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Psycholinguistik

Akademie Studienbücher

Sprachwissenschaft

Barbara Höhle (Hg.)

Psycholinguistik

Akademie Verlag

Die Herausgeberin:Prof. Dr. Barbara Höhle, Jg. 1957, Professorin für Psycholinguistik (Spracherwerb)an der Universität Potsdam

Die Autorinnen und Autoren:Dr. Heiner Drenhaus, Jg. 1966, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am PsycholinguisticsDepartment of Computational Linguistics & Phonetics, Universität des SaarlandesTom Fritzsche, Jg. 1976, Psychologisch-technischer Assistent für Psycholinguistik(Spracherwerb) an der Universität PotsdamProf. Dr. Katharina Spalek, Jg. 1976, Juniorprofessorin für Psycholinguistik an derHumboldt Universität zu BerlinDr. Nicole Stadie, Jg. 1961, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Patho-linguistik /Kognitive Neurolinguistik an der Universität PotsdamProf. Dr. Isabell Wartenburger, Jg. 1973, Stiftungsjuniorprofessorin für Neurokogni-tion der Sprache (Schwerpunkt Neurolinguistik) an der Universität Potsdam (finan-ziert vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Claussen-Simon-Stiftung)

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004935-9© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010

www.akademie-studienbuch.dewww.akademie-verlag.de

Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. KeinTeil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeinerForm – durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – repro-duziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen,verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Einband- und Innenlayout: milchhof : atelier, Hans Baltzer BerlinEinbandgestaltung: Kerstin Protz, Berlin, unter Verwendung von Elektroden-

positionen nach dem 10/20-System. Eric Chudler 2010.Satz: Druckhaus »Thomas Müntzer« GmbH, Bad LangensalzaDruck und Bindung: CS-Druck CornelsenStürtz GmbH, Berlin

Printed in Germany

Psycholinguistik

1 Psycholinguistik: Ein Überblick (Barbara Höhle) 91.1 Psycholinguistik: Was ist das? 111.2 Theoretische Grundlagen 141.3 Historische Wurzeln 19

2 Forschungsmethoden der Psycholinguistik(Nicole Stadie, Heiner Drenhaus, Barbara Höhle, Katharina Spalek,Isabell Wartenburger) 23

2.1 Behaviorale Methoden 252.2 Neurowissenschaftliche Methoden 33

3 Sprachwahrnehmung (Barbara Höhle) 393.1 Das Problem der Sprachwahrnehmung 413.2 Die Wahrnehmung von Sprachlauten 453.3 Intermodale Sprachwahrnehmung 493.4 Theorien der Sprachwahrnehmung 50

4 Wortproduktion (Katharina Spalek) 534.1 Mentales Lexikon 554.2 Sprachproduktion 584.3 Lexikalischer Zugriff 614.4 Vom Wort zur Artikulation 64

5 Wortverarbeitung (Katharina Spalek) 675.1 Lexikalischer Zugriff 695.2 Segmentierung von Wörtern 715.3 Worterkennen im Kontext 735.4 Modelle des Worterkennens 77

6 Satzproduktion (Katharina Spalek) 816.1 Funktionale und positionale Enkodierung 836.2 Funktionszuweisung 856.3 Trägheit syntaktischer Strukturen 896.4 Kongruenz 91

7 Sprachverarbeitung (Heiner Drenhaus) 957.1 Modulare Ansätze 977.2 Ambiguitäten: leichte und schwere Reanalyse 1007.3 Nicht-Modulare Ansätze 1027.4 Informationsspeicher (Arbeitsgedächtnis) und Verarbeitung 106

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8 Neurowissenschaftliche Komponenten der Sprachverarbeitung(Heiner Drenhaus) 111

8.1 Elektrische Signale des Gehirns: vom EEG zum EKP 1138.2 Die Klassifikation von EKP Komponenten 1158.3 Sprachverarbeitung und EKP 1178.4 EKP und Verarbeitung von Kontextinformation 121

9 Erstspracherwerb: Wie kommt das Kind zur Sprache?(Barbara Höhle) 125

9.1 Kurzer Überblick und Ausgangslage 1279.2 Die phonologische Entwicklung 1309.3 Die lexikalische Entwicklung 1339.4 Die syntaktische Entwicklung 1359.5 Späte Erwerbsprozesse 137

10 Spracherwerbstheorie: Wie kommt die Sprache zum Kind?(Barbara Höhle) 141

10.1 Das Spracherwerbsproblem 14310.2 Der nativistische Ansatz 14510.3 Der konstruktivistische Ansatz 14810.4 Variation im Spracherwerb 152

11 Sprachstörungen im Erwachsenalter (Nicole Stadie) 15711.1 Was ist eine Aphasie? 15911.2 Klinisch-neurolinguistische Einteilungen 16211.3 Kognitiv-neurolinguistische Erklärungen 16511.4 Sprachtherapie bei Aphasie 168

12 Mehrsprachigkeit (Isabell Wartenburger) 17312.1 Was ist Mehrsprachigkeit? 17512.2 Besonderheiten mehrsprachiger Experimente 17712.3 Modelle der Mehrsprachigkeit 17812.4 Das mehrsprachige Gehirn 181

13 Sprache und Gehirn (Isabell Wartenburger) 18913.1 Anatomische Grundlagen 19113.2 Physiologische Grundlagen 19313.3 Sprachrelevante Hirnregionen 196

14 Experimentalplanung(Tom Fritzsche, Heiner Drenhaus, Isabell Wartenburger) 203

14.1 Literaturrecherche und Herleitung der Fragestellung 20514.2 Entwicklung und Zusammenstellung des Materials 206

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INHALT

14.3 Programmierung des Experimentablaufs 21214.4 Datenerhebung und Datenanalyse 214

15 Serviceteil 21915.1 Allgemeine bibliografische Hilfsmittel 21915.2 Korpora 22215.3 Programme 22315.4 Wichtige außeruniversitäre Forschungseinrichtungen 224

16 Anhang 22516.1 Zitierte Literatur 22516.2 Abbildungsverzeichnis 23616.3 Sachregister 23816.4 Glossar 243

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INHALT

1 Psycholinguistik: Ein Überblick

Barbara Höhle

Abbildung 1: Ernst Ludwig Kirchner: Sich unterhaltende Mädchen, Radierung (1922)

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Die 1922 entstandene Radierung des deutschen Expressionisten undMitbegründers der Künstlergruppe Brücke, Ernst Ludwig Kirchner,trägt den Titel „Sich unterhaltende Mädchen“. Man sieht eine alltäg-liche Szene. Die beiden stehenden Frauen scheinen einen Schwatz zuhalten. Aber was lässt uns als Betrachter diesen Schluss ziehen? Diesprachliche Unterhaltung selbst ist bildlich nicht darstellbar. Dem vi-suellen Kanal ist beim Gebrauch gesprochener Sprache lediglich dieMundbewegung und eventuelle redebegleitende Gestik zugänglich,beides ist jedoch als dynamischer Prozess auf einem Bild nur schwerdarstellbar. Auch das Medium der gesprochenen Sprache – die Schall-welle – ist nicht sichtbar. Hinweise auf eine Gesprächssituation liefertjedoch die Körperhaltung der beiden Frauen: eine der beiden schautdie andere an, eine Frau hat die Arme vor der Brust verschränkt, dieandere stemmt ihre Hände in die Hüfte. In genau derselben Körper-haltung können wir uns unschwer auch unsere Nachbarn beimSchwatz über den Gartenzaun vorstellen. Zu dieser Interpretationführt aber auch unsere soziale Kenntnis: Menschen, die zusammenste-hen, sprechen meist miteinander, Schweigen wäre in der dargestelltenSituation ein eher ungewöhnliches Verhalten.

Die Sprache ermöglicht es uns, mit anderen in Kontakt zu treten,unsere Gedanken, Wünsche und Vorstellungen anderen mitzuteilenund an denen anderer Personen teilzuhaben. Die Fähigkeit zur Ver-wendung von Sprache ist eine der wesentlichen Fähigkeiten des Men-schen, die ihn von allen anderen Spezies abgrenzt. Sie ist nicht nureine artspezifische, sondern auch eine allen Menschen gemeinsameEigenschaft: bislang ist keine menschliche Kultur bekannt, in der kei-ne Sprache gesprochen wird. Jedes Kind lernt in den ersten Lebens-jahren nahezu automatisch genau die Sprache, die in seiner Um-gebung gesprochen wird. Die Psycholinguistik als Wissenschaftuntersucht die Frage, was uns als Menschen befähigt, Sprache zu ler-nen, zu produzieren und zu verstehen. Welche kognitiven Fähigkei-ten und Prozesse liegen dieser erstaunlichen Fähigkeit zugrunde?Welche Komponenten umfasst das Wissenssystem, das dem Men-schen diese beeindruckende Leistung ermöglicht?

1.1 Psycholinguistik: Was ist das?1.2 Theoretische Grundlagen1.3 Historische Wurzeln

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PSYCHOLINGUISTIK: EIN ÜBERBLICK

1.1 Psycholinguistik: Was ist das?

Mit Sprache kommunizieren zu können, gehört im Allgemeinen zuden Selbstverständlichkeiten unseres täglichen Lebens. Erst wenn wirin einer Situation sind, in der diese Kommunikation nicht mehr mü-helos gelingt, wird uns bewusst, wie wichtig diese Fähigkeit ist, bei-spielsweise wenn wir uns in einer Umgebung bewegen, in der eineSprache gesprochen wird, die wir nicht beherrschen, oder wenn einAngehöriger nach einem Schlaganfall von einer Sprachstörung be-troffen ist. Die Fähigkeit, unsere Vorstellungen und Wünsche sprach-lich ausdrücken zu können und andere Sprecher derselben Sprachezu verstehen, ist uns meist so selbstverständlich, dass wir uns alsSprecher und Hörer wenig Gedanken darüber machen, was es unseigentlich ermöglicht, eine Sprache zu beherrschen. Diese Gedankenmacht sich die Psycholinguistik. Sie fragt, wie das kognitive Systemdes Menschen beschaffen sein muss, um ihm das Produzieren undVerstehen von Sprache, aber auch das Lernen von Sprache zu er-möglichen, welche Wissensbasis dafür notwendig ist, welche menta-len Prozesse dabei eine Rolle spielen und wie das sprachliche Wissenim Gehirn organisiert ist.

Um diesen Fragen nachzugehen, genügt es nicht Sprecher zu beob-achten, denn die mentalen Systeme und Prozesse, die unser Verhalten– auch unser sprachliches Verhalten – steuern, entziehen sich der Beob-achtung und auch der introspektiven Beobachtung durch den Spre-cher bzw. Hörer selbst. Wir als Nutzer dieses Sprachsystems könnenkeine Auskunft darüber geben, was sich in unserem Kopf abspielt –wir könnten noch nicht einmal sagen, dass es der Kopf ist, in demdie mentalen Operationen ablaufen, wenn wir beispielsweise eineSchallwelle, die an unser Ohr gerät, als den Satz Alle Schwäne sindweiß erkennen. Genauso wenig ist es unserer eigenen Beobachtungzugänglich, auf welche Weise wir als Kind unsere Muttersprache ge-lernt haben oder warum es uns meist leichter fällt, uns in unsererMuttersprache auszudrücken als in einer später gelernten Zweitspra-che. Es bedarf daher besonderer Methoden, um den Prozess derSprachproduktion, des Sprachverständnisses und des Spracherwerbsgenau zu erforschen.

In der Forschungslandschaft der Psycholinguistik dominieren ex-perimentelle Vorgehensweisen (> KAPITEL 2). Mit speziell konzipiertenExperimenten wird versucht herauszufinden, wie der Informations-fluss beim Produzieren und Verstehen von Sprache abläuft, welcheProzesse bei einer bestimmten sprachlichen Anforderung, z. B. dem

Sprache im Alltag

NotwendigkeitbesondererMethoden

Datenquellen

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PSYCHOLINGUISTIK: WAS IST DAS?

Verstehen oder dem Produzieren eines Wortes, beteiligt sind und wiedas Verhältnis verschiedener Prozesse zueinander ist. Auch die Unter-suchung sprachgestörter Patienten ist für die psycho- und neurolin-guistische Modellbildung eine wichtige Informationsquelle. So lassensich beispielsweise aus den nach einer Hirnschädigung auftretendensprachlichen Störungsbildern Rückschlüsse über die zugrunde liegen-de Organisation des Sprachsystems und seiner Lokalisierung im Ge-hirn ziehen (> KAPITEL 13.3). Auch sprachliche Fehlleistungen gesunderSprecher, sogenannte Versprecher (z. B. im Worden nolkig, Leunin-ger 1993) sind nicht nur amüsant und dem Sprecher manchmal un-angenehm, sondern sie sind für die Psycholinguistik eine äußerst in-teressante Datenquelle. Ganze Modelle der Sprachproduktionberuhen auf Versprecherdaten, denn Versprecher sind keine rein zu-fälligen Fehlleistungen des Systems, sondern weisen systematischeZüge auf, die ihrerseits wieder Rückschlüsse auf die an der Sprach-produktion beteiligten Prozesse zulassen (> KAPITEL 4.1). In den ver-gangenen Jahren haben auch neurowissenschaftliche Methoden ver-stärkt Einzug in die psycholinguistische Forschung gehalten. MitMessungen der neurophysiologischen Aktivitäten und des Blutflussesbeim Sprechen und Hören von Sprache versucht man quasi dem Ge-hirn bei der Arbeit zuzusehen, und so zu immer detaillierteren Er-kenntnissen über den Zusammenhang von neuronaler Aktivität undsprachlichen Leistungen zu gelangen (> KAPITEL 2.2, 8, 12).

Die Psycholinguistik geht davon aus, dass das menschliche Sprach-vermögen auf einem komplexen System beruht, das das Zusammen-wirken verschiedener Wissensstrukturen und Verarbeitungsprozessein einer präzisen und schnellen zeitlichen Abstimmung erfordert. Zielder Forschung ist es, Modelle der Sprachverarbeitung zu konzipieren,die ein mögliches Bild der verschiedenen beteiligten Komponentenund ihres Zusammenwirkens bei der Produktion und dem Verstehenvon Sprache zeichnen. Dabei ist die Forschung auf die Zusammen-arbeit mit verschiedenen Disziplinen angewiesen. Ein enger Bezug zurLinguistik ergibt sich daraus, dass linguistische Beschreibungen derSprachstruktur sowie sprachlicher Prinzipien und Regularitäten alsModell sprachlicher Wissensstrukturen herangezogen werden. So fin-den sich die linguistischen Beschreibungsebenen wie beispielsweisedas Lexikon, die Syntax und die Phonologie in Form von Wissens-inhalten oder Prozeduren auch in psycholinguistischen Modellen wie-der. Die linguistische Vorstellung geht davon aus, dass das Sprachsys-tem auf den unterschiedlichen Beschreibungsebenen bestimmteElemente wie Phoneme, Morpheme oder Wörter aufweist, die durch

Sprachstörungenund Fehlleistungen

Bezug zuLinguistik …

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PSYCHOLINGUISTIK: EIN ÜBERBLICK

Kombinationen zu komplexeren Einheiten wie Silben oder Sätzen zu-sammengesetzt werden und so die Erzeugung einer unbegrenzten Men-ge sprachlicher Äußerungen mit begrenzten Mitteln ermöglicht. DieseVorstellung bildet auch die Grundlage gängiger psycholinguistischerModelle. Ein enger Bezug zur Psychologie ergibt sich daraus, dass sichdie Psycholinguistik mit mentalen Prozessen der Informationsverarbei-tung – einem Kernbereich der Kognitiven Psychologie – speziell in Be-zug auf die Sprachverarbeitung beschäftigt, wobei natürlich auch dasZusammenspiel von Sprache und nicht-sprachlichen kognitiven Prozes-sen wie beispielsweise dem Gedächtnis eine Rolle spielt. Nicht zuletztarbeitet die Psycholinguistik mit experimentellen Forschungsmethoden,die vielfach in der Psychologie entwickelt wurden.

Eine zentrale Komponente sprachlichen Wissens bildet das menta-le Lexikon. Das mentale Lexikon umfasst nach psycholinguistischenÜberlegungen das Wissen eines Sprechers über die Wörter seinerSprache, d. h. all das Wissen, das ein Sprecher für die Verwendungvon Wörtern in den verschiedenen Sprachmodalitäten benötigt. Da-für muss das mentale Lexikon Informationen über die Lautform,über die orthografische Form, über syntaktische und über semanti-sche Eigenschaften von Wörtern bereitstellen. Doch wie ist diesesWissen im mentalen Lexikon organisiert? Auf welche Weise sind die-se Eigenschaften von Wörtern im Gedächtnis repräsentiert und wiesind diese unterschiedlichen Informationen miteinander verbunden?Eine weitere wichtige Frage ist, wie die Informationssuche im Lexi-kon während der Sprachproduktion oder während des Sprachverste-hens vonstatten geht. In einem Lexikon im Buchformat sind wir ge-wohnt, dass Wörter alphabetisch geordnet sind, und können so dieSuche nach einem Lexikoneintrag gezielt durchführen. Eine alpha-betische Sortierung und ein entsprechender Suchvorgang sind aberauf das mentale Lexikon sicherlich nicht übertragbar, schließlichkönnen wir auch ohne Kenntnisse einer geschriebenen Sprache unsermentales Lexikon ohne Probleme verwenden. Wie diese Suchprozessestattfinden und wie die Information im mentalen Lexikon organisiertist, stellt ein zentrales Feld der psycholinguistischen Forschung dar(> KAPITEL 4, 5).

Während das mentale Lexikon die Bausteine der Sprache reprä-sentiert, beschäftigt sich die sogenannte mentale Grammatik mit denRegeln der Zusammensetzung von Wörtern zu komplexeren Struktu-ren. Die Bedeutung eines Satzes ergibt sich nicht unbedingt aus derSumme der Bedeutung der enthaltenen Wörter, sondern darüber hi-naus liefert uns die syntaktische Struktur wichtige Informationen,

… und Psychologie

Das mentale Lexikon

Die mentaleGrammatik

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PSYCHOLINGUISTIK: WAS IST DAS?

wie eine Äußerung zu interpretieren ist. So können beispielsweisezwei Sätze, in denen die gleichen Wörter in unterschiedlicher Reihen-folge verwendet werden, sehr unterschiedliche Bedeutungen aufwei-sen (Der Sessel mit dem kaputten Bezug steht neben dem Stuhl vs.Der Sessel steht neben dem Stuhl mit dem kaputten Bezug). Zu unse-rem syntaktischen Wissen gehört auf der produktiven Seite, in wel-cher syntaktischen Umgebung ein Wort richtig genutzt wird, d. h.wie ein Satz aufgebaut sein muss, in dem beispielsweise das Verb ge-ben verwendet wird gegenüber einem Satz, in dem das Verb schlafenauftritt. Unser syntaktisches Wissen drückt sich auch in der Fähigkeitaus, darüber urteilen zu können, ob ein Satz grammatisch korrekt istoder nicht. Wie dieses grammatische Wissen in unserem kognitivenSystem repräsentiert ist und welche Rolle es beim Produzieren undVerstehen von Sätzen spielt, ist ein weiteres zentrales Forschungsfeldder Psycholinguistik (> KAPITEL 6, 7).

1.2 Theoretische Grundlagen

Als interdisziplinäres Fach ist die Psycholinguistik in der Kognitions-wissenschaft verankert, ihre Modelle sind gespeist aus Erkenntnissenvor allem der generativen Linguistik, der kognitiven Psychologie undder Computerwissenschaft, hier insbesondere der Forschung zur Künst-lichen Intelligenz.

Seit der sogenannten Kognitiven Wende (> KAPITEL 1.3), die sich inden 1960er-Jahren vollzog, versteht sich die Linguistik ausgehendvon den Arbeiten Noam Chomskys (Chomsky 1965) als kognitiveWissenschaft, die Sprache als Teilbereich des menschlichen kogniti-ven Systems versteht. Sprache wird gesehen als eine humanspezi-fische geistige Fähigkeit, die ein Teil des gesamten Kognitionssystemsdarstellt, also des geistigen Systems, das für alle Prozesse der Speiche-rung und Verarbeitung von Information zuständig ist. Eine der zen-tralen theoretischen Debatten innerhalb der Psycholinguistik der ver-gangenen Jahrzehnte kreist um die Frage, inwieweit die menschlicheSprachfähigkeit ein eigenständiges kognitives System darstellt unddamit zumindest teilweise von anderen geistigen Fähigkeiten desMenschen unabhängig ist. Innerhalb dieser Debatte ist die Theorieder Modularität des menschlichen Geistes ein wichtiger Gegenstand.Das Konzept der Modularität ist eine zentrale Grundannahme derKognitionswissenschaft, die davon ausgeht, dass unser kognitivesSystem sich aus einer Reihe von Bausteinen (Modulen) zusammen-

Syntaktisches Wissen

Sprache als Teil deskognitiven Systems

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PSYCHOLINGUISTIK: EIN ÜBERBLICK

setzt, die jeweils für die Lösung sehr spezifischer Aufgaben innerhalbdes Gesamtsystems zuständig sind.

Eine grundlegende Rolle innerhalb der Modularitätsannahme habendie Arbeiten des amerikanischen Sprachphilosophen und Kognitions-wissenschaftlers Jerry Fodor gespielt. Im Jahre 1983 veröffentlichteFodor sein einflussreiches Werk The modularity of mind. In diesemBuch legte er ein Modell der Architektur des Wahrnehmungs-(Per-zeptions-) und des Kognitionssystems vor, in dem drei Ebenen unter-schieden werden: Zunächst wird eine Ebene sogenannter perzeptu-eller Transduktoren angenommen, deren Aufgabe darin besteht,physikalische Reize in neuronale Signale umzuwandeln. Diese Infor-mation wird an sogenannte Input-Module weitergegeben, die für ihreInterpretation sorgen. Die Input-Module wiederum liefern ihre Ana-lyseergebnisse weiter an das zentrale kognitive System, das für kom-plexere kognitive Prozesse zuständig ist und die Information aus denverschiedenen Input-Modulen integrieren kann (Fodor 1983).

Abbildung 2: Müller-Lyer Illusion

Eine der zentralen Eigenschaften von Modulen ist nach Fodor ihre in-formationelle Enkapsulierung: jedes Modul stellt eine eigenständigeVerarbeitungseinheit dar, die lediglich Zugriff auf die vom perzeptuel-len System gelieferte Information hat sowie auf Information, die imMo-dul selbst gespeichert ist. Informationen aus anderenModulen oder ausdem zentralen kognitiven System kann die Arbeit des Moduls nicht be-einflussen. Eine klassische Demonstration dieser Eigenschaft stellt diesogenannte Müller-Lyer Illusion dar, bei der der Betrachter zwei Linienals unterschiedlich lang wahrnimmt, die inWirklichkeit die gleiche Län-ge aufweisen (>ABBILDUNG 2). Selbst wenn man die Länge der Liniennachmisst und somit eigentlich weiss, dass sie die gleiche Länge haben(wenn also die Information dem zentralen kognitiven System dann ver-fügbar ist), lässt sich diese Illusion nicht unterdrücken. Aus dem Kon-zept der informationellen Enkapsulierung leiten sich auch Aussagen

Modularitäts-annahme

InformationelleEnkapsulierung

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THEORETISCHE GRUNDLAGEN

über den möglichen Informationsfluss in einem kognitiven System ab.Dieser ist nur in eine Richtung möglich: vom perzeptuellen System überdie Input-Module in das zentrale kognitive System, aber nicht in umge-kehrter Richtung. Diese Richtung des Informationsflusses wird als bot-tom-up bezeichnet.

Typisch für Module ist außerdem ihre Domänenspezifik. Dies be-deutet, dass Module auf die Verarbeitung sehr spezifischer und damitsehr eingeschränkter Typen von Information beschränkt sind, z. B.auf spezifische akustisch-phonetische Information bei der Sprach-wahrnehmung oder auch spezifische visuelle Merkmale bei der Er-kennung von Gesichtern.

Ein weiteres wichtiges Merkmal von Modulen ist eine automati-sche und zwangsläufige Verarbeitung von Information, auf die dasModul spezialisiert ist: Sobald die Transduktoren physikalische Reizein neuronale Signale umgewandelt und an das Input-Modul gelieferthaben, verarbeitet das Modul diese Signale und gibt seine Analyse-ergebnisse an das zentrale kognitive System weiter, ohne dass dies zuunterdrücken wäre. Diese Eigenschaft lässt sich besonders deutlicham Stroop-Effekt verdeutlichen (benannt nach Ridley Stroop, der die-sen Effekt im Jahr 1935 entdeckte). Eine typische Stroop-Aufgabe istes, den Versuchspersonen ein Farbwort zu präsentieren, das entwederin der entsprechenden Farbe oder in einer anderen Farbe geschriebenist (also z. B. das Wort rot in roter oder in grüner Schrift). Die Auf-gabe der Versuchspersonen besteht darin, anzugeben, in welcher Far-be das Wort geschrieben ist. Dabei zeigt sich, dass es den Versuchs-personen schwerer fällt, die Farbe zu benennen, wenn Farbwort undSchriftfarbe nicht übereinstimmen (d. h. wenn die Versuchspersonenbeim grün geschriebenen Wort rot mit grün antworten sollen) alswenn Farbwort und Schriftfarbe übereinstimmen. Dieser Effekt zeigt,dass das kognitive System die Bedeutung des Wortes verarbeitet, ob-wohl dies zur Lösung der Aufgabe nicht notwendig ist und offensicht-lich sogar eher einen störenden Effekt auf die Aufgabenbewältigunghat.

Zudem sollen Module an bestimmte neuronale Strukturen gebun-den, also im Gehirn lokalisierbar sein. Daraus folgt, dass es bei Hirn-schädigungen bestimmte Störungsbilder geben sollte, die selektiv dieArbeit einzelner Module beeinträchtigen können. Tatsächlich liefernBefunde aus der Neuropsychologie und der Neurolinguistik Hinweiseauf solche dissoziierende Beeinträchtigungen (> KAPITEL 11). Beispiels-weise gibt es Patienten, denen nach einer Hirnschädigung die Erken-nung von Gesichtern nicht mehr gelingt, obwohl andere Bereiche der

Bottom-up Prozesse

Domänenspezifik

Automatische undzwangsläufigeVerarbeitung

Stroop Effekt

Bindung anneuronaleStrukturen

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PSYCHOLINGUISTIK: EIN ÜBERBLICK

visuellen Wahrnehmung wie etwa die Erkennung von Objekten keineStörung zeigen.

Der modulare Ansatz ist eng verknüpft mit Modellen einer auto-nomen Sprachverarbeitung, in denen angenommen wird, dass dieInformationsverarbeitung während des Sprachverstehens und derSprachproduktion durch prozedurale Module erfolgt, die nacheinan-der arbeiten. Dabei muss die Verarbeitung jedoch nicht strikt seriellerfolgen, sondern es ist auch möglich, eine kaskadierende Verarbei-tung anzunehmen (> KAPITEL 4.3). Kaskadierung bedeutet, dass ein Mo-dul seine Arbeit nicht vollständig abgeschlossen haben muss, bevor einanderes Modul, das auf den Input seines ,Vorgänger-Moduls‘ ange-wiesen ist, seine Operationen beginnen kann. Daraus folgt, dass Infor-mation auch stückweise weitergeliefert werden kann und eine gewisseParallelität der Prozesse möglich wird. Dies lässt sich etwa im Bereichder Satzverarbeitung nachweisen, wo sich gezeigt hat, dass die syntak-tische Analyse nicht erst beginnt, wenn der Hörer den gesamten Satzbis zum Ende gehört hat, sondern bereits mit der Wahrnehmung derersten Wörter des Satzes (> KAPITEL 7). Jedes Modul erstellt eine spezi-fische Repräsentation, die lediglich vom Output vorheriger Modulebeeinflusst wird, nicht aber von Ergebnissen späterer Prozesse odervom zentralen kognitiven System, sodass während der Informations-verarbeitung ausschließlich bottom-up Prozesse möglich sind. EinFeedback von einem späteren Modul auf ein früheres findet nicht statt.Ein Beispiel für diesen Modelltyp bildet das Sprachproduktionsmodelldes Psycholinguisten Willem Levelt und seinen Kollegen (Levelt u. a.1999). Hier wird der lexikalische Zugriff als mehrstufiger Prozess ver-standen: ausgehend von einem durch semantische Aspekte der Mittei-lungsintention aktivierten lexikalischen Konzept werden zunächst syn-taktische Wortinformation und in einem anschließenden SchrittInformationen über die Wortform abgerufen. Nach der Annahme ei-ner reinen bottom-up und autonomen Verarbeitung können beispiels-weise phonologische Aspekte der Wortform keinen Einfluss darauf ha-ben, welches lexikalische Konzept während des Produktionsprozessesausgewählt wird (> KAPITEL 4.3).

Einen Gegenentwurf zu Modellen einer autonomen Sprachver-arbeitung bilden Modelle einer interaktiven Verarbeitung wie sie imBereich der lexikalischen Verarbeitung vor allem von William Mars-len-Wilson vertreten werden (Marslen-Wilson /Welch 1978). Inter-aktive Modelle unterscheiden sich von modularen in erster Linie da-durch, dass die Richtung des Informationsflusses hier nicht so striktfestgelegt ist. Sie sehen den Sprachverarbeitungsprozess als ein Zu-

Modelle einerautonomenSprachverarbeitung

Modelle einerinteraktivenVerarbeitung

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THEORETISCHE GRUNDLAGEN

sammenwirken sowohl von bottom-up als auch von sogenanntentop-down Prozessen, wobei jede Verarbeitungskomponente zu jedemZeitpunkt mit anderen Verarbeitungskomponenten interagiert. Top-down Prozesse erlauben ein Feedback zwischen den verschiedenenKomponenten, sodass eine gegenseitige Beeinflussung in der Informa-tionsverarbeitung möglich ist. Insofern widerspricht dieses Modellinsbesondere der Vorstellung der informationellen Enkapsulierungvon Modulen und lässt auch einen Einfluss des zentralen kognitivenSystems auf die Verarbeitung zu. Interaktive Modelle sind besondersgut in der Lage, Effekte eines sprachlichen Kontextes auf Erken-nungs- und Analyseprozesse auf verschiedenen sprachlichen Ebenenzu erklären. So können Hörer beispielsweise Laute in Wörtern bessererkennen als in Nichtwörtern, Wörter werden in einem passendenSatzkontext besser erkannt als in einem nicht passenden Satzkontext– Effekte die einfach zu erklären sind, wenn man annimmt, dass dielexikalische Verarbeitung ebenso ein Feedback zum Lauterkennungs-system geben kann wie die semantische Satzverarbeitung auf die lexi-kalische Verarbeitung.

Die Annahme interaktiver Prozesse kann in ein modulares Modelldes Sprachsystems integriert werden, Interaktivität ist jedoch ein zent-raler Bestandteil sogenannter konnektionistischer Modelle. In derpsycholinguistischen Forschung wurde dieser Modelltyp vor allendurch die Arbeiten von David Rumelhart und James McClelland zurBuchstabenerkennung populär (McClelland / Rumelhart 1981). Gene-rell sind konnektionistische Modelle charakterisiert durch den Ver-such, die menschliche neuronale Struktur und Erkenntnisse über neu-rophysiologische Aspekte der Informationsverarbeitung in Modellezu kognitiven Prozessen einzubinden. Für die menschliche Informati-onsverarbeitung im Gehirn sind Neuronen zentral, die durch Nerven-verbindungen stark miteinander vernetzt sind (> KAPITEL 13.2). Überdieses Netzwerk können sich Neuronen gegenseitig aktivieren aberauch hemmen. Über ähnlich strukturierte Netzwerke versuchen kon-nektionistische Ansätze, kognitive Prozesse zu modellieren.

Ein konnektionistisches Netzwerk besteht aus sogenannten Knotenund Verbindungen zwischen diesen Knoten. Knoten stellen Repräsenta-tionen bestimmter sprachlicher Strukturen dar, beispielsweise vonWör-tern, Phonemen oder Graphemen. Diese Repräsentationen sind jedochnicht symbolisch, sondern ergeben sich aus den Verbindungen diesesKnotens zu anderen Knoten. So erfolgt in konnektionistischen Model-len die Informationsverarbeitung nicht anhand von Symbolen, sondernausschließlich durch die Aktivierung von Teilen des Netzwerkes. Ein

Top-down Prozesse

KonnektionistischeModelle

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PSYCHOLINGUISTIK: EIN ÜBERBLICK

aktivierter Knoten kann an die mit ihm verbundenen Knoten Aktivie-rung weitergeben, deren Aktivierung aber auch hemmen. Jeder Knotenverfügt über eine Grundaktivierung, die unter anderem davon abhängt,wie häufig der Knoten bei vorherigen Verarbeitungsprozessen aktiviertwar. Von der Stärke der Aktivierung eines Knotens hängt auch derGrad der Aktivierung bzw. Hemmung verbundener Knoten ab.

Zwei wesentliche Unterschiede in den Grundannahmen zu modu-laren Modellen bestehen darin, dass in einem Netzwerkmodell einInformationsfluss in alle Richtungen möglicht ist, d. h. eine interak-tive Informationsverarbeitung gehört zu den grundlegenden Eigen-schaften dieses Modelltyps. Zudem kann mit der Ausbreitung derAktivierung eine parallele Verarbeitung in verschiedenen Bereichendes Netzwerkes stattfinden.

In der aktuellen Forschung tendiert man dazu, zumindest ein be-schränktes Maß an Interaktivität anzunehmen (Rapp /Goldrick2000), aber auch die autonomen Modelle spielen weiterhin eine Rol-le, wobei der Stellenwert der Modelle in verschiedenen Bereichen derpsycholinguistischen Forschung (lexikalische Verarbeitung – Satzver-arbeitung) unterschiedlich ist (>KAPITEL 5, 7).

1.3 Historische Wurzeln

Die moderne Psycholinguistik ist eine relativ junge Wissenschaft, derenBeginn meistens in der Mitte des 20. Jahrhunderts angesetzt wird. Aberschon lange vorher hat sich die Menschheit Gedanken über die mensch-liche Sprachfähigkeit gemacht. So finden sich bereits in alten ägyp-tischen Papyrusschriften, die auf die Zeit um 1700 v. Chr. datiert wer-den, Berichte über Auswirkungen von Kopfverletzungen auf dasSprachvermögen (Altmann 2006). Trotzdem hielten die Ägypter dasGehirn für kein besonders wichtiges Organ, im Gegensatz zu anderenOrganen wie dem Herzen wurde es vor der Mumifizierung eines Leich-nams entfernt. Auch Fragen nach dem Ursprung der Sprache und demSpracherwerb des Kindes beschäftigten die Menschheit schon lange.Vom ägyptischen Pharao Psamtik (7. Jahrhundert v. Chr.) wird berich-tet, dass er Babys in einer sprachlosen Umgebung aufwachsen ließ, inder niemand in Anwesenheit der Kinder sprechen durfte. Er wollte he-rausfinden, welche Sprache diese Kinder sprechen würden und glaubte,dass dieses die „Ursprache“ sei. Angeblich erlernten diese Kinder Phy-grisch, eine Sprache, die in einem Gebiet in der heutigen Türkei bis ins7. Jahrhundert n. Chr. gesprochen wurde. Die Durchführung einer ähn-

Forschungstendenzen

ModernePsycholinguistik

FrühesteExperimente

19

HISTORISCHE WURZELN