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Psychologie Heute 05/2012 Leseprobe

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Psychologie Heute 05/2012 Leseprobe

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PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Durchwursteln als LebenskunstOft geht es uns im Kleinen, Alltäglichen wie Eurobeschirmerin Merkel im Großen: Wir tasten uns bei unseren Entscheidun-gen mehr oder weniger blind voran, fol-gen dem Prinzip von Versuch und Irrtum. Planvoll und entschlossen ist das nicht. Doch gar nicht so selten entpuppt sich das Durchwursteln als die erfolgverspre-chendste aller Strategien. Denn: Einen „Masterplan“ gibt es in den Unwägbar-keiten des Lebens so gut wie nie.

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4 In diesem Heft

Titelthema

Psychologie & Film

! Axel Wolf

Sich durchwursteln: Die Kunst der Improvisation 20! Ingrid Glomp

Das war so nicht geplant! 26! Martin Dornes im Gespräch

„Die meisten Menschen sind nicht überfordert“ 30! Susie Reinhardt

Schlechte Manieren – manchmal gar nicht so schlecht? 36! Edward Hoffman

Die Psychologie des Zen: Eine Erinnerung an D. T. Suzuki 42

! Till Bastian

Seelenabwanderung 46! Christina Burbaum, Anne-Maria Stresing

„Meine Ärzte sagen, das ist alles nur psychisch!“ 60

! Martin Tschechne

Es waren einmal zwei Brüder … 66

! Dörthe Binkert

Der Film Abbitte: Schuld, Scham, Vergebung 72

! Chaehan So

Wer andere erniedrigt, hat’s nötig 76

In diesem Heft 5

Lieber deutlich als höflich?Unhöflichkeit stört das soziale Betriebsklima nachhal-tig. Wir reagieren gekränkt – oft zu Unrecht. Denn sel-ten sind die Grobheiten persönlich gemeint, meist nicht einmal Absicht. Und manchmal ist ein deutlicher, direk-ter Ton sogar im Interesse des Empfängers: damit eine wichtige Botschaft auch wirklich zu ihm durchdringt. 36

Das Märchen der MärchenbrüderDas Märchenhafteste an den Geschichten der Gebrü-der Grimm ist die Legende ihrer Entstehung: Da ziehen zwei Folkloristen durch die Lande, fragen die ortsan-sässigen Großmütter nach heimischen Sagen und schreiben alles getreulich auf. In Wirklichkeit war das Projekt der Brüder konstruierter und politischer, als sie ihren Lesern weismachten. 66

8Themen & Trends! Haltung: Kein Vertrauen ohne Misstrauen! Harmlos: Der Vollmond kann nichts dafür! Halt: Schutzschild Mutterliebe! Hasardeure: Männerleichtsinn durch Frauenmangel

Und weitere Themen

52Gesundheit & Psyche! Ernährung: Eiweiß macht munter! Entmenschlichung: Psychiater als Mörder! Entspannung: Achtsamkeit gegen Schmerz! Ergrauen: Altern – aber „erfolgreich“

Und weitere Themen

82Buch & Kritik! Psychoanalyse: Was wurde nur aus dem Trauma?! Psychoszene: Schamanen, Scientologen, Sinnsucher! Psyche in Not: Zwei Bücher über Depressionen! Psyche im Hoch: Liebe in Zeiten des Laptops

Und weitere Bücher

Rubriken 6 Briefe 8 Themen & Trends52 Gesundheit & Psyche82 Buch & Kritik93 Im nächsten Heft94 Impressum95 Markt

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

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Themen & Trends

In Zeiten von Finanz- und Eurokrise wird es beinahe täglich beschworen: das Vertrauen. Es ist regelrecht zu einer „Ob-session“ geworden, so Ute Frevert vom Berliner Max-Planck-Institut für Bil-dungsforschung auf einer Tagung des Einstein-Forums in Potsdam, bei der Philosophen, Soziologen, Historiker und Ökonomen ihre Sicht der Dinge zum Thema präsentierten. Der Tenor: „Vertrauen macht das Leben nicht un-bedingt leicht, nur ist es ohne Vertrau-en nicht möglich“, wie Jan Philipp Reemtsma vom Hamburger Institut für Sozialwissenschaft es auf den Punkt brachte. „Zu vertrauen heißt zu sprin-gen, Ruhe und Sicherheit aufzugeben, sich in etwas hineinzuwagen, was man nicht kontrollieren kann“, ergänzte die Philosophin Michela Marzano von der Université Paris Descartes. Wir nehmen die Vertrauensfähigkeit der anderen für gegeben und suchen ab einem bestimm-ten Punkt nicht mehr wirklich nach Be-weisen und Sicherungen.

Seit der Französischen Revolution 1789 wurde der Vertrauensbegriff in das emotionale Lexikon des Abendlandes aufgenommen, erklärt Ute Frevert – um das zuvor dominierende unbedingte Gottvertrauen abzulösen, das frei war und ist von Zweifel und Verrat. Doch

mit dem Aufbruch in die Moderne, vor allem im 19. Jahrhundert, stieg das Ver-langen nach der rein irdischen Variante. Die Menschen wurden mobiler; mehr und mehr Fremde kreuzten ihren Weg; die Unsicherheiten im sozialen Umgang wuchsen. Zwar reduzierten aufkom-mende Institutionen wie Schulen, Ver-sicherungen, Polizei, gesetzgebende In-stanzen oder Behörden die aufkom-menden Risiken in modernen Gesell-schaften. Doch hundertprozentig sicher konnte und kann man sich nicht sein. Das Vertrauen dient dazu, die Lücke zwischen Wissen und Nichtwissen zu schließen.

Gleichwohl bleibt immer ein Risiko. „Vertrauen braucht Misstrauen“, sagt Reemtsma, „weil ich unterscheiden muss, wem oder was vertraue ich und wem oder was nicht.“ Dabei setzen wir auf gewisse Fundamente der Vertrau-ensbildung. Guido Möllering unter-scheidet drei Optionen: Vernunft, Rou-tinen und Erfahrungen. Die erste, gera-de unter Ökonomen kursierende Sicht sieht Vertrauen als eine Frage der Rati-onalität. Das heißt: Vertrauen ist nichts weiter als Kalkül. Wer es gibt, rechnet schlicht aus, inwieweit es im Interesse eines anderen ist, geschenktes Vertrau-en zu belohnen oder zu enttäuschen.

Folglich vertrauen Menschen dann am leichtesten, wenn das Gegenüber sich bei einem Vertrauensbruch selbst scha-den würde.

In vielen Situationen allerdings, so die zweite Perspektive, wird Vertrauen routinemäßig geschenkt und ist selbst-verständlich. Dabei orientieren sich die Menschen an legitimen Regeln und Rollen, handeln angemessen und gehen davon aus, dass sich die anderen eben-so „normal“ verhalten werden. Auf die-se Weise machen sich täglich nahezu alle Leute anderen gegenüber verwund-bar, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was alles schiefgehen könnte. „Und meist geht es ja auch ir-gendwie gut“, stellt Jan Philipp Reemts-ma fest.

Vertrauen erwächst aber auch, indem man mit anderen lernt und mit ihnen gemeinsam Erfahrungen sammelt. Klar, niemand weiß, ob sich die Dinge auch zukünftig so entwickeln werden wie zuvor. „Darum geht es hier aber auch nicht, denn das wäre kalkulatives Vertrauen“, betont Guido Möllering. Vielmehr bilden gewachsene, langfris-tige Beziehungen die Vertrauensbasis – so wie es beispielsweise typisch ist zwi-schen Lebenspartnern, aber auch in manchen Geschäftsbeziehungen.

„Vertrauen braucht Misstrauen.“Wir müssen einander vertrauen: in Beziehungen, am Arbeitsplatz, in Politik und Wirtschaft. Doch gleichzeitig müssen wir damit rechnen, dass unser Vertrauen missbraucht wird. Wie meistern wir diese schwierige Aufgabe?

REDAK T ION : URSUL A NUBER

Auf diesem Nährboden erhalten wir ein vertrauenswürdiges Umfeld durch permanente kleine, unbewusste An-strengungen. „Zusammen schaffen wir ein Konzept von Normalität, egal ob wir diese Idee mögen oder nicht“, erklärt Jan Philipp Reemtsma, „das ist soziale Evolution.“ Wenn man weiß, wem oder was die Menschen gedankenlos vertrau-en, kann man Normalität in einer Ge-sellschaft definieren. Über das Vertrau-en erfährt man viel über die Ordnung der Dinge. Beispiel: Taxifahrer brau-chen Vertrauen zu ihren Fahrgästen, sonst würden sie ihrem Beruf nicht ru-higen Gewissens nachgehen können. Wie sie es aufbauen, ist abhängig von der Umwelt. In Belfast schätzen sie auf-grund der Religionszugehörigkeit ein, ob sie einem Fahrgast vertrauen. Taxi-fahrer in New York hingegen nutzen an-

dere Hinweise – Klasse, Alter, Ge-schlecht, sexuelle Orientierung, Religi-on, Rasse und Nationalität. Je mehr sich die Leute ähneln, desto stärker vertrau-en sie sich.

Reines Kalkül und Erfahrung als Vertrauensmotoren werden jedoch in der modernen, globalisierten Wirt-schaft immer seltener. Denn keiner der Beteiligten weiß genau, welche anderen Akteure am System beteiligt sind und welche individuellen Anreize deren Handeln bestimmen. Infolgedessen steigt die Bedeutung des generalisierten Vertrauens, einer Art allgemeiner ver-trauensvoller Grundeinstellung. „Beim generalisierten Vertrauen sichert jeder idealerweise durch sein vertrauenswür-diges Verhalten nicht nur seinen eigenen Zugang zu dem System, sondern repro-duziert und stärkt auch das generali-

sierte Vertrauen der anderen“, sagt Möl-lering. Wird derlei Vertrauen miss-braucht, droht Ungemach. „Nach der Theorie des generalisierten Vertrauens müssten Vertrauensbrecher konsequent aus dem System ausgeschlossen werden oder – falls das nicht so ohne weiteres möglich ist – besonders intensiv beob-achtet werden, bis sie die Erwartungen wieder erfüllen.“ In diesem Sinne zer-stören Banker nach Ansicht Möllerings seit Jahren Vertrauen, „weil sie nicht be-reit sind, Fehler einzugestehen, Verant-wortung zu übernehmen und die Pro-bleme konstruktiv zu lösen. Für die Ver-trauensentwicklung ist das katastro-phal!“ ! Klaus Wilhelm

Vorträge der Tagung On Trust am 3. und 4. Novem-ber 2011 im Einstein-Forum in Potsdam

Michela Marzano: Le contrat de défiance. Grasset & Fasquelle, Paris 2010

Themen & Trends 9

Mutiges Unterfangen: „Zu vertrauen heißt, Ruhe und Sicherheit aufzugeben, sich in etwas hineinzuwagen, was man nicht kontrollieren kann“

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

20 Titel

Sich durchwursteln: Die Kunst der ImprovisationWir haben ein Problem – und suchen nach der richtigen Lösung. Wir müssen eine Entscheidung treffen – und setzen alles daran, dass es nur ja keine falsche ist. Wir haben ein Ziel – und hoffen, es auf geradem Weg erreichen zu können. Doch immer öfter müssen wir feststellen: Es gibt nicht den einen richtigen Weg. Wir müssen Kompromisse finden, Umwege gehen, impro visieren. Das Durchwursteln ist zu einer Kernkompetenz der modernen Lebensgestaltung geworden

! Axel Wolf

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Titel 21

Das Durchwursteln muss ein En-de haben!“ Starke Worte, die der Weltbankchef Robert Zoel-

lick (USA) auf dem diesjährigen Welt-wirtschaftsforum in Davos an die euro-päischen Politiker, insbesondere an die deutsche Kanzlerin richtete. Er spiel te damit auf die Griechenland- und Euro-krise an, in der sich die noch solventen Staaten schon seit längerem Zaghaftig-keit, Planlosigkeit und Engherzigkeit vorwerfen lassen müssen, bevor sie dann nach langem Zögern doch wieder die nächste Milliardentranche bewilligen.

Zugegeben: Planvoll und entschlos-sen sieht das wirklich nicht aus. Aber niemand weiß, welcher der richtige Weg aus der Griechenland-Euro-Banken-Krise ist, schon gar nicht der Weltbank-

präsident. Und auch von anderen Ex-perten hört man nur höchst wider-sprüchliche, sich gegenseitig ausschlie-ßende Vorschläge. Niemand kann vorhersagen, was etwa ein Ausschluss Griechenlands für den Rest der Euro-zone bedeuten würde oder wie „die Märkte“ reagieren oder welche Groß-bank als nächste an ihren Schrottpapie-ren zugrunde gehen wird.

Hinter der Kritik am Durchwursteln steht, neben handfesten Interessen, die immer noch gern gehegte Illusion, dass es so etwas wie einen Masterplan gibt: die eine umfassende, rationale, sichere, „richtige“ Lösung für ein hochkomple-xes Problem. Das zähe Verhandeln und die Trippelschritte mögen die Geduld aller Beteiligten (vor allem auch der zu-schauenden Steuerzahler) strapazieren, und ein Gefühl von Fatalismus, Unent-schlossenheit oder Kleinmut breitet sich aus. Aber das Durchwursteln ist wahr-scheinlich die einzig richtige Vorgehens-weise.

Führungskunst besteht heute immer deutlicher in der Kernkompetenz des Durchwurstelns, und Politiker wie Zoel-licks Landsmann Barack Obama beken-nen sich inzwischen mehr oder weniger offen zum muddling through. Es ist der

allmähliche Abschied von den großen Entwürfen, den Visionen und Plänen. Sie sind nicht mehr zu realisieren in einer Welt, deren Krisen und Pro-

bleme so komplex wuchern, dass selbst Computersimu-lation und Szenarientech-nik nicht wirklich helfen.

Ganz zu schweigen von der Prognosetüchtigkeit der Experten. Politiker hören

zwar immer noch mit er-staunlicher Gläubigkeit auf Be-

rater und Spezialisten. Aber schon 1984, an einem Kulminationspunkt des „Kal-ten Krieges“, hatte der amerikanische Psychologe Philip Tetlock in einer be-rühmten Studie festgestellt: Experten können über künftige Entwicklungen nichts Genaueres sagen als das, was der Mann oder die Frau „von der Straße“

auch vorhersagen. Tetlock hatte 300 aus-gewiesene Experten über die Zukunft befragt. Hochschulprofessoren, Wirt-schafts- und Politikspezialisten, Mitar-beiter von Thinktanks, erfahrene Poli-tiker sollten prognostizieren: Wie geht es weiter in der Auseinandersetzung zwischen den USA und der UdSSR? Was wird vermutlich passieren? Tetlock leg-te ihnen Tausende von Detailfragen vor, und alle gaben ihr Bestes. Sein Fazit nach Abgleich der Prognosen und dem, was wirklich eingetreten ist: Es kommt fast immer anders, als Experten denken.

Komplexität, Unberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit beherrschen jedoch nicht nur Politik und Wirtschaft, sie machen auch das Leben des Einzelnen mehr und mehr zum nicht mehr kalku-lierbaren Projekt. Und wie für die Poli-tik gilt auch für den einzelnen Bürger: Das Durchwursteln, Improvisieren, Kompromissemachen, das Auf-Umwe-gen-zum-Ziel-Kommen sind zu Unrecht unterschätzte, oft verachtete Problem-lösungsstrategien. In Wahrheit sind sie heute die erfolgreichsten Wege zu un-seren Lebenszielen, und sie helfen am besten, wenn es um die Bewältigung des Alltags geht.

Das betrifft viele wichtige Lebenssi-tuationen: die Partner- und Berufswahl, die Bewältigung von Krisen wie Arbeits-losigkeit oder Krankheit, die Lösung von Konflikten und das Finden von Kom-promissen in der Familie und am Ar-beitsplatz, die Anpassung an sich schnell verändernde Anforderungen. Das Leben in der Moderne ist, wie die „große Po-litik“, immer häufiger die Kunst des Möglichen. Wir erreichen Ziele oft nicht auf direktem Wege, wir müssen Zwi-schenlösungen finden, Kompromisse schließen, improvisieren, vielleicht ein alternatives Ziel finden:– Jemand möchte Psychologie stu die ren,

bekommt aber trotz intensiver Bemü-hungen keinen Studienplatz, jeden-falls nicht sofort, denn Psychologie ist ein hartes Numerus-clausus-Fach. Er kann einen Rechtsanwalt einschalten und versuchen, den Studienplatz ein-

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26 Titel

! Ingrid Glomp

Das Witzige ist, dass ich nie einen Plan für meine Karriere hatte. … Es kam einfach so daher und

hat sich glücklicherweise so gefügt, wie es sollte“, sagte einmal der Schauspieler Ewan McGregor. Bundesarbeitsminis-terin Ursula von der Leyen erklärte in einem Interview: „Ich habe eine Ent-wicklung durchgemacht, bei der jeder Karriereberater schreien würde vor Ent-setzen. Der würde sagen: ‚Wo ist der rote Faden?‘“ Und sie ergänzte: „Das meiste hat sich entwickelt und war nicht geplant.“ Wer Prominente so etwas sa-gen hört, könnte das für falsche Beschei-denheit halten. Aber vielleicht ist das Leben tatsächlich zu komplex für ge-radlinige Entwürfe? Das jedenfalls meint der britische Wirtschaftsprofes-sor John Kay. In seinem Buch Obliquity (etwa: Unregelmäßigkeit, Verirrung)

beschreibt er, warum in unserer heuti-gen komplizierten Welt Umwege oft schneller zum Ziel führen.

Manager und Banker, Städteplaner und Politiker – sie alle haben in der jün-geren Vergangenheit viel Schaden ange-richtet, weil sie ihr Wissen überschätz-ten und nicht verstanden, wie kompli-ziert die Situationen waren, mit denen sie zu tun hatten. In einer komplexen Welt führen selbst die besten Pläne oft in die Irre. Wer Entscheidungen fällen und Probleme lösen muss, sollte sich lieber ein Beispiel an der Evolution neh-men, meint Kay.

Unser Gehirn entwickelte sich in ei-ner Zeit, als die Welt übersichtlich war. Wenn man Bärenspuren fand, war es sinnvoll, einen anderen Weg einzuschla-gen. Direkte Lösungen eignen sich aber nur für einfache Probleme, sagt Kay. Am

Beispiel von Sudokus erklärt er, was er mit „einfach“ meint:– Es gibt nur eine einzige Lösung.– Die Reaktionen anderer auf die Lö-

sungsversuche haben keinen Einfluss. – Das System ist geschlossen. Die Anzahl

der Möglichkeiten ist überschaubar und ändert sich nicht.

– Die Komplexität ist beschränkt.

Doch solche Situationen sind selten ge-worden. Heute leben und agieren wir in und mit einer Fülle von komplexen ad-aptiven Systemen. Diese bestehen aus vielen verschiedenen Einzelteilen, die netzwerkartig miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen, während System und Bestandteile sich außerdem an Veränderungen in der Um-welt anpassen. Beispiele sind Hausge-meinschaften, Schulen, Firmen und

Das war so nicht geplant!Warum Umwege oft schneller zum Ziel führen

Titel 27

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Städte, unser Körper, Wälder und Mee-re, aber auch Kriege und die Weltwirt-schaft. Weil diese Systeme so unüber-schaubar sind, können Eingriffe sich noch viel später, ganz woanders oder auf andere Weise auswirken als erwartet. Das bedeutet auch, dass scheinbar of-fensichtliche Lösungen fehlschlagen oder das Gegenteil bewirken können. Was so vielschichtig ist, zahllosen Ein-flüssen unterliegt und sich außerdem ständig ändert, lässt sich nicht vollstän-dig durchdenken oder regulieren.

Wie groß inzwischen die Vielfalt wirtschaftlicher Zusammenhänge ist, veranschaulicht Tim Harford, der Kays Sichtweise teilt, anhand eines Beispiels. Ein amerikanisches Wal-Mart-Waren-haus bietet etwa 100 000 unterschiedli-che Dinge zum Verkauf, und in einer Metropole wie New York kann man zwi-

schen zehn Milliarden Waren und Dienstleistungen wählen. In den Gesell-schaften, in denen das menschliche Ge-hirn sich entwickelte, so schreibt der Ökonom und Journalist in seinem Buch Adapt, gab es dagegen vielleicht einige hundert „Produkte“ und „Dienstleis-tungen“, die unsere Vorfahren überbli-cken und zwischen denen sie sich ent-scheiden mussten. Früher war alles, wenn auch nicht besser, so doch um vieles einfacher.

In komplexen Situationen, bei viel-schichtigen Problemen lässt sich ein gu-tes Ergebnis offenbar nicht in einem einzigen großen Wurf erreichen. Will man einen spannenden Krimi schrei-ben, ein hervorragender Lehrer werden, ein umweltfreundliches Auto entwerfen oder ein erfolgreiches Unternehmen gründen, dann lässt sich das nicht im

Voraus durchplanen. In Fällen wie die-sen kommt man um Versuch und Irrtum nicht herum. Tim Harford veranschau-licht das anhand der Entwicklung einer Düse, die die Firma Unilever benötigte, um flüssiges Waschmittel in Pulver um-zuwandeln. Wissenschaftler versuchten zu berechnen, wie eine solche Düse aus-sehen müsste – und scheiterten. Dann machten sie es wie die Natur oder ge-

nauer: wie die Evolution. Sie nahmen eine Düse als Ausgangspunkt, kre-ierten zehn beliebige Varianten, testeten sie und behielten die am besten geeignete. Von der fertigten sie wieder zehn leichte Abwand-

lungen und so weiter. Nachdem sie 45 Zyklen durchlaufen

hatten, erhielten sie eine komplizierte Düse, deren Form ein wenig der einer Schachfigur ähnelt und die bestens funktionierte – ohne dass jemand wuss-te, warum.

Der Internetriese Ama-zon ist ein Paradebeispiel für die Methode Versuch

und Irrtum, wie Richard L. Brandt in seinem Essay Birth of a Sales-man über Amazons Gründer Jeff Bezos im Wall Street Journal schildert:– Ursprünglich sollte der Name der Fir-

ma „Cadabra“ lauten. Das änderte man schnell, weil jemand „Kadaver“ verstanden hatte.

– Die Website des Unternehmens war zu Anfang noch nicht ganz fertig, ge-treu Bezos’ Philosophie, schnell los-zulegen, um der Konkurrenz zuvor-zukommen, und den Internetauftritt zu verbessern, während die Leute ihn schon nutzten. Ein früher Programm-fehler erlaubte es den Kunden zum Bei-spiel, negative Mengen von Büchern zu bestellen, deren Preis ihrer Kredit-karte gutgeschrieben wurde. Was Ama-zon natürlich schleunigst abstellte.

– In den ersten Wochen knieten die Mit-arbeiter auf dem nackten Betonboden, während sie die Bücher verpackten. Bezos erzählte später in einer Rede,

Schlechte Manieren – manchmal gar nicht so schlecht?Niemand möchte unhöflich behandelt werden. Dennoch begegnen uns andere und wir ihnen nicht immer takt- und respektvoll. Das belastet das täg liche Miteinander und auch das seelische Wohlbefinden. Dennoch können wir auf unhöf-liches Verhalten nicht gänzlich verzichten

! Susie Reinhardt

Was Menschen unter einem angemesse-nen Umgang verstehen, ist in verschie-denen Kulturen ganz unterschiedlich.

Wer weiß zum Beispiel, dass es in Indien eine grobe Missachtung darstellt, einem anderen Men-schen die Fußsohlen entgegenzustrecken? Man muss aber gar nicht Ländergrenzen überschreiten, um bei Benimmfragen ins Fettnäpfchen zu treten. Was erlaubt ist, als Lapsus durchgeht oder als völ-lig daneben gilt, ist auch innerhalb einer Gesell-schaft in hohem Maße Ansichtssache. Nehmen wir den Satz: „Mach mal ’ne Ansage!“ Während dieser Spruch in einer Stadtteilversammlung als flapsige Aufforderung durchgeht, einen konkreten Vorschlag einzubringen, wird er in einer Bankfi-liale wahrscheinlich als Unverschämtheit gewertet.

36 Sozialverhalten

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PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Rüdes Verhalten liegt weitgehend im Auge des Betrachters, meinen auch die amerikanischen Psy-chologinnen Christine Pearson und Christine Po-rath, die seit vielen Jahren zum Thema „Unhöf-lichkeit am Arbeitsplatz“ forschen. Sie verstehen darunter „den Austausch von scheinbar folgenlo-sen rücksichtslosen Worten oder Taten, die gegen die üblichen Umgangsregeln am Arbeitsplatz ver-stoßen“. Dabei spielt es keine Rolle, ob Täter, Op-fer oder Zeugen meinen, dass der Angriff absicht-lich geschah. Als typische Beispiele für Verhal-tensweisen, die von den meisten Menschen als rüde empfunden werden, nennen die Forscherin-nen: fremde Lorbeeren ernten, anderen die Schuld zuschieben, in einem Meeting SMS oder E-Mails schreiben, nicht zuhören, andere herablassend be-handeln oder Informationen zurückhalten.

Porath und ihre Kollegen führten eine ganze Reihe von Experimenten durch, um die Auswir-kungen von kleineren und größeren Unhöflich-keiten auf kognitive Fähigkeiten, Arbeitsmoral und Hilfsbereitschaft zu messen. Dazu warben sie Frei-willige unter Studierenden einer US-Universität, die sich in einer Testreihe zum Zusammenhang von Persönlichkeitseigenschaften und Problem-lösefähigkeit wähnten. Die Wissenschaftler teilten die Versuchspersonen in verschiedene Gruppen ein, verschonten einige ganz von inszenierten Ge-meinheiten und setzten alle anderen gezielt un-höflichen Angriffen aus: Manche mussten sich als Gruppe herablassende Worte des Versuchsleiters anhören, der sich über die laxe Haltung von Stu-denten in Sachen Pünktlichkeit ausließ. Andere wurden einzeln und persönlich angeblafft: Als sie sich am vereinbarten Ort für das Experiment ein-fanden, wies sie eine fremde Frau, die aber vorgab, nichts mit dem Experiment zu tun zu haben, auf barsche Art zurecht: „Das ist nicht Ihr Raum! Kön-nen Sie nicht lesen? Ich bin hier nicht die Sekre-tärin, sondern eine vielbeschäftigte Professorin!“

Abgesehen von den unterschiedlichen unhöf-lichen Zwischenfällen, waren die Bedingungen für alle Freiwilligen gleich. Sie erhielten ähnliche Denksportaufgaben und wurden alle Teil eines verdeckten Tests zur Hilfsbereitschaft, als der Ver-suchsleiter während des Experimentes „aus Ver-sehen“ einen Stapel Bücher fallen ließ. Am Schluss erfassten die Forscher noch, ob die unfreundliche Behandlung Rachegelüste hervorgerufen hatte.

Die Ergebnisse zeigen, dass schon kleine Un-gehörigkeiten einen Menschen in hohem Maße aus dem Konzept bringen können. Freiwillige, die

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60 Psychosomatische Diagnosen

Psychosomatische Diagnosen 61

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Also, ich habe die Untersuchungs-ergebnisse jetzt vorliegen: Sie sind völlig gesund. Blutwerte

und EKG-Ergebnisse sind in bester Ord-nung!“ Meist sind Patienten erleichtert, wenn sie einen solchen Satz von ihrem Arzt hören. Manche Patienten lassen diese Sätze aber ratlos zurück: Es sind Menschen, die unter körperlichen Be-schwerden leiden, die medizinisch nicht oder nicht ausreichend erklärbar sind. Hätte man Frau K., einer 45-jährigen Bankkauffrau, noch vor wenigen Jahren gesagt, dass sie sich einmal regelrecht wünschen würde, an einer körperlichen Krankheit zu leiden, hätte sie dies sicher entschieden zurückgewiesen. Nun, 25 Arztbesuche und mehrere längere Krankschreibungen später, ist ihr dieser Gedanke nicht mehr fremd. Denn ob-wohl es angesichts ihrer „medizinischen Karriere“ so aussehen könnte, als sei sie ernsthaft körperlich erkrankt, fehlt Frau K. nichts. Zumindest nichts, was auf-grund ihrer Laborwerte und verschie-dener weiterer Untersuchungen vom organmedizinischen Standpunkt aus als

krankhaft eingestuft und mit einer kon-ventionellen schulmedizinischen The-rapie behandelt werden könnte.

Und dennoch leidet Frau K. unter massiven körperlichen Beschwerden, die ihre Lebensqualität erheblich ein-schränken und die sie oft verzweifeln lassen: Ihre Symptome reichen von Ge-lenk-, Muskel-, Kopf- und Bauch-schmerzen über Schlafstörungen und Müdigkeit bis hin zu einer erhöhten In-fektanfälligkeit. Frau K. ist mit ihren Beschwerden nicht allein: Wie Studien zeigen, leiden mindestens 20 Prozent der Patienten in Deutschland, die einen Hausarzt aufsuchen, unter medizinisch nicht erklärbaren Beschwerden. Die Symptome sind vielfältig: Die Betroffe-nen klagen zum Beispiel über unter-schiedlichste Schmerzen, Herz-Kreis-lauf-Beschwerden, Magen-Darm-Pro-bleme, Schwindel oder Mattigkeit. Oft treten mehrere Beschwerden gleichzei-tig auf. Bei einem großen Teil der Pati-enten verschwinden die Symptome nach einer Weile von selbst, doch bei anderen halten sie sich über einen längeren Zeit-

raum, oder sie treten immer wieder auf. Weil sich trotz vieler diagnostischer Un-tersuchungen keine ausreichende organ-medizinische Erklärung finden lässt, geraten die Betroffenen nicht selten un-ter den Verdacht, sich ihre Symptome einzubilden oder körperliche Leiden vorzuspielen, um sich damit einen „Vor-teil“ (einen sogenannten „sekundären Krankheitsgewinn“) zu verschaffen. Es ist in der Fachwelt inzwischen allerdings unumstritten, dass die Beschwerden für die Betroffenen genauso real sind wie solche, die eindeutig „organisch“ ver-ursacht sind.

Für Leiden dieser Art existieren ganz unterschiedliche Bezeichnungen: So spricht man von funktionellen Störungen (ein Organ ist in seiner Funktion, nicht aber in seiner Struktur gestört) oder so-matoformen Störungen (Beschwerden entsprechen in ihrem Erscheinungsbild einer körperlichen Erkrankung). Eine alternative Bezeichnung – medizinisch unerklärte körperliche Symptome (MUS)

– zielt darauf ab, dass es nicht das Pro-blem der Patienten, sondern jenes der

„Meine Ärzte sagen, das ist alles nur psychisch!“Mindestens jeder fünfte Patient in einer Arztpraxis leidet unter unerklärlichen Beschwerden. Oft vermutet der Arzt oder Therapeut dann einen psychosomati-schen Hintergrund und deutet dies vorsichtig an. Viele Patienten reagieren darauf zurückhaltend, gekränkt oder irritiert. Die Kommunikation gleicht einem Eiertanz

! Christina Burbaum, Anne-Maria Stresing

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66 200 Jahre Grimms Märchen

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Dornröschen hat nie in der Sa-baburg geschlafen. Ein Dorn-röschen hat es nie gegeben. Und

wenn doch, dann kam die verzauberte Prinzessin nicht aus dieser Gegend. Nicht einmal die Brüder Grimm waren je auf der Sababurg. Rotkäppchen ist aus Frankreich eingewandert. Und Rapun-zel hieß eigentlich Persinella und war ein liebestolles Luder aus der süditalie-nischen Campania. Die Wissenschaft kann alles nachweisen. Aber dafür sind Märchen eben Märchen. Fiktion und Wirklichkeit sind ineinander verstrickt wie in einer hundert Jahre alten Dor-nenhecke. Oft liegen dem Mythos Tat-sachen zugrunde: Tatsächlich wurde eine junge Adelige aus Waldeck im fer-nen Frankreich vergiftet. War sie das Vorbild für Schneewittchen? Aber die sieben Berge liegen bei Alfeld, ein spre-chender Spiegel hängt im Museum von Lohr am Main. Und missgünstige Stief-mütter gab es landauf, landab in einer Zeit, in der so viele Frauen bei der ach-ten oder zwölften Geburt im Kindbett starben.

Märchen erzeugen zudem ihre eigene Realität. Touristen kommen aus Japan und den USA ins nordhessische Hof-geismar, um sich vor der Kulisse der Burg neben Schauspielern in zeitgenös-sischem Kostüm fotografieren zu lassen: Wir waren auf dem Dornröschen-schloss! Haben im Turmgemach mit Himmelbett genächtigt und im Restau-rant des Schlosshotels das „Brüder-Grimm-Gedeck“ genossen. Viele feiern Hochzeit auf der Burg. Und der riesige Reinhardswald, der Türme und Zinnen der Burg auf 200 Quadratkilometern mit jahrhundertealten Eichen umfrie-det, der finstere Wände aus Fichten auf-ragen und Sonnenstrahlen unter dem hohen Laubdach der Buchen tanzen lässt – er entspricht nun wirklich jedem Klischee von einem Märchenwald.

Aber Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) waren auf andere Wirklichkeiten aus. Pädagogen haben die archaische Grausamkeit ihrer Mär-chen gegeißelt und zugleich das neue Menschenbild, für das die Grimms stan-den: Mit der Aufklärung waren neben

Schicksal und Fügung auch Individuum und Initiative getreten. Freiheit, Gleich-heit, Brüderlichkeit – für die Freiheit sollten sich die Brüder Zeit ihres Lebens einsetzen, zornig und kompromisslos. Als protestierende Professoren der „Göt-tinger Sieben“ 1837 gegen den König von Hannover, als wackere Demokraten in der Revolution von 1848.

Zu Gleichheit und Brüderlichkeit in-des brauchte es Erziehung, eine Moral. Dazu fühlten die Brüder sich aufgerufen. Denn aus der Freiheit des Individuums ergaben sich Chancen, aber auch Ängs-te: die Option des Aufstiegs und die des Scheiterns, die Herausforderung, einen eigenen Lebensplan zu entwerfen, und die Pflicht, dafür auch die Verantwor-tung zu tragen. Genau das tut einer, der auszieht, das Fürchten zu lernen! Wie sprach das kluge Schneiderlein sich Mut zu? „Frisch gewagt ist halb gewonnen!“, rief es. Dann besiegte es den Bären. Und was sagte der Esel zum Hahn? „Ei was, du Rotkopf“, sagte er, „zieh lieber mit uns nach Bremen, etwas Besseres als den Tod findest du überall; du hast eine gu-

Es waren einmal zwei Brüder … … die hießen Jacob und Wilhelm und fuhren durch das Land und schrieben auf, was die Menschen ihnen erzählten. Und weil die Geschichten so tief aus den Herzen kamen, rührten sie auch die Herzen aller, die sie hörten. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte: Die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm erschienen vor genau 200 Jahren – und kein Buch hatte je eine ähnlich nachhaltige Wirkung auf unsere Kultur und unser Bild vom Menschen, auf Werte und Normen und den Umgang mit der Wirklichkeit

! Martin Tschechne

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72 Psychologie & Film

Der Film Abbitte: Schuld, Scham, VergebungSchuld kann getilgt werden, indem der Schuldige bestraft wird. Die Scham über ein be-gangenes Unrecht ist damit noch nicht aus der Welt. Es be-darf der Vergebung durch das Opfer, eines Verzeihens, auf das man nur hoffen kann, wenn man Abbitte leistet

! Dörthe Binkert

Psychologie & Film

Brionys große Stunde: „Ich weiß, wer es war. Ich habe ihn gesehen. Ja, ich habe ihn genau erkannt.“

Psychologie & Film 73

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Wer Abbitte leisten muss, hat sich etwas so Schweres zu-schulden kommen lassen,

dass es nicht genügt, das Opfer aufzu-suchen und um Verzeihung zu bitten. Die Abbitte verlangt nach Öffentlich-keit, um wirksam zu werden. „Vor aller Welt“ muss die eigene Schuld bekannt und der Versuch der Wiedergutma-chung unternommen werden, muss dem Opfer Rehabilitation und verspätete Würdigung zuteil werden. Doch auch dies ist noch nicht genug. Der tief be-schämte Mensch bedarf der unverdien-ten Gnade, um sich wieder im Kreis der Gemeinschaft aufgenommen zu fühlen. Der Begriff „Abbitte“ hat deshalb fast eine religiöse Dimension.

Der Film Abbitte des Regisseurs Joe Wright ist ein Film über die Macht des Wortes und der Fantasie, über das Er-wachsenwerden und die beängstigenden Verwirrungen, die es begleiten, über verletzte Gefühle, unbewusste Rache und halbbewusste Schuld. Vor allem aber ist er ein Lehrstück über das schwer erträgliche Gefühl der Scham

Wir schreiben das Jahr 1935 und be-finden uns in England. Es ist ein heißer Sommertag. Auf dem feudalen Landsitz der Familie Tallis werden Leon, der Bru-der Cecilias und Brionys, und sein Freund Paul Marshall erwartet, ein jun-ger reicher Industrieller.

Die kleine Briony, begabt, ambitio-niert und intellektuell frühreif, hat für den Besuch des Bruders ein Theaterstück geschrieben. Soeben hat sie es beendet, und das Stück soll heute sogleich auf-geführt werden. Selbstbewusst studiert die junge Autorin den Text mit ihrer et-was älteren Cousine Lola und deren jün-geren Zwillingsbrüdern Pierrot und Jackson ein. Die drei kleinen Verwand-ten sind vorübergehend bei den Tallis’ untergebracht, weil ihre Eltern sich ge-rade scheiden lassen. Sie sind durch die Situation verstört und haben keinen Sinn dafür, Theaterrollen zu lernen; Bri-ony ist darüber tief gekränkt.

An dieser Stelle beginnt die Geschich-te von Schuld, Scham und persönlicher

Reifung, hier konstelliert sich bereits das kommende Verhängnis. Wie in einer griechischen Tragödie bahnt es sich in einem tragischen Zusammenwirken in-nerer und äußerer Vorgänge an und er-füllt sich schließlich mit unerbittlicher Stringenz. Briony, eben noch stolz auf ihr Werk, sieht sich durch die Reaktion von Lola und ihren Brüdern in ihrem eben erst sich festigenden Selbstwertge-fühl tief getroffen. Ihre Identität ist – wie bei allen Heranwachsenden – noch in suchendem Aufbau begriffen, beruht noch mehr auf Ideen und Vorstellungen als tatsächlichen Erfahrungen. Es fällt in den Jahren der Pubertät noch schwer, Einbildung und Realität auseinander-zuhalten, sich selbst und die eigene Wir-kung realistisch einzuschätzen.

Briony, die ein Selbstbild von sich als zukünftige erfolgreiche Schriftstellerin entworfen hat, sieht sich auf demütigen-de Weise von Lola und ihren Brüdern zurückgeworfen in die machtlose Posi-tion des Kindes, der sie doch eben gera-de entwächst. Enttäuscht und wütend schaut sie durch das Fenster in den Gar-ten hinaus. Dort trifft ihre ältere Schwes-ter Cecilia gerade auf Robbie Turner. Auch Robbie, obwohl nur der Sohn der Pförtnersfrau, ist zum heutigen Abend-

essen eingeladen. Man zeigt sich fort-schrittlich, Mr. Tallis, Brionys Vater, fi-nanziert Robbies Ausbildung; der bril-lante Schüler aus der Unterschicht ist in Cambridge nun immerhin Cecilias Stu-dienkollege. Gleichwohl bleibt er in den Augen der Tallis’, was er durch Geburt ist: ein Dienstbote.

Robbie und Cecilia begegnen sich entsprechend verklemmt. Zwischen ih-nen herrscht eine heftige erotische Span-nung: Als Cecilia am Brunnen im Gar-ten eine Blumenvase mit Wasser zu fül-len versucht und Robbie ihr dabei be-hilflich sein will, zerbricht die kostbare Vase. Einige Scherben fallen in den Brunnen. Entsetzt beobachtet Briony durch das Fenster, wie ihre Schwester vor Robbie ihr Kleid abstreift und halb-nackt in den Brunnen steigt, um die Scherben herauszuholen.

Briony wird zum zweiten Mal aus der Fassung gebracht. Das für damalige Ver-hältnisse unsittliche Verhalten ihrer Schwester ist skandalös. Es verletzt Bri-onys rigides Moralempfinden. Und aus-gerechnet die zwei Menschen, die ihr am meisten bedeuten – die bewunderte Schwester und der schwärmerisch ver-ehrte Robbie –, sind es, die sie so maß-los enttäuschen.

Die Macht des Wortes: Nur wenige Sätze zerstören das Leben zweier Menschen: das von Brionys älterer Schwester Cecilia und jenes des jungen Robbie Turner, der Cecilia liebt

76 Sozialpsychologie

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Von anderen erniedrigt zu werden fühlt sich wahrhaftig nicht gut an. Umso unangenehmer wird

dies im Beisein von Zeugen, beispiels-weise wenn der Chef einen Mitarbeiter vor versammelter Mannschaft für un-fähig erklärt. Wir müssen nicht einmal selbst betroffen sein, um das erniedri-gende Gefühl nachzuempfinden und den Wunsch zu verspüren, uns in ein tiefes Loch zu verkriechen: Bei Casting-shows können die verächtlichen Belei-digungen eines Kandidaten durch die Jurymitglieder auch uns als Zuschauern unter die Haut gehen.

Selten machen wir uns aber Gedan-ken, warum Menschen höhnisch über andere spotten. Manche Zeitgenossen scheinen es sich geradezu zur Gewohn-heit gemacht zu haben, andere zu er-niedrigen. Was haben sie davon, was sind ihre Beweggründe? Man könnte die Motive dieser „chronischen Er nied-riger“ so auslegen, dass sie ganz bewusst ihre Opfer verletzen wollten, weil sie daran Gefallen fänden.

Handeln die Betreffenden also aus schierer Bosheit? Oder folgen sie einer inneren Notwendigkeit? Dann müsste es psychologische Gesetzmäßigkeiten geben, die ihr Verhalten erklären. Die sozialpsychologische Forschung hat im letzten Jahrzehnt eine Antwort auf die-

se Frage gefunden, die in den komplexen Mechanismen unserer Psyche vergraben liegt.

Diese Antwort hängt damit zusam-men, wie wir Urteile über andere Men-schen – sogenannte „soziale Urteile“ – fällen. Wenn wir einen Menschen be-urteilen, dann orientieren wir uns nicht an einem absoluten, unverrückbaren Maßstab, sondern an einem relativen – unserem Selbst. Wie wir andere beur-teilen, hat also vor allem damit zu tun, wie wir uns selbst beurteilen – und ins-besondere wie hoch unser Selbstwert-gefühl ist.

Unser Selbstwertgefühl (self-esteem) speist sich aus der Bewertung unseres Ichs. Es entsteht durch eine gefühlsbe-haftete zusammenfassende Einschät-zung aller Aspekte, die wir für unsere Persönlichkeit als relevant erachten. Al-so zum Beispiel: Ich bin ziemlich fleißig, einigermaßen intelligent, sehe passabel aus und so weiter. Die Höhe des Selbst-wertgefühls ist eng mit dem subjektiven Wohlbefinden verknüpft: Wenn wir uns nicht „wertvoll“ fühlen, sind wir nicht zufrieden. Daher streben alle Menschen nach einem hohen Selbstwertgefühl – um sich glücklich zu fühlen.

Nach dem Sozialpsychologen Cons-tantine Sedikides von der University of Southampton unterliegen Menschen – in

unterschiedlichem Maß – dem Bedürf-nis nach „Selbsterhöhung“ (self-enhan-cement). Dieses Bedürfnis treibt sie an, aktiv ihr Selbstwertgefühl nach oben zu regulieren. Wie können sie dies tun?

Zum Beispiel indem sie sich einer „starken“ Gruppe zugehörig fühlen und sich mit ihr identifizieren. Nach der so-zialen Identitätstheorie von Henri Tajfel und John Turner beziehen Menschen ihre Identität, mit der das Selbstwert-gefühl verknüpft ist, am stärksten aus ihrer Zugehörigkeit zu sozialen Grup-pen. Wenn sie die Mitgliedschaft zu ei-ner solchen Gemeinschaft positiv be-werten, wird auch ihre Selbsteinschät-zung positiver. Daher bringt es Vortei-le, genau jene Gruppen, denen man selbst angehört, möglichst positiv zu bewerten – das steigert automatisch das Selbstwertgefühl.

Denn auch bei der Bewertung von Gruppen haben wir keinen absoluten Maßstab, den wir anlegen könnten. Nach einer Theorie des Sozialpsycholo-gen Leon Festinger stellen wir bei sol-chen Werturteilen einen „sozialen Ver-gleich“ an. Wir vergleichen die eigene Gruppe mit anderen relevanten Grup-pen. Und weil wir uns selbst nicht ab-, sondern aufwerten wollen, entsteht die Neigung, Gruppen positiver zu bewer-ten, denen wir selbst angehören. Den

Wer andere erniedrigt, hat’s nötigManche Menschen mit betont selbstbewusstem Auftreten scheinen Gefallen daran zu finden, andere herunterzuputzen. Wieso tun sie das? Die jüngste psychologische Forschung zeigt: Tief drinnen ist es mit dem Selbstbewusstsein dieser Leute nicht allzu weit her

! Chaehan So

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Sozialpsychologie 77

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82 Buch & Kritik

REDAK T ION : K ATR IN BRENNER- BECKER

Buch & Kritik

Die Psychoanalyse „begann als Theorie der sexuellen Traumatisierung von Kin-dern und ihren Langzeitfolgen“. Derart bestimmend setzt Mathias Hirschs Mo-nografie Trauma ein. Und ebenso be-stimmend fährt er fort: „In treuer Ge-folgschaft ließen die Vertreter des Main-streams der Psychoanalyse jahrzehnte-lang Freuds Dogma vom Primat des ödipalen Triebkonflikts gelten“, so der Facharzt für Psychiatrie und Lehrbeauf-tragte an der Universität Hamburg. Erst heute könne aufgrund der Entwicklun-gen in den letzten zwanzig Jahren eine Umkehr bemerkt werden.

Für Hirsch spiegelt das Schicksal der Traumakonzepte die Geschichte der

Psychoanalyse wider: „Sie begann als Theorie der Hysterie.“ Und dies wurde damals „als Folge innerfamiliärer Trau-matisierung betrachtet“.

Hirsch zufolge verblasste angesichts einer dominanten Triebtheorie die Be-deutung des Traumas, das dann in der Ich-Psychologie reduziert wurde auf ein „rein psychoökonomisch konzipiertes Aufbrechen eines Reizschutzes“.

Seit etwa Mitte der 1970er Jahre ist „Trauma“ in Psychoanalyse, Psychothe-rapie und in der Psychiatrie wie auch in der praktischen Sozialarbeit zu einem fast inflationär gebrauchten medialen Schlagwort geworden und infolgedessen etwas verschliffen. An seiner Definition

hat das nichts verändert: Es handelt sich um ein massives Einwirken auf die Psy-che des Einzelnen mit destruktiven Fol-gen. Traumatisches bedeutet nichts an-deres als „die Zerschlagung des Reiz-schutzes des Ichs, das die Gewalterfah-rung nicht integrieren kann“. Um see- lisch zu überleben, greift das Individu-um zum einen auf Dissoziation, also die Abspaltung vom Ich, zurück, zum an-deren auf Internalisierung, das Einfrie-ren von Affekten.

Hirschs Taschenbuch ist eine gute Einführung, die sich mit kleineren Ab-strichen als Einstieg in dieses Themen-feld eignet. Es bildet den Auftakt der neu lancierten Reihe „Analyse der Psy-

Trauma revisitedVier Bücher beleuchten ein wieder aktuelles Urthema der Psychoanalyse

Buch & Kritik 83

PSYCHOLOGIE HEUTE Mai 2012

Mathias Hirsch: Trauma. Reihe „Analyse der Psyche und Psychotherapie“. Psychosozial, Gießen 2011, 144 S., V 16,90

Peter A. Levine: Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt. Aus dem Amerikanischen von Karin Petersen. Kösel, München 2011, 446 S., V 27,99

Christine A. Courtois und Julian D. Ford (Hg.): Komplexe traumatische Belastungsstö-rungen und ihre Behandlung. Eine evidenzba-sierte Anleitung. Aus dem Amerikanischen von Theo Kierdorf und Hildegard Höhr. Jun-fermann, Paderborn 2011, 557 S., V 45,–

Klaus Ottomeyer: Die Behandlung der Opfer. Über unseren Umgang mit dem Trauma der Flüchtlinge und Verfolgten. Klett-Cotta, Stuttgart 2011, 248 S., V 24,95

che und Psychotherapie“. Die Umfangs-beschränkung gehört zum Konzept, führt in diesem Fall jedoch sprachlich an einigen Stellen zu einer zu starken Zuspitzung.

Deutlich betont Hirsch den wohl zen-tralen Aspekt bei Traumatisierten: ihre Sprachlosigkeit, das Unvermögen, mit-tels eines logisch strukturierten Wort-schatzes unlogisch Einschneidendes und Verstörendes adäquat auszudrü-cken. „Fehlen Bilder, fehlt die symboli-sierende Sprache, dann muss eben der Therapeut aktiv diese Lücke füllen“, schreibt Hirsch. Eine solche Aktivierung steht seit 35 Jahren im Zentrum der the-rapeutischen Arbeit Peter A. Levines. Der 1942 geborene medizinische Bio-physiker und Psychologe, der unter an-derem auch die NASA beriet, entwickel-te die Methode des somatic experiencing, eine körperbasierte Aufarbeitung trau-matischer Erfahrungen und Erlebnisse. „Ein Trauma“, meint Levine, „ist im Nervensystem gebunden. Es ist somit eine biologisch unvollständige Antwort des Körpers auf eine als lebensbedroh-lich erfahrene Situation. Das Nerven-system hat dadurch seine volle Flexibi-lität verloren. Wir müssen ihm deshalb helfen, wieder zu seiner ganzen Spann-breite und Kraft zurückzufinden.“

Was Levine mit Sprache ohne Worte vorlegt, ist anlässlich der Veröffentli-chung der englischen Ausgabe im Jahr 2010 bereits als sein Opus magnum be-zeichnet worden. Nicht ganz zu Unrecht: Das Buch ist eingängig, allgemein zu-gänglich und durchgehend verständlich gehalten. Levine kartiert die Verheerun-gen infolge eines Traumas und schildert Ansätze für erfolgreiche Therapien, die zu erneuertem Erleben einer eigenen, als entfremdet empfundenen Körper-lichkeit führen können. Streiten kann man dagegen über seinen finalen Schritt, hin zu einer von asiatischer Mystik und Meditation geprägten Spiritualität, die er als „Energie“ bezeichnet.

Der Sammelband für die Behandlung komplexer (post)traumatischer Belas-tungsstörungen ist buchstäblich wie preislich gewichtig. Im Untertitel tritt er unangemessen bescheiden als „evi-denzbasierte Anleitung“ auf. Vor allem für Kliniker sind die 19 Beiträge über jüngste intellektuelle wie therapeutische Ansätze der komplexen posttraumati-schen Belastungsstörung sehr lohnend. Herausgegeben haben ihn die in Wa-shington, D. C. praktizierende Psycho-therapeutin Christine Courtois und der an der University of Connecticut lehren-de Psychiater Julian Ford, der zudem

zwei an seine Hochschule angeschlos-sene Kliniken zur Behandlung von Trau-mapatienten leitet. Dabei muss der Le-ser allerdings einen oft schwerfälligen akademischen Duktus in Kauf nehmen – inklusive labyrinthischer Satzkonst-ruktionen und einer reichen Fülle an Literaturverweisen, die infolge der Zi-tierweise mitten im Fließtext die Lek-türe gelegentlich stark ins Stocken brin-gen.

Opfer von familiärer Gewalt, Miss-brauch oder auch Naturkatastrophen können – zumindest in Europa – häufig mit einem soliden therapeutischen Un-terstützungsprogramm rechnen. Dem-gegenüber werden traumatisierte Flücht-linge und politisch Verfolgte häufig ver-nachlässigt. Dass diese auch in unserer Gesellschaft nicht selten respektlos oder entwertend behandelt werden, zeigt Klaus Ottomeyer, Professor für Sozial-psychologie in Klagenfurt, anhand ein-dringlicher Fallstudien. In seinem ins-truktiven Band schildert er das Schick-sal schwer traumatisierter Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und Verfolgter, die Opfer politischer oder staatlicher Gewalt wurden. ! Alexander Kluy

Im nächsten Heft

D I E J U N I A U S G A B E V O N P S YC H O L O G I E H E U T EE R S C H E I N T A M 9 . M A I

T I T E L T H E M AMoment mal! Psychologie des AugenblicksDer Augenblick ist die extremste Form der Gegenwart: ein Moment, der soeben noch nicht war, jetzt ist und gleich nicht mehr sein wird. Findet unser Leben wirklich „von Augenblick zu Augenblick“ statt? Worin liegt die unwiderstehliche Anziehungskraft dieses kürzesten und flüchtigsten aller erlebbaren Zeiträume? Und wie lange dauert er eigentlich?

Einmal essgestört – immer essgestört?Können essgestörte Menschen von ihrer Erkrankung vollständig geheilt werden? Sind sie „in Sicherheit“, wenn sie ein ak-zeptables Gewicht erreicht haben? Neue Studien zeigen: Selbst wenn Magersüch-tige oder Bulimikerinnen nicht mehr unter akuten Symptomen leiden, bleiben Ernährung und Gewicht für viele schwie-rige Themen – und das manchmal für Jahrzehnte. Das klingt ernüchternd. Für Betroffene allerdings können neue Er-kenntnisse entlastend sein.

Die Psychotherapie der ZukunftDie Psychotherapie gilt heute als die „Nachfolgerin der Seelsorge“. Sie muss hohe Erwartung erfüllen: psychische Ge-sundheit wiederherstellen, bei der Sinn-suche helfen, fit fürs moderne Leben und Arbeiten machen – und das alles so schnell und kostengünstig wie möglich. Kann sie all das leisten? Der Psychothera-pieexperte Hilarion Petzold skizziert, wie eine effektive und humane Psychothera-pie aussehen könnte.

Außerdem:! Wer ist heute „cool“ – und warum?! Evolutionspsychologie: Wie nützlich

waren „Geisteskrankheiten“?! Wenn Reisen krank macht

Wenn nichts mehr ist, wie es warWie Trauer uns stark machen kann

Jeder Mensch ist zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens mit schwerem Leid konfrontiert: Der Tod eines geliebten Menschen, ein Unfall, eine Natur-katastrophe, eine Trennung oder der Verlust des Arbeitsplatzes muss ver-kraftet werden. Der damit verbundene Verlustschmerz ist unvermeidlich. Doch vielen Betroffenen fällt es schwer, ihn zu akzeptieren: Trauer ist ein Gefühl, das uns zu überwältigen droht und Angst macht. Das liegt nicht zuletzt daran, dass wir über den psychischen Zustand, in den uns Verluste stürzen, falsche Vorstellungen haben. Neue Forschungen zeigen: Trauer ist ein Prozess, der sehr individuell verläuft und aus dem wir gestärkt hervor-gehen können.

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PSYCHOLOGIE

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