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Q17 // Scheinberger, Frank, Ziller (Hg.) // Märchenland // Anthologie

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Die beteiligten Autoren setzten sich mit den Märchen der Gebrüder Grimm auseinander, brachten ihre prosaische Form auf eine lyrische Ebene und begaben sich in die mitunter ambivalenten Bereiche des kulturellen Gedächtnisses in Deutschland und Israel.

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MärchenlandDie Gebrüder Grimm in Israel

herausgegeben von Felix Scheinberger,Johannes cS Frank und dominik Ziller.

Die vorliegende Lyrik- und Illustrationssammlung ist als Teil des von den Herausgebern initiierten deutsch-israelischen Austauschs Alltag entstanden.

Der deutsch-israelische Austausch Alltag wurde gemeinsam mit dem Ensemble Zeitkunst in Zusammenarbeit mit der Bezalel Academy of Arts and Design in Jerusalem realisiert. Erklärtes Ziel des Austauschs ist die zukunftsweisende Zusammenarbeit junger israelischer und deutscher Künstler aus den Bereichen Literatur, Musik und Illustration.

Dieser Band kann als vorläufiger Höhepunkt einer zweijährigen gemeinsamen Unternehmung betrachtet werden: Im Jahr 2008 wurde die Arbeit an einer gemeinsamen Sonderausgabe der Belletristik. Zeitschrift für Literatur und Illustration aufgenommen, die im Frühjahr 2009 erschien. Texte deutsch-sprachiger Autorinnen und Autoren wurden in dieser Publikation von israeli-schen Künstlerinnen und Künstlern der Bezalel Academy of Arts and Design unter der Leitung von Felix Scheinberger illustriert. Im November 2009 wurde in Berlin erstmalig das Festival Zeitkunst aufgeführt, bei dem sich deutsche und israelische Schriftsteller und Musiker über den Dialog zwischen Kammer-musik und Gegenwartsliteratur begegneten. Eine Tour des Ensemble Zeitkunst durch Israel wurde im Februar 2010 realisiert.

Die Arbeit an dieser Anthologie begann im Oktober 2009. Autoren und Illustratoren gehen in diesem Band den gleichen Weg, nämlich den der Transformation: Ausgangspunkt waren für dieses Buch Märchen. Besser gesagt, wurde es Illustratoren und Autoren anheimgestellt, für dieses Buch

VOrWOrT

Märchen in die Jetzt-Zeit, in die Gegenwart zu überführen. – Das Märchen als althergebrachte Textform, die ihre Wirkung nicht im Augenblick der Sammlung oder Edition entfaltet, sondern oftmals durch die Tradition zeitverzögert, nun, Jahrhunderte später. Dabei sollten es die teilnehmenden Künstler sich aber nicht bei einer Anpassung bewenden lassen – wie häufig ist schließlich die Anpassung die Vorgabe kreativen Arbeitens. Die Aufgabe der Transformation ist eine andere: Aufgabe der Illustratoren war es, eine Auswahl von Grimms Märchen mithilfe ihrer Bildersprache zu transformieren. Die Autoren bekamen dieselben Märchen, um sie durch eine inhaltliche und formale Transformation – von der Prosa zur Lyrik – in die Gegenwart zu überführen.

Ist nun eine solche Transformation in einen deutsch-israelischen Austausch eingebettet, der zudem den Titel „Alltag“ trägt, so wird das Ergebnis zwangs-läufig Dimensionen der Ambivalenz mit einschließen: historisch bedingte Ambivalenzen ebenso wie künstlerische Ambivalenzen, denn – und dies war eine zentrale Fragestellung – was haben Märchen für ein Potential mit Blick auf einen interkulturellen Alltagsaustausch?

Illustratoren wie Autoren erhielten von den Herausgebern die gleiche Auswahl an Märchen – im kulturellen Gedächtnis beider Länder tief verwurzelte neben weitgehend unbekannten –, um sie auf beschriebene Art einer Wandlung zu unterziehen. Und eine Transformation muss, so die Überzeugung der Herausgeber, ohne reduplikation auskommen – in anderen Worten: Sowohl Illustratoren als auch Autoren war es vorgegeben, die Bilder, die in den Märchen gegeben sind, nicht zu wiederholen, sondern neue Bilder in der Auseinandersetzung mit der Vorgabe entstehen zu lassen.

Beide, Illustratoren wie Autoren, agierten zunächst unabhängig voneinander: Es bestand im jeweiligen Transformations- und Ausdrucksprozess kein direkter, persönlicher Austausch. Denn, und das macht, neben dem ästhetischen Wert dieser Publikation, ihren besondern reiz aus, Sie – die Leserinnen und Leser – konstituieren den Austausch, den Dialog zwischen Illustration und Text. Es ist an Ihnen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu erfassen, Schnittstellen und Bruchstellen nachzuspüren, und sie in Beziehung zu setzen: in Beziehung zum Märchen, das als Vorlage diente, als auch – und vor allem! – zu den 24 Autoren und 28 Illustratoren beider Länder, die an diesem Band beteiligt sind. In diesem Sinne beginnt der Dialog: jetzt! ☞

Berlin und Hamburg, im Februar 2010 Johannes CS Frank, Felix Scheinberger und Dominik Ziller

PrOLOG

_ Mati Shemoelof

ballade in der mitte des einundzwanzigsten jahrhunderts

ich blicke auf ihren weißen körper, dann auf den anderen, der neben ihr steht ihr körper schrumpft vor ihm zurück und sie singt ein sanftes lied, gespeist aus ihrer einbildungskraft.

da steht das botticelli-gemälde: in meinem badezimmer – die orange mit den schwarzen schimmelflecken

ihre farben färben nicht ab das licht zerschellt auf ihrem körper nur ihre kleider schrumpfen zurück, werden nass auf den alten fliesen

ich betrachte sie aus der ferne wie ein erwachsener, der einen verstohlenen blick auf seine kindheit wirft und in gedanken nehme ich einen schnappschuss mit einer seltenen kamera, die nicht erworben werden kann – trotz des ganzen angebots an fortschrittstechnologie dieses zeitalters.

das badezimmer malt das gemälde aus mit nassem orange, der andere zuckt zurück vor dem weih- wasser unter dem schimmel. auf den wänden: kleine engel, fabelwesen; sie tanzen nur um sie herum

nachdem ihre haare gewaschen sind, befasst sie sich mit dem trocknen während der andere mit ihrem schatten quatscht.

8 // MärcHenLAnD

ballade in der mitte des einundzwanzigsten jahrhunderts

ich blicke auf ihren weißen körper, dann auf den anderen, der neben ihr steht ihr körper schrumpft vor ihm zurück und sie singt ein sanftes lied, gespeist aus ihrer einbildungskraft.

da steht das botticelli-gemälde: in meinem badezimmer – die orange mit den schwarzen schimmelflecken

ihre farben färben nicht ab das licht zerschellt auf ihrem körper nur ihre kleider schrumpfen zurück, werden nass auf den alten fliesen

ich betrachte sie aus der ferne wie ein erwachsener, der einen verstohlenen blick auf seine kindheit wirft und in gedanken nehme ich einen schnappschuss mit einer seltenen kamera, die nicht erworben werden kann – trotz des ganzen angebots an fortschrittstechnologie dieses zeitalters.

das badezimmer malt das gemälde aus mit nassem orange, der andere zuckt zurück vor dem weih- wasser unter dem schimmel. auf den wänden: kleine engel, fabelwesen; sie tanzen nur um sie herum

nachdem ihre haare gewaschen sind, befasst sie sich mit dem trocknen während der andere mit ihrem schatten quatscht.

der geruch ihrer haare schmeißt mich aus der betrachterpose hinaus der andere kommt sofort herbei, er schaut, woher der krach denn kommt. und dann – genau vor meinen augen – gut sichtbar von meinem versteck aus, kommen seine ziegenbockhufe in mein blickfeld und ihr geruch ist schrecklich.

die bewegungen ihres handtuchs sind so sanft, dass selbst die badewanne aufstehen möchte, um sie zu lieben ohne penetration, nur eine abfolge, ein auffädeln von berührung nach berührung, eine kette von anormal-angenehmem gefühl.

ich blicke auf ihren weißen körper, dann auf den anderern, der neben ihr steht werde hart – ihretwegen, seinetwegen.

und es ist der engel des todes, der sich mit mir um ihre liebe reißt und ich habe keinen weg, ihn zu besiegen, als vor ihren füßen zu sterben und zu warten

bis sie zu mir kommt und ihre arme mit meinen verwoben werden

9 // ProLoG

DIEZErTANZTENScHUHE

I. Thien TranUlrike Almut Sandig

— Yoav BadtRon ZalmanGeffen Refaeli

12 // MärcHenLAnD

den Zufall als Katastrophe nehmen

Blau oben und Grün um uns herum, und dann der blaugrüne See unten

eine Spiegelung des Himmels oben

und wie der Wind darüber streicht. die Oberflächen- spannung, minimal

Mikrokosmos, Makrokosmos

das waren die Neunziger, es regnete in Strömen

und Hanna in Turnschuhen, natürlich Hanna, damals, in einer gelben regenjacke und nassen langen Haaren

wir schlugen Zelte auf, ernährten uns drei Tage lang von ravioli … und wir tranken rotwein

aus dem Supermarkt

redeten Blödsinn, verspielten durchaus alles aus den Einnahmen der chaoten

sich den Regeln verweigern, keine Regeln zulassen

die Regeln missachten

das waren wir: Hanna, robert, Steven und ich das war Subkultur, rebellion, Protest

Steven mit etwas Dreck unter den Fingernägeln und robert mit Zigarette, rauchend

auf der Gitarre herumklimpernd, und Hanna, natürlich Hanna in Turnschuhen, einer gelben regenjacke

und nassen langen Haaren

13 // DIe zerTAnzTen ScHuHe

14 // MärcHenLAnD

Die zertanzten Schuhe

sie im alten Brautkleid von Mutter und mit einem Knutschfleck am Hals

er mit einem Fitz in den Haaren unter der Krone aus leichtem Metall

und einer Traurigkeit im Gesicht die ausgereicht hätte, sie beide

sofort von der Bühne zu sprengen. so standen sie sich gegenüber.

so sahn sie sich an, behielten einer den andern im Blick, dass keiner

sich rühre, solange die Vorstellung lief. so lange hat das gedauert.

(lang warn die Schuhe zertanzt) irgendwann fiel der Vorhang.

sie drehten sich gleichzeitig drehten sich weg.

15 // DIe zerTAnzTen ScHuHe