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Projekt: Kollektives Arbeitsrecht Erster Teil: Grundlagen § 1 Begriff und System des kollektiven Arbeitsrechts I. Begriffsbestimmung Mit dem Begriff des kollektiven Arbeitsrechts bezeichnet man das Recht der Koalitionen, ihrer Verträge und Auseinandersetzungen sowie das Recht der Betriebsverfassung und der Beteiligung der Arbeitnehmer in den Unternehmensorganisationen. Der Begriff fasst zwei Rechtsbereiche zusammen, die auf einer unterschiedlichen Konzeption der Interessenvertretung für die Arbeitnehmer beruhen. Das gemeinsame Band ist ausschließlich, dass auf Seiten der Arbeitnehmer stets ein Kollektiv besteht, entweder eine auf freiwilliger Grundlage beruhende Vereinigung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen oder ein durch die Betriebszugehörigkeit vermittelter Zusammenschluss. Die Grundsätze und Formen der Interessenvertretung sind dagegen völlig verschieden. Sie begründen eine Zweigleisigkeit des kollektiven Arbeitsrechts, die den „Dualismus zwischen der Gewerkschaftskonzeption und der Rätekonzeption, zwischen der freiwilligen (auf Mitgliedschaft beruhenden) und der allgemeinen gleichen (demokratischen) Interessenvertretung“ widerspiegelt. 1 Die Gründe der Zweigleisigkeit liegen in der Sozialgeschichte Deutschlands. Das Tarifvertragssystem und das Arbeitskampfrecht sind aus dem allgemeinen, privatrechtliche geordneten Organisations- und Verfahrenssystem hervorgegangen und deshalb auch heute noch 1 Ramm, JZ 1977, 1 ( 2). 1

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Projekt: Kollektives Arbeitsrecht

Erster Teil: Grundlagen

§ 1 Begriff und System des kollektiven Arbeitsrechts I. Begriffsbestimmung

Mit dem Begriff des kollektiven Arbeitsrechts bezeichnet man das Recht

der Koalitionen, ihrer Verträge und Auseinandersetzungen sowie das

Recht der Betriebsverfassung und der Beteiligung der Arbeitnehmer in

den Unternehmensorganisationen. Der Begriff fasst zwei Rechtsbereiche

zusammen, die auf einer unterschiedlichen Konzeption der

Interessenvertretung für die Arbeitnehmer beruhen. Das gemeinsame

Band ist ausschließlich, dass auf Seiten der Arbeitnehmer stets ein

Kollektiv besteht, entweder eine auf freiwilliger Grundlage beruhende

Vereinigung zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und

Wirtschaftsbedingungen oder ein durch die Betriebszugehörigkeit

vermittelter Zusammenschluss. Die Grundsätze und Formen der

Interessenvertretung sind dagegen völlig verschieden. Sie begründen eine

Zweigleisigkeit des kollektiven Arbeitsrechts, die den „Dualismus zwischen

der Gewerkschaftskonzeption und der Rätekonzeption, zwischen der

freiwilligen (auf Mitgliedschaft beruhenden) und der allgemeinen gleichen

(demokratischen) Interessenvertretung“ widerspiegelt.1

Die Gründe der Zweigleisigkeit liegen in der Sozialgeschichte

Deutschlands. Das Tarifvertragssystem und das Arbeitskampfrecht sind

aus dem allgemeinen, privatrechtliche geordneten Organisations- und

Verfahrenssystem hervorgegangen und deshalb auch heute noch

1 Ramm, JZ 1977, 1 ( 2).

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weitgehend nicht durch die Gesetzgebung gestaltet. Die Mitbestimmung in

Betrieb und Unternehmen besteht dagegen nur nach Maßgabe des

Gesetzes.

II. System des kollektiven Arbeitsrechts Das Grundrecht der Arbeitsverfassung ist die in Art. 9 Abs. 3 GG

verankerte Koalitionsfreiheit. Die durch sie verfassungsrechtlich

gewährleistete Form für die Regelung der Arbeits- und

Wirtschaftsbedingungen sichert die Privatautonomie auf kollektiver Ebene.

Neben dem Koalitionsverbandsrecht bildet daher das Recht des

Tarifvertrags mit der Konfliktlösungsmöglichkeit durch Arbeitskampf und

Schlichtung einen auf denselben Leitprinzipien und Wertentscheidungen

beruhenden Regelungskomplex.

Die andere Form kollektiver Beteiligung zur Interessenwahrnehmung

enthält die gesetzliche Regelung der Mitbestimmung in Betrieb und

Unternehmen. Sie gliedert sich ihrerseits in die Betriebsverfassung, der für

den Bereich des öffentlichen Dienstes das Personalvertretungsrecht

zuzuordnen ist, und in die Gesetzesregelungen der

unternehmensbezogenen Mitbestimmung. Das Betriebsverfassungsgesetz

und die Personalvertretungsgesetze (Bundespersonalvertretungsgesetz

und Landespersonalvertretungsgesetze) geben der durch Wahl gebildeten

Vertretung der Beschäftigten (Betriebsrat bzw. Personalrat)

unterschiedlich abgestufte Beteiligungsrechte, die Mitwirkungs- und

Mitbestimmungsrechte, an bestimmten Maßnahmen der Betriebs- bzw.

Dienststellenleitung. Durch die Gesetzesregelungen der

unternehmensbezogenen Mitbestimmung werden Arbeitnehmervertreter in

die Unternehmensorgane einbezogen, die in den Kapitalgesellschaften

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und Genossenschaften die Unternehmensleitung auswählen und

kontrollieren. Dieser Bereich ist der Sache nach

Unternehmensorganisationsrecht, dessen Regelungen das

Gesellschaftsrecht enthält.

Daraus ergibt sich ein System, das der Gliederung der folgenden

Darstellung zugrunde gelegt wird:

- Koalitionsfreiheit als Grundrecht der Arbeitsverfassung;

- Koalitionsverbandsrecht;

- Tarifvertragsrecht;

- Arbeitskampf- und Schlichtungsrecht;

- Betriebsverfassungsrecht;

- Personalvertretungsrecht;

- Vertretung der Arbeitnehmer in Unternehmensorganen (Mitbe-

stimmungsrecht).

III. Kollektives Arbeitsrecht als Gegenstand internationaler Abkommen und des Europäischen Gemeinschaftsrechts

Koalitionsfreiheit, Tarifvertrag und Arbeitskampf sind in vielfältiger Weise

Gegenstand internationaler Abkommen, die dem Völkerrecht angehören.

So hat die Koalitionsfreiheit als Grundrecht ihren Niederschlag in

mehreren internationalen Abkommen gefunden: der Allgemeinen

Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen, dem

Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem

Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention und der

Europäischen Sozialcharta. Besonders hervorgehoben wird sie im

Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation Nr. 87 über die

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Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechts (1948).

Ergänzt wird letzteres Abkommen durch das Abkommen Nr. 98 über die

Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechts und des Rechts zu

kollektiven Verhandlungen (1949).2

Von den völkerrechtlichen Abkommen unterscheidet sich das Europäische

Gemeinschaftsrecht dadurch, dass es für die Mitgliedsstaaten unmittelbar

geltendes Recht festlegt. Durch Art. 139 EGV wird der Dialog zwischen

den Sozialpartnern auf Gemeinschaftsebene institutionell gesichert. Die

Kommission fördert, wie sich aus Art. 140 EGV ergibt zur Verbesserung

und Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der

Europäischen Gemeinschaft die Abstimmung auf dem Gebiet des

Koalitionsrechts und der Koalitionsverhandlungen zwischen Arbeitgebern

und Arbeitnehmern. Wenn man von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer

(Art. 39 EGV) und der Entgeltgleichheit für Frauen und Männer (Art. 141

EGV) absieht, ist die Kompetenz der Gemeinschaft für das Arbeitsrecht

(Art. 137 EGV) aber auf den Erlass von Richtlinien beschränkt, die sich an

die Mitgliedsstaaten richten. Sie sind, wie es in Art. 249 Abs. 3 EGV heißt,

für sie „hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen

jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel“. Für

das kollektive Arbeitsrecht ergibt sich dabei allerdings die Besonderheit,

dass die Kompetenz der Gemeinschaft nicht für das Arbeitsentgelt, das

Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht gilt (Art. 137

Abs. 5 EGV).

2 Vgl. zu den Abkommen der Internationalen Arbeitsorganisation Gamillscheg, Kollektives

Arbeitsrecht, Bd. I S. 53 ff.

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§ 2 Historische Grundlagen

I. Anfänge

Mit der Einführung der Gewerbefreiheit durch die Stein-Hardenberg’schen

Reformen hatte man für den gewerblichen Bereich die bisherige

genossenschaftliche oder staatliche Reglementierung der

Arbeitsverhältnisse durch den Grundsatz der Vertragsfreiheit ersetzt. Das

Gesetz über die polizeilichen Verhältnisse der Gewerbe usw. vom 7. 9.

1811 bestimmte in seinem § 8: „In diesem Falle, also bei Annahme von

Gewerbegehilfen und Lehrlingen, wird die Lehrzeit oder die Dauer des

Dienstes, das etwaige Lehrgeld, Lohn, Kost und Behandlung bloß durch

freien Vertrag bestimmt.“3 Von hier wandert die Formel in die Preußische

Gewerbeordnung von 1845 und von dort in die heute noch geltende

Gewerbeordnung, die in § 105 den für die Arbeitsverfassung wesentlichen

Grundsatz enthält: „Die Festsetzung der Verhältnisse zwischen den

selbständigen Gewerbetreibenden und den gewerblichen Arbeitnehmern

ist, vorbehaltlich der durch Bundesgesetz begründeten Beschränkungen,

Gegenstand freier Übereinkunft.“4

Das die Vertragsfreiheit beherrschende Prinzip paritätischer Verhandlung

und Einigung konnte aber wegen der Massenarmut in der Welt des 19.

Jahrhunderts nicht seine Funktion erfüllen. Die formale Gleichheit der

Vertragsparteien war durch ihre reale Imparität entwertet. Der Vertrag

verschuf dem Unternehmer, der die Verfügungsgewalt über die

Produktionsmittel hatte, faktisch ein Privileg zur Gestaltung der

Arbeitsbedingungen. Sozial- und ideengeschichtlich stand zur Debatte, ob 3 Gesetz-Sammlung für die Preußischen Staaten 1811, S. 263.

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die Regelungsform des Vertrags zur Begründung und Regelung des

Arbeitsverhältnisses durch ein anderes System gesellschaftlicher Ordnung

zu ersetzen ist, wie dies in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in den

verschiedenen Diktaturen durchlitten wurde, oder ob die Lösung der

sozialen Frage innerhalb des Systems unter Aufrechterhaltung einer markt-

mäßig-rechtsgeschäftlichen Ordnung des Arbeitslebens verwirklicht

werden kann.

Diese Möglichkeit eröffnete sich, als sich auf privatrechtlicher Grundlage

Gewerkschaften bildeten, die sich mit ihrer Forderung nach Abschluss von

Tarifverträgen durchsetzten. Neben ihnen, deren Legitimation auf dem

freiwilligen Verbandsbeitritt beruht, bildeten die zunächst freiwillig

eingerichteten Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben einen zweiten

Grundansatz für die Herstellung einer paritätischen Arbeitsverfassung. Der

kaiserliche Erlass vom 4. 2.1890, der einen Wandel in der

Arbeiterschutzgesetzgebung ankündigte,5 bezeichnete es als eine

Aufgabe der Staatsgewalt, „die Zeit, die Dauer und die Art der Arbeit so zu

regeln, dass die Erhaltung der Gesundheit, die Gebote der Sittlichkeit, die

wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihr Anspruch auf gesetzliche

Gleichberechtigung gewahrt bleiben“. Vor allem der Anspruch auf

gesetzliche Gleichberechtigung war ein Postulat, auf das man sich in der

Folgezeit berief.

Neben der Einführung der Gewerbegerichtsbarkeit, aus der die moderne

Arbeitsgerichtsbarkeit hervorgegangen ist, war das beachtlichste Ergebnis

für die weitere Entwicklung des Arbeitsrechts die Große Novelle zur

Reichsgewerbeordnung vom 1.6.1891; sie enthält die Keimzelle für die

4 Durch die Lex Berlepsch vom 1.6.1891 (Arbeiterschutzgesetz) wurden nur die Worte

„vorbehaltlich der durch Reichsgesetz begründeten Beschränkungen“ eingefügt.

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betriebliche Mitbestimmung: Den Unternehmern von Fabriken machte das

Gesetz öffentlich-rechtlich zur Pflicht, eine Arbeitsordnung zu erlassen

(§ 134 a GewO). Sie musste Bestimmungen enthalten über Beginn und

Ende der täglichen Arbeitszeit, Zeit und Art der Abrechnung und

Lohnzahlung und, sofern es nicht bei den gesetzlichen Bestimmungen

bleiben sollte, über die Kündigungsfrist und die Gründe, aus welchen

Entlassungen und Austritt aus der Arbeit ohne Aufkündigung erfolgen darf,

sowie über Vertragsstrafen (§ 134 b Abs. 1 GewO). Außerdem blieb ihm

überlassen, noch weiter die Ordnung des Betriebs und das Verhalten der

Arbeiter im Betrieb betreffende Bestimmungen in die Arbeitsordnung

aufzunehmen (§ 134 b Abs. 2 Satz 1 GewO). Der Erlass der

Arbeitsordnung erfolgte zwar einseitig durch den Arbeitgeber; es war

aber ausdrücklich angeordnet, dass vor ihrem Erlass den Arbeitern

Gelegenheit zu geben ist, sich über den Inhalt zu äußern, und für

Fabriken, in denen ein ständiger Arbeiterausschuss bestand, wurde

„dieser Vorschrift durch Anhörung des Ausschusses über den Inhalt der

Arbeitsordnung genügt“ (§ 134 d GewO).

Damit waren erstmals in einem Gesetz Arbeiterausschüsse fakultativ

vorgesehen. Der Weg zur Betriebsverfassung war beschritten.

II. Räteartikel der Weimarer Reichsverfassung und Betriebsrätegesetz vom 4. 2. 1920

Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs hatten, als noch unklar war,

wer Träger der Staatsgewalt wird, die Vertreter der Arbeitgeber und

Gewerkschaften ein Abkommen, das nach den Delegationsführern 5 Vgl. zur Bedeutung der beiden kaiserlichen Erlasse vom 4. 2. 1890 für die Entwicklung

des Arbeitsrechts Kaufhold, ZfA 1991, 277 ff.

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benannte Stinnes-Legien-Abkommen vom 18.11.1918, geschlossen, in

dem die Gewerkschaften als berufene Vertreter der Arbeiterschaft

anerkannt wurden. Außerdem wurde, soweit nach damaligem

Gesetzesrecht nicht bereits vorgeschrieben, die Bildung von

Arbeiterausschüssen in den Betrieben vereinbart, die zusammen mit dem

Arbeitgeber die Durchführung der mit den Gewerkschaften geschlossenen

Kollektivvereinbarungen überwachen sollten. Durch die

Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918 legte der Gesetzgeber nicht nur

den Vorrang des Tarifvertrags gegenüber dem Einzelarbeitsvertrag durch

die Unabdingbarkeit der Tarifnormen fest, sondern er ordnete zugleich an,

dass in allen Betrieben mit mindestens zwanzig Arbeitern ein

Arbeiterausschuss und bei mindestens zwanzig Angestellten ein

Angestelltenausschuss gebildet wird.

Der sich in der Novemberrevolution ausbreitenden Rätebewegung war

dies zu wenig. Sie forderte die Errichtung einer Räterepublik. Die nach

Weimar einberufene Nationalversammlung entschied sich aber mit der

Reichsverfassung vom 11.8.1919 für die parlamentarisch-repräsentative

Demokratie. Bei ihren Bemühungen, die revolutionären Tendenzen der

Rätebewegung aufzufangen, hatte die Reichsregierung jedoch

vorgeschlagen, einen Räteartikel in die Verfassung zu verankern. Das

geschah durch Art. 165, dessen Bedeutung unklar blieb, weil er doppelt

strukturiert war. Sein Abs. 1 enthielt eine institutionelle Absicherung der

Koalitionsfreiheit; er lautete:

„Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der

Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven

Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und ihre Vereinbarungen werden anerkannt.“

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In den folgenden Abs. 2 bis 5 sah Art. 165 als wirtschaftliche

Interessenvertretung ein dreistufiges Rätesystem vor. Sein Abs. 2 hatte

den folgenden Wortlaut:

„Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen

gesetzliche Vertretungen in Bezirksarbeiterräten sowie in nach Wirtschaftsgebieten gegliederten

Bezirksarbeiterräten und in einem Reichsarbeitsrat.“

Verwirklicht wurde nur die unterste Stufe durch das Betriebsrätegesetz

vom 4. 2. 1920. Zur Bildung der Mittelstufe ist es niemals gekommen, und

die oberste wurde nur in der Form eines Vorläufigen Reichswirtschaftsrats

gebildet.

Für die Arbeitsverfassung hat dennoch diese Weichenstellung

grundlegende Bedeutung erlangt. Durch sie wurde die Zweigleisigkeit des

kollektiven Arbeitsrechts, wie sie in der historischen Entwicklung angelegt

war, rechtlich abgesichert. Der Nationalsozialismus hat die Mitbestimmung

beseitigt. Aber nach dem Zusammenbruch 1945 ermöglichte schon das

Kontrollratsgesetz Nr. 22 vom 10.4.1946 die Wahl von Betriebsräten und

schuf damit die Grundlage für eine Beteiligung der Arbeitnehmerschaft

innerhalb der Betriebsverfassung. Das Kontrollratsgesetz galt für ganz

Deutschland. Da es aber nur ein Rahmengesetz war, konnte es die

Rechtseinheit auf dem Gebiet der Betriebsverfassung nicht wahren. Die

Entwicklung ging in der Ostzone und in den Westzonen verschiedene

Wege.

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III. Bestätigung der marktwirtschaftlichen Ordnung durch das Betriebsverfassungsgesetz vom 11.10.1952

Nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland herrschte zunächst

Streit über die Neuordnung der Wirtschaft. Trotz ihrer Entscheidung gegen

ein staatlich gelenktes Tarifrecht und für ein liberales Tarifvertragssystem,

wie sie es im Tarifvertragsgesetz vom 9.4.1949 durchgesetzt hatten,

ließen die Gewerkschaften sich in dem Kampf um die Mitbestimmung vom

Konzept einer organisierten Wirtschaft leiten. Nachdem Verhandlungen

mit den Unternehmern über die Mitbestimmung gescheitert waren, legten

sie einen Gesetzesvorschlag zur „Neuordnung der deutschen Wirtschaft“

vor,6 den die SPD mit wenig verändertem Inhalt aufgriff und als Antrag im

Juli 1950 in den Bundestag einbrachte.7 Der Gesetzesvorschlag befasste

sich in seinem ersten Teil mit dem Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer

im Unternehmen und regelte in einem zweiten Teil „das

Mitbestimmungsrecht der Arbeitnehmer in Organisationen der Wirtschaft“.

Im Gesetzgebungsverfahren scheiterte das Modell einer partizipatorisch-

korporatistischen Wirtschaftsverfassung. Das Paket wurde aufgeschnürt.

Für die Unternehmensebene entsprach nur das Gesetz über die

Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten und Vorständen

der Unternehmen des Bergbaus und der Eisen und Stahl erzeugenden

Industrie vom 21.5.1951 den gewerkschaftlichen Vorstellungen, während

mit der Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes vom

11.10.1952 eine Mitbestimmungsordnung realisiert wurde, die auf dem

Prinzip unternehmerischer Entscheidungsautonomie beruht. Das Gesetz

regelte die Wahlorganisation der Betriebsräte und deren Beteiligung an

Entscheidungen der Betriebs- und Unternehmensleitung im Bereich der

Privatwirtschaft. Während das Betriebsrätegesetz vom 4.2.1920 den

6 Abgedruckt in: RdA 1950, 227 ff. 7 BT-Drucks. I/1229.

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Betriebsvertretungen nur sehr allgemein gehaltene Aufgaben und

Befugnisse eingeräumt hatte, enthielt es eine klare Strukturierung des

Mitbestimmungsbereichs in soziale, personelle und wirtschaftliche

Angelegenheiten mit entsprechend abgestuften Beteiligungsrechten.

Durch diese Gestaltung traf es die normative Grundentscheidung für die

soziale Marktwirtschaft unter Zurückweisung einer vertikal gestuften

Wirtschaftsdemokratie.

IV. Weiterentwicklung der Mitbestimmung

Bei den Forderungen nach einem Ausbau der Mitbestimmung in den

sechziger Jahren stand die Struktur der Betriebsverfassung nicht mehr zur

Debatte. Das Betriebsverfassungsgesetz vom 15.1.1972, das nach

heftiger politischer Kontroverse erging, hielt an der bisherigen Konzeption

fest. Nachdem die Reform der Betriebsverfassung abgeschlossen war,

wandte sich die Gesetzgebung der Neugestaltung der Mitbestimmung in

den Organen der Großunternehmen zu. Es erging das Gesetz über die

Mitbestimmung der Arbeitnehmer (Mitbestimmungsgesetz - MitbestG) vom

4.5.1976. Das Gesetz zur Reform des Betriebsverfassungsgesetzes

(BetrVerf-Reformgesetz) vom 23.7.2001 hat die Struktur der

Betriebsverfassung beibehalten. Auf Grund seines Art. 13 wurde das

Betriebsverfassungsgesetz i. F. vom 25. 9. 2001 neu bekannt gemacht.

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Zweiter Teil: Recht der Koalitionen

§ 3 Koalitionsfreiheit als Grundrecht der Arbeitsverfassung

I. Koalitionsfreiheit als Grundrecht

Art. 9 Abs. 3 Satz 1 und 2 GG bestimmt: "Das Recht, zur Wahrung und

Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu

bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die

dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf

gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig." Durch die Notstandsverfassung

1968 wurde diese Bestimmung durch den Satz ergänzt: "Maßnahmen

nach den Art. 12a, 35 Abs. 2 und 3, Art. 87a Abs. 4 und Art. 91 dürfen sich

nicht gegen Arbeitskämpfe richten, die zur Wahrung und Förderung der

Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen von Vereinigungen i.S. des Satzes 1

geführt werden."

Die noch vor Gründung des Deutschen Reichs für den Norddeutschen

Bund erlassene Gewerbeordnung vom 21.6.1869 hatte in § 152 Abs. 1

angeordnet: „Alle Verbote und Strafbestimmungen gegen

Gewerbetreibende, gewerbliche Gehülfen, Gesellen oder Fabrikarbeiter

wegen Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung

günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittelst

Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter, werden aufgehoben.“

Es folgte in Abs. 2: „Jedem Theilnehmer steht der Rücktritt von solchen

Vereinigungen und Verabredungen frei, und es findet aus letzteren weder

Klage noch Einrede statt.“ Damit war – wenn auch zaghaft - eine

Grundentscheidung getroffen, Machtdefizit und Imparität, die auf Seiten

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der Arbeitnehmer einer rechtsgeschäftlichen Ordnung des Arbeitslebens

entgegenstanden, durch Assoziierung zu überwinden.

Durch die Reichsverfassung von Weimar wurde die Koalitionsfreiheit in

Art. 159 als Grundrecht für jedermann und für alle Berufe garantiert.

Ergänzend hieß es in dem sog. Räteartikel, dem Art. 165, dort in Abs. 1:

„Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in

Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Regelung der Lohn- und

Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung

der produktiven Kräfte mitzuwirken. Die beiderseitigen Organisationen und

ihre Vereinbarungen werden anerkannt."

II. Struktur der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Individualgrundrechts Die Koalitionsfreiheit ist eine besondere Erscheinungsform der

Vereinsfreiheit, die in Art. 9 Abs. 1 GG garantiert ist. Daraus ergibt sich,

dass Art. 9 Abs. 2 GG auch für die Koalitionen gilt. Koalitionen, deren

Zwecke oder deren Tätigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die

sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken

der Völkerverständigung richten, haben nicht den Schutz des Art. 9 Abs. 3

GG. Für sie besteht nur insoweit eine Besonderheit, als nach § 16 des

Vereinsgesetzes die Wirksamkeit eines Verbots davon abhängig ist, dass

das Gericht seine Rechtmäßigkeit bestätigt.

Der Unterschied zur Vereinsfreiheit besteht zum einen im verschiedenen

Umfang der grundrechtlichen Gewährleistung, zum anderen in der

ausdrücklichen Gewährleistung der Zweckbestimmung, nämlich der

Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen:

Während die Vereinsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG nur allen Deutschen

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garantiert wird, besteht die Koalitionsfreiheit für jedermann, ist also

verfassungsrechtlich als Menschenrecht ausgestaltet. Art. 9 Abs. 3 GG gilt

deshalb auch für Ausländer. Das Vereinsgesetz hat zwar die

Vereinsfreiheit ebenfalls auf Ausländer erstreckt; sie gilt für sie aber nur

auf Grund einfachen Gesetzes.

Die Koalitionsfreiheit erhält ihre eigenständige Bedeutung durch die

Gewährleistung der Zweckbestimmung. Dadurch wird garantiert, dass die

Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen durch kollektive

Interessenwahrnehmung erfolgen kann. Art. 9 Abs. 3 GG schützt insoweit

nicht nur die Koalitionsfreiheit des Arbeitnehmers, sondern in gleicher

Weise und mit gleichem Rang auch die Koalitionsfreiheit des

Arbeitgebers. Damit wird verfassungsrechtlich gewährleistet, dass eine

verbandsautonome Gestaltung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen

die soziale Ordnung beherrscht. Darin liegt ein fundamentaler Gegensatz

zur Marktordnung für Güter und selbständige Dienstleistungen. Hier

sichert nämlich insbesondere das Kartellverbot die

Funktionsvoraussetzungen für eine Ordnung nach dem Prinzip der

Vertragsfreiheit. Im Arbeitsrecht wird dagegen eine entgegengesetzte

Entscheidung getroffen, aber nicht zur Verwirklichung eines anderen

Ordnungsziels, sondern im Gegenteil zur Sicherung desselben

Ordnungsziels, nämlich zur Schaffung und Bewahrung einer

rechtsgeschäftlichen Ordnung des Arbeitslebens.

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bindet nicht nur die staatlichen

Gewalten (Art. 1 Abs. 3 GG), sondern es ist darüber hinaus - bereits nach

dem Text des Grundgesetzes - als Grundrecht mit Drittwirkung gestaltet

(Art. 9 Abs. 3 Satz 2 GG). Nichtig sind nicht nur rechtsgeschäftliche

Abreden, die den Beitritt zu einer Gewerkschaft verbieten, sondern auch

bereits Abreden, die das Grundrecht der Koalitionsfreiheit zu behindern

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suchen. Darüber hinaus sind alle Maßnahmen, die hierauf gerichtet sind,

rechtswidrig. Es handelt sich also um unerlaubte Handlungen, die eine

Schadensersatzpflicht auslösen.

Die Koalitionsfreiheit ist "für jedermann und für alle Berufe gewährleistet"

(Art. 9 Abs. 3 Satz 1 GG). Sie gilt für alle Beschäftigungsverhältnisse,

nicht dagegen für die Erbringung selbständiger Dienstleistungen durch

Unternehmer und Angehörige freier Berufe. Als Grundrecht der

Arbeitsverfassung bezieht sie sich auf den sozialen Tatbestand

unselbständiger Arbeit. Keine Voraussetzung ist allerdings, dass die

Beschäftigung auf arbeitsvertraglicher Grundlage erfolgt; sie kann

vielmehr auch nach öffentlich-rechtlichen Grundsätzen geordnet sein.

Deshalb gilt die Koalitionsfreiheit auch für Beamte, Richter und Soldaten.

Grenzen ergeben sich aus der öffentlich-rechtlichen Gestaltung des

Dienstes erst für die Koalitionsbetätigung.

Keine Arbeitnehmer im Sinne des koalitionsrechtlichen Grundrechtsstatus

sind dagegen Personen, die nicht in einem privatrechtlichen oder

öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen, wie Schüler und Studenten.

Wer dagegen seine Ausbildung durch Arbeit im Dienst eines anderen

erhält, wie Berufsauszubildende, ist Grundrechtsträger i.S. des Art. 9 Abs.

3 GG.

Schwierigkeiten bereitet, wie der Arbeitgeberbegriff für die

Koalitionsfreiheit zu bestimmen ist. Während man sich sonst im

Arbeitsrecht damit begnügt, im Arbeitgeber den Korrelatbegriff zum

Arbeitnehmer zu sehen, genügt diese formale Betrachtungsweise hier

nicht; der Begriff des Arbeitgebers ist vielmehr für Art. 9 Abs. 3 GG

materiell zu bestimmen. Grundrechtsberechtigter Träger der

Koalitionsfreiheit ist derjenige, der über die formelle Position als

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Arbeitgeber hinaus auch Inhaber des die Arbeitgeberschaft vermittelnden

Produktiveigentums ist. Bei einer Kapitalgesellschaft ist daher

arbeitgeberisch legitimierter Grundrechtsträger nicht nur die Gesellschaft

als solche, sondern auch der einzelne Gesellschafter; denn das

Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt nicht nur die Koalitionstätigkeit im

Außenverhältnis, sondern auch die "Selbstbestimmung der Koalitionen

über ihre eigene Organisation, das Verfahren ihrer Willensbildung und die

Führung ihrer Geschäfte" vor einer "Fremdbestimmung durch die

Gegenseite". 8

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt das Recht des Einzelnen,

Koalitionen zu gründen, bestehenden Koalitionen beizutreten und in ihnen

zu verbleiben (positive Koalitionsfreiheit). Es umfasst aber auch die

"Freiheit des Austritts und des Fernbleibens".9 Tarifverträge, die einen

Arbeitgeber zwingen, Leistungen organisierten Arbeitnehmern

vorzubehalten, verletzen daher die negative Koalitionsfreiheit.10

III. Bestands- und Betätigungsschutz der Koalitionen

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit gewährleistet nicht nur die

individuelle Koalitionsfreiheit, sondern schützt, wie die historische

Ausgangslage und der Zweck der Koalitionsfreiheit es gebieten, auch die

Koalition in ihrem verbandsautonomen Bestand

(Koalitionsbestandsgarantie) und ihrer Freiheit, durch spezifisch

koalitionsmäßige Betätigung den Koalitionszweck zu verfolgen

(Koalitionsbetätigungsgarantie). Durch die Einbeziehung der kollektiven

8 BVerfGE 50, 290 (373). 9 BVerfGE 50, 290 (367); bestätigt BVerfGE 55, 7 (21); 57, 220 (245). 10 So jedenfalls BAG (GS) 29.11.1967, AP GG Art. 9 Nr. 13.

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Koalitionsfreiheit in den Grundrechtsschutz entsteht aber kein

Doppelgrundrecht. Sie ergibt sich vielmehr aus der gemeinsamen

Ausübung des auf Vereinigung zur kollektiven Interessenwahrnehmung

gerichteten Grundrechts. Wie ihre Tragweite zu bestimmen ist, fällt in die

Kompetenz des Gesetzgebers. Bei fehlenden oder unzureichenden

gesetzlichen Vorgaben, muss die Rechtsfindung wie auch sonst bei einer

Regelungslücke im Gesetzesrecht aus den allgemeinen

Rechtsgrundlagen mit den anerkannten Methoden

rechtswissenschaftlicher Erkenntnis abgeleitet werden. Im Rechtsstreit

fällt diese Aufgabe den Gerichten zu.11

1. Erhalt und Sicherung einer Koalition, insbesondere Mitgliederwerbung

Die Koalitionsbestandsgarantie sichert, dass der Staat die Existenz als

Koalition nicht von Voraussetzungen abhängig machen kann, auf die der

Verband keinen Einfluss hat. Eine Koalition ist daher in der Wahl ihrer

Organisationsform und in der Ausgestaltung ihrer verbandsinternen

Organisation frei. Geschützt sind aber auch Tätigkeiten, die dem Erhalt

und der Sicherung einer Koalition dienen; denn durch sie erhält eine

Gewerkschaft das Fundament für die Erfüllung der Mitgliederinteressen im

Arbeitsleben. Einbezogen in den Grundrechtsschutz ist deshalb die

Mitgliederwerbung und Informationstätigkeit im Betrieb.12 Bei deren

Durchführung ist eine Gewerkschaft auf die Mitwirkung des

Betriebsinhabers angewiesen. Weder das in Art. 13 GG garantierte

Hausrecht noch die in Art. 14 GG enthaltene Eigentumsgewährleistung

geben ihm das Recht, die Werbe- und Informationstätigkeit zu verbieten; 11 Vgl. BVerfGE 84, 212 (226 f.).

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er kann aber die Einhaltung von Grenzen verlangen und braucht

insbesondere kein „wildes Plakatierungen“ im Betrieb zu dulden. Er kann

auch Tätigkeiten verbieten, die den Arbeitsablauf und Betriebsfrieden

stören.

Da der Arbeitnehmer seine im Arbeitsvertrag mit dem Arbeitgeber

festgelegte Arbeitspflicht im Betrieb zu erfüllen hat, ist bereits Teil der ihm

verfassungsrechtlich gewährleisteten individuellen Koalitionsfreiheit, dass

er dort für seine Gewerkschaft tätig werden darf, sofern er dabei seine

Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis nicht verletzt. Aus dem Sinn und

Zweck des Grundrechtsschutzes ergibt sich, dass den Anspruch auf

Duldung gegen den Betriebsinhaber auch seine Gewerkschaft hat. Nach

Ansicht des BAG hat sie sogar grundsätzlich ein Zutrittsrecht zum Betrieb,

um dort auch durch betriebsfremde Beauftragte Mitglieder zu werben.13

Doch bestehen insoweit enge Grenzen, deren Nichtbeachtung das BAG

veranlasste, die Klage abzuweisen. Ein Arbeitgeber braucht den Zugang

zum Betrieb nicht zu dulden, wenn ihm Notwendigkeiten des

Betriebsablaufs entgegenstehen oder der Betriebsfrieden gefährdet wird,

z. B. „wenn Werbemaßnahmen in einer Häufigkeit, in einem Umfang

(Anzahl der betriebsfremden Gewerkschaftsbeauftragten) oder in einer Art

und Weise erfolgen sollen, die im Betrieb zu Auseinandersetzungen mit

oder zwischen Arbeitnehmern oder mit einer anderen, dort ebenfalls

Werbung treibenden Gewerkschaft führen“. Außerdem besteht - wegen

der Bindungswirkung an den Beschluss des BVerfG vom 17.2.198114

12 BVerfGE 93, 352 ff. 13 AP GG Art. 9 Nr. 127; verneinend aber BVerfGE 57, 220 ff.; s. dazu

Richardi, RdA 2007, xxx. 14 BVerfGE 57,220 ff.

18

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nach § 31 BVerfGG – kein gewerkschaftliches Zugangsrecht zu

kirchlichen Einrichtungen.15

2. Garantie staatsfreier Koalitionsbetätigung, vor allem verfassungsrechtliche Gewährleistung des Tarifvertragssystems

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit schützt vor allem das Recht der

Koalitionen, durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung die in Art. 9

Abs. 3 GG genannten Zwecke zu verfolgen, nämlich die Arbeits- und

Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder zu wahren und zu fördern. Unter

die Verfassungsgarantie fällt deshalb die Tarifautonomie. Das gilt aber nur

für die privatrechtliche Ordnung des Arbeitslebens. Bei öffentlich-

rechtlicher Gestaltung der Dienstverhältnisse findet das

Tarifvertragssystem keine Anwendung. Für Beamte besteht keine

Tarifautonomie.

Das Tarifvertragssystem wird zwar nicht in seiner positiv-rechtlichen

Gestalt, die es durch das Tarifvertragsgesetz erhalten hat,

verfassungsrechtlich garantiert; der Staat muss aber frei gebildeten

Koalitionen die Möglichkeit eröffnen, "insbesondere Löhne und sonstige

materielle Arbeitsbedingungen in einem von staatlicher Rechtsetzung frei

gelassenen Raum in eigener Verantwortung im wesentlichen ohne

staatliche Einflussnahme durch unabdingbare Gesamtvereinbarungen

sinnvoll zu ordnen".16 Die Regelungsbefugnis des Gesetzgebers findet

deshalb ihre Grenzen an der "Garantie eines gesetzlich geregelten und

15 BAG 28.2.2006, AP GG Art. 9 Nr. 127. 16 BVerfGE 44, 322 (340 f.); bestätigt BVerfGE 58, 233 (246 f.); ebenso

bereits BVerfGE 4, 96 (106, 108).

19

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geschützten Tarifvertragssystems, dessen Partner frei gebildete

Koalitionen i.S. des Art. 9 Abs. 3 GG sein müssen".17

Zu den Funktionsvoraussetzungen der Tarifautonomie gehört der

Arbeitskampf. Könnten die Gewerkschaften um den Abschluss eines

Tarifvertrags keinen Streik führen, so wären weder das Zustandekommen

noch die inhaltliche Sachgerechtigkeit tariflicher Regelungen

gewährleistet. Das Streikrecht ist zwar kein Grundrecht; es fällt aber unter

die Koalitionsbetätigungsgarantie, soweit es der Herstellung und

Sicherung des Verhandlungsgleichgewichts dient, ohne dass die

Tarifautonomie nicht funktionieren kann. Die Parität erfordert jedoch auch

die Anerkennung der Aussperrung als Kampfmittel der Arbeitgeber; denn

"wäre der Arbeitgeber auf ein Dulden und Durchstehen des

Arbeitskampfes beschränkt, so bestünde die Gefahr, dass die Regelung

der Arbeitsbedingungen nicht mehr auf einem System freier

Vereinbarungen beruht, das Voraussetzung für ein Funktionieren und

innerer Grund des Tarifvertragssystems ist".18 Tarifvertrag und

Arbeitskampf stehen also in einem Funktionszusammenhang. Sie sind als

Grundrechtsfunktion der Koalitionsfreiheit verfassungsrechtlich garantiert.

Der Gesetzgeber kann, wie es durch das Betriebsverfassungsgesetz, die

Personalvertretungsgesetze und die Mitbestimmungsgesetze geschehen

ist, eine Mitbestimmungsordnung in Betrieb, Dienststelle und

Unternehmen schaffen. Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet nämlich die

Tarifautonomie nicht als ausschließliche Form der Förderung der Arbeits-

und Wirtschaftsbedingungen.19 Da die Mitbestimmung aber in eine

Antinomie zur Koalitionsfreiheit treten kann, ist sie mit Art. 9 Abs. 3 GG

17 BVerfGE 4, 96 (108); 50, 290 (369); 58, 233 (248). 18 BAG (GS) 21.4.1971 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 43. 19 Ebenso BVerfGE 50, 290 (371).

20

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nur vereinbar, wenn eine durch sie herbeigeführte Gewichtsverlagerung

nicht die Funktionsunfähigkeit des Tarifvertragssystems zur Folge hat.20

Es ist weiterhin verfassungsrechtlich garantiert, dass die

Koalitionsbetätigung auch im Bereich der gesetzlich geregelten

Mitbestimmungsordnung wirksam werden kann. Die Koalitionsbetätigung

ist also nicht nur verfassungsrechtlich gewährleistet, um durch

Regelungen vertraglicher Verhandlung und Einigung (Tarifvertragssystem

mit arbeitskampfrechtlicher Konfliktlösung) Einfluss auf die Arbeits- und

Wirtschaftsbedingungen zu nehmen, sondern sie wird auch dort garantiert,

wo der Gesetzgeber intervenierend ein Mitbestimmungsstatut verwirklicht.

Deshalb ist den Gewerkschaften durch Art. 9 Abs. 3 GG gewährleistet,

Einfluss auf die Wahl der Betriebs- und Personalräte sowie der

Arbeitnehmerrepräsentanten in der mitbestimmten

Unternehmensorganisation zu nehmen.21 Der Gesetzgeber ist jedoch

nicht verpflichtet, für die Koalitionen Befugnisse zu schaffen, sondern es

geht ausschließlich darum, dass die kommunikative Funktion der

Koalitionsfreiheit auch in diesem Bereich zu respektieren ist, die Koalition

also durch spezifisch koalitionsgemäße Betätigung Einfluss auf die

Auswahl der Personen nehmen kann, die in der Mitbestimmungsordnung

die Arbeitnehmer repräsentieren.

20 Vgl. BVerfGE 50, 290 (377). 21 So für die Personalvertretung BVerfGE 19, 303 (312 ff.); für die

Betriebsverfassung BVerfGE 50, 290 (372); für die Unternehmensmitbestimung BGHZ 84, 352 (357 f.).

21

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§ 4 Koalitionsverbandsrecht

I. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

1. Begriffsbestimmung

Die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gestalten als

marktmächtige Organisationen die Arbeitsentgelte und

Arbeitsbedingungen. Sie legen auch dort, wo die von ihnen geschaffenen

Regelungen nicht normativ wirken, die maßgeblichen Daten für den Inhalt

der Arbeitsverhältnisse fest. Dennoch fehlt für sie eine gesetzliche

Begriffsbestimmung, wie auch für ihre Verbandsorganisation keine

besondere Gesetzesregelung besteht.

Bei der Herstellung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion der

Bundesrepublik mit der DDR traf deshalb der Staatsvertrag vom 18.5.1990

im gemeinsamen Leitsatzprotokoll die folgende Bestimmung: ,,Tariffähige

Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen frei gebildet,

gegnerfrei, auf überbetrieblicher Grundlage organisiert und unabhängig

sein sowie das geltende Tarifrecht als für sich verbindlich anerkennen;

ferner müssen sie in der Lage sein, durch Ausüben von Druck auf den

Tarifpartner zu einem Tarifabschluß zu kommen.“ Diese aus dem

Funktionszusammenhang mit der Tarifautonomie entwickelte

Begriffsbestimmung darf jedoch nicht das Grundrecht der Koalitionsfreiheit

verletzen. Die für die Funktionsfähigkeit des Tarifvertragssystems

notwendige Bereitschaft zum Streik ist deshalb keine Voraussetzung der

Gewerkschaftseigenschaft, wenn dem Arbeitskampf besondere

22

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Gesichtspunkte entgegenstehen.22 Entsprechend scheitert auch die

Gewerkschaftseigenschaft der Beamtenverbände nicht daran, dass der

Inhalt des Beamtenverhältnisses nicht durch Tarifvertrag geregelt werden

kann, sondern durch Gesetz festgelegt ist.

2. Geschichtliche Entwicklung und Organisationsstruktur der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften etablierten sich als Teil der deutschen

Arbeiterbewegung endgültig in den sechziger Jahren des 19.

Jahrhunderts. Sie wurden 1868 als "Freie Gewerkschaften" von den

Sozialdemokraten und als Hirsch-Duncker'sche Gewerkvereine von den

Liberalen gegründet, zu denen wenig später die unter dem Einfluss der

Zentrumspartei stehenden Christlichen Gewerkschaften hinzutraten.

Erleichtert wurde ihre Gründung durch die Aufhebung der

Koalitionsverbote für den gewerblichen Bereich durch die

Gewerbeordnung vom 21.7.1869. Da sie aber Richtungsgewerkschaften

waren, unterlagen sie den zahlreichen Beschränkungen der

Vereinsfreiheit, die für die politischen Vereine galten.

Vor allem das Sozialistengesetz vom 21.10.1878 hat mit der

Sozialdemokratischen Partei auch die Freien Gewerkschaften verfolgt.

Erst mit dem Ablauf des Sozialistengesetzes 1890 entfiel diese Schranke.

Aber auch das Selbstverständnis der Gewerkschaften wandelte sich.

Standen die Gewerkschaften, die sich unter sozialistischem Einfluss

gebildet hatten, zunächst im Bann der politischen Arbeiterbewegung, die

unter dem Einfluss der Lehren von Karl Marx und Friedrich Engels eine

Besserung der Lage der Arbeiter nur dann verwirklicht sah, wenn im 22 So für einen Verband katholischer Hausgehilfinnen und

23

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Klassenkampf die kapitalistische Wirtschaftsordnung beseitigt wird, so

setzte sich in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die Erkenntnis durch,

dass es möglich ist, sich durch kollektiven Zusammenschluss an den

ökonomischen Marktgesetzen der liberalen Ordnung zu beteiligen und den

Erfolg durch Tarifverträge dauerhaft zu sichern.

Die Struktur als Berufsverbände und als Richtungsgewerkschaften

behielten die Gewerkschaften noch während der Weimarer Zeit. Nach der

nationalsozialistischen Machtergreifung wurden sie aufgelöst. Bei ihrer

Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Sowjetischen

Besatzungszone, aus der die DDR hervorging, mit dem Freien Deutschen

Gewerkschaftsbund (FDGB) eine zentralistische Einheitsorganisation

aufgebaut, in der die maßgeblichen Leitungsfunktionen den Kommunisten

zufielen. In den westlichen Besatzungszonen bestand auf deutscher Seite

Einigkeit darüber, nicht mehr die Richtungsgewerkschaften wieder

aufleben zu lassen.

Vor allem unter dem Einfluss der amerikanischen Militärregierung wurden

die Gewerkschaften überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip

organisiert. Bei den Industriegewerkschaften sind die Arbeitnehmer eines

Wirtschaftszweiges zusammengefasst, unabhängig von der Arbeit, die sie

ausüben, ohne Rücksicht darauf, ob sie als Arbeiter oder Angestellte

beschäftigt sind, und im Prinzip auch ohne Festlegung auf eine bestimmte

politische oder weltanschauliche Richtung. Neben den

Industriegewerkschaften gibt es allerdings nach wie vor Gewerkschaften

mit einem anderen Organisationsprinzip. Das galt vor allem für die

Deutsche Angestellten-Gewerkschaft, die nur Angestellte organisiert und

ca. 500.000 Mitglieder hatte. Sie gehörte nicht zum DGB, zu dem die

Hausangestellten BVerfGE 18, 18 ff.

24

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Industriegewerkschaften sich unter dem maßgeblichen Einfluss von Hans

Böckler 1959 in München zusammengeschlossen haben.

Zum DGB gehörten noch 1995 16 Gewerkschaften: IG Metall,

Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr, IG Chemie-

Papier-Keramik, IG Bau-Steine-Erden, Deutsche Postgewerkschaft,

Gewerkschaft Handel, Banken, Versicherung, IG Bergbau und Energie,

Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands, Gewerkschaft Textil-

Bekleidung, Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, Gewerkschaft

Erziehung und Wissenschaft, Gewerkschaft der Polizei, Gewerkschaft

Holz und Kunststoff, Gewerkschaft Medien (IG Druck und Papier und

Gewerkschaft Kunst), Gewerkschaft Leder, Gewerkschaft Gartenbau,

Land- und Forstwirtschaft.

Seitdem sind aus einer Fusion die folgenden Gewerkschaften

hervorgegangen: Die IG Bergbau und Energie und die IG Leder wurden

mit der IG Chemie-Papier-Keramik zur IG Bergbau-Chemie-Energie

zusammengeschmolzen. Die IG Bau-Steine-Erden wurde durch

Verschmelzung mit der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und

Forstwirtschaft zur IG Bau-Agrar-Umwelt, und die Gewerkschaft Textil-

Bekleidung und die Gewerkschaft Holz und Kunststoff sind in der IG Metall

aufgegangen. Am 18.5.2001 fand der bisher größte und bedeutendste

Zusammenschluss statt: Die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG),

die Deutsche Postgewerkschaft (DPG), die Gewerkschaft Handel, Banken

und Versicherungen (HBV), die IG Medien und die ÖTV schlossen sich zu

der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) zusammen.

Die Gewerkschaften im Deutschen Gewerkschaftsbund hatten am

31.12.1994 9.768.373 (am 31.12.1991 sogar 11.800.412) Mitglieder. Am

31.12.2005 gehörten ihnen 6.778.429 Mitglieder an.

25

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Die zweitgrößte Gewerkschaftsorganisation ist der Deutsche

Beamtenbund. Er ist die Spitzenorganisation von 40 Gewerkschaften des

öffentlichen Dienstes und des privatisierten Dienstleistungssektors und

vertritt die Interessen von 1,25 Millionen Mitgliedern.

Mit ca. 300.000 Mitgliedern ist der Christliche Gewerkschaftsbund

Deutschlands der drittgrößte Gewerkschaftsdachverband in der

Bundesrepublik Deutschland. Ihm gehören 16 Einzelgewerkschaften an,

unter ihnen die Christliche Gewerkschaft Metall (CGM), deren

Tariffähigkeit das BAG nach einem Jahre währenden Rechtsstreit mit der

IG Metall im Beschluss vom 28.3.2006 anerkannt hat.23

Keiner Spitzenorganisation gehört der Marburger Bund an, der als einzige

tariffähige Ärztegewerkschaft in Deutschland angestellte und beamtete

Ärzte vertritt. Mit rund 100.000 Mitgliedern ist er Europas größte Ärzte-

Organisation auf freiwilliger Grundlage. Bestritten ist die

Gewerkschaftseigenschaft der 2003 gegründeten Gewerkschaft der

Flugsicherung, die Fluglotsen und Flugsicherungstechniker organisiert.24

Ein Spitzenverband ist der Deutsche Führungskräfteverband (ULA). Unter

seinem Dach sind fünf Verbände zusammengeschlossen, die rund 50.000

Führungskräfte der privaten Wirtschaft vertreten. Zu diesen

Führungskräften zählt der Verband Leitende Angestellte im Rechtssinn,

also insbesondere die leitenden Angestellten, die nach § 5 Abs. 3 BetrVG 23 NZA 2006, 1112 ff. 24 Bejahend LAG Hessen 22.7.2004 AP GG Art. 9 Arbeitskampf Nr. 168;

verneinend LAG Rheinland-Pfalz 22.6.2004 AP GG Art. 9 Arbeitskampf

Nr. 169.

26

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nicht zu der vom Betriebsrat repräsentierten Belegschaft gehören, und

außertariflich entlohnte Angestellte mit Leitungsverantwortung. Der größte

Führungskräfteverband ist der Verband angestellter Akademiker und

leitender Angestellter der chemischen Industrie (VAA), der die Interessen

von über 27.000 Mitgliedern aus der chemischen Industrie und den

angrenzenden Branchen vertritt.

3. Geschichtliche Entwicklung und Organisationsstruktur der Arbeitgeberverbände

Die Arbeitgeberverbände sind in Reaktion auf die Gewerkschaften

entstanden. Der erste Arbeitgeberverband, der im Januar 1869 gegründet

wurde, ist der Deutsche Buchdruckerverein gewesen. Ursprünglich

verstanden die Arbeitgeberverbände sich lediglich als Abwehrorganisation

gegenüber den Gewerkschaften. Die Idee des Tarifvertrages ist nicht von

ihnen, sondern von den Gewerkschaften durchgesetzt worden. Das

Verhältnis zu den Gewerkschaften änderte sich erst während des Ersten

Weltkrieges, vor allem erst durch das Stinnes-Legien-Abkommen vom

15.11.1918, in dem die Arbeitgeber die Gewerkschaften als berufene

Vertreter der Arbeitnehmer anerkannten.

Nachdem in der Zeit des Nationalsozialismus mit den Gewerkschaften

auch die Arbeitgeberverbände beseitigt waren, konnten sie nach 1945 nur

langsam und unter erheblichen Schwierigkeiten durch die

Besatzungsmächte gebildet werden. Unterstützt wurde ihr Entstehen vor

allem durch die Gewerkschaften, da ohne eine Verbandsorganisation der

Arbeitgeber auch eine Beteiligung der Gewerkschaften an der

27

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Arbeitsverfassung nicht funktionieren kann. Spitzenorganisation der

Arbeitgeberverbände ist die Bundesvereinigung der Deutschen

Arbeitgeberverbände, die 1949 aus der Sozialpolitischen

Arbeitsgemeinschaft der Arbeitgeber des Vereinigten Wirtschaftsgebietes

hervorging.

Die Arbeitgebervereinigungen sind in erheblichem Maße zersplittert. Auf

unterster Ebene bestehen fachlich und gemischt gewerbliche Verbände.

Sie haben sich zumeist in einer Landesvereinigung

zusammengeschlossen, z.B. der Vereinigung der Arbeitgeberverbände in

Bayern. Daneben besteht aber teilweise auch ein überregionaler

Zusammenschluss der Fachverbände, z.B. der Gesamtverband der

Arbeitgeberverbände der Metall- und Elektroindustrie (GESAMTMETALL),

der Gesamtverband der deutschen Textil- und Modeindustrie und die

Vereinigung der Arbeitgeberverbände der Deutschen Papierindustrie

(VAP). Die Landesverbände und Fachverbände sind in der

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

zusammengefasst.

Nicht zur Bundesvereinigung gehören namentlich folgende Verbände:

Tarifgemeinschaft Deutscher Länder, die Vereinigung der kommunalen

Arbeitgeberverbände, die Arbeitgeberverbände der Eisen- und

Stahlindustrie e.V. (weil in ihre Organe Personen berufen werden, die von

Arbeitnehmerorganisation abhängig sind - Prinzip der Unabhängigkeit von

der Gegenseite).

II. Begriffsmerkmale und Organisationsrecht

Für das Verbandsrecht der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gibt

28

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es keine besondere Gesetzesregelung. Ihre Organisation richtet sich nach

dem Vereinsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs. Da mit ihnen vom

Grundrecht der Koalitionsfreiheit Gebrauch gemacht wird, müssen sie die

folgenden Voraussetzungen erfüllen:

• Die Vereinigung muss als freiwilliger Zusammenschluss mit

korporativer Organisation auf der Ebene des Privatrechts errichtet

sein. Sie kann als Verein mit nichtwirtschaftlicher Zielsetzung die

Rechtsfähigkeit durch Eintragung im Vereinsregister erlangen.

Doch ist sie – wie aus traditionellen Gründen für Gewerkschaften

im DGB – keine Voraussetzung, um den kollektivrechtlichen Status

der Koalition in der Arbeitsverfassung anzuerkennen.

• Die Vereinigung muss dem Gebot der Koalitionsreinheit

entsprechen. Es dürfen in einer Gewerkschaft keine Arbeitgeber

und in einem Arbeitgeberverband keine Arbeitnehmer organisiert

sein. Die Vereinigung muss außerdem in ihrer Willensbildung frei

und unbeeinflusst von der Gegenseite sein.

• Zweck der Vereinigung muss sein, die Arbeits- und

Wirtschaftsbedingungen ihrer Mitglieder durch den Einsatz

spezifisch koalitionsgemäßer Gestaltungsmittel wahrzunehmen. Für

Arbeitnehmer folgt daraus, dass sie nach ihrer Satzung tariffähig

ist. Keine notwendige Voraussetzung ist allerdings die Bereitschaft

zum Arbeitskampf. Das BAG macht aber die Tariffähigkeit und

damit die Anerkennung einer Arbeitnehmervereinigung als

Gewerkschaft im arbeitsrechtlichen Sinne davon abhängig, dass

der Verband durch die Zahl seiner Mitglieder oder deren Stellung

im Arbeitsleben einen wirkungsvollen Druck und Gegendruck auf

seinen sozialen Gegenspieler auszuüben vermag.25

25 BAG 9.7.1968 AP TVG § 2 Nr. 25; 15.3.1977 AP GG Art. 9 Nr. 24;

29

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• Schließlich muss die institutionelle Selbständigkeit gegenüber den

politischen Parteien und Religionsgesellschaften gewahrt sein,

auch wenn eine Neutralität zu ihnen nach der Ausrichtung in der

Satzung nicht besteht. Notwendig ist aber in jedem Fall, dass die

Koalitionsleitung mitgliedschaftlich, also durch eine entsprechend

gestaltete Wahl legitimiert ist. Man spricht insoweit von einer

demokratischen Binnenorganisation. Sie ergibt sich aber nicht aus

einem Demokratisierungsgebot, wie es Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG für

die Parteien enthält, sondern beruht auf dem grundrechtlichen

Charakter der Koalitionsfreiheit, der auch die Organisation einer

Koalition zu beherrschen hat.

Beschränkungen, die sich aus einem Fehlen der Rechtsfähigkeit eines

Verbands ergeben, sind für die Koalitionen weitgehend weggefallen.

Gewerkschaften und Vereinigungen von Arbeitgebern sowie

Zusammenschlüsse solcher Verbände sind kraft ausdrücklicher

Bestimmung ohne Rücksicht auf die Rechtsfähigkeit parteifähig im

arbeitsgerichtlichen Verfahren (§ 10 ArbGG). Ansonsten sind

nichtrechtsfähige Vereine grundsätzlich nur passiv parteifähig (§ 50 Abs. 2

ZPO). Gewerkschaften sind jedoch darüber hinaus im Zivilprozess

allgemein aktiv parteifähig; denn eine Beschränkung auf die passive

Parteifähigkeit widerspricht der Rechtsstellung, die die Gewerkschaften in

der Arbeitsverfassung erhalten haben.26 Eine weitere Angleichung an das

Recht des rechtsfähigen Vereins ergibt sich daraus, dass für die

Verbindlichkeiten einer Gewerkschaft nur das Gewerkschaftsvermögen

haftet, die Mitglieder also nicht persönlich in Anspruch genommen werden

zuletzt vor allem BAG 28.3.2006 NZA 2006, 1112 ff. Das gilt aber nicht

für einen Arbeitgeberverband, BAG 20.11.1990 AP TVG § 2 Nr. 40.

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können. Rechtsträger des Vereinsvermögens ist zwar bei einem

nichtrechtsfähigen Verein nicht der Verein selbst, sondern es sind die

Mitglieder, die eine Gesamthand bilden (§ 54 Satz 1 i. V. mit § 718 BGB);

die Gesamthand ist aber, obwohl nicht juristische Person, eine rechtlich

verselbständigte Organisations- und Wirkungseinheit.

Die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder einem Arbeitgeberverband

richtet sich nach dem Vereinsrecht des bürgerlichen Rechts. Sie wird

durch den freiwilligen Beitritt zum Verband erworben, wobei ein

Aufnahmeanspruch sich daraus ergeben kann, dass der Verband im

wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine überragende Machtstellung

inne hat und ein schwerwiegendes Interesse am Erwerb der Mitgliedschaft

besteht. Bei den großen, repräsentativen Verbänden hat daher einen

Anspruch auf Aufnahme, wer die satzungsmäßigen Voraussetzungen

erfüllt.

Wie jeder Verband hat auch eine Gewerkschaft oder ein

Arbeitgeberverband nach allgemeinem Vereinsrecht die Möglichkeit, ein

Mitglied auszuschließen, wenn es seine Pflichten als Mitglied verletzt hat.

Die Rechtsgrundlage muss in der Satzung enthalten sein; jedoch ist auch

ohne besondere Satzungsbestimmung ein Ausschluss aus wichtigem

Grund zulässig. Probleme hat immer wieder die Praxis der

Gewerkschaften aufgeworfen, Mitglieder, die bei einer Betriebs- oder

Personalratswahl auf einer nicht von ihnen unterstützten Liste kandidiert

haben, wegen gewerkschaftsschädigenden Verhaltens auszuschließen.

Den Gewerkschaften ist zwar durch Art 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich

garantiert, Einfluss auf die Wahl der Betriebs- und Personalräte zu

nehmen; sie haben aber die Freiheit der Wahl zu respektieren. Da der

26 Vgl. BGHZ 50, 325 ff.

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Ausschluss aus der Gewerkschaft für den betroffenen Arbeitnehmer einen

sehr erheblichen Nachteil darstellt, kommt ein Ausschluss nur in Betracht,

wenn ein Mitglied sich durch sein Verhalten bei einer Betriebs- oder

Personalratswahl in einer für die Gewerkschaft unzumutbaren Weise

generell mit deren Zielsetzung in Widerspruch setzt. Das ist der Fall, wenn

ein Arbeitnehmer auf einem Wahlvorschlag kandidiert, der von einer

konkurrierenden Gewerkschaft unterstützt wird, oder sich auf einer Liste

nominieren lässt, die von dem Programm bestimmt wird, die

Gewerkschaften allgemein oder die Grundordnung, die ihre freie

Betätigung garantiert, zu bekämpfen.

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Dritter Teil: Tarifvertragsrecht

§ 5 Begriff und Bedeutung des Tarifvertrags für die Ordnung des Arbeitslebens

I. Begriff Der Tarifvertrag ist ein schriftlicher Vertrag, der von einer Gewerkschaft

mit einem Arbeitgeberverband oder einem einzelnen Arbeitgeber

abgeschlossen wird. Er enthält, wie es in § 1 Abs. 1 TVG heißt,

Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die Beendigung von

Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche

Fragen ordnen (normativer Teil) und regelt die Rechte und Pflichten der

Tarifvertragsparteien (schuldrechtlicher Teil).

Die Besonderheit des Tarifvertrags wird durch seinen normativen Teil

geprägt, der bei Tarifgebundenheit eine normative Wirkung auf die

Arbeitsverhältnisse entfaltet. Aber auch er verdankt seine

Rechtsverbindlichkeit dem Vertragsschluss, durch den zwischen den

Tarifvertragsparteien eine Bindungswirkung eintritt, wie sie auch sonst

jeden privatrechtlichen Schuldvertrag auszeichnet. Zu ihr gehört, ohne

dass es einer ausdrücklichen Vereinbarung bedarf, die sog.

Friedenspflicht, die den Tarifvertragsparteien gebietet, die von ihnen

vereinbarten Regelungen als rechtsverbindlich anzuerkennen, und ihnen

daher verbietet, sie während der Dauer des Vertrags durch

Kampfmaßnahmen zu ändern. Ergänzt wird diese Friedenspflicht vielfach

durch die sog. Durchführungspflicht, die es den Tarifvertragsparteien zur

Aufgabe macht, darauf einzuwirken, dass die von ihnen vereinbarten

Regelungen durchgeführt werden. Dieser Pflichtenkreis stellt nichts

33

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anderes dar, als das Spiegelbild des Grundsatzes der Vertragstreue; er ist

deshalb jedem Tarifvertrag immanent.

Die Tarifvertragsparteien können darüber hinaus Rechte und Pflichten

zwischen ihnen vereinbaren (schuldrechtlicher Teil). Dazu gehört

insbesondere die Vereinbarung, dass einem Arbeitskampf ein

Schlichtungsverfahren vorgeschaltet wird. Möglich ist weiterhin, dass ein

Tarifvertrag während der Dauer des Tarifvertrags Kampfmaßnahmen auch

zur Durchsetzung von Regelung enthält, also die jedem Tarifvertrag

immanente relative Friedenspflicht zu einer absoluten Friedenspflicht

ausgebaut wird.

II. Geschichtliche Entwicklung

Nach 1890 entdeckten die Gewerkschaften den Tarifvertrag als Instrument

ihrer Lohnpolitik. Sie hatten damit Erfolg, so dass man vom Siegeszug der

Tarifvertragsidee sprach. Ende 1913 hat es, wie berichtet wird, 13.446

Tarifverträge für 170.000 Betriebe mit 2.072.456 Arbeitern gegeben. Eine

gesetzliche Regelung erhielt der Tarifvertrag erst durch die

Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918. Von Bedeutung war aber vor

allem, dass sich die durch Abkommen vom 15.11.1918 gegründete

Arbeitsgemeinschaft zwischen den Spitzenverbänden der

Unternehmerschaft und der Gewerkschaften sich zum Prinzip des

Tarifvertrags bekannt hatten, den das Reichsgerichts bereits zuvor als

rechtsverbindlichen Schuldvertrag anerkannt hatte. Von Tarifverträgen

wurden daher im Jahre 1922 nicht weniger als 890.000 Betriebe mit 14,2

Mio. Arbeitnehmern erfasst.

34

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Nach der Beseitigung des kollektiven Arbeitsrechts in der

nationalsozialistischen Zeit traten an die Stelle der Tarifverträge

Tarifordnungen, die von Treuhändern der Arbeit auf Grund des Gesetzes

zur Ordnung der nationalen Arbeit vom 20.1.1934 erlassen wurden; sie

waren Rechtsverordnungen. Zunächst legten sie nur

Mindestarbeitsbedingungen rechtsverbindlich fest; aber sehr bald wurde

die Ermächtigung durch Rechtsverordnungen zunächst im öffentlichen

Dienst, dann aber auch im Bereich der Privatwirtschaft auf die Festlegung

von Höchstarbeitsbedingungen erweitert. Die Lohnstoppverordnung vom

12.10.1939 beseitigte sodann allgemein die vertragliche

Gestaltungsfreiheit für die Regelung des Arbeitsverdienstes.

Nach dem Kriegsende blieben die alten Tarifordnungen in Kraft. Neue

Tarifordnungen konnten aber nicht mehr erlassen werden, seitdem das

Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit und das Gesetz zur Ordnung

der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben durch die

Kontrollratsgesetze Nr. 40 vom 30.11.1946 und Nr. 56 vom 30.7.1947

aufgehoben wurden. Mit dem Wiederaufbau der Gewerkschaften und

Arbeitgeberverbände war die Möglichkeit geschaffen, Tarifverträge

abzuschließen. Diese erlangten jedoch erst wirtschaftliche Bedeutung als

der Lohnstopp aufgehoben wurde.

Eine Gesetzesregelung erhielt das Tarifvertragsrecht durch das

Tarifvertragsgesetz vom 9.4.1949, das noch für die Amerikanische und

Britische Besatzungszone, das sog. Wirtschaftsgebiet, erging. Es wurde

nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland Bundesrecht und 1953

auf die Länder der Französischen Besatzungszone erstreckt. Seit der

Wiedervereinigung bildet es die Gesetzesgrundlage für das

Tarifvertragsrecht in Gesamtdeutschland.

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III. Bedeutung für die wirtschaftliche Ordnung Die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände legen durch den

Abschluss von Tarifverträgen den Ordnungsrahmen für den Inhalt der

Arbeitsverhältnisse, insbesondere für die Arbeitsentgelte und sonstigen

materiellen Arbeitsbedingungen fest. Sie erfüllen damit eine Aufgabe, die

im öffentlichen Interesse liegt, weil die Gestaltung der Arbeitsbedingungen

wegen der instrumentalen Schwäche des Einzelarbeitsvertrages für einen

gerechten Interessenausgleich nicht dem individuellen Wettbewerb

überlassen bleiben kann. Die Besonderheit der Tarifautonomie liegt aber

gerade darin, dass die Aufgabe verfassungsrechtlich den frei gebildeten

Koalitionen zugewiesen ist, die Arbeitsbedingungen "in einem von

staatlicher Rechtsetzung frei gelassenen Raum in eigener Verantwortung

und im wesentlichen ohne staatliche Einflussnahme durch unabdingbare

Gesamtvereinbarungen sinnvoll zu ordnen" .27

Die Koalitionen erfüllen damit eine Aufgabe, die für die Existenz einer

freiheitlichen Gesellschaftsordnung wesentlich ist; denn der

Funktionsverlust des Tarifvertragssystem hätte zur Folge, dass die

Tarifautonomie durch eine autoritäre oder korporative Gestaltung der

Arbeitsverhältnisse zu ersetzen wäre, um einen sozialen

Interessenausgleich zu gewährleisten. Dennoch nehmen sie kein

staatsbezogenes, sondern ein durch den Willen ihrer Mitglieder

legitimiertes Mandat wahr.

27 BVerfGE 44, 322 (340 f.); so bereits BVerfGE 18, 18 (28); weiterhin

BVerfGE 50, 290 (367); 58, 233 (246).

36

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Der Tarifvertrag wird in seiner den Wettbewerb beschränkenden Wirkung

anerkannt und ist insoweit sogar durch Art. 9 Abs. 3 GG

verfassungsrechtlich gewährleistet. Er sichert dem Arbeitnehmer, dass er

Mindestbedingungen festlegt. Für den Arbeitgeber bietet er den Vorteil,

dass hinsichtlich der Löhne und Arbeitsbedingungen die

Kalkulationsgrundlage konstant bleibt. Der Grundsatz der Vertragstreue

gibt dem Tarifvertrag zugleich den Charakter eines Friedensvertrages.

Soweit eine Angelegenheit geregelt ist, kann um sie kein Arbeitskampf

geführt werden. Außerdem schafft der Tarifvertrag, sofern er mit einem

Arbeitgeberverband abgeschlossen wird, im Verhältnis zu anderen

Unternehmen eine gleichmäßige Wettbewerbsausgangslage.

§ 6 Tariffähigkeit und Tarifgebundenheit

I. Tariffähigkeit und Tarifzuständigkeit

1. Tariffähigkeit

Partei eines Tarifvertrags können auf der Arbeitnehmerseite nur

Gewerkschaften, auf der Arbeitgeberseite einzelne Arbeitgeber und

Vereinigungen von Arbeitgebern sein (§ 2 Abs. 1 TVG). Auch

Zusammenschlüsse von Gewerkschaften und entsprechend

Zusammenschlüsse von Arbeitgebern (Spitzenorganisationen) können

selbst Parteien eines Tarifvertrags sein; jedoch muss ausdrücklich in

der Satzung vorgesehen sein, dass der Abschluss von Tarifverträgen

zu ihren satzungsgemäßen Aufgaben gehört (§ 2 Abs. 3 TVG). Fehlt

diese Festlegung in der Satzung, so sind sie nicht tariffähig, sondern

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können lediglich im Namen der ihnen abgeschlossenen Verbände

Tarifverträge abschließen, wenn sie eine entsprechende Vollmacht

haben (§ 2 Abs. 2 TVG). Der DGB und die Bundesvereinigung der

Deutschen Arbeitgeberverbände sind nicht tariffähig; denn der

Abschluss von Tarifverträgen gehört nicht zu ihren satzungsgemäßen

Aufgaben.

Ein Verband ist nur tariffähig, wenn er als Arbeitgeber- oder als

Arbeitnehmervereinigung sich selbst zur Aufgabe gesetzt hat,

Tarifverträge abzuschließen. Der Abschluss von Tarifverträgen muss

also zu seinen satzungsmäßigen Aufgaben gehören. Mit Ausnahme

der Spitzenorganisationen (§ 2 Abs. 3 TVG) braucht aber keine

ausdrückliche Satzungsbestimmung vorzuliegen, sondern es genügt,

dass der Verband die Interessen seiner Mitglieder bei der Gestaltung

der Löhne und sonstigen Arbeitsbedingungen durch den Abschluss

von Tarifverträgen wahrnimmt.

Nach geltendem Recht kann den Koalitionen keine tarifliche Regelung

gegen ihren Willen aufgezwungen werden. Wenn ein Verband nach

seiner Satzung zum Abschluss von Tarifverträgen nicht berechtigt ist,

kann er keinen Tarifvertrag wirksam abschließen.

2. Tarifzuständigkeit

Mit der Feststellung, dass eine Vereinigung tariffähig ist und daher

Tarifverträge abschließen kann, ist noch nicht die Frage beantwortet, ob

sie auch für den Abschluss eines bestimmten Tarifvertrags zuständig ist.

Diese Befugnis bezeichnet man als Tarifzuständigkeit. Sie darf nicht mit

dem Geltungsbereich eines bestimmten Tarifvertrags verwechselt werden,

sondern ist im Gegenteil die Fähigkeit, Tarifverträge mit dem in ihm

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Page 39: Projekt: Kollektives Arbeitsrecht Erster Teil: Grundlagen ... · Das die Vertragsfreiheit beherrschende Prinzip paritätischer Verhandlung und Einigung konnte aber wegen der Massenarmut

festgelegten Geltungsbereich abschließen zu können Welchen

räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen Geltungsbereich

ein Tarifvertrag hat, wird in ihm festgelegt. Ob er aber den vorgesehenen

Geltungsbereich haben kann, beantwortet die Tarifzuständigkeit. Da den

Verbänden koalitionsrechtlich gewährleistet ist, ihren Organisationsbereich

selbst festzulegen, ist auch die Tarifzuständigkeit ihrer Selbstbestimmung

überlassen. Maßgeblich ist daher die Satzung einer Vereinigung.

Die Tarifzuständigkeit ist für den Tarifvertrag eine

Wirksamkeitsvoraussetzung. Wegen des Vertragscharakters müssen

beide Vertragsparteien tarifzuständig sein. Fehlt auch nur einer

Tarifvertragspartei die Tarifzuständigkeit, so ist der Tarifvertrag nicht

wirksam.

3. Tariffähigkeit des einzelnen Arbeitgebers

Nach § 2 Abs. 1 TVG sind tariffähig nicht nur die Gewerkschaften und

Vereinigungen von Arbeitgebern, sondern auch einzelne Arbeitgeber. Vom

Verbandstarifvertrag unterscheidet man daher den Firmentarifvertrag, der

mit einem Arbeitgeber abgeschlossen. Vielfach bezeichnet man ihn auch

als Haustarifvertrag.

Die Tariffähigkeit ist dem einzelnen Arbeitgeber um der Achtung seiner

negativen Koalitionsfreiheit willen beigelegt worden. Der Abschluss von

Tarifverträgen soll nicht dadurch unmöglich gemacht werden, dass ein

Arbeitgeber keinem Arbeitgeberverband beitritt. Aber auch der

Arbeitgeber, der sich einer Koalition anschließt, bleibt tariffähig. Der Große

Senat des BAG hat in seinem Beschluss zur Aussperrung vom 21.4.1971

zwar offen gelassen, ob die gesetzliche Regelung des § 2 Abs. 1 TVG in

jedem denkbaren Fall anwendbar sei, insbesondere bei den "kleinen"

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Arbeitgebern, die nicht in der Lage seien, einen wirkungsvollen Druck oder

Gegendruck auszuüben.28 Bezweifelt wird jedoch nicht die Tariffähigkeit;

der Hinweis kann vielmehr nur dahin verstanden werden, dass ein

"kleiner" Arbeitgeber möglicherweise nicht durch einen Streik zum

Abschluss eines Firmentarifvertrages gezwungen werden kann.

Vom Firmentarifvertrag. ist der firmen-, betriebs- oder

unternehmensbezogene Verbandstarifvertrag zu unterscheiden, der mit

einem Arbeitgeberverband abgeschlossen wird, in seinem

Geltungsbereich aber auf einen bestimmten Betrieb oder ein bestimmtes

Unternehmen beschränkt wird. Durch diese Begrenzung im

Geltungsbereich unterscheidet er sich von dem sog. Flächentarifvertrag.

Ein derartiger Verbandstarifvertrag ist grundsätzlich zulässig. Allerdings

darf der Arbeitgeberverband durch seinen Abschluss nicht die gegenüber

dem Mitglied bestehende Pflicht zur Gleichbehandlung verletzen.

II. Tarifgebundenheit als Voraussetzung der unmittelbaren und zwingenden Geltung 1. Tarifgebundenheit und Satzungsautonomie

Während die Tariffähigkeit regelt, wer einen Tarifvertrag abschließen

kann, bestimmt die Tarifgebundenheit, wer den tarifvertraglichen

Rechtsnormen unterliegt. Sie ist vom persönlichen Geltungsbereich, den

die Tarifvertragsparteien für ihre Regelung vereinbaren, zu unterscheiden.

Sie setzt der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis eine personelle

Schranke.

28 AP GG Art. 9 GG Arbeitskampf Nr. 43.

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Tarifgebunden sind im gesetzlichen Regelfall der Arbeitgeber, der selbst

Partei des Tarifvertrags ist, und die Mitglieder der Tarifvertragsparteien (§

3 Abs. 1 TVG). Die Tarifgebundenheit ist insoweit das Spiegelbild der

Tariffähigkeit. Sofern der Tarifunterworfene nicht, wie nur dem Arbeitgeber

möglich, selbst Partei des Tarifvertrags ist, knüpft die Tarifgebundenheit

an die Verbandszugehörigkeit der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ohne

weitere Angaben zu machen. Wie bei der Tariffähigkeit stellt sich deshalb

auch hier die Frage, wer über die Tarifgebundenheit entscheidet. Da

tariffähig nur ein freiwilliger Zusammenschluss ist, kann auch die

Tarifbindung sich grundsätzlich nur auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer

erstrecken, die dem Verband freiwillig beigetreten sind. Da die

Mitgliedschaft sich ausschließlich nach dem Vereinsrecht, insbesondere

also nach der Satzung, richtet, wird die Tarifgebundenheit der

organisierten Arbeitgeber und Arbeitnehmer erst durch deren

Unterwerfung unter die tarifvertragliche Gestaltungsmacht begründet. Die

Befugnis der Tarifvertragsparteien zu autonomer Rechtsetzung ist

mitgliedschaftlich legitimiert.

Tarifgebunden ist deshalb nur, wer durch seinen Beitritt zu dem

tarifschließenden Verband zugleich den Zweck der Vereinigung billigt,

Tarifverträge für seine Mitglieder abzuschließen, und sich auch insoweit

der Vereinsgewalt unterwirft. Das BAG hat deshalb die Tarifgebundenheit

verneint, wenn jemand lediglich "Gastmitglied" eines tariffähigen

Arbeitgeberverbandes ist; denn die Tarifbindung setze den Willen zum

Erwerb der Vollmitgliedschaft mit den sich aus ihr ergebenden

tarifrechtlichen Wirkungen voraus.29

29 BAG 16.2.1962 AP TVG § 3 Verbandszugehörigkeit Nr. 12.

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Sieht ein Arbeitgeberverband nach seiner Satzung vor, dass er keine

Tarifverträge im eigenen Namen schließt, so z. B. der Bayerische

Unternehmensverband Metall und Elektro e. V. (BayME), so begründet die

Mitgliedschaft in diesem Verband keine Tarifgebundenheit.

Ausgeschlossen ist durch die Satzung bereits die Tariffähigkeit des

Verbands. Von diesem Fall zu unterscheiden ist, dass ein

Arbeitgeberverband neben der Mitgliedschaft, die eine Tarifgebundenheit

begründet, eine sog. OT-Mitgliedschaft (Ohne-Tarifbindung-Mitgliedschaft)

anbietet. Bei dieser verbandsinternen Lösung ist der Verband nach seiner

Satzung tariffähig und auch tarifzuständig.30 Die von ihm geschlossenen

Tarifverträge gelten aber nicht für die Arbeitgeber, die dem Verband auf

Grund einer OT-Mitgliedschaft angehören. Das gilt jedenfalls, wenn diese

Arbeitgeber nach der Satzung des Verbands keinen Einfluss auf dessen

Tarifpolitik nehmen.

2. Beginn und Ende der Tarifgebundenheit

Zum Verständnis der gesetzlichen Regelung muss man zwischen der

potentiellen und der aktuellen Tarifgebundenheit unterscheiden. Die

potentielle Tarifgebundenheit bedeutet, dass jemand der tariflichen

Rechtsetzungsgewalt unterworfen ist, während mit der aktuellen

Tarifgebundenheit die Bindung an einen bestimmten Tarifvertrag gemeint

ist. Die potentielle Tarifgebundenheit beginnt mit dem Beitritt zu einem

tarifschließenden Verband; sie endet mit dem Ausscheiden aus diesem

Verband. Wird während der Verbandszugehörigkeit ein Tarifvertrag

abgeschlossen, so tritt mit Inkrafttreten seiner Regelung die aktuelle

30 BAG 18.7.2006, NZA 2006, 1225 ff.

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Tarifgebundenheit ein. Für bereits bestehende Tarifverträge beginnt sie

mit dem Verbandsbeitritt. Eröffnet die Satzung die Möglichkeit, dem

Verband rückwirkend beizutreten, führt dies nicht zu einem rückwirkenden

Beginn der Tarifgebundenheit.

Wenn das Mitglied aus dem tarifschließenden Verband ausscheidet, endet

die potentielle, nicht aber die aktuelle Tarifgebundenheit, also die Bindung

an einen bestimmten Tarifvertrag. Diese bleibt vielmehr, wie sich aus § 3

Abs. 3 TVG ergibt, bestehen, bis der Tarifvertrag endet. Die aktuelle

Tarifgebundenheit kann also nicht durch Austritt aus dem

tarifschließenden Verband beseitigt werden (sog. Nachbindung). Sie

endet, wenn der Tarifvertrag geändert wird). Keine Nachbindung tritt ein,

wenn eine Tarifvertragspartei aufgelöst wird.

III. Bezugnahme auf einen Tarifvertrag im Arbeitsvertrag Sind die Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden, so haben die

Tarifnormen, wenn wie im Regelfall der Tarifvertrag nicht für

allgemeinverbindlich erklärt ist oder auf Grund einer Rechtsverordnung

Anwendung findet, für den Inhalt des Arbeitsverhältnisses keine

Tarifgeltung. Da die Vielzahl der Arbeitsverhältnisse aber heute in ihrer

Eigenart und Besonderheit nicht durch Gesetz, sondern durch Tarifvertrag

geregelt ist, werden Tarifverträge, die innerhalb eines Wirtschaftszweiges

die maßgebliche Ordnung für die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen

festlegen, im allgemeinen auch den Arbeitsverhältnissen mit nicht

tarifgebundenen Arbeitnehmern zugrunde gelegt. Die Tarifnormen gelten

in diesem Fall aber nicht normativ, sondern entweder als Bestandteil des

Einzelarbeitsvertrags oder auf Grund betrieblicher Übung. Sie haben

deshalb auch keinen Vorrang vor einer abweichenden Vertragsgestaltung,

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sondern gelten im Gegenteil nur nach Maßgabe des Arbeitsvertrags für

den Vertragsinhalt.

Die Gestaltung der Bezugnahme kann sehr verschieden sein. Möglich ist,

dass eine Tarifvertragsregelung nur inhaltsgleich in den

Einzelarbeitsvertrag übernommen wird. Sonderregelungen für den

Tarifvertrag im Gesetzesrecht wie die Öffnungsklauseln finden auf diesen

Fall allerdings keine Anwendung. Sie kommen nur in Betracht, wenn auf

den Tarifvertrag durch Einbeziehungsabrede Bezug genommen wird.

Die Arbeitsvertragsparteien können frei darüber bestimmen, ob ein bereits

bestehender Tarifvertrag einbezogen werden soll (statische Verweisung)

oder ob die jeweils gültige Fassung eines bestimmten Tarifvertrags

maßgebend sein soll (dynamische Verweisung). Die dynamische

Verweisung kann darin bestehen, dass auf den Tarifvertrag in seiner

jeweils gültigen Fassung Bezug genommen wird, in dessen

Geltungsbereich der Arbeitnehmer bei Begründung des

Arbeitsverhältnisses fällt (kleine dynamische Bezugnahmeklausel), oder

es wird der für den Betrieb jeweils einschlägigen Tarifvertrag für

anwendbar erklärt (große dynamische Bezugnahmeklausel). Bei

Betriebsinhaberwechsel ist dieser Unterschied von Bedeutung, weil nur im

letzteren Fall bei einem Wechsel des Betriebs in einen anderen

Geltungsbereich ein Tarifwechsel eintritt.

Das BAG hat die Bezugnahmeklausel, wenn der Arbeitgeber

tarifgebunden ist, als Gleichstellungsabrede interpretiert, d. h. der

Arbeitnehmer wird so gestellt, als wäre er tarifgebunden.31 Bei

dynamischer Verweisung auf einen Verbandstarifvertrag sollte daher bei

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einem Verbandsaustritt des Arbeitgebers wegen der dadurch

eingetretenen Beendigung der Tarifgebundenheit die Bezugnahmeklausel

ihre Dynamik verlieren. Wenn dagegen der Arbeitgeber bei Vereinbarung

der Bezugnahmeklausel nicht tarifgebunden ist, entfällt die Möglichkeit

einer Interpretation als Gleichstellungsabrede. Bei dynamischer

Verweisung richtet sich deshalb ausschließlich nach dem Wortlaut der

Bezugnahmeklausel, ob die Dynamik bei einer Änderung des Tarifvertrags

bestehen bleibt. Nichts anderes kann aber auch bei Tarifgebundenheit des

Arbeitgebers gelten, so dass durch dessen Verbandsaustritt allein keine

Änderung der Rechtslage eintritt.32

§ 7 Abschluss und Beendigung von Tarifverträgen I. Abschluss Der Tarifvertrag ist, auch soweit er Rechtsnormen enthält, ein

rechtsgeschäftlicher Tatbestand. Er kommt durch Vertrag zustande

(§§ 145 ff). Partner des Tarifvertrages kann aber nur eine tariffähige

Person oder Vereinigung sein.

Eine weitere Besonderheit ergibt sich daraus, dass der Tarifvertrag

Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen gestaltet. Wird er zwischen

mehreren Personen oder Vereinigungen abgeschlossen, so kann es sich

stets nur darum handeln, dass der Vertrag auf der einen oder der anderen

Seite mehrere Parteien aufweist (mehrgliedriger Tarifvertrag).

Beispielsweise ist der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst´(TVöD) auf

der Arbeitgeberseite mit der Bundesrepublik Deutschland und der

31 Vgl. BAG 26.9.2001, 27.11.2002 und 19.3.2003 AP TVG § 1

Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 21, 28 und 33. 32 So nunmehr auch BAG 14.12.2005 NZA 2006, 607.

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Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände abgeschlossen. Bei

mehreren Parteien auf der einen, der anderen oder beiden Seiten besteht

zwischen den Vertragspartnern keine rechtliche Gemeinschaft,

insbesondere keine Gesamthand. Die Rechtslage ist vielmehr im

Allgemeinen so, als handelte es sich um mehrere selbständig

abgeschlossene Tarifverträge.

Der Tarifvertrag bedarf der Schriftform (§ 1 Abs. 2 TVG). Lediglich

mündlich geschlossene Tarifverträge sind nichtig (§ 125 BGB).

II. Geltungsbereich eines Tarifvertrags Die Tarifvertragsparteien legen den Geltungsbereich ihrer Regelung selbst

fest, dürfen dabei aber nicht ihre Tarifzuständigkeit überschreiten.

Voraussetzung der normativen Wirkung ist weiterhin, dass die Personen,

auf die der normative Teil des Tarifvertrags sich erstrecken soll,

tarifgebunden sind.

Man unterscheidet den räumlichen, betrieblichen, fachlichen, persönlichen

und zeitlichen Geltungsbereich. Mit dem räumlichen Geltungsbereich ist

die Unterscheidung nach dem Tarifgebiet gemeint. Beim betrieblichen

Geltungsbereich geht es um die Art des Betriebs. Er ist von besonderer

Bedeutung, weil die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände

überwiegend nach dem Industrieverbandsprinzip organisiert sind. Mit dem

fachlichen Geltungsbereich wird der betriebliche Geltungsbereich

eingeschränkt. Bei ihm geht es um die Art und Tätigkeit, also darum, ob

der Tarifvertrag für technische oder kaufmännische Angestellte gilt. Mit

dem persönlichen Geltungsbereich wird festgelegt, welche Merkmale

persönlicher Art ein Arbeitnehmer erfüllen muss. Hierher gehört, dass ein

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Tarifvertrag nur für Arbeiter oder Angestellte gelten soll. Schließlich wird

mit dem zeitlichen Geltungsbereich festgelegt, wann der Tarifvertrag in

Kraft tritt und wann er sein Ende finden soll.

III. Beendigung des Tarifvertrags Für die Beendigung gelten die allgemeinen Grundsätze, die für vertraglich

begründete Dauerrechtsbeziehungen entwickelt sind. Grundsätzlich

werden die Tarifverträge auf bestimmte Zeit abgeschlossen. Sie sollen

aber regelmäßig mit Ablauf dieser Frist nicht ihr Ende finden, sondern es

wird im Allgemeinen nur ein Termin bestimmt, zu dem frühestens

gekündigt werden kann. Der Tarifvertrag kann auch durch einen

Aufhebungsvertrag beendet werden. Ebenso wie die Kündigung bedarf

der Aufhebungsvertrag keiner besonderen Form.

Nach Beendigung des Tarifvertrags gelten die Rechtsnormen weiter, bis

sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden (§ 4 Abs. 5 TVG).

IV. Publikation der Tarifverträge Gemäß § 6 TVG wird beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein

Tarifregister geführt, in das der Abschluss, die Änderung und die

Aufhebung der Tarifverträge sowie Beginn und Beendigung einer

Allgemeinverbindlicherklärung eingetragen werden (vgl. zu den

Übersendungs- und Mitteilungspflichten der Tarifvertragsparteien § 7

TVG). Auf die Wirksamkeit des Tarifvertrages hat die Beachtung dieser

Bestimmung keinen Einfluss; es genügt die Einhaltung der Schriftform (§ 1

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Abs. 2 TVG).

Nach § 8 TVG sind die Arbeitgeber verpflichtet, die für ihren Betrieb

maßgebenden Tarifverträge an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen.

Die Bekanntgabe im Betrieb ist aber keine Wirksamkeitsvoraussetzung.

§ 8 TVG ist eine reine Ordnungsvorschrift, aus deren Verletzung keine

Schadensersatzansprüche hergeleitet werden können.

§ 8 Rechtsnormen des Tarifvertrags (Tarifvertrag als Normenvertrag) Während die Tarifvertragsverordnung vom 23.12.1918 es nur ermöglicht

hatte, Arbeitsbedingungen mit normativer Kraft festzusetzen, hat das

Tarifvertragsgesetz den Bereich des normativen Teils erheblich erweitert:

Zu ihnen gehören Rechtsnormen, die den Inhalt, den Abschluss und die

Beendigung von Arbeitsverhältnissen sowie betriebliche und

betriebsverfassungsrechtliche Fragen ordnen können (§ 1 Abs. 1 TVG),

und außerdem Rechtsnormen, die gemeinsame Einrichtungen der

Tarifvertragsparteien regeln (§ 4 Abs. 2 TVG).

I. Verhältnis des Tarifvertrags zu höherrangigem Recht 1. Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien

Bereits in dem grundlegenden Urteil vom 15.1.1955 zum Grundsatz der

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Lohngleichheit von Mann und Frau begründete das BAG seine

Entscheidung mit der Grundrechtsbindung der Tarifvertragsparteien.33 Zu

diesem Ergebnis gelangte es unter Rückgriff auf Art. 1 Abs. 3 GG, nach

dem die Grundrechte auch die Gesetzgebung als unmittelbar geltendes

Recht binden. Zur Gesetzgebung in diesem Sinne zählte es die

Tarifverträge, weil sie objektives Recht für die Arbeitsverhältnisse der

Beteiligten setzten. Diese Begründung wird nicht mehr aufrechterhalten.34

Das BAG sieht nunmehr als entscheidend an, dass die Tarifnormen auf

kollektiv ausgeübter Privatautonomie beruhen. Die Tarifvertragsparteien,

die im Rahmen des durch das Grundrecht der Koalitionsfreiheit

gewährleisteten Bereichs tätig werden, greifen nicht hoheitlich in

Grundrechte ein. Die Grundrechte setzen nur mittelbar Grenzen, weil den

Staat die Schutzpflicht trifft, Arbeitgeber und Arbeitnehmer vor einer

unverhältnismäßigen Beschränkung ihrer Grundrechte durch

tarifvertragliche Regelungen zu bewahren.

Das Grundrecht der freien Arbeitsplatzwahl (Art. 12 Abs. 1 GG) ist daher

auch gegenüber den Tarifvertragsparteien gewährleistet. Die Begründung

des Arbeitsverhältnisses sowie die Art der zugesagten Tätigkeit und deren

Umfang sind der tarifvertraglichen Regelungsbefugnis vorgegeben. Sie

festzulegen, ist Sache der Arbeitsvertragsparteien.

2. Verhältnis zum Gesetz

Soweit eine Gesetzesregelung zwingend ist, sind auch die

Tarifvertragsparteien an sie gebunden. Eine Besonderheit ergibt sich

allerdings daraus, dass bei einer Vielzahl zwingender 33 AP GG Art. 3 Nr. 4.

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Gesetzesbestimmungen eine Abweichung nicht nur zugunsten, sondern

auch zu Lasten der Arbeitnehmer durch Tarifvertrag gestattet wird

(tarifdispositives Gesetzesrecht; so in § 622 Abs. 4 Satz 1 BGB, § 13

Abs. 1 und 2 BUrlG, § 4 Abs. 4 Satz 1 EFZG, §§ 8 Abs. 4 Satz 3, 12

Abs. 3 Satz 1, 13 Abs. 4 Satz 1, 14 Abs. 2 Satz 3 TzBfG, § 17 Abs. 3

Satz 1 BetrAVG, § 7 ArbZG, § 21a JArbSchG). Soweit Gesetze

tarifdispositiv sind, berücksichtigt der Gesetzgeber, dass das

Tarifvertragssystem vom Verhandlungsgleichgewicht der Koalitionen

ausgeht. Er lässt daher die von ihm gesetzte Regelung zurücktreten,

soweit eine tarifvertragliche Regelung gilt.

Sind die Arbeitsvertragsparteien nicht tarifgebunden, so ist den Parteien

des Einzelarbeitsvertrags im allgemeinen gestattet, dass sie im

Geltungsbereich des Tarifvertrags die Anwendung der von dem

zwingenden Gesetzesrecht abweichenden tarifvertraglichen

Bestimmungen vereinbaren (vgl. § 622 Abs. 4 Satz 2 BGB, § 13 Abs. 1

Satz 2 BUrlG, § 4 Abs. 4 Satz 2 EFZG, §§ 8 Abs. 4 Satz 4, 12 Abs. 3 Satz

2, 13 Abs. 4 Satz 2, 14 Abs. 2 Satz 4 TzBfG, § 17 Abs. 3 Satz 2 BetrAVG).

Es müssen, wie im allgemeinen festgelegt wird (z. B. § 622 Abs. 4 Satz 2

BGB), die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:

-- Das Arbeitsverhältnis muss bei Tarifgeltung unter den räumlichen,

sachlichen und personellen Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen.

-- Notwendig ist weiterhin, dass die Anwendung der tarifvertraglichen

Bestimmungen vereinbart wird, wobei nicht erforderlich ist, dass auf den

gesamten Tarifvertrag Bezug genommen wird, sondern es genügt die

Übernahme des Regelungskomplexes aus dem einschlägigen

Tarifvertrag. Keineswegs reicht es aus, dass die Tarifvertragsregelung nur

inhaltsgleich in den Einzelarbeitsvertrag übernommen wird. Nur bei

34 Vgl. BAG vom 25.2.1998 AP TVG § 1 Tarifverträge: Luftfahrt Nr. 11.

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Bezugnahme auf den Tarifvertrag, nicht schon bei inhaltsgleicher

Regelung tritt bei tarifdispositiven Gesetzen die tarifvertragliche an die

Stelle der gesetzlichen Regelung.

Die für allgemeine Vertragsbedingungen geltende Gesetzesregelung (§§

305 ff. BGB), insbesondere die Bestimmungen über ihre Angemessenheit,

finden auf Tarifverträge keine Anwendung (§ 310 Abs. 4 Satz 1 BGB). Das

gilt nicht nur, wenn Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden sind,

sondern auch, wenn ein Tarifvertrag allein auf Grund einer

Einbeziehungsabrede im Arbeitsvertrag Anwendung findet. Allerdings

muss es sich insoweit um einen einschlägigen Tarifvertrag handeln.

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