 205ff.). Die Opposition gegen Pippin III. und seine Familie konzentrierte sich auf unterschiedliche Interessengruppen: die Potentaten des austrasischen Reichsteils, für den die Vorfahren Pippins das Amt des Hausmeiers innehatten, die Hausmeier des neustrischen Reichsteils und ihre Anhänger (entsprechend der Reichsteilung existierte das höchste Hofamt doppelt) und dem Frankenreich einverleibte mächtige Herzogtümer wie das alemannische und das bayerische (Ebling 1994: 295ff.). Das Amt des Haus-meiers war zu dieser Zeit erblich geworden, was zwar auf der einen Seite einen "Zugewinn" an Legitimität bedeutete, aber auch implizierte, dass innerhalb die-ses Hauses dieselben heftigen Macht- und Nachfolgekämpfe tobten wie im Kö-nigshaus.

Karl Martell gelang es, seine Machtstellung so weit auszubauen, dass er de facto Regent des Frankenreichs und Königsmacher war und es sich sogar leisten konnte, den Thron nach dem Tod Theuderichs IV. 737 vakant zu lassen. Wes-halb er nie nach der Königswürde griff, sondern 743 einen weiteren merowingi-schen König einsetzte, der immerhin noch bis 751 im Amt war, ist nach wie vor

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umstritten. Die Selbsteinschätzung mächtiger Herzöge wie der alemannischen, die zwar einen für den jeweiligen König agierenden Hausmeier akzeptierten, den Hausmeier selbst aber als einen ihnen Gleichgestellten ansahen und nur unter einem fränkischen König zur Heerfolge bereit waren, könnte hier eine Rolle gespielt haben (Geuenich 2004: 129-130). Dass Karl Martell die Königswürde nicht an sich riss, kann aber auch darauf hindeuten, dass es sich bei den letzten Merowingern eben nicht um reine Schattenkönige (Kölzer 2004: 33ff.; Peters 1970: 30ff.) handelte, wie uns die Quellen glauben machen wollen (Wood 2004: 31; 1994: 290ff.).

5 Königssalbung: Die Einbeziehung des Christentums Pippin III. erweiterte die politischen Interdependenzen zwischen fränkischem Königtum und der Kirche um einen neuen Akteur: den Papst. Die folgenschwere Allianz zwischen Königtum und römischem Pontifikat hängt eng zusammen mit der Einbindung des Papsttums in der politischen Konstellation Italiens und den daraus resultierenden Konflikten. Papst Zacharias brauchte, wie seine Vorgän-ger, beträchtliches diplomatisches Geschick, um sich zwischen konfligierenden Herrschaftsansprüchen von Byzanz, der Langobarden, den mächtigen Herzogtü-mern Benevent und Spoleto und nicht zuletzt dem eigenwilligen römischen Stadtadel zu behaupten. Der mächtige Frankenkönig war in dieser Situation ein willkommener Bündnispartner. Ob die oben zitierte Stelle der Reichsannalen auf einen tatsächlichen Briefwechsel mit dem Papst, und damit wohl verbunden, auf die Bitte um eine Expertise hinweist, kann nicht letztendlich belegt oder wider-legt werden (Angenendt 2004, 189). Fest steht hingegen, dass Pippin das Zere-moniell der Herrschereinsetzung durch die Großen des Reiches dahingehend modifizierte, dass er seine Königswürde 751 mittels eines christlichen Rituals bestätigen ließ. Die zeitnahe Fortsetzung der Chronik des Pseudo-Fredegar er-wähnt eine nicht näher spezifizierte Weihe (consecratio), erst spätere Quellen sprechen von „Salbung“ (unctio)4. Der Ritus selbst ist kein Novum: die Königs-salbung bei den westgotischen Nachbarn des Frankenreichs ist spätestens seit König Wamba 627, in Irland seit dem frühen 6. Jh. nachgewiesen (Richter 2004: 211). Eine Erweiterung des Spektrums der Legitimation mittels einer Übernahme von bereits Bekanntem und bei den Nachbarn Praktiziertem ist im Kontext einer Usurpation nicht weiter verwunderlich. Ein weiterer Grund für die Salbung

4 Ob 751 tatsächlich gesalbt wurde oder ob die erste Salbung nicht erst 754 stattfand, ist weiterhin umstritten. Semmler interpretiert anders als die gängige Lehrmeinung das Quellenmaterial dahinge-hend, dass nicht vor 754 gesalbt worden sei. (Semmler 2003: 58 ff.)

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Pippins könnte auch gewesen sein, dass diese im Buch der Könige ebenfalls in Zusammenhang mit einem Dynastiewechsel steht (von Samuel zu David), was den klerikalen Beratern Pippins bekannt war (Richter 2004: 218). Inwiefern eine derart transzendente Begründung der Königssalbung auf öffentliche Anerken-nung stieß, ist schwer nachzuweisen. Sicher ist, dass die Salbung schon den Sohn und Nachfolger Karls des Großen, Ludwig den Frommen, nicht vor einer Abset-zung schützte. Auch die immer dichteren Beweise, dass das Mittelalter bei wei-tem nicht so christlich war, wie in der älteren Forschung angenommen und durch den christlich-moralisierenden Tenor der Quellen nahegelegt, geben Grund zu der Annahme, dass die für die Öffentlichkeit und die sozialen Eliten legiti-mativen Elemente einer Königssalbung in wohl erster Linie Pomp und Gepränge des kirchlichen Rituals waren. Die Pracht eines zusätzlichen Aktes mit öffentli-cher Teilhabe vermehrte hier das Prestige des Herrschers genauso wie das derje-nigen, die unmittelbar und offensichtlich daran beteiligt waren.

Dass Pippin III. sich ausgerechnet den Papst als Spender religiöser Legiti-mation aussuchte, hatte wohl auch Gründe, die wenig mit dessen religiöser Stel-lung zu tun hatten, zumal zu dieser Zeit der Primat des Bischofs von Rom bei weitem nicht von allen seinen Amtskollegen anerkannt wurde. Die Einbeziehung des in oströmischer Sicht dem Basileus gleichrangigen Pontifex in die Krönung des Frankenkönigs kann auch als Demonstration der Stärke gegenüber Byzanz interpretiert werden (Pohl 2004: 147). Auch das Bedürfnis einer neuen Dynastie, die durch Usurpation an die Macht gelangte, nach überkompensatorischer Legi-timation sollte nicht übersehen werden. Diese Neuerungen in der Herrschaftsfol-ge ergänzten das althergebrachte Wahl- und Einsetzungszeremoniells. Nicht umsonst heben die Quellen darauf ab, dass alles nach Brauch und Herkommen (secundum mores Francorum), d.h. rechtsgültig abgelaufen sei.

6 Karl der Große Karl der Große verband in weit stärkerem Maße als sein Vater Pippin III. traditi-onelle und neue Techniken der Legitimation seiner Herrschaft. Gleich den me-rowingischen Königen initiierte er die Niederschrift von Rechten. Auch er war – ein Grundprinzip mittelalterlicher Königsherrschaft - permanent von den Großen seines Reiches umgeben und teilte mit ihnen die standesgemäßen Vergnügungen seiner Zeit: Jagd, gemeinsame Bäder, geselliges Leben. Die Tischgemeinschaft mit ihren Identität stiftenden und vor allem rechtlich konstitutiven Charakteristi-ka spielt hierbei eine zentrale Rolle. Gemeinsames Essen und vor allem gemein-same alkoholische Exzesse waren ein integraler Bestandteil mittelalterlicher Herrschafts-, Rechts- und Verfassungspraxis. Es handelt sich hier um elementa-

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res Ritual, durch das Verträge, Urteile und Reichstagsbeschlüsse Rechtscharakter erhielten (Kaiser 2002: 95ff., 137). Dass es sich hierbei nicht immer um reines Vergnügen handelte, belegt Einhard in seiner Erwähnung, dass Karl zwar gern speiste und die Tischgemeinschaft schätzte, die convivia, die rituellen Trinkgela-ge, aber verabscheute, obgleich er sie nicht zu unterbinden vermochte (Einhard, Leben: c. 24).

Karl der Große unterschied sich von seinen königlichen Zeitgenossen da-durch, dass er mit beträchtlichem Geschick neue Formen und Institutionen der Legitimierung seiner Herrschaft einzuführen und mit dem Althergebrachten zu verbinden wusste. Hierzu zählen die Förderung von Schriftlichkeit und schriftli-cher Verwaltung und, in enger Verbindung damit, eine veränderte Interpretation der königlichen Kirchenherrschaft. Karls Kanzlei lockte mit der Aussicht auf glänzende Karrieren viele Gelehrte an, darunter viele der wegen ihrer Gelehr-samkeit geschätzten Iren wie Alcuin, diente aber auch, wie die von ihm geförder-ten Klosterschulen, der Ausbildung gelehrter Verwaltungsexperten (Epperlein 2000: 85ff., 104ff.) Die Neuerungen in der Technik der schriftlichen Verwal-tung, die Niederschrift herrscherlicher Anweisungen in der Form von Kapitula-rien, die standardisierte und vergleichsweise einfach lesbare karolingische Mi-nuskelschrift sowie das allgemeine Anwachsen der schriftlichen Produktion gingen über das außerhalb des Frankenreichs übliche Maß hinaus. Karls Kapitu-larien können als, wenngleich wenig erfolgreicher, Ansatz gelten, mittels des geschriebenen Worts zu herrschen (Mordek 1986: 44ff.; Schiefer 2001: 11). Die Rolle, die schriftliche Techniken in Karls Herrschaftspraxis spielten, war kom-plementär; die Institutionen, Praktiken und Tradierungsmechanismen von Recht und Herrschaft, die ohne Schrift auskamen, wurden hierdurch wenig berührt. Sie existierten weiter.

Karls Kirchenreform, ein wesentliches Element der Systematisierung der Königsherrschaft, zielte – oberflächlich betrachtet – auf die Vereinheitlichung der Liturgie ab, auf unitas und consonantia (Einheit und Gleichklang). Der poli-tische Impetus der hier formulierten Forderungen einer einheitlich strukturierten fränkischen Kirche lässt sich jedoch nicht übersehen. Anders als seine königli-chen Vorgänger, die zwar den Schutz der Kirche als Herrschaftsaufgabe wahr-nahmen, aber in lokale Patronagestrukturen zwischen Adel und Kirche eher punktuell und situationsbezogen eingriffen, versuchte Karl, die kirchlichen Insti-tutionen strukturell zu verändern, zu vereinheitlichen und auf seine Person zu beziehen. Die zusätzliche Einbindung der schon zu Merowingerzeiten üblichen Bittgebete für König/Kaiser und Reich in eine einheitliche und vom König als oberstem Schutzherrn der Kirche überwachte Liturgie ließ die Kirche zu einem Instrument systematischer Königsherrschaft werden. Dass sich Karl als mächti-ger Schutzherr der Kirche begriff, zeigt sich auf institutioneller Ebene in seinem

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Bestreben, sich in das Zentrum kirchlicher Machtstrukturen zu stellen. Die Ein-beziehung des Christentums in die Herrschaftssymbolik, sei es durch Salbungen, die Anfänge des Gottesgnadentums, königliche Kirchenherrschaft und Kirchen-patronage war offen für weitgehende individuelle Gestaltungsmöglichkeiten. Die christlichen Elemente der Königsherrschaft erweiterten das komplexe System der herrscherlichen Institutionen, konnten jedoch die so zentralen traditionellen Strukturen und Institutionen nicht verdrängen. Dies war wohl auch von keinem der Beteiligten beabsichtigt: die grundlegende Tendenz der Entwicklung herrscherlicher Legitimation für den gewählten Zeitraum besteht in einer Ver-mehrung und Bündelung von Ritualen, Institutionen und Strategien aus unter-schiedlichen Bereichen der sozialen Praxis und deren synergetischer Verdich-tung.

Die Zentrierung von Macht und Herrschaftsgewalt auf einen christlichen König kann mehrschichtige Bedeutungen haben. Neue Elemente der Herrschafts-legitimation, die der Bibel oder der römisch-christlichen Herrschaftstheorie ent-stammten, konnten dazu dienen, die symbolische Distanz zwischen dem König und seinen Großen zu vergrößern. (Ewig 1956: 17ff., 41ff.) Die christliche Transzendierung königlicher Herrschaft eröffnete zudem die Möglichkeit einer anti-heidnischen Kriegspropaganda, die sich aus dem augustinischen Konzept des gerechten Krieges (bellum iustum) gegen Häretiker und verstockte Heiden ableitete (Augustinus, De civitate dei: I, 35) und die besonders systematisch seit den Sachsenkriegen Karls des Großen zum Einsatz kam.

Materiell versinnbildlicht sich diese Kirchenherrschaft augenfällig in der Anlage seiner Pfalzkapelle in Aachen, in der, gegenüber dem Altar und auf glei-cher Höhe mit ihm der steinerne Thronsessel stand, in dem er der Messe beizu-wohnen pflegte – ein Symbol der Gleichrangigkeit (Hausmann 1995: 163ff.).

Eine der weit reichendsten Neuerungen der Herrschaft Karls des Großen war die Heeresreform, die Basis, auf der sich das spätere Lehnswesen formierte. Zwar blieb unter Karl dem Großen die Pflicht zur Heerfolge im Prinzip für alle Freien erhalten, faktisch aber hatte sich der Kriegsdienst längst zur Angelegen-heit spezialisierter Eliten entwickelt. Unter Karl wurde die Aufbietung des Heer-banns zur Angelegenheit der lokalen Mächtigen und der Kronvasallen, die ver-pflichtet waren, im Gegenzug gegen die Gewährung von Lehen den Heerbann ihres Herrschaftsbereichs aufzubieten. Die Institution, die dazu dienen sollte, diese mächtigen Vasallen an ihren König zu binden, war der von Karl erstmals eingeführte allgemeine Treueid für alle Freien (789 und 802), bezeichnenderwei-se ursprünglich eine Institution der mündlichen Rechtspflege. Treueide existier-ten zwar schon vorher, beschränkten sich aber auf punktuelle Verpflichtungen Einzelner gegenüber dem Herrscher. Der von Karl als Kaiser 802 von allen Frei-en eingeforderte Treueid war ein komplexes Regelwerk mit sakralen Komponen-

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ten, anders als der erste allgemeine Treueid von 789, der eher lapidar und ohne einen Schwur auf Reliquien eigenmächtige und gegen den Herrscher gerichtete politische Aktionen sanktionierte (Hägermann 2000: 456-457).

Karls Veränderungen auf der Ebene der Reichsverwaltung und der Legiti-mation seiner Herrschaft – Verschriftlichung, Vereinheitlichung, Synthese von Königtum und Kirche, Ausrichtung der Politik auf den König – litten jedoch unter schwerwiegenden Problemen der Umsetzung. Frühmittelalterliche Herr-schaft fand vor Ort statt, die ausübenden Akteure bestimmten sich über die Stu-fenhierarchie einer nachmals als feudal bezeichneten Gesellschaftsform. Für seine politische Legitimation und die Umsetzung königlicher Vorgaben in die Praxis erforderte dies eine grundsätzliche Verlässlichkeit und Kooperationsbe-reitschaft der Mächtigen auf lokaler Ebene, in deren Händen, ergänzend zu ihrer oft beträchtlichen militärischen Macht, die zentralen Rechte und Befugnisse der Grundherrschaft lagen, eine Voraussetzung, die auch durch Institutionen der Vermittlung herrscherlicher Absichten auf die lokale Ebene, wie etwa die Kö-nigsboten (missi), oder Schriftstücke nicht beeinträchtigt wurde. Den Schnittstel-len der Umsetzung von Königsherrschaft, seien sie qua eigener Herkunft mächtig wie die Herzöge des Frankenreichs, seien sie vom König ernannt wie Grafen, Markgrafen oder missi, war eines gemeinsam: ihre Anerkennung fußte nicht allein auf der vom König verliehenen Legitimation, sondern auch auf ihrer per-sönlichen Anerkennung in den lokalen Kontexten der Grundherrschaft. Sie mussten selbst über Macht und Prestige verfügen. Dies erleichterte zwar einer-seits die Umsetzung königlicher Aufträge - nicht zuletzt deshalb wurden bereits mächtige Lokalpotentaten z.B. mit Grafentiteln und Botenfunktionen betraut - barg aber auch die endemische Gefahr von Rivalität und Nicht-Anerkennung königlicher Befehle und Anordnungen.

Selbst ein so durchsetzungskräftiger Herrscher wie Karl der Große hatte mit Widerständen gegen seine Herrschaft zu kämpfen. Drei der wohl bedrohlichsten Widersacher waren sein Sohn Pippin der Bucklige (Rebellion 791/91), der thü-ringische Adlige Hardrad (Rebellion 786) und der Bayernherzog Tassilo III., der 788 in einem spektakulären Schauprozess auf dem Reichstag zu Ingelheim abge-setzt wurde (Becher 1993: 64, 70ff.; ders. 2005: 39ff.). Bei aller Schweigsamkeit der herrschernahen karolingischen Quellen über oppositionelle Aktivitäten, die Motivation ihrer Initiatoren sowie die Zahl ihrer Anhänger und dem Versuch ihrer Autoren, das was sich beim besten Willen nicht mehr totschweigen ließ, durch pejorative Begriffe der römischen Staatstheorie wie perfidia, rebellio, coniuratio und conspiratio (Brunner 1979: 14ff.) zu stigmatisieren, lassen sich doch einige Informationen herausschälen: Opposition gegen Karl den Großen ist in den Kreisen der Mächtigen des Reiches zu verorten, oftmals im Kreis seiner eigenen Familie. Aber auch Normdevianzen im Bereich der religiösen Praxis,

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z.B. Häresien, hatten das Potenzial, Unzufriedenheiten zu kanalisieren und über das Vehikel der Religion gegen den König als obersten Kirchenherrn zu richten. Über organisierten politischen Widerstand von niedriger in der Hierarchie ste-henden sozialen Gruppen ist nichts bekannt, hier äußerte sich Unzufriedenheit mit Maßnahmen der lokalen und überlokalen Herrschaft wohl in individuellen und punktuellen Versuchen, sich diesen zu entziehen.

7 Das fränkische Kaisertum: Legitimation auf internationaler Ebene Über den eigentlichen Vorgang der Kaiserkrönung Karls des Großen Weihnach-ten 800 wissen wir wenig. Laut Einhard soll Papst Leo III. dem völlig überrasch-ten Karl während der Weihnachtsmesse im Petersdom eine Krone aufgesetzt und ihn zum Kaiser erhoben haben. Karl sei darüber äußerst ungehalten gewesen (Einhard, Vita: 28). Diese Schilderung ist wenig glaubwürdig. Eine Krone war griffbereit vorhanden, unmittelbar nach der Krönung fand eine Akklamation statt, deren Teilnehmer sich gewiss nicht zufällig just an dem Tag in Reichweite befanden. Außerdem hatte Karl Geschenke mitgebracht, die er einige Tage später am Grab Petri niederlegte. So viele Fragen die Quellen auch unbeantwortet las-sen mögen, kann doch davon ausgegangen werden, dass die Krönung nicht ohne die Kooperation der Großen des Reiches vorbereitet und die Provokation des oströmischen Kaisertums bewusst in Kauf genommen worden war. Wie 751 kann nicht von einer überlegenen Machtstellung des Papstes als "Kaisermacher" ausgegangen werden. Der Kaiserkrönung ging vielmehr 799 ein böser Konflikt zwischen Papst und römischem Adel voraus (Schiefer 2002: 75ff.). Leo flüchtete sich hierauf zu Karl nach Paderborn und wurde mit dessen Unterstützung wieder eingesetzt. Bezeichnenderweise halten sich die herrschernahen Quellen zu die-sem Thema bedeckt, was zu dem Schluss verleiten kann, dass das Vorgehen zentraler Akteure nicht über jeden Zweifel erhaben war (Fried 2002: 55ff.).

Der Griff nach dem Kaisertum war nicht risikolos. Obwohl die karolingi-schen Quellen sich bemühen, das oströmische Kaisertum als "effeminiert" und daher erloschen zu diffamieren (Annales Laureshamenses: a. 800), da mit der Kaiserin Irene eine Frau auf dem oströmischen Kaiserthron saß, kann diese Po-lemik nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erhebung Karls die führenden Kreise in Konstantinopel zumindest brüskieren musste. Die offizielle Anerken-nung von Karls Kaisertum erfolgte auch erst 812, was dem mittlerweile sehr alten Kaiser jedoch noch die Möglichkeit ließ, seinen einzigen noch lebenden Sohn Ludwig nach byzantinischem Recht zum Mitkaiser einzusetzen. Auch die außenpolitischen Bemühungen Karls um die Intensivierung des schon seit Pippin III. bestehenden diplomatischen Kontakts mit dem Kalifat in Bagdad, der rivali-

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sierenden Großmacht im südlichen Mittelmeerraum, und mit Jerusalem, dem symbolischen Zentrum des Heiligen Landes, das unter der Herrschaft des Kali-fats stand, konnten von griechischer Seite als Versuch interpretiert werden, Kon-stantinopel politisch zu isolieren und den Anspruch des oströmischen Kaisers auf zumindest kirchliches Supremat im ehemaligen Westreich zu unterlaufen (Borgolte 1976: 45 ff, 76ff., 86ff.).

Die translatio imperii war begleitet von der Übernahme legitimatorischer Strukturen des römischen Kaisertums. Die bisherige, aus der römischen Traditi-on übernommene Teilung der (zivilisierten) Welt in Römer und Griechen (Ro-mani et Graeci) wurde in den karolingischen Quellen propagandistisch pointiert abgelöst durch die Teilung in Franken und Griechen (Franci et Graeci) (Annales Guelferbitani: 45; Annales Laurissenses: 144). Die Annahme des Kaisertitels hatte auch Einfluss auf das Herrscherethos Karls. Neben der nahe liegenden Verstärkung des Suprematsanspruchs über andere Könige fanden vor allem Ele-mente der symbolischen Manifestation von Macht und Herrschaft Eingang ins fränkische Kaisertum. Karl übernahm, nachdem er seine Titel schon 774 nach der Eroberung des Langobardenreichs um die Zusätze "König der Langobarden" Rex Langobardorum und Princeps Romanorum erweitert hatte, die imperiale Herrschertitulatur und die imperialen Herrschaftszeichen in Form der Kaiser-tracht. Andere Übernahmen aus dem kaiserlichen Herrschaftsethos können in der Intensivierung bereits vorher vorhandener Herrschertätigkeiten gesehen werden. Die Setzung schriftlichen Rechts intensivierte sich nach 800, ebenso die Bautä-tigkeit, eine zentrale Aufgabe römischer Herrschaft, die Karl offenbar auch viel Vergnügen bereitete. Die Kaiserpfalz Aachen wurde nach dem Vorbild von Kon-stantinopel ausgebaut,5 vereinzelt infrastrukturelle Maßnahmen in der römischen Tradition von Straßen- und Brückenbau begonnen, aber nicht immer vollendet, und Kirchen gebaut und vergrößert. Die Heranziehung von geistlichen und welt-lichen Mächtigen zur Finanzierung und Durchführung von Bauprojekten ent-sprach, wie auch deren Verpflichtungen im Heerwesen und bei weiteren Herr-schaftsaufgaben, der zeitgenössischen Rechts- und Verwaltungspraxis (Notker, Gesta: I, 30). Die Grenzen der herrscherlichen Befehlsgewalt wurden auch hier offenbar, sobald dieser nicht mehr präsent war: herrscherliche Baumaßnahmen wurden eingestellt oder auf die lange Bank geschoben (Notker, Gesta: I. 28).

Für die Kaisererhebung Karls gilt, was bereits im Zusammenhang mit seiner Kanzlei und der Verschriftlichung der Verwaltung angemerkt wurde: Neuerun-gen im Bereich der Herrschaftslegitimation ersetzten althergebrachte Strukturen nicht, sondern ergänzten sie, was jedoch längerfristig zu einer Verfestigung be-

5 Fichtenau bemerkt hierzu etwas spöttisch, dass Karl, wenn er Konstantinopel gekannt hätte, sich sicherlich auch eine eigene Hagia Sophia hätte bauen lassen. (Fichtenau 1949: 92)

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stimmter Positionen und der Verschiebung von Machtverhältnissen führen konn-te. Obwohl nicht eindeutig geklärt ist, ob Karls Annahme des Kaisertums auf ungeteilte fränkische Zustimmung stieß, kann vermutet werden, dass nicht nur Karl, sondern wohl auch viele seiner Anhänger der Ansicht waren, dass eine expansive Großmacht wie das Frankenreich sehr wohl Ansprüche auf den Kai-sertitel und die damit verbundene völlige Gleichstellung mit Byzanz geltend machen konnte. Die Stellung von Kaiser Karl als Garant des Rechts war ohne weiteres mit fränkischen Vorstellungen von Herrschaft zu vereinbaren; kaiserli-ches Prestige, kaiserliche Großzügigkeit und kaiserliche Prachtentfaltung ent-sprachen zeitgenössischen Vorstellungen von Herrschaft und ihren Attributen. Die Übernahme von weiteren Motiven byzantinischen Herrscherzeremoniells und byzantinischer Herrscherlegitimation wollte wohl überlegt sein. Das oströ-mische Zeremoniell in toto mit seinen caesaropapistischen Strukturen war weder auf fränkische Verhältnisse übertragbar, noch war eine solche generelle Über-nahme gewollt. Einhard orientierte sich bei der Verfassung von Karls Biographie zwar an einem römischen Vorbild (Suetons Kaiserviten), als römischen Kaiser stellte er ihn jedoch nicht dar. Er entsprach weder dem römischen Schönheitside-al noch den Maßgaben einer mäßigen Lebensführung (Einhard, Leben: 22, 23) oder gar Diätetik nach antikem Vorbild (Foucault 1989: 125ff.). Auch die römi-sche Kaisertracht trug er offenbar nur selten und zu besonderen Anlässen in Rom, wo dies unumgänglich war, ansonsten kleidete er sich fränkisch (Einhard, Leben: 23). Betrachtet man den zeitgenössischen Stellenwert symbolischer Handlungen und ihre Funktion für die soziale und politische Kommunikation, kann die Vorliebe für fränkische Kleidung allerdings auch bedeuten, dass nur ein Herrscher in fränkischer Herrschertracht, angetan mit den ornamenta und Zei-chen der Herrschaft, von den Franken als legitimer Herrscher akzeptiert wurde.

8 Die Grenzen von Macht und Legitimität Auch Karl der Große stieß im Laufe seiner langen und erfolgreichen Regierung an die Grenzen seiner Macht, obwohl er es verstand, seine Leute an sich zu bin-den, sie aber auch nicht zu mächtig werden zu lassen, etwa durch die Akkumula-tion mehrerer Grafschaften, mit Ausnahme der Markgrafschaften, (Notker, Gesta: I, 13), und das skrupellose Niederschlagen von Widerstand gegen seine Herrschaft. Nicht alle Feldzüge waren erfolgreich, manche endeten mit beträcht-lichen Verlusten wie der Spanienfeldzug 778, während dessen die Nachhut von Karls Heer in einem baskischen Hinterhalt aufgerieben wurde. Der Ausgang der Sachsenkriege war lange Zeit schwer absehbar. Beträchtliche Anstrengungen waren nötig, um die mächtige Opposition, die aus den bayerisch-langobardischen

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Allianzen erwuchs, niederzuschlagen durch die Eroberung des Lango-bardenreichs und die Absetzung Tassilos III. Die Endphase von Karls Herrschaft war von jahrelangen Machtkämpfen geprägt. Seine erwachsenen Söhne erhoben sich gegen ihn und bekriegten sich untereinander. Die Unruhe im Fränkischen Reich führte zu erneuten Einfällen und Raubzügen an dessen Grenzen, deren Abwehr zunehmend schwierig wurde, weil ein beträchtlicher Teil der militäri-schen Schlagkraft in innerfränkischen Auseinandersetzungen involviert war. Karl wurde zu alt, um sich noch mit seiner früheren Schnelligkeit an Krisenherde zu begeben, er litt öfter an Fiebern. Einhard schildert in düsteren Farben einen Sturz vom Pferd, der mit dem Verlust der Herrschaftszeichen Spange und Mantel ein-herging:

„Er selbst sah auf dem letzten sächsischen Heereszug ... eines Tags als er vor Son-nenaufgang das Lager verlassen und den Marsch angetreten hatte, mit einem Mal ei-ne Fackel vom Himmel fallen .... Wie alle verwundert waren, was wohl dieses Zei-chen zu bedeuten habe, stürzte plötzlich das Ross, das er ritt, und warf ihn, indem es den Kopf zwischen die Beine nahm, so heftig zur Erde, dass die Spange seines Man-tels brach sein Schwertgurt zerriss, und er von der herzueilenden Dienerschaft ohne Waffen und ohne Mantel aufgehoben wurde. ... Zu diesem Unfall kam noch eine häufige Erschütterung seines Palastes zu Aachen und ein beständiges Krachen des Gebälks in den Häusern, in denen er sich aufhielt. Auch wurde die Kirche, in der er nachmals begraben ward, vom Blitz getroffen ... Auf dem Reif des Kranzes, der zwi-schen den oberen und unteren Bogen im Innern dieser Kirche herumging, war eine Inschrift in roter Farbe, die besagte, wer der Gründer des Gotteshauses sei, und in deren letzter Reihe die Worte standen: Karolus princeps (der Fürst Karl). In seinem Sterbejahr, wenige Monate vor seinem Tod, wurde ... das Wort princeps ganz und gar ausgelöscht“ (Einhard, Leben: 32).

Ein Herrscher wie Karl, der für die Verhältnisse der Zeit ein sehr hohes Alter erreichte und dessen Körperkräfte nachließen, war offensichtlich nicht mehr hinreichend legitimiert. Seine Anhänger wandten sich denen zu, von denen sie sich für die Zukunft nach seinem Tode mehr versprachen. Dass die Einsetzung Ludwigs als Mitkaiser 813 reibungslos vonstatten ging, war wohl dem Umstand zu verdanken, dass seine beiden Söhne Karl und Pippin bereits 811 bzw. 810 gestorben waren. Bezeichnenderweise wurde bei diesem Akt auf eine glanzvolle Inszenierung verzichtet (Becher 2005: 116).

9 Fazit: traditionelle Herrschaftslegitimation und Innovation Frühmittelalterliche Herrschaftslegitimation und Herrschaftspraxis lässt sich nur schwer in moderne Kategorien pressen. Zunächst verursacht die Quellenlage

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Probleme: Herrschaft bediente sich überwiegend oraler Techniken, die die Schriftquellen oft nicht erwähnen – sei es aus bewusstem politischen Kalkül, sei es aus dem Grund, dass vieles für die Zeitgenossen so selbstverständlich war, dass kein Bedarf bestand, es niederzuschreiben. Die frühmittelalterliche Legiti-mierung von Herrschaft war zwar unter bestimmten Umständen offen für Neue-rungen, konnte aber keinesfalls auf traditionelle Strukturen verzichten. Pippin und Karl der Große waren, was die Legitimierung ihrer Herrschaft und der ihrer Söhne auf Kosten einer rechtmäßigen Dynastie anbelangte, zweifellos innovativ. Dass "Innovation" kein Kriterium ist, das nur auf das karolingische Haus zuträfe, zeigt ein Blick auf die Politik der merowingischen Könige, die, wie viele ihrer Zeitgenossen, es geschickt verstanden, barbarische und römische Institutionen von Herrschaft und Mechanismen der Herrschaftslegitimation zu verknüpfen und "neue" Elemente in ihre Herrschaft dauerhaft zu integrieren. Dies geschah da-durch, dass neue Strategien der Legitimation in das bereits bestehende Instru-mentarium legitimativer Techniken in der Form eingebunden wurden, so dass sich das Prestige des Herrschers und seines Umfelds vermehrte. Die in der mo-dernen Wahrnehmung so positiven Konzepte wie Innovativität und Originalität waren im mittelalterlichen Denken äußerst pejorativ und delegitimierend konno-tiert. Neuerungen in der Herrscherlegitimation, insbesondere nach der Zäsur von 751, waren zwar unabdingbar, aber gleichzeitig riskant und erforderten beträcht-liches Geschick.

Viele zentrale Institutionen, die aus der Phase der Etablierung des mero-wingischen Königtums auf dem Boden des ehemaligen römischen Reichs stam-men, wurden nach 751 übernommen. Neuerungen im Feld der Legitimation von Herrschaft, egal ob merowingischen oder karolingischen Ursprungs, sind als komplementäre Strukturen zu bewerten. Sie ersetzten keine vorher vorhandenen Institutionen und Techniken der Herrschaft, sondern erweiterten bereits Vorhan-denes zu einem vielschichtigen und nicht immer im modernen Sinne systema-tisch geordneten Komplex legitimativer Strategien. Traditionelle Techniken der Herrschaftsausübung und -sicherung bestanden weiterhin fort in der unablässi-gen und vielschichtigen Inszenierung der Interdependenzen von Herrscher und Mächtigen. Ein Kriterium für die Interpretation institutioneller Neuerungen in einem historischen Kontext ist ihre Kontinuität. Dauerhaften Eingang in die Herrschaftspraxis fanden Karls Neuerungen im System der Lehnsbeziehungen. Trotz der häufigen punktuellen Verstöße aller Beteiligten gegen Lehnsverpflich-tungen verwischte die einheitliche und allgemein gültige rechtliche Formulie-rung von Lehnspflicht und Treueid regionale Unterschiede in der Stellung des Adels und trug hierdurch zur Bildung einer "Reichsaristokratie" mit vergleichba-ren Lebensbedingungen, gemeinsamen gesellschaftlichen Idealen und vergleich-barem Habitus und Lebensstil bei, auch wenn zu Karls Lebzeiten nur wenige

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greifbare Veränderungen sichtbar wurden (Schiefer 2001: 9-11). Der Versuch Karls, mittels des geschriebenen Wortes zu herrschen, war weniger dauerhaft. Herrschaft war auch zu seinen Lebzeiten gebunden an die Idoneität und die phy-sische Präsenz des Herrschers oder seiner Amtsträger. Die von den Schriftquel-len häufig vermittelte Vorstellung einer königszentrierten Herrschaft, die manche moderne Vorstellung von frühmittelalterlicher Herrschaft und der historischen Genese der europäischen Nationalstaaten auf dieser Basis mitgeprägt hat (Schneidmüller 2005: 489ff.) kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der zeit-genössische politische Diskurs über die legitime Ausübung von Herrschaft nicht zwangsläufig auf den Herrscher zentriert war.

Allgemein weichen die frühmittelalterlichen Kriterien der Herrschaftslegi-timation grundlegend vom heutigen Verständnis der Funktionsmechanismen von Herrschaft ab. Opposition und öffentliche Diskussion konträrer Standpunkte liefen dem zentralen Wert des gesellschaftlichen ordo, der Einmütigkeit von Herrscher und Volk und der Ordnung innerhalb der sozialen Hierarchien zuwi-der. Diskussion und Dissens mussten in öffentlichen Versammlungen als Unei-nigkeit (discordia) erscheinen und waren deshalb auf vorgeschaltete kleinere Gremien in der engeren Umgebung des Herrschers begrenzt. Nähe zum Herr-scher oder Beziehungen zu diesen proceres begründeten politischen Einfluss. Herrscherliche Akte mit rechtlichem Charakter bedurften jedoch eines elaborier-ten öffentlichen Zeremoniells der Inszenierung königlicher Macht und der akti-ven Teilhabe der Eliten des Reiches an der Macht und dem Prestige des Herr-schers.

Die angeführten Strategien zur Festigung königlicher Herrschaft funktio-nierten nur, wenn der jeweilige Herrscher in der Lage war, ihre Akzeptanz durchzusetzen. Nicht volljährige Nachfolger wurden schnell Spielball politischer Interessen, die erwachsenen Söhne eines Königs zählten meist zu seinen erbit-tertsten Feinden. Auch zunehmendes Alter konnte die Macht eines Königs ver-mindern. Zudem formieren sich lokale Revolten typischerweise dann, wenn der jeweilige König "Schwäche" zeigt, sei es durch Alter und Krankheit, durch die Unfähigkeit, seine Interessen ohne weitere Verzögerung durchzusetzen, oder schlicht und einfach dadurch, dass König und ein großer Teil der Streitmacht anderweitig beansprucht waren. Institutionen der Herrschaftssicherung und Herr-schaftslegitimation entwickelten ihre gesellschaftliche Geltung also nur in Ver-bindung mit einem ausgeprägt charismatischen Zug des Königtums, das sich auch zu Lebzeiten des jeweiligen Königs immer wieder bestätigen musste. Das Prestige der Vorfahren eines neuen Königs konnte diesem zwar genauso über die immanente Krise des Herrschaftswechsels hinweghelfen wie der elaborierte Rechtsakt der sublimatio in regnum. Prinzipiell war jedoch ein Herrscherwechsel nicht nur auf einer informellen, sondern auch auf einer institutionellen Ebene

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eine Zäsur: Rechte, Privilegien, Dienstverhältnisse, Lehen und auch alle weiteren Verhältnisse zwischen dem König und seinen Abhängigen mussten in angemes-sener rechtlicher Form öffentlich neu bestätigt werden.

Frühmittelalterliche Königsherrschaft war, neben der Idoneität, noch an eine weitere Bedingung geknüpft: die persönliche Präsenz eines Funktionsträgers vor Ort und die Kooperation des Königtums mit den Instanzen der Grundherrschaft und den lokalen Potentaten, also dem Personenkreis, auf dem die politische und militärische Machtstellung des Königs begründet war und der mit zentralen Herrschaftsfunktionen belehnt wurde: Gerichtsbarkeit, Aufbietung des Heer-banns, Wahrung des Friedens etc.. Mächtige Könige wie Pippin III. und Karl der Große waren, wie viele ihrer merowingischen Vorgänger, in der Lage, diese Lokalpotentaten mittels der Teilhabe an Reichtum und Prestige mittels immer differenzierterer Legitimationsstrategien an sich zu binden und gleichzeitig völ-lig rücksichtslos gegen diejenigen vorzugehen, bei denen diese Strategien ver-sagten. Die zunehmende Differenzierung herrscherlicher Legitimation zu Beginn der karolingischen Dynastie kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Macht der karolingischen Herrscher schon zu Ende der Herrschaft Karls des Großen verringerte. Ludwig dem Frommen war als Herrscher weniger Erfolg beschieden: trotz des Kaisertitels und – in moderner Betrachtungsweise - dem Instrument der Verfestigung und Rationalisierung von Herrschaft, der schriftli-chen Verwaltung durch spezialisierte Experten, konnte er sich gegen die Großen des Reiches und deren Interessen nicht dauerhaft durchsetzen.

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Reziprozität und sanfte Regulierung: Legitimität und Funktionsweise politischer Herrschaft im Raum der alten Eidgenossenschaft Daniel Schläppi 1 Einleitung1 1.1 Schweizer Sonderweg der Staatsbildung Im 17. und 18. Jahrhundert haben die absolutistisch-monarchischen Staaten Eu-ropas einen ausgeprägten Prozess der Staatsbildung durchlaufen. Sie haben die Verwaltung ihrer Territorien gestrafft, zentralisierte Bürokratien und stehende Heere aufgebaut. Sie haben die Rechtsetzung vereinheitlicht und ihr Gewaltmo-nopol verfestigt. Finanziert wurde der Ausbau der staatlichen Institutionen durch direkte Steuern, welche den Untertanen aufgebürdet wurden.

Im Vergleich dazu hat die schweizerische Eidgenossenschaft einen anderen Weg eingeschlagen. Spätestens nach dem Bauernkrieg von 1653 kamen die Ob-rigkeiten der 13 politisch unabhängigen und miteinander nur lose verbündeten Orte davon ab, die Bevölkerungen ihrer Territorien mit fiskalischen Ansprüchen zu belasten (Holenstein 2006b: 565; Peyer 1978: 118-119). Entsprechend blieben die gouvernementalen Strukturen im Raum der alten Eidgenossenschaft unter-entwickelt. Im Militärwesen verharrten die Eidgenossen bei dezentralen Organi-sationsformen. Statt ein stehendes Heer zu bilden, hielten sie im Grundsatz an der Idee der Milizarmee fest.2 Da die Eidgenossenschaft auch keine schlagkräfti-gen Polizeiapparate kannte, fehlte es den örtischen Obrigkeiten an Repressions-

1 Der vorliegende Artikel beruht auf laufenden Forschungen des Autors. Die präsentierten Überle-gungen haben den Charakter von konsolidierten Forschungsthesen und können anhand zahlreicher Fallbeispiele glaubhaft unterlegt werden. Sie sind Teil der Vorarbeiten für ein Forschungsprojekt zur Bedeutung von Gemeinbesitz und kollektiven Ressourcen bzw. deren Einfluss auf die politische Kultur, Staatsbildung und Modernisierung der alten Eidgenossenschaft. 2 Anfangs des 18. Jahrhunderts lobte der englische Gesandte Abraham Stanyan (1669-1732) die kostengünstige Landesverwaltung Berns und den maßvollen Umgang mit den öffentlichen Finanzen. Er zeichnete am Beispiel Berns ein positives Gegenbild zu den europäischen Monarchien, welche der Ausbau der Bürokratie und der Unterhalt stehender Heere in prekäre finanzielle Verhältnisse führten (Zeerleder 1942).

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_9,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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instrumenten.3 Deshalb mussten sie sich um eine Regierungspraxis bemühen, die bei Untertanen und Landleuten auf mindestens minimale Zustimmung stieß.

Im Widerspruch zu dieser schwachen hegemonialen Position entwickelten die Oberschichten der eidgenössischen Orte ein ausgeprägtes Standesbewusst-sein. Im Verlauf des Ancien Régime, so die in der Schweizer Geschichte geläu-fige Bezeichnung für die Periode von der Reformation bis zum Zusammenbruch der alten Ordnung im Jahr 1798, ist in den lokalen Gesellschaften eine durch-gängige Aristokratisierung zu beobachten. Ihre hegemoniale Stellung verdankten die städtischen Patriziate und ländlichen Honoratiorenschaften dem zunehmend exklusiver reglementierten Zugang zu politischen Ämtern. Die höchsten Macht-positionen im Staat inne zu haben, war Bedingung, um Zugang zu einträglichen Geschäftsbeziehungen im Söldnerwesen und der merkantilen Diplomatie (Inkas-so der regelmäßigen Bündnisgelder) zu bekommen. Über die gouvernementale Regulierung zentraler Wirtschaftskreisläufe konnten sich die wohlhabenden Oberschichten zudem günstige Rahmenbedingungen für ihre eigenen ökonomi-schen Aktivitäten schaffen, die von Investitionen in Bodenressourcen über Kre-ditgeschäfte bis zur Produktion und zum Handel von Agrar- und Industrieer-zeugnissen reichten. Auch wenn die eidgenössischen Obrigkeiten dank der ge-schilderten Strukturen auf direkte Steuern grundsätzlich verzichten konnten, war die kulturelle Differenz zwischen den Aristokratengeschlechtern in den Städten und den Magistratenfamilien in den Länderorten einerseits und den Untertanen bzw. den Landleuten andererseits erheblich, latentes bis virulentes Konfliktpo-tential die Folge (Braun 1984; Capitani 2005; Peyer 1976).

Die Schweizer Geschichte vor 1800 kann denn auch als Konfliktgeschichte gelesen werden (vgl. Maissen 2001: 42). Hans Conrad Peyer zufolge ist es evi-dent, dass die „aristokratisch anmutenden eidgenössischen Obrigkeiten“ von ausländischen Beobachtern eher „als der Volksgunst ausgelieferte Gemeindepo-litiker denn als aristokratische Regenten“ wahrgenommen wurden (Peyer 1976: 28).4 Obwohl die lokalen Aristokratien einen prägnanten herrschaftlichen Habi- 3 Die Kosten waren nur ein Grund, weshalb die Obrigkeiten der eidgenössischen Orte auf ein stehen-des Heer verzichten zu können glaubten. In der Tat lebten ja zahlreiche Magistratengeschlechter vom Soldwesen. Sie waren Inhaber von Truppenkörpern, die sie fremden Mächten für gutes Geld zur Verfügung stellten. Wehrfähige Schweizer durch Militärdienst ans eigene Land zu binden, hätte zu einer Verknappung und Verteuerung der Söldner geführt. Dadurch hätte sich die Ertragslage für die Militärunternehmer verschlechtert. Außerdem konnten die politischen Verantwortungsträger davon ausgehen, dass es in ausländischen Heeren ausreichend gut ausgebildete Krieger und Offiziere gab, die in Zeiten des Kriegs in die Eidgenossenschaft gerufen werden könnten, um ein schlagkräftiges Heer aufzustellen. 4 Ausländische Beobachter, welche die schweizerischen Verhältnisse mit den Zuständen in absolutis-tischen Staaten vergleichen konnten, zeigten sich ob der chaotisch erscheinenden Eidgenossenschaft irritiert und fasziniert gleichermaßen. So wunderte sich der venezianische Gesandte Giovanni Battista Padavino (1587-1618, Lebensdaten nicht gesichert) zu Beginn des 17. Jahrhunderts, dass in der

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tus ausbildeten, blieb ihre Stellung „viel labiler und gefährdeter, als sie es selbst nach außen wahrhaben wollten“, mussten sie doch stets mit dem Widerstand der Bürgerschaften, Landleute und Untertanen rechnen.5 Die alte Eidgenossenschaft bietet also eine spannendes Forschungsterrain, um sich mit der Thematik der Legitimität und Funktionsweise politischer Herrschaft zu befassen.

1.2 Besonderer Bedarf nach Legitimation als Ausdruck schwacher herrschaftlicher Position

Wie eingangs skizziert, waren die 13 Orte, die 13 unabhängigen Staatswesen der alten Eidgenossenschaft also, vergleichsweise schwache Herrschaftsgebilde und durch innere Unruhen leicht verwundbar. Im Hinblick auf die unten beschriebe-nen Sachverhalte lässt sich daraus als Arbeitshypothese ableiten, dass die einzel-nen eidgenössischen Obrigkeiten einen besonderen Legitimationsbedarf hatten. Der Lauf der Geschichte lässt vermuten, dass es ihnen über weite Strecken gut gelungen ist, ihre Vorrangstellung gegen die Kritik aus der Bevölkerung zu rechtfertigen. Immerhin blieb der lockere Staatenbund der Eidgenossenschaft trotz unterentwickelter politischer und repressiver Institutionen, trotz fehlender zentralistischer Herrschaftsstrukturen, trotz konfessioneller Spaltung und vielfäl-tiger äußerer Bedrohungen über Jahrhunderte und Epochengrenzen hinweg poli-tisch stabil. Aus historischer Perspektive ist solche Konstanz als Erfolgsge-schichte zu bezeichnen.

Dieser Beitrag befasst sich mit der Frage, in welchen Handlungsfeldern die mächtigen Aristokraten aktiv waren, um ihre Herrschaftsansprüche zu begrün-den. Im Sinn einer vorläufigen Rundumschau werden hier Strategien, Argumente und Legitimationstechniken aufgezeigt, welche die Denkweisen und Handlungs-formen von Herrschenden und Beherrschten anschaulich und verständlich wer-den lassen. Anhand empirischer Tiefenbohrungen werden die hegemoniale Me-chanik und das ideelle Selbstverständnis der frühneuzeitlichen Gesellschaften erkundet. Einiges wird dabei exemplarisch bleiben, denn diese Darstellung strebt bewusst nicht nach allgemeinen und abschließenden Befunden.6

Eidgenossenschaft heterogene Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Konfession eine Republik aus unabhängigen Teilstaaten aufbauen konnten, von denen keiner den anderen bevormundete (Padavino 1874: 1). 5 An den Maßstäben gängiger Konzepte von Modernisierung gemessen, war die Schweiz des Ancien Régimes vergleichsweise rückständig. Nach Wolfgang Reinhard stellt die alte Eidgenossenschaft den „Inbegriff uneinheitlicher vormoderner Herrschaftsverhältnisse“ dar (Reinhard 2002: 252). 6 Als vorläufige Umschreibung ist auch die Titel gebende Chiffre „sanfte Regulierung“ (vgl. Hari 2004) zu verstehen. Den Begriff hat Simon Hari, ein ehemaliger Kollege am Historischen Institut der Universität Bern, verwendet. Die Formulierung ist in ihrer Offenheit dem noch in den Anfängen

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212 Reziprozität und sanfte Regierung

In einem ersten Teil werden grundlegende Praktiken der Legitimation und Funktionsweise des politischen Systems der alten Eidgenossenschaft beschrie-ben. Dabei wird im Dreischritt von der Ebene des Staatenbundes (Kap. 2.1) über die lokalen Gemeinden und Korporationen (Kap. 2.2) und die Regierungsformen der eigenständigen Teilstaaten (Kap. 2.3) vorgegangen. Im Zentrum stehen legi-timierende Verfahren (Kap. 2.3.1), der Grundsatz der Reziprozität (Kap. 2.3.2) und die Frage nach den Auslösermomenten von Legitimationskrisen (Kap. 2.3.3). Danach wird auf die Bedeutung des „Gemeinen Nutzens“ als legitimie-rende Chiffre eingegangen (Kap. 3). Schließlich folgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse (Kap. 4).

2 Kultur des Aushandelns, lokale Autonomie und korporativer Besitz – Praktiken der Legitimation 2.1 Der Staatenbund als Geflecht gleichberechtigter Partner Seit dem Spätmittelalter erlangten im Raum der heutigen Schweiz lokale Ge-meinwesen große herrschaftliche Autonomie. Mit vereinten Kräften gelang es den kommunal und korporativ organisierten Handlungsgemeinschaften vor Ort, sich aus feudalen Herrschaftsstrukturen herauszuwinden und langfristig die Bin-dungen zum Reich aufzulösen. In der Periode vom 13. bis 16. Jahrhundert rück-ten die 13 eidgenössischen Orte zum bikonfessionellen Staatenbund zusammen. Das „Stanser Verkommnis“ von 1481, eine nach heftigen inneren Auseinander-setzungen unter den eidgenössischen Orten getroffene Vereinbarung, legte die vertragliche Grundlage, auf der sich über die Jahrhunderte eine Kultur des politi-schen Kompromisses entwickelte. Die Orte blieben in ihrer Innen- und Außenpo-litik unabhängig. Flache Hierarchien prägten das Nebeneinander der Einzelstaa-ten im Bündnisgeflecht. Für den Konfliktfall waren Schiedsverfahren und gegen-seitige Unterstützungsleistungen vorgesehen.

Die Einwohner der unabhängigen Kleinstaaten profitierten direkt von dieser verfahrenstechnisch gesicherten Befriedung des schweizerischen Alpenraums. Dass sich die 13 Orte nicht auf zentralistische Strukturen einigen mussten, er-sparte ihnen aufreibende Auseinandersetzungen um die höchste Macht im Ver-band der Kleinstaaten. Die Verfahren des Aushandelns und des Vergleichs waren für die Gemeinwesen und die breite Bevölkerung somit von konkretem Nutzen begriffenen Forschungsstand zum Thema angemessen. Gleichzeitig weckt die Metapher vielschichti-ge und kreative Assoziationen. Einerseits lässt er statt an autoritäre Herrschaft an systemkonforme Steuerung denken. Andererseits betont das Attribut „sanft“ den eher personalen als bürokratischen Charakter frühneuzeitlicher Verwaltungstätigkeit.

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und trugen so zur Legitimation und Aufrechterhaltung der lokalen Herrschaftsge-füge und des gesamten Staatswesens bei.

Seine angemessene institutionelle Ausprägung fand dieses lockere Geflecht in der „Tagsatzung“, einem jährlich mehrmals stattfindenden Gesandtenkon-gress, an dem jeweils Vertreter aller eidgenössischen Orte teilnahmen (Schläppi 1998: 9-16; Würgler 2005b). Die „Tagsatzung“ verfügte nur über beschränkte Zuständigkeiten. Außer in Belangen der gemeinsam verwalteten Untertanenge-biete und in Glaubensfragen, mussten alle Geschäfte einstimmig beschlossen werden. Auf diese Weise wurde die Autonomie der einzelnen Orte gewahrt. Dieses föderale Verständnis von Souveränität minderte zwar die formelle Bedeu-tung der Institution „Tagsatzung“. Gleichzeitig förderte es aber den Konsens der beteiligten Teilstaaten zur politischen Ordnung als solcher. So ist denn auch festzustellen, dass sich kleine Minderheiten in Geschäften, die für sie nicht von entscheidender Bedeutung waren, den Wünschen der Mehrheit beugten.

Die zentrale Bedeutung der „Tagsatzung“ lag in ihrer Funktion als symboli-sches Zentrum des losen Staatenbundes und als Treffpunkt der sozialen und politischen Eliten. Im regelmäßigen Sitzungsbetrieb und im kulturellen Rahmen-programm der Treffen bildete sich ein gemeineidgenössisches Bewusstsein. Selbst in Zeiten konfessionell motivierter Krisen und Schlachten unter den eid-genössischen Orten, setzte der Dialog unter den Teilstaaten nicht aus. Im Gegen-teil, im Anschluss an die aus religiösen Gründen geschlagenen Schlachten saßen die Repräsentanten der Orte jeweils bald wieder am Verhandlungstisch und be-sprachen sachpolitische Fragen.

Dieser Modus einer pragmatisch motivierten, institutionell locker organi-sierten Koexistenz unabhängiger Einzelstaaten bewährte sich. Die geringe Ver-bindlichkeit der Entscheide, dieses aus Sicht moderner Staatstheorie als beson-ders problematisch erachtete Manko der „Tagsatzung“, machte die langfristige Kontinuität – und daran ist der Erfolg eines derart schwach formalisierten politi-schen Gebildes zuerst zu messen – überhaupt möglich. Diese Konstanz und der stete Nutzen, den die Eidgenossen aus den untereinander geschlossenen Bünden zogen, legitimierten nach innen das politische System und damit auch die herr-schaftlichen Strukturen. 2.2 Rücksichtnahme auf lokale Autonomie in den Territorien Was auf der Ebene des Staatenbundes spielte, fand seine Entsprechung auch auf untergeordnetem Niveau. Auch die Verwaltungseinheiten auf korporativ-kommunaler Ebene (Zünfte, Gesellschaften und Quartiere in den Hauptstädten sowie autonome Landstädte, Talschaften und Gemeinden in den Territorien)

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kamen seit dem Spätmittelalter in Genuss weitgehender Selbstverwaltungsrechte. Die Landvögte, welche als Vertreter der städtischen Obrigkeiten seit dem 15. Jahrhundert auf dem Lande die Stelle der einstigen adligen Lehensherren ein-nahmen, griffen auch im 17. und 18. Jahrhundert nur geringfügig ein (Peyer 1978: 120). Ihr minimaler Mitarbeiterstab bestand zum größten Teil aus Angehö-rigen der lokalen Honoratiorenschaft, welche ihrerseits gegenüber dem Regiment die eigenen Interessen – und in vielen Fällen auch jene der ansässigen Bevölke-rung – wahrzunehmen versuchten.

In den Dorfgenossenschaften gab eine lokale Oberschicht von reichen Bau-ern, Müllern und Wirten den Ton an. Sie besetzte die ländlichen Verwaltungsäm-ter und hob sich kulturell und bezüglich Lebensstil von den Kleinbauern, Tage-löhnern und Handwerkern ab. Die Landvögte als Träger der obrigkeitlichen Territorialverwaltung wussten um das Selbst- und das Machtbewusstsein dieser Gruppen und legten deshalb nicht Hand an die Privilegien der dörflichen Korpo-rationen (Peyer 1978: 115).7

Die Autonomie auf kommunaler Ebene zahlte sich für das Staatswesen aus, da Gemeinden und Korporationen wichtige Verwaltungsaufgaben und Ord-nungsfunktionen vor Ort übernahmen und diese auch noch aus eigenen Mitteln finanzierten. Beispielsweise war das Armen- und Zivilstandswesen in der Eidge-nossenschaft Sache der Gemeinden. Der Aufwand wurde aus der Bewirtschaf-tung der Gemeindevermögen und über regelmäßige Einnahmen aus Mitglieder-beiträgen und drgl. gedeckt (Schläppi 2006: 38-55, 82-91). In Krisenzeiten erho-ben die Gemeinden zusätzliche Armensteuern, bei denen die Dorfreichen die höchsten Beiträge zugunsten der Unterschichten zu entrichten hatten.

Sozialer Ausgleich vor Ort reduzierte den staatlichen Finanzbedarf für das Armenwesen und erlaubte der Regierung, auf entsprechende fiskalische Ab-schöpfung zu verzichten. Gemeindeinterner Lastenausgleich stärkte das Selbst-regulierungspotential der korporativen Einheiten, was wiederum die soziale Kohäsion innerhalb der Gruppenverbände stärkte und die Gesellschaft als Ganze stabilisierte.8 Die kommunale Selbstverwaltung sparte Kosten und kanalisierte

7 Nach Peyer zeigte dieses „Dorfpatriziat“ namentlich „in den Untertanengebieten der Städteorte ein eigenartiges Janusgesicht“. Einerseits stellte es die „dörflichen Exekutivbehörden, ohne die die Stadt das Land nicht regieren konnte“. Andererseits pflegte diese ländliche Aristokratie „ein ausgesproche-nes Bewusstsein der eigenen Bedeutung und der herkömmlichen Sonderrechte“. Seit dem 15. Jahr-hundert stammten die Träger und Anführer bäuerlicher Unruhen stets aus der ländlichen Oberschicht. Nach Peyer wurde sie deswegen „mit Samthandschuhen“ behandelt (Peyer 1978: 115, 121, 135). 8 Vielerorts war es üblich, nach den Gemeindeversammlungen auf Kosten der Gemeindekasse ge-meinsam zu essen und zu trinken (Würgler 2005a). Auch diese geselligen Rituale stärkten den Zu-sammenhalt der Gesellschaft. Der Stellenwert der gemeinsamen Mahlzeit begründet sich laut Georg Simmel darin, dass sie „ein Ereignis von physiologischer Primitivität“, das lebensnotwendige Essen

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bereits vor Ort jene Spannungen, welche das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen strapaziert und zu Konflikten geführt hätten, wenn sie sich zu Ausei-nandersetzungen zwischen herrschaftlichen Antipoden entwickelt hätten.

Dank der funktionierenden lokalen Autonomie brauchte die Regierung we-niger unpopuläre Entscheide zu treffen und durchzusetzen. Deshalb erschien die Obrigkeit aus der Optik der Untertanen als zurückhaltend. Solange sich die Re-gierung im Hintergrund hielt, genoss sie bei der Basis am meisten Legitimität. Und in innerdörflich umstrittenen Angelegenheiten, in lokalen oder regionalen Konflikten konnten die Parteien immer noch mit Supplikationen an die zentralen Gewalten gelangen. Die Regierung nahm dann oft eine unparteiische Stellung ein, machte Vermittlungsvorschläge oder gab die Geschäfte mit mehr oder weni-ger verbindlichen Empfehlungen und dem Wunsch nach gütlicher Einigung an die beteiligten Konfliktparteien zurück.9

In diesem Staat erfolgte Verrechtlichung somit nicht im Sinn positiver Rechtsetzung, die erfahrungsgemäß zu Legitimationsschwierigkeiten führte. Vielmehr konnten lokale Traditionen und das Erfahrungswissen der Betroffenen in die obrigkeitlichen Problemlösungsstrategien einfließen, was für die Legitimi-tät der Herrschenden günstig war. Dieser Effekt ist besonders an den Rändern der Territorien zu beobachten. So ist es nach dem Bauernkrieg von 1653 zum Beispiel auf der Berner Landschaft, dem größten von einer unabhängigen Stadt verwalteten Territorium nördlich der Alpen, zu keinen Widerstandsbewegungen mehr gekommen (Holenstein 2006b: 104). Ließ eine Regierung die Autonomie der untergeordneten Teile unangetastet, brauchte sie sich den Untertanen gegen-über gar nicht mehr zu legitimieren.10

2.3 Legitimation durch Verfahren und Reziprozität bei der Nutzung kollektiver Güter in den Teilstaaten

In den Städteorten und Landkantonen sind für die frühe Neuzeit ausgeprägte Aristokratisierungstendenzen festzustellen, was zu einem gesteigerten Konflikt-

nämlich, „in die Sphäre gesellschaftlicher Wechselwirkung und damit überpersönlicher Bedeutung“ erhebt (Simmel 1910: 1-2). 9 Ebenfalls vermittelnd verhielt sich der Berner Rat, wenn er in wirtschaftlichen Fragen von konkur-rierenden Interessengruppen um Unterstützung angegangen wurde (Schläppi 2005: 48-50). 10 Im Widerspruch zu den Vorurteilen der Modernisierungstheoretiker waren die in weitgehender Selbständigkeit gewachsenen Korporationen erstaunlich effizient und krisenresistent. So funktionier-te die kommunale Selbstverwaltung auch dann reibungslos weiter, als der Einmarsch französischer Truppen 1798 die staatlichen Strukturen des Ancien Régime weggefegte, die bis dato herrschenden Geschlechter entmachtete und die zivilstaatlichen Institutionen kollabieren ließ (Schläppi 2001: 46-56).

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potential zwischen unterschiedlichen Sozialschichten – den Herrschenden und den Beherrschten also – führte. Wenn es zu lokalen Aufständen und regionalen Unruhen kam, fällt auf, dass die Herrschaftsverhältnisse und das politische Sys-tem als solches – außer vielleicht im Bauernkrieg von 1653 – nicht in Frage gestellt wurden. Die Proteste richteten sich auch nicht gegen die faktisch vor-handene Ungleichheit zwischen Besitzenden und Nichtbesitzenden, oder gegen die bestehenden ständischen Herrschaftsverhältnisse zwischen städtischen Patri-ziaten und ländlichen Untertanen (Felder 1976; Peyer 1978: 134-139; Holenstein 2006a: 104; ders. 2006b: 565; Suter 1997). Die Untertanen protestierten viel-mehr gegen Zustände, in denen sie Verstöße der regierenden Schichten gegen die gängige politische Praxis sahen. Zu den Hauptforderungen zählten die Respek-tierung der alten Freiheiten und Rechte, die Bewahrung wirtschaftlicher und politischer Selbstbestimmung und die Rücknahme neu aufgelegter Abgaben (Landolt 2006).11

Das verbindende Element der Postulate liegt in der Vorstellung, welche sich die Menschen von einem wohlgeordneten Gemeinwesen machten. Der Staat wurde als korporativer Solidarverband verstanden, der auch der einfachen Be-völkerung Chancen auf politische Mitsprache sowie Nutzen am Gemeinbesitz einräumte und überdies zu garantieren hatte, dass sich niemand unberechtigt an politischen Ämtern bereicherte. Dieses Staatsverständnis lässt sich hervorragend an die theoretischen Konzepte von Elinor Ostrom zur Thematik der Common Pool Ressources anschließen. Den Erkenntnissen von Ostrom zufolge müssen korporativ organisierte bzw. legitimierte Gemeinwesen und Aneignerorgani-sationen einige Regeln befolgen, um langfristig erfolgreich sein zu können. Fol-gende Grundsätze sollten garantiert sein (vgl. Ostrom 1999: 241):

a) Der Kreis der nutzungsberechtigten Aneigner und das Ausmaß der ihnen

zustehenden Profite bedürfen klarer Umschreibung. Erträge müssen ent-sprechend der vereinbarten Regeln verteilt werden.

b) Über Geschäfte, welche alle Mitglieder der Gruppe angehen, muss Transpa-renz hergestellt werden.

11 Statt um die höchste Macht und deren Legitimation ging es in den Auseinandersetzungen um Missstände, welche für die Mittel- und Unterschichten materielle Nachteile mit sich brachten. Schon aufgrund der ständischen Distanz zu den gepuderten Magistraten interessierte die einfachen Leute nur am Rande, wer im Staat das Sagen haben sollte. Wenn die gewöhnliche Bevölkerung im Alltag Herrschaft wahrnahm, dann ohnehin weniger in Kontakten mit den „Gnädigen Herren“ der Regie-rung als vielmehr in Interessenkonflikten mit lokalen Oberschichten. Die Frage aber, wie viele Fasnachtshühner sie der Obrigkeit abzuliefern hatten, wirkte sich für Menschen in bescheidenen Verhältnissen direkt auf ihren Speiseplan aus.

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c) Die korporativen Strukturen müssen den politischen, sozialen und topogra-phischen Rahmenbedingungen vor Ort angemessen sein und dürfen nur un-ter Mitsprache der beteiligten Genossenschafter modifiziert werden.

d) Der Umgang mit den kollektiven Ressourcen muss von Personen oder Insti-tutionen überwacht werden, die den Aneignern rechenschaftspflichtig sind.

e) Regelverstöße werden vom Kollektiv mit angemessenen Sanktionen be-straft.12

2.3.1 Formen politischer Öffentlichkeit und die Bedeutung von Verfahren Was die Mitglieder korporativer Organisationen zusammenbindet, ist die Idee, dass alle Nutzungsberechtigten – oder jedenfalls deren Vorfahren – einen we-sentlichen Beitrag zu einem gemeinsamen Gruppenprojekt geleistet haben, das einzelne Individuen im Alleingang nicht hätten realisieren können. Diese Vor-stellung prägte die politische Kultur der alten Eidgenossenschaft. Der Nutzen aus dem Ringen der ersten Eidgenossen gegen Tyrannei, Fehde und Blutrache kann nicht beziffert werden. Es ist aber unbestritten, dass es der Agitation ganzer Landschaften im Gruppenverband bedurfte, um die Befreiungsinteressen gegen die angestammten Herrschaftsträger durchzusetzen. Errungenschaften dieser Größenordnung waren durch Einzelpersonen nicht zu bewerkstelligen. Nach Manfred Hettling war „die politische Verfasstheit der Schweiz“ durchgehend von der visionären Idee geprägt, welche im Schwur „der drei Freien auf dem Rütli als Bund der drei Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden“ zum Ausdruck kam (Hettling 1998: 106).13 12 Auf die von Ostrom beschriebenen Bauprinzipien können unterschiedliche Forschungsrichtungen aufbauen, so beispielsweise auch moderne Untersuchungen zur Funktionsweise mikroökonomischer Strukturen (Elsen 2000: 90). Ostrom selber belegt ihre Theorie u.a. auch anhand historischer Beispie-le. In der Tat lassen sich ihre Modelle bezüglich nachhaltiger Nutzung von Aneignerressourcen problemlos auf unterschiedliche geschichtliche Epochen anwenden. Nach Dafürhalten des Autors birgt die Beschäftigung mit Kategorien wie „Gemeinbesitz“ und „kollektive Ressourcen“ erhebliches heuristisches Potential zur Erforschung frühneuzeitlicher Gesellschaften (vgl. Schläppi 2007 und 2009). 13 Die Schweiz verstand sich als und war demnach eine Eid-Genossenschaft. Diesen Sachverhalt spricht auch Peyer an, indem er auf ein „undeutlich nachweisbares Bewusstsein einer besonderen altschweizerischen bäuerlichen Freiheit“ hinweist (Peyer 1978: 135). Das Motiv des Siegs durch entschlossenes, gemeinsames Handeln zieht sich als zentrales Thema durch die Heldennarratio der helvetischen Schlachtensaga. Bezeichnenderweise steigerte sich die Aktivität der „Tagsatzung“ just vor den Burgunderkriegen (1474-1477), als die Eidgenossen unbedingt neue Verbündete brauchten. Indes zwang die europäische Mächtekonstellation die eidgenössischen Orte zu engeren Absprachen untereinander, um den Unwägbarkeiten dynastischer Entwicklungen geeint gegenüber treten zu können (Würgler 2004: 682). Auch dieser für die gesamte Schweizer Geschichte wegweisende Kriegserfolg war also ein Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen.

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Auch Martj Poschart (Bossart?), ein einfacher Bürger der Stadt Zug, hatte diese korporative Logik verinnerlicht – den Gedanken nämlich, dass wer etwas zum allgemeinen Wohl beigetragen hatte, auch ein Anrecht auf Mitsprache und Vorteile hatte. Als Poschart im Jahr 1647 auffiel, dass der Zuger Rat die Politik zunehmend monopolisierte, immer weniger Geschäfte vor die Gemeindever-sammlung kamen und überhaupt immer seltener Versammlungen einberufen wurden, argwöhnte er in einer offiziellen Bürgerversammlung, „dz den burgern Jre fryheit genomen“ werde. Den Aristokraten, die ihren autokratischer werden-den Regierungsstil verteidigten, hielt er vor, „es habe gar Vil costet vor Zyten die fryheit zu erhalten“ (Acta Helvetica 142/90). Laut Poschart hatte es die Vorfah-ren also große Opfer gekostet, die Freiheit zu erlangen.14 Und hätte nicht schon früher Statthalter Adam Bachmann darum gekämpft, wären die „Burger“ ihrer Freiheit – hier ist das Privileg der Teilnahme an regelmäßigen Gemeindever-sammlungen gemeint – schon lange verlustig gegangen.

Der Begriff „Burger“ bezeichnet in der Sprache der alten Schweiz die voll-berechtigten Stadtbürger, die wählen und abstimmen durften und darüber hinaus an den Erträgen des Stadtbesitzes beteiligt waren. Im Sinne der oben unter a) formulierten Regel rief Poschart bei seinem Vorstoß also zunächst in Erinnerung, wer als vollwertiger Genosse zur Stadtbürgerschaft gehörte. Damit spielte er implizit darauf an, dass die „Burger“ als ständisch privilegierte Genossen alle auf gleicher Stufe standen, unbesehen ob sie dem Rat angehörten oder nur als einfa-che Mitglieder an den Gemeindeversammlungen teilnehmen durften. Poscharts Forderung nach öffentlichen Versammlungen zielte auf die Einhaltung der Re-geln b) und c).

Poschart berührte offensichtlich einen wunden Punkt, denn noch in der glei-chen Sitzung rechtfertigte sich Beat II Zurlauben (1597-1663), damals Haupt des wichtigsten Zuger Aristokratengeschlechtes, für die angemahnten Unterlassun-gen. Der Rat habe die Gemeindeversammlungen nicht absichtlich ausfallen las-sen. Es hätten nur zwei oder drei – so genau wusste er es bereits nicht mehr – Versammlungen wegen „hochzytten oder anderen hindernussen und ylfertigen Noth“ nicht stattgefunden (Acta Helvetica 142/90). Wegen Hochzeitsfesten, unbestimmten Gründen und Termindruck hatte die Obrigkeit darauf verzichtet, ihre Politik vom Stimmvolk absegnen zu lassen. Zurlauben sah darin jedoch kein gravierendes Problem, denn es gebe in der Stadt ohnehin „nur ettwan 5: oder 6:

14 Diese Argumentation ist charakteristisch für das republikanische Selbstverständnis der eidgenössi-schen Orte. Diese politisch konstitutive Vorstellung leitete sich aus der fest verankerten Idee ab, die „Freiheit“ habe nur im entschlossenen und gemeinsamen Kampf freiheitsliebender Bauern gegen fremde Lehnsherren und äußere Bedrohungen errungen werden können. Dieser Ursprungsmythos wurde im schweizerischen Selbstdefinitionsdiskurs zu unterschiedlichen Zeiten in zahlreichen Vari-anten immer wieder neu beschworen (vgl. Marchal 2006).

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die so gwunderig undt gern Jn Rath Jnnensässend“. Nur ein knappes Duzend Leute sei so neugierig und sitze gerne in der Ratsstube herum, während sich die Mehrheit im Gegensatz dazu ruhig verhalte. „Vor vilen Jaren“, hieß es später noch, sei die „Burgerschaft“ noch damit zufrieden gewesen, wenn sie einige Delegierte in die Ratssitzungen („gsante Jn Rath“) habe schicken dürfen. Aber die Neugierigen sollten doch jetzt ruhig ihre Fragen stellen, Zurlauben werde dann Red und Antwort stehen.15

Das angestammte Anrecht der Bürgerschaft auf Transparenz war den Aris-tokraten, die lieber an ihrer Arkanpolitik festgehalten hätten, also noch im Be-wusstsein. Das Angebot, Fragen zu bereits verabschiedeten Geschäften stellen zu dürfen, wahrte den Anspruch auf Partizipation aber nur scheinbar. Denn selbst-verständlich verlief der Ratsbetrieb nach anderen Regeln, wenn in den Sitzungen außen stehende Zuhörer anwesend waren.16 Die Reaktion lässt darauf schließen, dass Poscharts Kritik aus Sicht der Regierenden akuten Legitimationsbedarf schuf. Dass sich ein Aristokrat wie Zurlauben gegen die Anwürfe Poscharts überhaupt verteidigte, zeugt von der Berechtigung dessen Kritik. Im korporativ aufgebauten Staatswesen musste sich Herrschaft also offenkundig über die Ein-haltung spezifischer Verfahren, namentlich aber der zuvor aufgeführten Regeln a), b) und c) legitimieren.17

15 Diese politische Alltagsepisode bestätigt die Feststellung Peyers, den schweizerischen Aristokra-tien des 17. und 18. Jahrhunderts sei es „nur sehr bruchstückweise“ gelungen, „anstelle des Korporationengefüges der spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft samt seinen we-sensgemäßen widerstandsrechtlichen und tumultuarischen Zügen“ einen „geordneten Staat“ durchzu-setzen (Peyer 1978: 138-139). 16 Interesse an kommunaler Sachpolitik bekundete nicht nur das halbe Dutzend notorischer Nörgler aus der „Burgerschaft“, über die sich Beat II Zurlauben ärgerte. Zurlauben notierte nämlich, in den Sitzungen erschienen manchmal sogar „ussburger“, die „gwundrig sindt“, „unglütet“ (Acta Helvetica 142/90). „Ussburger“ oder „Ausburger“ waren Bürger zweiter Klasse, die keine Nutzungsrechte und bestenfalls beschränktes Stimmrecht besaßen. Dass sie an öffentlichen Gemeindeversammlungen teilnahmen, ohne dass man die „Bürgerschaft“ überhaupt zusammengeläutet hatte („unglütet“), war eine unerhörte Anmaßung. Der hohe Magistrat Zurlauben dachte also auch in der ständisch-korporativen Logik. 17 Will man Gesellschaften am Grad demokratischer Mitbestimmung messen, sollten nicht zu rigide Konzepte von politischer Partizipation angelegt werden. Für die frühe Neuzeit galt das Prinzip „one man, one vote“ nicht. Es gilt übrigens auch für moderne Demokratien nicht zwingend, entziehen sich doch weite Bereiche heutiger Staatsführung und Verwaltungshandelns jeglicher Mitsprache der Bevölkerung.

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2.3.2 Reziprozität und Symbolhandeln Handelte das vorangehende Kapitel von der Bedeutung von Verfahren, so befasst sich dieser Abschnitt mit dem Nutzen an kollektiven Ressourcen als entschei-dendem Faktor zur Legitimation politischer Herrschaft.

Im Gegensatz zu monarchischen Modellen von Staatlichkeit, in denen die Bevölkerung mit Steuern für den materiellen Bedarf eines nach dynastischem Diktat konstituierten Herrschaftsapparates aufzukommen hatte, pflegten die eidgenössischen Republiken ein legitimatorisches Idealbild, das sie sich selbst als Gemeinweisen bzw. als Solidarverbände sehen ließ. Diese Vorstellung war im kollektiven Bewusstsein verankert und wirkte sich auf den politischen Betrieb aus. Die Staatsbürger verstanden sich als Aneigner an einem korporativen Gefü-ge und hatten neben einem ungeschriebenen Recht auf Mitsprache auch An-spruch auf die Erträge aus den kollektiven Ressourcen. Dieses Modell schloss den Grundsatz mit ein, dass die politischen Führungsschichten ihre Ämter – mindestens vordergründig – ehrenamtlich zu versehen hatten, um direkte fiskali-sche Belastung der Bevölkerung zur Finanzierung eines bürokratischen Appara-tes und anderer staatlicher Institutionen zu verhindern.18 Der Staat hatte für die Aneigner einen Nutzen abzuwerfen. Die Politik wurde von den Bürgern an ihrem Output, dem Payback für den Einzelnen gemessen.19 Dieser Gedanke manifes-tierte sich in eingespielten Mechanismen des Ressourcentransfers von oben nach unten.

In der frühen Neuzeit ein öffentliches Amt inne zu haben, eröffnete direkten Zugang zu herrschaftlichen und ökonomischen Ressourcen. Bereits Max Weber hat darauf hingewiesen, dass jede ständische Gliederung, also auch die schweize-rischen Aristokratien, auf „Monopolisierung ideeller und materieller Güter oder

18 Das Fehlen direkter Steuern darf nicht zur Schlussfolgerung verleiten, der frühneuzeitliche Staat habe kostenneutral funktioniert. Vielmehr ist zu bedenken, dass materielle Ressourcen für öffentliche Zwecke an Orten und auf Arten beschafft wurden, die heute nicht mehr geläufig sind. Außerdem waren die Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft und Individuum bzw. zwischen „öffentlich“ und „privat“ fließend und durchlässig (Schnyder 1994: 173). 19 Aus den ordnungspolitischen Maßnahmen, welche die Obrigkeiten auf Petitionen aus der Bevölke-rung hin erließen, lässt sich ableiten, welche Leistungen der Staat aus allgemeiner Optik zur Verfü-gung zu stellen hatte: Infrastrukturanlagen, den Landesfrieden, Rechts- und Versorgungssicherheit, Armenwesen, Preisstabilität für Grundnahrungsmittel und Konsumgüter des täglichen Bedarfs, distributive Gerechtigkeit in Bezug auf Profite am Gemeingut oder bei der Besetzung politischer Ämter, anständig verteilte Zugänge zu ökonomischen Gewinnchancen, ein funktionierendes Markt-wesen, eine auf faire Güterumverteilung ausgerichtete Wirtschaftsordnung, Gefahrenprävention und militärische Verteidigung (nicht jedoch zu expansiven Zwecken hochgerüstete Kriegsmaschinerien). Zudem wurde von den Obrigkeiten haushälterischer Umgang mit kollektivem Besitz erwartet. Die Steuerlast für Haushalte und Individuen musste in nachvollziehbaren Relationen zu den Leistungen des Staats stehen.

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Chancen“ (Weber 19805: 537) durch die Mächtigen hinausläuft. Der oben skiz-zierte Forderungskatalog der in der Eidgenossenschaft zahlreich stattgefundenen Rebellionen verdeutlicht, dass die Bevölkerungen der eidgenössischen Orte die schleichende Monopolisierung der an herrschaftliche Positionen gebundenen Ressourcen nicht widerspruchslos akzeptierten. Im Gegenteil machten sie immer wieder lautstark und mit Erfolg ihre Ansprüche geltend.

Dass staatliche Domänen, Herrschaftsrechte, Landvogteien und politische Ämter im eidgenössischen Common Sense als zur zwischenzeitlichen Nutzung ad personam verliehener Gemeinbesitz galten, kommt besonders anschaulich an einer bernischen Gepflogenheit zum Ausdruck: Wurde in Bern ein Patrizier in ein hohes Amt gewählt, musste er seiner Korporationsgemeinde, der er zivil-rechtlich angehörte, ein „Promotionsgeld“, eine Entschädigung für die erfolgrei-che Wahl, entrichten.20

Die politische Grundsatzregel „Reziprozität“, kommt besonders gut zum Ausdruck in den subtilen Abstufungen, welche für die Landvogteistellen ge-macht wurden. Für die Wahl in eine besonders einträgliche Landvogteistelle – auf einem zeitgenössischen gedruckten Plakat als „Erste Claß“ aufgeführt – musste am meisten bezahlt werden. Je höher der private Profit aus einem Amt, desto höher auch die dem Kollektiv geschuldete Entschädigung. Darüber, wie lohnend ein Posten sei, war man sich im zeitgenössischen Urteil einig, und dass für erhaltene politische Ämter Geld floss, erregte keinerlei Aufsehen, denn in der Politik spielte stets eine merkantile Note mit. Entscheidend war, dass privater Vorteil aus Ämtern dem Kollektiv angemessen entgolten werden musste.

Bezahlt wurde aber auch schon im Vorfeld von Wahlen, wenn noch nicht feststand, wer schließlich in die Ämter gewählt werden sollte.21 Namentlich wurden in den Landsgemeindeorten Wahlen in einflussreiche Posten durch Natu-ral- und Geldspenden erkauft. Anlässlich einer Gemeindeversammlung in Zug wurde Johann Speck im Jahr 1634 vorgehalten, er übe die Ämter des Landes-fähndrichs und des Großweibels gleichzeitig aus. Speck fand daran nichts An-stößiges und rechtfertigte sich, indem er der Gemeinde seine Investitionen vor-rechnete. Die Erlangung der fraglichen Posten habe ihn immerhin 1.300 Gulden gekostet (Acta Helvetica 17/52).

20 Vergleichbare Entschädigungsmodelle kannten viele eidgenössische Orte. Besonders bekannt sind die „Auflagen“ oder „Auflaggelder“, wie sie beispielsweise in Glarus von neu gewählten Magistrats-personen eingezogen wurden. 21 Der Ämterkauf ist in der Quellensprache als „Praktizieren“ und „Trölen“ bekannt. Die Analogie zwischen den Länderorten und den Berner Verhältnisse sollte jedoch nicht überbewertet werden. Von einem Kauf der Ämter kann in Bern nicht gesprochen werden. Dafür war die Politik zu verworren und es gab zu viele potentielle Konkurrenten. Der in Bern übliche Usus erinnert eher an ein Pacht-verhältnis auf Zeit (Schläppi 2006: 85-86, 177).

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Geldspenden von Gewählten waren nur eine Spielart des Ressourcentrans-fers im Kontext von Politik. In Verbindung mit Landsgemeindeversammlungen, Amtseinsetzungen, Bundesbeschwörungen fanden oftmals Massenspeisungen auf Kosten von Amtsträgern statt. Es wurden öffentlich Geld, Geschenke und Gefälligkeiten verteilt.22 Die entsprechenden, oftmals stark ritualisierten Veran-staltungen waren ideale Schaustätten, um den vertikalen Transfer materieller Ressourcen für das Kollektiv sichtbar zu machen. Der symbolische Aspekt un-terscheidet den demokratisch bzw. korporativ geprägten Gabentausch von der einfachen Korruption, die im Verborgenen und im ausschließlichen Interesse weniger Privater stattfand. Die geschilderten Praktiken bedurften zwingend der Öffentlichkeit, um das von den Gebenden bezweckte legitimatorische Potential zu entfalten. Nur wenn offensichtlich gegeben und genommen wurde, verpflich-tete dies alle Beteiligten auf das politische System, konnte der rituelle Ressour-centransfer seinen Beitrag zur Stabilität der herrschaftlichen Verhältnisse leis-ten.23

Dies wird besonders augenfällig im Zusammenhang mit der Verteilung der „Pensionen“ an die Landleute. Die „Pensionen“ waren Bündnisgelder, welche die eidgenössischen Orte aufgrund alter Allianzen namentlich von Frankreich jährlich kassierten. Jeder Bürger hatte seinen persönlichen Anteil an den „Pensi-onen“, denn auch die Gewinne aus den diplomatischen Geschäften mit europäi-schen Mächten wurden als Gemeinbesitz angesehen.24 Vor Ort war jeweils ein Vertreter aus einem bedeutenden Magistratengeschlecht für die Verteilung der „Pensionen“ zuständig. Diese Funktion war eine Machstellung erster Güte, bot sie doch die Möglichkeit, bestimmte Personen zu begünstigen, andere zu benach-teiligen. Außerdem verhalf das Verteilen von Geld zu einschlägigem Wissen über die kurzfristige Liquiditätslage allfälliger Schuldner oder potentieller Gläu-biger (Kälin 1991: 189).

Soweit die Vorzüge dieses informellen Amtes. Umgekehrt bekamen die Pensionenverteiler aber auch den Ärger und das Misstrauen der Bevölkerung zu spüren, wenn sie mit leeren Händen dastanden, weil die Zahlungen der Bündnis-partner stockten. Gerade im Falle Frankreichs liefen die Schulden zeitweise über Jahrzehnte auf. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem „der gmeine man nit

22 Der bereits mehrfach zitierte Padavino kommentierte seine diesbezüglichen Beobachtungen tro-cken: „Lo stato popolare è un mercato, dove tutto si vende“ (Padavino 1874: 187). 23 Jüngere Quelleneditionen und Forschungen haben zu diesem Feld der Politik anschauliche Beispie-le und anregende Deutungen geliefert (Acta Helvetica 1/13; 27/144, 145; 48/160; 63/12; 67/87D; 73/95N; 74/121; 83/14A; 90/16, 20, 22B; 97/109A; 98/19, 20B, 20C, 20E, 20F, 22, 23, 24, 30, 43, 164, 164A, 164B, 174, 176; 134/108; 135/39; Kälin 1991: 49-51, 76, 93, 189; Schläppi 1998: 16-26). 24 Nach Christian Windler waren die Landleute „von ihrem Recht überzeugt, an allen Ressourcen des Landes teilzuhaben, worunter sie nicht nur die Allmenden, sondern die gesamte Landeshoheit, also auch die Bündnisgelder und Pensionen, verstanden“ (Windler 2005: 115).

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mer wirt wellen den gouten Worten ohne werk glauben geben“ (Acta Helvetica 27/13). Wenn dann keine Taten folgten, drohten die unzufriedenen Landleute gar mit dem Sturm auf das Haus des Verteilers (Schläppi 1998: 29-30).

Die Pensionenverteiler betrieben ihrerseits erheblichen Aufwand, um die Empfänger ihnen gegenüber geneigt und loyal zu stimmen und solchen krisen-bedingten Belastungsproben vorzubeugen. Aus Anlass der Pensionenverteilung veranstalteten die Zurlauben als französische Interessenvertreter in Zug jeweils ein mehrtägiges Volksfest mit freien Mahlzeiten und Trinkgelagen, denn sie wollten „die Freunde Frankreichs nicht kränken“ (Acta Helvetica 25/171). An den rauschenden Feierlichkeiten nahmen alle Nutzungsberechtigen teil, weshalb die Kosten, für welche Frankreich aufzukommen hatte, aus dem Ruder laufen konnten. Die von Frankreich 1602 bewilligten Spesen in der Höhe von 600 Pfund wurden lange Zeit nicht erhöht und reichten zur Deckung der Auslagen nicht mehr (Schläppi 1998: 29).

Wozu solcher Aufwand, um etwas Geld zu verteilen? Tatsächlich erscheint dies aus heutiger Sicht widersinnig, würde man doch annehmen, die Begünstig-ten hätten sich verschämt durch den Hintereingang ins Haus des Verteilers schleichen und dort devot um einen Obolus betteln müssen. Doch genau diese Paradoxie verweist auf den Kern des Rituals: Der legitime Anspruch der einfa-chen Leute auf Pensionsgelder musste zeremoniell bestätigt werden. Die „Pensi-onen“ waren in den Augen der Bürger kein Gnadenbrot und schon gar keine Bestechungsgelder. Vielmehr stellten sie in den Augen der Empfänger ein mehr als gerechtfertigtes Entgelt für ihre Loyalität gegenüber den Spendern, den Ma-gistratspersonen und den ausländischen Partnermächten, dar. Entsprechend musste das Ritual der Verteilung gestaltet werden, denn es durfte auf keinen Fall der Eindruck entstehen, es würden widerwillig Almosen verabreicht. Indem die Mächtigen also öffentlich kundtaten, dass sie die Nutzungsrechte der Bevölke-rung respektierten und auch keine Dankbarkeit für ihre Großzügigkeit erwarte-ten, schufen sie die Legitimationsbasis für ihre eigenen Privilegien. Reziprozität in actu.25

25 Mindestens in Bezug auf die volkstümlichen Festivitäten, diese Hochzeiten korporativen Gemein-sinns, greifen strikt an sozialhierarchischen, utilitaristischen und materialistischen Kategorien ausge-richtete Klientelismusmodelle zu kurz. Nach meinem Dafürhalten wurden die „offiziellen diplomati-schen Beziehungen“ nicht nur „von Familienverbänden zur Verfolgung ihrer Interessen und Projekte genutzt“ (Thiessen 2005: 16). Vielmehr ging von der Diplomatie namentlich in den Innerschweizer Landsgemeindeorten eine universelle Dynamik aus. Es sei nicht bestritten, dass dem wilden Treiben anlässlich der Pensionenverteilung eine unterschwellige, unaussprechliche, hässliche Zweckrationali-tät innewohnte, die, wäre sie von den Akteuren benannt worden, den demokratischen Mikroorganis-mus unter dem Druck der faktischen Hierarchien hätte zugrunde gehen lassen. Allerdings lassen die komplexen symbolischen Praktiken und verschlungenen Aktionsformen vermuten, dass im Sozial-verband noch andere kohäsive Kräfte wirkten als die pure Gier nach Geld und Macht. Für Gerhard

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Auf keinen Fall darf verschwiegen werden, dass die Honoratioren den Lö-wenanteil der ausländischen Gelder als sog. „geheime Pensionen“ untereinander aufteilten und so ihre Landleute hintergingen.26 Es kann nicht Ziel eines kriti-schen sozialhistorischen Ansatzes sein, vorhandene Machtgefälle zu verschleiern oder real existierende Hierarchien und Abhängigkeiten herunter zu spielen. Stän-dische Ungleichheit war das prägende Strukturmerkmal in der frühneuzeitlichen Schweiz. Die reichen Oberschichten gaben den Takt an und bestimmten faktisch über die Geschicke in den Orten. Wird aber die Frage nach der Legitimität und Funktionsweise aristokratischer Herrschaft im Raum der Eidgenossenschaft gestellt, muss der korporative Grundzug im Politischen mitbedacht werden. Selbst wenn die angesprochene Reziprozität bzw. Gegenseitigkeit im Verhältnis von Regierenden und Regierenden nur symbolisch und in ritualisierten Kontex-ten zum Tragen gekommen sein sollte, so strahlten diese Grundgedanken doch in unterschiedliche Handlungsfelder aus und prägten einen politischen Stil, der sich deutlich von den Gepflogenheiten in Monarchien und Fürstenstaaten unterschied. Legitimität in republikanisch-korporativen Gemeinwesen herzustellen, war ein schwieriges Geschäft, denn an der Verteilung des Nutzens aus den Erträgen kollektiver Ressourcen, konnten sich leicht Konflikte entzünden.27

Göhler und Rudolf Speth „besteht das soziale Leben nicht nur aus Kämpfen, sondern auch aus Kom-promissen, und diese setzen wenigstens ein Minimum an Verständigung, an reziproker und nicht aufoktroyierter Gemeinsamkeit voraus“ (Göhler/Speth 1998: 44-45). 26 Bestand in der Bevölkerung der Verdacht, die Mächtigen trieben das geheime Pensionenwesen zu weit, delegitimierte dies die Obrigkeit und führte zu Rebellion und Revolte. So gingen beispielsweise der „Könizer Aufstand“ von 1513 oder der Zuger „Harten- und Lindenhandel“ der Jahre 1728-1736, von dem gleich noch die Rede sein wird, auf krasse Verstöße gegen Regel b) zurück (vgl. Modestin 2005). 27 Der Pfarrer von Aegeri, Jakob Billeter, brachte den Konnex in seiner zeitgenössischen Chronik auf den Punkt. Man habe die „Unruhw gestillet“, indem „ein pension gelegt unnd iedem Landtmann ein halber Dubell geben worden“ sei (Henggeler 1922: 156). Um den Zusammenhang wussten natürlich auch die französischen Botschafter in der Eidgenossenschaft, die von ihrer Residenz in Solothurn aus in alle eidgenössischen Orte hinein Fäden spannten und in den jeweiligen Obrigkeiten möglichst viele Parteigänger zu manipulieren versuchten. Jean de la Barde (1602-1692), ein besonders gewief-ter Diplomat im Dienst der französischen Krone, setzte Beat II Zurlauben 1657 unter Druck, als ihm dessen Strategien nicht mehr passten. Zurlauben hatte vorgeschlagen, die Mitglieder der Zuger Regierung mit Partikulargeschenken, „geheimen Pensionen“ also, für die Interessen Frankreichs zu gewinnen. De la Barde meinte auf diesen Vorschlag, er habe grundsätzlich nichts gegen dieses Vor-gehen. Allerdings müsse in Kauf genommen werden, dass die an die Honoratioren verteilten Beträge von der Summe abgehen würde, die Zurlauben sonst „au public“, also an die Bevölkerung, austeilen könne. Damit war der Plan vom Tisch (Acta Helvetica 17/167).

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2.3.3 Die Legitimitätskrise als Folge mehrfacher Regelverstöße Bis eine mächtige Honoratiorenfamilie von der Basis mit Mitteln des demokrati-schen Protestes von der Macht verdrängt wurde, mussten die tonangebenden Häupter die Ämter und Regale, die sie von der Öffentlichkeit zur Nutzung über-lassen bekommen hatten, in gravierender Weise missbraucht haben. An den ad personam verliehenen Privilegien zu verdienen, galt an sich nicht als anrüchig. Aber es kam auf das Maß an, wie ein weiteres Beispiel aus dem Kanton Zug verdeutlicht.

Zunächst störte sich in Zug niemand daran, dass die Familie Zurlauben dank bester diplomatischer Kontakte zu Frankreich seit dem ausgehenden 17. Jahr-hundert die Salzimporte aus der Freigrafschaft Burgund kontrollierte. Natürlich handelte es sich beim „Salzregal“ um ein öffentliches Regal, das der Allgemein-heit einen Nutzen einbringen sollte. Dieser brauchte aber nicht unbedingt finan-zieller Art zu sein. Wenn die Zurlauben die Versorgung der Bevölkerung nach-haltig sichern konnten, sollte die Familie davon doch ruhig ihren eigenen Profit haben. Das Stimmvolk tolerierte also zunächst, dass die Zurlauben mit Frank-reich einen Privatkontrakt ausgehandelt hatten, ohne die ordentlichen politischen Institutionen Zugs einbezogen zu haben. Die Allgemeinheit war wenig argwöh-nisch, denn schließlich hatte die Familie über Jahre breites Vertrauen in ihre Verlässlichkeit in geschäftlichen und diplomatischen Belangen geschaffen. Dass sich das seit Generationen dominante Geschlecht auch um die Versorgung des Ortes mit einem lebenswichtigen Rohstoff – positiv ausgedrückt – kümmerte, konnte vor diesem Hintergrund durchaus als Dienst an der Allgemeinheit durch-gehen.

Es bedurfte weiterer Missstände, bevor das mächtige Häuptergeschlecht im ersten Zuger „Harten- und Lindenhandel“ (1728-1736) gestürzt werden sollte.28 Am Anfang stand der Unmut der Zuger Bevölkerung über die parteiische Vertei-lung der französischen „Pensionen“ durch die Familie. Die Protestierenden ver-langten in erster Linie eine gerechtere Austeilung der Bündnisgelder unter alle Bürger. In Verbindung damit sollte der Handel mit französischem Salz verstärkt dem ganzen Stand zugute kommen. Entscheidend für den Fall des Aristokraten-clans war aber, dass auf dem Höhepunkt der Krise ein innerfamiliärer Zwist, der von einigen Familienhäuptern noch unglücklich geschürt wurde, das Geschlecht spaltete. Die politische Handlungsfähigkeit der Familie war somit eingeschränkt (Morosoli 2005). Erschwerend kam hinzu, dass der französische Botschafter

28 Unter der Bezeichnung „Harten- und Lindenhandel“ fallen zahlreiche politische Konflikte in den Innerschweizer Orten des 18. Jahrhunderts. Es handelte sich in erster Linie um Parteikämpfe zwi-schen den Anhängern unterschiedlicher fremder Mächte. Unter den „Linden“, den Weichen, werden jeweils die Anhänger Frankreichs verstanden.

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Jean-Louis de Bonnac (ca. 1672-1872), der sich als Freund der Familie zunächst noch vermittelnd in den Familienstreit eingeschaltet hatte, den Zurlauben all-mählich seine Unterstützung entzog.

Die Opposition gegen die Zurlauben scharte sich um den charismatischen Ratsherrn Josef Anton Schumacher (1677-1735).29 Nach der Verurteilung und Verbannung des für den Salzhandel verantwortlichen Fidel Zurlauben (1675-1731) im Jahr 1729 wurde Schuhmacher 1731 zum Ammann gewählt. Die Zurlauben verloren ihre Ämter und Regale. Zudem mussten sie bezeichnender-weise Entschädigungszahlungen an die Zuger Bevölkerung entrichten. Dass von der Basis Wiedergutmachung gefordert und in der Folge auch tatsächlich Repa-rationen geleistet wurden, untermauert die Bedeutung des korrekten Umgangs mit Kollektivbesitz, der das zentrale Element politischer Legitimation – so die hier vertretene These – darstellte.

Auch der weitere Konfliktverlauf stützt diese Behauptung: Endlich an der Macht, kündigte Schuhmacher das Bündnis mit Frankreich, und beging damit einen gravierenden Fehler, da fortan keine „Pensionen“ mehr ins Land flossen. Mit seiner Politik zerstörte Schuhmacher eine wichtige, dem Kollektiv zugeeig-nete Ressource: die französischen Bündnisgelder versiegten. Die Basis begann zu bröckeln (Schläppi 1998: 30). Anfang 1735 wurde Schuhmacher von allen Ämtern enthoben und schon im Mai wegen Verbrechen gegen Friede und Ord-nung zur Galeere verurteilt. Im Gegenzug wurden die verurteilten Zurlauben rehabilitiert, und bereits 1736 kehrte Zug ins Bündnis mit Frankreich zurück. Die „Pensionen“ wurden fortan gleichmäßiger verteilt und als Gegenleistung für das Salzregal neue sog. „Verehrgelder“ an die „Burgerschaft“ ausgegeben (vgl. Mo-rosoli 2005).

Dieses Beispiel dokumentiert, dass sich effektvoller Widerstand gegen die Herrschaftsstruktur nur dann regte, wenn die Angehörigen der Obrigkeiten die Grundsätze einer „moralischen Ökonomie“ verletzten, d.h. gegen die unge-schriebenen Gesetze einer als fair und angemessen angesehenen Verteilung des Nutzens aus den kollektiven Ressourcen verstießen.30 Die Zustimmung zur Herr-

29 „Charisma“ zu haben, war ein entscheidender Faktor, damit ein Rebellionsführer aus einfachen Verhältnissen sich erfolgreich gegen die etablierte Aristokratenkaste in Szene setzen konnte (Brändle 2005: 165-210). 30 Das für die Geschichtswissenschaft zentrale Konzept der „moralischen Ökonomie“ – den Begriff „moral economy“ prägte ursprünglich der britische Historiker Edward P. Thompson – auf das Feld der kollektiven Ressourcen angewandt, besagt, dass eingeschliffene Erwartungshaltungen (beispiels-weise der regelmäßige Empfang von „Pensionen“, und seien die Summen noch so klein), von den Herrschenden respektiert werden mussten. In Anlehnung an Maurice Mauss konstituiert für Gerhard Göhler und Rudolf Speth „ein komplexes System von Gabe und Gegengabe einen sozialen Verbund und ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Mitglieder“. Die „Reziprozität von Gabe und Gegengabe“, die „Idee eines gleichen und gerechten Tausches“ begründe überhaupt „Gesellschaft“ (Göhler/Speth

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schaftsstruktur war wesentlich abhängig vom Grad der Teilhabe am Allgemein-gut. Rebellionen wurzelten in der dauerhaften und ostentativen Missachtung eingespielter Vorstellungen vom Umgang mit dem Gemeingut. Zum politischen Umsturz bzw. zur Auflösung der Legitimität der Herrschaft kam es erst, wenn die regierende Minderheit so lange und so massiv gegen die Regeln a), b) und c) verstieß, bis die Mehrheit der nutzungsberechtigten Korporationsmitglieder schließlich die Regeln d) und e) durchsetzte.31

3 „Gemeinnutz“ – Legitimierende Chiffre für Obrigkeit oder Untertanen? Wenn soviel von Gemeingütern, Korporationsbesitz und kollektiven Ressourcen die Rede ist wie in diesem Beitrag, liegt es nahe, über die enge semantische Ver-bindung zum Begriff „Gemeinnutz“ nachzudenken. „Gemeinnutz“ ist für Winf-ried Schulze „der zentrale programmatische Begriff des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Staatsdenkens“ (Schulze 1986: 597). Peter Blickle erkennt im „Gemeinen Nutzen“ einen „politikkulturellen Leitbegriff“, dem er „normativen Charakter für jede Form politischer Machtorganisation“ zuschreibt. Nach Blickle ist das Konzept des Bonum commune eindeutig kommunalen Ursprungs. Aller-dings legitimierten auch Könige und Fürsten „ihre politische Macht, indem sie den Gemeinen Nutzen in ihre Herrschaftslegitimation“ implementierten (Blickle 2001: 104). Wie verhielt es sich in den Republiken der frühneuzeitlichen Eidge-nossenschaft mit dem Gemeinwohl?

Der Venezianer Giovanni Battista Padavino (1587-1618, Lebensdaten nicht gesichert) verglich die politischen Verhältnisse in der Eidgenossenschaft mit

1998: 28). Der Primatologe Frans de Waal schließt von seinen im Tierreich gewonnenen Erkenntnis-sen auf die Natur des menschlichen Zusammenlebens und kommt zu folgendem Befund: „Haben oder nicht haben, mit Beschlag belegen, stehlen, Reziprozität, Gerechtigkeit: alles hat mit dem Teilen von Ressourcen zu tun, einem Hauptthema der menschlichen Moral“ (Waal 2005: 264). 31 Gewisse Indizien weisen darauf hin, dass die Bürgerschaften, die Mitglieder der Korporation, ihre Sanktionsmittel dosiert und wohl bemessen einsetzten. Nicht immer wurde der Aufstand geprobt und gleich das Regiment gestürzt. Vielfach setzten die Gemeindeversammlung auch nur punktuelle Zeichen und sprachen den Machthabern ausgesuchte Privilegien ab. So entzog die Zuger Gemeinver-sammlung den „Gnädigen heren“, den Magistratspersonen, im Jahr 1668 per Handmehr zahlreiche „Collaturen uber ville pfründen“ (Acta Helvetica 110/74DD). Das Kollatur- oder Patronatsrecht befugte seinen Inhaber, in den durch den Rechtstitel definierten Kirchgemeinden die Pfarrer einzu-setzen. Die Besetzung von Pfarreistellen und Pfründen stellte in der frühen Neuzeit ein geeignetes Herrschaftsinstrument dar. Außerdem war die Laufbahn im Kirchendienst eine wichtige Alternative, um überzählige Familienmitglieder, für die keine politischen oder militärischen Posten offen standen, angemessen zu versorgen. Entsprechend konsterniert war Beat Jakob I Zurlauben (1615-1690) darü-ber, dass die Gemeinde „Meine Gn. Heren einer 200 Jährigen Possesion endt setz“ hatte.

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Musik, die sich – obwohl aus gegensätzlichen Klängen und Tönen zusammenge-setzt – zu Wohlklang vereinige („siccome la musica, composta di voci e suoni contrarj, rende piacevole e dolcissima armonia“). Die Verfassungen seien der Natur der Menschen und der einzelnen Orte angepasst („costituzioni, accomo-datissime al naturale delle persone e dei luoghi“), und das ganze System werde von der Notwendigkeit des Gemeinwohls („dalla necessità della commune salvezza“) getrieben (Padavino 1874: 1-2). Auch ausländische Beobachter sahen im „Gemeinnutz“ das zentrale Movens schweizerischer Politik.

An dieser Stelle soll nochmals der mehrfach zitierte Beat II Zurlauben zu Wort kommen. Die aufreibende Gemeindeversammlung von 1647, als Martj Poschart „den burgern Jre fryheit“ reklamiert hatte, hinterließ einen sichtlich erschütterten Zurlauben (vgl. Kap. 2.3.1). Der Magistrat gab seiner Ernüchterung in Form eines Gedichtes Ausdruck, in dem er Gott die großen Dienste anemp-fahl, die er der Allgemeinheit stets geleistet habe:

„Gott weysst myn arbeit, und myn müehe / die ich getragen, Nit Nur hie / Mit mynem eignen costen, schaden, / Mit sorg und angst mich überladen / So ist doch kein dankh by der Welt / dass Spruchworth aber Zwärkh gestelt / dass wär thuot die-nen der gemeind / der dienet Zletst fyr gar enkhein / qui serv al Commun serva nissun“ (Acta Helvetica 142/90).32

Ein Jahrzehnt später kam das Selbstverständnis des Gemeindepolitikers als Die-ner der Allgemeinheit in anderem Zusammenhang nochmals zum Ausdruck. Um 1657 war unter den katholischen Orten der Eidgenossenschaft eine heftige Aus-einandersetzung um den extrem ehrgeizigen, schillernden und deswegen vieler-orts verhassten Politiker Sebastian Peregrin Zwyer (1597-1661), der sog. „Zwyerhandel“, im Gang. Beat II Zurlauben war zum Vermittler in diesem Kon-flikt gewählt worden. In der Analyse der Ereignisse schlug er den Bogen von Zwyers egoistischem Naturell zu den politischen Verhältnissen, ein bemerkens-werter Gedankengang. Aus „des Zwyers geschefft Und dessen durchgehenden

32 Sinngemäße Übersetzung: Gott allein kennt die Arbeit und Mühe, die ich auf mich genommen habe. Nicht nur daheim habe ich mir auf eigene Kosten und eigenen Schaden Sorgen und Ängste aufgeladen. Und doch gibt es keinen Dank. Stattdessen wird das Sprichwort bestätigt, wer der All-gemeinheit dient, dient zuletzt gar niemandem. – Schon 1633 hatte Zurlauben nach einer besonders intensiven Zeit als eidgenössischer Gesandter im Dreißigjährigen Krieg bilanziert, er habe großen „Landtsgmeindcosten“ und andere „umbcosten uffen Tagsazungen“ (Kosten für Reisen auf eidgenös-sische „Tagsatzungen“) gehabt. Und dennoch habe er davon „by Niemandt dankh, sonders nuer das widerspil“. Gleich wie es schon seinem Vater gegangen sei (Acta Helvetica 5/103). Das Thema zog sich durch, offenbar zu Recht. Bereits Max Weber argumentierte, die Honoratiorenverwaltung sei, „wenn aktuelle und sehr dringliche Wirtschafts- und Verwaltungsbedürfnisse präzises Handeln erheischen, zwar ‚unentgeltlich‘ für den Verband, aber zuweilen ‚kostspielig‘ für dessen einzelne Mitglieder“ (Weber 19805: 171).

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bösen beschaffenheit“ könnte „vil guots erlernet werden“. So sollte es „furnem-lich den Jenigen, so Jn furnemen Aembtern undt geschefften gebrucht werden ein Lehr und warnung“ sein, „dess vaterlandts gemeinen, Jrem eignen Nuzen“ voranzustellen. In „unseren democratischen Regiment“ könne man „nit monar-chische meynungen einfüehren, mit glissnerischen complimenten ander Lüth an sich züchen, mit vergebenlichen Vertrostungen ingannieren und bethören“. Es gehe nicht an, „für syn erhöchung an ehren undt guot, gar vil, und für dass ge-meine wesen gantz nichts usszewürkhen“ (Acta Helvetica 142/241). Besetzten also die Herrschenden den „Gemeinen Nutzen“ als ideologischen Begriff?

Vor dem Hintergrund der Konzepte Pierre Bourdieus ist für Gerhard Göhler und Rudolf Speth im Hinblick auf die Funktionsweise von Herrschaft entschei-dend, „wer die Benennungsmacht innehat und damit eine neue Weltsicht schaf-fen kann“. Wer den Begriff des „Gemeinen Nutzens“ definieren kann, legt den Rahmen fest, in „dem konkurrierende Sinnstiftungen operieren müssen“. Hier liegt für Bourdieu „symbolische Macht“, nämlich die Macht, „durch Bezeich-nung und Benennung“ wirkungsmächtige „Klassifikationssysteme zu etablie-ren“. Solche Deutungsmuster sozialer Wirklichkeit bedürfen der Anerkennung durch die beteiligten Parteien. Der „Kampf der sozialen Gruppen“ ist letztlich „ein Kampf um die symbolische Herrschaft, um die Macht über den Gebrauch von Zeichen und Begriffen und über die Sicht der natürlichen und sozialen Welt“. Ist diese Sicht erst einmal etabliert, so leiten sich aus ihr „Verhaltenswei-sen und Handlungsorientierungen“ ab, die von allen angewendet werden, die „aber keineswegs primär durch subjektive Zustimmungsleistungen“ bestätigt werden müssen, denn das Gemeinsame in der Gesellschaft wird „durch Symbole hergestellt und aufrechterhalten“. Das Symbolische ist weder zweckfrei noch spielerisch. Vielmehr konstituiert bzw. legitimiert es Herrschaft (Göhler/Speth 1998: 37-38, 40, 44, 47-48)

Wird dieser Gedankengang auf die Ausführungen im Kapitel „Reziprozität und Symbolhandeln“ (Kap. 2.3.2) übertragen, so ergibt sich eine paradoxe Situa-tion. Die geschilderten symbolischen Praktiken im Kontext der Verteilung des Profits aus den kollektiven Ressourcen wurden nicht von einer Partei allein be-stimmt. Es setzten sich nicht einfach Machteliten gegen Untertanen durch. Viel-mehr beglaubigten sich die Beteiligten im Ritual gegenseitig den herrschaftli-chen Status bzw. die Rechtmäßigkeit der materiellen Ansprüche der jeweils anderen Gruppe. Innerhalb der geschilderten Modalitäten funktionierten Herr-schaft und ihre Legitimation als hegemoniale Pendelbewegung. Die Apodiktik der Macht begriff gegenseitige Bestätigung mit ein.

So gesehen diente der „Gemeine Nutzen“ einerseits den Herrschaftseliten als normativer Begriff und zentraler Baustein für ihre Legitimität. Andererseits hatte der Begriff seinen Ursprung eben auf „der kommunalen Ebene“ und wurde

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deshalb „begründend für republikanische Regimentsformen“ (Blickle 2001: 104). So figurierte der „Gemeinnutz“ in der Gesetzgebung frühneuzeitlicher Obrigkeiten in der Tat „als Leitmotiv und Regulativ“ für staatliche Ordnungs-bemühungen, legitimierte gleichzeitig aber den sozialreformerischen und -revo-lutionären Widerstand von Bürgern und Bauern (Holenstein 2005).

4 Zusammenfassung: Legitimität durch rituelle Reziprozität und Machtverzicht

Die präsentierten Überlegungen beschreiben anhand der politischen Kultur im eidgenössischen Bündnisgeflecht, der Bedeutung lokaler Autonomie und der Praktiken der Legitimation durch Verfahren und Reziprozität die Funktionsweise politischer Herrschaft und deren Legitimität.

Das Schweizer Beispiel kontrastiert traditionelle Auffassungen von Macht-mechanismen, welche – dem Selbstverständnis und dem Machtanspruch absolu-tistischen Herrschertums getreu – Herrschaft als einseitiges top-down-Szenario verstehen. Der überlieferte Respekt vor Autonomieansprüchen und die Vorstel-lung von korporativ unterlegter Solidarität zwischen unterschiedlichen Teilen der Bevölkerung implizierte einen schwachen Staat. Die Herrschaft der regierenden Aristokratengeschlechter „basierte elementar auf einer Politik des gezielten Machtverzichts in gewissen Bereichen“ (Holenstein 2006b: 565). Dem paterna-listischen Regierungsstil entsprach, dass sich die Patriziate der eidgenössischen Orte hinsichtlich aufwändiger Repräsentation Zurückhaltung auferlegten. Natür-lich orientierten sich die herrschenden Schichten im Privaten am höfisch-adeligen Lebensstil. Mit einer gezielten Beschränkung des öffentlich sichtbaren Aufwands sowie des ostentativen Konsums raffinierter Güter dokumentierten sie gleichzeitig „das feine Gespür der Regierenden für das kulturell-symbolische Fundament ihrer Macht“ (Holenstein 2006b: 565).

Zwangsmittel, Machtapparate und Instrumente zur fiskalischen Ressourcen-abschöpfung fehlten in der alten Eidgenossenschaft weitgehend. Herrschaft legi-timierte sich erstens über den Erfolg eingespielter Konfliktschlichtungsverfahren (Kap. 2.1), zweitens über die Rücksichtnahme auf lokale Autonomietraditionen, welcher den politischen Institutionen auf unterer Ebene weitgehende Gestal-tungsräume offen hielt (Kap. 2.2), drittens über die Respektierung etablierter Partizipations- und Nutzungsansprüche, die breite Kreise geltend machten (Kap. 2.3). Insgesamt schufen nachhaltige Nutzung öffentlichen Besitzes, die breit gestreute Verteilung der ausländischen Gelder unter die Bevölkerung und ein fürsorgerischer Distributivapparat auf kommunaler wie staatlicher Ebene die zur Aufrechterhaltung des herrschaftlichen Gefüges erforderliche Legitimität.

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Die Forschung kritisierte wiederholt, ständisch-korporative Traditionen hät-ten die Entwicklung eines modernen Staatswesens blockiert. In der Tat misslan-gen in den eidgenössischen Orten die für moderne Staatswesen charakteristi-schen Errungenschaften. Eine funktionierende Steuerbürokratie konnte ebenso wenig aufgebaut werden wie ein stehendes Heer. Der Staat blieb finanziell schwach und hinsichtlich des Gewaltmonopols auf den Goodwill der Bevölke-rung angewiesen. Anstelle eines Berufsbeamtentums wurde in Militär und Ver-waltung am aus dem Spätmittelalter ererbten Milizsystem festgehalten. Trotz dieser vermeintlichen Rückständigkeit sollte nicht vergessen werden, dass diese Strukturen offensichtlich auf eine hervorragende Legitimationsbasis bauten und genau deshalb außerordentlich stabil waren. Literatur Aargauischen Kantonsbibliothek (1976ff.): Regesten und Register zu den Acta Helvetica,

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Das politische System der Region Kurdistan im Irak seit 1991 Frank Wehinger 1 Einleitung Die Region Kurdistan im Irak besteht im Wesentlichen aus den drei Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaimaniyya im Norden des Landes mit Teilen der angren-zenden Provinzen unter De-facto-Verwaltung der Kurden. Sie entstand nach dem Golfkrieg von 1991, als die Kurden die Verletzbarkeit der irakischen Regierung zum Aufstand gegen das Baath-Regime nutzten und aufgrund der Gegenmaß-nahmen der irakischen Armee eine Schutzzone unter Überwachung der westli-chen Alliierten eingerichtet wurde. Seitdem steht das Gebiet unter der Kontrolle von zwei Gruppierungen mit starker Fokussierung auf ihre Chefs: der Kurdi-schen Demokratischen Partei (KDP) unter dem Vorsitz von Massud Barzani, Sohn des legendären Kurdenführers Mustafa Barzani (1903-1979), sowie der Patriotischen Union Kurdistans (PUK) mit dem Generalsekretär Jalal Talabani. Die Region Kurdistan unterscheidet sich in mindestens zwei Aspekten von ande-ren politischen Systemen des Vorderen Orients: Zum einen befindet sie sich seit der Trennung von der Zentralregierung in Bagdad im Zustand fortwährender Transformation, die ihren Ausdruck in der Gründung eigener kurdischer Verwal-tungsstrukturen und anschließenden Kämpfen zwischen rivalisierenden Gruppen findet. Seit dem Sturz des Regimes von Saddam Husseins 2003 ist wiederum eine völlig neue Situation für die kurdischen Parteien entstanden, die jetzt an der Neuordnung des Iraks an vorderster Stelle beteiligt sind. Zum zweiten waren die staatlichen Strukturen in der Region Kurdistan schon immer sehr schwach, staat-liche Institutionen hatten in weiten Teilen dieses Gebietes keine lange Tradition. Vor diesem Hintergrund ist es keine leichte Aufgabe, Legitimität und Funkti-onsweise der politischen Herrschaft in der Region Kurdistan zu beschreiben. Es können lediglich Aussagen begrenzter Reichweite getroffen werden, die einige Charakteristika des politischen Systems aufgreifen, die verhältnismäßig konstant und Struktur bildend sind. Ziel dieses Kapitels ist es, diese allgemeinen Merkma-le darzustellen, wobei ich mich auf die analytische Konzepte der sozialwissen-

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_10,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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schaftlichen Forschung über den Vorderen Orient stütze1 und mich zeitlich auf die Periode zwischen 1991 und 2007 beschränke. Diese theoretischen Konzepte beschreibe ich im nächsten Abschnitt, danach stelle ich kurz die politische Ent-wicklung seit dem Ende des zweiten Golfkrieges 1991 im Nordirak dar. An-schließend untersuche ich die vorhandenen Merkmale von Staatlichkeit in der Region Kurdistan, gehe auf die Art der Politikprozesse ein und stelle die Legiti-mität der Herrschaftsausübung dar.

2 Staatlichkeit und (neo-)patrimoniale Herrschaft Der Verlust der Staatlichkeit kann auf unterschiedliche Weise vor sich gehen (siehe Akude et al. in diesem Band). Der Staat kann sich aufgrund kriegerischer Konflikte auflösen, der Staatszerfall kann aber auch ohne zeitgleich stattfindende bewaffnete Auseinandersetzungen eintreten. Ab einem gewissen Stadium hat man in beiden Fällen gescheiterte Staaten vor sich: Gebilde, die völkerrechtlich und von der internationalen Staatengemeinschaft als Staaten behandelt werden, auch wenn sie faktisch oft nicht mehr als leere Hüllen sind und ein Funktionieren staatlicher Institutionen nur in geringem Umgang oder fast nicht mehr messbar ist. Ein Beispiel dafür ist der Irak in einigen Landesteilen seit dem zweiten Golf-krieg. Mit der gescheiterten Besetzung von Kuwait durch Saddam Hussein von 1991 war eine Erosion der staatlichen Herrschaft zu verzeichnen, wovon vor allem die Stämme profitierten (Wimmer 2003: 119). Vor allem aber verlor die Zentralregierung in Bagdad die Kontrolle über Teile des Staatsgebietes. Seit 1992 konnte sich ein beträchtlicher Teil des überwiegend kurdisch besiedelten Nordens der Herrschaft Saddam Husseins weitgehend entziehen. Wie lässt sich das dort seit zwei Jahrzehnten entstehende Gebilde charakterisieren? Als Stam-mesgebiet, anarchisch geprägtes Territorium oder als Staat? Es drängt sich die Hypothese auf, dass hier das Gegenteil eines „Quasi-Staates“ (Jackson 1990) vorliegt, bei dem nicht eine völkerrechtliche Qualifizierung als Staat bei gleich-zeitiger Auflösung staatlicher Strukturen vorliegt, sondern der Aufbau staatlicher Strukturen bei gleichzeitiger Nicht-Anerkennung als Staat.2 Die so genannte Autonome Region Kurdistan hat sich in den 90er Jahren zu einem weitgehend selbständigen politischen Gebilde entwickelt, dessen Beziehungen zur irakischen Regierung bei anhaltender militärischer Bedrohung von großen Spannungen geprägt war. Gleichzeitig hat sich das Gebiet nicht vom Irak losgesagt und die staatliche Eigenständigkeit proklamiert, was auch angesichts der zwischenstaatli- 1 Einen Überblick über die auf die politischen Systeme des Vorderen Orients angewandten Analyse-raster gibt Pawelka (2000). 2 Ich danke André Bank für Hinweise.

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chen Verhältnisse in der Region kaum machbar gewesen wäre. Faktisch ist es dennoch möglich, dass staatliche Strukturen vorhanden sind, auch wenn damit nicht ein eigener Staat im völkerrechtlichen Sinne vorliegen muss.

In Anlehnung an die viel zitierte Definition von Max Weber kann man als Staat einen politischen Verband bezeichnen, der über „das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen“ verfügt (Weber 1972: 29). Dies sagt noch nichts über die Art der Herrschaftsausübung oder der Legitimität aus, enthält aber mindestens zwei Elemente, die für einen Staat kon-stituierend sind: dass ein Monopol besteht und dass dieses legitimiert sein muss. Es wird daher im Weiteren zu zeigen sein, ob und, wenn ja, welcher politische Verband in der Region Kurdistan über das Gewaltmonopol verfügt und ob er bei der Ausübung der „Gewalt“ über ausreichende Legitimität verfügt, so dass die Region Kurdistan zumindest als „state-within-a-state“ (Kingston/Spears 2004) bezeichnet werden kann. Außerdem soll, soweit dies in diesem Rahmen möglich ist, auf die Funktionsweise der staatlichen Herrschaft eingegangen werden. Die sozialwissenschaftliche Analyse der politischen Systeme des Vorderen Orients fußt auf einer Reihe von Modellen, die in den letzten Jahrzehnten Eingang in das Repertoire klassischer Ansätze gefunden haben. Der Neo-Patrimonialismus wird als der im Vorderen Orient am häufigsten anzutreffende Systemtyp angesehen.

Beim Neo-Patrimonialismus handelt es ich um „das vorherrschende politi-sche Muster, weil er im Gegensatz zum reinen Autoritarismus personale und informelle, statt institutionelle Interaktionen und Kommunikation praktiziert“ (Pawelka 2002: 432). Im Zentrum des Systems steht ein Herrscher, der Macht mittels seiner persönlichen Ressourcen ausübt. Ein ausgeklügeltes Gewebe insti-tutioneller Verfahren und Regeln, die in den politischen Systemen der westlichen Welt die Politikformulierung und -implementierung in vorgegebene Bahnen lenken, existiert hier in dieser Form nicht. Es sind daher nicht die durch Verfas-sung und andere vorgegebene Umstände zugewiesenen Rechte und Schranken, die der Herrscher beachten muss. Allein der Grad seiner Machtfülle ist aus-schlaggebend, die dementsprechend theoretisch schrankenlos sein könnte.

Die Machtausübung selbst geschieht über die personalpolitische Kontrolle der Exekutivorgane, die dem Herrscher loyal verbunden sind. Die Loyalität wird aufrechterhalten, indem der Herrscher versucht, seine Untergebenen von ihm abhängig zu machen. Dies kann durch die Verfügung über das berufliche, politi-sche oder wirtschaftliche Fortkommen oder durch Zuweisung von materiellen Ressourcen geschehen. In den klassischen neo-patrimonialen Systemen des Vor-deren Orients ist ein wichtiges Herrschaftsinstrument die alles kontrollierende Bürokratie, auf die der Herrscher durch die Vergabe von Posten Einfluss ausübt. Dabei kann der Herrscher natürlicherweise nur die Besetzung der oberen Posten selbst bestimmen. Indirekt kann er aber die gesamte Bürokratie kontrollieren, da

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die von ihm favorisierten und ins Amt gehievten Bürokraten ihrerseits wieder ihnen passendes Personal auswählen, so dass schließlich ein Netzwerk wechsel-seitiger Abhängigkeiten entsteht, das in der Person des Herrschers gipfelt.

Dadurch unterscheidet sich die Bürokratie in patrimonialistisch interpretier-ten Systemen von der „rationalen“ Verwaltung, wie sie Max Weber beschrieben hat. Es steht oftmals die Art der Beziehung zum Vorgesetzten im Vordergrund, nicht so sehr die administrative Kompetenz. Die Aktivitäten der Bürokratie sind weniger systematisch und auf Lösung sachlicher Probleme bezogen: „These [administrations] were focused around ‚ad hoc , particularistic, regulative and distributive, rather than on the more continuous, and universalistic criteria“ (Ei-senstadt 1973: 36). Eisenstadt weist außerdem darauf hin, dass dies nicht bedeu-ten muss, dass die Bürokratie weniger breite Aufgaben wahrnimmt, vielmehr können solche Systeme überaus umfassende Beamtenapparate mit komplexer Organisation entwickeln. Das Ergebnis ist in der Regel eine aufgeblähte, ineffi-zient arbeitende Bürokratie.

Die gleiche Struktur findet sich neben der Bürokratie auch in anderen Sek-toren der Gesellschaft: dem Militär, der Wirtschaft, der Religion, anderen gesell-schaftlichen Organisationen und schließlich der unmittelbaren Umgebung des Herrschers. Auch die Wirtschaft wird somit grundsätzlich vom Herrscher be-stimmt. Er bedient sich dabei nicht unbedingt nur einer Planwirtschaft oder staat-lichen Betrieben, sondern ermöglicht bestimmten Segmenten der Bevölkerung privatwirtschaftliches Handeln in den von ihm festgelegten Grenzen. Damit wird das Entstehen und Vergehen wirtschaftlicher Eliten gezielt gesteuert, so dass hier keine Gefährdung für die Herrschaft heranwächst.

Ein bestimmendes Merkmal des Neo-Patrimonialismus ist, dass die Eliten auf den verschiedenen Ebenen (Top-Elite, mittlere Elite etc.) und in den ver-schiedenen Bereichen (Bürokratie, Wirtschaft etc.) gegeneinander ausgespielt werden (Pawelka 1985: 25). Durch unklare Regelungen, widersprüchliche An-weisungen und konkurrierende Kompetenzzuweisungen steht die Führungs-schicht in einem ständigen Wettbewerb miteinander. Durch diesen Mechanismus verhindert der Herrscher die Herausbildung von starken Machtzentren, die sich verselbständigen und ihm die Macht streitig machen könnten. Dieses Vorgehen garantiert eine gesicherte Herrschaftsausübung, macht das System insgesamt aber wiederum ineffizienter, da zahlreiche Reibungsverluste entstehen. Insge-samt ist ein solches System als „starker Staat“ zu qualifizieren, was die Kontroll-dichte anbelangt; andererseits ist dieser Staat gegenüber den politischen Syste-men der westlichen Industrieländer instabiler, da der Herrscher immer unter dem Druck eines unfreiwilligen Regimewechsels steht, der möglicherweise mit einer Auflösung der bisherigen Ordnung einhergeht.

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Die Art der Herrschaftslegitimierung folgt in patrimonialen Systemen eben-falls bestimmten Mustern. Diese beruht auf einer traditionellen Loyalität (Pawelka 1985: 24). Der Herrscher ist für das Wohlergehen seiner Untergebenen verantwortlich, während diese ihm dafür Gefolgschaft schulden. Mitbestimmung und Teilhabe an der Politik durch die Bevölkerung stehen nicht im Vordergrund. Die Herrschaft kann durch Abstammung oder religiöse Ableitung zusätzlich begründet werden. Ist der Herrscher Mitglied einer seit alters her einflussreichen Familie mit Führungsanspruch in Politik oder Religion, kann beim Übergang von traditionellen zu post-traditionellen Gesellschaften mit Elementen moderner Staatlichkeit ohne weiteres auf diese Ressource zurückgegriffen werden. Bevor untersucht wird, welche staatlichen Strukturen die Region Kurdistan im Irak besitzt und ob sich die Herrschaftsausübung entlang der Linien des vorgestellten Konzeptes beschreiben lässt, sollen die Ereignisse seit Beginn des Autonomie-status kurz skizziert werden. 3 Politische Entwicklungen in der Region Kurdistan seit 1991 Ende der 80er Jahre begannen nach verheerenden Jahren der gewalttätigen Kon-frontationen zwischen den kurdischen Parteien und dem Baath-Regime Bemü-hungen der zersplitterten kurdischen Opposition zu einem einheitlichen Vorge-hen gegen Bagdad. Im Mai 1988 wurde die „Kurdistan-Front“ gegründet, der neben den beiden großen Parteien KDP und PUK auch weitere kleine Parteien angehörten, wie z.B. die Kommunistische Partei Iraks (KPI). Vor allem die KDP und die PUK verfügten über zahlreiche Kämpfer, so genannte Peshmergas, und führten einen Guerilla-Krieg gegen die irakische Zentralregierung. Als nach der Vertreibung der irakischen Armee aus Kuwait im zweiten Golfkrieg 1991 der amerikanische Präsident George Bush sen. zum Volksaufstand gegen das Baath-Regime aufrief und es im vornehmlich schiitisch bewohnten Süden des Landes zu Revolten kam, begann auch die Bevölkerung in den drei Nord-Provinzen, sich spontan gegen das Regime von Saddam Hussein zu erheben (Salih 2004: 65). Nach bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der irakischen Armee und Peshmerga-Einheiten, bei denen die irakischen Streitkräfte die großen Städte, darunter auch Erbil und Sulaimaniya, besetzen, kam es zur Massenflucht von Kurden in die von kurdischen Peshmerga kontrollierte Gebiete und in die Nach-barstaaten Iran und vor allem Türkei. Aufgrund des entstandenen Drucks durch die Weltöffentlichkeit sahen sich die alliierten Mächte gezwungen, eine Schutz-zone im Norden Iraks einzurichten, aus der sich die irakische Armee zurückzie-hen musste. Durch ein Wirtschaftsembargo und den Abzug der Verwaltungsbe-amten bzw. die Einstellung der Gehaltszahlungen wollte Saddam Hussein die

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kurdische Bevölkerung dazu bringen, die Bagdader Zentralregierung zurückzuru-fen. Trotz der chaotische Verhältnisse, die auch zu einem Verlust der Durchset-zungsfähigkeit der politischen Führer von KDP und PUK führten, unterlagen diese Maßnahmen einer Fehleinschätzung seitens Bagdads, da nun die Kurden, allen voran die beiden großen Parteien, damit begannen, eine Selbstverwaltung aufzubauen, anstatt sich wieder der Zentralregierung zu unterstellen (Bengio 2004).

Am 19. Mai 1992 fanden schließlich Wahlen zu einem kurdischen Parla-ment und zum „Führer der Befreiungsbewegung in Kurdistan“ statt. Anschlie-ßend wurde eine Regierung gebildet, der neben Ministern der KDP und PUK auch Vertreter kleinerer Parteien und der Minderheiten (Turkmenen, Christen) angehörten. Die Wahl des „Führers“ wurde annulliert, da Talabani den knappen Wahlausgang zu seinen Ungunsten nicht anerkannte.

Die Arbeit des Kabinetts wurde zunehmend durch Spannungen zwischen den beiden großen Parteien behindert, die schließlich 1994 zu einem Ausbruch von Gewalt zwischen den Anhängern Talabanis und Barzanis führten. Der un-mittelbare Anlass dazu waren Grenzstreitigkeiten zwischen Anhängern der bei-den Parteien. Dahinter stand aber nicht zuletzt der Konflikt um die Einnahmen aus dem Grenzübergang zur Türkei bei Zakho, die die KDP allein für sich bean-spruchte, was wiederum von der PUK nicht hingenommen wurde (Salih 2004: 155). Die Kämpfe hielten mit unterschiedlicher Intensität und wechselndem Kriegsglück für beide Seiten bis 1996 an. Das Territorium der Region Kurdistan wurde dadurch faktisch in zwei Teile gespalten, wovon der südöstliche überwie-gend von der PUK, der nordwestliche überwiegend von der KDP beherrscht wurde. Eine gemeinsame Regionalregierung bestand nicht mehr, das Rumpfpar-lament ohne die Mitglieder der PUK-Fraktion verblieb in Erbil. Lediglich die Rechtsprechung war über die obersten Gerichte miteinander verbunden. Auf US-amerikanischen Druck hin normalisierten sich ab dem Washingtoner Überein-kommen von 1998 die Beziehungen zwischen KDP und PUK, womit für die Region Kurdistan eine Periode der relativen Ruhe begann. Eine neue Stufe der Zusammenarbeit begann wiederum auf Drängen der USA im Vorfeld des Ein-marsches amerikanischer und mit ihnen alliierter Truppen in den Irak. Beide Parteien unterstützten die amerikanischen Truppen im Nordirak bei ihrem Vor-marsch auf Bagdad. Auf das multiethnische Kirkuk mit in der eigentlichen Stadt möglicherweise, in der Umgebung sicher kurdischer Bevölkerungsmehrheit wird von PUK und KDP seit ihrem Einmarsch 2003 gemeinsam Einfluss ausgeübt. Erklärtes Ziel ist es, Kirkuk, das über einen sehr bedeutenden Anteil an der iraki-schen Ölproduktion verfügt, mit weiteren Städten in die Region Kurdistan einzu-gliedern.

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Zeitgleich mit den gesamtirakischen Parlamentswahlen wurden erstmals seit 1992 wieder Wahlen zu einem gemeinsamen Parlament in der Region Kurdistan abgehalten. Ein vorläufiger Höhepunkt der wieder aufgenommen Zusammenar-beit zwischen den beiden Parteien ist der Beschluss, die getrennten Regionalre-gierungen wieder zusammenzuführen. Dies geschah im Frühjahr 2006 mit der Bildung einer Regierung unter Neçirwan Barzani (KDP), dem Neffen des KDP-Vorsitzenden. Allerdings wurden einige wichtige Ministerien noch nicht mit ihrem jeweiligen Partnerministerium aus dem anderen Teil der Region fusioniert (Gunter 2006). Die Bildung einer gemeinsamen Armee auf Grundlage der Peshmerga-Einheiten der beiden Parteien steht ebenfalls zur Diskussion.

4 Transition zur Staatlichkeit? Wie bereits erwähnt, genießt die Region Kurdistan keine völkerrechtliche Aner-kennung als Staat, was nach Lage der Dinge auch fast unmöglich wäre. Trotz offenbar starker Unabhängigkeitsbestrebungen in der Bevölkerung, die bei einem inoffiziellen Referendum am Tag der Parlamentswahl 2005 zum Ausdruck ka-men (Ahmed 2007: 156), betonen die kurdischen Führer, dass sie keine Loslö-sung vom Irak betreiben, sondern einen starken Autonomiestatus in einem föde-ralen Irak anstreben. Inwieweit kann man nun von Staatlichkeit in der Autono-men Region Kurdistan sprechen?

Die Geschichte Kurdistans ist geprägt von einer im Vergleich zu anderen Gebieten des ehemaligen Osmanischen Reiches eher oberflächlichen verwal-tungsmäßigen Durchdringung. Die Osmanische Verwaltung bestand zwar und hatte auch Zentren in den heute nordirakischen Städten Mosul und Kirkuk. Das Osmanische Reich sicherte aber seine Herrschaft in den kurdischen Gebieten, indem die lokal vorhandenen Herrschaftsstrukturen genutzt wurden. Diese be-standen vor allem außerhalb der Städte aus Stämmen und gegebenenfalls aus tribalen Konföderationen, zu denen sich mehrere Stämme unter der Führung einer bestimmten Person zusammenschlossen (Bruinessen 2003). Aufstände der Kurden gegen die jeweilige politische Macht in ihrem Siedlungsgebiet – Osma-nisches Reich, Türkische Republik, englische Kolonialverwaltung, irakische Zentralregierung – wurden immer von solchen Koalitionen getragen, die aber kaum allumfassend waren. Stattdessen gibt es oft rivalisierende Gruppen, die sich der Unterstützung des Zentralstaats versichern, um ihre innerkurdische Machtposition aufrecht zu erhalten oder zu erweitern. So bediente sich die Bag-dader Zentralregierung solcher Stammesgruppen im Kampf gegen die kurdi-schen Aufständischen unter Führung von Mustafa Barzani, einem „traditional

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tribal chief“ (Gunter 1993: 19).3 In gleicher Weise ging die KDP in den kriegeri-schen Konflikten Anfang der 90er Jahre mit der irakischen Führung ein Bündnis ein, um die PUK wieder aus Erbil, der Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und der Autonomen Region Kurdistans, zu vertreiben. Dieses Muster war in der gesamten Geschichte Kurdistans vorherrschend, auch wenn die Konsolidierung des Baath-Regimes in Bagdad seit den späten 60er Jahren des letzten Jahrhun-derts einen stärkeren Zugriff auf die Bevölkerung in den kurdisch besiedelten Gebieten mit sich brachte. Dieser vollzog sich vor allem durch die Etablierung von Verwaltungsinstitutionen, in denen auch die lokale Bevölkerung Beschäfti-gung fand, und durch die Etablierung eines Systems der Rentenvergabe, oft in Form von Lebensmitteln (Leezenberg 2000: 2). Letzteres trifft besonders auf die neuen Siedlungen zu, in denen die Bevölkerung aus den von der irakischen Ar-mee bewusst zerstörten Dörfern zusammengezogen worden war (Wimmer 2003: 119). Nach der Etablierung der kurdischen Parteien in der Flugverbotszone ab 1991/92 brachen allerdings diese Verbindungen mit der Zentralregierung ab. KDP, PUK und die anderen mit ihnen in der Kurdistan-Front verbündeten Par-teien fanden eine tabula rasa vor. Es gab kein Monopol auf legitime Gewaltaus-übung mehr.

Die Entwicklung seit 1992 ist geprägt von den Versuchen einer Wiederge-winnung des öffentlichen Gewaltmonopols, das in den Wirren des Bürgerkrieges ab 1994 zeitweise verloren ging, dann nach Einstellung der Kämpfe in den bei-den Teilen der Region Kurdistan wieder eine gewisse Stabilität erreichte und sich schließlich seit dem Sturz Saddam Husseins und der neuen Rolle der Kur-den im Irak ab 2003 weiter konsolidiert.

Die Versuche, ein modernes Staatswesen aufzubauen, bewegen sich inner-halb der gleichen Konfliktlinien wie in Ländern mit vergleichbaren sozialen Bedingungen. Staat und subnationale politische Gemeinschaften wie Stämme verhalten sich komplementär zueinander (Wimmer 1997: 12). Im Irak war die Schwäche des einen stets die Stärke des anderen. So war die Zentralregierung gezwungen, mit den Stämmen im Norden und in anderen Teilen des Iraks zu kooperieren, wenn sie aufgrund innerer Schwäche oder außenpolitischer Bedro-hung nicht über genügend eigene Macht verfügte. Wenn der Staat erstarkte, sahen sich die Stämme dagegen in der Verteidigungsposition und mussten Be-deutungsverluste hinnehmen. Das gleiche Muster kann man innerhalb der Auto-nomen Region Kurdistan seit 1991 beobachten. Zunächst gab es überhaupt kei-nen Staat mehr. Die einzige Institution, über die Parteien Macht ausüben konn-ten, waren ihre Peshmerga-Truppen. Diese bestehen besonders im Fall der KDP

3 Allerdings war die Situation komplizierter als sich hier darstellen lässt, da viele der von Bagdad mit Waffen ausgestatteten Gruppen mit den Aufständischen kooperierten (McDowall 2004: 371).

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aus einem tribalen Kern, der sich um den Parteivorsitzenden gruppiert. Dieser versucht, weitere tribale Gruppen zu kooptieren und so seinen Machtbereich auszuweiten. Noch zu Beginn der 90er Jahre konnte von einem Machtmonopol keine Rede sein, da Stämme, die dem eigentlichen Machtkern nicht angehörten, zwischen den beiden großen Lagern je nach den Umständen wechselten und lokale Akteure teilweise starke Positionen einnahmen (Wimmer 2002: 124). Selbst in der Hauptstadt Erbil übten die Regierung oder die beiden Parteien nicht die alleinige Kontrolle aus (Leezenberg 2006). Auch die Herrschaftsausübung mit militärischen Mitteln stieß an ihre Grenzen, da Peshmerga-Truppen nicht im beliebigen Umfang einsetzbar sind und zudem viele von ihnen von den Stämmen selbst gestellt wurden, die nicht zur innersten Machtbasis Barzanis oder Talabanis zählten. Deren Macht stützte sich somit auf Konglomerate von Ver-bündeten mit ausfransenden Rändern.

Die Situation verbesserte sich für die beiden Parteien, als neben militäri-schen und polizeilichen Mitteln auch finanzielle Ressourcen traten. Materielle Ressourcen stammten überwiegend aus drei Quellen: Zunächst vor allem huma-nitäre Hilfe durch internationale Hilfsorganisation, später vermehrt „Zolleinnah-men“ aus der Kontrolle des Grenzhandels mit der Türkei (und zu einem geringe-ren Teil mit dem Iran) sowie aus den Erlösen des Oil-for-Food-Programms. Mit der Bereitstellung und Besorgung von materiellen Leistungen rückte die Situati-on näher in Richtung Gewaltmonopol, da so Bevölkerungsteile und ihre Eliten kooptiert werden konnten.

Die internationale humanitäre Hilfe und deren Organisationen spielten in der Zeit nach der Ablösung von der irakischen Zentralverwaltung eine wichtige Rolle bei der Herrschaftssicherung durch die Parteien mittels Klientelstrukturen. Hilfsagenturen und private Organisationen der UN, aus den USA und Europa waren nach dem zweiten Golfkrieg eine wesentliche Stütze bei der Aufrechter-haltung eines Mindestmaßes an sozialer Ordnung. Die Hilfsorganisationen waren überproportional oft im Nordirak aktiv und konnten auf vergleichsweise große finanzielle Ressourcen zurückgreifen. Die ausländischen NGOs arbeiteten eher mit lokalen NGOs zusammen und weniger mit der offiziellen Regierung (Leezenberg 2000: 10). Diese lokalen Organisationen standen den beiden Partei-en nahe, die versuchten, auch ursprünglich unabhängige NGOs unter ihren Ein-fluss zu bringen. Die lokalen NGOs wurden damit Instrumente zum Aufbau von Klientelstrukturen, die der Herrschaftsdurchsetzung der Parteien zugute kommen sollten. Auch das UN-Programm bot Gelegenheit für lokale Partner, die Mittel für ihre Zwecke einzusetzen, und für die Parteien, politische Ziele damit zu ver-folgen.

Weitere Einkommensquellen für die kurdischen Parteien, von denen die Regionalregierungen jedoch weitgehend ausgeschlossen blieben, bildeten die

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Einnahmen aus dem Schmuggel von Waren und „Zölle“, die am Grenzübergang zur Türkei erhoben wurden. Als nach Beginn der bewaffneten innerkurdischen Auseinandersetzungen 1994 die Hilfen der internationalen NGOs für die Bevöl-kerung in der Region Kurdistan wegen der sich verschlechternden Sicherheitsla-ge zurückgefahren werden mussten, traten vermehrt diese Einnahmen an die Stelle der Hilfsgelder. Der lukrative Transithandel von Erdöl, der eigentlich illegal war, sorgte für einen mehr oder weniger verlässlichen Geldfluss, da auf der Seite des Saddam-Regimes ebenfalls ein Interesse daran bestand, Erdöl mit LKWs in die Türkei zu exportieren.

Nach der Verabschiedung und Umsetzung des Oil-for-Food-Programms (UN-Resolution 986) im Jahr 1997 profitierten auch die kurdischen Parteien vom legalen Erdöl-Handel. Gemäß der Resolution stand ein bestimmter Anteil der Einnahmen aus dem begrenzten Verkauf von Erdöl durch den Irak auch den drei nördlichen Provinzen zu. Eine gemeinsame Regionalregierung bestand zu die-sem Zeitpunkt nicht mehr, so dass die Parteien die Verwendung der Verkaufser-löse in ihrem Herrschaftsgebiet im Rahmen der Programm-Vorgaben teilweise beeinflussen konnten. Die Erdöleinnahmen und der damit zusammenhängende Transitverkehr blieben bis zum Ende des Programms 2003 die wichtigsten Ein-kommensquellen.

Das Oil-for-Food-Programm der Vereinten Nationen hat dazu geführt, die innerkurdischen Kämpfe einzustellen und zu einer stabileren Situation zurückzu-kehren, in der die geteilte Region von den beiden unabhängig voneinander agie-renden Parteien KDP und PUK von Erbil bzw. Sulaimaniya aus verwaltet wurde. Das UN-Programm wirkte auch stabilisierend auf die kurdischen Regionalregie-rungen, die so in den Genuss von finanziellen Mitteln kamen und gleichzeitig durch die Zusammenarbeit mit UN-Institutionen aufgewertet wurden (Stansfield 2003b: 134).

Das Washingtoner Übereinkommen von 1998 zwischen den beiden großen Parteien und der anhaltende amerikanische Druck führten zu einer angespannten Ruhe in den kurdischen Gebieten. Die Sicherheitslage wurde besser und anarchi-sche Zustände gingen zurück. Es gelang Barzani und Talabani, ihre Herrschaft in den von ihnen kontrollierten Gebieten durchzusetzen. Das einzige größere Ge-biet, das für längere Zeit nicht von einer der beiden großen Parteien direkt oder indirekt kontrolliert wurde, war die Stadt Halabja und Umgebung im Osten des PUK-Gebietes nahe der iranischen Grenze, wo die radikal-islamistischen Kämp-fer der Ansar al-Islam herrschten. Erst im Zuge des Irak-Feldzuges wurde dieses Gebiet mit amerikanischer Unterstützung wieder unter die Kontrolle der PUK gebracht.

Als mögliche Einkommensquelle der Zukunft kommt zudem die Förderung von Erdöl in Frage. Zwar ist die Wahrscheinlichkeit, dass die kurdischen Partei-

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en die Ölfelder von Kirkuk unter ihre Kontrolle bringen, eher gering, doch wur-den nach dem Fall des Baath-Regimes Ölförderungslizenzen an ausländische Firmen innerhalb der drei Nord-Provinzen vergeben. Daran hat sich freilich die Kritik der irakischen Regierung entzündet, die darauf beharrt, die Kompetenz für die Vergabe von Ölförderungslizenzen im gesamten Land zu besitzen. Die Kur-dische Regionalregierung wiederum möchte die Region Kurdistan durch selb-ständige Auftragsvergabe finanziell von der Zentralregierung unabhängiger ma-chen. Seitdem nach dem Sturz des alten Regimes theoretisch wieder unbegrenzt Öl exportiert werden kann, wird der den drei nördlichen Provinzen zustehende Anteil aus den Einnahmen von Bagdad überwiesen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass eine effektive Herrschaftsausübung in den Anfangsjahren an der instabilen Loyalität regionaler Gruppen gegenüber den führenden Figuren der PUK und der KDP scheiterte. Die Regionalregierung war nicht in der Lage, die Situation zu stabilisieren, da ihr die Mittel fehlten, eine von den Parteien unabhängige Politik zu betreiben. Seitdem Barzani und Talaba-ni und ihre Anhänger den Status quo mit der Machtteilung in der Region Kurdis-tan akzeptieren, sanken auch für lokale Gruppen die Möglichkeiten, beide Lager gegeneinander auszuspielen und so die territoriale Herrschaftsausübung durchei-nander zu bringen. Gleichzeitig erschlossen sich neue finanzielle Möglichkeiten, die das Verhältnis zwischen den beiden großen Parteien normalisierte und diesen erlaubt, die Herrschaft im Innern zu festigen. Der Aufbau einer öffentlichen Verwaltung ist dafür ein wichtiges Element, das für moderne Staatlichkeit kon-stituierend ist. Inzwischen findet auch ein großer Teil der Erwerbsbevölkerung Anstellung im öffentlichen Dienst.4 Auch wenn abzuwarten ist, wie sich die tatsächliche Durchsetzungskraft und Effektivität der Verwaltung entwickeln, so ist jedenfalls eine kontinuierliche, flächendeckende Administration vorhanden. Mit zunehmender Verlagerung der Herrschaftsausübung von militärischer Kon-trolle zu ziviler Verwaltung ergibt sich auch ein Wandel in den Aktivitäten von PUK und KDP. Bestand ein Großteil ihrer Aufgaben in der Organisierung der Peshmerga-Truppen, sind sie nun stärker als zuvor in die administrativen Struk-turen eingebunden. Bislang ist es nicht zu einer von den traditionellen Autoritä-ten unabhängigen Verwaltungsstruktur gekommen.

4 Konkrete Zahlen dazu fehlen, doch kann man in Bereichen eine ähnlich wuchernde Bürokratie beobachten wie in anderen Staaten des Vorderen Orients. In der lokalen Presse kann man Angaben von bis zu einer Million Staatsbediensteten finden, wobei diese Zahlen nicht verlässlich sind und übertrieben erscheinen. Aufgrund der daraus resultierenden Belastung des öffentlichen Haushaltes gibt es Bestrebungen, die Zahl der Staatsbediensteten zu reduzieren.

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5 Einige Charakteristika der Herrschaftsausübung Inwieweit entspricht die Herrschaftsausübung in der Region Kurdistan den oben skizzierten neo-patrimonialen Grundzügen? Die entscheidenden Merkmale wie personale Herrschaftsform und Vorherrschaft von informellen Beziehungen gegenüber formellen Institutionen (Eisenstadt 1973: 15) werden im Folgenden überprüft.

In der Region Kurdistan geht die politische Führung von Jalal Talabani und Massud Barzani aus. Beide waren die wichtigsten Personen in Irakisch-Kurdis-tan während der letzten Jahrzehnte. Wie wirkte sich das auf die Politik in der Autonomen Region Kurdistan aus? Aus Anführern von Stammeskoalitionen und Peshmerga-Truppen, die aus dem Widerstand gegen den Zentralstaat heraus operierten, mussten in den Jahren seit 1991 Staatsmänner werden, die einen eigenen Staat organisieren. Die sich daraus entwickelnden Politikformen ent-sprechen in weiten Teilen denen in anderen Staaten des Vorderen Orients mit neo-patrimonialen Systemen. McDowall (2004: 385) bezeichnet die politische Realität zu Beginn der 90er Jahre in den drei Nord-Provinzen als „Neo-Tribalismus“ mit zwei großen Konföderationen als Struktur bildende Elemente. Die Mechanismen der politischen Steuerung geschehen mittels Patronage. Um die Machtzentren bilden sich Kerne von loyalen gesellschaftlichen Führungsper-sonen, die wiederum Loyalität bei lokalen Patronen erzeugen (Leezenberg 2006: 13f). Dieses System traditionaler Loyalitäten ersetzte in der Anfangszeit auch eine funktionierende Verwaltung, die in der Folge der Kämpfe 1991 zu großen Teilen zusammengebrochen war und deren Lücke die beiden Parteien zu füllen versuchten. Dabei war die Steuerungsfähigkeit der Machtzentren weit geringer als in vielen anderen Staaten des Vorderen Orients, nahm aber im Laufe der Zeit zu. Die obere Führung der Parteien und der Verwaltung hat in diesem System der top-down-Vergabe von Ressourcen und der bottom-up-Ausstattung mit Lo-yalität über mehrere Klientelketten nicht immer die Kontrolle. Peshmerga-Führer oder andere Eliten, auch solche tribaler Natur, agieren auf sich alleine gestellt und selbständig, werden aber mit zunehmender Ressourcenausstattung vermehrt in die Politik der Machtzentren eingebunden.

Diese Machtstruktur wird durch die Wahlergebnisse gut abgebildet. Sie sind regional sehr unterschiedlich, wie es für klientelistische Beziehungen zwischen Machthabern, intervenierenden Patronen und Wahlvolk typisch ist (McDowall 2004: 380; Posch 2004: 33). Bei den ersten Wahlen zum Parlament der Region Kurdistan von 19925 gewann die KDP in der Provinz Dohuk mit über 85% der Stimmen, die PUK in den Provinzen Sulaimaniya und Teilen der Provinz Kirkuk

5 Alle Angaben nach Salih (2004: 118 ff.).

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mit jeweils rund 60% der Stimmen, wobei in den letzten zwei Regionen auch die KDP Barzanis beachtliche Erfolge erzielen konnte (jeweils ca. 27%). Nur im Wahlbezirk Erbil lagen beide Parteien mit rund 45% etwa gleichauf. Ähnliche Ergebnisse wurden bei den Wahlen 2005 erreicht, wobei eine Stärkung islamisti-scher Parteien bei gleichzeitig zurückgehendem Anteil der jeweils zweiten gro-ßen Partei zu verzeichnen ist. Bei den Wahlen zu den Provinzräten6 schnitt in der Provinz Dohuk wiederum die KDP am stärksten ab (79%), gefolgt von PUK (9,2%) und der Islamischen Union Kurdistans (IUK; 9,1%). Bei den Ergebnissen in der Provinz Sulaimaniya sind die Positionen der beiden großen Parteien ver-tauscht, mit hohen Ergebnissen für die Islamisten: PUK 66,4%, KDP 12,6%, IUK 10,3% und Islamische Liga Kurdistans (ILK) 7,3%. In der Provinz Erbil konnte auch die PUK einen bedeutenden Stimmenanteil von 37,7% für sich ver-buchen, wobei die KDP mit 53,7 % anders als 1992 klar stärkste Kraft ist und die Islamisten weniger Zuspruch erfahren (IUK 3,5%, ILK 2,9%). Diese Wahler-gebnisse, besonders die in Sulaimaniyya und Dohuk, lassen auf eine traditionelle Form der Politikausübung schließen, bei der die Zustimmung der Bevölkerung über Leistungen des Herrschers an lokale Eliten, die wiederum als Patrone für die Bevölkerung fungieren, gesichert wird. In Erbil genießt dagegen neben der herrschenden KDP auch die PUK wesentlichen Rückhalt bei den Wählern, was auf eine komplexere Situation hinweist und auch daran liegen mag, dass wichti-ge Führungspersonen von dorther stammen. Der Einbruch bei den Wahlen 2009 zum Regionalparlament mit nur 57% für die gemeinsame Liste von KDP und PUK (2005: 90%)deutet auf eine Abnahme dieser Bindungen hin.

Die Regierungen bestanden von 1992 bis zu Beginn der innerkurdischen bewaffneten Auseinandersetzungen 1994 stets aus All-Parteien-Kabinetten, an denen neben KDP und PUK auch alle kleineren Parteien gewisser Bedeutung einschließlich gemäßigter islamistischer Parteien beteiligt waren. Auch an den getrennten Regierungen von 1994 bis 2006 nahmen die wichtigsten kleineren Parteien teil. Die erste formelle Regierung etwa setzte sich aus insgesamt 15 Ministern zusammen, von denen jeweils sechs an die beiden großen Parteien gingen (Salih 2004: 129). Die anderen Ministerien wurden den kleinen Parteien Arbeiterpartei Kurdistans, Kommunistische Partei Iraks, Kurdische Einheitspar-tei und Assyrische Demokratische Bewegung zugesprochen, obwohl diese we-gen der 7%-Hürde keine Sitze im Parlament erzielen konnten. KDP-Ministern wurde ein Stellvertreter von der PUK zur Seite gestellt und umgekehrt, ein Um-stand, der mittelfristig Probleme mit sich brachte und die Arbeit in der Verwal- 6 Dies waren die einzigen Wahlen, bei denen KDP und PUK getrennt antraten. Bei der Wahl zum irakischen Parlament und zum Parlament Kurdistans traten die beiden Parteien mit einer gemeinsa-men Liste an. Alle Ergebnisse nach der Unabhängigen Wahlkommission des Irak, abrufbar unter <http://www.ieciraq.org> [Februar 2007].

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tung störte (Salih 2004: 141).7 Ähnliches gilt für die ab 2006 schrittweise wie-dervereinte Regierung der KDP- und PUK-Gebiete. Kleinere Parteien werden durch die Aufnahme in die Regierung kooptiert, bleiben allerdings oft weiterhin unabhängige Organisationen mit mehr oder weniger vorhandenem Eigengewicht. KDP und PUK sind weiterhin überaus dominant, so dass andere Kräfte von de-ren Willen abhängig sind. Lediglich die neu entstandene Reformpartei Gorran, die bei den Wahlen zum Regionalparlament 2009 24% der Stimmen erhalten hat, entzieht sich dem. Diese relative Offenheit wird jedenfalls solange andauern, wie innere Konflikte gegenüber der Verteidigung der Unabhängigkeit von Bagdad zurückgestellt werden.

Alle wesentlichen Entscheidungen werden von den Politbüros der Parteien vorgegeben (Stansfield 2003a: 148). Das erleichtert zum einen die Arbeit der Regierung, da schon im Vorfeld vor der Umsetzung einer Maßnahme durch die Regierung ein Kompromiss zwischen den Machtzentren erreicht wurde. Damit wird die Verwaltung bei der Umsetzung der Beschlüsse zumindest nicht durch eine der beiden Parteien sabotiert. Auch die grundsätzlich problematische Zu-sammenarbeit zwischen dem jeweiligen Minister und seinem Stellvertreter von der anderen Partei wurde dadurch erst möglich, dass der Beschluss sowohl von der KDP als auch von der PUK unterstützt wird. Zum anderen wird durch dieses Verfahren viel von der Entscheidungsbefugnis der Regierung auf die Parteien übertragen, so dass dem Kabinett und der Verwaltung nur ein begrenzter Spiel-raum bleibt. In den Einzelheiten der Verwaltungsarbeit sind es die Ministerien, die aufgrund ihres Sachverstandes federführend waren, doch wurde die Zielrich-tung ihrer Arbeit von den beiden großen Parteien vorgegeben: „the KDP cannot interfere with the technocratic ministries, and instead will always support them. But they are not separate as the KDP guides the general political development of the KRG in Erbil“ (Fouad Massoum, Premierminister des ersten Kabinetts, zit-iert nach Stansfield 2003a: 160). Die Regierung hatte letztlich keine selbständige Machtbasis, weshalb sie von der Führung der Parteien in Konfliktsituationen übergangen werden konnte (Leezenberg 2000: 6). Die eigentlichen Machtzentren, also die Spitzen der PUK und der KDP waren nicht an der Regierung beteiligt, so dass die nötige Unterstützung der vergleichsweise schwachen Regierung durch die ohnehin stärkeren Parteien mit Barzani und Talabani an der Spitze fehlte.

Für das Parlament muss eine noch schwächere Rolle vermutet werden, da wesentliche Gesetzesinitiativen wie etwa das für die weitere wirtschaftliche Entwicklung wichtige Investitionsgesetz aus dem Jahr 2007 von der Regierung stammen. Dennoch entwickelte sich das Parlament bei bestimmten Fragen zu

7 Auch die von den kleineren Parteien geführten Ministerien bekamen einen Stellvertreter des Minis-ters zur Seite gestellt.

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einem Gegenpol zu den Machtzentren, in deren Mittelpunkt Barzani bzw. Tala-bani stehen, was es schwierig macht, von einem reinen Akklamationsorgan zu sprechen. Ein Beispiel dafür ist die Kritik, die das (noch vereinte) Parlament an der politischen Führung der Parteien geäußert hat, als diese 1994 in bewaffnete Konfrontationen eintraten (Leezenberg 2006). Nach dem Auseinanderfallen der gemeinsamen KDP/PUK-Regierung setzte das Rumpfparlament in Erbil, beste-hend aus den Abgeordneten der KDP und den fünf Vertretern der christlichen Parteien, seine Arbeit in reduzierter Form fort. Der Premierminister des zweiten KDP-Kabinetts in Erbil betont, dass das (Rumpf-)Parlament oft Vorhaben der Regierung ablehnte oder das Kabinett davon abhielt, gewisse Vorhaben in An-griff zu nehmen (Stansfield 2003a: 159).

Viel informeller als Regierung und Parlament ist das Amt des Präsidenten der Region Kurdistan ausgestaltet. Nachdem bei der Wahl von 1992 Massud Barzani nur einen kleinen Vorsprung vor Jalal Talabani hatte und letzterer das Ergebnis nicht anerkannte und auch in keine Stichwahl eintreten wollte, verzich-tete man 2005 auf eine Direktwahl. Vielmehr einigten sich KDP und PUK auf die beschriebene Aufteilung der höchsten politischen Ämter zwischen Talabani und Barzani und ließen den Vorsitzenden der KDP durch das Parlament zum Präsidenten wählen, der 2009 in Direktwahl mit 70% der Stimmen wiederge-wählt wurde. Dieses Amt hat keinen verfassungsrechtlichen Rahmen, der Amts-inhaber ist auf keine andere Weise an der Herrschaftsausübung in der Region Kurdistan beteiligt, als er es schon vorher war. Lediglich die Positionen zur Fra-ge der Zukunft des Iraks sind davon betroffen, da Barzani teilweise offen auf die Möglichkeit hinweist, sich vom Zentralstaat loszusagen, falls sich die Dinge nicht zu Gunsten der Kurden entwickeln, während Talabani, der im April 2005 vom irakischen Parlament zum gesamt-irakischen Präsidenten gewählt wurde (Wiederwahl 2010), der Gewährsmann für den Verbleib der Region Kurdistan im Irak ist. Dies ist etwa der Fall bei den Auseinandersetzungen um die Vergabe von Bohrlizenzen an ausländische Unternehmen durch die kurdische Regional-regierung, was aus Sicht der Regierung in Bagdad nur auf bundesstaatlicher Ebe-ne geschehen darf. Ähnliches gilt für die Frage des Status‘ von Kirkuk, wo sich Barzani zumindest rhetorisch schärfer gegen die Türkei wendet, die eine Aus-weitung der Herrschaft der Kurden über diese Stadt verhindern will.

Beide hier untersuchten Elemente, personale Herrschaftsform mit Loyali-tätsbeziehungen und die Rolle formaler Institutionen weisen auf den neo-patrimonialen Charakter der Herrschaft in der Region Kurdistan hin. Allerdings ist zunehmend eine stärker werdende Regionalregierung zu beobachten, die vor allem bei der wirtschaftlichen Entwicklung, aber auch bei den Beziehungen zu Bagdad eine wichtigere Position einnimmt, wie bei den Verhandlungen um den Status von Kirkuk und der Vergabe von Ölförderungsrechte deutlich wird.

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6 Legitimität und Legitimationsstrategien Bisher wurde betrachtet, wie Herrschaft in der Autonomen Region Kurdistan zustande kommt. Nun soll es darum gehen, woher diese ihre Legitimität bezieht. Hier lassen sich vier Quellen ausmachen: Zunächst das traditionelle Legitimati-onsmuster der Abstammung der Herrscher, dann den Appell an die gemeinsame Ethnizität des „kurdischen Volkes“ und Abgrenzung gegenüber anderen Grup-pen, außerdem die Bereitstellung von materiellen Ressourcen und schließlich demokratische Wahlen.

Sowohl Massud Barzani als auch Jalal Talabani können auf traditionelle Legitimationsgründe zurückgreifen. Beide entstammen einflussreichen Familien, die in der jüngeren Geschichte an der Spitze von Stammesvereinigungen standen und auch religiöse Würdenträger hervorgebracht haben. Bei Massud Barzani kommt hinzu, dass er der Sohn des legendären Kurdenführers Mullah Mustafa Barzani ist, der zentralen Figur des Widerstandes der Kurden im Irak und teil-weise im Iran. Auch andere wichtige Personen beziehen ihre Legitimität aus der Abstammung. Der derzeitige Premierminister beispielsweise, Neçirwan Barzani, ist der Sohn des älteren Sohnes von Mustafa Barzani, Idris Barzani, der zunächst zusammen mit Massud die Führung der KDP übernahm, dann aber frühzeitig gestorben ist. Stansfield (2003a: 110) hat bei seinen Feldforschungen festgestellt, dass traditionellere Teile der kurdischen Gesellschaft die Reputation von Idris auf seinen Sohn übertragen.

Zu dieser Grundausstattung an Legitimität der Führerpersonen durch Zuge-hörigkeit zur traditionellen Elite kommt ein weiteres, modernes Element. Die Herrschaft in der Autonomen Region wird auch in den Äußerungen ihrer politi-schen Führer fortlaufend damit begründet, dass die Selbstbestimmung des kurdi-schen Volkes verwirklicht wird. Der Bezug auf die gemeinsame ethnische Identi-tät wird zunehmend als Legitimitätsgrund wichtig, vor allem nach außen. Die Betonung der eigenen Ethnie ist relativ neu, da in der Geschichte der kurdischen Befreiungsbewegung das tribalistische Element oft Vorrang vor dem Nationa-lismus hatte. Kurdische Revolten gegen Besatzungen oder Kolonialmächte wur-den meistens nicht nationalistisch begründet, sondern religiös oder traditionalis-tisch (Bruinessen 2003). Es wurde nicht der Kampf des „Volkes der Kurden“ beschworen, sondern eine Stammeskonföderation kämpfte gegen eine andere Herrschaft um Einfluss und Macht, oft auch gegen andere Kurden. Auch die KDP mit ihrer langen Tradition – sie wurde 1945 gegründet – ist nie eine rein nationalistische Partei gewesen. Vielmehr kam sie sehr schnell unter den Ein-fluss der Familie Barzani, so dass gewisse Züge des Stammescharakters durch-scheinen. Dennoch hat sie integrative Kraft und vertritt, heute zusammen mit der PUK, alleine durch ihre Machtausbreitung einen nicht kleinen Teil der Bevölke-

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rung im Nord-Irak. Nach den Worten von Barzani selbst vereinigt die KDP beide Elemente, Tribalismus und Nationalismus, in sich (Stansfield 2003a: 227).

Beide Parteien begründen ihre Herrschaft aus der Abgrenzung des kurdi-schen Volkes gegenüber anderen Volksgruppen im Irak und im Nahen Osten, wodurch sie in den Augen der kurdischen Bevölkerung einen weitaus höheren Grad an Legitimität besitzen als etwa eine gesamtirakische Verwaltung. Die Ablehnung von Einflussnahme seitens Bagdads auf die Region Kurdistan in der Bevölkerung ist groß. An dem von einer Gruppe von Intellektuellen organisier-ten Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kurdistans vom Irak im Jahr 2005 beteiligte sich der Großteil der Bevölkerung, die schließlich mit überwälti-gender Mehrheit (98%) für die Unabhängigkeit stimmte.8 Diese positive Einstel-lung in der Bevölkerung gegenüber dem Gedanke der Unabhängigkeit vom Irak kann ein Beleg dafür sein, dass nationales Bewusstsein an Popularität gewonnen hat. Dafür dürften neben den endogenen Faktoren auch äußere Einflüsse eine Rolle spielen, wie beispielsweise die schlechten Erfahrungen mit den irakischen Zentralregierungen, vor allem mit dem Regime von Saddam Hussein.

Eine besondere Form der nationalen Selbstvergewisserung ist die Kultur des Erinnerns an die gemeinsam erlebten Kämpfe gegen die Zentralregierung und an die damit verbundenen Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Beide Parteien haben einen ausgesprochenen Märtyrerkult aufgebaut, der die Opfer des Gueril-lakrieges verherrlicht und die Erinnerung an sie wach hält. Durch Bilder, Denk-mäler und in Ansprachen wird immer wieder an die „Märtyrer“ und die Schre-cken des Baath-Regimes erinnert.9 Die beiden Parteien, denen die Peshmerga-Truppen angehören, verstehen sich dabei als die unmittelbaren Wahrer des Erbes des kurdischen Befreiungskampfes, wobei das Verhältnis zwischen der KDP und der PUK nicht frei von Spannungen ist, betrachtet man die lange Geschichte der Bruderkämpfe, bei denen die Krieg führenden Parteien durch Mächte von außer-halb unterstützt wurden.

Die Bereitstellung materieller Ressourcen ist ein weiteres Mittel, mit dem die politische Führung versucht, Legitimität im Innern zu erzeugen. Materielle Ressourcen werden, teils von den Parteien oder der Regionalregierung vermittelt, über verschiedene Patrone an breitere Bevölkerungsgruppen verteilt. Sie sind damit ein wichtiges Instrument der Herstellung von Loyalität zwischen den ver-schiedenen Ebenen der Eliten. Außerdem ist die Regierung der Region Kurdistan dafür zuständig, die Versorgung mit öffentlichen Gütern zu sichern. Dies war

8 Freilich erfüllte dieses inoffizielle Referendum, das zeitgleich mit den Parlamentswahlen stattfand, nicht das Kriterium einer geheimen Wahl. 9 Die Erfahrungen mit dem arabisch dominierten Baath-Regime mögen auch dafür verantwortlich sein, dass negative Gefühle gegenüber „Fremden“ in der Bevölkerung weit verbreitet zu sein schei-nen, wenn auch weniger vorherrschend als in anderen Teilen des Irak (Inglehart 2006).

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eine sehr schwierige Aufgabe direkt nach dem Abzug von Verwaltungspersonal durch Bagdad und dem Auszahlungsstopp von Gehältern an die verbliebenen Beamten. Inzwischen konnten aber beachtliche Fortschritte erzielt werden, so dass die Bevölkerung der Region Kurdistan ihre wirtschaftliche Lage sehr viel besser beurteilen als die Bewohner des restlichen Iraks (Foote et al. 2006). Ein Großteil der Bevölkerung ist finanziell direkt von der Regierung abhängig, da sie oder Angehörige im staatlichen Sektor tätig sind, der einen großen Teil der Ar-beitsplätze zur Verfügung stellt. Dennoch kommt es angesichts der für weite Teile der Bevölkerung nicht einfachen Lage immer wieder zu Protesten wegen mangelnder Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen wie im Sommer 2005 oder im Sommer 2006 wegen hoher Benzinpreise in Erbil, man-gelhaften Funktionierens der Stromversorgung und schlechter Studienbedingun-gen an den Universitäten (Mahmood 2005; Ridolfo 2006) und zu Beginn des Jahres 2011. Es gibt hier also Defizite, so dass diese Legitimationsstrategie noch nicht vollständig genutzt werden kann.

Die Regierung der Region Kurdistan legitimiert sich schließlich durch de-mokratische Wahlen. Bislang fanden in der Autonomen Region Kurdistan drei Wahlrunden statt: 1992 wurden die Abgeordneten zur Kurdischen Nationalver-sammlung und der „Führer“ der Region Kurdistan gewählt, 2005 zeitgleich mit den gesamtirakischen Wahlen das Parlament der Region Kurdistan und die Pro-vinzräte. Außerdem fand am selben Tag das inoffizielle Referendum über die Unabhängigkeit der Region Kurdistan von Irak statt. Kommunale Wahlen wur-den im Februar 2000 im PUK-Gebiet und im Mai 2001 im KDP-Gebiet abgehal-ten, die als frei und fair eingestuft wurden.10 Im Juli 2009 wurden die dritten Wahlen zum Regionalparlament und erstmals die Direktwahl des Regionalpräsi-denten durchgeführt. Insgesamt schätzt Freedom House (2004) den Grad der kurdischen Demokratie als vergleichsweise hoch ein: „Both the KDP and the PUK allowed a flourishing of political and civil liberties not seen elsewhere in the Arab world”.

Insgesamt kann gesagt werden, dass die demokratische Legitimität der poli-tischen Elite in der Region Kurdistan recht hoch ist und jedenfalls die in den anderen Staaten des Vorderen Orients übertrifft. Es wird sich erst noch zeigen müssen, ob es dem Kabinett gelingt, eine effiziente Verwaltung für die gesamte Region zu schaffen und sich in Teilbereichen vom Einfluss der Parteien frei zu halten. Dasselbe gilt für das Parlament, das seine Initiativ- und Kontrollfähigkeit erst noch unter Beweis stellen muss. Mit der Verabschiedung einer Verfassung und anschließender Ausübung der dort verliehenen Rechte wird in Zukunft eine

10 Allerdings warfen assyrische Vertreter der KDP vor, die Wahlen im christlichen Siedlungsgebiet manipuliert zu haben (Freedom House 2004).

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genauere Folie zur Verfügung stehen, mit der die Arbeit der formellen Institutio-nen bewertet werden kann. Die Legitimität durch demokratische Politikprozesse ist auch wichtig angesichts der turkmenischen, arabischen, yesidischen und christlichen Minderheiten, die in der Region Kurdistan leben und die nicht durch Appell an das kurdische Nationalbewusstsein für die kurdische Herrschaft ge-wonnen werden können. Diese Gruppen können ihren Platz nur finden, wenn sie in das politische System eingebunden werden und ihnen besonderer Minderhei-tenschutz gewährt wird.

7 Fazit Als Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach der Staatlichkeit der Region Kurdistan im Irak lässt sich festhalten, dass ein Monopol legitimen physischen Zwanges zunehmend beobachtet werden kann. Es entwickelte sich ein zweige-teiltes politisches System mit neo-patrimonialer Herrschaftsausübung und einer Reihe von Legitimationsstrategien, deren wichtigste der Appell an die national-kurdische Autonomie und die Bereitstellung von Sicherheit und (begrenzter) Wohlfahrt sind. Insbesondere seit Beilegung der Auseinandersetzungen zwi-schen KDP und PUK und ihrem neuerlichen Bündnis vor dem US-amerika-nischen Einmarsch 2003 kehrten geordnetere Verhältnisse ein, vor allem festste-hende Grenzen des KDP- und PUK-Gebietes. Auch die finanziellen Ressourcen nahmen im Laufe der 90er Jahre zu und führten zu einer Stabilisierung der Herr-schaft der beiden Parteien mit der spezifischen neo-patrimonialen Ausprägung.

Politische Macht wird mittels Klientelstrukturen ausgeübt, die Loyalität der Bevölkerung zur jeweils nächst höheren Stufe der Eliten erzeugt. Es ist zu ver-muten, dass diese Klientelbeziehungen sich verstärken, wenn die Wirtschaft vergleichbare Merkmale bezüglich der Macht- und Einflussstrukturen aufweist wie der politische Bereich. Mit zunehmenden wirtschaftlichen Aktivitäten, wie sie besonders seit den späten 90er Jahren zu beobachten sind, werden sich auch Patron-Klient-Beziehungen verstetigen, wenn der daraus zu erwartende Gewinn wächst. Bislang verstärkt die dynamische wirtschaftliche Entwicklung neo-patrimoniale Politikmuster mit Patronage, Korruption und Verteilung der Ein-nahmen zur Loyalitätsbildung (Owen 2007: 99). Deutlich wird das an der Person des ehemaligen Premierministers Neçirwan Barzani, der zugleich über eine her-vorgehobenen Stellung innerhalb der KDP verfügt. Als privater Unternehmer gelang es ihm auch wirtschaftlich vom Aufbau in der Region Kurdistan zu profi-tieren. Ähnlich diesem Beispiel kommt es zu einer Verschränkung von wirt-schaftlicher und politischer Macht, die den gleichen Zugang zu wirtschaftlichen

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Aktivitäten verhindern kann oder wirtschaftliche Entwicklung politischen Inte-ressen unterordnet.

Dennoch ist eine klare Entwicklungsstrategie der Regierung zu erkennen. Sie setzt sich unter anderem für die Einwerbung von ausländischen Direktinves-titionen ein, was zur Verabschiedung eines Investitionsgesetzes führte, „[which] will support the government’s free market policy, promote the private sector and protect foreign investors“ (Kurdish Regional Government 2006). Die Region Kurdistan soll zum „gateway for the rest of Iraq“ (ebd.) werden. Tatsächlich sind in den letzten Jahren und insbesondere seit Ende der Kampfhandlungen zahlrei-che Investitionstätigkeiten in den drei nördlichen Provinzen zu verzeichnen, die dem unsicheren Zentralirak vorgezogen werden. Zur Unterstützung von auslän-dischen Investitionen wurde die halbstaatliche Kurdistan Development Corpora-tion (KDC) gegründet, die stark von der Regierung des Ministerpräsidenten Neçirwan Barzani beeinflusst war und der neben KDP-Politikern internationale Geschäftsleute aus dem weiteren KDP-Umfeld angehörten. Die Regierung, die bedeutende Infrastrukturprojekte an ausländische Firmen, vor allem türkische Unternehmen vergibt, trägt einen Großteil der wirtschaftlichen Aktivitäten in der Region Kurdistan. Eine gemeinsame Strategie für die Entwicklung des KDP- und des PUK-Gebietes stellt einen Testfall für die Wiederzusammenführung der beiden Regionsteile dar. Bislang wird die wirtschaftliche Entwicklung beider Regionalteile eher getrennt voneinander vorangetrieben.

Legitimität ist in hohem Maße traditionell begründet. Allerdings scheint sie in Zeiten des Friedens nicht mehr alleine ausreichend zu sein. Andere Legitima-tionsstrategien beginnen eine bedeutende Rolle zu spielen. Mit der anhaltend schlechten wirtschaftlichen und vor allem politischen Bilanz im Rest des Irak wächst das Bewusstsein für die besondere Rolle der relativ friedlichen und stabi-len Region Kurdistan, die zudem nach wie vor von den anderen Landesteilen administrativ und politisch klar getrennt ist. Bei allen bestehenden Problemen ist der Grad der politischen Freiheit für ein neo-patrimoniales Regime beachtlich. Insbesondere die Zulassung von Parteien und anderen gesellschaftlichen Organi-sationen und ihre Aktivitäten sind freier als in den meisten anderen Staaten des Vorderen Orients. Auch die weitgehend freien und fairen Wahlen verschaffen den herrschenden Parteien Legitimität. Die Zustimmung zu KDP und PUK war dabei lange Zeit sehr hoch: Bei den Wahlen zum Parlament der Region Kurdis-tan im Jahr 2005 erzielte die Patriotische Demokratische Liste Kurdistans, zu der sich die beiden großen Parteien zusammengeschlossen hatten, 89,6% der Stim-men (Islamische Liga Irakisch-Kurdistan 4,9%). Erst die Wahlen 2009 brachten mit 24% für die Reformbewegung Gorran einen Dämpfer für die beiden etablier-ten Parteien. Es ist gerade diese Bipolarität aus PUK und KDP, die verhältnis-mäßig liberale politische Verhältnisse ermöglicht. Beide sind gezwungen, Kom-

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promisse einzugehen, eine Einparteienherrschaft über die gesamte Region Kur-distan ist nicht möglich. Davon profitieren auch andere gesellschaftliche Grup-pen, deren Existenz zugleich ein Ausweis der Demokratiebemühungen gegen-über den wichtigen westlichen Verbündeten der Region Kurdistan ist. Was frei-lich auch ausgeschlossen erscheint, wäre ein kompetitives Zwei-Parteien-System mit Regierungen, die je nach Wahlergebnis alleine von der PUK oder der KDP mit Hilfe kleinerer Koalitionspartner gestellt würden. Echte demokratische Machtwechsel scheitern an den tief verankerten Machtpositionen der beiden Parteien in ihrem jeweiligen Herrschaftsgebiet, die aufzugeben sie nicht bereit sein werden. Es ist zu erwarten, dass die Machtteilung zwischen den beiden großen Parteien andauern wird, da der äußere Druck aus der Türkei und aus Bagdad (Aufteilung der Öleinnahmen und der Status umstrittener Gebiete wie Kirkuk) in absehbarer Zeit nicht ab-, sondern mit einem möglichen Erstarken der Zentralregierung eher zunehmen wird. Literatur Ahmed, Mohammed M.A (2007): The Evolution of Kurdish Nationalism, Costa Mesa,

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III. Zusammenfassung

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Daniel Lambach 259

Die Empirie der Transformation politischer Ordnungen Daniel Lambach 1 Einleitung Politikwissenschaftliche Transformationstheorien befassen sich mit Transforma-tionen im Rahmen der bestehenden staatlichen Ordnung. Die Transitions-forschung der 1980er und 1990er Jahre (z.B. Linz/Stepan 1996, Merkel 1999, O‘Donnell/Schmitter 1986) suchte nach Regelmäßigkeiten im Übergang von Autokratien zu Demokratien zunächst in Südeuropa und Lateinamerika, später in Afrika und Osteuropa. So entstanden nicht gering zu schätzende Erkenntnisse über die Ursachen, den Verlauf und die Erfolgsaussichten eines Regimewech-sels, die sich jedoch auf den Wandel von einem politischen System zu einem anderen beschränkten. Es gibt jedoch keinen theoretisch und logisch überzeu-genden Grund, warum sich die Transformation politischer Ordnung nur inner-halb einer bestimmten Ebene untersuchen lässt. Versteht man Transformation in einem weiten Sinne als „Wandel“, wird deutlich, dass dies auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden kann bzw. dass sich Wandlungsprozesse auch über mehrere Ebenen erstrecken können. Transformationen laufen nicht nur auf der Regime-ebene ab, sondern auch auf der Ebene der Regierung und auf der Ebene der poli-tischen Gemeinschaft.

Auf der Ebene der Regierung kann beispielsweise die Forschung zu Mili-tärputschen (z.B. McGowan 2003, Belkin/Schofer 2003, Kandeh 2004) herange-zogen werden, um eine beispielhafte Transformation außerhalb der konstitutio-nellen Spielregeln zu beschreiben. Aber selbst der Machtwechsel durch demo-kratische Wahlen stellt in diesem Verständnis eine Transformation der politi-schen Ordnung dar, da die neue Regierung durch ihre politischen Entscheidun-gen die Konturen der politischen Ordnung verändern wird. Am anderen Ende des Spektrums kann es auch zu Veränderungsprozessen der politischen Gemein-schaft kommen. Dazu gehört die Fragmentierung der Gesellschaft durch die Politisierung von (ethnischen, religiösen, kulturellen etc.) Identitäten, die zu Autonomiebestrebungen und Sezessionskonflikten führen können (Gurr 2000, Horowitz 1985). Hier bestehen auch Anknüpfungspunkte an die Forschung zu Staatszerfallsprozessen (z.B. Lambach 2008, Akude 2008, Schneckener 2006).

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5_11,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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260 Die Empirie der Transformation politischer Ordnungen

Unser Ziel ist ein erweiterter Transformationsbegriff, der die genannten Themenbereiche und die jeweilige wissenschaftliche Literatur zu diesen Prob-lemstellungen einbezieht. Erst mit einem solchen Instrumentarium lassen sich Fälle wie Somalia erfassen, wo der Widerstand gegen das diktatorische Barre-Regime 1991 nicht nur zum Sturz der Regierung, sondern gleich zum Kollaps des gesamten Staates führte, weil sich im Prozess des Widerstands die Clanidenti-täten der beteiligten Akteure schärfer konturiert hatten und sich deshalb am Ende keine stabile Koalition bilden konnte, die zum Aufbau eines neuen Staatswesens und zur Reintegration der politischen Gemeinschaft fähig gewesen wäre. Den theoretischen Unterbau für diese Erweiterung haben wir an anderer Stelle bereits genauer dargelegt (vgl. die Einführung in diesem Band sowie Akude et al. 2009). Dieser Aufsatz dient der Auswertung und dem Vergleich der in diesem Band versammelten empirischen Beiträge, um unseren theoretischen Rahmen daran weiterzuentwickeln. Dabei ist es durchaus von Vorteil, dass die empirischen Beiträge sowohl geographisch als historisch äußerst unterschiedliche politische Ordnungen behandeln, da dies unseren Ansatz bestmöglich „auf die Probe stellt“ und seine Grenzen und Möglichkeiten aufzeigt. Dazu werde ich zunächst noch einmal kurz das in der Einleitung entwickelte Vergleichsraster vorstellen und dann die Ergebnisse aus dem Vergleich entlang der verschiedenen Fragen disku-tieren. Abschließend stelle ich einige allgemeine Schlussfolgerungen vor und widme mich der Frage, ob eine allgemeine Theorie der Transformation politi-scher Ordnung sowohl notwendig als auch machbar ist.

2 Die Transformation politischer Ordnungen im Vergleich Der Vergleich derart unterschiedlicher Fallstudien bedarf eines relativ offenen Vergleichsrasters, das genügend Freiraum bietet, um den Besonderheiten der einzelnen Fälle zumindest in Ansätzen gerecht zu werden. Gleichzeitig muss es spezifisch genug sein, um für die empirische Plausibilisierung unseres theoreti-schen Ansatzes möglichst handfeste Ergebnisse zu liefern. Zunächst werden auf einer deskriptiven Ebene Merkmale der politischen Ordnung vor dem Einsetzen der Transformation verglichen. Dazu gehören die folgenden Fragen:

a) Wie wurde Herrschaft in der politischen Ordnung legitimiert? b) Wie war die Kontrolle über die Gewaltmittel organisiert?

Ein weiterer Fragenkomplex bezieht sich auf den Transformationsprozess selbst. Dies umfasst erstens die Ursachen und die Lokalisierung der Transformation:

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a) Auf welcher Ebene fand eine Transformation politischer Ordnung statt? b) Inwiefern ging der Transformation eine Delegitimierung von Herrschaft

voraus? c) Auf welchen Ebenen war/ist die Delegitimierung ggf. angesiedelt?

Darüber hinaus wird auch nach der Bearbeitung bzw. dem Austrag des dem Transformationsprozess zu Grunde liegenden Konflikts gefragt:

a) Bestanden Institutionen zur Bearbeitung bzw. Lösung des Konflikts und wurden diese verwendet?

b) In welchem Maße wurde im Transformationsprozess Gewalt ausgeübt? Ein abschließender Fragenkomplex bezieht sich auf die Fälle, in denen die alte politische Ordnung zusammenbrach:

a) Gab es soziale Institutionen oder Normen, die nach einem Zusammen-bruch der alten Ordnung das Zusammenleben regelten?

b) Wie wurde im Anschluss an den Zusammenbruch die Kontrolle über die Gewaltmittel organisiert?

Von besonderem Interesse ist hier die Übergangsphase, ehe sich eine neue Ord-nung gebildet hatte. 2.1 Die Fälle Unter den Azteken in Zentralmexiko bestanden innerhalb der Stadtstaaten dynas-tische Herrschaftsstrukturen, die wiederum imperial-hierarchisch unter der Füh-rung Tenochtitlans geordnet waren. Der aztekische Herrscher Motecuzoma besaß einerseits weit reichende Kompetenzen, andererseits wurde das Instrument der Königswahl als die bloße Ausführung göttlicher Wünsche interpretiert, so dass Motecuzoma und seine Vorgänger im wahrsten Sinne des Wortes „von Gottes Gnaden“ regierten. Seine Position war jedoch durch ständige politische Konflik-te geschwächt und wurde durch sein schwankendes Verhalten nach dem Eintref-fen der Spanier unter Cortés weiter geschwächt. Nach ihrem militärischen Sieg setzten die Spanier Motecuzoma zunächst fest, ehe er später während eines Auf-stands getötet wurde. Seine beiden Nachfolger waren letztlich unfähig, dem Zerfall des Aztekenreiches etwas entgegenzusetzen.

Im modernen Bolivien findet Herrschaft im Rahmen staatlicher und auch weitgehend demokratischer Strukturen statt, wobei hier die Wahl von Evo Mora-

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les zum Präsidenten sowohl die Substanz der Demokratie unterstreicht, anderer-seits aber den staatlichen Herrschaftsrahmen in Frage stellt. Vor der Wahl von Morales 2005 war der Funktionsbereich des Staates nach gewaltsamen Unruhen in mehreren Landesteilen deutlich eingeschränkt gewesen. In diesen Territorien übernahmen Gewerkschaften und autochthone Organisationen die Bereitstellung politischer Ordnung. Diese Institutionen stellen auch ein Element der Reformen dar, mit denen Morales den Staat umbauen und ihm so zu einer größeren basis-demokratischen Responsivität und Legitimität verhelfen will. Das Resultat ist eine fragile Koexistenz zwischen den legal-rationalen Institutionen des Zentral-staates und den parasouveränen Ordnungen auf der lokalen Ebene.

Die vorkolonialen Igbo stellen ein klassisches Beispiel einer segmentären bzw. akephalen Gesellschaft (Sigrist 1979) dar. Autorität wurde hier aufgrund der Prinzipien der Gerontokratie und der Primogenitur den Älteren zugespro-chen; diese bedeutete jedoch nicht Herrschaft, sondern eher die Möglichkeit des Gehörtwerdens, und konnte auch durch die Wertschätzung individueller Errun-genschaften entstehen. Durch den Kontakt zu europäischen Händlern und die Errichtung des Kolonialstaats änderte sich die politische Ordnung jedoch, insbe-sondere die Installation von Warrant Chiefs bedeutete einen Bruch mit der politi-schen Tradition. Aspekte der klassischen Kultur des Dezentralismus sind jedoch auch heute, wo die Igbo als Teil des postkolonialen Vielvölkerstaates Nigeria leben, noch sichtbar.

In den südafrikanischen Häuptlingstümern ist die Tradition (bzw. ihre „neo-traditionelle“ Rekonstruktion) eine wichtige Legitimationsquelle. Die Autorität des Häuptlings beruht auf Patronage, der Kontrolle über Symbole, ritueller Auto-rität und magischer Macht. Auch hier haben Kolonialisierung, staatliche Unab-hängigkeit und das Ende der Apartheid Rückwirkungen auf das Herrschaftsmo-dell, so dass Krämer es als lediglich „neotraditional“ bezeichnet. Heute sind Häuptlinge auf verschiedenen Ebenen des Staates als legitime Repräsentanten bestimmter gesellschaftlicher Gruppen anerkannt und in verschiedene Gremien eingebunden. In der Provinz KwaZulu-Natal zeigt sich exemplarisch, wie die dortigen Häuptlinge selektiv Machtkämpfe mit der Staatsmacht ausfechten und nach Positionen in politischen Parteien streben, um dadurch ihre lokalpolitischen Kompetenzen zu erweitern.

Im frühhellenistischen Makedonien war der König der militärische Führer der makedonischen Fürstentümer und damit wenig mehr als ein primus inter pares. Die makedonische Heeresversammlung legitimierte die Herrschaft durch den Akt ihrer Übertragung an den (militärisch) stärksten und fähigsten Fürsten. Als nach dem Tode von Alexander und dessen Sohn die Linie der Argeaden erlosch, kam es zu gewaltsamen Kämpfen unter Alexanders Heerführern, den Diadochen, um die Herrschaft. Die Nachfolger standen nun vor dem Legitimati-

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onsproblem, dass sie zwar über militärischen Ruhm, nicht aber über die notwen-dige adlige Abstammung verfügten. Deshalb wurden umfangreiche propagandis-tische Maßnahmen angestrengt, um die Rechtmäßigkeit der Herrschaft zu unter-streichen und die Leistungsfähigkeit des neuen Monarchen herauszustellen.

Nicht unähnlich, wenn auch von stärker zeremonieller Natur, war der Akt der Königswahl unter den frühmittelalterlichen Franken. Diese bestand aus der öffentlichen Bestätigung von Thronprätendenten durch eine Versammlung des Adels und der Freien. Die Aufgabe des Königs war die Herstellung und Wah-rung der „ordo“, also von Frieden und Harmonie, sowie die Sicherung des Rechts. Mit dem Staatsstreich Pippins, der das Königtum der Merowinger durch die Herrschaft der Hausmeier ersetzte, endete die hergebrachte politische Ord-nung. Ähnlich wie die hellenischen Diadochen stand das Geschlecht Pippins nun vor der Aufgabe, seine Herrschaft auf neue Weise zu legitimieren, und griff dafür auf unterschiedliche Mittel zurück, die teils eine Kontinuität mit der Ver-gangenheit und teils auch innovative Elemente darstellten.

Die frühneuzeitliche Eidgenossenschaft stellt ein interessantes Beispiel ei-ner gleichberechtigten Konföderation unabhängiger politischer Einheiten dar. Die einzelnen Kantone waren aristokratisch durch lokale Eliten regiert, während auf der übergeordneten Ebene durch eine Einstimmigkeitsregelung die meisten Konflikte entschärft wurden. Obwohl den Kantonen und Städten nach dem Prin-zip der Subsidiarität sehr viel Entscheidungsautonomie erhalten blieb und ob-wohl die Eidgenossenschaft als solche keinerlei Kontrolle über Gewaltmittel verfügte, konnten kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den einzelnen politischen Einheiten vermieden werden. Innerhalb der Kantone und Städte war die Herrschaft der mächtigen Familien meist unangefochten, solange diese einen Teil ihrer Einnahmen als Pensionen an die Bürger weitergaben. Sofern jedoch dieser implizite Sozialvertrag durchbrochen wurde, konnten politische Krisen entstehen, die bis zur Absetzung des Herrschers führen konnten.

Gewisse Anklänge an das eidgenössische Modell der Gewaltordnung finden sich im nordirakischen Kurdistan, wo während des späten Hussein-Regimes die Gewaltmittel durch Milizen politischer Parteien kontrolliert wurden. Die politi-sche Ordnung war jedoch häufigen Änderungen unterworfen. So genoss Kurdis-tan in den 1990er Jahren zunächst eine große de facto-Autonomie, was sich je-doch unter der Nach-Hussein-Ordnung ab 2003 wieder etwas relativierte. Ein wichtiges internes Moment zur Stabilisierung und Legitimierung von Herrschaft blieb jedoch der Neopatrimonialismus, über den die einflussreichen Familien ihre Loyalitätsnetzwerke betreiben.

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2.2 Legitimation von Herrschaft und Kontrolle der Gewaltmittel In der Frage der Gewaltkontrolle lassen sich anhand des Zentralisierungsgrades sehr unterschiedliche Modelle identifizieren. Am zentralistischen Ende des Spektrums findet sich das nationalstaatliche Modell wie z.B. in Bolivien. Hinzu kommen die imperialen Modelle, in denen die Herrschaft mehr (Makedonien) oder weniger (Azteken, Franken) direkt auf militärischer Überlegenheit fußte und somit von einer effektiven Kontrolle der Gewaltmittel abhing. In der Mitte befindet sich der Fall Kurdistan, wo die Peshmerga-Milizen der beiden dominan-ten Parteien ein ungefähres Äquivalent zu einer staatlich verfassten Polizei bilde-ten. Diese Milizen bestanden jedoch aus Kämpfern von verschiedenen Stämmen und konnten somit von der Parteiführung nicht nach Belieben mobilisiert und eingesetzt werden. Vielmehr bedurften die Parteiführer einer gewissen Überzeu-gungsfähigkeit und Legitimität, da sie im Bedarfsfall die Unterstützung der ande-ren Stämme immer wieder neu herstellen musste.

Am anderen Ende des Spektrums befinden sich dezentralisierte Varianten, die sehr stark über soziale Normen reguliert werden (Igbo) oder in denen die politische Führung nur im Ausnahmefall Gewaltmittel mobilisieren kann (südaf-rikanische Häuptlingstümer). Interessant sind hier die Parallelen zwischen seg-mentären Gesellschaften und der auf einer höheren Aggregationsebene bestehen-den Eidgenossenschaft, der es ebenfalls gelang, die interne Gewalt trotz des Fehlens einer Hierarchie oder Hegemonie zu regulieren. Dies wurde unter ande-rem dadurch gewährleistet, dass aufgrund der Beibehaltung des Milizsystems die Mobilisierung für den Krieg von der Zustimmung der Bevölkerung abhing.

Vom Standpunkt der Effektivität betrachtet lassen sich kaum Unterschiede zwischen den verschiedenen Modellen feststellen. Bereits dies ist eine bemer-kenswerte Feststellung, da die politische Theorie seit Thomas Hobbes von der Notwendigkeit eines Souveräns zur Überwindung des innergesellschaftlichen Gewaltproblems ausgeht (Hobbes 1651, Hampton 1986; für eine moderne Vari-ante vgl. Kasfir 2004). Vielmehr lässt sich für keines der Ordnungsmodelle eine besondere innere Gewaltsamkeit feststellen, während die nach außen gerichtete Gewaltsamkeit in den imperialen Ordnungen wesentlich höher ist, ja in manchen Fällen (Makedonien) sogar einen Grundpfeiler der Herrschaftslegitimation dar-stellt.

Im Gegensatz zur Unterschiedlichkeit im Bereich der Gewaltkontrolle las-sen sich bei den Legitimationsmustern einige Parallelen identifizieren. Bei den politischen Ordnungen, die theoretisch wie normativ unzufrieden stellend oft als „vormodern“ oder „vorstaatlich“ bezeichnet werden (bei den Igbo, den südafri-kanischen Häuptlingstümern, den Azteken, den Franken sowie den makedoni-schen Dynastien), beruhte die Rechtmäßigkeit der Herrschaft zumeist auf einer

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Mischung von transzendenter bzw. traditioneller und leistungsbezogener Legiti-mation. Unter den Igbo bestand diese Mischung aus einer Anerkennung indivi-dueller Leistung und dem Primat des Alters sowie dem Einfluss jenseitiger Mächte. Die Macht der südafrikanischen Häuptlinge beruht auf handfester Patro-nage und magischer Macht. Unter den Azteken war die imperiale Dynastie stark religiös aufgeladen: Die Wahl eines Nachfolgers fiel dabei auf einen göttlich vorbestimmten Kandidaten. Gleichzeitig bestand ein massiver Leistungsdruck gegenüber dem Herrscher, der sich seiner Vorsehung gegenüber würdig erweisen musste. Unter den Franken besaß die Kontrolle des königlichen thesaurus be-sondere Bedeutung, da dieser nach dem Tod eines Königs zunächst bei dessen Witwe verblieb, weshalb eine Heirat mit ihr den Anspruch auf den Thron zemen-tieren konnte. Dieser Königsschatz hatte somit eine symbolische Bedeutung, viel wichtiger war jedoch die Möglichkeit, dadurch Patronage zu erteilen und sich die Unterstützung der Mächtigen zu erkaufen. Am deutlichsten wurde die Vermi-schung von transzendenten und leistungsbezogenen Elementen der Legitimation bei den Makedoniern, wo der „Speererwerb“, also die kriegerische Eroberung neuer Herrschaftsgebiete, eine religiöse Symbolik erhielt und somit die faktische militärische Überlegenheit als göttlicher Wille überhöht wurde.

Darüber hinaus lassen sich verschiedene systemimmanente Akte zur Pro-zesslegitimation identifizieren. Ein Beispiel ist die fränkische Königswahl, wo die versammelten Großen des Reiches Einigkeit für denjenigen Kandidaten de-monstrierten, den sie zuvor in „Hinterzimmergesprächen“ ausgewählt hatten. Ähnliche Mechanismen, teils mit weniger zeremoniellem und stärker substanzi-ellem Charakter, sind die aztekische Königswahl, die eidgenössische Tagsatzung und die makedonische Heeresversammlung. Dazu gehören in moderner Zeit auch demokratische Wahlen (wie in Bolivien oder Kurdistan) ebenso wie die Eigenle-gitimation moderner Staatlichkeit. Deren Strahlkraft wird im Fall der neotradi-tionalen Häuptlinge in Südafrika deutlich, bei denen die Nähe zur staatlichen Verwaltung bzw. zu einflussreichen politischen Parteien durchaus Legitimitäts-vorteile erzeugen kann.

Auch die leistungsbezogene und die transzendente Legitimation sind in zeitgenössischen politischen Ordnungen zu finden, im Widerspruch zu moderni-sierungstheoretisch angehauchten Perspektiven wie z.B. von Kalevi Holsti: „In ancient civilizations (and even in some contemporary states), the mysteries of religion were used to manufacture loyalty and compliance among subjects. Re-sistance was sacrilege and punishable by death. In most modern states, by con-trast, legitimacy is performance-based. The state has to earn and maintain its right to rule through the provision of services, including security, law and order, justice, and a varying range of welfare measures“ (Holsti 1996: 91). Herrschaft im Kontext moderner Staatlichkeit wird eben nicht nur über legal-rationale Me-

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chanismen legitimiert, wie eine Vielzahl von Studien inzwischen zeigt (exempla-risch Clements et al. 2007). In Bolivien stabilisiert Evo Morales seine Herrschaft über charismatische und traditionale Elemente, während in Kurdistan Tradition und Neopatrimonialismus die Herrschaft der wichtigsten Familien aufrechterhal-ten. Ergänzt werden diese Legitimationselemente durch eine Legitimation durch Leistung.

Aus diesem Vergleich lässt sich ersehen, dass es Kontinuitäten und Wandel in den Legitimationsmustern politischer Ordnung gibt. Der auf Weber zurückge-hende Glaube, der u.a. von Holsti ausgedrückt wird, die rational-legale Herr-schaft würde schrittweise alle anderen Formen der Legitimität verdrängen, lässt sich nicht so einfach aufrechterhalten. Vielmehr scheint es so, dass mit dem Aufstieg der „Fiktion des Staates“ (Trutz v. Trotha in diesem Band), also einer Ideologie des Staates als der „natürlichen“ Form politischer Ordnung, eine zu-sätzliche Option zur Legitimation politischer Herrschaft hinzugekommen sei, die aber nicht notwendigerweise im Konflikt mit anderen Formen steht. Insofern scheint es angemessener, die Legitimation politischer Ordnung als eine variable Mischung von verschiedenen Legitimationselementen (transzendent, über Pro-zesse, durch Leistung) zu verstehen.

2.3 Delegitimierung und die Transformation politischer Ordnung Die acht Fallstudien thematisieren verschiedene Prozesse der Transformation politischer Ordnung. In diesem Abschnitt soll verglichen werden, auf welcher Ebene diese Transformation stattfand und welche Ursachen sie hatte, wobei insbesondere danach gefragt werden soll, ob dem Wandel eine Delegimitierung der alten Ordnung vorausgegangen ist.

Es ist zunächst festzustellen, dass die acht betrachteten Transformationsfälle auf unterschiedlichen Ebenen stattfanden. Auf der Ebene der Regierenden wurde die politische Ordnung in Franken verändert, wo zwar ein neuer Personenkreis (die Hausmeier) an die Macht kam, der jedoch die Grundzüge des monarchi-schen Systems beibehielt und sogar weiterentwickelte. In diese Kategorie gehört auch der zweimalige Machtwechsel in der eidgenössischen Stadt Zug, wo die herrschende Aristokratenfamilie der Zurlaubens abgesetzt und durch den Am-mann Schumacher ersetzt werde, der wiederum nach kurzer Zeit seinerseits sei-nes Amtes (zugunsten der Zurlaubens) enthoben wurde.

Sind diese zwei Fälle noch recht eindeutig gelagert, wird eine Einordnung anhand der Transformationsebene schwieriger, je grundlegender diese ist. Bei den Igbos fand durch die Einsetzung der Warrant Chiefs durch den Kolonialstaat eine Transformation der Eliten statt, wobei die Institutionalisierung des Postens

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und das hohe Ausmaß der Zentralisierung bereits ein Novum darstellte. In die (post-)koloniale Gesellschaft waren bzw. sind die Igbo nur zum Teil integriert, jedoch ist der Einfluss des (kolonial-)staatlichen Referenzrahmens auf das politi-sche Handeln unübersehbar. Insofern vollzog sich auch eine Transformation auf der Ebene der politischen Gemeinschaft. Ein umgekehrter, jedoch vergleichbarer Prozess fand in Südafrika statt, wo die Häuptlinge durch die Kolonialmacht und den Apartheidstaat weitgehend entmachtet wurden. Durch die Unterordnung der Häuptlinge unter die Autorität des Staates wurde die politische Gemeinschaft radikal transformiert, gleichzeitig wurde sie neuen Eliten unterworfen.

Schwieriger ist eine Einordnung im Falle Makedoniens, wo es durch die Zersplitterung des Alexanderreiches zu einer Transformation der politischen Gemeinschaft kam, ohne dass dabei die politischen Eliten ausgetauscht wurden. Vielmehr übernahmen die Heerführer die Macht und übernahmen dazu das alte monarchische System. In Bolivien fand in den hochandinen Gebieten zunächst eine Neudefinition indigener Identität und damit eine Auflösung der national-staatlichen politischen Gemeinschaft statt, wobei die CSUTCB zur neuen lokalen Elite wurde. Interessanterweise folgte auf diese Zersplitterung der Gesellschaft mit der Wahl von Morales eine Transformation auf der Ebene der Regierenden, die zur Reintegration der Gesellschaft im Rahmen des Staates führte. Ähnliche Ansätze waren im Nordirak zu beobachten, wo sich die Kurden durch zuneh-mende lokale Autonomie vom Hussein-Regime abspalteten. Dies muss heute etwas relativiert werden, da die kurdischen Führer betonen, keine Loslösung vom Irak anzustreben, sondern einen starken Autonomiestatus innerhalb eines föderalen Irak verlangen. Während es sich bei Bolivien und Kurdistan um inner-staatliche Fragmentierungsprozesse handelt, ist die Transformation des Azteken-reiches anders gelagert: Hier fand unter dem Druck einer äußeren Macht, der Spanier, zunächst ein Wandel der Regierung statt, nachdem Motecuzoma in spanischer Haft umkam; kurze Zeit später zerfiel jedoch das gesamte aztekische Imperium.

Entgegen unserer Vermutung lässt sich nicht in allen Transformationspro-zessen eine vorausgehende Delegitimierung der politischen Ordnung feststellen. Interessant ist jedoch die Beobachtung, dass die neuen Ordnungen allesamt zu-nächst mit einem Legitimierungsproblem konfrontiert waren. In Makedonien fand keine Delegitimierung der alten Ordnung statt, da diese mit dem Ende der alexandrischen Linie ausgelöscht war. Die Diadochen hoben danach ihre militä-rischen Dienste hervor und versuchten die Kontinuitäten zur alten Dynastie zu betonen, indem sie in die Argeaden-Dynastie einheirateten, sich entsprechende verwandtschaftliche Bande andichteten oder den Bestattungsort Alexanders kontrollierten. Im Frankenreich weist die Schwäche der letzten Merowinger dagegen schon auf ein Legitimitätsdefizit hin. Dennoch mussten die fränkischen

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Hausmeier viel unternehmen, um die Legitimität ihrer Herrschaft nach dem Staatsstreich Pippins zu untermauern. Dafür konnten sie zum Einen auf ihr An-sehen zurückgreifen, das sie durch ihre lange de facto-Herrschaft im Franken-reich angehäuft hatten, zum Anderen entwickelten sie neue Rituale und Symbole wie die Salbung, den päpstlichen Segen und später auch die Kaiserkrönung Karls des Großen. Demgegenüber war die Herrschaft in der Stadt Zug eng an die leis-tungsbezogene Legitimität des Herrschers gekoppelt. Als die Zurlaubens auf-grund ihrer Missachtung partizipativer Verfahren und mangelnder Reziprozität bei der Auszahlung der Pensionen in Ungnade fielen, wurden sie durch Schuma-cher ersetzt. Als dieser jedoch das Bündnis mit Frankreich brach und die Pensi-onsgelder ausblieben, wurde er seinerseits abgesetzt und die Zurlaubens rehabili-tiert.

In den Fällen Boliviens und Kurdistans ist das Moment der Delegitimierung überdeutlich. In den hochandinen Regionen Boliviens war der Staat unter dem Banzer-Regime entweder abwesend oder repressiv. Auch die Redemokra-tisierung 1982 führte zu keiner Inklusion der indigenen Bevölkerung, so dass indigene Organisationen wie die CSUTCB – nach einer kurzen Phase der Neu-findung – durch die Politisierung ethnischer Ideen und die Thematisierung der indigenen Marginalität weitere Unterstützung gegen den Zentralstaat mobilisie-ren konnten. In Kurdistan drückte sich die Illegitimität des despotischen Hus-sein-Regimes aus kurdischer Sicht u.a. in bürgerkriegsähnlichen Zuständen wäh-rend der 1980er Jahre aus. Die Einigung der kurdischen Kräfte 1988 und die Schwächung des Regimes im Zweiten Golfkrieg 1991 stellten schließlich die entscheidenden Anstöße zur Änderung der politischen Ordnung dar.

Im Fall der Igbo und der südafrikanischen Häuptlinge fand keine Delegiti-mierung statt, die politischen Ordnungen wurden vielmehr durch das Eingreifen externer, imperialer Mächte verändert. Die interne Anpassungsfähigkeit der segmentären Ordnung der Igbo vor der Eroberung durch die Kolonialmacht zeigt sich u.a. durch das Beispiel der Ozo. Diese mächtige Gruppe war aus einer Ver-änderung der internationalen Umwelt – konkret: den Handelsmöglichkeiten mit den Europäern – hervorgegangen und verlangte nach politischen Einflussmög-lichkeiten. Durch die Schaffung des Ozo-Titels wurde dem Träger ein besonde-rer Status verliehen, wodurch dieser ein Interesse an der Aufrechterhaltung der Ordnung erhielt und in das System integriert werden konnte. Auch das Azteken-reich zerfiel letztlich nur durch das Eingreifen einer fremden Macht, allerdings ist hier durchaus eine Delegitimierung Motecuzomas durch interne Machtkämp-fe, aber noch mehr aufgrund seines „Versagens“ vor den Göttern festzustellen. In dem Gesichtspunkt der Legitimität waren seine Nachfolger Cuitlahuac und Cuauhtemoc sogar in einer besseren Position, da ihnen das Scheitern Mote-cuzomas nicht angelastet wurde. Dennoch konnten sie die verschiedenen mexi-

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kanischen Völker nicht gegen die Spanier einen, so dass der Zerfall des Reiches nicht mehr aufzuhalten war.

Somit lässt sich zunächst festhalten, dass die Transformation politischer Ordnung entweder von innen oder außen angestoßen werden kann. Geschieht dies von innen, ist dafür die Delegitimierung der politischen Ordnung eine not-wendige Vorbedingung. Der Fall Makedonien scheint dieser Erklärung zu wider-sprechen, allerdings lässt sich argumentieren, dass die Herrschaft über das Reich so stark mit der Person Alexanders verbunden war, dass kein Nachfolger nach seinem Tod mehr als legitim erachtet wurde. Bei einer von außen angestoßenen Transformation kommt es nicht selten zur Bildung hybrider Machtstrukturen, die neue und alte Elemente kombinieren.

Generell ist zu beobachten, dass für jedes neue System ein Bedarf nach er-neuerter Legitimation besteht. Dies kann durch die Einbeziehung von Institutio-nen der alten Ordnung geschehen, wie z.B. durch den Erhalt des Häuptlingstums im südafrikanischen Staat, aber auch durch Symbole wie z.B. die Zugehörigkeit zur Argeaden-Dynastie in Makedonien. Dieses Legitimationsproblem scheint mit der Transformationsebene anzuwachsen. Bei einer Transformation auf der Ebene der Regierenden können diese viele Institutionen und Symbole der vorigen Herr-scher übernehmen, während bei einer Transformation auf der Ebene der politi-schen Gemeinschaft eine grundlegendere Neulegitimation erforderlich zu sein scheint.

2.4 Bearbeitung und Austrag des Transformationsprozesses Neben den Ursachen ist auch der Verlauf des Transformationsprozesses relevant. Zentral ist hier die Frage, ob der Konflikt, der der Transformation zu Grunde liegt, innerhalb bestehender Institutionen bearbeitet wurde, und ob es dabei zur Ausübung von Gewalt kam. Idealtypisch haben wir hier drei verschiedene Typen unterschieden: 1) eine Delegitimierung mit institutionalisierter Konfliktlösung, die den Wandel einigermaßen geordnet und gewaltlos ablaufen lässt, 2) eine Delegitimierung ohne institutionalisierte Konfliktlösung, die den Wandel unter-bindet oder sogar zu einer Verhärtung des Konflikts führt, und 3) eine versuchte Konfliktlösung mit Gewalt.

An den acht untersuchten Fällen lässt sich dieses Schema nur zum Teil überprüfen, da die Fälle hauptsächlich Konflikte innerhalb bestimmter politi-scher Systeme behandeln. In dreien dieser Fälle ist die Transformation politi-scher Ordnung maßgeblich von außen angestoßen worden: bei den Azteken, den Igbo und den südafrikanischen Häuptlingstümern. Hier existierten keine politi-schen Institutionen zwischen den lokalen Ordnungen und den externen Akteuren.

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Die Unterwerfung der indigenen Bevölkerungen unter imperiale bzw. koloniale Herrschaft kann man unter diesen Umständen noch am ehesten als gewaltsame Konfliktlösung einordnen. Dass es innerhalb dieser Gesellschaften Konflikt lösende Institutionen gab, ist jedoch unbestritten, wie das im vorigen Abschnitt geschilderte Beispiel der Ozo illustriert.1

Auf die anderen Fälle lässt sich diese Systematik jedoch relativ gut anwen-den. In Bolivien stellte das demokratische System, das ab 1982 bestand, die zentrale Institution zur Konfliktschlichtung dar, die jedoch eine Delegitimierung der politischen Eliten nicht verhindern konnte. Dennoch gelang es, den Konflikt in Form von Wahlkampf auszutragen, bei dem sich letztlich Evo Morales durch-setzte. Insofern lässt sich Bolivien als sehr gutes Beispiel für eine Delegiti-mierung mit institutionalisierter Konfliktlösung charakterisieren. Ähnliche Me-chanismen gelten für die Stadt Zug, in der effektive Systeme bestanden, durch die die Bürger ihre Herrscher absetzen konnten, wenn diese den impliziten Sozi-alkontrakt brachen. Auch zwischen den Orten der Eidgenossenschaft konnte der Friede durch Schiedsverfahren und die große lokale Autonomie sichergestellt werden.

Kurdistan stellt ein Gegenbeispiel dar. Die Beziehungen zwischen dem Hussein-Regime und den Kurden waren so schlecht, dass es letztlich keine ge-meinsamen Institutionen mehr gab. Der irakische Staat war vollständig vom Regime vereinnahmt und gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt worden, so dass dieser keine Verbindung zwischen den Konfliktparteien mehr darstellen konnte. Letztlich blieb beiden Seiten nur der Versuch einer gewaltsamen Kon-fliktlösung. Auch hier gibt es gewisse Ähnlichkeiten mit einem anderen Fall, nämlich den Diadochenkriegen der Makedonier. Nach dem Tode Alexanders verlor die Heeresversammlung ihre einende Kraft, was zu nicht weniger als sechs Kriegen zwischen den verschiedenen Parteien führte. Ohne die einende Figur Alexanders waren die gemeinsamen Institutionen delegitimiert, so dass der Wan-del mit Gewalt ausgetragen wurde.

Der fränkische Fall entzieht sich einer leichten Einordnung. Der Niedergang der Merowingerkönige war so offensichtlich, dass diese zum Zeitpunkt ihrer Absetzung bereits alle Legitimität eingebüßt hatten. Die Absetzung durch Pippin vollzog sich dennoch zunächst außerhalb bestehender Institutionen, jedoch be-mühte er sich danach, die Kontinuitäten zum alten System herauszustellen. Ins-gesamt lässt sich dieser Fall als der einer Delegitimierung mit einer friedlichen Konfliktlösung außerhalb bestehender Institutionen charakterisieren, was aber in 1 Bei den Azteken bestand mit dem Königsmord auch eine Art institutioneller (oder zumindest institutionenkonformer) Konfliktlösung. Dabei mag es sich zwar um einen Spezialfall handeln, dennoch ist dieser nur schwer in unser Schema einzuordnen, da wir davon ausgegangen sind, dass institutionelle Konfliktlösungen grundsätzlich gewaltfrei bleiben.

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erster Linie in der Machtlosigkeit Childerichs und an dessen Unfähigkeit, einen Widerstand zu mobilisieren, liegt.

2.5 Gewalt und Institutionen nach der Transformation Letztlich soll auch die Frage gestellt werden, wie bei einem Zusammenbruch der alten Ordnung der Übergang zu einer neuen politischen Ordnung ablief. Beson-ders interessant sind hier die Fragen, wie in diesen Übergangsphasen die Gewalt organisiert und reguliert wurde und ob es soziale Institutionen oder Normen gab, die zur Ordnung der Verhältnisse beigetragen haben. Die Fälle der Franken und der Schweiz fallen hier nicht ins Gewicht, da diese Transitionen auf der Ebene der Herrschenden stattfanden und die politische Ordnung nicht grundlegend neu organisiert wurde. Auch in Bolivien fand der Wandel zwar einerseits sehr grund-legend, jedoch unter weitergehender Beibehaltung vorhandener Institutionen statt. In den Fällen, in denen europäische Mächte indigene politische Ordnungen durch eigene imperiale oder koloniale Strukturen ersetzten (Igbo, Südafrika, Azteken), weisen nur kurze Übergangsphasen auf. Die top-down-Einführung politischer Strukturen ist jedoch mit unserer Systematik nicht einfach zu verbin-den, da diese insbesondere die endogene Herausbildung von Governance-Mecha-nismen im Blick hat.

Somit verbleiben letztlich nur zwei Fälle, die uns Aufschlüsse darüber ge-ben, was nach einer Transformation politischer Ordnung geschieht. In Makedo-nien zerfiel das Alexanderreich in separate Monarchien, die trotz der gemeinsa-men Vergangenheit und gemeinsamer kultureller, sozialer und religiöser Institu-tionen häufig Konflikte miteinander ausfochten. Angesichts der Quellenlage sind jedoch nur wenige Informationen über diese Periode vorhanden. Mehr ist dage-gen über das letzte Fallbeispiel Kurdistan bekannt. Nach 1991 hatte das Hussein-Regime seine Autorität in den kurdischen Gebieten verloren. Die Gewaltmittel wurden dezentral von den Peshmerga-Truppen der mächtigen Familien kontrol-liert, die in den beiden wichtigsten politischen Parteien organisiert waren. Einer-seits teilten diese Parteien den Wunsch nach kurdischer Unabhängigkeit, ande-rerseits hinderte sie dies nicht daran, immer wieder gewaltsam gegeneinander vorzugehen. Erst unter dem Druck der USA normalisierten sich die Beziehun-gen, so dass dies schrittweise unterbunden wurde.

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3 Schlussfolgerungen aus dem Vergleich Aus der Betrachtung der verschiedenen Fragenkomplexe und dem Vergleich der acht Fälle lassen sich verschiedene Schlussfolgerungen für unseren theoretischen Ansatz ziehen, die diesen teils unterstützen, teils aber auch weiteren Überarbei-tungsbedarf signalisieren. An erster Stelle ist hier zu nennen, dass unsere Theorie Schwierigkeiten mit denjenigen Fällen hat, in denen der Wandel maßgeblich von außen angestoßen wurde und in denen kaum soziale Beziehungen zwischen in-ternen und externen Akteuren bestanden, wie es in den drei Fällen imperialer und kolonialer Eroberung zutraf. Hier müssen wir klarstellen, dass sich unser Modell auf Transformationsprozesse bezieht, die innerhalb bestehender sozio-politischer Zusammenhänge stattfinden. Dies schließt den Einfluss externer Akteure nicht aus (wie die wichtige Rolle der USA in der Transformation in Kurdistan zeigt), setzt allerdings gewisse interne Konflikte voraus, die den zentralen Motor einer Transformation darstellen.

Zweitens ist festzuhalten, dass wirksame Gewaltkontrolle nicht durch den Grad der Zentralisierung der Gewaltmittel bestimmt wird, sondern von der Ef-fektivität von Governance-Mechanismen sowie von verbindenden sozialen Insti-tutionen und Normen. Zentralisierte politische Institutionen scheinen, zumindest historisch, sogar eher zu einer erhöhten externen Gewaltsamkeit zu neigen.2 Drittens ist Legitimität in allen politischen Ordnungen multidimensional, basiert also immer auf einer Mischung unterschiedlicher Quellen. Zu diesen Quellen gehören die Leistungsfähigkeit einer politischen Ordnung (also eine output-Legitimität), transzendente oder traditionelle Aspekte sowie Charisma. Hinzu kommen Aspekte der Prozesslegitimation, z.B. in Form von Königswahlen und demokratischen Wahlen, wobei letztere noch ein zusätzliches Element der Input-Legitimation aufweisen. Sowohl moderne als auch „vor-moderne“ politische Ordnungen verwenden eine Vielzahl dieser Legitimationsquellen, so dass hier von keiner teleologischen Entwicklung hin zu einer monistischen Rationalität gesprochen werden kann.

Viertens ist die Klassifikation von Transformationsfällen anhand ihrer je-weiligen Ebene (Regierung, Eliten, politische Gemeinschaft) möglich, aber oft schwierig abzugrenzen oder zu begründen. Hier sind eine klarere Definition der Transformationsebenen und deren Operationalisierung notwendig. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass bei einer Transformation auf grundlegenderer Ebene auch die darüber liegenden Ebenen oft, aber nicht immer einem Wandel unter-worfen werden.

2 Zum Zusammenhang von Kriegführung und der Zentralisierung der Gewaltmittel vgl. Tilly 1985, zu dem von harmonischer Konfliktlösung und Dezentralisierung vgl. Newman 1983: 15.

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Fünftens kann man nicht generell davon sprechen, dass einer Transformati-on die Delegitimierung der alten Ordnung vorausgehen muss. Dies kann viel-mehr auch durch exogene Schocks (Eroberung) oder die anderweitig verursachte Auslöschung bestimmter Strukturen oder zentraler Personen (wie der Tod Ale-xanders) ausgelöst werden. Auffällig ist jedoch, dass die neue Ordnung zunächst immer ein Legitimierungsproblem bewältigen muss. Dieses Problem ist umso akuter, je fundamentaler die Transformation war. Dazu greift die neue Ordnung oft auf Systeme und Symbole der alten Ordnung zurück, es ist allerdings im Falle einer delegitimierten Ordnung auch denkbar, dass diese zu Abgrenzungs-zwecken bewusst abgelehnt werden. Insgesamt ließe sich die Hypothese aufstel-len, dass alle Symbole abgelehnt werden, die auf derselben Transformationsebe-ne oder darüber liegen, während alle Symbole von darunter liegenden Ebenen eher bestärkt werden; bei einer Transformation auf Elitenebene würden so die Symbole der alten Regierung und der alten Elite abgelehnt, die der politischen Gemeinschaft dagegen hervorgehoben.

Sechstens war in den fünf Fällen, in denen die Transformation endogen an-gestoßen wurde, unsere Systematik sehr passend, um den Einfluss von Institutio-nen auf den Verlauf des Wandels zu beschreiben, insbesondere was die Gewalt-trächtigkeit dieses Prozesses angeht. Einzig der Fall der Franken entspricht dabei nur bedingt unseren Annahmen.

4 Fazit In diesem Beitrag wurden die Ergebnisse der acht Fallstudien zusammengefasst und entlang mehrerer Leitfragen ausgewertet. Dabei konnten mehrere Gemein-samkeiten, aber auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Fällen herausge-arbeitet werden. Das Zwischenfazit lautet, dass unsere Theorieansätze grundsätz-lich geeignet scheinen, um die Transformation politischer Ordnungen zu fassen, auch wenn sie gewisse Schwächen aufweisen, die noch weitere Präzisierung erfordern. Insofern ist die Frage, ob eine Theorie der Transformation politischer Ordnung machbar ist, eindeutig zu bejahen. Dies ist angesichts der enormen Heterogenität der acht Fallstudien bemerkenswert, da dies unsere Theorie mit einer großen Herausforderung konfrontierte. Ein Vergleich mit historisch, regio-nal oder typologisch ähnlicheren Fällen dürfte demzufolge homogenere und deutlichere Ergebnisse produzieren.

Dies ist umso wichtiger angesichts unserer Erwartung, dass sich in den kommenden Jahrzehnten politische Transformationsprozesse immer weniger im bekannten Rahmen des nationalen „Containerstaates“ abspielen werden, sondern dass dabei andere Ebenen immer mehr einbezogen werden. Ein Beispiel dafür

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sind die starke Durchmischung globaler, nationaler und lokaler Ebenen in Post-konfliktländern, wo UN-Gesandte, Diplomaten, Minister und lokale Autoritären wie chiefs auf Augenhöhe miteinander verhandeln und wo parallel politische Beziehungen neu verhandelt werden (vgl. exemplarisch Tull 2003, Veit 2008). Auch Prozesse des Staatszerfalls und des erneuten state-building werden weiter-hin auf der internationalen Agenda präsent bleiben. Insofern ist eine erweiterte Theorie der Transformation, die diese vielfältigen Prozesse berücksichtigen kann, nicht nur machbar, sondern auch notwendig. Literatur Akude, John E. (2008): Government and Crisis of the State in Africa, London: Adonis &

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Autorinnen und Autoren 277

Autorenverzeichnis John Emeka Akude, Dr. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik in Bonn und Lehrbeauftragter am Institut für Afrikanistik an der Universität zu Köln. Anna Daun, Dr. ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln. David Egner, Dr. ist Research Fellow am Lehrstuhl für Internationale Politik und Außenpolitik der Universität zu Köln und Lehrbeauftragter an der Universidad Católica Boliviana in La Paz/ Bolivien. Daniel Graña-Behrens, Dr. studierte lateinamerikanische Geschichte, Ethnologie und Altamerikanistik in Guanajuato (Mexiko) und Bonn. Er widmet sich der Erschließung von indigenen Primärquellen aus Mesoamerika. Daniel Lambach, Dr. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft und Associate Fellow am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duis-burg-Essen. Mario Krämer, Dr. ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Ethnologie der Universität zu Köln. Sabine Müller, PD Dr. ist Privatdozentin für Alte Geschichte am Historischen Seminar der Universität Hannover und LfbA im Institut für Klassische Altertumskunde der CAU Kiel.

J. Akude et al. (Hrsg.), Politische Herrschaft jenseits des Staates, DOI 10.1007/978-3-531-94017-5,© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011

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278 Autorenverzeichnis

Elke Ohnacker, Dr. ist Lehrbeauftragte an den Universitäten Konstanz, St. Gallen sowie an der PH Thurgau (Kreuzlingen, Schweiz). Daniel Schläppi, Dr. ist SNF-Projektmitarbeiter am Historischen Institut der Universität Bern. Bettina Schorr, Dr. des. ist Lehrbeauftragte an der Universität zu Köln und erstellte eine Dissertation zu sozialen Bewegungen in Bolivien. Trutz von Trotha, Prof. Dr. ist Professor Emeritus für Soziologie an der Universität Siegen. Kürzlich gab er mit Jakob Rösel das Buch „On Cruelty“ (Rüdiger Koppe) heraus. Frank Wehinger, Dr. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsfor-schung in Köln.