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Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch [1] definiert eine idealtypische Postdemokratie
folgendermaßen:
„ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden [...], in dem allerdings
konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe
so stark kontrollieren, daß sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe
von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben[2]“
Seine idealtypische Definition der Demokratie „setzt voraus, daß sich eine sehr große Zahl von
Menschen lebhaft an ernsthaften politischen Debatten und an der Gestaltung der politischen Agenda
beteiligt und nicht allein passiv auf Meinungsumfragen antwortet; daß diese Menschen ein gewisses
Maß an politischem Sachverstand mitbringen und sie sich mit den daraus folgenden politischen
Ereignissen und Problemen beschäftigen.“[3]
Vorangetrieben werde die Entwicklung zur Postdemokratie durch den unterschiedlich hohen
Vernetzungsgrad von einerseits global agierenden Unternehmen und andererseits Nationalstaaten.
Crouch sieht das zentrale Problem darin, dass die Angleichung von Lohnniveaus,
Arbeitnehmerrechten oder auch Umweltstandards durch zwischenstaatliche Kooperation langsamer
vorangeschritten ist als die Globalisierung unternehmerischer Aktivitäten. So könnten multinationale
Konzerne mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen drohen, wenn sie beispielsweise mit Steuer- oder
Arbeitsmarktsystemen nicht zufrieden sind. Diese Drohkulisse sei so wirkmächtig, dass der Einfluss
von Unternehmen und Vermögenden auf Regierungsentscheidungen stärker ist als derjenige der
Staatsbürger (Race to the bottom).[4] Seine zentrale These lautet, dass sich die westlichen
Demokratien dem Zustand der Postdemokratie immer mehr annähern und in der Folge der „Einfluß
privilegierter Eliten“[5] zunimmt.
Unter anderem deswegen würden die Regierungen seit den 1980er Jahren
eine neoliberale Politik verfolgen, die die Privatisierung fördert und den Bürgern mehr
Selbstverantwortung aufbürdet. Crouch stellt die These auf: „je mehr sich der Staat aus der Fürsorge
für das Leben der normalen Menschen zurückzieht und zuläßt, daß diese in politische Apathie
versinken, desto leichter können Wirtschaftsverbände ihn - mehr oder minder unbemerkt - zu einem
Selbstbedienungsladen machen. In der Unfähigkeit, dies zu erkennen, liegt die fundamentale Naivität
des neoliberalen Denkens.“[6]
Ritzi und Schaal bezeichnen Postdemokratie „in diesem Verständnis [als] eine Scheindemokratie im
institutionellen Gehäuse einer vollwertigen Demokratie.“[7]
Den Begriff Postdemokratie hält Crouch für gut geeignet, „Situationen [zu] beschreiben, in denen sich
nach einem Augenblick der Demokratie Langeweile, Frustration und Desillusionierung breitgemacht
haben; in denen Repräsentanten mächtiger Interessengruppen [...] weit aktiver sind als die Mehrheit
der Bürger [...]; in denen politische Eliten gelernt haben, die Forderungen der Menschen zu
manipulieren; in denen man die Bürger durch Werbekampagnen »von oben« dazu überreden muß,
überhaupt zu Wahl zu gehen.“[8] Crouch weist explizit darauf hin, dass Postdemokratie kein
nichtdemokratischer Zustand ist.
Verfall politischer Kommunikation[Bearbeiten]
Ein weiteres Kennzeichen der Postdemokratie ist nach Crouch „der Verfall der politischen
Kommunikation“[9] hervorgerufen unter anderem durch die Werbeindustrie und die Einführung
des Privatfernsehens. Die Medienunternehmen seien „heute ein Teil des kommerziellen
Sektors“[10] und „die Kontrolle über diese Medien [befindet] sich in den Händen von sehr wenigen
Menschen konzentriert.“[11] Beispiele seien Silvio Berlusconi oder Rupert Murdoch. „Die Übernahme
der Methoden hat den Politikern dabei geholfen, das Problem der Kommunikation mit dem
Massenpublikum zu lösen; der Demokratie selbst haben sie damit einen Bärendienst erwiesen.“[12]
Exklusive Privilegien Weniger[Bearbeiten]
Ein weiterer Aspekt ist nach Crouch die „Rückkehr der politischen Privilegien für bestimmte
Unternehmer – unter dem Deckmantel der Rhetorik der Marktwirtschaft und des freien
Wettbewerbs.“[13] Nach Crouch stellt dies „das gravierendste Problem für die Demokratie dar.“[14]
Scheinbarer Verlust von Klassen[Bearbeiten]
Ein Symptom der Postdemokratie sei, dass viele davon überzeugt sind, dass „es keine sozialen
Klassen“[15] mehr gäbe. Dies beruhe auf dem „Niedergang der traditionellenArbeiterklasse“[14] und dem
„fehlenden Zusammenhalt der übrigen Klassen“,[16] obwohl es in der westlichen Welt
erhebliche Reichtumsunterschiede gibt.
Auswege nach Crouch[Bearbeiten]
Crouch gibt drei Ebenen an, um den anscheinend „unaufhaltsamen Kurs in Richtung Postdemokratie“
zu ändern: „Erstens mit Maßnahmen, die darauf zielen, die wachsende Dominanz der ökonomischen
Eliten zu begrenzen; zweitens mit Reformen der politischen Praxis als solcher und drittens gibt es
Handlungsmöglichkeiten, die den Bürgern selbst offenstehen.“[17] Der letzte Punkt soll „neue
Identitäten“[18] mobilisieren, die zum Beispiel über Bürgerversammlungen[19] den Beteiligten
Handlungsmöglichkeiten geben sollen. Die Hoffnung der Wiederbelebung der Demokratie liege in
neuen sozialen Bewegungen, welche Identität für die Bürgerinnen und Bürger stiften können. Diese
neuen Bewegungen müssten jedoch, um erfolgreich zu sein, „postdemokratische“ Mechanismen der
Lobbyarbeit für ihre Zwecke nutzen. Aber auch Parteien sollten zentrale Anknüpfpunkte für eine
Revitalisierung der Demokratie bleiben. Eine kritische Begleitung und Unterstützung der Parteien ist
laut Crouch notwendig für eine demokratische Wende[20]. Dabei warnt er zugleich vor extremen
Tendenzen wie „gewalttätige[n] Kampagnen für den Tierschutz, extreme[n] Fraktionen der
antikapitalistischen Globalisierungsgegner, rassistische[n] Organisationen und verschiedene[n]
private[n] Initiativen zur Kriminalitätsbekämpfung, deren Positionen nicht weit von Lynchjustiz entfernt
sind.“[21]
Diese neuen Bewegungen sollen „einen Beitrag zur demokratischen Vitalität“ geben und „die Politik
davor [...] bewahren, zu einem manipulativen Spiel unter Eliten zu verkommen.“[22]
Weitere Wege aus der Postdemokratie[Bearbeiten]
Der Politikwissenschaftler Roland Roth schlägt eine Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements
vor allem auf der kommunalen Ebene, Rückgewinnung öffentlichen Raums durch den Staat, etwa
durch eine Rekommunalisierung privatisierter Einrichtungen, sowie die Einbeziehung eher
partizipationsferner Akteure vor.[23] Daniel Reitzig weist zusätzlich auf die Möglichkeiten
von Bürgergutachten, Liquid Democracy, Rückkehr zur Selbstverwaltung kleiner
Verwaltungseinheiten, Ausweitung der Mitbestimmungsmöglichkeiten bereits bei Kindern und
Jugendlichen sowie den Aufbau einer kritischen Gegenöffentlichkeit hin.[24]
Beispiele[Bearbeiten]
Für Crouch ist New Labour ein Beispiel einer „postdemokratischen Partei“.[25] Mit der Fortsetzung des
neoliberalen Kurses des Thatcherismus „verlor die Partei […] jeden Anknüpfungspunkt an bestimmte
soziale Interessen“[25] der Arbeiterklasse. Die Ausnahme bildeten frauenspezifische Probleme. (siehe
auch: Der dritte Weg) In den Niederlandengelang nach Crouch der Arbeiterpartei ein
„Beschäftigungs-»Wunder«“.[26] Trotzdem gelang der Liste Pim Fortuyns 2002 ein Erfolg, der, nach
Crouch, vermutlich darauf beruht, „daß die Niederländer den Eindruck hatten, die führenden Politiker
machten zu viele Kompromisse, weswegen sie anfällig waren für die neue »Klarheit«, die Fortuyn und
seine Mitstreiter ihnen versprachen. Und da niemand versuchte, klassenspezifische Interessen zu
artikulieren, konnte es diese »Klarheit« eigentlich nur in einer Form geben: indem man nämlich die
Angehörigen der eigenen Nation oder »Rasse« gegen Immigranten und ethnischen Minderheiten
mobilisierte.“[27] Crouch führt weiter als eine typische Partei des 21. Jahrhundert die Forza
Italia Berlusconis an.
Eine Tendenz zu Postdemokratie ergibt sich aus der Bildung internationaler Zusammenschlüsse,
innerhalb derer es noch keine gemeinsame öffentliche Diskussion und keine abgesicherten Strukturen
zur Bildung eines Konsensus aufgrund demokratischen Austrags von Interessenkonflikten gibt. Ein
Beispiel dafür stellt die Europäische Union dar, derenDemokratiedefizit (Demokratiedefizit der
Europäischen Union) allerdings teilweise in Abrede gestellt wird. Dementsprechend werden auch
politische Vorschläge, dieses Demokratiedefizit zu beseitigen[28], in konkreten Reformvorhaben am
politischen System der EU, insbesondere im EU-Verfassungsvertrag, nicht ausreichend berücksichtigt.
Rezeption[Bearbeiten]
In einem Interview sagt Crouch, dass die Obama-Bewegung „meine These von der inneren
Aushöhlung der Demokratie widerlegt.“ Weiter sagt er, „Obama war zwar der Kandidat
der Demokratischen Partei, aber de facto brachte ihn eine Bewegung kritischer, engagierter junger
Leute ins Weiße Haus. Das ist die Hoffnung für die Zukunft.“[29]
Jens-Christian Rabe, der das Buch für die Süddeutsche Zeitung rezensierte, wendet ein, Demokratie
sei in ihrem Kern ohnehin eine elitäre Angelegenheit. Er führt dasBundesverfassungsgericht als
positives Beispiel an. Er kritisiert weiter, dass „auf merkwürdige Weise [...] im Konzept der
Postdemokratie also zweierlei zusammen[trifft]: ein zu aufgeklärtes (normatives) und ein zu
abgeklärtes (desillusioniertes) Politikverständnis.“[30]
Auch Jürgen Kaube kritisiert Crouchs normative Herangehensweise. So idealisiere er
den fordistischen Staat und seine Gesellschaft in der Rückschau und überschätze den tatsächlichen
Einfluss multinationaler Konzerne in der Gegenwart.[31] Eine solche Musterdemokratie wie Crouch sie
wünscht, habe es nie gegeben. Crouch gibt in der Einleitung seines Buches zu, dass sein Idealtyp
anspruchsvoll ist. Er verteidigt ihn jedoch mit dem Argument, das Ansetzen geringerer Maßstäbe
könnte dazu führen, dass schädliche Entwicklungen übersehen werden.[32]
Kritisiert wird von Claus Offe, dass Crouch eine „zu wenig nach einzelnen Ländern und Politikfeldern
differenzierende Diagnose“[33] gelingt.
Paul Nolte meint, dass man die gegenwärtige Kritik von Crouch „historisch [...] im Horizont einer
langen Krisengeschichte [der Demokratie] verstehen“[34] sollte. Die heutige Demokratie des 21.
Jahrhunderts hat sich weiterentwickelt. So trifft weder die „liberal-konservative Sicht“ zu noch „die
linke, ,postdemokratische‘ Perspektive, weil sie den Zustand der Demokratie in ein düsteres Licht
taucht, das eher resignative Einstellungen zu befördern droht.“[35] Nolte spricht heute von einer
„multiplen Demokratie“[36], die reflexiv ist. „Historisch scheint eine Tendenz
zur deliberativen Demokratie zu führen“.[37]
Dirk Jörke argumentiert, dass die Beschreibung der Krise der Demokratie als Postdemokratie
gedeutet werden kann oder auch als einen „Formwandel“ der Demokratie. Manche Kritiker „verweisen
darauf, dass neue Beteiligungsverfahren wie Mediationsverfahren, Bürgerforen oder
Konsensuskonferenzen zunehmen.“[38] Jörke hält dem entgegen, dass nur die gut
ausgebildete Mittelschicht diese neuen Beteiligungsmöglichkeiten nutzt, jedoch die „neuen
Unterschichten“ sich daran nicht beteiligen. „Denn nicht alle Bürgerinnen und Bürger verfügen über
jene Ressourcen, derer es für die erfolgreiche Partizipation an argumentativen Verfahren bedarf.
Hierzu zählen neben Zeit und einer zumindest rudimentären Sachkenntnis eben auch rhetorische
Fähigkeiten und ein selbstbewusstes Auftreten.“[39] Jörke zieht den Schluss, dass es vor allem darauf
ankommt, „Formen der Mobilisierung zu entwickeln, die all jene wieder in den politischen Prozess
einbeziehen, die sich in den vergangenen Jahren in Politik- und Demokratieverdruss geflüchtet
haben.“[40]