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KLEIST FABRIK

Q36 // Kleistfabrik // Anthologie

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Literatur der Gegenwart im Dialog mit Heinrich von Kleist. Beiträge zum Stahl-Literaturpreis Eisenhüttenstadt zum 200. Todesjahr von Heinrich von Kleist. Die Stahlstiftung verleiht seit 2005 den Literaturpreis Eisenhüttenstadt. Bisherige Preisträger waren Wladimir Kaminer, Walter Kempowski, Kerstin Hensel, Clemens Meyer und Jenny Erpenbeck. Anlässlich des Kleist-Jahres 2011 hatte die Stiftung Autorinnen und Autoren zu einem Literaturwettbewerb eingeladen. Die Beiträge in den Kategorien Prosa und Lyrik sollten in origineller und literarisch ansprechender Weise auf Themen des Werkes von Kleist im weitesten Sinne Bezug nehmen. An dem Wettbewerb beteiligten sich dreizehn Autorinnen und Autoren.

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KLEIST FABRIK

KLEIST FABRIK

KleistfabriK

Quartheft 36 // Bibliothek Belletristik

ISBN: 978-3-940249-84-5 © 2012 Verlagshaus J. Frank | Berlin Chodowieckistraße 2 / 10405 Berlin www.belletristik-berlin.de

Alle Rechte vorbehalten.

Konzeption, Gestaltung, Illustration und Satz // Dominik Ziller Schrift // Novel / Bree 6—80 Buchdruck und -bindung // SDL Buchdruck, Berlin / Printed in Germany, 2012 Papier // 100 g/m2 Lessebo Design Smooth / 1,3 Vol. / natural

Weitere Titel in der Edition Belletristik:Q35 // Druckkammern. Gedichte. Max Czollek.Q34 // Schönheitsfarm. Gedichte. Birgit Kreipe.Q33 // Horae. Gedichte. Swantje Lichtenstein.Q32 // Golems Totems. Gedichte. Jinn Pogy.

Weitere Titel in der Bibliothek Belletristik:Q22 // Torp. texte. Ron WinklerQ21 // Bodenpersonal. texte. Björn Kuhligk.Q20 // Firnis. roman. Stefan Heuer. Q19 // Trawler. texte. Dominic Angeloch.

Alle Titel, die im Verlagshaus J. Frank | Berlin erscheinen, werden im Literaturarchiv Marbach, im Lyrik Kabinett München und in der Deutschen Nationalbibliothek archiviert.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile sowie der Illustrationen, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages, des Autors und des Künstlers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Lesungen, Vertonungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Literatur der Gegenwart im Dialog mit Heinrich von Kleist

Beiträge zum Stahl-Literaturpreis Eisenhüttenstadt zum 200. Todesjahr von Heinrich von Kleist

Einmal Eins

Thomas von Steinaecker

Einmal Eins

Die Schreie der Silbermöwen über dem See. Mit einem Mal verwandelt die Wolke, die sich eben vor die Sonne geschoben hat, das Grün ihrer Augen in Grau. Er merkt, wie ihre Unruhe gewachsen ist, seit sie auch den letzten Rest des zu schwachen und kaum mehr lauwarmen Kaffees aus der Kanne auf dem Tisch ausgetrunken hat: Sie hat sich aufgerichtet, schnell hebt und senkt sich ihr Brustkorb; die Tasse, an die sie sich zuvor

8 | neunKleistfabrik

[1]Er erhebt sich. Verwundert schaut sie ihn an, bis er erklärt, dass er sich doch

anders entschieden habe. Und die Abschiedsbriefe?, fragt sie, während er ihr

aus der Grube hilft. Es sei dies eine Möglichkeit, endlich vollkommen zu ver-

schwinden, nur eben lebendig und nicht durch die Selbsttötung, entgegnet er.

Man müsse all das als ein Spiel begreifen, das sie bis zum letzten Moment ja

auch zu Ende spielten, nur dass es für sie beide weiterhin ein Spiel bleiben

werde, für all die anderen aber Ernst. Sie verstehe nicht, sagt sie, aber lässt sich

dann doch widerstandslos von ihm in den Wald führen. Sie hausen in einer

Höhle, sammeln Beeren, schießen mit den drei Pistolen, die sie mit sich führen

und die eigentlich für sie selbst vorgesehen waren, Wild. Nachdem ihre Un-

terleibsschmerzen in den ersten Tagen in der Natur abgenommen haben, was

er auf die heilsame Wirkung des Landlebens zurückführt, werden sie nach

etwa zwei Wochen wieder stärker. Er erinnert sich an seine Schweizer Zeit,

an Kräuter, die betäuben und die er auch hier im Wald findet. Er pflegt sie. Als

sich das Pulver dem Ende neigt, stellt er Fallen. Den milden Winter deutet er

als Zeichen dafür, dass es die richtige Entscheidung war, hierher zu kommen.

Oft erzählt er ihr Geschichten, Stoffe für Erzählungen, die ihm in den vergan-

genen Monaten im Kopf herumgingen. Sie stirbt in seinen Armen. Es gelingt

ihm nicht, sie im hart gefrorenen Boden zu begraben. Er bedeckt sie mit

Zweigen. Eine Woche später liegt sie noch immer da, unverwest, mit ihren

klammerte, wobei ihm nicht entging, dass sie dabei zitterte, vielleicht auch nur vor Kälte, hat sie losgelassen. Wie häufig seit Anfang September, seit der Beschluss feststand, ist da wieder diese Stimme in seinem Kopf, die ihm sagt, nein, ihm zuflüstert, was er als nächstes tun könnte, wie es auch kommen könnte, wenn er nicht das täte, für das er sich entschieden hat.1, 2 Er hat diese Momente, in denen er in Sekundenschnelle vor Augen hat, wie sein Leben möglicherweise auch verlaufen könnte, Momente des „Was wäre wenn“ genannt. Es ist dann stets beinahe

Thomas von Steinaecker Einmal Eins

vollen Lippen. Als der Hunger zu groß wird, treibt es ihn in die nächste Ort-

schaft, an deren Rand er wartet, bis es dunkel wird. Dann stiehlt er Gänse und

Hühner und schafft sie in seine Höhle. So geht es vielleicht bis Ende Januar.

Er hat sein Zeitgefühl verloren. Manchmal spielt er mit dem Gedanken, nun,

da er zum Dieb geworden ist, sich eine Gefolgschaft zuzulegen und größere,

gewagtere Raubzüge zu unternehmen, so wie sein Kohlhaas. Von der Kälte

holt er sich Fieber. Er hört Menschen, der durch den Wald ziehen und die ihn

suchen, er kann es sich denken. Als er eines Abends mit einem Schwein auf

den Schultern aus einem Stall tritt, steht da der Bauer vor ihm, und er läuft,

über das Schneefeld, in das er einsinkt, lässt das Schwein los, Schüsse hallen,

Rufe, „Dieb!“, „Haltet ihn!“. Sie sind es, die er hört, als er sich an den Rücken

greift, während er das warme Blut in seinem Mund spürt. „Wir haben ihn! Wir

haben ihn!“ Noch nicht, Freunde, denkt er noch, die Sterne über sich, niemals,

und er verliert das Bewusstsein.

[2]Er erhebt sich. Verwundert schaut sie ihn an, bis er erklärt, dass er sich doch

anders entschieden habe. Und die Abschiedsbriefe?, fragt sie, während er ihr

aus der Grube hilft. Es sei dies eine Möglichkeit, endlich vollkommen zu ver-

schwinden, nur eben lebendig und nicht durch die Selbsttötung, entgegnet er.

Man müsse all das als ein Spiel begreifen, das sie bis zum letzten Moment ja

auch zu Ende spielten, nur dass es für sie beide weiterhin ein Spiel bleiben

10 | elfKleistfabrik

werde, für all die anderen aber Ernst. Sie verstehe nicht, sagt sie, aber lässt sich

dann doch widerstandslos von ihm in die nächste Ortschaft führen. Von dem

letzten Geld, das sie besitzen, logieren sie im „Gasthof zur goldenen Kutsche“

unter dem Namen Wieland. Zusammen mit dem Wirt unterhalten sie sich

über das Paar, er Schriftsteller, sie Landrentmeistergattin, das Abschieds-

briefe an alle Verwandte und Freunde geschickt hat, deren Leichen aber immer

noch nicht gefunden wurden. Ihr gegenüber behauptet Heinrich, er handele

nach einem Plan, den er schon lange gefasst habe, doch er weiß nicht, wie

lange er noch die einzige Frau neben seiner Schwester, der er vollkommen

vertraut hat in seinem Leben, anlügen kann.

Eines Abends – zwei Tage später hätten sie keinen Groschen mehr – treffen

sie beim Abendbrot auf einen auffallend gekleideten Herrn, den ein junger

Mohr begleitet. Der Herr im grün-gelb gestreiften Frack und mit den roten

Galoschen stellt sich als Doktor Isenrath vor. Er sei auf der Durchreise zu

seinem Freund, Professor Widmer, an der medizinischen Fakultät zu Basel,

wo man neueste Erkenntnisse über Erkrankungen bei schwangeren Frauen

diskutieren wolle, wie man das Kind retten könne bei dem Tode geweihten

Müttern, wie früh man das Kind aus einer sterbenden Mutter holen dürfe und

dergleichen mehr. Man ist sich sympathisch. Auf Doktor Isenraths Nachfrage,

was die beiden in diesen Gasthof führe, vertraut Henriette ihm ihren aus-

wie damals, als er ein Kind war und er sich nachts ausmalte, was aus ihm einmal wird, wenn er endlich groß ist; wer er dann ist. Ein berühmter Stabskapitän mit Frau und Kind wie sein Vater zum Beispiel. Alles würde auf sein Kommando hören. Nur kamen früher, vor nun über 34 Jahren, diese Momente wie gerufen; die Bilder entstanden vor ihm und verschwanden wieder, weil er es wollte. Aber wann die Stimme, die ihn seit September heimsucht, zu sprechen beginnt und was sie dann sagt, kann er zum einen nicht beeinflussen; zum anderen hasst und fürchtet er sie zugleich, weil

Thomas von Steinaecker Einmal Eins

sichtslosen Zustand an. Heinrich kann erkennen, dass Doktor Isenrath von

Anfang an von ihrem Wesen gefangen ist, weswegen er sich wohl jetzt auch

genau ihre Besuche bei anderen Ärzten und deren Befunde erzählen lässt.

Gegen Mitternacht unterbreitet ihnen dann Doktor Isenrath zu Heinrichs

Erstaunen einen Vorschlag: Er würde Henriette, deren Zustand, wenn er recht

verstanden habe, ja leider aussichtslos scheine, gerne zusammen mit seinem

Freund in Basel untersuchen. Es sei wahrscheinlich, dass sie bisher nur von

unfähigen Kollegen, wie es sie ja leider zu oft gebe, behandelt worden sei, dass

aber Spezialisten wie er und Professor Widmer wenn schon nicht Heilung, so

doch eine beträchtliche Verlängerung der Lebenszeit bewirken könnten. Ihr

Gatte dürfe sie selbstverständlich begleiten. Auf dessen Ausruf hin, dass dies

leider nicht möglich sei, man habe zu wenig Geld bei sich, um so eine weite

Reise von heute auf morgen anzutreten; außerdem wisse er nicht, ob er über-

haupt eine derartige Behandlung bezahlen könne, wedelt Doktor Isenrath

nur mit den Händen; das Paar solle sich als eingeladen betrachten, solange

Frau Wieland dem Professor und ihm ihren Körper zur untersuchenden Ver-

fügung stellte.

Auf der Fahrt nach Basel konzipiert Heinrich in Kutschen und Nachtquartie-

ren ein neues Lustspiel über eine Begegnung zwischen Voltaire und dem Alten

Fritz, in dem der König zusammen mit dem Philosophen eine Reise inkognito

die Dinge, die sie ihm hastig und doch ausführlich erzählt, manch-mal zu verführerisch klingen, zu schön. Nur mit großer Mühe gelingt es ihm dann, sie zum Schweigen zu bringen beziehungs-weise, sofern diese Stimme ihm selbst zugerechnet werden kann, und wem sonst auch sollte sie gehören?, sich selbst zum Schweigen zu bringen, so wie jetzt, da er dem bitteren Kaffeegeschmack in seinem Mund nachspürt. Mit einer schnellen Bewegung, während der er Henriette weiter in die Augen blickt, greift er nach der Pistole vor sich und schießt

12 | dreizehnKleistfabrik

durch sein Reich unternimmt, um sich vom moralischen Zustand seines Volkes

ein Bild zu machen. Heinrich plant, das Stück noch von Basel aus unter dem

Namen Graf Lorenzo an Friedrich Wilhelm zu schicken. Auch nach Ankunft

in der Eidgenossenschaft zeigt sich Doktor Isenrath, der das Paar in einem

Zimmer in Professor Widmers Haus unterbringt, weiterhin spendabel.

Heinrich ist zu sehr mit der Niederschrift seines Stücks und den damit ver-

bundenen Hoffnungen beschäftigt – er hatte es nicht mehr für möglich ge-

halten, so für eine Geschichte Feuer zu fangen –, als dass es ihn übermäßig

interessieren könnte, was in jenen Stunden geschieht, die Henriette mit

Professor Widmer und Doktor Isenrath verbringt. Auch als Letzterer ihm

mitteilt, dass der Professor und er eine Operation für unabdingbar halten,

willigt er darin ein, ohne länger darüber nachzudenken oder Rücksprache mit

Henriette zu halten, die laut dem Doktor zu schwach ist, um ihn zu empfangen.

Wenn er nicht an seine Arbeit denkt, während der er oft angesichts der Ver-

wechslungen und Späße, die ihm einfallen, lauthals und herzhaft lachen muss,

geht er am Rhein spazieren und gesteht sich, dass Henriette ihn seit des plötz-

lichen Entschlusses, sich doch nicht umzubringen, immer gleichgültiger wird.

Nach der Antwort aus Preußen auf sein Stück will Heinrich seiner Schwester

schreiben und erklären, was geschah, auch wenn ihm noch keine rechte Be-

gründung für sein Handeln einfallen will. Eine Zeitlang steht er an Henriettes

ihr ins Herz, sie schreit nicht, seufzt lediglich leise auf und lächelt dabei, er schießt noch einmal, sie kippt auf dem Stuhl nach hinten. Mit dem Daumen am Hahn steht er auf. Als er über sie tritt, röchelt sie noch in kleinen, weißen Atemwolken. Sie nickt ihm zu und zum dritten Mal feuert er auf ihre blutige Brust. Erst nachdem er sein Ohr lange, lange an ihren geöffneten Mund gehalten und er nur das Rascheln der verdorrten Blätter im Wind vernommen hat, verschränkt er ihr die Hände und setzt sich wieder auf seinen Platz.3, 4

Thomas von Steinaecker Einmal Eins

Bett, die nach der Operation immer noch zu schwach ist, um ihre grünen

Augen zu öffnen, nach denen Heinrich sich zu seiner eigenen Überraschung

plötzlich sehnt. In einem großen Einweckglas zeigt ihm Doktor Isenrath das

Geschwür, das man ihr aus dem Unterleib geschnitten hat. Beim Anblick des

blutigen schwarzen Kloßes ist es Heinrich so, als sei nun all das Böse, das ihn

und Henriette in den vergangenen Jahren heimsuchte, für immer gefangen

und verbannt.

Zwei Tage später – Henriette geht es besser, sie lächelt stumm, Doktor

Isenrath spricht von einer Sensation, die weltweites Aufsehen erregen wird

– trifft ein Bote aus Preußen ein. Das Schreiben, aus dem hervorgeht, dass

der amüsierte König die Komödie aufzuführen lassen gedenke, begleitet ein

goldener Ring, den Heinrich unverzüglich zu Geld macht, um die drängends-

ten der in Basel gemachten Schulden abzubezahlen. Ermutigt von der positi-

ven Nachricht, wagt er, den König um eine Vorauszahlung zu bitten.

Tage später hält Heinrich eine stattliche Summe in Händen, und er fühlt

sich wie in einem schönen, alten Märchen, in dem am Ende doch noch alles

gut endet. Stück um Stück entsteht daraufhin im Basler Exil, jedes sendet

Heinrich umgehend nach Berlin, wo das Publikum nach der Befreiung von

Napoleon Schlange steht, um die neuesten Werke des rätselhaften Graf

Lorenzo zu sehen, um den sich mittlerweile Legenden ranken. Zusammen

Die Stimme, die da plötzlich und laut erneut in ihm erklungen ist, vertreibt er, indem er die Pistole sorgfältig nachlädt. Kein Korn darf daneben fallen. Manchmal hat er sich als Knabe die Waffe des Vaters zwischen die Lippen geschoben, deren Lauf damals kaum in die Mundhöhle passte. Ein Spiel. Jetzt bleibt seine Zunge am kalten Metall kleben. Ohne dass er es will, beginnt die Stimme in seinem Kopf zu zählen. Sie kommt nur bis „Eins“. Mit dem befrie-digenden Gedanken, sich selbst überlistet zu haben, drückt er ab. Die Silbermöwen, die alle zugleich erschreckt aufschreien.

14 | fünfzehnKleistfabrik

mit Henriette wohnt er in einem bescheidenen Häuschen am Stadtrand

von Basel. Seine Schwester ist die einzige, die von seiner Maskerade weiß.

In seinen Stücken versteckt er kleine Botschaften an sie, mal baut er

Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit ein, mal spricht er durch eine

Figur zu ihr. Sie verpasst keine Aufführung. Nur besuchen darf sie ihn

nicht. Heinrich hat Angst, dass sein Glück ebenso schnell wieder vorüber

sein könnte, wie es ihm zuteil wurde. Er kauft sich eine Klarinette. Bald

spielt er so gut darauf wie früher, als er eine Zeitlang davon träumte, Musiker

zu werden. Abends hört ihm Henriette gerne am Kamin zu. Ein einziges

Mal haben sie noch über jene Stunden am Kleinen Wannsee gesprochen,

in denen beinahe alles vorüber gewesen wäre. Es ist ein unguter Moment.

In Erinnerung an den Tisch, den Kaffee, die Schreie der Silbermöwen und

das Rascheln der letzten verdorrten Blätter an den Ästen starrt Henriette

ins Leere. Heinrich würgt es. Dann holt er Holzscheite, um nachzuheizen.

Nie wieder haben sie seitdem jenen 21. November erwähnt. So werden

sie alt.

[3] Er steht noch einmal auf. Der Tag heute mit den Schwaden in der Mitte

des Sees, die nicht weichen wollen, der Nachmittagssonne, die, wenn sie

durch die Wolken bricht, sofort die klirrende Kälte vertreibt, warm auf die

Haut scheint und die letzten Herbstfarben im Laub am Boden zum Leuchten

bringt, all das ist zu schön. Er würde gern noch einen Kaffee trinken, kann

sich jetzt jedoch nicht mehr allzu weit entfernen. Im „Neuen Krug“ wird man

die Schüsse gehört haben. Er steigt aus der Grube und tritt ans Ufer, bläst

in die Hände, nimmt einen Stein und lässt ihn über das graue Wasser

springen, einmal, zweimal, dreimal, dann ist er im Dunst verschwunden,

nur das leise Patschen ist noch zu hören. Mit dem Finger fasst er sich in

den Mund, tastet die Höhle ab, bis zum Gaumen, sodass er würgt. Mehrmals

beißt er zu. Es ist ein stechender Schmerz. Dann setzt er sich wieder an

den Tisch, lädt nach, steckt sich den Lauf zwischen die Zähne und drückt ab.

Thomas von Steinaecker Einmal Eins

[4]Sorgfältig lädt er nach, steckt sich den Lauf zwischen die Zähne und

drückt ab. Das Schreien der Silbermöwen. Sofort wird ihm schwarz vor

Augen. Als er wieder zu sich kommt, liegt er in einem Bett. Neben ihm sitzt

eine Frau, die sofort zu rufen beginnt, als sie sieht, dass er die Augen aufge-

schlagen hat. Seine herbeieilende Schwester erklärt ihm, dass der Gastwirt

des „Neuen Krugs“, sobald man die Schüsse gehört habe, zusammen mit einem

Tagelöhner und dessen Frau zum Wannsee gerannt sei, Frau Vogel tot, ihn

aber lediglich bewusstlos vorgefunden und daraufhin zurückgeschafft habe.

Das sei vor zwei Tagen gewesen. Der Arzt habe gesagt, dass er wieder gesund

werden würde. Stumm hört Heinrich zu. Er ist zu schwach zu sprechen und

möchte vor Scham versinken, als seine Schwester ihm erst schluchzend um

den Hals fällt und dann mit den Fäusten schwach auf ihn einschlägt, wie er

nur so eine Dummheit tun und eine solche Schande über die Familie bringen

habe können. Der Wirt muss sie wegführen. Zwei Polizeibeamte verhören

ihn und teilen ihm mit, dass er wegen Mordes an Frau Henriette Vogel ange-

klagt und, sobald er transportfähig sei, in eine Zelle überstellt werde. Nach

knapp einer Woche wird Heinrich verlegt. Er ist zwar wieder bei Kräften, doch

seltsamerweise bleiben seine Beine gelähmt. Der Arzt vermutet, dass noch

Pulver in einem Teil seines Kopfes stecke, was ihm das Gehen unmöglich

mache. Vor Gericht werden die Abschiedsbriefe, die Henriette schrieb, als

Beweismittel für einen von Heinrich lediglich ausgeführten Tötungswunsch

herangezogen, er wird freigesprochen. Mittellos und immer hungrig humpelt

er mit Krücken die Lindenallee auf und nieder, schaut lange auf die Baugruben

und Gerüste, hinter denen prachtvolle neue Gebäude entstehen. Er bettelt.

Die Leute nennen ihn „Krüppel“. Seine Schwester hat sich von ihm losgesagt.

Hin und wieder lassen ihm seine alten Freunde ein Almosen zukommen. Bei

dem Gesindel im Armenhaus will er nicht schlafen. So holt er sich im Winter

nach seinem Selbstmordversuch auf den Straßen von Berlin die Lungen-

entzündung, an der ein paar Tage später in einem Schneesturm, zusammen-

gesunken vor einem Hauseingang, stirbt

Kathrin Schmidt

kleistkubus, klandestin

kleistkubus, klandestin

1 die cliquen der impulsfahnder tasten im dunkelunter dem hartschnee, dem harschlack auf quellen, auf texten, selbst die insekten, kleinere staatsschwärme vortäuschend,fliehen die ludernden katzen am ufer der oder,schwänze eingezogen wie segel

2frankfurt bestäuben, wo sanfte kamele der kameralistikdie lüfte durchschaukeln mit umgekehrter beweislast? das denken organisiert sich in größeren, pflanzen anbauenden bläsergruppenmit biegsamen klarinettisten, in abschwellkammern,in heimwehfarbener hefe

3du verlangst ausgleichende raumerwärmungbirnenalleen sind dem buschwerkverzeichnis entkommenund landschaft bleibt ein erschöpftes konstruktim plusspeicher der machbarkeit, deine erziehungwar nur ein wasserlösliches experiment,das leicht überstimmt werden kann

Kleistfabrik 18 | neunzehn

4ist ein frauenverstand eine pulversubstanz,die flüssigkeit braucht? etwas gänzlich trockenesfür sich allein? lückenfüllendes blau, das ausmehltvom rand der pupille in abgelegene gegendenvoller wurzelgeflecht, in männliche fruchtkörperschalen,in beckenendlagen?

5mit den perioden gesetzlicher dämpfungerhöht sich die eigenfrequenz nationaler antennen,kein staat ist zu machen mit ausgeübtentalenten, längst sind die quitten geschnittenzu veritablem kompott in hermanns equipment,der kalkriese grient…

6du bleibst im kubus, die sechs quadratischen flächennicht zu entfalten, verlötete nähte,an denen kein reif taut, über der würfelnetzhautzirpen die anfangsverdachte auf fortgesetzte desaster, zeigen sich kleine spuren von tötungsabsichtim chronischen echogramm

Kathrin Schmidt kleistkubus, klandestin

Björn Kuhligk

Ich war noch jung und nicht sehr zahlreich

22 | dreiundzwanzigKleistfabrik

Ich war noch jung und nicht sehr zahlreich

1Die Griechen, was für ein Unsinn, welchemit Übermut strapazierten Umwege aufdie Griechen, an die ich denken musste ja, denken, ein Wahnsinn, sie kamenmir wie ein Trupp schöner, andersartiger Gestaltenaus dem Herzkranz entgegenmarschiert

ich hätte bei dir übernachten sollen, meine Seelees ist erlaubt, solch großen Worte, je saiszu benutzen, ich bin keine Schulterklappekein Kriegerdenkmal, keine größere Ordnungich habe deinen Körper mit den Augenfotografiert und schreibe nun, als wär es Rohstoff

ich muss zurück zur Seele, meiner Deponie, und nach ihr greifen, es ist ja nicht, als hätte ich dich nicht im Traum gesehen, als du mädchenhaftin diesem See, mit deinen, natürlich deinennach mir greifenden Schulterblätterndie Wasseroberfläche schleifen gingst

Björn Kuhligk Ich war noch jung und nicht sehr zahlreich

2Ein einziges schmales Hüsteln meinerseitsund die Milchstraße hatte eine Ausbuchtung die Luft, die mich umgebende, verneinenddem Waldrand mit dem Finger drohend, dass mir auf Erden, welch wunderbare Kraft von diesem schönen Finger ausging, nicht zu helfen war, nein, durch meine Schlafarchitekturwollte ich nie spazieren gehen, auf Erden und wie geht man durch Architektur, womöglich zögernd, als könnte einen die Landschaft, in die das alles eingebettet, wie ich dachte, kleinmachen wie das Insekt, das im Bernstein an der Kettedie ich neulich, ach lassen wir das, jeden Abend Fieber, lassen wir das gut sein, liebe Randlage ich zielte aufs Geschwür, ich habe das gelernt und schoss ihr in das Herz, in Staub mit allen Feinden, und mir dann in den Mund

Kleistfabrik 24 | fünfundzwanzig

3Jettchen und ich und was der Himmel weißdas ist genug, das ist Beweis, wir sind aus Apfelkernen geschnitzte Mäuschen undfügen, mit Verlaub, zusammen, was nicht fügbar ist, bitte schickt unsere Dinge von hier die Welt ist eine wunderliche Einrichtung nach da, an die von uns angegeben Adressenund habt Nachsicht, das Porto zahlt der bis dato nicht von uns gestillte Himmel in größter Schönheit formgewollt zurück

Björn Kuhligk Ich war noch jung und nicht sehr zahlreich

Die Publikation dieses Bandes wurde durch die Förderung

der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt ermöglicht.