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Bildung – Beruf 27 I m Nachhinein hält Andreas Kuhlmann manche seiner Ideen für ziemlich naiv. Zum Beispiel dass er Physik studieren wollte, um in der Umwelt- und Abrüstungsbe- wegung mitreden zu können. Oder dass er nach dem Physikstudium kurzerhand in der SPD-Zentrale anrief, um nach einem Job in der Europa- und Umweltpolitik zu fragen. Aber es hat sich gelohnt. Heute ist Kuhlmann persönlicher Referent des SPD-Generalsekretärs, der Schatten von Franz Münte- fering. Er begleitet seinen Chef auf Dienstreisen, bereitet Parteisitzun- gen vor und ist einmal in der Wo- che bei Vorstands- und Präsidiums- sitzungen mit dem Kanzler dabei. Ein Physiker im Zentrum der Macht. Gelten Physiker vielen schon als Exoten, so ist Kuhlmann als Politik- manager mit Physik-Diplom gerade- zu eine Rarität. Aber auch in an- deren physikfernen Sparten trifft man die Quereinsteiger mit Quan- tenmechanik im Kopf. Da ist Ralf Bönt, gelernter Autoschlosser, pro- movierter Teilchenphysiker und in- zwischen Schriftsteller (siehe Inter- view auf Seite 32). Oder Kai de Weldige, der beim Stifterverband für die deutsche Wissenschaft ein Vermögen von 250 Millionen Mark verwaltet. An der Kunsthochschule für Medien hält Jochen Viehoff Vor- lesungen über Quantencomputer und fotografiert Horror-Süßigkeiten für Kunstausstellungen. Es gibt phy- sikdiplomierte Zen-Meister und Leistungssportler, Kommunika- tionstrainer und Filmregisseure. Sie tauchen in keiner Statistik auf, und von ihnen soll hier die Rede sein. Als Rezept für die eigene Karriere taugen sie freilich kaum. „Wenn ich zurückblicke“, sagt Andreas Kuhl- mann stellvertretend für viele, „könnte man meinen, es war ein schlüssiger Lebenslauf. Aber ich habe das nie so empfunden, eher von Zufälligkeiten geprägt.“ Das Büro von Franz Münte- ferings persönlichem Referenten liegt im fünften Stock des Willy- Brandt-Hauses. Etwas seitlich, ir- gendwo hinter der getönten Glas- front. Um neun Uhr morgens sieht die SPD-Parteizentrale ganz fried- lich aus. Der Berufsverkehr ist vor- bei, die Sonne wärmt den hellen Sandstein und ein paar Kamera- leute stehen gelangweilt vor dem Haupteingang. Bis ein weißer Lie- ferwagen heranbraust, das Halte- verbot ignoriert, und acht Männer und Frauen mit Leitern und Eimern herausstürmen. Flink entern zwei von ihnen die Balustrade im ersten Stock und entrollen ein Banner. „Atomkonsens ist Volksverdum- mung. AKWs bleiben am Netz, WAA läuft weiter.“ Die anderen gießen Zement in eine Abgussform vor der Glastür. „Erinnerung an die Krebsopfer deutscher Atompolitik“. Emails für die SPD-Welt Der Protest gilt dem Atomkon- sens, den der Bundeskanzler und Industrievertreter am Abend unter- zeichnen werden. Müsste jetzt nicht Franz Müntefering im Foyer er- scheinen und mit den Protestlern diskutieren, fernsehgerecht vor der Willy-Brandt-Statue? Oder Andreas Kuhlmann, der Physiker, schließlich geht es um Plutonium und a-Strah- lung? Weit gefehlt. Kuhlmann schickt gerade Emails in die SPD- Welt und bekommt von alledem nichts mit. Es scheint ihn auch nicht besonders zu interessieren. Dabei war er in der Schulzeit und als Zivi selbst in Umweltgruppen aktiv. Heute, im anthrazitfarbenen Anzug und mit grau in grau gemus- tertem Schlips wirkt er etwas nos- talgisch, wenn er sich an diese Zeit erinnert. „Sandoz, Tschernobyl, Saurer Regen – die ganze Umwelt- verschmutzung war viel mehr The- ma als heute.“ Auch später im Stu- dium: „Rio, Rio, Rio: jede Regional- zeitung hat über Rio geschrieben, das kann man sich heute nicht mehr vorstellen.“ Nicht, dass der 33-Jährige zum abgehobenen Parteifunktionär mu- tiert wäre. Nur sein Politikverständ- nis hat sich verändert. „Zu einer geschlossenen Partei gehört auch, dass man Mehrheitsentscheidungen akzeptiert und nach außen vertre- ten kann,“ sagt Kuhlmann. Wenn nach eingehender Diskussion der Atomausstieg mit einer Frist von 30 Jahren beschlossen wird, dann ist das der Demokratieprozess, wie er in der Bundesrepublik stattfin- det. „Wer in einem Unternehmen arbeitet, vertritt doch auch die Un- ternehmensposition.“ Das klingt ihm dann aber doch etwas sachlich. „Ich habe hier auch politisches Herzblut,“ fügt er schnell hinzu. Mit 23 trat Kuhlmann in die SPD ein, hätte aber auch bei den Grünen landen können. Zunächst war er nur eine Karteileiche. Das Physikstudium in Bonn, Heidelberg und Oregon ließ wenig Raum für eine kontinuierliche Arbeit im Orts- verein. Erst während der Diplom- arbeit am Institut für Umweltphysik der Universität Heidelberg ließ sich Kuhlmann im Ortsverein Neuen- heim blicken und wurde auch prompt zum Schatzmeister gewählt. Doch die Ochsentour der gewähl- ten Mandatsträger war nicht seine Sache. Immer wieder kommt Kuhlmann auf Personen zu sprechen, die ihn geprägt und gefördert haben. Da war Ingeborg Levin, Umweltphysi- kerin an der Universität Heidel- berg, „die nachvollziehen konnte, was ich im Kopf hatte“, nämlich Naturwissenschaft und politisches Engagement zu verbinden. Und da war Malte Faber, Professor für Um- weltökonomie in Heidelberg. Sie unterstützten den jungen Physik- studenten beim Organisieren einer Vortragsreihe über Umweltthemen. Nach der Diplomarbeit überlegte Quereinsteiger mit Quantenmechanik Physiker können nicht alles, aber ziemlich viel – ein Besuch bei vier Exoten Max Rauner Physikalische Blätter 57 (2001) Nr. 12 0031-9279/01/1212-27 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 2001 Wo ist der Physi- ker? Links. An- dreas Kuhlmann, persönlicher Refe- rent von Franz Müntefering, zu- sammen mit des- sen Büroleiter Kajo Wasserhövel kurz vor der SPD- Präsidiumssitzung. (Foto: M. Urban)

Quereinsteiger mit Quantenmechanik: Physiker können nicht alles, aber ziemlich viel - ein Besuch bei vier Exoten

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Page 1: Quereinsteiger mit Quantenmechanik: Physiker können nicht alles, aber ziemlich viel - ein Besuch bei vier Exoten

Bildung – Beruf

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Im Nachhinein hält AndreasKuhlmann manche seiner Ideenfür ziemlich naiv. Zum Beispiel

dass er Physik studieren wollte, umin der Umwelt- und Abrüstungsbe-wegung mitreden zu können. Oderdass er nach dem Physikstudiumkurzerhand in der SPD-Zentraleanrief, um nach einem Job in derEuropa- und Umweltpolitik zufragen. Aber es hat sich gelohnt.Heute ist Kuhlmann persönlicherReferent des SPD-Generalsekretärs,der Schatten von Franz Münte-fering. Er begleitet seinen Chef aufDienstreisen, bereitet Parteisitzun-gen vor und ist einmal in der Wo-che bei Vorstands- und Präsidiums-sitzungen mit dem Kanzler dabei.Ein Physiker im Zentrum derMacht.

Gelten Physiker vielen schon alsExoten, so ist Kuhlmann als Politik-manager mit Physik-Diplom gerade-zu eine Rarität. Aber auch in an-deren physikfernen Sparten trifftman die Quereinsteiger mit Quan-tenmechanik im Kopf. Da ist RalfBönt, gelernter Autoschlosser, pro-movierter Teilchenphysiker und in-zwischen Schriftsteller (siehe Inter-view auf Seite 32). Oder Kai deWeldige, der beim Stifterverbandfür die deutsche Wissenschaft einVermögen von 250 Millionen Markverwaltet. An der Kunsthochschulefür Medien hält Jochen Viehoff Vor-lesungen über Quantencomputerund fotografiert Horror-Süßigkeitenfür Kunstausstellungen. Es gibt phy-sikdiplomierte Zen-Meister undLeistungssportler, Kommunika-tionstrainer und Filmregisseure. Sietauchen in keiner Statistik auf, undvon ihnen soll hier die Rede sein.Als Rezept für die eigene Karrieretaugen sie freilich kaum. „Wenn ichzurückblicke“, sagt Andreas Kuhl-mann stellvertretend für viele,„könnte man meinen, es war einschlüssiger Lebenslauf. Aber ichhabe das nie so empfunden, ehervon Zufälligkeiten geprägt.“

∗Das Büro von Franz Münte-

ferings persönlichem Referentenliegt im fünften Stock des Willy-Brandt-Hauses. Etwas seitlich, ir-

gendwo hinter der getönten Glas-front. Um neun Uhr morgens siehtdie SPD-Parteizentrale ganz fried-lich aus. Der Berufsverkehr ist vor-bei, die Sonne wärmt den hellenSandstein und ein paar Kamera-leute stehen gelangweilt vor demHaupteingang. Bis ein weißer Lie-ferwagen heranbraust, das Halte-verbot ignoriert, und acht Männerund Frauen mit Leitern und Eimernherausstürmen. Flink entern zweivon ihnen die Balustrade im erstenStock und entrollen ein Banner.„Atomkonsens ist Volksverdum-mung. AKWs bleiben am Netz,WAA läuft weiter.“ Die anderengießen Zement in eine Abgussformvor der Glastür. „Erinnerung an dieKrebsopfer deutscher Atompolitik“.

Emails für die SPD-WeltDer Protest gilt dem Atomkon-

sens, den der Bundeskanzler undIndustrievertreter am Abend unter-zeichnen werden. Müsste jetzt nichtFranz Müntefering im Foyer er-scheinen und mit den Protestlerndiskutieren, fernsehgerecht vor derWilly-Brandt-Statue? Oder AndreasKuhlmann, der Physiker, schließlichgeht es um Plutonium und a-Strah-lung? Weit gefehlt. Kuhlmannschickt gerade Emails in die SPD-Welt und bekommt von alledemnichts mit. Es scheint ihn auchnicht besonders zu interessieren.Dabei war er in der Schulzeit undals Zivi selbst in Umweltgruppenaktiv. Heute, im anthrazitfarbenenAnzug und mit grau in grau gemus-tertem Schlips wirkt er etwas nos-talgisch, wenn er sich an diese Zeiterinnert. „Sandoz, Tschernobyl,Saurer Regen – die ganze Umwelt-verschmutzung war viel mehr The-ma als heute.“ Auch später im Stu-dium: „Rio, Rio, Rio: jede Regional-zeitung hat über Rio geschrieben,das kann man sich heute nichtmehr vorstellen.“

Nicht, dass der 33-Jährige zumabgehobenen Parteifunktionär mu-tiert wäre. Nur sein Politikverständ-nis hat sich verändert. „Zu einergeschlossenen Partei gehört auch,dass man Mehrheitsentscheidungenakzeptiert und nach außen vertre-

ten kann,“ sagt Kuhlmann. Wennnach eingehender Diskussion derAtomausstieg mit einer Frist von30 Jahren beschlossen wird, dannist das der Demokratieprozess, wieer in der Bundesrepublik stattfin-det. „Wer in einem Unternehmenarbeitet, vertritt doch auch die Un-ternehmensposition.“ Das klingt

ihm dann aber doch etwas sachlich.„Ich habe hier auch politischesHerzblut,“ fügt er schnell hinzu.

Mit 23 trat Kuhlmann in dieSPD ein, hätte aber auch bei denGrünen landen können. Zunächstwar er nur eine Karteileiche. DasPhysikstudium in Bonn, Heidelbergund Oregon ließ wenig Raum füreine kontinuierliche Arbeit im Orts-verein. Erst während der Diplom-arbeit am Institut für Umweltphysikder Universität Heidelberg ließ sichKuhlmann im Ortsverein Neuen-heim blicken und wurde auchprompt zum Schatzmeister gewählt.Doch die Ochsentour der gewähl-ten Mandatsträger war nicht seineSache.

Immer wieder kommt Kuhlmannauf Personen zu sprechen, die ihngeprägt und gefördert haben. Dawar Ingeborg Levin, Umweltphysi-kerin an der Universität Heidel-berg, „die nachvollziehen konnte,was ich im Kopf hatte“, nämlichNaturwissenschaft und politischesEngagement zu verbinden. Und dawar Malte Faber, Professor für Um-weltökonomie in Heidelberg. Sieunterstützten den jungen Physik-studenten beim Organisieren einerVortragsreihe über Umweltthemen.Nach der Diplomarbeit überlegte

Quereinsteiger mit QuantenmechanikPhysiker können nicht alles, aber ziemlich viel – ein Besuch bei vier Exoten

Max Rauner

Physikalische Blätter57 (2001) Nr. 120031-9279/01/1212-27$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 2001

Wo ist der Physi-ker? Links. An-dreas Kuhlmann,persönlicher Refe-rent von FranzMüntefering, zu-sammen mit des-sen BüroleiterKajo Wasserhövelkurz vor der SPD-Präsidiumssitzung.(Foto: M. Urban)

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Physikalische Blätter57 (2001) Nr. 1228

Bildung – Beruf

Kuhlmann zu promovieren. Dochder Anruf in der Bonner SPD-Zen-trale führte ihn auf einen anderenWeg. Er ging mit einem Stipendiumnach Brüssel und arbeitete für dieSPD als wissenschaftlicher Beraterdes Umweltausschusses.

„Als Physiker war man schon ein Schmetterling“, erinnert sichKuhlmann. Man ist kritischer undstellt andere Fragen, verlässt sichnicht nur auf das für Politiker ein-gedampfte Destillat einer Umwelt-studie oder Sozialerhebung, dasexecutive summary. Ein Kommis-sionsreferent, der dem vermeintli-chen Greenhorn die geplantenGrenzwertefür die

neue Trinkwasser-Richtlinie erläu-terte, formulierte wesentlich vor-sichtiger, nachdem er KuhlmannsHintergrund kannte. Doch als die-ser in den Sozialausschuss wechsel-te und am Beschäftigungspakt mit-arbeitete, war der Heimvorteil ver-spielt. Weniger die Inhalte zählten,als das Organisieren von Mehrhei-ten.

Vor der Bundestagswahl 1998schickten die europäischen Sozial-demokraten Andreas Kuhlmann indie „Kampa“, das Wahlkampfteamder SPD nach amerikanischem Vor-bild. An der Magnettafel von Kuhl-manns großzügig geschnittenemBüro hängt ein Foto aus diesen Ta-gen, ein Gruppenfoto wie von einerPhysikertagung: hundert fröhlichwirkende Menschen, die etwas be-wegen wollen. In dieser Zeit lernteKuhlmann Franz Müntefering ken-nen. Als Müntefering vom Ver-kehrsministerium in die Parteizen-trale wechselte, bot er dem sympa-

thischen Physiker den Posten despersönlichen Referenten an. „Wennder erste Generalsekretär der SPDmit diesem Angebot auf einen zu-kommt, kann man nicht Nein sa-gen.“

Morgens um viertel vor achttrifft sich Andreas Kuhlmann mitFranz Müntefering, dessen Bürolei-ter Kajo Wasserhövel sowie demPressesprecher. Dieser erläutert diePresselage und „man geht durch,was gestern war und heute an-steht.“ Die Runde diskutiert diegroße Linie genauso wie den Klein-kram. Angela Merkel hat ihre Vor-stellungen von einer neuen Sozia-

len Marktwirtschaft in der„Welt“ publiziert, Müntefe-

ring möchte präpariertsein. Andreas Kuhlmannsoll einige Statistiken ausdem Haus besorgen undaufbereiten lassen. BeiMünteferings Rundreisedurch Sachsen hat sicheine Genossin be-schwert, weil eine An-frage an die Zentralenicht zufriedenstel-lend beantwortetwurde. Kuhlmannklärt das. Am Vortagwaren die sächsischenKommunalwahlen.Die Runde diskutiertdie Ergebnisse. In Ber-lin stehen Landtags-wahlen bevor. WelcheArgumente zur Zuwan-

derung, zur Arbeitslosig-keit, zur Gentechnik sind schlag-kräftig?

Schneller als JoschkaFühlt er sich dabei nicht als Ge-

triebener, als Mädchen für alles?Andreas Kuhlmann wehrt ab. Erversteht sich als Dienstleister, derauch inhaltliche Impulse gibt:„Mein Rat wird gehört, ich kannAnstöße geben, meine Meinung istgefragt.“ Selbst wenn es negativeSeiten gäbe, Kuhlmann ist zu sehrDiplomat, als dass er sie benennenwürde. Und der Reiz an dem Job?„Es ist schon das engere Zentrumder Macht.“ Er lacht etwas verlegenüber diese Formulierung. „Man hörtjede Woche, was Schröder sagt,sitzt zehn Meter von ihm entfernt.Manchmal verliert man das Be-wusstsein dafür. Aber in Momen-ten, in denen ich Abstand gewinne,ist es ein extrem spannender Pro-zess.“ Man ahnt, dass solche Mo-mente eher selten sind, wenn er

sagt: „Das letzte Wochenende wareinigermaßen ruhig.“ Der Frage,wie viel Privatleben noch bleibt,weicht Kuhlmann lieber aus. Im-merhin hatte er Zeit, für den Berli-ner Marathon zu trainieren. Vornedabei war er nicht, aber fünf Minu-ten schneller als Joschka Fischer.Das zählt.

∗Kai de Weldige hatte mit dem

„Stifterverband für die DeutscheWissenschaft“ schon zu tun, als ergerade mal laufen konnte. Das Wis-senschaftszentrum in Bonn, die Se-minarstätte des Verbands, war seinSpielplatz. Auf den Platten vor demEingang spielte er Rollhockey. For-schungsförderung war ihm eine ver-traute Vokabel. Sein Opa hatte vorJahren eine Abteilung beim Stifter-verband geleitet, und eine Sachbe-arbeiterin bei der Deutschen For-schungsgemeinschaft (DFG), gleichum die Ecke, sollte seine Schwie-germutter werden. Als Diplomandam Institut für Physikalische Che-mie der Universität Bonn hatte deWeldige dann direkt mit der DFGKontakt. In der Forschungsförde-rung zu arbeiten konnte er sich gutvorstellen.

Aber der 34-Jährige mit demKurzhaarschnitt und der schmaleneckigen Brille möchte der Reihenach erzählen. Wie er das Physik-studium der Elektrotechnik vorzog,weil aus vielen Bereichen etwasgeboten wurde: Technik, Praktikaund Theorie-Vorlesungen. Wie erim Nebenfach Nuklearmedizin undReaktorphysik studierte, weil ihndie Plattheit bei der Diskussionüber die Kernkraft ärgerte. Und wieer nach der Diplomarbeit über Ras-tertunnelmikroskopie schließlicham Max-Planck-Institut für Eisen-forschung in Düsseldorf landete,von wo er sich nach der Promotionauf eine Stellenanzeige beim Stifter-verband bewarb. Vielseitigkeit heißtder rote Faden in seiner Biographie.„Wenn ich mich für eine Sache in-teressiere, komme ich auf andereDinge und denke: das ist aber auchinteressant.“ Kai de Weldige wolltekein Fachidiot werden.

Am Eingang des Stifterverbandesin Essen-Werden wurden die Geld-geber auf Messingtafeln verewigt.Von A wie Allianz bis V wie Volks-wagen sind alle namhaften Konzer-ne aus Deutschland vertreten. Sieunterstützen den Stifterverband mit40 Millionen Mark im Jahr. DerStifterverband wurde 1920 zur For-schungsförderung gegründet. Heute

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finanziert der gemeinnützige Vereinunter anderem Wettbewerbe zurHochschulreform, Stiftungsprofes-suren und Auslandsstipendien so-wie die Initiative „Wissenschaft imDialog“.

Kai de Weldige hat sein Büro mitBildern von Louis Armstrong undeinem Jazz-Kalender verschönert.Auf dem Regal mit den Computer-büchern steht eine Jazz-Combo ausMiniaturfiguren. Die Big Bands der20er und 30er Jahre faszinieren ihn.Weniger der Bebop mit seinenchaotisch anmutenden Improvisa-tionslinien. Wahrscheinlich passtdas zum inneren Rhythmus einesMenschen, der fast 40 Stiftungengleichzeitig verwaltet und sich dieHälfte der Arbeitszeit um die Ein-führung einer neuen Verwaltungs-software kümmert. Kai de Weldigewägt seine Worte. Er spricht von„unserem Prinzip Universität“, vonseiner „Familiengründungsphase“und der „Lernphase“. Seinen Aus-stieg aus der Uni-Laufbahn nennter die „Abkehr vom akademischenPrinzip“, seinen Charakter „wis-sensfixiert, nicht berufsfixiert“. Esist die Sprache der DFG-Anträge.Er sagt aber auch: „Die Tätigkeit alsDFG-Referent selbst wäre mir zueinseitig gewesen.“

De Weldige ist bei einer Tochter-gesellschaft des Stifterverbands an-gestellt, der StiftungsverwaltungGmbH. Von den 8000 bis 9000 Stif-tungen in Deutschland betreut dieStiftungsverwaltung 330. Dafürbeschäftigt sie 35 Juristinnen, Be-triebswirte, Naturwissenschaftlerund Buchhalter. De Weldige, derauch im Betriebsrat aktiv ist, küm-mert sich um die Stiftungen mit na-turwissenschaftlichen Zielen. Hin-ter seinem Schreibtisch stehen 37Aktenordner im Regal, für jede Stif-tung einer. „Ich bin für jede Stif-tung ein kleiner Geschäftsführer“,erklärt de Weldige, dessen Name imniederländischen „der Gewaltige“bedeutet.

Eine seiner Stiftungen ist dieDyckerhoff-Stiftung. Als dasUnternehmerehepaar Dyckerhoffbeschloss, zwei Millionen Markanzulegen und mit den Zinsen dieZementforschung zu fördern, wen-deten sich die Eheleute an die Stif-tungsverwaltung. Abzüglich Verwal-tungskosten stehen 50 000 Markpro Jahr für gemeinnützige Zweckezur Verfügung. Die beiden Ge-schäftsleute hatten konkrete Vor-stellungen. Sie wollten mit demGeld das Forschungszentrum des

Verbandes der Deutschen Zement-industrie sowie den einschlägigenFachbereich der TU Clausthal un-terstützen. In diesem Fall koordi-niert de Weldige alles Übrige: DieRechtsabteilung muss eine Satzungschreiben, die Steuerabteilung dieGemeinnützigkeit beim Finanzamtbeantragen. Er beruft in Absprachemit den Dyckerhoffs ein Kurato-rium aus Wissenschaftlern, das dieStiftung inhaltlich berät. Einmal imJahr lädt er zur Kuratoriumssitzungein, erstellt die Tagesordnung, leitetdie Sitzung, schreibt das Protokoll.Und das für 36 weitere Stiftungen.Oft haben die Stiftungsverwalterauch mit den ganz Großen zu tun.Mit Deutsche Bank-Chef Breuer,Alcatel-Vorstand Bernhardt oderdem ehemaligen Bahn-ManagerHeinz Dürr. Denn in ihren Stiftun-gen finden die Konzernchefs undMäzene ein Stück Selbstverwirkli-chung, zu den Kuratoriumssitzun-gen erscheinen sie persönlich.„Man muss einfach die Scheu ab-legen“, rät de Weldige, da hilft eingesundes Selbstvertrauen.

Umarmung vom Preisträger„Manche kommen auch nur an

und sagen: ich möchte Wissen-schaft fördern, was kann ich tun?“Mit diesen Stiftern berät er nichtnur, ob das Geld als Preis, als Stu-dienstipendium, für Forschungspro-jekte oder als Druck- oder Reise-kostenzuschuss vergeben werdensoll. Er schlägt auch einen For-schungsbereich vor und entscheidetmitunter über Förderanträge, dievon Wissenschaftlern beim Stifter-verband eingereicht werden. Einemachtvolle Position, immerhin ver-waltet er insgesamt 250 MillionenMark Stiftungskapital, von dem et-wa 5 Prozent Zinsen jährlich ausge-geben werden. „Man muss aufpas-sen, dass die Gelder am Ende nichtwillkürlich verteilt werden,“ gibt deWeldige zu. Bei größeren Summenlässt er DFG-Gutachter über dieAnträge entscheiden. Die DFG un-terstützt den Stifterverband bei derBegutachtung, weil sie selbst vonvielen Stiftungen Geld bekommt.Fördergelder um 10 000 Mark sindallerdings zu niedrig, um dafür Gut-achter zu bemühen. Hier entschei-det de Weldige eigenständig. „Esist eine Annäherung an die Ideal-lösung“, sagt er.

Das macht die Arbeit aber auchspannend. De Weldige abonniertneben dieser Zeitschrift auch Natu-re, „Bild der Wissenschaft“ und

„Spektrum“, um über aktuelle For-schungsthemen informiert zu sein.Er pflegt die Kontakte zu seinerehemaligen Forschungsgruppe amMPI für Eisenforschung und an derUniversität Bonn. Außerdem knüpfter ein immer dichteres Netz zuDFG-Referenten, Sachbearbeiternin der Max-Planck-Gesellschaftoder Pressereferenten der Fraun-hofer-Gesellschaft. Die großen För-derorganisationen, darunter auchder Deutsche Akademische Aus-tauschdienst, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und die VW-Stiftung, veranstalten regelmäßigmehrtägige Treffen für die jüngerenMitarbeiter. „Interdisziplinär,Transdisziplinär oder was sonst“,steht dann zum Beispiel auf demProgramm. Wichtiger als die inhalt-liche Diskussion ist oft der Spazier-gang nach dem Essen oder das ge-meinsame Bier am Abend. Wie inden Spezialgebieten der Physik gibtes hier eine überschaubare Szenemit allem was dazu gehört: Hierar-chien und Platzhirschen, Gurus undGönnern, und Traumjobs.

Der Traumjob für einen Stif-tungsmanager wäre wohl die Posi-tion des Geschäftsführers derVolkswagenstiftung mit 3,8 Milliar-den Mark Stiftungskapital. Kai deWeldige beantwortet die Frage nachseinen beruflichen Träumen ganznüchtern: „Man ist hier prädesti-niert, um bei einer gemeinnützigenStiftung Geschäftsführer zu sein.“Daran denkt er aber noch langenicht. „Seit fünf Jahren gab es kei-nen Tag, den ich als Routine emp-funden hätte.“ Die Arbeit soll aner-kannt werden und Spaß machen.„Ich möchte hier täglich rausgehenund das Gefühl haben, etwas Sinn-volles gemacht zu haben. Etwas,das in mein Weltbild passt.“ DerWissenschaft helfen. „Wenn ichjungen Wissenschaftlern am Telefonsage: ‚Sie haben hier einen Preis ge-wonnen’, dann würden die mich amliebsten umarmen. Das befriedigteinen.“

∗Äußerlich wirkt Jochen Viehoff

wie ein Gegenpol zu Kai de Weldi-ge. Er wechselt mitten im Satz dasThema, lässt seinen Assoziationenfreien Lauf und entzieht sich jederChronologie. Statt Hemd und Kra-watte trägt er T-Shirt und Trekking-hose. Viehoff arbeitet als künstle-risch-wissenschaftlicher Mitarbeiter– „Küwi“ – an der Kölner Kunst-hochschule für Medien. KeinKünstler wie er im Buche steht,

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sondern ein Künstler und Fotografmit Promotion in theoretischer Teil-chenphysik und Programmierkennt-nissen in Fortran 90, C++ und Java.Im Innern bewegen Viehoff die glei-chen Motive wie de Weldige undviele andere Physiker, die der aka-demischen Laufbahn abschwören:„Ich hätte mich spezialisieren müs-sen auf ganz kleine Rädchen, dieman bewegen wird.“

Keine Aktenordner, sondernUmzugskisten, Plastiktütchen undbunte Pappschachteln stapeln sichin einer Ecke des Büros. Viehoffzieht eine transparente Tüte miteinem Lutscher hervor. Im Stielschwappt eine rote Flüssigkeit. DerKopf aus Pressbrause hat die Formeines Totenkopfes. Drückt man denLolli, kommt die rote Flüssigkeitaus den Augen. „Horrorsüßigkei-ten“, sagt Viehoff, „extreme candy,disgusting sweets.“ In Deutschlandverboten, in Amerika und Asien beiKindern beliebt. „Ich ess das nicht“,versichert der Künstler-Physiker,„ich fotografiere“. Gemeinsam mitdem Kunsthistoriker im Nachbar-büro plant er eine Ausstellung derExponate samt Makrofotografienim Museum für angewandte Kunstin Köln.

Viehoff ist nicht durchgeknallt,er ist – man ahnt es – vielseitig. Aufdem 20-Zoll-Bildschirm seines Macöffnet er ein Java-Applet mit einemPortrait Arnold Schwarzeneggersmit Sonnenbrille. Auf Knopfdruckfressen sich Inseln in das Portrait,die langsam größer werden. Nachund nach kommt ein Totenkopfzum Vorschein. Der morbiden Bild-transformation liegt ein Monte-Carlo-Algorithmus zugrunde, derauf dem Ising-Modell zur Beschrei-bung des Ferromagnetismus basiert.Die Mauskoordinaten auf dem Bild-schirm steuern die Temperatur undein äußeres Magnetfeld in der Si-mulation. Die Pixel des Portraitsund des Totenkopfes sind die bei-den Eigenzustände der Spins. Jenach Temperatur und Magnetfeldzerfällt Schwarzenegger großflächigoder wie ein Bildschirmrauschen –fertig ist der Image-Mixer. Mit we-nigen Parametern komplexe Syste-me zu steuern, das ist das Ziel. „Ichinfiltriere die Kunsthochschule mit einigen physikalischen Grund-ideen“, schmunzelt Viehoff.

Zwanzig Prozent seiner Arbeits-zeit stehen ihm für eigene künst-lerische Projekte zur Verfügung. Inder übrigen Zeit organisiert er eineVortragsreihe über self-modifying

Media, mit Gästen wie dem Robo-dog-Designer Frederic Kaplan vonSony und dem Hirnforscher PeterCariani aus Harvard, unterrichteteine Handvoll Studenten in derProgrammiersprache Java und hältVorträge über Quanteninformationund DNA-Computer. Vielen Quan-tenoptikern würden sich die Na-ckenhaare der reinen Wissenschaftsträuben. „Es geht um die Idee, dieAnsätze des Andersdenkens,“ ent-gegnet Viehoff, „dass man sich voneingefahrenen Wegen trennenkann.“ Und darin ist er vom Selbst-verständnis der Grundlagenforschergar nicht weit entfernt. Schließlichhat er selbst sechs Jahre nichts an-deres gemacht. Sofort kann Viehoffumschalten auf sein Promotions-thema, das Proton-Spin-Problem.Auf nicht-perturbative Beiträge ausdem QCD-Vakuum, Flavour SingletMatrix Systeme und die Quench-Näherung.

Der kreative ProzessIn einer internationalen Kolla-

boration hat er Simulationen fürParallelrechner geschrieben, die ei-gens für das Lösen von 3×3-Matri-zen konstruiert worden waren. DieKrönung einer langjährigen Com-puterbegeisterung. „Ich war einerder ersten Freaks“, erinnert sich derMedienkünstler. Auf einem ZX81mit 16 Kilobyte Speichererweite-rung ließ er einen Flugsimulatorlaufen. Das Laden des Programmsvon Kassette dauerte 20 Minuten.Eigentlich wollte Viehoff Mathema-tik studieren. Das Interesse an derPhysik erwachte wieder, als er Al-bert Einstein in Dürrenmatts „DiePhysiker“ spielte, mit Geige undRevolver. Eine Einstein-Biographieweckte sein Interesse für die Inter-pretationen der Quantenmechanik.In seinem Heimatort Wuppertalstudierte Viehoff Physik und Philo-sophie. Und er begann zu fotogra-fieren und richtete sich im Kellerseines Elternhauses eine Dunkel-kammer ein. Den ersten Auftragverdankt der junge Doktorand sei-nen Internetkenntnissen. Er solltedas Wuppertaler Tanztheater vonPina Bausch für die neue Homepa-ge fotografieren. Die Leidenschaftfür die Kunst war geweckt. Heuteerscheinen Bücher mit seinen Bil-dern, und Kulturmagazine aus Ja-pan, Brasilien und den USA bestel-len bei ihm.

Dem frisch promovierten Physi-ker-Fotografen wurden Postdocstel-len in Alaska und Kalifornien ange-

boten. Er interessierte sich für eineStelle in der Stauforschung undbesuchte sogar einen Career Day in der IT-Branche. Als einziger inJeans und Hemd, aber das spielte1998 schon keine Rolle mehr. „Ichwar sehr unentschlossen“, sagtViehoff. Dann sah er die Stellen-anzeige der Kunsthochschule für

Medien. „Das war ein Volltreffer.“An der KHM studieren 220 jungeKünstler bei rund 40 Professorenund 30 Assistenten. Viehoff undseinem Prof geht es um mehr alsdas Programmieren von nettenTools für die Bildverarbeitung. DieEntwicklung von neuen Mensch-Maschine-Schnittstellen sowieselbstmodifizierende Kreativ-Soft-ware sind ihre Steckenpferde. Undweil das nach einigen Erklärungs-versuchen immer noch schwer zuverstehen ist, bekommen Viehoffsblaue Augen etwas Beschwörendes,und seine ruhige Stimme klingt un-geduldig. „Die Entwicklung desComputers ist desillusionierend!“schimpft er, „Das ist doch von-Neu-mann-Turing-Architektur von vor50 Jahren.“ Ganz zu schweigenvom Internet, „es ist so unglaublichstarr!“ Deshalb das Interesse anBiocomputern, die ihre eigene Soft-ware oder sogar Hardware verän-dern. Die Faszination für Quanten-computer mit ihren Superpositions-zuständen. Sind solche Maschinennicht ziemlich indeterministischund unberechenbar? „Natürlich!Das ist der kreative Prozess“.

Das Fernziel heißt „funktionaleEmergenz“. Aus einfachen Struktu-ren soll Neues entstehen, das denKünstler in seiner Kreativität unter-stützt. Architekten, zum Beispiel,verzichten bei ihren Grundentwür-fen auf den Computer, weil die festeFunktionalität der Programmeschon die Ästhetik festlegt. Daskann jeder nachvollziehen, der mitder Maus freihändig einen Kreis ge-

Physik für Künst-ler: Im Image-Mixer wird ausArnold Schwar-zenegger einTotenkopf. DieBildtransformationberuht auf demIsing-Modell.(Abb.: J. Viehoff)

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�„Die Gemeinsamkeit ist dieFormalisierung von Welt“Interview mit Ralf Bönt, gelernterAutoschlosser, promovierter Physi-ker, Schriftsteller.

In welcher Vorlesung kamen Sieauf die Idee, Schriftsteller zu wer-den?

Ein spontaner Entschluss war esnicht. Es gab allerdings ein Überra-schungsmoment: Während der Pro-motion habe ich sehr viel gelesen.Als ich eines Tages meinen Schreib-tisch aufräumte, fand ich ein Prosa-gedicht, das ich vor Jahren ge-schrieben hatte und nun mit denAugen eines geübten Lesers be-trachtete. Und es gefiel mir sehrgut. Ich habe zwei Jahre darübernachgedacht, was das bedeutenkönnte. Dann schrieb ich meineersten Erzählungen – 20, 30 Seiten– und schickte sie an Verlage. DasFeedback war positiv.

War Ihnen die Physik nichtkreativ genug?

Die Physik und die Lebensweltdes akademischen Physikers warenmir zu einseitig.

Ganz ähnlich wie dem Protago-nisten in Ihrem Roman „Icks“.

In Icks sind durchaus Splittermeiner Biographie verarbeitet. Ichhabe in theoretischer Teilchenphy-sik promoviert, Icks auch. Aber derRoman ist nicht autobiographisch.

Icks sehnt sich nach einem nor-malen Leben mit normalen Freun-den, einem normalen Sexualleben,einer normalen Wohnung und soweiter. Das kann man als Physiker

doch auch haben.Das schon, aber bei einer akade-

mischen Laufbahn ist es auf jedenFall schwieriger. Auf dem vorge-zeichneten Karriereweg muss manalle zwei Jahre seinen Wohnortändern. Da wird es mit dem Sexual-leben leicht schwierig. Im Ernst:Mir war das zu radikal. Ich war mirschon während der Promotion sehrsicher, dass ich eine Familie habenwollte. Die Aussicht auf eine Pro-fessur habe ich auf vielleicht 50:50eingeschätzt: zu wenig, um alles an-dere dafür zurückzustellen.

Bereuen Sie im nachhinein, Phy-sik studiert zu haben?

Keineswegs. Manchmal packtmich noch die Faszination an derPhysik. Meistens, wenn ich vonLaien befragt werde und länger alsfünf Minuten erzählen darf. Dannkomme ich schon ins Schwärmen.Außerdem habe ich die wesentli-chen Fähigkeiten, die ich zumSchreiben brauche, im Physikstu-dium ausgebildet.

Nämlich...?Die große Gemeinsamkeit ist die

Formalisierung von Welt. Manschreibt komplexe Zusammenhängein Schriftsymbolen nieder. Auchäußerlich gibt es Parallelen: wennein Physiker sich eine bestimmteTheorie erarbeitet, fängt er irgend-wann an, mit der Theorie zu spielenund merkt, dass er sie verstandenund durchdrungen hat. Und so istes mit einem Roman auch.

Ein Beispiel?Bei Icks gibt es das Motiv des

Hausbaus. Seine Mutter hat immerüber den Krieg gesagt: Wir kamennach Hause und das Haus war weg.Später baut der Vater ein neuesHaus für die Familie. Das ist dieGroßtat im Deutschland der 70erJahre. Das Buch schließt ab mit derFeststellung von Icks’ Frau, dass sieselber jetzt ein Haus möchte, weilein Kind da ist. Ich merkte beimSchreiben nach und nach, wie sichder „Hausbau“ vom Wort zum Zei-chen entwickelte, und dann zu ei-ner ganzen Welt. Das war anfangsgar nicht geplant.

Zum Schreiben braucht manaußer den Zeichen Sprachgefühl.

Das hatte ich vorher schon, inder Jugend. Wenn ich Briefeschrieb, dann kam auch etwas zu-rück. Manche Leute wundertensich. Neben einer Handvoll schrei-bender Physiker gibt es übrigenssehr viele Juristen, die Schriftstellersind. Diese beiden Gruppen habeneine brutal genaue Sprachausbil-

dung. Wenn man ein Paper liest inder Physik, muss man jeden Satzauseinandernehmen. Physiker nut-zen die Sprache als reines Kommu-nikationsmittel, so wie der Malerdie Farbe benutzt.

Gibt es ein Rezept, wie manSchriftsteller wird?

Auf jeden Fall sollte man nichtgleich anfangen, einen Roman zuschreiben, sondern erst mal versu-chen, Erzählungen und kürzere Ge-schichten in Literaturzeitschriftenzu publizieren. Dabei muss man einprofessionelles Verhältnis zum Textentwickeln. Viele Anfänger sind zusehr in ihre Texte verliebt. Wenn sieetwas aufgeschrieben haben, wollensie nicht mehr daran rühren oderdarüber diskutieren.

Der Entschluss einen Roman zuschreiben, ist das ein Moment derErleuchtung?

Es reift. Man braucht einen lan-gen Atem. Ich hatte mein Thema imKopf: Generationenkonflikte imNachkriegswestdeutschland, daswaren meine beiden ersten beidenBücher. Ich versuchte dann natür-lich schon, eine Handlung zu fin-den, die abbildet, was ich für exem-plarisch hielt. Auf jeden Fall mussman Frustrationstoleranz mitbrin-gen, bis es zum Verlagsvertragkommt.

Hat Ihr Verlag viel an IhrenManuskripten geändert?

Inhaltlich wollte das Lektorat sogut wie nichts ändern. Aber ichsollte in den Monolog von Icks Ab-sätze einbauen. Das hat mich sechsWochen gekostet, denn der Textwar schon durchkomponiert. Aberauch da gibt es Naturgesetze. Wennman wie ich am Phonetischen ent-lang schreibt, kann man nicht ein-fach so Absätze machen. Ich musstean den entsprechenden Stellen denText etwas ändern.

Und wie waren die Kritiken?Die waren schon ganz gut, so-

weit ich mich erinnere. Super Gefühl, oder?Anfangs war ich erstaunt, wie

gut die Kritik ist. Die haben michverstanden, dachte ich. Dann sindmeine Ansprüche an die Kritik ge-stiegen. Irgendwann merkte ich,dass die Kritiker sich untereinanderbekriegen. Wenn die ZEIT etwasschreibt, muss die FAZ, dann dieNZZ irgendwie das Gegenteilschreiben. Egal ob Gut oder Böse,es kann auch beides gut oderschlecht sein. Nach einer Weileschaltet man dann auch ein biss-chen ab.

zeichnet hat. Sie greifen zu Papierund Bleistift, wenn sie ihre erstenSkizzen entwerfen. Ein Blatt Papierund ein Stift, „mit dieser Schnitt-stelle sind wir unendlich vertraut.“Wie könnte eine Rechenmaschineaussehen, die den Architekten ei-nen eigenen Stil entwickeln lässt?„Wenn wir das wüssten, wären wirfein raus“, sagt Viehoff.

Jochen Viehoff, der Künstler. Kaide Weldige, der Stiftungsverwalter.Andreas Kuhlmann, der Politikma-nager und Ralf Bönt, der Schrift-steller. Ob sie wurden was sie sind,weil sie Physik studierten? Oderstudierten sie Physik, weil sie schonvorher eigene Wege gingen? Es istdie Frage nach der Henne und demEi. Vielleicht aber auch der Beweis,dass Physiker eben doch fast alleskönnen.

Physikalische Blätter57 (2001) Nr. 1232

Bildung – Beruf

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Wer interessiert sich außer denKritikern für den 150seitigen Mono-log eines promovierten Physikersnamens Icks?

Spontane Affinität habe ich ehervon Männern erlebt. Manches Malgab es eine enthusiastische Reakti-on, egal ob sie nun studiert hattenoder nicht. Auf Lesungen glucksendie Damen gerne bei Seite drei,wenn nicht, moniere ich das. Wobei„Icks“ eine Literatur ist, die nichtin der Bahnhofsbuchhandlung ver-kauft wird. Insofern ist die akade-mische Welt den meisten Lesernschon irgendwie bekannt. Und siesteht ja auch nur für die Ambitio-nen des Nachkriegsdeutschlands.

Die Eltern von Icks kommennicht so gut weg. Reden Ihre Elternnoch mit Ihnen?

Das Buch wurde ja in Bielefelderfolgreich auf die Bühne gebrachtund in den Zeitungen erwähnt.Aber meine Eltern sind wohl einePrivatangelegenheit. Wenn ein Kri-tiker in Zürich schreibt, das Buchsei autobiographisch, obwohl ermich noch nie getroffen hat, kannich darüber nur lächeln.

Gab es auch ein Feedback vonIhren früheren Kollegen?

Mein Diplomvater hat meinBuch gelesen und sich detailliertund erstaunt geäußert, sehr positiv.Ansonsten habe ich nicht mehr vie-le Freunde in meinem Alter in derPhysik. Dazu ist es zu lange her,und ein Grund aufzuhören war jaauch, dass ich keine hatte.

Was unterscheidet die Literatur-szene von der Physik-Community?

Beide sind sehr ähnlich. Ich hät-te es anfangs nicht gedacht, aberdie Literaturszene ist mindestens sohomogen wie die der Physiker, manist genauso unkörperlich. In derPhysik konnte man ein Gesprächauf einer Konferenz in Korfu frei-tags unterbrechen und montags aufder nächsten Konferenz in Ham-burg weiterführen, als hätte mansich gerade mal eine Zigarette an-gesteckt. So ist es in der Literaturauch. Bestimmte Partys auf derBuchmesse sind wichtig. Ich geheschon seit zwei Jahren nicht mehrhin.

Wie geht es mit Ihnen weiter?Ich habe ein paar Anfragen vom

Theater und vom Hörfunk. Ichschreibe aber momentan an mei-nem nächsten Buch. Auch dasFernsehen würde mich eines Tages

mal interessieren. Zum Beispielgucke ich ab und zu den Tatort,meine Frau liebt den. Ich bin immerwieder schockiert über die absolutdämlichen Skripte. Am Ende passtnichts zusammen. Man ist halt vonden Bildern geleitet, nicht von derSprache. Ich müsste umlernen.

Sind sie zufrieden?Wie meinen Sie?Wirtschaftlich zum Beispiel.Wirtschaftlich nicht, das wäre

gelogen. Ich kann mich nicht miteinem Akademiker vergleichen.Aber es prosperiert. Ich bin in denschwarzen Zahlen, beileibe keineSelbstverständichkeit in der Kunst.

Die IT-Branche reizt Sie nicht?Es gibt eine Menge, was mich in-

teressieren würde, angefangen vonFriedensforschungsinstituten bishin zu den klassischen Stationen imWirtschaftsleben, wo man mit ab-straktem Denken eine Menge Geldverdienen kann. Das wäre eine Mi-schung aus etwas Kommunikativemund der inklusiven Horizonterwei-terung. In vielen Jobs würde miraber die Freiheit fehlen. Camus hatzu Recht gesagt: Der Schriftstellerist doch weniger der Soldat als derFreischärler.

Physikalische Blätter57 (2001) Nr. 1234

Bildung – Beruf