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Radioaktivität, Röntgenstrahlen und Gesundheit Strahlenschutz Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz

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Radioaktivität, Röntgenstrahlen

und Gesundheit

Strahlenschutz

Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz

Bayerisches Staatsministerium für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz

Radioaktivität,Röntgenstrahlen und

Gesundheit

Oktober 2006

Strahlenschutz

II

Gesamt- Prof. Dr. K. Hahn koordinierung Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin und Gesamt- Ziemssenstr. 1, 80336 München leitung: E-Mail: [email protected]

Autoren: Prof. Dr. L. Feinendegen Wannental 45, 99131 Lindau am Bodensee

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. K. Hahn Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin Ziemssenstr. 1, 80336 München E-Mail: [email protected]

Dr. Dr. Hubert Löcker GSF – Institut für Strahlenschutz

E-Mail: [email protected]

Dr. Heinz Müller GSF – Institut für Strahlenschutz

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. H. G. Paretzke GSF – Institut für Strahlenschutz

E-Mail: [email protected]

Prof. Dr. Ch. Reiners Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin Josef-Schneider-Str. 2, 97980 Würzburg E-Mail: [email protected]

PD Dr. Werner Rühm GSF – Institut für Strahlenschutz

E-Mail: [email protected]

Dr. Rita Schneider Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin Josef-Schneider-Str. 2, 97980 Würzburg E-Mail: [email protected]

Dr. Ch. Zach Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin Ziemssenstr. 1, 80336 München E-Mail: [email protected]

Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Neuherberg

Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Neuherberg

Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Neuherberg

Ingolstädter Landstr. 1, 85764 Neuherberg

III

Vorwort

Radioaktive Stoffe, wie etwa das Uran, kommen seit der Entstehung der Erde in großem Umfang in der Natur vor oder werden künstlich hergestellt (wie z.B. Technetium-99m)und in Medizin und Technik verwendet. Als Abfallprodukte entstehen sie auch bei der friedlichen Nutzung der Kern-energie. Seit der Entdeckung der Radioaktivität im Jahre 1896 durch A.H. Becquerel wird auch die Wirkung der von radioaktiven Stoffen ausgehenden Strahlung auf den Men-schen untersucht. Gleiches gilt für die von Conrad Wilhelm Röntgen im Jahr 1895 entdeckte und nach ihm benannte Strahlung, die als ionisierende Strahlung vergleichbare Ei-genschaften wie die von radioaktiven Stoffen ausgehende Strahlung besitzt. Besonders bei der friedlichen Nutzung der Kernenergie und bei der Medizin hat die Frage nach der Auswirkung der Radioaktivität und der Röntgenstrahlung auf die Gesundheit der Menschen stets eine wichtige Rolle gespielt. Zuweilen wird in diesem Zusammenhang - oft aus mangelnder Kenntnis strahlenbiologischer Fakten oder auf-grund fehlerhafter Auswertung statistischer Daten - ver-sucht, eine Beziehung zwischen einer an einem bestimmten Ort beobachteten erhöhten Zahl von Krebsfällen oder ande-ren Erkrankungen und den dort gemessenen oder vermute-ten niedrigen Strahlendosen herzustellen. In der Öffentlich-keit erregen solche Behauptungen in der Regel beträchtli-ches Aufsehen.

Die durchaus verständliche Folge derartiger beunruhigender Aussagen ist in der Regel eine häufig überzogene Angst vor jeglicher Strahlung. Diese Angst kann sich unter anderem auch aufgrund der Tatsache entwickeln, dass sich Radioak-tivität der direkten Sinneswahrnehmung des Menschen entzieht und ihre Wirkungen für den Einzelnen nicht aus der Erfahrung heraus zu beurteilen sind.

Der Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl am 26. April 1986 hat diese Angst verstärkt. Bei dem Unfall wurden sehr große Mengen an radioaktiven Stoffen freigesetzt; in der Umge-bung musste ein Gebiet von etwa 1000 km2 evakuiert wer-den. Ein Teil der radioaktiven Spaltprodukte wurde von den Luftströmungen viele hundert Kilometer weit transportiert und auch in geringen Mengen in Mitteleuropa abgelagert.

IV

Bei den geäußerten Ängsten vor der Radioaktivität und vor Röntgenstrahlen bleibt jedoch häufig unerwähnt, dass nach vielen Jahrzehnten weltweiter intensiver Forschung heute ein Wissensstand über die Wirkung der ionisierenden Strah-lung erreicht ist, der die Kenntnisse über die Wirkung ande-rer Schadstoffe bei weitem übertrifft. Dieser hohe Kenntnis-stand wird auch dadurch belegt, dass sich das prinzipielle Bild, das in Medizin und Biologie über die Strahlenwirkung besteht, in den letzten Jahrzehnten nicht mehr grundsätzlich geändert hat. Es wurden in dieser Zeit lediglich die Kennt-nisse vertieft, noch unbekannte Detailmechanismen aufge-klärt und die anfänglich wegen noch unzureichender Daten unsicheren Risikoschätzungen präzisiert.

Die vorliegende Broschüre, deren einzelne Kapitel von aus-gewiesenen wissenschaftlichen Experten bearbeitet wurden, berücksichtigt den Kenntnisstand bis Mitte 2006.

K. Hahn, München

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Inhalt

Vorwort...................................................................... III

1. Physikalische Grundlagen ...................... 1 Ch. Zach

1.1 Bau der Atome ................................................. 1 Nuklide und Isotope

1.2 Radioaktivität ................................................... 2Definitionen und Kenngrößen Strahlenarten Reichweite und Wechselwirkung mit Mate- rie Abschirmung

1.3 Dosisbegriffe.................................................... 13

1.4 Messgrößen im Strahlenschutz ..................... 20

1.5 Literatur ............................................................ 24

2. Biologische Grundlagen .......................... 25 L. Feindegen

2.1 Wirkungsweise ionisierender Strahlung auf einzelne Zellen ................................................. 25 Zellen als kleinste Funktionseinheiten lebender Körper Mechanismen der Zellschädigung Strahlenempfindliche Teile der Zelle Repara-tur von Strahlenschäden in der Zelle Unter-schiedliche Strahlenempfindlichkeiten im Kör-per Genom-Instabilität; Apoptose Akute und chronische Bestrahlung Biologische Dosi-metrie

2.2 Wirkungsweise ionisierender Strahlung auf vielzellige Organismen.................................... 40 Bystander Effekte Strahleninduzierte Störun-gen des biologischen Gleichgewichtes, adapti-ve Reaktionen Abwehr- und Reparaturme-chanismen vielzelliger Systeme Stochasti-sche Strahlenwirkungen Deterministische Strahlenwirkungen Genetische Strahlenwir-kungen Faktorenabhängigkeit der Strahlen-wirkungen

VI

2.3 Akute Strahlenschäden................................... 53 Zellerneuerungssysteme Akute Strahlen-krankheiten nach einmaliger Ganzköperexpo-sition Strahlenschäden der Haut, verstärken-de Schäden Strahlenschäden der Keimdü-sen Strahlenschäden des ungeborenen Le-bens

2.4 Späte Strahlenschäden................................... 61Deterministische Spätschäden - Effekte durch chronische Strahlenexposition mit niedriger Dosisrate - Somatische Spätschäden nach Strahlenexposition mit hoher Dosis oder Dosis-rate Stochastische Spätschäden - Allgemei-ne Einleitung, Risikoanalyse - Sekundäre Fak-toren bei der Risikoanalyse - Die Überleben-den in Hiroshima und Nagasaki - Für einzelne Organe geschätzte Risikoanteile am Gesamt-risiko - Andere epidemiologische Studien an exponierten Populationen

2.5 Anstehende Modifikationen der Risiko- analyse ............................................................. 71 Die möglichen Dosis-Risiko Beziehungen für Strahlenkrebs Physiologische Abwehr- und Anpassungsreaktionen biologischer Systeme

2.6 Hormesis und kleine Dosen ........................... 76

2.7 Literatur ............................................................ 80

3. Anwendung ionisierender Strahlung in Technik, Wissenschaft und Medizin .... 82

H. Müller, H. G. Paretzke, W. Rühm, K. Hahn

3.1 Energieerzeugung (Kernspaltung, Fusion)... 82 Kernfusion Kernspaltung Reaktortypen Strahlenexposition durch den Betrieb von Kernkraftwerken - Beschäftigte - Bevölkerung

3.2 Beispiele für Anwendungen in der Industrie 92 Radiographie - Werkstoffprüfung – Röntgen-floureszenz-Analyse Industriell genutzte Be-

VII

strahlungsanlagen - Anlagen zur Sterilisation und Konservierung - Anlagen zur Polymeri-sation von Kunststoffen Herstellung von Ra-dioisotopen - Radioisotope in Kalibrierquel- len - Radioisotope für Rauchmelder - Radio-isotope in Regel- und Messeinrichtungen

3.3 Beispiele für Anwendungen in der Wissenschaft ................................................... 96 Radioisotope Partikel- und Photonenstrah-lung Untersuchungen im Forschungsreaktor

3.4 Beispiele für Anwendungen in der Medizin zur Diagnostik und Therapie .......................... 101 Radionuklide in der modernen medizinischen Diagnostik und Therapie - Voraussetzungen zur Anwendung von Radionukliden in der Me-dizin - Radionuklide in der Diagnostik - Spe-zielle nuklearmedizinische Untersuchungen - Nuklearmedizinische Tomographie-Untersu-chungsverfahren - Radionuklide in der Thera-pie Röntgendiagnostik Perkutane Strahlen-therapie

3.5 Behandlung radioaktiver Abfälle ................... 124

3.6 Literatur ............................................................ 129

4. Strahlenexposition und Umweltradioaktivität .................................. 130

H. Löcker, H. Müller, H. G. Paretzke

4.1 Das Verhalten radioaktiver Stoffe in der Umwelt (Radioökologie).................................. 130 Ausbreitung in der Atmosphäre Einflussgrö-ßen bei der Ausbreitung – Wind - Turbulenz-zustand der Atmosphäre - Freisetzungshöhe - Physikalisch-chemische Form Ausbreitungs-modelle - Gauss-Modelle - Eulersche Ausbrei-tungsmodelle - Lagrangesche Ausbreitungs-modelle Deposition und Verbleib auf Oberflä-chen - Trockene Deposition - Nasse Deposi-

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tion – Interzeption - Verbleib auf Oberflächen - Resuspension Ausbreitung in Gewässern Radionuklide in Nahrungsketten - Kontamina-tion von Pflanzen - Kontamination von Tierpro-dukten - Einfluss der Verarbeitung und Lage-rung auf die Kontamination Interne Strahlen-exposition - Ingestion - Inhalation - Verhalten der radioaktiven Stoffe im Körper Externe Strahlenexposition - Strahlung aus einer „ra-dioaktiven Wolke“ - Strahlung von abgelager-ten Nukliden

4.2 Strahlenexposition aus natürlichen Quellen 157Externe Strahlenexposition - Kosmische Strah-lung - Kosmogene Radionuklide - Terrestri-sche Strahlung Interne Strahlenexposition - Das radioaktive Edelgas Radon - Natürliche radioaktive Stoffe in der Nahrung Gesamte natürliche Strahlenexposition

4.3 Strahlenexposition aus zivilisatorischen Quellen ............................................................. 171 Strahlenexposition in der Nähe von kerntech-nischen Anlagen Strahlenexposition durch den Reaktorunfall von Tschernobyl Strahlen-exposition durch den Transport von radioakti-ven Stoffen (Castor) Strahlenexposition durch Quellen in Industrie, Wissenschaft und Medizin – Bestrahlungsanlagen - Zerstörungs-freie Materialprüfung - Leuchtziffern (Lumines-zenz) - Radioisotope – Produktion und Ver-sand - Bohrlochmessungen („Well Logging“) - Beschleuniger Medizinische Strahlenexposi-tion Berufliche Strahlenexposition

4.4 Problematik epidemiologischer Studien zur Strahlenexposition der Bevölkerung(Fallkontroll-Studien) ...................................... 185

4.5 Literatur ............................................................ 192

IX

5. Strahlenschutz und gesetzliche Vorschriften .................................................. 194

Ch. Zach

5.1 Planung und Durchführung des praktischen Strahlenschutzes............................................. 194 Schutz vor äußerer Exposition Personenkon-tamination und Dekontaminationsmöglichkei-ten Inkorporation und Dekorporationsmög-lichkeiten

5.2 Gesetzliche Schutzvorschriften ..................... 204 Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) - Festle-gung der Grenzwerte unter gesundheitlichen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Aspekten - Höchstwerte der Oberflächen- und massebezogenen Kontamination - Freigabe-verfahren Röntgenverordnung (RöV) Neue Regelung in der StrlschV und in der RöV - Rechtfertigende Indikation - Diagnostische Re-ferenzwerte - Ärztliche Stelle - Berücksichti-gung natürlicher Strahlenquellen bei der Arbeit Strahlenschutzvorsorgegesetz - Immissions-

und Emissionsüberwachung - Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Luft und Wasser

5.3 Genehmigungspflicht des Umgangs mit radioaktiven Stoffen ........................................ 223 Genehmigungsvoraussetzungen (Rechtferti-gung, Sicherheitsanforderungen) Nachweis der Einhaltung der Schutzbestimmungen (Ra-dioökologische Berechnungen u.a.)

5.4 Literatur ............................................................ 226

6. Vorsorgemaßnahmen bei Strahlenunfällen .......................................... 227

R. Schneider, Ch. Reiners

6.1 Reaktorunfälle (Beispiel Tschernobyl) .......... 227 Reaktorunfälle vor Tschernobyl Der Tscherno-bylunfall Gesundheitliche Folgen des Tscher-

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nobylunfalls - Exponierte Personen - Strahlen-dosen - Schilddrüsenerkrankungen - Leukämie - Andere solide Tumoren als Schilddrüsen-krebs - Andere gesundheitliche Effekte - Strah-lenexposition in Deutschland durch Tscherno-byl Iodblockade als Maßnahme zur Strahlen-schutzvorsorge

6.2 Missbrauch von radioaktiven Stoffen............ 243 Nuklearkriminalität Nuklearterrorismus - „Schmutzige Bombe“ - Sabotage bzw. terroris-tischer Anschlag - Improvisierte Nuklearbombe Gegenmaßnahmen

6.3 Überwachung der Umweltradioaktivität in Bayern ......................................................... 252 Integriertes Mess- und Informationssystems (IMIS) zur Überwachung der allgemeinen Um-weltradioaktivität Immissionsmessnetz für Radioaktivität (IfR) zur Überwachung der Um-weltradioaktivität Umgebungsüberwachung bayerischer Kernkraftwerke Kernreaktor-Fernüberwachungssystem (KFÜ)

6.4 Radioaktivitätsmessungen beim grenzüberschreitenden Verkehr ................... 257 „Tschernobyl-Verordnung“ Grenzmonitoring

6.5 Katastrophenschutz-Maßnahmen.................. 260 Katastrophenschutz - Zuständigkeit und recht-liche Grundlagen - Maßnahmen Strahlen-schutzvorsorgezentren

6.6 Literatur ............................................................ 266

7. Erläuterung von Fachbegriffen .............. 274

8. Sachverzeichnis .......................................... 300

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1. Physikalische Grundlagen

1.1 Bau der Atome

Die belebte und unbelebte Materie setzt sich aus kleinsten Bausteinen, den Atomen, zusammen. Diese bestehen aus dem Atomkern und der Atomhülle. Nahezu die gesamte Masse des Atoms ist im Kern konzentriert; die Atomhülle umgibt den Kern wie eine Wolke. Der Atomkern ist aus zwei verschiedenen Bausteinen aufgebaut, Nukleonen genannt. Es sind dies:

Das Proton (p), es trägt eine positive Elementarladungund hat definitionsgemäß die Massenzahl 1.

Das Neutron (n), das elektrisch neutral und gleich schwer wie das Proton ist. Es besitzt also ebenfalls die Massen-zahl 1.

Die Anzahl der Protonen im Atomkern, die Kernladungszahl,kennzeichnet das chemische Element. Beispiele:

Wasserstoff 1 Proton Helium 2 Protonen Kohlenstoff 6 Protonen Uran 92 Protonen

Die Summe der Nukleonen (p+n, Protonen und Neutronen) im Kern nennt man die Massenzahl des betreffenden Atoms.

Die Hülle eines Atoms wird aus Elektronen gebildet. Sie tra-gen je eine negative Elementarladung und besitzen nur etwa 1/2000 der Protonenmasse. Die Zahl der Elektronen in der Hülle entspricht der Zahl der Protonen im Kern, das Atom ist also nach außen hin elektrisch neutral.

Die Elektronen befinden sich in verschiedenen Schalen – mit den Buchstaben K bis Q bezeichnet – in unterschiedli-chen Abständen vom Kern und sind unter anderem für die Fähigkeit der meisten Atome verantwortlich, miteinander chemische Bindungen einzugehen, also Moleküle zu bilden.

Der Durchmesser des Atomkerns verhält sich zum Durch-messer der Atomhülle etwa wie 1:100000, das entspricht dem Durchmesser eines Streichholzkopfes im Verhältnis zu einem 200 m hohen Fernsehturm.

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Nuklide und Isotope

Allgemein nennt man Atome, die durch die Summe der Nukleonen im Kern, die Massenzahl, bestimmt sind, Nuk-lide. Man fügt zu ihrer Bezeichnung dem Elementnamen oder dem Elementsymbol die Massenzahl zu: Wasserstoff-2 (H-2), Kohlenstoff-14 (C-14) oder Iod-131 (I-131) sind also Nuklide.

Von jedem chemischen Element gibt es eine Reihe ver-schiedener Nuklide, die sich nur durch die Zahl der Neutro-nen im Kern unterscheiden. Sie nennt man Isotope. Isotope eines Elements besitzen gleiche chemische Eigenschaften.

Beispiele:

Die Nuklide Wasserstoff-1 (H-1) mit 1p, Wasserstoff-2 (H-2) „Deute-rium" mit 1p+1n und Wasserstoff-3 (H-3) „Tritium" mit 1p+2n sind Wasserstoffisotope (Abb. 1.1);

die Nuklide Kohlenstoff-12 (C-12) mit 6p+6n und Kohlenstoff-14 (C-14) mit 6p+8n sind Kohlenstoffisotope;

die Nuklide Uran-235 (U-235) mit 92p+143n beziehungsweise Uran-238 (U-238) mit 92p+146n sind Uranisotope.

Abb. 1.1 Die Kerne der Wasserstoffisotope: Wasserstoff, Deu-terium und Tritium

1.2 Radioaktivität

Die Zahl der Neutronen im Atomkern ist für jedes Element nur in bestimmten Grenzen variabel (maximal um etwa 40), wobei mit steigender Kernladungszahl das Verhältnis zwi-schen Neutronen und Protonen insgesamt zunimmt. Zum Aufbau eines stabilen Atomkerns sind innerhalb dieser Grenzen allerdings nur wenige Werte „erlaubt".

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Für einen stabilen Wasserstoffkern darf das Verhältnis nicht über 1:1 liegen (1 Proton und maximal 1 Neutron);

ein stabiler Atomkern des Eisens darf zu seinen 26 Protonen nur 28, 30, 31 oder 32 Neutronen besitzen (Verhältnis im Mittel knapp 1:1,2);

beim Blei (82p) sind es 122, 126, 127 oder 130 Neutronen (Ver-hältnis etwa 1:1,5).

Definitionen und Kenngrößen

Die meisten in der Natur vorkommenden Elemente und ihre Isotope sind stabil, es gibt aber auch einige natürliche Isoto-pe, die instabil sind, beispielsweise Tritium, Kohlenstoff-14, Kalium-40, Rubidium-87, Platin-190, Blei-204 und die Isoto-pe der „schweren" Elemente, zum Beispiel des Poloniums, Radiums, Radons, Thoriums oder Urans (siehe auch Ab-schnitt 4.2). Sie alle sind durch die bei der Kernumwandlung freigesetzte Strahlungsenergie die Quelle der Erdwärme. Der französische Physiker Antoine-Henri Becquerel be-obachtete an einem natürlich vorkommenden instabilen Ele-ment im Jahre 1896 erstmals die bei Kernumwandlungen auftretende Strahlung:

Er entdeckte, dass von Uransalzen eine Strahlung ausging, die lichtdicht verpackte Photoplatten zu schwärzen in der Lage war. Seine Schüler Marie und Pierre Curie fanden 1898 die gleiche „Becquerel-Strahlung" bei den von ihnen entdeckten Elementen Thorium, Radium und Polonium. Sie nannten diese Erscheinung, dass ein Stoff ohne vorherige Anregung und von außen nicht beeinflussbar Strahlung aus-sendet, Radioaktivität (= Strahlungsaktivität).

Da der ursprüngliche Stoff dabei allmählich „verschwindet" und die ablaufenden physikalischen Vorgänge noch unbe-kannt waren, prägte man damals den Begriff radioaktiverZerfall. Diese Bezeichnung, die dem eigentlichen Vorgang (Kernumwandlung!) nicht gerecht wird, ist bis heute in der wissenschaftlichen Literatur gebräuchlich geblieben.

Die Anzahl der in der Zeiteinheit zerfallenden Kerne be-zeichnet man als Aktivität. Die Einheit der Aktivität ist seit 1978 das Becquerel (Bq), das ist die Zahl der Zerfallser-

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eignisse pro Sekunde. 1 Bq entspricht einem Zerfall in ei- ner Sekunde. Die bis 1977 gebräuchliche Einheit war das Curie (Ci), die Aktivität von einem Gramm Radium-226. In 1 g Ra-226 ereignen sich pro Sekunde 37 Milliarden Zerfäl-le. 1 Ci entspricht also 37 Milliarden Bq. Da das Becquerel ei- ne sehr kleine Einheit ist, verwendet man häufig die dezima-len Vielfachen Kilobecquerel (1 kBq = 1·103 Bq = 1.000 Bq), Megabecquerel (1 MBq = 1·106 Bq = 1.000.000 Bq) und Gi-gabecquerel (1 GBq = 1·109 Bq = 1.000.000.000 Bq).

Die Aktivität pro Masseeinheit (zum Beispiel Bq/g) nennt man spezifische Aktivität. Ra-226 hat also eine spezifische Aktivität von 37 Milliarden Bq/g (= 3,7·1010 Bq/g).

Der radioaktive Zerfall ist ein statistisches Ereignis und er-folgt nach den Gesetzen einer Exponentialfunktion: In glei-chen Zeitabschnitten zerfällt immer der gleiche Prozentsatz der noch vorhandenen radioaktiven Kerne. Trägt man die Zahl der noch vorhandenen Atome gegen die Zeit auf, erhält man die Kurve der Abb. 1.2. Es ist daher keine genaue Aus-sage darüber möglich, wann das letzte Atom zerfallen sein wird, es lässt sich aus der Kurve aber exakt ablesen, nach welcher Zeit sich die Hälfte der ursprünglich vorhandenen radioaktiven Kerne umgewandelt hat. Diese Zeit wird Halb-wertszeit genannt. Nach einer Halbwertszeit sind noch die Hälfte, nach zwei Halbwertszeiten ein Viertel und nach drei Halbwertszeiten ein Achtel der ursprünglichen Kerne vor-handen.

Die Halbwertszeiten der einzelnen Radionuklide sind sehr unterschiedlich. Manche natürlichen Radionuklide besitzen eine so lange Halbwertszeit, dass sie wegen der schwieri-gen Nachweisbarkeit ihrer äußerst geringen Strahlung bis vor kurzem noch als stabil galten. Der derzeitige „Spitzenrei-ter" unter den natürlichen Radionukliden, das Tellur-128, besitzt eine Halbwertszeit von 1,5 Trilliarden Jahren (eine 15 mit 20 Nullen). Sein doppelter --Zerfall zum Xenon-128 wurde erst Ende der 70er Jahre entdeckt. Es ist nicht aus-geschlossen, dass noch langlebigere, zurzeit als stabil an-gesehene Radionuklide gefunden werden. Das natürliche Polonium-214 hat dagegen nur eine Halbwertszeit von 0,00016 Sekunden. Ähnliche Spannen gibt es auch bei den künstlichen Radionukliden, beispielsweise 15,7 Millionen

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Jahre für das Iod-129 und 0,0000001 Sekunden (= 1·10-7 s = 0,1 µs) für Thorium-218.

Abb. 1.2. Die Halbwertszeit beim radioaktiven Zerfall

Strahlenarten

Die Zahl der stabilen Isotope jedes Elements ist also relativ klein, von manchen Elementen existiert sogar kein einziges. Alle Atomkerne mit zu viel oder zu wenig Neutronen oder mit aus anderen kernphysikalischen Gründen „unerlaubten" Neutronenzahlen (zum Beispiel Eisenatomkerne mit 29 Neu-tronen) sowie die Kerne mit den Kernladungszahlen 43 (Technetium) und 61 (Promethium) und die „schweren Ker-ne" mit Kernladungszahlen ab 84 (Polonium) sind instabil. Die durch Spaltung schwerer Kerne (mit ihren im Verhältnis zu den Protonen hohen Neutronenzahlen) entstehenden leichteren Spaltprodukte besitzen in der Regel einen Neu-tronenüberschuss und sind deswegen instabil. Alle nicht stabilen Atomkerne wandeln sich unter Abgabe energierei-cher Strahlung – teilweise in mehreren Stufen – in stabile Kerne um.

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Beispiele:

Beim Wasserstoff ist mehr als ein Neutron nicht „erlaubt". Im Triti-um-Kern wandelt sich daher ein Neutron unter Aussendung eines negativ geladenen Betateilchens ( -) in ein Proton um (wie in Abb. 1.3 Mitte für ein schwereres Nuklid dargestellt). Die Betateilchen sind Elektronen wie die Hüllelektronen auch. Da sie aber aus dem Kern stammen, erhielten sie zur Unterscheidung von den Hüllelek-tronen diese besondere Bezeichnung. Bei der Beta-Umwandlung nimmt die Zahl der Neutronen im Kern um 1 ab, die Zahl der Proto-nen um 1 zu. Die Kernladungszahl steigt damit um 1, die Massen-zahl bleibt unverändert. Es entsteht im vorliegenden Falle das Heli-um-3, ein stabiles Nuklid.

Der schwere Kern des Uran-238 sendet – gewissermaßen zur „Er-leichterung" – einen kompletten kleinen Atomkern aus (Abb. 1.3 oben), bestehend aus 2 Protonen und 2 Neutronen, ein Alphateil-chen ( = Heliumkern). Die Kernladungszahl nimmt dadurch um 2, die Massenzahl um 4 (2p+2n) ab. Es entsteht das Nuklid Thorium-234, das als „schweres Element" seinerseits ebenfalls instabil ist und sich weiter umwandelt. Die Umwandlungen durch Alpha- oder Betastrahlung geschehen so oft, bis am Ende einer solchen Zer-fallsreihe ein stabiler Kern entsteht, in diesem Falle dann das Blei-isotop Blei-206.

Abb. 1.3 Strahlenarten beim radioaktiven Zerfall

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Das jeweilige Produkt einer Kernumwandlung – gleichgültig ob stabil oder nicht – wird als Tochternuklid bezeichnet.

Die Aussendung der Teilchenstrahlen (Alpha- oder Beta-strahlung) hinterlässt in vielen Fällen einen energetisch an-geregten Kern. Diese Anregungsenergie wird dann durch Abgabe einer energiereichen elektromagnetischen Wellen-strahlung, der Gammastrahlung ( ), abgebaut (Abb. 1.3 un-ten). Durch die Aussendung von Gammastrahlung ändern sich weder die Kernladungs- noch die Massenzahl.

In den meisten Fällen ist die Lebensdauer des angeregten Zustandes unmessbar klein, das heißt, die Gammastrahlung erfolgt praktisch gleichzeitig mit der Beta- oder Alphastrah-lung. Es gibt aber auch Fälle (metastabile Zustände), in de-nen der angeregte Kern eine messbare Lebensdauer be-sitzt.

Derartige Nuklide werden mit einem an die Massenzahl an-gehängten m gekennzeichnet, zum Beispiel Barium-137m. Wie jede elektromagnetische Wellenstrahlung transportiert auch die Gammastrahlung die Energie in genau festgeleg-ten „Päckchen" (Quanten), die um so energiereicher sind, je kürzer die Wellenlänge ist. Damit besitzt auch Wellenstrah-lung gewisse Teilcheneigenschaften. Die Quanten der kurz-welligen elektromagnetischen Wellenstrahlung (zum Beispiel von sichtbarem Licht, UV-, Röntgen oder Gammastrahlen) werden auch als Photonen bezeichnet. In manchen Fällen wird die Anregungsenergie des Kerns nicht als Gamma-quant abgestrahlt, sondern durch elektromagnetische Wech-selwirkung auf ein Hüllelektron übertragen, das dann emit-tiert wird. Solche Elektronen, die zwar die Folge einer Kern-umwandlung sind, selbst aber nicht aus dem Kern stammen, bezeichnet man als Konversionselektronen.

Alpha-, Beta- oder Gammastrahlung verlassen den Kern mit einer für das jeweilige Nuklid spezifischen Strahlungsener-gie. Als Maßeinheit wird das Elektronenvolt (eV) verwendet. Ein Elektronenvolt ist diejenige (Bewegungs-) Energie, die ein Teilchen mit einer Elementarladung nach Durchlaufen einer Potentialdifferenz von 1 Volt erhalten hat. Die beim radioaktiven Zerfall auftretenden Energien liegen in der Re-gel im Bereich von Kiloelektronenvolt (1 keV = 1·103 eV)

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oder Megaelektronenvolt (1 MeV = 1·106 eV). Das Elektro-nenvolt ist eine winzige Energieeinheit: 1 MeV entspricht 1,6021·10-10 Joule.

Radioaktive Nuklide (Radionuklide, Radioisotope) kann man, wie bereits angedeutet, auch künstlich erzeugen. Ge-lingt es beispielsweise, ein zusätzliches Neutron in einen Kern einzubauen, so bildet sich ein neues Isotop des betref-fenden Elements. Der dadurch in der Regel hervorgerufene Neutronenüberschuss im Kern führt dann zur Umwandlung eines Neutrons in ein Proton und zur Aussendung eines Be-tateilchens. Durch Neutronenbestrahlung können also stabi-le Isotope eines Elements in Radioisotope umgewandelt werden. Dieser als Aktivierung bezeichnete Prozess spielt bei den Strukturmaterialien von Kernreaktoren (Reaktor-druckbehälter, Brennstabhüllen usw.) eine wichtige Rolle. Die leichte Aktivierbarkeit mancher Elemente durch Bestrah-lung mit Neutronen nutzt man auch zur analytischen Be-stimmung winzigster Mengen dieser Elemente aus (Aktivie-rungsanalyse).

Bei der Spaltung schwerer Kerne (Uran-235, Plutonium-239) entstehen, wie schon erwähnt, ebenfalls Radionuklide, die in der Natur in der Regel nicht vorkommen. Daneben ist die Erzeugung künstlicher Radionuklide auch durch Beschuss von Atomkernen mit geladenen Teilchen, beispielsweise Protonen oder kleinen Atomkernen, mit Hilfe aufwendiger Teilchenbeschleuniger (beispielsweise Zyklotronen) mög-lich. Damit können auch Radioisotope mit Protonenüber-schuss hergestellt werden. Analog zu den Nukliden mit Neutronenüberschuss wandelt sich hier ein Proton in ein Neutron um, bei manchen Nukliden unter Abstrahlung eines positiv geladenen Teilchens mit der Masse eines Elektrons, eines Positrons ( +), bei anderen Nukliden fängt sich der Kern aus einer kernnahen Elektronenschale (K- oder L-Schale) ein Elektron ein, wodurch ein Proton dann zum Neutron „neutralisiert" wird (K-, L-Einfang, ). In vielen Fäl-len können bei einem Nuklid beide Prozesse (mit unter-schiedlicher Häufigkeit) stattfinden. Es gibt sogar Nuklide, bei denen -- und +-Zerfall und K-Einfang nebeneinander erfolgen (Kalium-40). Reine Positronenstrahler kommen in der Natur nicht vor. Bei der Wechselwirkung mit Materie

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verhalten sich Positronen als „Antiteilchen" der Elektronen: Beim Zusammentreffen mit einem Elektron werden – ent-sprechend der Theorie von Materie und Antimaterie – die Massen beider Teilchen und ihre Bewegungsenergien voll-ständig in (elektromagnetische) Strahlungsenergie umge- wandelt. Aus den Massen der beiden Teilchen entsteht eine charakteristische „Vernichtungsstrahlung", zwei -Quantenmit je 0,511 MeV (Megaelektronenvolt).

Manche schwere Kerne (ab dem Uran) zeigen mit einer ge-wissen Häufigkeit Spontanspaltungen; der Kern zerbricht dabei ohne äußere Einwirkung in zwei etwa gleich große Bruchstücke und es tritt Neutronenstrahlung auf. Einige Nuklide (beispielsweise Curium-250) zerfallen ausschließlich durch Spontanspaltung.

Reichweite und Wechselwirkung mit Materie

Dass es sich bei der „Becquerel-Strahlung" nicht um eine einheitliche Strahlung, sondern um drei verschiedene Strah-lenarten handelt, wurde 1899 von Rutherford nachgewiesen, von ihm stammt auch die Namensgebung nach den ersten drei Buchstaben des griechischen Alphabets. Alle drei Strahlenarten haben jedoch eine Eigenschaft gemeinsam: Wegen der relativ hohen Energie ihrer Teilchen oder Quan-ten können sie bei der Wechselwirkung mit Materie Hüll-elektronen herausschlagen und dadurch auf direktem oder indirektem Weg geladene Teilchen, Ionen, erzeugen. We-gen dieser Wirkung fasst man die Strahlung radioaktiver Stoffe und andere Strahlungen mit den gleichen Eigenschaf-ten, beispielsweise Röntgenstrahlung, unter dem Sammel-begriff ionisierende Strahlung zusammen. Die umgangs-sprachliche Bezeichnung „radioaktive Strahlung" meint nur die ionisierende Strahlung, die von radioaktiven Stoffen ausgeht. Sie führt leicht zu Missverständnissen: Nicht die Strahlung ist radioaktiv, sondern das Nuklid, von dem sie ausgeht.

Die Strahlung geladener Teilchen, wie z. B. Alpha- und Be-tastrahlung, erzeugt Ionen und freie Elektronen in der Mate-rie durch direkte Stöße (Stoßionisation). Sie wird auch als direkt ionisierende Strahlung bezeichnet. Bei jedem Stoß-

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prozess, den man sich wie Stöße von Billardkugeln vorstel-len kann, verliert das Teilchen etwas Energie bis es schließ-lich in der Materie vollständig abgebremst wird. Die Reich-weite des Teilchens in der Materie nimmt mit der Energie (Geschwindigkeit) des Teilchens zu und ist umso größer, je geringer die Dichte der Materie ist.

Neben der Stoßionisation können geladene Teilchen durch die Wechselwirkung mit der positiven Ladung der Atomker-ne abgebremst und in ihrer Bahn abgelenkt werden. Die freiwerdende Energie wird als Photonenstrahlung (Brems-strahlung) abgegeben. Dieser Effekt wird in der Röntgenröh-re zur Erzeugung der Röntgenstrahlung ausgenutzt, indem beschleunigte Elektronen auf eine Metallanode, meist Wolf-ram, geschossen werden.

Die Gammastrahlung ist eine indirekt ionisierende Strah-lung. Sie gibt ihre Energie in zwei Stufen an die Materie ab. In der ersten Stufe werden einige wenige energiereiche ge-ladene Teilchen erzeugt, die dann die Materie weiter ionisie-ren. Die wichtigsten Wechselwirkungen von Photonen mit Materie sind der Photoeffekt, der Comptoneffekt und die Paarbildung. Eine wichtige Eigenschaft der indirekt ionisie-renden Strahlung ist, dass sie in ausreichend dicker Materie zwar beliebig geschwächt, aber nie vollständig abgeschirmt werden kann.

Beim Photoeffekt gibt ein Photon seine gesamte Energie an ein Hüllelektron ab, das Photon verschwindet und die Strah-lung wird damit abgeschwächt. Das Hüllelektron erhält kine-tische Energie (Geschwindigkeit), wird aus dem Atom he-rausgeschlagen und ionisiert auf seinem Weg durch die Ma-terie weiter Atome (Abb. 1.4). Der Photoeffekt ist der domi-nierende Effekt bei Photonenenergien unterhalb von etwa 100 keV.

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Abb. 1.4 Wechselwirkung von Gammastrahlung mit Materie

Beim Comptoneffekt gibt das Photon nur einen Teil seiner Energie auf ein Hüllelektron ab, das ebenfalls aus dem Atom herausgeschlagen wird. Das Photon wird inelastisch ge-streut, d.h. es fliegt in einer anderen Richtung mit geringerer Energie (Frequenz), größerer Wellenlänge, davon. Hiernach sind weitere Comptonstreuprozesse möglich, bis das Photon durch einen Photoeffekt schließlich verschwindet oder die Materie verlässt.

Als Paarbildungseffekt wird die Bildung eines Elektron-Positron-Paars im Feld der Atomkerne bezeichnet. Das Pho-ton verschwindet. Zur Bildung des Elektron-Positron-Paares werden 1022 keV benötigt. Daher tritt die Paarbildung erst bei Photonenenergien oberhalb dieser Schwelle auf. Die restliche Energie des ursprünglichen Photons wird in kineti-sche Energie des Elektrons und des Positrons umgewan-delt. Die Paarbildung ist die dominierende Wechselwirkung bei hohen Photonenenergien ab 20 MeV.

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Abschirmung

Alpha-, Beta- und Gammastrahlen unterscheiden sich er-heblich in ihrer Fähigkeit, Materie zu durchdringen (Abb. 1.5):

Alphastrahlen haben in Luft eine Reichweite von nur we-nigen Zentimetern, in lebendes Gewebe können sie sogar nur einige hundertstel Millimeter eindringen. Bereits ein Blatt Papier schirmt Alphastrahlung völlig ab.

Betastrahlen können einige Meter Luft durchdringen, in lebendem Gewebe haben sie je nach Energie Reichwei-ten von einigen Millimetern bis einigen Zentimetern. Ein dickes Buch, eine dicke Plexiglasscheibe oder eine dün-ne Aluminiumplatte schirmen Betastrahlung vollständig ab.

Gammastrahlen besitzen in Luft sehr große Reichweiten und durchdringen – wie Röntgenstrahlung – auch leben-des Gewebe leicht. Zur Abschirmung verwendet man di-cke Schichten aus Materialien mit hoher Dichte (Blei, Schwerbeton). Gammastrahlung ist durch entsprechende Schichtdicken beliebig stark (bis unter die Nachweisgren-ze) abzuschwächen, aber nie vollständig abschirmbar.

Abb. 1.5 Die Abschirmung Die verschiedenen Strahlenarten werden durch Materie unter-schiedlich abgeschirmt.

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Analog der Halbwertszeit lassen sich Halbwertsschicht-dicken angeben. Die Habwertsschichtdicken sind stark von der Art und Energie der Strahlung und der Dichte des Ab-schirmmaterials abhängig. Durch eine Abschirmung von ei-ner Halbwertsschichtdicke wird die Strahlung auf die Hälfte, bei zwei Halbwertsschichtdicken auf ein Viertel geschwächt. Die Strahlungsintensität nimmt mit zunehmender Dicke der Abschirmung exponentiell ab. Setzt sich die Strahlung aus mehreren Anteilen zusammen, z. B. Beta- und Gamma-strahlung oder Gammastrahlung verschiedener Energien, so ist die Abschirmwirkung für jede Komponente mit ihrer indi-viduellen Halbwertsschichtdicke separat zu bestimmen.

1.3 Dosisbegriffe

Bei der Wechselwirkung von Strahlung mit Materie wird die Strahlungsenergie ganz oder teilweise von der Materie auf-genommen (absorbiert). Dabei werden in der Materie La-dungsträger beiderlei Vorzeichens (positive und negative Ionen) erzeugt. Die erzeugte Ladung je Masseeinheit, ge-messen in Coulomb pro Kilogramm (C/kg), heißt lonendosisJ. Früher wurde für die lonendosis eine besondere Einheit verwendet, das Röntgen (R). 1 R entspricht 0,000258 C/kg (in Luft).

Die pro Masseeinheit absorbierte Energiemenge wird als Energiedosis D bezeichnet. Die Einheit der Energiedosis ist seit 1978 das Gray (Gy). 1 Gy entspricht einer absorbierten Energie von 1 Joule pro Kilogramm (1 J/kg). Bis 1977 war die Einheit der Energiedosis das Rad (rd), abgekürzt aus „radiation absorbed dose". 100 rd sind 1 Gy.

Der unterschiedlichen biologischen Wirkung verschiedener Strahlenarten und -energien wird in den Empfehlungen der internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) /ICR-91/ und auch in der deutschen Strahlenschutzverordnung(StrlSchV) /STR-01/ mit dem Strahlungs-Wichtungsfaktor wR

Rechnung getragen (Tabelle 1.1). Die mit wR multiplizierte, über ein Organ gemittelte Energiedosis DT,R (T steht für tissue, R für radiation) wird als Organdosis HT bezeichnet.

HT,R = wR · DT,R

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Strahlungsart und -energie Strahlungs-Wichtungs-faktor wR

Photonen(Gamma- u. Röntgenstrahlung)

Elektronen und Myonen

Neutronen (je nach Energie)

Protonen (> 2 MeV)

Alphateilchen, Spaltfragmente, schwere Kerne

1

1

5–20

5

20

Tab. 1.1 Strahlungs-Wichtungsfaktoren wR (StrlSchV Anlage VI Teil C /STR-01/)

Besteht die Strahlung aus Arten und Energien mit unter-schiedlichen Strahlungs-Wichtungsfaktoren, so werden zur Bestimmung der Organdosis die Beiträge, die durch die ein-zelnen Strahlungsarten und -energien verursacht werden, addiert.

HT = wR · DT,R

Der Strahlungs-Wichtungsfaktor ist dimensionslos. Die Di-mension der Organdosis (J/kg) entspricht daher der Dimen-sion der Energiedosis, man verwendet jedoch für die Or-gandosis eine besondere Bezeichnung, das Sievert (Sv).Der tausendste Teil eines Sievert ist das Millisievert (mSv), der millionste Teil das Mikrosievert. Falls der Strahlungs-Wichtungsfaktor gleich 1 ist, wie für Beta-, Gamma- oder Röntgenstrahlung, entspricht ein Sievert einem Gray, für (in-korporierte) Alphastrahler entsprechen (nach Tabelle 1.1) im Regelfall 20 Sievert einem Gray.

Von einer Organdosis spricht man, wenn die Strahlenexpo-sition eines einzelnen Organs oder Gewebes gesondert be-trachtet wird, beispielsweise die Exposition der Schilddrüse im Falle einer Inkorporation von Radioiod. Die Wirkung einer Dosis auf ein Organ hängt von dessen Größe und Empfind-lichkeit ab, daher sind die Grenzwerte für verschiedene Or-gane oder Gewebe unterschiedlich hoch (Kapitel 5.2). Bei der Beschreibung und Bewertung von Strahlenwirkungen wird noch eine Reihe weiterer Dosisbegriffe verwendet. Von einer Ganzkörperdosis spricht man, wenn der gesamte Kör-per der Strahlenexposition ausgesetzt ist, von einer Teilkör-

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perdosis, wenn nur Teile des Körpers betroffen sind. Der Überbegriff hierzu ist die Körperdosis.

Die ICRP-Empfehlungen und das deutsche Strahlenschutz-recht verwenden bei der Festlegung von Grenzwerten ne-ben der Organdosis die effektive Dosis E. Bei einer gleich-mäßigen Dosisverteilung über den gesamten Körper sind die Werte der Ganzkörperdosis und der effektiven Dosis gleich.

Wenn nur Teile des Körpers oder einzelne Organe exponiert sind (Teilkörperexposition), wie z. B. bei Teilkörperdurch-leuchtungen in der Medizin, sind insgesamt die schädlichen Wirkungen einer Strahlenexposition geringer als bei einer gleichmäßigen Exposition des gesamten Körpers (Ganzkör-perexposition). Die effektive Dosis entspricht dann derjeni-gen Ganzkörperdosis, die dasselbe Strahlenrisiko bedingt, wie die einzelnen unterschiedlichen Organdosen. Sie ist die Summe der durch die Gewebe-Wichtungsfaktoren wT (nach Tabelle 1.2) entsprechend dem Strahlenrisiko gewichteten Organ- und Gewebedosen.

E = wT · HT

Gewebe oder Organe Gewebe-

Gewichtungsfaktoren wT

Keimdrüsen 0,20 Knochenmark (rot) 0,12Dickdarm 0,12 Lunge 0,12 Magen 0,12 Blase 0,05 Brust 0,05 Leber 0,05 Speiseröhre 0,05 Schilddrüse 0,05 Haut 0,01 Knochenoberfläche 0,01 Andere Organe und Gewebe 0,05

Tab. 1.2 Gewebe-Wichtungsfaktoren wT (StrlSchV Anlage VI Teil C /STR-01/)

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Die Gewebe-Wichtungsfaktoren sind über die Bevölkerung (alle Altersstufen, alle Länder) und beide Geschlechter ge-mittelte Werte. Die effektive Dosis spiegelt nicht die Alters-abhängigkeit des Strahlenrisikos wider – auch nicht geneti-sche, geschlechtsspezifische und andere personenbezoge-ne Faktoren, die das individuelle Strahlenrisiko beeinflussen. Die effektive Dosis ist deshalb zur Abschätzung des Strah-lenrisikos einzelner Personen kaum geeignet.

Da die biologische Wirkung einer Strahlendosis unter ande-rem von der Dosisverteilung im Gewebe, von der zum Teil genetisch bedingten Strahlenempfindlichkeit und von der bei den einzelnen Lebewesen sehr unterschiedlichen Wirksam-keit der Reparatursysteme abhängt (siehe auch Kapitel 2.2), gilt die so definierte effektive Dosis nur für den Menschenoder für menschliche Organe und Gewebe. Für einzelne Zellen, Tiere oder Pflanzen kann die Dosis immer nur als Energiedosis in Gray angegeben werden.

Für das besonders in der Neutronendosimetrie benutzte Kerma verwendet man als Einheit in der Regel ebenfalls das Gray. Kerma (kinetic energy released in matter) ist definiert als die Summe der kinetischen Energien aller in einem be-stimmten Volumen erzeugten geladenen Teilchen pro Mas-se der Materie in diesem Volumen.

Ein häufig gebrauchter Dosisbegriff ist die Kollektivdosis. Sie ergibt sich aus der Summe aller Einzeldosen eines Kollek-tivs und wird in Personen · Sievert (früher Personen · rem) angegeben. Sie ist mit Einschränkungen (es ergibt strahlen-biologisch keinen Sinn, winzigste Einzeldosen zu summie-ren) als Maß für das radiologische Gesamtrisiko eines Kol-lektivs verwendbar.

Eine besonders definierte Dosis ist die genetisch signifikante Dosis. Sie stellt den Mittelwert der nach Alter, Geschlecht und Kindererwartung gewichteten Keimdrüsendosen eines Kollektivs dar und ist damit ein Maß für das genetische Risi-ko dieses Kollektivs. Seit der Einführung des Konzeptes der effektiven Dosis – die auch die vererbbaren Schäden be-rücksichtigt (Tabelle 1.2) – wird die genetisch signifikante Dosis im Strahlenschutz nicht mehr benutzt.

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Bis zum Erscheinen der ICRP-Veröffentlichung Nr. 26 im Jahr 1977 /ICR-77/ und der Einführung des Konzepts der ef-fektiven Dosis wurde im Strahlenschutz das Konzept des kri-tischen Organs zur Festlegung von Grenzwerten angewen-det.

Wenn mehr als ein Organ oder Gewebe strahlenexponiert war, galten diejenigen Organe oder Gewebe als kritische Organe, denen aufgrund ihrer Strahlenempfindlichkeit und der erhaltenen Dosis für den sich möglicherweise ergeben-den gesundheitlichen Schaden die größte Bedeutung zu-kommt. Bei einer Ganzkörperexposition wurde der Ganzkör-per als kritisches Organ betrachtet und die Ganzkörperdosis angegeben.

In der Radioökologie (vgl. Kapitel 4.1) wird der Begriff des kritischen Organs auch weiterhin verwendet. Er dient zur Charakterisierung desjenigen Organs, dem die größte Be-deutung für einen möglichen Gesundheitsschaden zu-kommt, der sich durch Aufnahme eines Radionuklids in den Körper aufgrund der Anreicherung des Nuklids in diesem Organ, der daraus resultierenden Organdosis sowie der Strahlenempfindlichkeit dieses Organs ergibt.

Die Höhe des Schadens im Körper durch ionisierende Strah-lung ist bei einer gegebenen Energiedosis nicht nur von der Strahlenart und der Strahlenenergie abhängig, eine wichtige Rolle spielen auch die räumliche und zeitliche Dosisvertei-lung. Die räumliche Dosisverteilung wird durch das Konzept der effektiven Dosis berücksichtig.

Der Zeitraum, über den eine Dosis verteilt ist, beeinflusst de-ren Wirksamkeit ebenfalls stark. Die gleiche Dosis hat eine stärkere Wirkung, wenn sie in kurzer Zeit aufgenommen wird als bei Verteilung über einen längeren Zeitraum (Zeit-faktor Abb. 1.6). Die Erscheinung ist dadurch erklärbar, dass bei zeitlicher Streckung der Dosis auch die Schäden erst nacheinander entstehen, der je Zeiteinheit auftretende Schaden daher kleiner ist und deshalb auch wirkungsvoller repariert werden kann. Der Zeitfaktor ist damit sichtbarer Ausdruck der Reparaturfähigkeit lebender Zellen (siehe auch Kapitel 2.2).

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Abb. 1.6 Der Zeitfaktor Gleiche Dosis ist bei Verteilung über einen längeren Zeitraum weniger wirksam.

Die je Zeiteinheit aufgenommene Dosis (den Quotienten aus einem Dosisbetrag und dem Zeitraum, über den er gleich-mäßig einwirkt) bezeichnet man als Dosisleistung. Sie wird in der Regel in Gray, Milligray, Sievert oder Millisievert pro Minute oder Stunde angegeben.

Bei sehr langen Zeiträumen (Wochen, Monaten, Jahren) spricht man nicht mehr von Dosisleistung, sondern von Wo-chen-, Monats- beziehungsweise Jahresdosis.

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Ionen-dosis

Durch ionisierende Strahlung pro Masse-einheit erzeugte Ladung

Einheit: Coulomb pro Kilogramm (C/kg) Energie-dosis

Pro Masseeinheit absorbierte Strahlungs-energie

Einheit: Gray (Gy) Gy = J/kg Äquivalent-dosis

Auf gleiche biologische Wirkung normierte Dosis. Die Energiedosis wird multipliziert mit einem Bewertungsfaktor q, der die relative biologische Wirksamkeit der verschiedenen Strahlenarten berücksichtigt.

Einheit: Sievert (Sv) EffektiveDosis

Summe aller entsprechend den Organemp-findlichkeiten gewichteten Teilkörperdosen

Sie repräsentiert das genetische und soma-tische Gesamtrisiko für Strahlenspätschä-den.

Einheit: Sv Dosis-leistung

Verteilung einer Dosis über einen gegebe-nen Zeitraum, Dosis pro Zeiteinheit

Gebräuchliche Einheiten:

Gy/h, Sv/h GenetischsignifikanteDosis

Mittelwert der entsprechend Alter, Ge-schlecht und Kindererwartung gewichteten individuellen Keimdrüsendosen eines Kol-lektivs

Einheit: Sv Kollektiv-dosis

Summe aller Individualdosen eines Kollek-tivs

Einheit: PERSONEN · Sv

Tab. 1.3 Wichtige Dosisbegriffe

20

1.4 Messgrößen im Strahlenschutz

Organdosis und effektive Dosis können ausschließlich rech-nerisch bestimmt werden. Zum Einen können in lebenden Personen keine Messgeräte platziert werden, zum Anderen wird zur Berechnung die über ein Organ gemittelte Energie-dosis verwendet. Für die Abschätzung des Risikos einer äu-ßeren Strahlenexposition werden im praktischen Strahlen-schutz die Äquivalentdosis H, bzw. die Äquivalentdosisleis-tung verwendet. Diese Dosisgrößen sind einer direkten Messung zugänglich.

Die Stärke der biologischen Wirkung ionisierender Strahlung ist nicht nur von der Energiedosis, sondern auch vom linea-ren Energieübertragungsvermögen (LET) L (übertragene Energie pro Wegeinheit) und damit der lonisationsdichte(Zahl der lonisationsereignisse pro Wegeinheit in der Mate-rie) sowie der Dosisverteilung im Körper abhängig. Unter-schiedliche Strahlenarten und Strahlenenergien haben da-her eine quantitativ unterschiedliche biologische Wirksam-keit.

Auch die Äquivalentdosis berücksichtigt wie die Organdosis die biologische Wirksamkeit der Strahlungsarten. Sie be-rechnet sich aus der Energiedosis durch Multiplikation mit dem Qualitätsfaktor Q. Dieser Qualitätsfaktor hat für jede Strahlenart und Strahlenenergie einen charakteristischen Wert. Strahlung mit hohem L bezeichnet man auch als dicht ionisierend. Sie gibt in Materie ihre Energie auf einem sehr kurzen Weg an diese ab (Alphateilchen, Protonen, Neutronen) und hat einen hohen Qualitätsfaktor. Gibt die Strahlung ihre Energie auf einem sehr langen Weg an die „durchstrahlte" Materie ab, nennt man sie locker ionisierend(Betateilchen, Positronen, Gamma- und Röntgenstrahlung). Sie besitzt einen niedrigen Qualitätsfaktor. Der Qualitätsfak-tor wird für verschiedene Strahlungsqualitäten so festgelegt, dass gleiche Äquivalentdosen verschiedener Strahlungsqua-litäten unter Strahlenschutzgesichtspunkten gleich bewertet werden können. Für Beta- und Gammastrahlung hat der Qualitätsfaktor den Wert 1 und ist damit zahlenmäßig gleich dem Strahlungs-Wichtungsfaktor wR. Er besitzt wie dieser die Dimension 1. Die Einheit der Äquivalentdosis ist eben-falls das Sievert.

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Früher wurde für die Äquivalentdosis die Einheit rem (abge-kürzt aus roentgen equivalent man) verwendet. Für die Um-rechnung gilt: 1 Sv = 100 rem. Die Einheit rem war in der Öf-fentlichkeit durch die Kernenergiediskussion so geläufig ge-worden, dass sie – ebenso wie die Einheit Röntgen – im Zu-sammenhang mit dem Reaktorunfall von Tschernobyl auch noch verwendet wurde, obwohl sie offiziell ab 1.1.1986 nicht mehr zulässig war.

Die Äquivalentdosis kann zum Einen einer Person zugeord-net sein, zum Anderen einem Ort. Die Personendosis HP

wird z. B. durch das amtliche Dosimeter, in der Regel die Filmplakette, bestimmt. Sie misst die Monatsdosis des Trä-gers unabhängig von dessen Aufenthaltsort. Die OrtsdosisH* dagegen ist eine ortsfeste Größe.

Um eine möglichst gute Übereinstimmung der Äquivalentdo-sis mit der Körperdosis zu erzielen wird die Äquivalentdosis in 10 mm Gewebetiefe bestimmt (Tiefen-Personendosis HP(10) und Umgebungs-Äquivalentdosis H*(10)). Messtech-nisch bedient man sich hierzu eines Körperphantoms, das in seiner Dichte und stofflicher Zusammensetzung menschli-chem Weichteilgewebe entspricht. Dadurch werden auch diejenigen Dosisanteile erfasst, die von im Gewebe gestreu-ter Strahlung hervorgerufen werden.

Die Umgebungs-Äquivalentdosis H*(10) ist definiert als das Produkt der Energiedosis in 10 mm Tiefe einer weichteil-äquivalenten ICRU-Kugel und dem Qualitätsfaktor Q. Die ICRU-Kugel (International Comission on Radiation Units) hat einen Durchmesser von 30 cm und die Dichte 1 g/cm3. Sie besteht aus 76,2 % Sauerstoff, 11,1 % Kohlenstoff, 10,1 % Wasserstoff und 2,6 % Stickstoff (Gewichtsanteile) /ICR-80/.

Die ICRP weist ausdrücklich darauf hin, dass die empfohlenen Werte Q nur für die Anwendung im Strahlenschutz vorgesehen sind, dass sie auf der Grundlage relevanter Werte für die relative biologische Wirksamkeit ausgewählt wurden und auch noch die Tatsache berücksichtigen, dass von der Wirkung hoher Energie-dosen extrapoliert wurde (siehe hierzu Kapitel 2.4). Die Kommis-sion stellt fest, dass die Werte von Q nicht unbedingt repräsentativ für die relative biologische Wirksamkeit bei hoher Energiedosis sein müssen. Äquivalentdosis und effektive Dosis sollten daher bei-spielsweise nicht für die Ermittlung zu erwartender Frühschäden bei Strahlenunfällen verwendet werden (siehe auch Kapitel 2.3 und

22

häufig als Energiedosis (in Gray) und nicht als Äquivalentdosis an-gegeben.

Da Alpha- bzw. Betastrahlung in lebendem Gewebe je nach Energie eine Reichweite von nur einigen Hundertstel Milli-metern bzw. einigen wenigen Millimetern hat, wird ihr Anteil an der effektiven Dosis durch die Messgrößen HP(10) und H*(10) nicht erfasst. Daher wird eine weitere Dosisgröße, die Oberflächen-Personendosis HP(0,07), verwendet, die als die Äquivalentdosis in 0,07 mm Tiefe im Körper an der Trage-stelle des Personendosimeters definiert ist.

Die Oberflächendosis ist wegen der geringen Eindringtiefe von Alpha- und Betastrahlung stark von der Einfallsrichtung der Strahlung abhängig. In der Ortsdosimetrie wird daher die Strahlungsrichtung berücksichtig und das Analogon zur Oberflächen-Personendosis als Richtungs-ÄquivalentdosisH’(0,07, ) angegeben (Äquivalentdosis in 0,07 mm Tiefe der ICRU-Kugel). Hierbei ist der Einfallswinkel der Strah-lung.

Moderne Messgeräte zur Dosisleistungsbestimmung sind in der Lage, die Äquivalentdosisgrößen H*(10) und H’(0,07) anzuzeigen. Ab dem 1.8.2011 sind bei Messungen der Per-sonendosis ausschließlich die Größen HP(10) und HP(0,07)und in der Ortsdosimetrie die Messgrößen H*(10) und H’(0,07, ) zu verwenden. Bis dahin darf daneben noch die alte Äquivalentdosisgröße H benutzt werden, die nicht zwi-schen Tiefendosis und Oberflächendosis unterscheidet und auch keine Dosisanteile von im Gewebe gestreuter Strah-lung berücksichtigt.

Die messbare Äquivalentdosis ist ausschließlich dafür ge-eignet das Risiko einer äußeren Strahlenexposition abzu-schätzen. Bei einer Inkorporation radioaktiver Stoffe, die zu einer inneren Strahlenexposition führen, ist ein anderer Weg einzuschlagen.

Abhängig von der Art der Aufnahme des radioaktiven Stof-fes, Ingestion, Inhalation oder Kontamination von Wunden, sind Dosiskoeffizienten in der „Bekanntmachung der Dosis-koeffizienten zur Berechnung der Strahlenexposition“ vom 23.07.2001 im Bundesanzeiger Nr. 160 a und b /BUA-01/

wendung von Beta-, Gamma- oder Röntgenstrahlung die Dosis 2.4). Aus derartigen Gründen wird auch bei der medizinischen An-

23

veröffentlicht worden. Mit deren Hilfe kann die effektive Do-sis ausgehend von der inkorporierten Aktivitätsmenge be-rechnet werden.

Den Dosiskoeffizienten liegen biokinetische Modelle zu-grunde. Diese beschreiben die Aktivitätsverteilung im menschlichen Körper von der Inkorporation der Radionukli-de über deren Verteilung im Körper und deren Anreicherung in spezifischen Organen bis zu ihrer Ausscheidung. Sowohl alters-, als auch geschlechtsbedingte Unterschiede sind be-rücksichtigt. Mit den so gewonnenen zeitlichen Aktivitäts-konzentrationen im Körper können die Organdosen abge-schätzt werden. Die verwendeten Modelle sind in etlichen Veröffentlichungen der ICRP detailliert beschrieben /ICR-03, ICR-75/.

Die Messgrößen für die innere Strahlenexposition sind damit die zugeführten Aktivitäten. Diese können pauschal be-stimmt werden, wie etwa durch Messung der Aktivitätskon-zentration in der Raumluft am Arbeitsplatz für eine chroni-sche Aktivitätszufuhr, oder individuell über die Ganzkörper-aktivität, die Aktivitätskonzentration in den Ausscheidungen oder im Blut. Bei den letzten beiden Möglichkeiten erhält man die inkorporierte Aktivität ebenfalls aus dem kinetischen Modell.

Reichert sich der inkorporierte radioaktive Stoff beinahe voll-

die gespeicherte Aktivitätsmenge auch direkt bestimmt werden; z. B. wird Iod über längere Zeit nur in der Schild-drüse gespeichert. Bei Inkorporation von I-131 lässt sich die

bestimmen, da die Hauptkomponente der Gammastrahlung mit 364 keV den Körper beinahe ungeschwächt verlässt. (Die Schilddrüse liegt etwa 1 cm unter der Haut).

Schilddrüsenaktivität mit einem NaI -Detektor relativ einfach

ständig in einigen wenigen Organen im Körper an, so kann

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1.5 Literatur

Bundesanzeiger (2001). Bekanntmachung der Dosiskoeffi-zienten zur Berechnung der Strahlenexposition vom 23.07.2001 – Dosiskoeffizienten bei äußerer und innerer Strahlenexposition. BAnz (/BUA-01/) 160(a und b).

International Commission on Radiological Protection (ICRP) (1975). Reference Man: Anatomical, Physiological and Metabolic Characteristics. ICRP Publication 23 (/ICR-75/). Oxford, Pergamon Press.

International Commission on Radiological Protection (ICRP) (1977). Recommendations of the International Commission on Radiological Protection. ICRP Publication 26. Annals of the ICRP (/ICR-77/) 1(3). Oxford, Pergamon Press.

International Commission on Radiation Units and Measure-ments (ICRU) (1980). Radiation quantities and units. ICRU Report 33 (/ICR-80/). Bethesda, MD, USA.

International Commission on Radiological Protection (ICRP) (1991). 1990 Recommendations of the International Com-mission on Radiological Protection. ICRP Publication 60. Annals of the ICRP (/ICR-91/) 21(1-3). Oxford, Pergamon Press.

International Commission on Radiological Protection (ICRP) (2003). Basic Anatomical and Physiological Data for Use in Radiological Protection: Reference Values. ICRP Publication 89. Annals of the ICRP (/ICR-03/) 32(3-4). Oxford, Perga-mon Press.

Strahlenschutzverordnung (2001). (/STR-01/). http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/strlschv_2001/ gesamt.pdf.

25

2. Biologische Grundlagen

Die in diesem Kapitel besprochenen Sachverhalte entspre-chen dem sich in den letzten Jahren abzeichnenden Para-digmenwechsel in der Strahlenbiologie, vor allem bei kleinen Dosen. Bisher wurden Strahlenwirkungen wesentlich als Er-gebnis von Reaktionen der direkt von Strahleneinfangereig-nissen getroffenen Zellen betrachtet und weniger als Reak-tionen eines komplexen mulizellulären biologischen Sys-tems, was heute in den Vordergrund tritt. Alle wesentlichen neuen Forschungsergebnisse werden in diesem Kapitel an-gesprochen. Der Versuch der allgemein verständlichen Dar-stellung der komplexen Materie wird ergänzt durch eine aus-führliche Bibliographie zur vertieften wissenschaftlichen Do-kumentation.

2.1. Wirkungsweise ionisierender Strahlung auf einzelne Zellen

Zellen als kleinste Funktionseinheiten lebender Körper

Der menschliche Körper mit seinen Organen, höchst diffe-renzierten Strukturen und Funktionen in vielfältigen Variatio-nen, welche die Besonderheit jedes einzelnen Individuums ausmachen, wird von in Netzwerken kommunizierenden Zel-len gesteuert. Ein 70 kg schwerer Mensch hat mehrere zehntausend Milliarden (1013) Zellen mit vielen verschiede-nen Aufgaben in den verschiedenen Organen und Gewe-ben. Zellen sind die kleinsten Funktionseinheiten des Kör-pers. Ihre Masse liegt im Mittel bei etwa 1 Nanogramm (ng), d.h. etwa einem Milliardstel Gramm. Jede solche Zelle um-fasst etwa 100 Milliarden Moleküle, die wiederum jeweils aus wenigen bis zu vielen Tausend Atomen bestehen, und zwar zu über 99 % aus Kohlenstoff (C), Wasserstoff (H), Sauerstoff (O), Stickstoff (N), Schwefel (S) und Phosphor (P). Die etwa eine Milliarde Zellen pro Gramm Organe und Gewebe des menschlichen Körpers schwanken in ihrer Form und Größe, haben vielfach ein angenähert sphäri-sches Volumen mit einem mittleren Durchmesser von 12,4 Mikrometer (µm).

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Atome

Moleküle

Zellen

Gewebe-Organe

Organismus

Hierarchie der Strukturen Biologischer SystemeIonisierende Strahlen interagieren mit Atomen

Signale benutzen Moleküle, die in Zellen produziert werden

~ 109 Zellen / g Gewebe-Organe

~ 1011 Moleküle / Zelle

~ 2 – 104 Atome / Molekül

Leben braucht ~ 30 Elemente> 99% sind C; H; O; N, S; P

Die

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de

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IonisierendeStrahlen

Feinendegen LE, Neumann RD, 2005

Abb. 2.1 zeigt schematisch übersichtlich den hierarchischen Aufbau von Organismen, die Stellung von Zellen in ihnen und den primären Ort der Wechselwirkung ionisierender Strahlen auf der atomaren Ebene.

Abb. 2.1

Als kleinste Funktionseinheiten des Körpers haben Zellen organ- und gewebespezifische Aufgaben. Sie sind jedoch prinzipiell alle sehr ähnlich strukturiert, haben fast stets nur einen Zellkern, dem Hauptsitz des genetischen Materials, der Desoxyribonukleinsäure, DNS. Sowohl im Zellkern wie im Zytoplasma der Zelle, d.h. außerhalb des Kernes, befin-det sich eine Vielzahl von mikroskopischen Strukturen wohl gegeneinander meist durch Membrane abgegrenzt. Die Bausteine dieser Strukturen, in ihnen und um sie herum sind Moleküle, kleine wie sehr große, vielfach Eiweißkörpern, Fetten und Kohlehydraten zugeordnet, Substanzen mit meist ganz speziellen Eigenschaften und Wirkungen. Etwa 80 % der Zellmasse ist Wasser. So ist jede Zelle in sich eine Art höchst komplex organisiertes und funktionierendes “Feuchtbiotop“. Zelluläre Membranen bestehen aus Doppel-schichten von vernetzten Fettsäuren, den Lipiden. Zellen umschließende Membranen bilden Barrieren zum Schutz nach außen und innen, mit Mechanismen zum Transport von Stoffen, z. B. Nährstoffen und einzelnen Elementen wie

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Säugetierzelle

Zellkern (N) ( x 8 µm )

Rezeptoren

für Bindung von

Signalmolekülen

Energie-

Generator

(Mitochondrium)

Transport-

und

Jonenkanäle

Membranen

Strukturen mit

biologischen

Konstruktions-

Werkzeugen

(Enzyme)

für Energie-

lieferung,

Synthese,

Um- und Abbau

Sitz des

genetischen

Materials

(DNS)

Natrium, Kalium, Calcium, und sie tragen Antennen, so ge-nannte Rezeptoren, für von außen kommende Signalmole-küle. Im Zellinneren umschließen Membrane besondere Re-gionen für spezielle Funktionen. Hierfür sind sehr individuel-le „Werkzeug-Moleküle“, so genannte Enzyme, erforderlich. Diese sind Eiweißmoleküle in vielen Variationen, die den Stoffaufbau, -umbau und -abbau reguliert durchführen. Die dazu erforderlichen Signale besorgen wiederum Kaskaden von großen und kleinen Molekülen oft mit Hilfe von Memb-ranen. Zellen reagieren als Ganzes. Abb. 2.2 zeigt schema-tisch eine Zelle mit ihren funktionsspezifischen Strukturen in mikroskopisch kleinen Räumen angeordnet.

Abb. 2.2

Die Zellen des Körpers arbeiten als Bauelemente der Kör-pergewebe und Organe in einem außerordentlich komple-xen Netz molekularer Signale, welche von Zellen syntheti-siert werden und einerseits innerhalb der Zellen aktiv sind, zum anderen zwischen Zellen in einem gegebenen Organ wirken, sowie zwischen Zellen in verschiedenen Organen den ganzen Körper beeinflussen können. So werden die Funktionen des Gesamtkörpers aufeinander harmonisch abgestimmt. Ionisierende Strahlen können in ihrer Wech-selwirkung mit Atomen und Molekülen durch Veränderung der Zellfunktionen somit den ganzen Körper beeinflussen (siehe Abb. 2.1).

28

Mechanismen der Zellschädigung

Ionisierende Strahlen, ob sie nun von externen Quellen oder von im Körper inkorporierten radioaktiven Elementen kom-men, interagieren im exponierten Organismus mit Atomen, regen sie an und verursachen Ionisationen, wodurch ato-mare Hüllenelektronen freigesetzt werden, wie im Kapitel 1 dargelegt ist. Die negativ geladenen freien Elektronen haben je nach Strahlenqualität und Energie auf gewundenen Bah-nen im biologischen Material unterschiedliche Reichweiten in mikroskopischen Dimensionen. Für jede Strahlenart gibt es einen Mittelwert der Energie und damit auch eine mittlere Reichweite der erzeugten Elektronen. Im Falle von Röntgen- und Gamma-Strahlen entsteht pro atomarem Strahlenein-fangereignis primär ein aus der atomaren Hülle freigesetztes Elektron. Dieses hat bei 100 KeV Röntgenstrahlen eine mitt-lere Energie von etwa 6 KeV und reicht im Gewebe im Mittel etwa 1 µm weit. Entlang ihren gewundenen Flugbahnen kol-lidieren diese primären Elektronen unregelmäßig wiederum mit Atomen und kreieren damit ihrerseits erneut zahlreiche atomare Anregungen und Ionisationen, deren Zahl für ein etwa 6 KeV Elektron bei etwa 200 liegt. Abb. 2.1.3 zeigt das Beispiel eines mit etwa 0.5 mGy Röntgen-bestrahlten Ge-webes mit Elektronenbahnen (e-), und dazu ein zusätzlichen

-Teilchen ( ) aus dem Zerfall zum Beispiel eines radioakti-ven Polonium oder Radium Atoms. Ob Elektronen oder -Teilchen, die entlang ihrer Flugbahn im Gewebe erzeugten Ionisationen stellen Energieabsorptionsereignisse dar, die als mikroskopisch mehr oder weniger kompakte „Energiepa-kete“ imponieren.

29

Abb. 2.3

Je größer die Flussdichte von Strahlen, je dichter kommen primäre Strahleneinfangereignisse zustande und damit die Dichte der daraus resultierenden Energiepakete im Gewebe. Mit anderen Worten, je höher die Dosis ionisierender Strah-len je zahlreicher sind die Energiepakete pro Volumen des exponierten Gewebes. Im Falle der 100 KeV Röntgenstrah-

200 Ionisationen bringt die Absorption der gesamten Ener-gie eines solchen Paketes in einer Mikromasse von 1 ng,

auch, dass bei einer Ganzkörperdosis von 1 mGy dieser Röntgenstrahlen etwa jede Zelle im Körper im Mittel einmal von einem solchen Energiepaket getroffen wird. Wäre die Dosis Röntgenstrahlen über ein Jahr verteilt, wie dies bei chronischer Ganzkörperexposition vorkommen kann, würde jede Zelle des Körpers einmal im Jahr getroffen. Tatsächlich ist die natürliche Hintergrundstrahlung etwa in Höhe des Meeresspiegels in der hier für Röntgenstrahlen geschilder-ten Größenordnung, so dass man in Annäherung sagen kann, dass diese Hintergrundstrahlung für jede Zelle im Körper mindestens einmal im Jahr ein Energiepaket von et-wa 6 KeV bringt. Bei einem 70 kg schweren Menschen ent-spricht dies pro Sekunde etwa 2-3 Millionen solcher Zell-Treffer im ganzen Körper verteilt.

e-

Partikelbahnen in exponiertem Gewebe

Gewebe

Zellen

Matrix

Partikel-Bahnene- ; +

Normale Hintergrund-Strahlung bringt etwa 1-2 Treffer / Zelle / Jahr

Feinendegen LE, 2005

len mit den durch sie erzeugten Energiepaketen von etwa

d.h. in etwa einer Zelle, die Dosis von 1 mGy. Dies bedeutet

30

Die im exponierten Organismus entstehenden Teilchenbah-nen mit ihren Energiepaketen können zufällig jede Art von Gewebe- und Zellstruktur erfassen, wie aus Abb. 2.3 und auch Abb. 2.1 schematisch erkennbar ist. Die in den Energie-paketen, d.h. entlang der Flugbahn geladener Teilchen, von die-sen angeregten, bzw. ionisierten Atome bringen sekundär direkt molekulare Strukturveränderungen je nach Art des Atoms, sei-nem Platz in einem Molekül, und dem Ausmaß der Störung. Je nach Bedeutung des getroffenen Moleküls werden wiederum sekundäre Molekülreaktionen ausgelöst und dabei auch Sub-stanzen produziert, die für Zellen toxisch sein können. Da Ge-webe und Zellen zu etwa 80 % aus Wasser bestehen, finden entsprechende Anteile der Ionisationen an Wassermolekülen statt. Die getroffenen Wassermoleküle wandeln sich sehr rasch zum größten Teil in so genannte reaktive Sauerstoff-Verbin-dungen, die auch Sauerstoff-Radikale oder reaktiven Sauerstoff tragende Spezies von Molekülen (in englisch: reactive oxygen species, ROS), genannt werden. Hier ist in Anwesenheit von Sauerstoff in der Zelle die Radikalausbeute höher als in mit Sauerstoff schlecht versorgten Zellen. Die durch Strahlen indu-zierten ROS sind überwiegend identisch oder sehr ähnlich sol-chen ROS, die normalerweise in Sauerstoff nutzenden Zellen endogen durch eine Reihe biochemischer Reaktionen in ver-schiedenen Zellräumen und in großer Zahl insbesondere in den Mitochondrien ständig gebildet werden, von wo ein relativ klei-ner Teil auch in die Gesamtzelle gelangt. Während endogene ROS durchweg in bestimmten zellulären Räumen entstehen, sind die durch Strahlen induzierten ROS entlang der Teilchen-bahnen mit diesen rein zufällig verteilt ohne Rücksicht auf spe-zielle zelluläre Räume. Generell haben ROS ungeachtet ihrer Entstehung eine sehr kurze Lebensdauer, können aber über unmittelbar sekundäre molekulare Reaktionsprodukte nicht nur über Stunden sondern auch über größere Entfernungen in den Zellen wirksam sein. So sind ROS einerseits generell, ob sie durch Strahlen induziert sind oder endogen entstehen, potentiell toxisch durch ihre Bildung sekundärer molekularer Strukturver-änderungen mit womöglich Kaskaden von sekundären bioche-mischen Reaktionen, wo immer sich dazu die Gelegenheit bie-tet. So sind erwartungsgemäß mit Sauerstoff wohl versorgte Zellen generell strahlensensibler als solche, deren Sauerstoff-konzentration gering ist, wie bei vielen Tumorzellen. Anderer-seits haben vor allem in normalen Zellen plötzliche geringe Än-derungen von lokalen ROS-Konzentrationen auch Signalwir-

31

kung und können biochemische Stressreaktionen mit bio-positiven Wirkungen hervorrufen.

So interagieren ionisierende Strahlen mit zellulären Molekülen und Strukturen einmal direkt über atomare Ionisationen und indi-rekt über die Wirkung der von ihnen erzeugten ROS. Je höher der LET Wert, je geringer wird die Bedeutung der indirekten Ef-fekte von Seiten der ROS. Insgesamt haben geladene Teilchen mit einem hohen LET Wert, wie -Teilchen aus einem zerfal-lenden Atom, eine größere biologische Wirksamkeit als solche mit niedrigen LET Werten, wie Elektronen im Röntgen- oder Gammastrahlenfeld, und zwar je nach der Empfindlichkeit der Zellteile, die getroffen werden. Die als „Relative Biologische Wirksamkeit“ (RBW) bekannte Größe ist der Quotient von zwei Dosen unterschiedlicher Strahlenarten, die den gleichen Effekt herbei führen, wobei die als Vergleichstandard dienende Dosis (Dstd), meist von Röntgen- oder Gammastrahlen, im Zähler des Quotienten steht und die Dosis der zu prüfenden Strahlen im Nenner. So ist für einen definierten biologischen Effekt die RBW = Dstd. / Dx. RBW Werte schwanken und zwar je nach Höhe der Dosis, mit dem gemessenen Effekt, und mit der Art der Zellen und Gewebe, wobei zum Beispiel der RBW Wert für -Teilchengegen Röntgenstrahlen durchaus über 10 und nicht selten eher bei 20 liegen kann.

Strahlenempfindliche Teile der Zelle

Die zum einen direkten und zum anderen über ROS indirek-ten Wirkungen ionisierender Strahlen auf zelluläre Moleküle und Strukturen haben auf lebenswichtige Funktionen je nach ihrer Bedeutung für die betroffenen Zellen unterschiedliche Konsequenzen. Alle solche Substrate und biochemischen Verbindungen, die in vielen Kopien in der Zelle vorliegen und agieren, sind für Zellfunktionen offensichtlich weniger störanfällig, als solche Verbindungen, die solitär sind bzw. in nur wenigen Duplikaten aktiv sind. Zu den letzteren gehört vor allem das genetische Material, die DNS, welche zu über 90 % im Zellkern lokalisiert ist. Darüber hinaus erscheint es nicht überraschend, dass auch die zellulären Membranen als zelluläre Schutzwälle mit Transportfunktionen und als Träger von wichtigen Enzymen (siehe Abb. 2.1) relativ sen-sitiv und damit im Vergleich zu anderen zellulären Struktur-komponenten erhöht strahlenempfindlich sind. Zu den sensi-

32

Strahleneffekte in der DNS

+

e-

Indirekte Effektevon Radikalen (~ 80 %)

(~ 20 %)

H

O OH•

H

BasenverlustBasenänderung(~10 / 0.01 Gy)

EinzelstrangbrücheESB (~ 10 / 0.01 Gy)

DoppelstrangbrücheDSB (~ 0.4 / 0.01 Gy)

Quervernetzungen(~ 1-2 / 0.01 Gy)

Direkte Effekte

Röntgen-Strahlen

tiven Strukturen werden auch verschiedene, für die Zell-struktur und interne Signalgebung spezielle Einweißstruktu-ren gerechnet, wie die kleinen Fibern, Fibrillen. Da alle Kom-ponenten einer Zelle in komplexen Signalnetzen miteinander verbunden sind, bedeutet ein auch kleiner lokaler Strahlen-schaden in der Zelle immer auch eine gesamtzellulär wirk-same Funktionsbeeinträchtigung, auch wenn sie nur sehr kurz sein sollte.Die durch ionisierende Strahlen bedingten primären DNS-Schäden sind in Abb. 2.4 für den Fall einer Röntgenbestrahlung schematisch zusammengefasst. Die beiden Stränge der DNS werden durch komplementäre Basenpaare zusammengehalten, wobei jeweils ein Thymin mit einem Adenin und ein Cytosin mit einem Guanin gekoppelt ist. Schäden treten an diesen Basen wie auch in den Strängen bildenden Desoxyribose- und Phos-phatmolekülen auf. Die primären Schäden sind prinzipiell häufig aber nicht immer qualitativ ähnlich denjenigen DNS-Schäden, die von den ROS des normalen Zellstoffwechsels, d.h. von en-dogenen ROS, kommen. Besonders bedrohlich erscheinen die durch Strahlen induzierten DNS-Doppelstrangbrüche (DSB). Wie Abb. 2.4 zeigt, ist das Verhältnis der Zahl von Gesamt-schäden der DNS zur Zahl von DSB in Folge von Röntgenbe-strahlung etwa 50: 1.

Abb. 2.4

33

Bei endogener Verursachung hauptsächlich durch ROS liegt dieser Quotient nach Berechnungen und Messungen bei etwa 107: 1. Dies bedeutet, dass ionisierende Strahlen pro DNS-Schaden etwa hundert tausend Mal effizienter DSB erzeugen als dies Radikale von Seiten des Zellstoffwechsels tun. Jedoch entstehen bei der enormen Zahl von endogen entstehenden DNS-Schäden, die auf eine Million pro Zelle pro Tag geschätzt werden, auch DSB-Schäden mit zum Teil ähnlichen biochemi-schen Strukturen wie nach Bestrahlung. Dennoch erscheinen die biochemischen Strukturen der durch Strahlen induzierten DSB je nach Strahlenart zu einem hohen Anteil deutlich kom-plexer zu sein als die von endogenen ROS verursachten DSB. Man schätzt, dass pro Zelle pro Tag im Mittel tausend Mal mehr DSB von endogenen ROS als von normaler Hintergrundstrah-lung stammen.

Die Komplexität von Zellstrukturen und Funktionen lässt ver-ständlich erscheinen, dass Zellen in ihren Phasen zwischen zwei Zellteilungen unterschiedlich strahlenempfindlich sind. Ins-besondere ist die Phase zwischen der Reproduktion des DNS, die so genannte DNS-Synthese Phase, und die anschließende Phase bis zur darauf folgenden Zellteilung, Mitose, und die Mi-tose selbst besonders strahlensensitiv. Auch während der DNS-Synthese Phase durchlaufen Zellen unterschiedliche Perioden der Strahlenempfindlichkeit, die zum Teil mit der Zellkapazität zur DNS-Reparatur und deren Ablauf korreliert ist. Generell rela-tiv strahlenresistent ist die Zykluszeit zwischen der Mitose und der darauf folgenden Phase der DNS-Synthese. Diese Umstän-de sind vor allem auch für die klinische Tumortherapie wichtig.

Reparatur von Strahlenschäden in der Zelle

Um die schon oben erwähnte, enorme Zahl der unterschiedli-chen, endogen entstehenden DNS-Schäden unter Kontrolle zu halten, verfügen Zellen über feinst abgestimmte Reparaturme-chanismen. Diese haben sich im Laufe der Evolution wesentlich in Anpassung an die endogenen Schäden entwickelt und spre-chen nahezu immer auch auf durch ionisierende Strahlen verur-sachte Schäden an. Die DNS-Reparatur wird genetisch gesteu-ert und involviert weit über hundert bisher bekannte Gene. Für jede der bekannten DNS-Schäden stehen in der Zelle Enzyme bereit, welche sehr spezialisierte Aufgaben haben, wie zum

34

Beispiel für die Entfernung geschädigter DNS-Bausteine, d. h. von geschädigten Basen, für Neusynthese von DNS-Stücken an bestehenden komplementären DNS-Einzelketten, für das Aneinanderfügen von DNS-Bruchenden, je nach der Komplexi-tät des DNS-Schadens. Während die Reparatur von Basen-schäden und Einzelstrangbrüchen schnell abläuft mit Halb-wertszeiten von 5 Minuten bis zu 1 Stunde und einem Mittelwert von etwa 25 Minuten nach der Schädigung, dauert die Repara-tur von Doppelstrangbrüchen länger mit Halbwertszeiten von etwa 30 Minuten bis zu mehreren Stunden. Je komplexer die DSB sind, um so länger dauert die Reparatur, wenn sie über-haupt von der Zelle durchgeführt werden kann. Bei vorliegenden genetischen Defekten an Reparaturenzymen kann die Zelle DNS nur teilweise reparieren. Abb. 2.5 zeigt DNS-Reparaturen in bestrahlten Lymphozyten unterschiedlicher Personen, wobei „AT-Patient“ eine Person mit der Erkrankung Ataxia Telangiec-tasia identifiziert, bei der DNS-Reparaturenzyme teilweise feh-len.

Die Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der DNS-Synthese, d. h. Verdopplung, vor jeder Zellteilung ist bei Normalpersonen au-ßerordentlich gering; aber nicht vernachlässigbar. Dieser Fehler beträgt etwa10-10 pro Basenpaar in der DNS. Bei der DNS-Reparatur ist die Fehlerwahrscheinlichkeit höher und falsch re-parierte DNS-Schäden geben Anlass zu genetischen Mutatio-nen. Man rechnet bei Normalpersonen mit etwa einer Mutation pro Zelle pro Tag allein als Resultat der von endogenen ROS schließlich dauerhaft bleibenden DNS-Veränderungen in über-lebenden Zellen. Diese Mutationen sind wesentlich verantwort-lich für zelluläres Altern und damit auch für das Altern des Or-ganismus. Die spontane Krebshäufigkeit in der Bevölkerung wird hauptsächlich auf Fehler der DNS-Reparatur nach endo-gener Schädigung und das Versagen anderer Abwehrmecha-nismen zurück geführt, wie unten ausführlicher besprochen wird.

35

Strahlenempfindlichkeit von Zellen und Geweben

Lymphozyten, Stammzellen

Spermatogonien

Blutbildendes Knochenmark

Intestinale Epithelzellen

Haut

Nervenzellen

Muskelzellen

Knochen

Bindegewebe

Hoch

Niedrig

Abb. 2.5

Unterschiedliche Strahlenempfindlichkeiten im Körper

Je nach Zellart und -stoffwechsel kann die DNS-Reparaturkapa-zität unterschiedlich sein. Sie unterliegt, wie bereits erwähnt, wie andere zelluläre Prozesse genetischer Steuerung. Generell zei-gen die Lymphozyten und die unreifen Zellen, wie die Stamm-zellen zahlreicher Gewebe mit hohem Zellumsatz, eine höhere Strahlenempfindlichkeit als reifende Zellen, und diese wiederum sind strahlenempfindlicher als ausgereifte Zellen, wie sie z. B. im zirkulierenden Blut, der Haut oder Schleimhaut des Magen-Darmkanals anzutreffen sind. Abb. 2.6 gibt eine Auflistung von Zellen und Geweben, die nach ihrer Strahlenempfindlichkeit ge-ordnet sind.

DNS Reparaturin Lymphozyten (L) in Kultur

Reparaturzeit (Minuten)

Re

sid

ua

le D

NS

Sch

äd

en

(%

)

resistente L

sensible L

AT-Patient

hyper-sensible L

0

25

50

7

5

10

0

0 30 60 90 120 150 180

Müller WU et al., 2001

Abb. 2.6

36

Man kann die Strahlenempfindlichkeit von Zellen auf verschie-dene Weise messen. Die konventionell am meisten angewand-te Art ist die Bestimmung derjenigen Dosis, welche die überle-bende Fraktion der bestrahlten Zellen auf 50 % oder 37 % redu-ziert. Diese „Letal-Dosen“ (LD50 oder LD37). werden konventio-nell meist über die Erstellung von Dosis-Effekt-Kurven gefun-den. Diese geben den Anteil der überlebenden Zellen als Funk-tion der jeweils eingestrahlten Dosen von 0 bis zu mehreren Gy an. Bei solchen Kurven wird der Anteil der überlebenden Zellen logarithmisch auf der Ordinate (Y-Achse) ausgedrückt. So kann man direkt die Wahrscheinlichkeit der Zelltötung pro Dosis-Einheit auf der Abszisse (X-Achse) ablesen. Relativ strahlenre-sistente Zellen haben pro Dosis-Einheit bei kleinen Dosen nur eine geringere Wahrscheinlichkeit abzusterben, als pro Dosis-Einheit bei hohen Dosen. Die Kurve hat bei kleinen Dosen zu-nächst einen mehr oder weniger flachen Verlauf. Die Wahr-scheinlichkeit des Zelltodes pro Dosis-Einheit erhöht sich mit steigender Dosis bis zu einem Dosiswert, über den hinaus die Wahrscheinlichkeit des Zelltodes pro Dosis-Einheit konstant bleibt, das heißt, die Kurve beginnt nun eine gerade Linie zu werden. Die sehr strahlenempfindlichen Zellen zeigen diese Li-nearität schon bei kleinen Dosen. Der im linearen Verlauf der Kurve gemessene Wert der LD37 wird auch als D0 bezeichnet. Sie gibt die Dosis an, welche im Mittel mit der Wahrscheinlichkeit 1 eine Zelle tötet. Diese wichtige Dosis D0 wird erst messbar, wenn die bei kleinen Dosen aktiven Schutz- und Reparaturka-pazitäten der Zellen erschöpft sind.

Bei tödlicher Bestrahlung ist zumeist eine verbleibend schwere DNS-Schädigung die Ursache. Bei relativ geringe-ren verbleibenden DNS-Schäden überleben die Zellen und tragen damit eine vom Ausmaß der Schädigung abhängen-de Wahrscheinlichkeit, bleibende Mutationen weiterzugeben und je nach Art der Zelle und ihrer Veränderungen nach Jahren unter Umständen eine Krebserkrankung zu verursa-chen. Mehr dazu wird weiter unten besprochen.

Genom-Instabilität; Apoptose

Über unmittelbar von der Bestrahlung herrührende Mutationen können Zellen bei einem bestimmten Grad der DNS-Schä-digung solche Nachkommen bringen, die über viele Zellgenera-

37

tionen hinweg häufiger als normale Zellen von äußeren und in-neren Zellgiften betroffen Gen-Änderungen mit Mutationsanhäu-fungen zeigen. Solch befallene Zellen tragen dann das, was man eine Genom-Instabilität nennt, welche auch zur Krebsaus-lösung durch die befallenen Zellen beitragen kann. Es ist wahr-scheinlich, dass für die Induktion einer Genom-Instabilität eine zelluläre Dosis von etwa 0.1 Gy, hier bei niedrigem LET, erfor-derlich ist.

Eine weitere zelluläre Reaktion auf bereits relativ kleine Dosen von weniger als 0.1 Gy ist der signalinduzierte Zelltod, die so genannte Apoptose. Die Wahrscheinlichkeit der durch Strahlen induzierten Apoptose kann bei entsprechend vorgeschädigten bzw. empfindlichen Zellen dosisabhängig ansteigen. Apoptose erleiden auch physiologisch solche Zellen, die in Folge von ge-netisch programmierten lokalen Gewebeentwicklungen über-flüssig werden. Die durch Strahlen, insbesondere bei kleinen Dosen auch von Seiten normaler Hintergrundstrahlung, indu-zierte Apoptose von bereits DNS-Schäden tragenden Zellen wird als biopositiver Effekt der Schadensbeseitigung angese-hen.

So wird auf Grund ihrer zentralen Rolle den strahlenbedingten DNS-Schäden mit ihren Konsequenzen eine besondere Auf-merksamkeit in der bio-medizinischen Grundlagenforschung zu-teil. Je besser die DNS-Reparatur in einer Zelle, je höher ist ihre Strahlenresistenz und je geringer sind die verbleibenden Schä-den, mit denen der Gesamtorganismus soweit wie möglich zur Erhaltung seiner Lebensfähigkeit fertig zu werden hat.

Akute und chronische Bestrahlung

Die bisher besprochenen Effekte ionisierender Strahlen und bio-logischen Reaktionen betrafen die Folgen von akuter Strahlen-exposition, d.h. von Bestrahlung über eine sehr kurze Zeit im Sekunden- bis Minutenbereich. Zusätzliche Umstände müssen berücksichtigt werden, wenn eine Strahlenexposition über einen längeren Zeitraum anhält, entweder in einem dauernd beste-henden Strahlenfeld, z. B. bei der natürlichen Hintergrundstrah-lung, oder über bestimmte Zeiten an einem Arbeitsplatz mit kon-tinuierlicher Strahlenbelastung, oder bei kurzzeitig wiederholten Expositionen in Abständen von Minuten bis Stunden, wie z. B.

38

in einer Strahlenklinik bei nicht sorgfältiger Abschirmung des in-volvierten Personals.

Die oben besprochenen Gegebenheiten bei durch Strahlen in-duzierter zellulärer Schädigung erläutern, dass Strahleneinwir-kung stets über die Strahleneinfangereignisse abläuft, die mikro-skopisch kleine Energiepakete entlang von geladenen Teilchen deponieren, wie von Elektronen oder Alpha-Teilchen in Abb. 3 zu sehen ist. Wird eine bestimmte Dosis über einen längeren Zeitraum absorbiert, treten somit die individuellen Energiepake-te über die gesamte Expositionszeit verstreut auf, wodurch sich die einzelnen Treffer dosisabhängig unterschiedlich häufig in ei-nem bestimmten mikroskopischen Gewebeteil, wie in einzelnen Zellen, ereignen. Der zeitliche Abstand zwischen zwei aufein-ander folgenden Treffern von Energiepaketen in einem definier-ten Gewebeteil, wie im Bereiche einzelner Zellen, bestimmt die Zeit, welche eine Zelle zur vollen Reparatur oder Wiederherstel-lung ihres Funktionsgleichgewichtes zur Verfügung hat. Ist der zeitliche Abstand zwischen zwei aufeinander folgenden Treffern kürzer als eine Zelle zur optimalen Reparatur und Wiederher-stellung ihrer Funktion braucht, kann die Initialstörung oder Schädigung durch den zweiten Treffer erheblich verstärkt wer-den. Ist andererseits der zeitliche Abstand zwischen zwei auf-einander folgenden Treffern größer als die optimale Reparatur- und Wiederherstellungszeit, kann die Reparaturkapazität der Zellen voll genutzt werden. Hiernach verbleibende Schäden ak-kumulieren im Laufe der Zeit in langlebigen Zellen und deren Nachkommen.

Wie oben bereits angedeutet, bringt eine Exposition mit 100 KeV Röntgenstrahlen bei einer Dosis von 1 mGy etwa ein Ener-giepaket von im Mittel 6 KeV pro ng exponierten Gewebes, d.h. etwa pro Zelle. Wird die Dosis über ein Jahr hinweg kontinuier-lich dem Ganzkörper verabreicht, wird im Mittel jede Zelle im Körper in diesem Jahr einmal mit 1 mGy bestrahlt: So erhält hier an jedem Tag eine von annähernd 365 Zellen eine Dosis von zirka 1 mGy. Dieses Szenario entspricht in etwa dem der Expo-sition bei einer niedrigen natürlichen Hintergrundstrahlung. Im Hinblick auf die Signalvernetzung der Zellen und Gewebe lokal wie im ganzen Organismus sind bei der chronischen Strahlen-belastung die pro Zeit auftretenden Häufigkeiten von Strahlen-einfangereignissen mit ihren Energiepaketen in Zellen, bzw. Gruppen von Zellen im Gewebe, sowohl hinsichtlich der DNS-

39

Hall E, 2000

Chromosomen-Aberrationen (CA)nach Bestrahlung menschlicher Lymphozyten

Ringförmige CA Dizentrische CA; Fragment-CA

Schäden, als auch deren Reparatur, und der Induktion von adaptiven Reaktionen zu berücksichtigen. In diesem Zusam-menhang ist speziell der Bystander Effekt wichtig, wie unten in Abschnitt 2.2 weiter besprochen wird.

Biologische Dosimetrie

Schwere und bleibende DNS-Schäden können zu Strukturände-rungen von Chromosomen führen. Diese sind bei Zellteilungen leicht beobachtbar. Die relative Häufigkeit von Chromosomen-schäden zum Beispiel in speziellen, zirkulierenden weißen Blut-zellen, den Lymphozyten, können mit verschiedenen Methoden erkannt werden. Neben den rein strukturell schon direkt im Mik-roskop sichtbaren groben Veränderungen, d.h. Aberrationen, werden auch einzelne Abschnitte von Chromosomen und deren Verschiebungen innerhalb oder zwischen Chromosomen durch moderne Methoden der Färbung deutlich. Abb. 2.7 zeigt einen zellulären Satz von Chromosomen, die zum Teil durch Bestrah-lung verändert worden sind.

Abb. 2.7

Die Häufigkeit von DNS-Schäden wie auch von Chromosomen-veränderungen in bestrahlten Zellen ist je nach Strahlenart mit dem Ausmaß einer Strahlenexposition, d.h. der absorbierten Strahlendosis, korreliert, wie dies schematisch die Abb. 2.8 zeigt. Daher können sowohl bleibende DNS-Schäden wie auch die verschiedenen Chromosomenveränderungen zur biologi-

40

Die Häufigkeit von DNS-Schäden wie auch Chromosomen-Aberrationen

in bestrahlten Zellen steigt progressiv mit der Strahlendosis

Absorbierte Dosis

DN

S-S

chad

en

schen Dosimetrie herangezogen werden. Ganzkörperbestrah-lungen bis herunter zu Dosen um 0,1 Gy sind auf diese Weise im exponierten Körper zum Beispiel nach einem Unfall relativ genau bestimmbar.

Lymphozyten mit Chromosomenaberrationen, wie sie in Abb. 2.7 zu sehen sind, haben nur eine beschränkte Lebensdauer und verschwinden je nach Typ innerhalb von Wochen bis Mona-ten aus dem peripheren Blut. Deswegen sollte die Zeit nach der Strahlenexposition bei der Auswertung der Daten Berücksichti-gung finden. Biologische Dosimetrie dieser Art sollte so früh wie möglich nach einem Strahlenunfall angewandt werden. Bei Teil-körperbestrahlungen verlangt die biologische Dosimetrie über die Auswertung von Chromosomenaberrationen in Lymphozy-ten zusätzliche Rücksicht auf die Tatsache, dass die beobachte-ten Lymphozyten während der Exposition im ganzen Körper zir-kulierten.

Abb. 2.8

2. 2. Wirkungsweise ionisierender Strahlung auf vielzellige Organismen

Wie schon einzelne Zellen außerordentlich komplexe Sys-teme sind, in welchen alle Elemente mit ihren direkten und indirekten Wechselwirkungen von zahlreichen lokalen struk-turellen und biochemischen Faktoren beeinflusst werden und die Zelle als ganzes reagieren lassen, muss auch auf der Ebene der Gewebe und Organe das Gesamtsystem mit seinen Vernetzungen von Zellen in lebenswichtigen Struktu-

41

ren und Funktionen berücksichtigt werden. Auch in diesem Zusammenhang sind Strahlenwirkungen dosis- und zeitab-hängig zu betrachten, wie bereits oben erwähnt wurde. So-wohl die so genannten Bystander Effekte, die meist lokal im Gewebe berücksichtigt werden, als auch entferntere Einwir-kungen auf das Funktionsgleichgewicht des Gesamtsystems können bedeutsam sein. Funktionsgleichgewicht, auch als Homöostase bezeichnet, besteht innerhalb von Zellen, zwi-schen den Zellen und den verschiedenen Geweben und Or-ganen des Körpers und wird über die zwischen diesen allen wirkenden Signalvernetzungen aufrecht erhalten. Die vielfäl-tigen hier involvierten biochemischen Mechanismen sind wie alle Zellfunktionen letztlich unter genetischer Kontrolle und hängen auch vom individuellen Alter, von der Lebensweise und von Umwelteinflüssen ab.

Bystander Effekte

Im Laufe des letzten Jahrzehntes haben zahlreiche Experi-mente deutlich gemacht, dass bestrahlte Zellen im Verband mit anderen Zellen entweder in Kultur oder auch im intakten Organismus kurz nach Bestrahlung, innerhalb von Stunden, Substanzen ausscheiden können, die nicht-bestrahlte Zellen in der Nachbarschaft der bestrahlten Zellen beeinflussen können. Bei diesen Vorgängen spielen direkte Zellkontakte sowie auch außerhalb der Zellen diffundierende Substanzen eine Rolle, deren chemisch-biochemische Natur gegenwär-tig intensiv erforscht wird. Diese in nicht-bestrahlten Zellen erscheinenden aber von bestrahlten Zellen ausgelösten Wir-kungen werden Bystander Effekte genannt. Abb. 2.9 zeigt schematisch die von einer bestrahlten Zelle ausgelösten Wirkungsrichtungen.

Bei der Auswertung von Verteilung und Häufigkeit von DNS-Schäden und Zelltod in Kulturen, in denen einzelne Zellen gezielt mit unterschiedlichen Dosen bestrahlt wurden, zeigte sich, dass Bystander Effekte bei kleinen Dosen von etwa 1 mGy kaum erkennbar sind, danach ansteigen bis zu ei-nem Plateau der Wirkung bei etwa 0.1-0.2 Gy. Bei -Strah-len wurde das Wirkungsplateau bei etwa 2 Teilchen in der den Effekt auslösenden Zelle erreicht. Solche Bystander Ef-fekte sind nicht nur in der Lage, in nicht bestrahlten Zellen

42

Signale zwischen Zellen in Matrix und Gewebe

Gewebe

ZellenMatrix

GetroffeneZelle

= Bystander Effekte

Zell-verbindung

Feinendegen LE, 2005

DNS-Schäden inklusive DSB zu verursachen, sondern auch, wie weiter unten besprochen, biopositive Wirkungen. In die-sem Zusammenhang ist ein besonderer Bystander Effekt zu sehen, der in nicht bestrahlten Nachbarzellen bestimmte Signale induziert, welche dann durch Rückwirkung in einem zweiten Schritt die bestrahlte Zelle zum Selbstmord, d.h. zur Apoptose, bringt. Dadurch wird die primär geschädigte Zelle als Schadensträger aus dem Gewebe eliminiert.

Es ergibt sich somit, dass in einem Organismus, in dem auf Grund einer sehr kleinen Dosis nur einzelne Zellen ein Strahleneinfangereignis mit einem Energiepaket erleiden, die Zahl der auf dieses Ereignis reagierenden Zellen größer als die Zahl der getroffenen Zellen ist. Daher wird auch dis-kutiert, ob einerseits die Wahrscheinlichkeiten einer Krebs-erkrankung und das Ausmaß anderer zellulärer Reaktionen im so bestrahlten Organismus bei kleinen Dosen größer sind als auf der Basis einer linearen Dosis-Risiko Beziehung er-wartet würde. Da diese Verhältnisse für den Strahlenschutz von großer Bedeutung sind, wird auf diesem Gebiet gegen-wärtig intensiv geforscht. Wie weiter unten ausgeführt ist, erscheint es unwahrscheinlich, dass der Bystander Effekt bei sehr kleinen Dosen über Vervielfachung von DNS-Schäden im Gewebe nennenswert zu einer Erhöhung der Krebswahrscheinlichkeit beiträgt.

Abb. 2.9

43

Zelluläre Moleküleantworten

Organe

Gewebe

Interzelluläre+ Matrix Signale

IntrazelluläreSignale

Neuro-HormonaleSignale

Ausmass der StörungStress

Sie antworten auf Störungen der Homöostase, je nach

Adaptiver Schutz Schaden

Zellen

Spezies, Zelltyp undStoffwechsel

Feinendegen LE, 2005

Signalnetze in biologischen Systemen

Strahleninduzierte Störungen des biologischen Gleich-gewichtes, adaptive Reaktionen

Die von ionisierenden Strahlen erzeugten primären Interaktionen mit Atomen entlang der Teilchenflugbahnen mit ihren direkten und indirekten Wirkungen auf Moleküle können je nach Art und Ausmaß sekundär auf Strukturen und die mit ihnen gegebenen Funktionen auf den verschiedenen Organisationsebenen des Körpers einwirken. Diese dosisabhängigen Beeinflussungen und deren zeitliche Abfolge werden wesentlich durch den hierarchischen Aufbau des Körpers bestimmt. Innerhalb der einzelnen biologischen Organisationsebenen sowie zwischen diesen Strukturen werden alle lebenswichti-gen Funktionen, die das strukturelle Zusammenwirken des Organismus garantieren, in einem äußerst komplexen Sig-nalnetz miteinander koordiniert und aufeinander abge-stimmt, um die Homöostase aufrecht zu erhalten. Das für Homöostase nötige Signalnetz arbeitet, wie bereits oben resümiert, innerhalb von Zellen, zwischen Zellen und Matrix,

zwischen Zellen verschiedener Organe und Gewebe. Alle Signale erfassen schließlich Zellen, welche die besonderen Funktionen eines Organs und Gewebes bestimmen. Die Abb. 2.10 veranschaulicht schematisch die wesentlichen drei Signalschleifen in einem Körper.

Abb. 2.10

d. h. extrazellulären Gewebestrukturen eines Organes, und

44

Jede Einwirkung auf die verschiedenen, übergreifenden Sig-nalschleifen, ob durch äußere oder innere Reizfaktoren, führt zu Reaktionen innerhalb der Signalnetze mit dem Ziel der Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Homö-ostase der aufeinander abgestimmten Funktionen des Ge-samtkörpers sowie seiner Teile. Bei geringfügigen lokalen oder weitreichenden Störungen des Systems wie bei Stress wird Homöostase in den betroffenen Systemkomponenten durch Rückkopplungsmechanismen relativ schnell wieder optimiert.

Darüber hinaus induziert eine gegebene Stresssituation mit Verzögerung meist vorübergehend eine Anpassung derge-stalt, dass das System auf erneute Störung weniger anfällig ist. Beispiele für solche mit zeitlicher Verzögerung erkennba-ren adaptiven Reaktionen sind Zunahme von Muskelmasse nach körperlichem Training, oder Bräunung der Haut nach mäßiger UV Strahleneinwirkung, oder Immunschutz vor In-fektionen nach Impfung. Kommt es zu einer Zerstörung der durch Signale gesteuerten Koordination durch Ausschaltung der funktionstragenden Strukturen, bricht das System lokal zusammen und kann, wenn es nicht repariert wird je nach Schweregrad schließlich zum Untergang des Gesamtorga-nismus führen. Beispiele sind wiederum Kreislaufzusam-menbruch beim übermäßigem Training, oder Verbrennun-gen der Haut bei übermäßiger UV-Bestrahlung, oder tödli-che Infektionen bei Immunschwäche.

Abwehr- und Reparaturmechanismen vielzelligerSysteme

Ionisierende Strahlen sind allgemein in der Lage einerseits Schäden zu setzen wie auch Stressreaktionen auszulösen. Das Verhältnis der beiden Rektionsmuster zueinander ver-schiebt sich zu Schäden mit steigender Dosis. Je nach Höhe der Dosis und damit je nach dem Grad der Einwirkung auf Strukturen kann der bestrahlte Körperteil sofort erkranken und nach Überwindung der akuten Krankheit viele Jahren später über zelluläre Gen-Veränderungen überlebender Zel-len einen bösartigen Tumor entwickeln. Die Wahrscheinlich-keit einer akuten Strahlenkrankheit sowie auch einer Krebs-erkrankung hängt wiederum von der Fähigkeit des gesam-

45

ten Organismus ab, Störungen im System zu korrigieren, bzw. Krebszellen als Ursachen von Störungen zu beseiti-gen. Bei einer Einschränkung dieser Korrekturen im System wird z. B. einer Krebsentwicklung ebenso Vorschub geleis-tet, wie anderen Erkrankungen, die von solchen Korrekturen in Schach gehalten werden, zum Beispiel verschiedene In-fektionskrankheiten.

Dass ein gesunder Organismus über immense Abwehrkräfte verfügt, ist nicht nur eine tägliche Erfahrung, zum Beispiel bei der Immunabwehr von Infektionen, sondern zeigt sich auch in den Quantitäten der Schäden, die nach Bestrahlung in den verschiedenen Organisationsebenen des Körpers er-kennbar werden. Solche Daten sind in der Abb. 2.11 für den Fall einer Strahlenexposition mit 1 mGy im roten Knochen-mark zusammengefasst.

Bei Bestrahlung des roten Knochenmarks als besonders strahlenempfindliches Gewebe mit 1 mGy Röntgenstrahlung wird pro Zelle, wie oben erklärt, im Mittel ein Strahlenein-fangereignis mit dem entsprechenden Energiepaket erzeugt. Dieses verursacht direkte und indirekte Wechselwirkungen mit zellulären Substraten. So entstehen durch Ionisierung von Wassermolekülen etwa 150 Sauerstoff-Radikale; insge-samt werden etwa 2 Veränderungen der DNS beobachtet, und davon sind etwa 1 DNS-DSB in jeder fünfundzwanzigs-ten Zelle, und die Wahrscheinlichkeit einer Chromosomen-aberration, wie sie Abb. 6 zeigt, ist pro Zelle etwa 1 zu 10.000. Während diesen Daten präzise Messungen zu Grunde liegen, ist die Wahrscheinlichkeit einer so getroffe-nen, potentiell Leukämie bildenden Stammzelle, eine tödli-che verlaufende Leukämie auszulösen, eine Schätzung. Sie beruht auf der linearen Extrapolation der bei hoher Dosis beobachteten Leukämierate pro Dosiseinheit, wie sie unten im Abschnitt 2.4.2.4 besprochen ist. So ergibt sich für die tödliche Leukämie ein geschätztes Risiko von etwa 1 zu einhundert Billionen (10-14) pro blutbildender Stammzelle pro 1 mGy. Mit anderen Worten, die Wahrscheinlichkeit einer tödlichen Leukämie pro DNS-DSB in der Stammzelle ist hier ungefähr 10-12, d. h. bei 1 zu einer Billion. Die immense Zahl von DNS-DSB, die hier für eine tödliche Leukämie nötig sind, verdeutlicht die Fähigkeit des gesunden Organismus

46

Atome

Moleküle

Zellen

Gewebe

Organismus~ 10-14 Maligne Transformation

mit tödlichem Krebs

~ 10-4 Chromosomen Aberr.

~ 4 x 10-2 DNS - DSB

~ 2 DNS Änderungen

~ 150 Sauerstoff-Radikale

Risko für eine Stammzellepro 1 mGy 100 kV Rö.-Strahlenim menschlichen roten Knochenmarkdurch Extrapolation von hoher Dosis

Röntgen-Strahlen

?

Der Körper alskomplex adaptives Systemin verschiedenen Ebenen

Feinendegen LE et al, 1995

Abb. 2.11

zur Schadensabwehr und lässt die oft von Nichtfachleuten gehörte Aussage, dass jeder durch Strahlen induzierte Dop-pelstrangbruch eine potentiell krebsauslösende DNS Stö-rung ist, als zumindest übertrieben und sogar als unge-rechtfertigt erscheinen.

Die dem Körper physiologisch gegebenen Reparatur- und Abwehrmechanismen sind, wie bereits aus den Abb. 2.10 und 2.11 zu erkennen, überaus vielfältig und auf jeder Or-ganisationsebene wirksam. Sie umfassen biochemische Entgiftungsreaktionen, vor allem von ROS, zelluläre Repara-turmechanismen, vor allem von DNS-Schäden, Änderungen des Zellzyklus zwischen Zellteilungen, und Beseitigung von geschädigten Zellen einmal durch signalausgelösten Zell-tod, Apoptose, zum anderen durch Immunreaktionen, und auch durch Differenzierung zu Zellen mit begrenzter Le-bensdauer. Die beseitigten Zellen werden durch Nachschub funktionstüchtiger Zellen ersetzt. Daraus ergibt sich, dass jede Organisationsebene Barrieren setzt, die Schäden so-zusagen aszendierend überwinden müssen, um zu einer Gesundheitsstörung zu führen. Die kaskadenförmig aszen-dierend aktiven Abwehr- und Korrekturmechanismen auf den verschiedenen Organisationsebenen des Körpers rea-gieren prinzipiell in ähnlicher Weise insofern, als das jeweils

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reagierende System eine Störung, bzw. Schädigung zu-nächst auf seiner Ebene blockiert und erst dann auf höhere Ebene weiter gibt, wenn die Störung bzw. Schädigung von dieser Ebene nicht ausreichend kompensiert oder beseitigt werden kann. So kann Schaden von der molekularen auf die zelluläre, Gewebe- bzw. Organebene, und schließlich auf Gesamtkörper-Ebene verstärkt zur gesundheitlichen Be-drohung werden. Aus dieser Darlegung ergibt sich, dass die Wahrscheinlichkeit einer bedrohlichen Gesundheitsstörung keinesfalls proportional mit dem Ausmaß eines Schadens auf der molekularen Ebene, inklusive der DNS, ansteigt, sondern dass auf jeder Ebene zunächst ein bestimmter Mi-nimalschaden vorhanden sein muss, bevor er die Barriere der Abwehrmechanismen durchringt. Die Wahrscheinlichkeit der Überwindung einer solchen Barriere ist sicherlich auch abhängig von Art, Qualität und Quantität, die ein gegebener Anfangsschaden besitzt. Auch bei der Entstehung einer Krebserkrankung aus einer bösartig transformierten Zelle mit lokaler Vermehrung, d.h. mit klonalem Wachstum, sind die genannten Abwehrmechanismen auf zellulärer und Ge-webe bzw. Organebene wesentlich über das Immunsystem wirksam. Es ist offensichtlich, dass die hier kurz angedeute-ten Reaktionsmuster bei Störungen biologischer Systeme auf ihren verschiedenen Organisationsebenen für das Ver-ständnis der akuten und späten Strahlenwirkungen und ihrer Risiken bedeutsam sind.

Stochastische Strahlenwirkungen

Die Unterscheidung zwischen so genannten stochastischen und deterministischen Wirkungen von ionisierenden Strah-len bedarf einer grundsätzlichen Erläuterung. Stochastisch werden allgemein solche Schäden genannt, welche durch zufällige Interaktionen von durch ionisierende Strahlen er-zeugten Energiepaketen mit biologisch bedeutsamen Struk-turen, wie dem genetischen Material, proportional zur Zahl der Interaktionen ausgelöst werden. Folgendes Beispiel mag dies erläutern. Mit einem Beil lassen sich Kerben in einen Holzstamm von bestimmter Härte schlagen. Die Tiefe der Kerbe hängt von der Kraft ab, mit der das Beil auf das Holz trifft. Jedoch ist eine minimale Kraft nötig, um überhaupt ei-

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ne Kerbe zu erzeugen. Andererseits kann eine bestimmte Kerbentiefe durch eine bestimmte Kraft des Beiles erzeugt werden. Nimmt man allerdings nun zahlreiche solcher Holz-stämme und bearbeitet sie alle parallel oder hintereinander getrennt mit einem definiert kräftigen Beilschlag, so zeigt sich, dass die Kerbentiefe nicht immer ganz genau gleich ist sondern dass sie um einen Mittelwert schwankt. Die Zahl der Kerben in diesem Beispiel steigt mit der Zahl der Beil-schläge jeweils auf einen getrennten Holzstamm. Man sagt auch, dass hier die Zahl der Kerben linear mit der Zahl der definierten Beilschläge im Kollektiv der bearbeiteten Holz-stämme ansteigt. Diese Situation findet ihre Analogie in der Schädigung der DNS in einem Strahlenfeld. Die DNS bietet ein Kollektiv von räumlich getrennten Abschnitten, welche im obigen Beispiel den Holzstämmen entsprechen. Die von ionisierenden Strahlen im Gewebe erzeugten Energiepakete haben einen mittleren Wert pro Strahlenart und stellen somit Kraftinkremente dar, die im obigen Beispiel den definierten Beilschlägen entsprechen. Mit der Dosis steigt die Zahl der erzeugten Energiepakete pro Einheit Gewebemasse an, wie obern besprochen, und dementsprechend steigt die Zahl der von diesen bewirkten DNS-Veränderungen, welche im obi-gen Beispiel der Zahl der Kerben mit einer bestimmten Tiefe entsprechen. Welche DNS-Abschnitte von Energiepaketen direkt und indirekt getroffen werden, ist weitgehend zufällig. Wenn allerdings die Dosis soweit ansteigt, dass zahlreiche Energiepakete sich überschneiden und so gemeinsam auf einen DNS-Abschnitt stoßen, werden zunehmend schließ-lich alle DNS-Abschnitte nicht nur einmal getroffen. Der dar-aus resultierende lokale Zusammenbruch macht das Aus-maß des Gesamtschadens größer als die Summe der Ein-zelschäden.

Es ist somit offensichtlich, dass unterhalb einer bestimmten Dosis für eine bestimmte Strahlenart die Zahl der DNS-Schäden linear mit der Dosis ansteigt, und bei steigender Dosis, je nach Strahlenart Effektüberschneidungen auftre-ten, was sich durch einen Übergang in eine exponentiell steigende Effektkurve ausdrückt. Diese Art von Dosis-Wir-kungskurve folgt dann zunächst der Funktion E = D x D2,wobei E der Effekt und D Dosis ist, und und sind die für niedrige wie höhere Dosen gemessenen Proportionalitäts-

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konstanten. Bei weiter ansteigender Dosis beginnt der Effekt zunehmend abzunehmen, weil die involvierten Zellen ab-sterben und den Effekt nicht mehr zeigen können, wie dies in Abb. 2.12 zu sehen ist.

Es ist unbestritten, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Zel- le mit einer Latenzzeit von vielen Jahren eine Krebserkran-kung auslöst, von der Schädigung ihrer DNS abhängt. Diese Erkenntnis und die auch experimentell bestätigte Proportiona- lität zwischen DNS-Schäden und der Dosis unterhalb eines be- stimmten Wertes stellen die Grundlage der Annahme, dass die Häufigkeit von Krebserkrankungen linear mit der Dosis bis zu einem bestimmten Wert ansteigt. Da die DNS-Schäden, die für eine Krebserkrankung wesentlich sind, durch Strah-len verursachte, zufällig treffende Energiepakete entstehen, bezeichnet man die durch ionisierende Strahlen bedingten Krebserkrankungen auch als stochastische Spätschäden.

Wie schon im vorigen Abschnitt und unten des weiterten dargelegt ist, wird bei der Annahme der linearen Beziehung zwischen absorbierter Dosis und Krebshäufigkeit in einer exponierten Population allerdings oft übersehen, dass gera-de im kleinen Dosisbereich auch solche Zell- und Gewebe-reaktionen auftreten, die als Antworten im Kontext des ge-samten biologischen Systems auf Störungen der Homöosta-se zu verstehen sind. Wie bereits besprochen, wird durch den Versuch des biologischen Systems zur Wiederherstel-lung der Homöostase, die Weitergabe von Schäden aufstei-gend zu höheren Organisationsebenen erschwert oder ganz unterbunden. Darüber hinaus tendieren diese Reaktionen vor allem bei kleinen Dosen zur Auslösung von den bereits erwähnten adaptiven Veränderungen in dem Sinne, dass das betroffene biologische System für eine bestimmte Zeit vor erneuter Attacke ähnlich wirkender toxischer Substan-zen, wie z. B der im Stoffwechsel ständig gebildeten ROS, geschützt wird.

Die stochastische Dosis-Effekt-Kurve in Abb. 2.12 beginnt hier konventionell mit einem linearen Ansatz ( D) und das Fragezeichen soll die in den letzten Jahren bekannt gewor-dene Unsicherheit im kleinen Dosisbereich betonen, worauf später noch einmal verwiesen wird. Der spätere Kurvenver-lauf folgt der Gleichung D + D2.

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Dosis-Effekt Kurven bei niedrig-LET Strahlung

Stochastische Effekte Deterministische Effekte(Späte E.) (Meist akute E.)

D + D2 Schwelle

Niedrige Dosis Region: < 200 mGy

E (

W)

E (

S)

D D

D?

Abb. 2.12

Deterministische Strahlenwirkungen

Unter deterministischen Strahlenwirkungen versteht man solche Effekte, deren Schweregrad mit der Dosis, d. h. der einwirkenden Kraft, ansteigt. Um beim obigen Beispiel der Beilschläge auf Holzstämme zu bleiben, wird die Tiefe einer Kerbe im Holzstamm von der Kraft des Beilschlages be-stimmt. Bei sehr geringem Beilschlag kommt es je nach Här-te des Holzes nicht zur Kerbe. Und jenseits einer bestimm-ten starken Wucht des Beilschlages wird der Holzstamm stets voll zertrennt und zwar dann unabhängig von der Wucht des Beilschlages. Wenn dieses Beispiel auf Strah-lenexposition übertragen wird, entspricht eine Dosis be-stimmter Strahlenart mit ihren Energiepaketen einer Summe von Beilschlägen für dieselbe Kerbe. Wenn die Summe der primären biologischen Schäden einen gewissen Wert über-schreitet, wird eine bestimmte Zahl von Zellen entweder in-nerhalb kurzer Zeit in ihren Funktionen wesentlich verändert oder stirbt, so dass z. B. die Gewebefunktion nicht mehr voll aufrecht erhalten werden kann. Um einen solchen System-schaden zu machen, muss die absorbierte Dosis einen Min-destwert übersteigen. Mit einer Maximaldosis wird auch das Maximum eines definierten Schadens erreicht, z. B. alle Zel-

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len inaktiviert oder getötet, und bei einer weiteren Dosiser-höhung bleibt es beim Plateau des maximalen Schadens. Deterministische Schäden können sich als akute Strahlen-krankheit oder mit einer Latenzzeit von Jahren in verschie-denen Geweben, wie Haut, Lunge, Bindegewebe als chroni-sche Erkrankungen manifestieren.

Den verschiedenen Formen der akuten wie auch chroni-schen Strahlenkrankheiten ist gemeinsam, dass sie durch Ausfall von funktionstragenden Zellen entstehen. Nur dann kommt es zur klinischen Erkrankung, wenn die Zahl der aus-fallenden Zellen mit organspezifischen Funktionen einen für ein Organ bestimmten Wert überschreitet. Wie später weiter ausgeführt, wird der natürliche Verlust von Zellen mit organ-tragenden Funktionen durch Zellnachschub über Zellver-mehrung und -reifung kompensiert. Hierbei ist die Integrität der Stammzellen als Vorläuferzellen für die Aufrechterhal-tung der Zellerneuerung wesentlich. Knochenmark-Stamm-zellen sind generell besonders strahlenempfindlich, wie auch Abb. 2.6 zeigt. Die Schwere einer Strahlenkrankheit geht einher mit der Höhe des Verlustes an Stammzellen. Da die Zeit vom Stammzellenstadium über die Zellvermehrung und Zellreifung zur Ausbildung von Funktionszellen mehrere Tage in Anspruch nimmt, treten die Folgen von strahlenin-duziertem kritischen Verlust zum Beispiel von blutbildenden Stammzellen mit Verzögerung von etwa 6 Tagen auf; es kommt zu einem zunehmenden Mangel an reifen weißen Blutzellen und Blutplättchen, neben einem schon früher er-kennbaren abrupten Abfall der im Blut zirkulierenden Lym-phozyten, die ähnlich den Stammzellen relativ strahlenemp-findlich sind. Infektbereitschaft und Blutungen des betroffe-nen Organismus sind nach Tagen auftretende herausragen-de klinische Symptome.

So zeigen Dosis-Effekt Beziehungen für akute und chroni-

te in Abb. 2.12 einen Dosis Schwellenwert für das Auftreten des jeweiligen Effektes. Mit steigender Dosis nimmt das Ausmaß der Erkrankung zu, bis das Krankheitsbild maximal

zeigt einen so genannten sigmoiden Verlauf, der zum Pla-teau des maximalen Effektes führt.

ausgeprägt ist, d. h. die deterministische Kurve in Abb. 2.12

sche Strahlenkrankheiten als deterministische Strahleneffek-

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Genetische Strahlenwirkungen

Die bisher angeführten Strahleneffekte werden generell als „somatische“ Strahlenwirkungen bezeichnet, da sie biologi-sche Systeme als Ganz- oder Teilkörper betreffen. Hiervon getrennt sollen diejenigen Effekte gesehen werden, die man allgemein als „genetische“ Strahlenwirkungen kennt. Diese entstehen durch Bestrahlung von Keimgewebe, wie Hoden, in denen Samenzellen gebildet werden, und Eierstöcke, in denen Eizellen seit Geburt angelegt sind. Genetische Strahlenschäden können über mehrere Generationen vererbet werden und be-ruhen auf strahleninduzierten DNS-Schäden in den Keimzellen. Genetische Schäden mit den von ihnen hergeleiteten Muta-tionen äußern sich generell als körperliche Veränderungen in der Nachkommenschaft von Individuen, deren Keimgewe- be einer gewissen Dosis ausgesetzt worden sind. Die Varia-bilität von strahleninduzierten Mutationen kann um den Faktor 35 schwanken, so dass man generell eher von einer durch-schnittlichen Mutationsrate spricht. Von Tierexperimenten wird abgeleitet, dass die Dosis, nach der sich die spontane Muta-tionsrate verdoppelt, – sie wird als Verdopplungsdosis be-zeichnet, – etwa bei 1 Gy liegen dürfte. Bei Menschen sind ge-netische Strahleneffekte in diesem Bereich bisher kaum er-kennbar geworden und daher für Risikoanalysen nicht aus-wertbar.

Von den genetischen Schäden sind solche Schäden zu unter-scheiden, die als Konsequenz von Bestrahlungen von Individu-en in embryonaler oder fötaler Entwicklung auftreten, wie später besprochen wird.

Faktorenabhängigkeit der Strahlenwirkungen

Die unterschiedlichen Strahlenwirkungen sind je nach ihrer Art von einer Reihe von Faktoren abhängig, die im wesentli-chen oben besprochen und Abb. 2.13 zusammengefasst sind.

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Strahlen-

wirkung

Strahlen-art

Zell-TypeMilieu

Dosis

Dosisin der Zeit

Dosis im Raum

Strahlen-empfindl.

Abb. 2.13

2.3 Akute Strahlenschäden

Zellerneuerungssysteme

Akute Strahlenschäden treten klinisch je nach Dosis und ihrer räumlichen und zeitlichen Verteilung in sehr unterschiedlicher Weise auf. Der Grund hierfür liegt in der breit gefächerten Strahlenempfindlichkeit einer Reihe von Zellerneuerungssys-temen mit ihren jeweiligen Stammzellen. Insbesondere sind hier wichtig das blutbildende System im roten Knochenmark, das Schleimhautsystem des gesamten Verdauungstraktes, und die äußere Haut. Eine weitere wesentliche Rolle spielen die Lymphknoten, in denen die meisten Lymphozyten für das zirkulierende Blut und die Gewebe des Körpers gebildet wer-den.

Den genannten Zellerneuerungssystemen ist gemeinsam, dass ein relativ hoher täglicher Verlust von Funktionszellen durch Zellvermehrung und -reifung von Vorläuferzellen wett ge- macht werden muss, um das Gleichgewicht zwischen Zellver-lust und Zellerneuerung aufrecht zu halten. Im Durchschnitt wer-den im erwachsenen menschlichen Körper täglich etwa 550 g Zellen verloren, die ersetzt werden müssen. Davon sind etwa 490 g Zellen, die im Blut zirkulieren. Die für den Zellnach-schub erforderlichen jeweiligen Vorläuferzellen werden nach Bedarf aus dem Reservoir von Stammzellen geliefert, wobei die Teilung der Stammzellen je eine Vorläuferzelle und eine neue

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Stammzelle bringt. Die verschiedenen Zellerneuerungssys-teme gehorchen speziellen Signalsubstanzen, welche die Homöostase im System sehr genau regulieren. Die Abb. 2.14 zeigt das Schema von Zellerneuerungssystemen.

Strahlensensibel Strahlenresistent

Stammzelle Zellvermehrung -reifung Funktionszellen

Schema System der Zellerneuerung

Abb. 2.14

Für die Entwicklung von Strahlenkrankheiten ist die immer re-lativ hohe Strahlenempfindlichkeit der für ein Gewebe jeweils zuständigen Stammzellen ausschlaggebend. Die Blut bilden-den Stammzellen sind ähnlich strahlenempfindlich wie die Lymphozyten, die Stammzellen der Haut und die der Schleim-häute des Verdauungstraktes sind strahlenresistenter. Bei anderen Geweben, wie zum Beispiel bei Bindegewebe, Ge-hirn, Lunge, Niere und Leber, ist der Zellumsatz außerordent-lich oder wesentlich geringer, wodurch deren Strahlenemp-findlichkeit vorwiegend durch die Funktionszellen bestimmt wird. Es ist somit erklärlich, dass unterschiedliche Ganzkör-perdosen unterschiedliche klinische Symptome auslösen.

Akute Strahlenkrankheiten nach einmaliger Ganzkörper-exposition

Die Symptome der verschiedenen Formen der akuten Strah-lenkrankheit sind in Abb. 2.15 schematisch zusammenge-fasst, und zwar als Folge einer akuten, d.h. kurz dauernden, Strahlenexposition des Ganzkörpers mit unterschiedlichen

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Dosen in Sv. Die Ordinate (Y-Achse) zeigt die Dosen, bei der die Krankheiten auftreten, und die Zeit ihrer maximalen Entwicklung zeigt die Abszisse (X-Achse) in Stunden und Wochen. Die akuten Strahlenkrankheiten erscheinen in drei wesentlichen klinischen Syndromen. Für die hier nicht näher aufgeführten späten stochastischen wie deterministischen Schäden erstreckt sich die Zeitachse auf Jahre. Die einge-zeichnete Kurve verdeutlicht in ihren Abschnitten die drei akuten klinischen Syndrome: das Knochenmark-, oder Hä-matologische Syndrom; das Magen-Darm-Trakt-, oder gas-trointestinale Syndrom; und das Syndrom des zentralen Ner-vensystems, welches nach sehr hohen Dosen rasch als Fol-ge des akuten Schadens der funktionstragenden Nervenzel-len des Hirns auftritt. Die klinischen Symptome der drei aku-ten Strahlenkrankheiten sind jeweils unter der Syndrom-Bezeichnung in der Abb. Kurz skizziert. Der zeitliche Unter-

Abb. 2.15

schied zwischen dem Auftreten des hämatologischen Syn-droms und des gastrointestinalen Syndroms wird weitgehend durch die Zeiten bestimmt, welche die Produktion von Funk-tionszellen nach Stammzellenteilung braucht.

Strahlenkrankheiten, abhängig von Dosis und Zeit

Zeit nach Ganzkörperbestrahlung

Cottier H et al., 1994, nach Cronkite

56

Unabhängig von diesen Syndromen können Strahleneffekte auch bei kleineren Dosen sozusagen klinisch subjektiv un-auffällig bereits früh nach der Exposition durch die Zahl der im peripheren Blut zirkulierenden Lymphozyten erkannt wer-den. Wie bereits besprochen, besitzen Lymphozyten eine ähnlich hohe Strahlenempfindlichkeit wie blutbildende Stammzellen. So zeigen sich nach Ganzkörperexpositionen im Bereich von 0.2 bis 0.3 Sv bereits Blutbildveränderungen, und zwar sinkt zunächst die Zahl der Lymphozyten. Dement-sprechend kann die Prognose eines Frühschadens mit dem Absinken der Lymphozytenzahl unter den Normalwert annä-hernd bestimmt werden.

Die folgende Übersicht summiert ausführlicher die bei verschiedenen Dosen auftretenden klinischen Befunde und Symptome nach akuter Ganzkörperbestrahlung analog zur Abb. 2.15:

SCHWELLEN- ERSTE KLINISCH FASSBARE STRAHLEN- DOSIS EFFEKTE (0.2-0.3 Sv) 0.25 Sv Abfall der Blut zirkulierenden Lymphozyten

innerhalb von 1–2 Tagen.

SUBLETALE VORÜBERGEHENDE STRAHLENKRANK- DOSIS HEIT (0.75-1.5 Sv + ) 1 Sv Unwohlsein (Strahlenkater) am ersten Tag

möglich. Absinken der Lymphozytenzahl im Verlauf von zwei Tagen auf Werte deutlich unter 1500/mm3. Nach einer Latenzzeit von zwei bis drei Wochen treten Haarausfall, wunder Rachen, Appetitmangel, Diarrhöe, Unwohlsein, Mattigkeit, stecknadelkopf-große purpurfarbene Hautflecken (Pete-chien) auf. Bei Männern vorübergehendes Absinken der Spermienproduktion. Meist baldige Erholung.

MITTELLETALE SCHWERE STRAHLENKRANKHEIT DOSIS (3-6 Sv + ) 4 Sv Übelkeit und Erbrechen am ersten Tag.

Absinken der Lymphozytenzahl bei Dosen um ca. 3 Sv auf Werte unter 1000/mm3, und

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bei Dosen über 5 Sv fast vollkommenes Verschwinden aus der Blutbahn. Bei Gra-nulozyten zunächst steiler Anstieg, dann steiler Abfall und nach erneutem abortiven kurzen Anstieg ab zweiter Woche wieder Abfall der Werte auf weniger als 2000/mm3.Hauptursache für große Infektionsneigung. - Nach 10 bis 14 Tagen zeigen sich Haar-ausfall, Appetitmangel, allgemeines Un-wohlsein, Diarrhöe, schwere Entzündun-gen im Mund- und Rachenraum, innere Blutungen (Hämorraghien), Fieber, Pete-chien, Purpura (größere purpurfarbene Haut-flecken). Bei Männern je nach Dosis vorü-bergehende bis lebenslange Sterilität, bei Frauen Zyklusstörungen. Bei fehlenden The- rapiemaßnahmen ist bei Dosen über 5 Sv mit etwa 50 % Todesfällen zu rechnen. Bei spontaner Regeneration Wiederanstieg der Granulozyten etwa Ende der 4. Woche.

LETALE TÖDLICHE STRAHLENKRANKHEIT DOSIS (6-10 Sv + ) 7 Sv Übelkeit und Erbrechen nach 1-2 Stunden.

Nach drei bis vier Tagen: Diarrhöe, Erbre-chen, Entzündungen in Mund und Rachen sowie im Magen-Darmtrakt mit Blutungen (Hämorraghie), Fieber, schneller Kräftever-fall. Bei fehlender Therapie Mortalität fast 100 %.- Bei Dosen über 15 Gy innerhalb einer Woche zunehmend schnell Koma und Tod.

Bei Dosen von über 20 Sv treten zunehmend die Symptome des Zusammenbruches des zentralen Nervensystems auf. Je nach Schweregrad kommt es z. B. bei Dosen von etwa 100 Sv innerhalb von Stunden bis zu wenigen Tagen zu Ver-wirrungszuständen, Krämpfe, Bewusstlosigkeit immer mit töd-lichem Ausgang.

Die Überwindung einer akuten Strahlenkrankheit ist von der Erholung der betroffenen Zellerneuerungssysteme abhängig

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und wird von der Zahl der überlebenden und funktionstüchti-gen Stammzellen bestimmt. Zum Versagen des Systems kommt es erst beim Zusammenbruch der Zellerneuerung hauptsächlich durch Insuffizienz im Reservoir der Stammzel-len. Daher gehört zur Therapie der schweren akuten Strah-lenkrankheit auch der Versuch der Transplantation von Stammzellen des blutbildenden Systems. Wenn erfolgreich, gleichen die transplantierten Stammzellen Zellverluste wieder aus und sind in der Lage, die Infektionsabwehr zu stärken, Blutungsneigung zu verringern, und die Erholung von Schä-den im Magendarmtrakt zu fördern.

Strahlenschäden der Haut, verstärkende Schäden

Die oben aufgeführten klinischen Befunde und subjektiven Beschwerden können sich erheblich ändern, wenn noch an-dere gesundheitliche Sekundärschäden zusätzlich verstär-kend, d.h. synergistisch, auftreten, wie Weichteilverletzun-gen, Verbrennungen und Infektionen.

Zudem entstehen je nach der Expositionsweise zum Bei-spiel anlässlich eines Unfalls und auch je nach Strahlenart sowohl akute wie chronische Hautverletzungen mit erheb-licher Infektionsgefahr. Ausmaß und Entstehungszeit geben Auskunft über die erhaltene Dosis im Gewebereich der Ver-letzung. So tritt nach etwa 2 Gy akuter Röntgenbestrahlung innerhalb von 2 bis 24 Stunden eine vorübergehende Haut-rötung auf, die auch frühes Erythem genannt wird. Eine stär-

etwa 10 Tagen. Temporären Haarausfall sieht man bei 3 Gy im Verlauf von etwa 3 Wochen. In derselben Zeit ver-ursachen 7 Gy permanenten Haarausfall. Schlecht heilende Geschwüre erleidet die Haut etwa 2 Monate nach akuter Bestrahlung mit etwa 20 Gy; diese können bis zu mehreren Jahren anhalten und zu Hautkrebs entarten.

Strahlenschäden der Keimdüsen

In diesem Zusammenhang sind auch die strahleninduzierten akuten Schäden in Keimdrüsen zu erwähnen. Untersuchungen an Menschen ergaben eine vorübergehende männliche Sterilität bereits nach einer akuten Dosis von 0.15 Gy; nach 2 Gy eine

kere, massive Rötung erscheint bei 6 Gy nach einer Zeit von

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mehrere Jahre dauernde Sterilität, und permanente Sterilität nach 6-8 Gy. Weibliche Eizellen sind extrem strahlenempfindlich hinsichtlich Zelltod. Etwa 60–70 % von ihnen gehen bereits nach einer akuten Dosis von 0.12 Gy zugrunde. Einmal indu-zierte Sterilität bleibt lebenslang bestehen, da Eizellen sich nach ihrer Entstehung vor der Geburt nicht mehr teilen. Nicht abge-storbene Eizellen zeigen eine relativ hohe Reparaturfähigkeit.

Strahlenschäden des ungeborenen Lebens

Die aufgezeigten Verhältnisse verdeutlichen, dass Gewebe mit hoher Zellteilungsaktivität generell strahlenempfindlicher sind als Gewebe, in denen die Zellerneuerung sehr langsam ist. So ist erwartungsgemäß das ungeborene Leben im Mutter-leib durch ionisierende Strahlen besonders gefährdet.

Dabei bilden die ersten Entwicklungsmonate, in denen im ge-samten Embryo rasch aufeinander folgende Zellteilungen ab-laufen, das empfindlichste Stadium. Hier können schon relativ niedrige akute Dosen, wie bei Stammzellen, Zelltod verursa-chen, und in überlebenden Zellen solche DNS-Schäden indu-zieren, die Mutationen bringen und zu Missbildungen, d.h. tera-togenen Schäden, führen. Vor allem werden während der Zeit embryonaler Anlage von Organen durch DNS-Schäden anhaltende Störungen von Zellfunktionen eingeleitet, die je nach Dosis während der Schwangerschaft schwerwiegende Organstörungen mit Missbildungen, vor allem am zentralen Nervensystem nach sich ziehen können.

Die folgende Übersicht gibt die akuten Minimaldosen an, bei denen Effekte im Embryo und Föten beobachtet worden sind:

TIEREXPERIMENTE:Verlust von Oozyten (Primaten) 50 % Letaldosis bei 0.5 Gy

Schäden des zentralen Nerven- systems (Maus) Schwellendosis bei 0.1 Gy

Hirnschaden und Verhaltens- störungen (Ratte) Schwellendosis bei 0.06 Gy

BEOBACHTUNGEN AN MENSCHEN: Kleiner Kopfumfang mit geistiger Retardierung Schwellendosis bei 0.06 Gy

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Man kann zusammenfassend feststellen, dass messbare Schäden am ungeborenen Leben bei akuten Dosen unter 0.1 Gy auftreten können, wenn diese Dosen in der besonders strahlenempfindlichen Phase der kindlichen Entwicklung ein-wirken. Die Abb. 16 fasst einige Ergebnisse zusammen, die bis auf Beobachtungen geistiger Retardierung bei Menschen von Tierexperimenten stammen, bei denen relativ hohe Do-sen gebraucht wurden. Beim Menschen ist die für die Hirn-entwicklung sensibelste Phase zwischen der 8. und 15. Schwangerschaftswoche.

Abb. 2.16

Die Wahrscheinlichkeit fötalen Todes nach akuter Bestrah-lung nimmt von der Implantationsphase bis zur etwa 5. Wo-che rasch ab. Danach treten Missbildungen häufiger auf. Im letzten Drittel der Schwangerschaft nimmt die Resistenz auch gegen Missbildungen stark zu. In dieser Phase dürften akute Dosen oberhalb von etwa 0.1 Gy das Risiko kindlicher Krebserkrankungen erhöhen. Was die verringerte Schädel-größe, häufig in Kombination mit geistiger Behinderung, be-trifft, wird zwar, wie oben angegeben, eine Schwellendosis von etwa 0.06 Gy angegeben, aber die Wahrscheinlichkeit ei-ner solchen Fehlbildung lag in Hiroshima und Nagasaki bei etwa 2–3 % der Exponierten mit fraglicher statistischer Signifi-kanz. Erst nach etwa 0.25 Gy begann dieses Risiko mit der Dosis praktisch linear anzusteigen. In Hiroshima und Nagasa-

0 1 2 4 6 8 10 15 20 25 40

0 1 2 4 6 8 10 15 20 25 40

Schwangerschaft in Wochen

Tier-studien

Prä-implan- Organanlagen Fötale Periode

tation

Prä-nataler

Tod

MißbildungenNeotaler TodWachstum

PermanenteWachstums-hemmung

GeistigeRetar-

dierungRisikohoch

GeistigeRetar-

dierungRisiko

4 x kleiner

Atom-BombenÜberle-bendeJapan

Hall E., 2000

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ki waren etwa 50 % derjenigen Kinder geschädigt, die im Mutterleib einer mittleren Dosis von 1 bis 1,5 Gy ausgesetzt waren. Sorgfältige Dosiserhebungen sind bei etwaigen Unfäl-len schwangerer Frauen unerlässlich, um gegebenenfalls the-rapeutische Entscheidungen treffen zu können.

2.4. Späte Strahlenschäden

Bei späten Strahlenschäden nach akuter wie chronischer oder fraktionierter Exposition kann es sich um deterministische wie stochastische Schäden handeln. Auch hier müssen Erbanla-gen, Alter des Individuums, und Lebensweise sowie Umwelt-einflüsse berücksichtigt werden.

Deterministische Spätschäden

- Effekte durch chronische Strahlenexposition mit niedriger Dosisrate

Die oben für bestimmte Dosisbereiche genannten Symptome akuter Strahlenkrankheit gelten für Ganzkörperexpositionen in-nerhalb von Sekunden bis wenigen Minuten, d. h. bei hoher Dosisleistung. Nimmt die Dosisleistung ab, so vermindert sich die Strahlenwirkung auf den Gesamtorganismus. Im allgemei-nen reduziert sich die Wirkung einer bestimmten Strahlendosis mit wachsendem Zeitraum, in welchem der Körper dieser Do-sis ausgesetzt ist. So wurde bereits erklärt, dass mit fallender Dosisrate der Zeitraum zwischen zwei aufeinander folgenden Strahleneinfangereignissen mit ihren Energiepaketen in einem definierten Gewebevolumen sich soweit vergrößern kann, dass Reparaturmechanismen auf einzelne Treffer optimal ab-laufen können. Eine ähnliche Situation entsteht bei mehrmali-ger Exposition mit kleinen Einzeldosen in entsprechend län-geren zeitlichen Abständen, oder bei Teilkörperbestrahlung, bei der im Gesamtorganismus Reserven für Reparaturfähig-keit vor allem über im Blut zirkulierende Stammzellen erhal-ten bleiben.

Eine bei kurzzeitiger Ganzkörperexposition tödlich wirkende Dosis lässt sich experimentell so weit strecken, dass sie auf Grund der Reparatureffizienz des Körpers klinisch zunächst wir-kungslos bleibt. Schließlich führt Dosisakkumulation jedoch über Akkumulation von DNS-Schäden vor allem in den Stammzellen für die Blutbildung zum relativ abrupten Zusammenbruch nicht

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selten mit Todesfolge. Auch ist zu berücksichtigen, dass während der Expositionszeit sich die Wirkung der dem Körper zur Verfü-gung stehenden Abwehr- und Reparaturmechanismen zur Erhal-tung der Population funktionstüchtiger Zellen optimiert, solange Stammzellen differenzierende Zellen nachliefern können. Der kli-nische Verlauf und Ausgang solch spät auftretender Erkrankun-gen zeigt die Erschöpfung des Stammzellenreservoirs mit Insuffi-zienz der Bildung zirkulierender Blutzellen und geht gewöhnlich einher mit Infektionen und Blutungen.

Andererseits liegen verschiedene Beobachtungen vor, dass kleine Dosisraten mit -Strahlen im Bereich von 1 mGy pro Stunde bei Mäusen die Immunabwehr stimulieren und da-durch auch therapeutisch wirksam sein können. Auch gene-tische Mutationsraten wurden bei kleinen Dosisraten in ähn-licher Größenordnung untersucht, und es ergab sich eine von der Dosisrate abhängige Minimierung der Mutationen unterhalb des Kontrollwertes. Diese Berichte deuten auf die Fähigkeit von Anpassungsreaktionen von Organismen auf kleine Dosen und zwar abhängig von der Dosisrate.

- Somatische Spätschäden nach Strahlenexposition mit hoher Dosis oder Dosisrate

Auch die relativ strahlenresistenten Gewebe und Organe des Körpers können nach akuter Einwirkung hoher Dosen und nach chronischer Exposition mit hohen Dosisraten im Verlaufe von Jahren klinisch deutliche Funktionsstörungen mit entsprechen-den anatomischen Organveränderungen entwickeln. Bei diesen Krankheitsbildern sind die Symptome wiederum Folge von ak-kumulierten Zellschäden, und häufig von solchen Schäden, die sich in den entsprechenden Vorläuferzellen der betroffenen Gewebe und Organe angehäuft haben. So ist verständlich, dass eine Mindest- oder Schwellendosis zur Ausbildung solcher Schäden erforderlich ist. Die niedrigste Schwellendosis für de-terministische Spätschäden betrug, wie sie bisher von den Er-hebungen bei den Überlebenden der Atombomben in Japan er-kennbar waren, etwa 0.5 Gy.

Bei deterministischen Spätschäden können Herz- Kreislauf-strukturen, insbesondere Blutgefässe, Lungengewebe, Augen-linse, und, wie oben bereits genannt, auch Haut und Schleim-häute betroffen sein. Die für die Ausbildung einiger solcher Schäden erforderlichen Dosen sind relativ hoch und kommen

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praktisch nur bei Teilkörperbestrahlung als auslösende Ursache in Frage. So sind zur Entwicklung einer chronischen Hautent-zündung (Dermatitis) mit trockener, atrophischer, haarloser Haut mit kleinen Blutgefäßerweiterungen und Pigmentierungen Do-sen von 10 Gy und mehr nötig. Für die Ausbildung einer Augen-linsentrübung ist eine akute Exposition von 2 Gy erforderlich und bei Langzeitexposition braucht es dazu etwa 15 Gy. Auch die Lungen sind relativ zu einigen anderen Organen für deter-ministische Spätschäden strahlenempfindlich, so dass eine Strahlen-Pneumonie schon 2-6 Monate nach etwa 17-18 Gy auftreten kann und bei noch höheren Dosen eine irreversible Gewebeverhärtung durch so genannte Fibrose mit Verzögerun-gen von Jahren nach sich zieht. Diese Veränderungen werden als besondere Gefahren bei Strahlentherapieplanung im Brust-bereich berücksichtigt. Das Ausmaß der Reaktionen hängt ab vom bestrahlten Gewebevolumen, der Dosis und der Art der fraktionierten Bestrahlung, wobei die letztere Expositionsart für die Lunge akut schädlicher sein kann als einmalige Dosis. Ta-bakrauchen mit Inhalation hat eine besonders starke Förderwir-kung bei der Ausbildung von strahlenbedingten Lungenerkran-kungen. Zu den deterministischen Schäden können auch chro-nische Infektionen auf Grund eines kompromittierten Immunsys-tems gezählt werden, wobei je nach chronischer Belastung eine Dosisakkumulation von mehreren Gy schon ausreicht.

Stochastische Spätschäden

- Allgemeine Einleitung, Risikoanalyse

Stochastische Spätschäden sind bösartige Erkrankungen, die mit einer zeitlichen Verzögerung, oder Latenzzeit, von Jahren auftreten. Auch heute noch, über 60 Jahre nach der Katastro-phe, werden in der Gruppe der Überlebenden der Atombomben in Japan mehr Krebsfälle registriert, als in der gewählten Kon-trollpopulation auftreten. Keine andere menschliche Gruppe ist unter so sorgfältiger und langfristiger medizinischer Kontrolle wie die der Japanischen Atombombenopfer. Diese Daten und andere Kollektive, die langfristig nach akuter Bestrahlung kli-nisch beobachtet worden sind, zeigen eindeutig, dass Dosen über etwa 0.2 Gy eine erkennbare Anhebung der Krebshäufig-keit bei den Exponierten bedingen.

Eine besondere Schwierigkeit der Risikoabschätzung bei sto-chastischen Spätschäden, vor allem nach Exposition mit kleinen

64

Dosen, ist die Tatsache, dass die durch ionisierende Strahlen ausgelösten Krebs- und Leukämieerkrankungen, ebenso wie Erbschäden keine leicht erkennbaren spezifischen Merkmale als Strahleneffekte aufweisen. Solche Erkrankungen werden durch viele andere toxische Substanzen ebenfalls verursacht. Sie treten in großem Umfang „spontan“ auf, ohne dass die auslösende Ursache klar erkannt wird. Die Krebstodesrate in Industrieländern liegt bei etwa 25 %, wobei regionale Schwan-kungen unabhängig von einer Strahlenexposition registriert werden. Eine geringfügige Erhöhung dieser Todesrate um Bruchteile eines Prozents eventuell durch niedrige Dosen, wie im Bereich der natürlichen Strahlenexposition, ist daher, wenn überhaupt, nur an sehr großen Personengruppen, d.h. Kollekti-ven, nachweisbar, wobei die für eine sichere Aussage notwen-dige Größe des Kollektivs von der Höhe der Strahlenexposition abhängt: Je kleiner die Dosis, um so größer muss das Kollek-tiv sein, um einen Zusammenhang mit der Strahlung nachzuwei-sen. So kann leicht berechnet werden, dass zum etwaigen Hin-weis auf eine strahlenbedingte Erhöhung der Krebsrate von ei-ner zusätzlichen jährlichen Exposition mit 1 mGy die langfristige Beobachtung von 5 bis 10 Millionen so exponierter Menschen notwendig ist. In der Realität werden Kollektive, die auch nur annähernd diese Bedingungen erfüllen, wohl niemals zu finden sein. Aufgrund der hohen natürlichen oder spontanen Krebsraten auf der Welt, besonders in Industrieländern, mit erheblichen re-gionalen und auch zeitlich statistisch bedingten Schwankungen, die zum Teil durch individuelle Lebens- und Ernährungsweisen bestimmt werden. können gegenwärtig keine eindeutigen Aus-sagen der Epidemiologie gemacht werden, inwieweit kleine Do-sen Krebs verursachen. Bessere Zugänge zur Frage der Krebs-häufigkeit bei kleinen Dosen erlauben Tierexperimente, die Me-chanismen etwaiger Zusammenhänge zwischen ionisierenden Strahlen, Krebsentwicklung und individuellen Umwelt- und Le-bensbedingungen generell erklären lassen, aber durchaus nicht einfach auf menschliche Kollektive übertragen werden können.

Bei der Entwicklung epidemiologischer Methoden, zwischen Do-sishöhe und Krebsrate einen Zusammenhang herzustellen, sind einwandfrei gemessene Daten bei höheren Dosen zur Auswer-tung gekommen. Hier stellt das Kollektiv der Überlebenden der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki den heute wichtigs-ten Ansatz. Aber auch andere Kollektive überexponierter

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Personen sind meist bei chronischer Exposition vorhanden. So stellen beispielsweise die Bergarbeiter im sächsischen Erzbergbau ein solches Kollektiv. Dieser Personenkreis wurde schon im 16. Jahrhundert dadurch auffällig, dass un-gewöhnlich viele Arbeiter an der so genannten „Schneeberger Krankheit" litten und starben. Diese 1879 als Lungenkrebs er-kannte Krankheit hatte ihre Ursache in der Inhalation hoher Konzentrationen von Radon und seinen Folgeprodukten mit der Atemluft wegen unzureichender Bewetterung der Stollen, wo-bei Lungendosen von 10 bis 100 Sv auftraten.

Für die Abschätzung des Risikos bei kleinen Dosen benutzen Epidemiologen meist die Methode der Extrapolation von beo-bachteten Effekten bei hohen Dosen. Somit wird die bei ho-her Dosis und hoher Dosisleistung gefundene mehr oder we-niger lineare Dosisabhängigkeit des Risikos auf den niedrigen Dosisbereich umgerechnet. Die Rechtfertigung für das Mo-dell der linearen Dosis-Risiko Beziehung basiert wesentlich auf der experimentell bestätigten linearen Beziehung zwi-schen Dosis und der Anzahl der DNS-Schäden und der dar-aus folgenden Mutationsfrequenzen in exponierten Zellen und Organismen. Lineare Extrapolationen für Krebserkran-kungen unterstellen jedoch, dass ionisierende Strahlen im un-teren Dosisbereich die gleiche Wirkung auf das Gesamtsys-tem pro Dosiseinheit haben wie bei hohen Dosen. In der Tat liegen heute Hinweise darauf vor, dass der Gesamtorganismus bei hohen Dosen anders reagiert als bei kleinen Dosen.

- Sekundäre Faktoren bei der Risikoanalyse

Bei der generellen Entscheidung der meisten Epidemiolo-gen für das Modell der linearen Dosis-Risiko Beziehung bei kleinen Dosen, werden auch andere Faktoren in Betracht gezogen. Sie beziehen sich auf die Tatsache, dass Krebs-erkrankungen generell mit dem Alter häufiger auftreten. So sind zum Beispiel für das zeitliche Auftreten der einem Strahlenrisiko zugewiesenen Krebserkrankung nach einer Exposition zwei Modelle entwickelt worden.

Das erste Modell bestimmt das relative Risiko und geht da-von aus, dass nach der Exposition das Krebsrisiko um einen bestimmten Prozentsatz des Spontanrisikos erhöht ist, und dass der Faktor der Erhöhung im Laufe des Lebens kon-stant bleibt. Nach heutiger Kenntnis entsprechen diesem

66

Modell am besten die verfügbaren Daten über das Risiko bei hohen Dosen für solide Krebstumoren. Es gibt neuer-dings aber auch Hinweise, dass nach einigen Jahrzehnten dieses Risiko wieder abnimmt.

Das zweite Modell betont das absolute Risiko. Es geht nach der Exposition mit einer bestimmten Dosis von einer Ge-samtzahl zusätzlicher Krebsfälle innerhalb eines bestimmten Zeitraums aus. Nach diesem Zeitraum entspricht die Krebs-rate im exponierten Kollektiv wieder der Spontanrate. Mit diesem Modell decken sich die vorliegenden Daten über Knochenkrebs, wie Osteosarkome, und auch Leukämien nach hohen Dosen.

Bei der Abschätzung der Gesamtzahl aller zusätzlichen Krebstodesfälle durch eine Strahlenexposition spielen im Modell des relativen Risikos die mittlere Lebenserwartung des Kollektivs und das Alter zur Zeit der Strahlenexposition eine besondere Bedeutung. Der notwendige Beobachtungs-zeitraum umfasst die gesamte Lebenszeit. Beim Modell des absoluten Risikos wird dagegen die abgeschätzte Zahl über einen bestimmten Zeitraum lediglich durch unterschiedliche Empfindlichkeiten der einzelnen Altersgruppen beeinflusst. Der notwendige Beobachtungszeitraum umfasst nur die Zeitspanne, in der das Risiko erhöht ist.

- Die Überlebenden in Hiroshima und Nagasaki

Aktuelle Daten aus Japan zeigt die Abb. 2.17. Hier sind die Zahlen der in den einzelnen Dosiskategorien beobachteten Personen und der in diesen Gruppen aufgetretenen Krebs-erkrankungen eingetragen und mit Erwartungswerten von Kontrollkollektiven verglichen, wobei die annähernde Stan-dardabweichung mit angegeben ist. Für die mit diesen Zah-len durchgeführte epidemiologische Auswertung wurde die lineare Dosis-Risiko Beziehung gewählt, und zwar über den gesamten Dosisbereich von unter 0.005 Gy bis zu über 2 Gy.

Die Begründung für die Annahme der Linearität ist, wie be-reits erwähnt, die vielfach bestätigte Beobachtung, dass DNS-Schäden mit der Dosis proportional, d. h. linear anstei-gen. Mit dieser Prämisse und unter Berücksichtung der be- obachteten Häufigkeit verschiedener Krebsarten bei den einzelnen Dosiskategorien wurde dann errechnet, dass Do-

67

Abb. 2.17

sen bereits im Bereich von 0.05 Gy krebsauslösend sein könnten. Die Zahlen in Abb. 2.17 belegen den relativ kleinen Anteil von etwa 0.5 % von tödlichen Krebserkrankungen, die im Gesamtkollektiv der exponierten Personen über die Jahre als strahleninduziert gelten könnten. Die hohe Zahl sponta-ner Krebserkrankungen macht es in kleinen Dosisbereichen besonders schwierig, wenn nicht gar unmöglich, den einer Strahlenexposition rechnerisch zugeordneten Anteil der Krebserkrankungen tatsächlich der Einwirkung von Strahlen zuzuschreiben. Die Anwendung des Modells der linearen Dosis-Risiko Beziehung, wie sie sich aus der Analyse von DNS-Schäden ergibt, gilt vielen Strahlenschützern bis heute noch als der sicherste Weg für einen optimalen Strahlen-schutz.

Das Bemühen, den best möglichen Strahlenschutz zu ge-währleisten, führte die Internationale Strahlenschutzkom-mission (ICRP) schon in der 70er Jahren dazu, mit Hilfe des Modells der linearen Dosis-Risiko Beziehung die Krebs-häufigkeit in der exponierten Population pro Dosis-Einheit anzugeben und zudem auch für einzelne Krebsarten solche Wahrscheinlichkeiten zu benennen und diese Werte jeweils den neuen im wesentlichen aus Japan stammenden Erhe-bungen anzupassen. Andere internationale Organisationen

Registrierte und erwartete Tote mit solidem Carcinom1950 – 1997 bei Atombomben Überlebenden in Japan

Dosis Nr. Pers. Solide Ca + Solid Ca + Gy beobachtet beobachtet erwartet

< 0.005 37458 3833 ± 62 3844 ± 62

0.005 - 0.1 31650 3277 ± 57 3221 ± 57

0.1 - 0.2 5732 688 ± 26 622 ± 25

0.2 - 0.5 6332 763 ± 28 678 ± 26

0.5 - 1.0 3299 438 ± 21 335 ± 18

1.0 - 2.0 1613 274 ± 17 157 ± 13

2.0 + 488 82 ± 9 38 ± 6

Gesamt 86 572 9335 ± 97 8895 ± 30 Prozent 100 % 10.8 % 10.3 %

nach Preston DL et al., 2003

68

unternahmen ähnliche Bemühungen und veröffentlichten Daten zum Risiko im Laufe des Lebens an strahleninduzier-tem Krebs zu erkranken. Die folgende Aufstellung vergleicht die Schätzungen des Lebenszeitrisikos pro Dosis-Einheit für eine Reihe strahleninduzierter Krebserkrankungen, wie sie 1991 von der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP), und 2000 von der Wissenschaftlichen Kommission für Effekte Atomarer Strahlung der Vereinten Nationen (UNSCEAR) vorgetragen worden sind. Alle diese Angaben wurden unter Anwendung des Modells der linearen Dosis-Risiko Beziehung im kleinen Dosisbereich erstellt und zwar unter Berücksichtigung des relativen und absoluten Risikos.

Geschätztes Lebenszeitrisiko pro 0.01 Gy pro 106

exponierte Personen

(Spontan-Risiko liegt bei etwa 250,000 pro 106 Personen)

KREBS- ICRP 1991 UNSCEAR 2000*

ERKRANKUNGLeukämie 50 50 Alle Krebserkrankungen außer Leukämie 450 520 Verdauungstrakt

Speiseröhre 30 25 Magen 110 18 Kolon 85 75 Leber 15 20

Lungen 85 160 Weibliche Brust 20 43Knochen 5 - Haut 2 - Eierstöcke 10 -Blase 30 22 Niere - -Schilddrüse 8 - Andere solide Krebserkrankungen 50 160

Für UNSCEAR * = Mittelwert verschiedener Ansätze (relati-ves vs. absolutes Risiko)

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- Für einzelne Organe geschätzte Risikoanteile am Gesamtrisiko

Aus den obigen Daten hat die ICRP 1991 für den prakti-schen Strahlenschutz eine Reihe von Wichtungsfaktoren empfohlen. Diese geben denjenigen geschätzten Anteil von zu erwartenden strahleninduzierten Gesamtkrankheitsfällen an, der in einer Population nach Ganzkörperexposition mit einer bestimmtem Dosis in Sv auf das jeweilig aufgeführte Organe entfällt. Wichtungsfaktoren sind somit Ausdruck von definierten Risiken und basieren auf der Annahme einer li-nearen Dosis-Risiko Beziehung in kleinen Dosisbereich. Die erfassten Erkrankungen schließen sowohl genetische Schä-den als auch stochastische Spätschäden in Sinne von Krebserkrankungen ein:

Keimdrüsen (Risiko durch vererbbare, d.h. genetische, Schäden) 0,20 (20 %);

Rotes Knochenmark (Leukämierisiko), Lunge, Enddarm und Magen je 0,12 (je 12 %);

Brust, Schilddrüse, Blase, Leber undSpeiseröhre je 0,05 (je 5 %);

Knochenoberfläche und Haut je 0,01 (je 1 %);

Alle übrigen Gewebe insgesamt 0,05 (5 %);

Summe (Gesamtkörper) = 1 (100 %).

Es ist offensichtlich, dass die hier genannten Wichtungsfak-toren Näherungswerte sind und Spätschäden zusammen-fassen wollen, welche zum Zwecke des Strahlenschutzes auch zur Ermittlung der so genannten „effektiven Äquiva-lentdosis" dienen sollen. Diese Dosis in Sv repräsentiert das genetische und somatische Gesamtrisiko für strahlenindu-zierte Spätschäden; das heißt, sie ist die Summe aller ent-sprechend den Organempfindlichkeiten gewichteten Teil-körperäquivalentdosen.

- Andere epidemiologische Studien an exponierten Populationen

Neben den Studien in Japan sind verschiedene große epi-demiologische Studien vor allem in den letzten Jahren veröf-fentlicht worden: an Arbeitern in der Kernkraftindustrie und im Uranbergbau verschiedener Länder, und in Werften von

70

Kernkraft getriebenen Schiffen, sowie an solchen Bevölke-rungsgruppen, die erhöhter Strahlenexposition in der Nähe von Kernwaffen produzierenden Anlagen ausgesetzt waren, oder die in der medizinischen Strahlenkunde vor allem in der Frühphase der Röntgenologie gearbeitet haben. Bei nahezu all diesen Studien wurden die Daten prinzipiell nach dem Modell der linearen Dosis-Risiko Beziehung im kleinen Do-sisbereich ausgewertet. Die entsprechenden Schlussfolge-rungen sind widersprüchlich.

Es scheint, dass bei chronischer Exposition mit kleinen Do-sen erst bei relativ hohen akkumulierten Dosen das Krebsri-siko erkennbar ansteigt. Ein besonders hoher Schwellenwert von etwa 5 Gy zeigte sich bei Malerinnen von Uhrenziffer-blättern mit Leuchtfarben, die Radium-226 und Radium-228 enthielten. Die Malerinnen befeuchteten die feinen Pinsel mit der Zunge, und das so im Körper aufgenommene Radi-um mit seinen -Teilchen führte zu chronischer Bestrahlung und nach Jahren zur Entwicklung von Knochensarkomen. Ein noch höherer Schwellenwert von etwa 10 Gy war für Knochensarkom bei chronisch exponierten Hunden mit Strontium-90, einem reinen -Strahler, zu sehen. Auch bei epidemiologischen Analysen von Kernindustrie-Arbeitern, die chronisch hauptsächlich -Strahlung ausgesetzt waren, ergaben ohne Anpassung der in den Dosis-Kategorien be-obachteten Krebshäufigkeiten an das Modell der linearen Dosis-Risiko Beziehung, dass im kleinen Dosisbereich die erhobenen Zahlen an Krebskrankheiten nicht nur keine sta-tistisch signifikante Anhebung erkennen lassen, sondern eher einen Dosis-Schwellenwert für die Induktion von Krebserkrankungen ergaben oder sogar eine Verringerung der Krebserkrankungen zeigten.

Zablotska LB et al. publizierten 2004 die Mortalität bei 45.468 Arbeitern der kanadischen Kernkraftindustrie nach chronischer Exposition mit niedrigen Strahlendosen: „Für al-le soliden Krebsarten zusammen zeigt die kategorische Analyse eine signifikante Verringerung des Risikos in der Kategorie 1–49 mSv im Vergleich zur niedrigsten Kategorie (< 1 mSv) mit einem relativen Risiko von 0.699 (95 % VI: 0.548, 0.892).“ und „Über 100 mSv schien das Risiko zu steigen.“

71

Auf Grund früher bekannter Daten und nun neuerer zahlrei-cher experimenteller und epidemiologischer Untersuchungs-ergebnisse über den Mangel an beobachtbarer Linearität der Beziehung zwischen Krebs und kleinen Dosen hat sich vor allem in den letzten Jahren der Zweifel an der Richtigkeit der wissenschaftlichen Grundlage der Anwendung der linea-ren Dosis-Risiko Beziehung verstärkt. Diese Tendenz wird unterstützt durch strahlenbiologische Grundlagenforschung über die Wirkung kleiner Dosen auf komplexe biologische Systeme. Zunehmend werden systemimmanente und Schutz bringende Reaktionen neben DNS- und anderen Schäden berichtet. Auch die ICRP hat stets betont, dass die Annahme einer linearen Dosis-Risiko Beziehung bis zur kleinsten Dosis zwar für den Strahlenschutz die höchste Si-cherheit bringt, aber für die Anwendung in epidemiologi-schen Studien wissenschaftlich nicht begründet ist. Vor al-lem erscheint es nicht angebracht, unter Einsatz der linea-ren Dosis-Risiko Beziehung im kleinen Dosisbereich Vor-raussagen zu machen, wie viele Krebserkrankungen nach einer Exposition im kleinen Dosisbereich auftreten, wie dies vor allem nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl aus-giebig gemacht worden ist.

2.5. Anstehende Modifikationen der Risikoanalyse

Die möglichen Dosis-Risiko Beziehungen für Strahlen-krebs

Angesichts dieser neueren Entwicklungen ist es angebracht, alternative Modelle der Dosis-Risiko Beziehung zu betrach-ten. Sicher hat das Modell der linearen Dosis-Risiko Bezie-hung eine gewisse Stütze in der Grundlagenforschung und auch viele Vorteile in der praktischen Anwendung für eine Risikoanalyse, wie oben dargelegt. Aber sie verführt auch zu nur scheinbar gültigen Aussagen, deren Gewicht in der brei-ten Öffentlichkeit eindeutig zu einer großen Strahlenangst geführt hat, welche auch medizinisch gerechtfertigte Strah-lenexpositionen im Bereich ärztlicher Anwendung erschwert und jede beruflich bedingte Strahlenexposition wo auch im-mer ausschließen will, wenn sie sogar unter den Dosen lie-gen, die natürlicherweise auf der Erde unvermeidbar sind.

72

So ergibt sich die Situation, dass Patienten aufgrund ihrer Angst vor Strahlen strahlendiagnostische Untersuchungen ablehnen, damit das frühzeitige Erkennen einer Erkrankung verhindern und sich somit selbst einen größeren Schaden durch eine zu späte oder unterlassene Therapie zufügen. Für eine rationale Risiko-Nutzen-Analyse einer Strahlenex-position haben sowohl das eigentliche Strahlenrisiko als auch medizinisch-psychologischen Risiken wie auch die mit diesen verbundenen Kosten für die Allgemeinheit hohen Rang.

Die für die Strahlenschutz offensichtlich zentrale Bedeutung der linearen Dosis-Risiko Beziehung für Krebserkrankungen durch kleine Dosen wird gegenwärtig von Befürwortern und Gegnern kontrovers diskutiert. Die Befürworter sehen in der Linearität der Beziehung zwischen DNS-Schäden und Dosis die stärkste Stütze ihrer Argumente, wobei sie auch auf die große Tradition der mit dem Nobelpreis gewürdigten strah-lenbiologischen Mutationsforschung verweist. Die Gegner der linearen Dosis-Risiko Beziehung für strahleninduzierten Krebs bei kleinen Dosen berufen sich sowohl auf neuere Analysen epidemiologischer Daten wie vor allem auf die neueren Forschungsergebnisse der Strahlenbiologie vor al-lem der beiden letzten Jahrzehnte mit Entdeckungen von strahleninduzierten komplexen Systemreaktionen bei klei-nen Dosen, wie adaptive Protektion, Bystander Effekten, und der Instabilität des Genoms.

Es ist daher nicht verwunderlich, dass große Anstrengungen gemacht werden, um zu einer vernünftigen und dem Schutz des Menschen wie der Natur dienenden Modell einer wis-senschaftlich begründeten und gesellschaftlich akzeptablen Dosis-Risiko Beziehung bei kleinen Dosen zu kommen. Die Abb. 2.18 zeigt die grundsätzlich bestehenden Alternativen der Dosis-Risiko Beziehungen: die supra-lineare, die lineare, die linear-quadratische, die Schwellen- und Hormesis-Funktion. In dieser Darstellung ist die Dosis als Logarithmus eingetragen, um die im kleinen Dosisbereich großen Varia- tionsmöglichkeiten leichter zu veranschaulichen.

Bei der Abwägung der unterschiedlichen Wahrscheinlichkei-ten dieser fünf prinzipiell möglichen und auf Modellen basie-renden Funktionen müssen zelluläre Besonderheiten je nach

73

Abb. 2.18

Organismus, Zellart, Zellstoffwechsel und Zellzyklusphase berücksichtigt werden. Aber ungeachtet der indivi-duell spe-ziellen Strahlenempfindlichkeit verschiedener Organismen und Zellsysteme ist doch allen biologischen Systemen ge-meinsam, dass sie in hierarchisch organisierten Strukturen mit ihren besonderen Signalnetzen Mechanismen besitzen, die dem Erhalt des gesamten Organismus dienen, wie dies bereits erläutert wurde.

Physiologische Abwehr- und Anpassungsreaktionenbiologischer Systeme

Die biologischen Antwortreaktionen auf Störungen der Homö-ostase in biologischen Systemen hängen vom Ausmaß der Störung ab, d. h. von ihrer Qualität und Quantität, und von der Art der betroffenen Zellen und Gewebe. Um es erneut zum Ausdruck zu bringen, bei minimalen Störungen kommt es ge-nerell relativ schnell zur Wiederherstellung der physiologi-schen Ausgangslage, während bei größeren bzw. ernsteren Störungen zunehmend kompliziertere Regelkreise mitspielen, die wiederum andere Signalnetze mit ihren Folgereaktionen auf höheren Organisationsebenen beeinflussen können. Kommt es zu partieller Zerstörung funktionstragender Struktu-ren, reagieren biologische Systeme mit dem Bemühen der

Alternative Dose-Risk Functions

Radiation-Induced Cancer

Log. Dose D

Supralinearität ?

Linearität ?

1

Hormesis ?

D • D2 ?

Options of Low-Dose Induced Cancer RiskMögliche Dosis-Risiko Beziehungen für durch Strahlung bedingten Krebs

Log. Dosis D

Schwelle ?

rela

tive

s R

isik

o f

ür

Kre

bs

74

Reparatur. Beispiele solcher Reaktionen wurden bereits im Kapitel “Abwehr- und Reparaturmechanismen“ genannt.

Über die direkten Reaktionen immanenter Abwehrmecha-nismen hinaus können kleine Dosen wie auch andere Stress auslösende Störungen in betroffenen biologischen Syste-men verspätet einsetzende und meist nur zeitweise wirksa-me Reaktionen verursachen, welche die vorhandenen Ab-wehrmechanismen vorübergehend stärken und somit das System vorübergehend anpassen, d. h. adaptieren, um er-neut auftretende Störungen effektiver zu bewältigen als dies bei der vorangegangenen Störung der Fall war. Adaptive Reaktionen können alle Organisationsebenen umfassen, Gen-Expressionen ändern, und erscheinen als 1.) verbes-serte Abwehr gegen toxische Agenzien, wie reaktive Sauer-stoffradikale, d.h. ROS, 2.) verbesserte und beschleunigte DNS-Reparatur mit Änderungen des Zellzyklus zwischen den Zellteilungen, und 3.) Stimulierung der Schadensbesei-tigung zum Beispiel durch Signal-induzierten Zelltod, d. h. Apoptose, oder durch Stimulierung der Immunabwehr, sowie Zelldifferenzierung. Bei Dosen über etwa 0.1–0.2 Gy wurde das Versagen dieser adaptiven Reaktionen ausgenommen die Apoptose zunehmend deutlich. Eine Zusammenfassung veröffentlichter Daten zur Dosisabhängigkeit beobachteter adaptiver Reaktionen zeigt schematisch die Abb. 2.19.

Induktion von Schutz durch niedrigere Dosen Schema der Dosisabhängigkeit des adaptiven Schutzes

0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6 0.7

Dosis (Gy)

Sch

utz

vor

Gew

ebes

chad

en Adaptiver Schutz involviert Gen Expression und bringt:• Schutz vor DNS-Schaden• Reparatur von DNS-Schaden• Immunreaktion • Zelltod (Apoptose)

max. Schutz 0.6 - 1

Feinendegen LE, 2005 A

Abb. 2.19

75

DNS Schutz (ROS Abbau); Apoptose

DNS Reparatur; Zellproliferation

Immunreaktion

No

rma

lisi

ert

e R

ea

ktio

n

Log Zeit nach einmaliger Bestrahlung

Stunden Tage Wochen Monate00

Sofort-Reparatur

Induktion von Schutz durch niedrige DosenSchema der Dauer des adaptiven Schutzes (tp)

Feinendegen LE 2005

Abb. 2.20

Die Dauer der Wirkung dieser Reaktionen ist schematisch in Abb. 2.20 aufgetragen. Die in verschiedenen biologischen Systemen insbesondere in Mäusen und Ratten erhobenen experimentellen Daten lassen erkennen, dass die unter-schiedlichen Schutzmechanismen nach ihrer Induktion von Stunden bis mehrere Wochen anhalten. Besonders lange währt der induzierte Immunschutz, der sich über mehrere Monte erstrecken kann. Diese relativ neuen Untersuchungs-ergebnisse bei unterschiedlichen biologischen Systemen schließen auch Dosis spezifische Änderungen der Expres-sion von zahlreichen Genen ein.

DNS

Reaktion biologischer Systeme auf ionisierende Strahlung

Organismus

Zellen

Feinendegen LE, Neumann RD, 2005

Abb. 2.21

76

Die Abb. 2.21 skizziert schematisch die Bedeutung der phy-siologischen sofortigen Abwehr- und verspäteten Anpas-sungsprozesse biologischer Systeme für das Ausmaß von Gesundheitsschäden als Folge von Primärschäden auf der atomar-molekularen Organisationsebene, d. h. auch der DNS. Der für DNS-Schäden beobachtete lineare Anstieg mit zunehmender Dosis setzt sich im Gesamtsystem des Orga-nismus nicht fort. Erst wenn die physiologischen Prozesse zur sofortigen Kontrolle der Homöostase und für die adapti-ven Reaktionen auf den verschiedenen Organisationsebe-nen erlahmen oder zerstört werden, zum Beispiel durch ho-he Dosen, kann ein Schaden auf der untersten Organisati-onsebene sich sozusagen wenig gehindert mit hoher Wahr-scheinlichkeit im gesamten System ausbreiten, z. B. vom DNS-Schaden zur Krebszelle, und mit Latenzzeiten von Jahren zum tödlichen Tumor führen. Daher erscheint die Wahrscheinlichkeit strahlenbedingter Krebserkrankungen solange nicht proportional zum Ausmaß strahleninduzierter DNS-Schäden zunehmen, wie die sofortigen Abwehr- und verspäteten Anpassungsprozesse intakt funktionieren. Erst hohe Dosen, wie experimentell und epidemiologisch nach-gewiesen, bedrohen den Gesamtorganismus proportional zum Ausmaß des DNS-Primärschadens. Die Information in Abb. 2.21 dient als Begründung für die Rechtfertigung der Annahme, dass in Abb. 2.18 diejenigen Dosis-Risiko Funk-tionen unwahrscheinlich sind, die im kleinen Dosisbereich eine lineare oder supra-lineare Dosis-Risiko Beziehung an-nehmen. So bleiben die Schwellendosis oder/und die Hor-mesis Funktionen eher wahrscheinlich.

2.6. Hormesis und kleine Dosen

Wie im diesem Abschnitt näher erläutert wird, verdient die Hormesis Funktion nach Bestrahlung mit niedriger Dosis eine besondere Erwähnung und Erklärung, auch wenn sie gegen-wärtig von zahlreichen im Strahlenschutz arbeitenden Perso-nen und vielen Strahlenbiologen als völlig konträr zum beste-henden System des Strahlenschutzes zurück gewiesen wird.

Die Frage lautet, wie kann eine niedrig dosierte Strahlenex-position zu einer Verringerung der spontanen Krebshäufig-keit in einer Population führen, oder wie kann die Wahr-

77

scheinlichkeit einer Krebserkrankung oder einer anderen Er-krankung in einer mit kleiner Dosis bestrahlten Person unter die entsprechend natürlich gegebene Wahrscheinlichkeit sinken? Wie können vorliegende diesbezügliche epidemio-logische und tierexperimentelle Daten erklärt werden? In den letzten Jahren sind viele wissenschaftliche Untersu-chungen gemacht worden, deren Ergebnisse die gestellte Frage einer Beantwortung zumindest nahe bringen.

Die wesentliche Erklärung geht von der Tatsache aus, dass die von ionisierenden Strahlen erzeugten biologischen Ef-fekte im kleinen Dosisbereich sehr ähnlich solchen Effekten sind, die im normalen Zellstoffwechsel auftreten. Hier spie-len die reaktiven Sauerstoff-Radikale, ROS, eine besondere Rolle. Diese sind je nach dem Ort ihrer Entstehung und ihrer Konzentration in der Zelle sowohl Signalsubstanzen wie auch Gifte. So wird heute allgemein zugestimmt, dass im Stoffwechsel der Zelle produzierte ROS ständig DNS-Schäden verursachen. Das Ausmaß dieser Schäden ist so groß, dass mit modernen Methoden erkannt wird, dass pro Zelle im Körper im Mittel pro Tag etwa zwischen 0.1 und et-wa 5 DNS-Doppelstrangbrüche, DNS-DSB, entstehen, wo-bei wahrscheinlich ist, dass mit fortschreitendem Alter des Individuums die Zahl der DNS-DSB zunimmt und eher im oberen Bereich liegt. Diese DNS-Schäden werden wesent-lich verantwortlich für das Auftreten spontaner Krebserkran-kungen gemacht. Die Wahrscheinlichkeit tödlicher Krebser-krankungen in Industrieländern liegt pro Person bei etwa 0.25, d. h. etwa 1 von 4 Personen mit langer Lebenserwar-tung in Industrieländern stirbt an einem bösartigen Tumor. Die Wahrscheinlichkeit durch Strahlen induzierter Krebser-krankungen ist dagegen verhältnismäßig sehr klein, wie Abb. 2.17 zeigt.

Es wurde berechnet und experimentell untermauert, dass die endogen im Laufe des normalen Stoffwechsels auftre-tenden DNS-DSB etwa 1000 mal häufiger im Mittel pro Zelle pro Tag sind als die durch normale Hintergrundstrahlung im Körper unausweichlich erzeugten DNS-DSB. Wenn die in Abschnitt „Die Überlebenden von Hiroshin and Nagasaki“ genannten Zahlen auch für kleine Dosen angenommen wer-den, wäre wohl wegen der relativ häufig qualitativ komplexe-ren Art der durch Strahlen verursacht DNS-DSB das Ver-

78

hältnis der spontanen Krebshäufigkeit ( ~ 250 000) in einer Population von einer Million Personen zu der durch lebens-langer Hintergrundstrahlung (50 x 0.002 Gy ~ 0.1 Gy) verur-sachten Krebshäufigkeit in dieser Population (5000) nicht 1000 sondern nur etwa 50. Dies dürfte bedeuten, dass DNS-DSB von ionisierenden Strahlen etwa 20 (1000 / 50) mal ef-fektiver für die Erzeugung von zum Tode führenden Krebs sind als die DNS-DSB durch endogene Stoffwechselgifte, wie ROS.

Die oben detaillierter erwähnten adaptiven Reaktionen nach kleinen Dosen bringen nicht nur Schutz gegen ionisierende Strahlen, sondern auch gegen andere toxische Substanzen, die DNS-Schäden verursachen. Hier spielen die ROS eine besondere Rolle. So darf man zu Recht annehmen, dass adaptiver Schutz auch gegen ROS wirksam ist. Diese An-nahme ist konsistent mit einer Reihe von tierexperimentellen Untersuchungen. Unter dieser Annahme stellt sich die Fra-ge, ob der von kleinen Dosen bewirkte Schutz gegen spon-tane Krebsentstehung so groß sein kann, dass der von klei-nen Dosen selbst verursachte Schaden ausgeglichen wird, oder der Schutz sogar größer ist als der durch Strahlen in-duzierte Schaden. Verschiedene, auf experimentellen Beo-bachtungen beruhende Berechnungen zeigen, dass die ge-stellte Frag positive beantwortet werden kann. Das folgende Beispiel soll dies erläutern, auch wenn das Resultat eine grobe Vereinfachung der Abschätzung ist:

1. Die Krebshäufigkeit mit tödlichem Ausgang beträgt in den Industrieländern etwa 250 000 pro einer Million Menschen.

2. Das von 0.01 Gy induzierte Lebenszeitrisiko für Krebser-krankungen liegt nach den Angaben im Abschnitt 2.4.2.3. bei etwa 550-600 pro einer Million erwachsene Perso-nen. Dabei ist nochmals zu betonen, dass diese Zahl auf der Annahme einer linearen Dosis-Risiko Beziehung ba-siert, welche wie oben erläutert eher eine Überschätzung des tatsächlichen Risikos bringen dürfte.

3. Wird das Lebenszeitrisiko für zum Tode führende Krebs-erkrankungen auf einen Zeitraum von 50 Jahren, d.h. 600 Monaten, angesetzt, entstehen im Mittel etwa 420 tödliche Krebserkrankungen pro Monat (250 000/ 600 ~ 420).

79

4. Wenn der von 0.01 Gy induzierte adaptive Schutz um-fassend etwa 1.5 Monate anhalten würde, wie dies Abb. 20 zeigt, wäre der durch Strahlen induzierte Schutz vor spontanem Krebsrisiko etwa gleich hoch wie das durch Strahlen induzierte Risiko.

5. Damit würde klinisch keine Erhöhung der Krebshäufigkeit nach 0.01 Gy zu erkennen sein.

Bei der Annahme einer kleineren oder höheren Dosis wür-den sich die obigen Zahlen natürlich ändern; aber der Effekt eines Schutzes gegen spontane Krebserkrankung würde bleiben, und zwar so lange, wie die Dosis in demjenigen Be-reich bleibt, in dem adaptive Schutzmechanismen optimal beobachtet werden, wie dies in Abb. 2.19 zu erkennen ist. Generell erscheint das Nettorisiko von durch Strahlen indu-zierten Krebserkrankungen gleich zu sein der Differenz zwi-schen den beiden dosisabhängigen Wahrscheinlichkeiten: 1. der durch Strahlen induzierten Krebserkrankungen hier ma-ximal basierend auf der linearen Dosis-Risiko Beziehung über primäre DNS-Schäden, und 2. der durch Strahlen sys-tembiologisch verminderten spontanen Krebserkrankungen. Dies illustriert das Schema in Abb. 2.22 für den Fall einer

0.2 0.4 0.6 0.8

Dosis (Gy)

–K

reb

sris

iko

+

Induktion vonprimären

DNS-Schäden

NettoKrebsrisiko

?

„Spontaner“ Krebs

Wirkung vonphysiologischem und

adaptivem Schutz

Dualer Effekt kleiner Dosen (niedrig-LET)Schema von Dosis-Risiko Beziehungen bei Krebserkrankungen

Feinendegen LE, Neumann RD, 2005

Abb. 2.22

80

einmaligen Exposition. Die in dieser Abb. eingezeichneten Kurven veranschaulichen schematisch eine Reihe von Be-funden, die weiter zu präzisieren sind aber grundsätzlich ei-ne experimentelle Grundlage haben.

2.7 Literatur

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82

3. Anwendung ionisierender Strahlung in Technik, Wissenschaft und Medizin

3.1 Energieerzeugung (Kernspaltung, Fusion)

Im Jahre 1938 machten Otto Hahn und Fritz Strassmann die Entdeckung, dass beim Beschuss von Uran mit thermischen Neutronen ein radioaktives Bariumisotop entsteht. Nachdem Lise Meitner und Otto Frisch die Beobachtungen der beiden kurze Zeit später als Spaltung der Urankerne interpretiert hatten, dauerte es nur 4 Jahre, bis Enrico Fermi die erste auf der Spaltung von 235Uran basierende Kettenreaktion in Gang gesetzt hatte. Durch den gerade stattfindenden Zwei-ten Weltkrieg wurde auch an die militärische Nutzung dieser Entdeckung gedacht und entsprechende Forschungs- und Entwicklungsarbeiten fanden ihren grimmen Höhepunkt im Bau von Atombomben („Manhattan Projekt“). Die tragischen Folgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Naga-saki machten klar, welch zerstörerisches Potential in der Kernspaltung innewohnen kann. Nach Beendigung des Krieges wurde intensiv an Wegen zur friedlichen Nutzung der in Atomkernen enthaltenen Energie gearbeitet. Im Jahre 1997 existierten weltweit 437 Kernkraftwerke, die zusam-men eine Kapazität von 352 GW elektrischer Leistung aufwiesen. Die mittels Kernkraft produzierte elektrische Energie entsprach einem Anteil von etwa 17 % an der global produzierten elektrischen Energie und machte etwa 6 % des globalen Energieverbrauchs aus (UNSCEAR 2000).

Für das Verständnis der Kernenergie ist die Tatsache wich-tig, dass sich die Bindungsenergie eines jeden Nukleons (d.h. eines Protons oder Neutrons) im Atomkern, ausgehend von leichten Kernen bis hin zu Kernen mit einer Massenzahl von etwa 60 erhöht. Dort erreicht sie ihr Maximum von circa 8,5 MeV pro Nukleon und nimmt dann für noch höhere Atommassen wieder ab (Abb. 3.1).

83

Abb. 3.1: Kernbindungsenergie pro Nukleon in Abhängigkeit von der Massenzahl des Atomkerns (Quelle: Lexikon der Kern-energie)

Daher ist es möglich, sowohl durch Fusion zweier leichter Kerne als auch durch die Spaltung zweier schwerer Kerne nukleare Energie zu gewinnen.

Kernfusion

Bei leichten Kernen mit gerader Neutronen- und Protonen-zahl (z. B. 4He) ist die Bindungsenergie pro Nukleon ver-glichen mit der Bindungsenergie benachbarter Kerne be-sonders hoch (Abb. 3.1). Eine typische Fusionsreaktion, bei der 4He entsteht, ist die so genannte DT-Reaktion. Dabei verschmelzen ein Deuterium- und ein Tritiumkern, wobei ein 4He-Kern und ein Neutron entstehen. Etwa 80 % der da-bei freigesetzten Energie von 17,6 MeV wird auf das Neu-tron übertragen, das deshalb wieder durch Sekundärprozes-se "eingefangen" und energetisch genutzt werden muss. Der Energiegewinn der Reaktion beträgt also etwa 3,5 MeV pro Nukleon und ist damit deutlich höher als der Wert von

Lithium

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0,9 MeV pro Nukleon, der beispielsweise für die Spaltung von 235U typisch ist (siehe unten).

Problematisch für die technische Realisierung und Nutzung der Kernfusion als Energiequelle ist, dass zur Fusion zweier Kerne erst deren Coulomb-Abstoßung überwunden werden muss. Aus klassischen Überlegungen geht hervor, dass im Falle der DT-Reaktion dazu eine Energie von 0,4 MeV be-nötigt würde, was in einem thermischen Plasma einer Tem-peratur von etwa 3 x 109 Kelvin entspräche. Quantenme-chanische Effekte führen zwar dazu, dass bereits deutlich niedrigere Temperaturen ausreichen, um eine Fusion beider Kerne zu erlauben. Allerdings sind die für einen kontrollier-ten, kontinuierlichen Betrieb eines Fusionsreaktors nötigen Temperaturen immer noch so hoch, dass die damit verbun-denen wissenschaftlichen und technologischen Schwierig-keiten die Entwicklung eines routinemäßig einsetzbaren Fu-sionsreaktors bis jetzt verhindert haben. Da im Gegensatz dazu weltweit eine Vielzahl an Kernreaktoren in Betrieb ist, soll der Schwerpunkt der weiteren Diskussion auf der Kern-spaltung liegen.

Kernspaltung

Bei der asymmetrischen Spaltung des Uranisotops 235U (das in der Natur nur mit einer Isotopenhäufigkeit von 0,7 % vor-kommt) in zwei Spaltfragmente mit Massenzahlen im Be-reich von etwa 90 und 140 werden im Mittel circa 0,85 MeV pro Nukleon an Bindungsenergie frei, was einer Energie von etwa 200 MeV entspricht. Diese Energie verteilt sich auf die kinetische Energie der Spaltfragmente (83 %), sowie auf prompte Gammastrahlung (4 %) und die bei den -Zerfällender Spaltfragmente entstehenden Elektronen (3 %), Anti- neutrinos (5 %) und Gammaquanten (3 %). Pro Spaltung ei-nes 235U-Kerns werden zudem im Mittel 2,5 Neutronen frei, die eine kinetische Energie von etwa 5 MeV (ca. 2 %) mit sich führen. Ein großer Teil der bei der Kernspaltung frei werdenden Energie führt durch Abbremsung der emittierten energetischen Partikel letztendlich zu einer Aufheizung des verwendeten Kernbrennstoffs. Über ein Kühlmittel kann die-se primäre Wärme beispielsweise über einen Wärmetau-scher abgegeben und der in einem Sekundärkreislauf er-

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zeugte Dampf Turbinen zur Elektrizitätserzeugung zugeführt werden.

Nicht alle spaltbaren Isotope sind für die Energieerzeugung gleichermaßen geeignet. Besonders gut eignen sich Isotope wie 233U, 235U, 239Pu, oder 241Pu, die aus einer geraden An-zahl von Protonen und einer ungeraden Anzahl von Neutro-nen bestehen („gu-Kerne“). Diese Isotope („starke Spaltstof-fe“) zeichnen sich dadurch aus, dass beim Einfang eines Neutrons ein besonders stabiler Kern mit einer geraden An-zahl von Protonen und Neutronen („gg-Kern“) entsteht (z. B. 234U, 236U, 240Pu, 242Pu). Die durch den Einfang des Neutrons freiwerdende Energie ist dabei so groß, dass die Spaltbar-riere schon durch den Einfang eines niederenergetischen, thermischen Neutrons überwunden und der Kern gespalten wird. Bei den so genannten schwachen Spaltstoffen (232Th,238U, 240Pu, 242Pu) dagegen muss das Neutron eine Energie im MeV-Bereich mitbringen, da die beim Einfang des Neu-trons und der Bildung des dabei entstehenden „gu-Kerns“ frei werdende Bindungsenergie alleine nicht ausreicht, um die Spaltbarriere zu überwinden. Daher kann die Spaltung von 235U bereits durch thermische Neutronen, die Spaltung von 238U dagegen nur durch schnelle Neutronen mit kineti-schen Energien im MeV-Bereich induziert werden.

Ein Vergleich mit dem Energiegehalt fossiler Brennstoffe macht deutlich, wie immens die beispielsweise in 235U inne-wohnende Kernenergie ist. Der primäre Energieinhalt eines Kilogramms Steinkohle beträgt 3x107 Joule. Mit den oben genannten Zahlen kann man abschätzen, dass die bei der Spaltung von einem Kilogramm 235U freigesetzte Kernener-gie in etwa dem Energieinhalt von mehr als 2,5 Millionen Ki-logramm Kohle entsprechen.

Reaktortypen

Die bei der Entwicklung der Kernenergie zur kommerziellen Energieumwandlung entwickelten unterschiedlichen Reak-torkonzepte werden im Folgenden kurz skizziert. Für die Spaltung eines 235U-Kerns reicht bereits ein die Reaktion auslösendes Neutron aus, und es werden dabei im Mittel 2,5 neue Neutronen freigesetzt. Stehen diese Neutronen für weitere Kernspaltungen zur Verfügung, kommt es zu einer

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Kettenreaktion (Abb. 3.2), in deren Verlauf es in kürzester Zeit (typischerweise in s) zu einer großen Energiefreiset-zung kommen kann (Explosion).

Abb. 3.2: Prinzip einer Kettenreaktion (Quelle: Lexikon der Kernenergie)

Eine wesentliche Aufgabe der Reaktortechnik besteht darin, sicherzustellen, dass beim Betrieb eines Reaktors im Mittel pro Kernspaltung unter Berücksichtigung aller Verluste an Neutronen genau ein Neutron für die nächste Spaltung zur Verfügung steht. Verluste an Neutronen entstehen zum Bei-spiel dadurch, dass der Bereich des Brennstoffs nicht un-endlich groß ausgedehnt ist, dass ein Teil der schnellen Spaltneutronen während des Prozesses der Moderation ab-sorbiert wird, dass thermalisierte Neutronen beispielsweise von Strukturmaterialien, vom Moderator oder von den Re-gelstäben und nicht von 235U absorbiert werden, und dass nur ein Teil der in 235U absorbierten Neutronen tatsächlich eine Kernspaltung induziert.

Ein Reaktor besteht im Wesentlichen aus einem Reaktor-kern, in dem sich der Kernbrennstoff befindet. Zur Kühlung des Kerns und Abführung der bei der Kernspaltung frei wer-denden Wärmeenergie ist ein mit einem Kühlmittel gefüllter Kühlkreislauf installiert. Je nach verwendetem Kühlmittel un-

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terscheidet man zwischen Leichtwasser-, Schwerwasser-, und gasgekühlten Reaktoren. Bei Reaktoren, die auf der Spaltung durch thermische Neutronen basieren („thermische Reaktoren“), ist zusätzlich ein Moderator vorhanden, der die bei der Spaltung entstehenden schnellen Neutronen ab-bremst. In vielen Fällen dient das Kühlmittel gleichzeitig als Moderator. Bei manchen Typen wird Graphit als Moderator verwendet. Reaktoren, die auf der Spaltung durch schnelle Neutronen basieren („schnelle Reaktoren“), benötigen da-gegen keinen Moderator. Geregelt wird ein Reaktor über Steuerstäbe, die je nach Bedarf in den Kern eingefahren werden können und aus Material wie zum Beispiel Cadmium bestehen, das thermische Neutronen besonders gut absor-biert.

Die bei der Kernspaltung entstehenden Spaltprodukte sind größtenteils radioaktiv, und auch in den Materialien, die den erzeugten Neutronen ausgesetzt sind, können durch den Einfang von Neutronen radioaktive Isotope entstehen. Daher wird bei Kernreaktoren eine Kombination aus unterschiedli-chen Barrieren verwendet, um zu verhindern, dass die er-zeugte Radioaktivität unkontrolliert in die Umgebung gelan-gen kann. Zu diesen Barrieren zählen die Hüllen der Brenn-elemente, der Reaktordruckbehälter, sowie der Reaktor-Sicherheitsbehälter aus Strahl, der schließlich von der Au-ßenschale des Reaktorgebäudes aus Strahlbeton umgeben ist.

Bei einem Druckwasserreaktor (Abb. 3.3) wird als Kühlmittel normales („leichtes“) Wasser verwendet. Im Primärkreislauf besteht ein hoher Druck von typischerweise 16 Mpa (Mega-pascal, entspricht 160 bar), der es erlaubt, das Kühlwasser auf etwa 300 °C aufzuheizen, ohne dass es zum Sieden und der damit verbundenen Dampfblasenbildung kommt. In ei-nem Sekundärkreislauf wird Dampf erzeugt, der dann eine Turbine antreibt. Beim Siedewasserreaktor (Abb. 3.4) herrscht dagegen im Primärkreislauf ein niedrigerer Druck von etwa 7 Mpa (70 bar), so dass das Kühlwasser teilweise siedet. Der entstehende Dampf wird direkt (d.h. ohne dazwi-schen geschalteten Wärmetauscher) zur Turbine geleitet. Da der im Wasser vorhandene Wasserstoff zudem einen gu-ten Neutronen-Moderator darstellt, kann bei beiden Reaktor-typen auf einen zusätzlichen Moderator verzichtet werden.

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Abb. 3.3: Prinzip eines Druckwasserreaktors (Quelle: Lexikon der Kernenergie).

Abb. 3.4: Prinzip eines Siedewasserreaktors (Quelle: Lexikon der Kernenergie).

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Bei Schwerwasserreaktoren, die hauptsächlich in Kanada eingesetzt werden, wird als Kühlmittel und Moderator schweres Wasser (D2O) eingesetzt. Zwar benötigen schnel-le Neutronen mehr Stöße an Deuterium als an Wasserstoff, bevor sie thermalisiert werden. Dieser Nachteil wird jedoch aufgewogen durch die Tatsache, dass Neutronen, die be-reits thermalisiert sind, in schwerem Wasser deutlich selte-ner absorbiert werden als in leichtem Wasser. Daher kann ein Schwerwasserreaktor mit Natururan betrieben werden, während für Leichtwasserreaktoren eine Anreicherung des 235U auf etwa 3 % nötig ist.

Gasgekühlte Reaktoren, bei denen z. B. CO2 oder Helium als Kühlmittel verwendet werden, erlauben eine höhere Kühlmitteltemperatur und erreichen einen Wirkungsgrad von etwa 40 %, der deutlich über dem der übrigen, thermischen Reaktortypen von etwa 33 % liegt. Beim schnellen Reaktor wird als Kühlmittel beispielsweise flüssiges Natrium verwen-det und auf einen Neutronen-Moderator verzichtet.

Im Hinblick auf die kommerzielle Nutzung und den routi-nemäßigen Einsatz haben sich global im Wesentlichen die beiden Arten von Leichtwasser-Reaktoren, Druck-, und Sie-dewasserreaktoren durchgesetzt. Zwar werden vereinzelt auch andere Typen (gasgekühlte Reaktoren, Schwerwas-serreaktoren) eingesetzt. Deren Anteil an der globalen Ener-gieproduktion durch Kernkraft ist jedoch vergleichsweise ge-ring. In Abb. 3.5 ist die Entwicklung der weltweit durch Kern-kraftwerke produzierten elektrischen Energie im Zeitraum von 1970 bis 1997, aufgeschlüsselt nach den verschiedenen Reaktortypen, dargestellt.

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Abb. 3.5: Entwicklung der global durch Kernspaltung produ-zierten elektrischen Energie von 1970 bis 1997. PWR: Druck-wasserreaktor („Pressurized water reactor“), BWR: Siede-wasserreaktor („boiling water reactor“), GCR: gasgekühlter Reaktor („gas-cooled reactor“), HWR: Schwerwasserreaktor („heavy water reactor“), LWGR: graphitmoderierter Leichtwas-serreaktor („light-water-cooled graphite-moderated reactor“) (UNSCEAR 2000).

Strahlenexposition durch den Betrieb von Kernkraft-werken

- Beschäftigte

Mit der Zahl an Kernkraftwerken nahm die Anzahl der in Kernkraftwerken beschäftigten und überwachten Personen seit 1975 kontinuierlich zu. Dies führte bis 1989 zu einer Zu-nahme der kollektiven Dosis. Im Zeitraum 1990–1994 war dagegen im angegebenen Zeitraum erstmals eine Abnahme der kollektiven Dosis zu verzeichnen, die daher rührt, dass die mittlere jährliche effektive Dosis für einen überwachten Arbeiter in einem Kernkraftwerk seit 1975 kontinuierlich und deutlich abnahm (Tabelle 3.11).

Erz

eugte

ele

ktrisc

he E

nerg

ie G

w a

Erz

eugte

ele

ktrisc

he E

nerg

ie G

w a

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Zeitraum Überwachte Personen

Mittlere jährliche Ef-fektivdosis

(mSv)1975–1979 150.000 4.11980–1984 290.000 3.61985–1989 430.000 2.51990–1994 530.000 1.4

Tab. 3.1: Anzahl und mittlere jährliche Effektivdosis von Perso-nen, die in Kernkraftwerken beschäftigt waren und deren Ex-position überwacht wurde (Unscear 2000).

- Bevölkerung

Durch den Betrieb von Kernkraftwerken werden im Reaktor-kernbereich radioaktive Spalt- und Aktivierungsprodukte er-zeugt, die zu einem sehr geringen Teil trotz effektiver Rück-haltevorrichtungen in die Umwelt kontrolliert abgegeben werden. Dazu zählen radioaktive Isotope von Edelgasen wie 133Xe (T1/2 = 5,3 Tage) und 85Kr (T1/2 = 10,7 Jahre). Tritium (T1/2 = 12,26 Jahre) kann insbesondere von Schwerwasser-reaktoren freigesetzt werden, bei denen es durch Neutro-nenaktivierung von Deuterium entsteht. Auch 14C (T1/2 = 5.730 Jahre) kann ein wesentlicher Bestandteil gasförmiger Freisetzungen sein. Tabelle 3.2 fasst die hauptsächlichen gasförmigen und flüssigen Freisetzungen eines modernen kommerziellen Druckwasserreaktors zusammen.

Edelgas-isotope

14C(gas-

förmig)

Tritium(gasför-

mig)

Tritium(flüssig)

Freiset-zung

(Bq/Jahr)

9,75 x 1011

5,14 x 1011

3,85 x 1011

2,37 x 1013

Tab. 3.2: Typische jährliche gasförmige bzw. flüssige Frei-setzungen eines großen modernen Druckwasserreaktors in Deutschland (Landold-Börnstein, Bd 3, 2005).

Die Konzentrationen der freigesetzten Radionuklide sind in der Umwelt – außer manchmal nahe eines Reaktors – nicht messbar. Daher muss sich die Abschätzung der dadurch

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verursachten Dosen für die Bevölkerung auf Modellrech-nungen stützen, die den atmosphärischen und aquatischen Transport dieser Radionuklide beschreiben, ihren möglichen Transport durch Umweltmedien und Nahrungsmittel und ei-ne eventuelle Inkorporation durch den Menschen berück-sichtigen und daraus für Referenz-Personen und -Szenarien externe und interne Expositionen quantitav und konservativ abschätzen. Unter der Modellannahme, dass in einem Um-kreis von 50 km um einen Reaktorstandort eine Bevölke-rungsdichte von 400 Personen/km2 typisch ist, ergibt sich für Anwohner in diesem Umkreis beispielsweise durch den Be-trieb eines Druckwasserreaktors zusätzlich eine jährliche, über diese Bevölkerung gemittelte, effektive Dosis von etwa 5 Sv. Für einen Siedewasserreaktor liegt der entsprechen-de Jahres-Wert bei 10 Sv (UNSCEAR 2000), was ver-gleichsweise numerisch etwa dem Doppelten der mittleren täglichen Strahlenexposition eines deutschen Bürgers aus natürlichen Quellen entspricht. Konkrete Werte für deutsche Kernkraftwerke werden in Kapitel 4.3 ausführlicher disku-tiert.

Radionuklide mit langen Halbwertszeiten, die sich leicht in der Umwelt ausbreiten, können zudem global zu einer Er-höhung der Strahlenexposition führen. Dazu zählen neben den bereits erwähnten Tritium, 14C und 85Kr das langlebige radioaktive Iodisotop 129I (T1/2 = 1,6 x 107 Jahre). Würden beispielsweise die 14C-Freisetzungen in den Aktivitäts-Men-gen des Jahres 2000 auch in Zukunft stattfinden, ergäbe sich für die Bevölkerung im Jahre 2050 global eine zusätzli-che, durch die 14C-Freisetzungen bedingte Dosis von etwa 0,1 Sv/a (UNSCEAR 2000).

3.2 Beispiele für Anwendungen in der Industrie

Ionisierende Strahlung findet bei einer Reihe von industriel-len Verfahren Anwendung. Dabei handelt es sich beispiels-weise um Verfahren der zerstörungsfreien Materialanalyse oder um Bestrahlungen zur Sterilisation medizinischer und pharmazeutischer Produkte. Auch Radioisotope werden als Quellen ionisierender Strahlung verwendet – sei es als Tra-cer zum Studium kinetischer Prozesse, zum Monitoring von Abbrandprozessen oder in der pharmazeutischen Industrie

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für diagnostische oder therapeutische Zwecke in der Nukle-armedizin.

Radiographie

- Werkstoffprüfung

Die physikalischen Eigenschaften hochenergetischer elek-tromagnetischer Strahlung (Röntgen-, Gammastrahlung) er-lauben deren Einsatz auch bei der zerstörungsfreien Unter-suchung von Proben unterschiedlichster Herkunft. Bei der Radiographie wird die elementspezifische Schwächung elektromagnetischer Strahlung beim Durchgang durch Mate-rie ausgenutzt und beispielsweise für Materialprüfungen eingesetzt – etwaige Herstellungsfehler an Gussteilen oder Autoreifen sind nach Durchleuchtung auf einem radiographi-schen Bild sichtbar.

Prinzipiell werden zwei Vorgehensweisen angewendet: Entweder werden die zu untersuchenden Objekte zu einem fest installierten Gerät gebracht, oder ein tragbares Gerät wird eingesetzt, das die Untersuchung fest installierter Objekte (wie zum Beispiel die Untersuchung von Pipelines auf Schäden in den Schweißnähten) vor Ort erlaubt. Als Strahlenquellen kommen meist entweder 192Ir (Halbwerts-zeit: 74 Tage) einer Aktivität zwischen 1,8 x 1012 und 4,4 x 1012 Bq, 60Co einer Aktivität von etwa 3 x 108 Bq oder 137Cseiner Aktivität zwischen 3 x 108 und 8 x 1010 Bq zum Ein-satz. Bei den verwendeten Röntgenröhren liegen die Spannungen typischerweise zwischen 60 und 300 kV.

Weltweit waren zwischen 1990 und 1994 bei der industriel-len Anwendung radiographischer Verfahren mehr als 100.000 Personen beschäftigt, die mit einer mittleren jährli-chen effektiven Dosis von etwa 1,6 mSv exponiert waren, 53.000 davon waren einer entsprechenden Dosis von mehr als 3 mSv ausgesetzt (UNSCEAR 2000).

- Röntgenfluoreszenz-Analyse

Bei der Röntgenfluoreszenz-Analyse werden mittels Rönt-genstrahlung die Atome des zu untersuchenden Materials elementspezifisch angeregt. Die bei der Abregung freige-

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setzte charakteristische Röntgenstrahlung dient dem Nach-weis der entsprechenden Elemente.

Industriell genutzte Bestrahlungsanlagen

- Anlagen zur Sterilisation und Konservierung

Seit Ende der 1950er Jahre wird ionisierende Strahlung in-dustriell für Bestrahlungen eingesetzt. Laut (UNSCEAR 2000) sind weltweit etwa 160 Einrichtungen vorhanden, die zur Bestrahlung Gammastrahlung, und 600 weitere, die Be-ta-Strahlung verwenden. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Anlagen zur Sterilisation medizinischer oder pharmazeutischer Produkte, zur Konservierung von Nah-rungsmitteln (die Konservierung von Nahrungsmitteln ist bis auf wenige Ausnahmen, z. B. Gewürze, in Deutschland nicht zugelassen), zur Materialbearbeitung oder zur Desinfektion nach Insektenbefall. Im Falle der Gammabestrahlungs-Einrichtungen werden meistens 60Co-Quellen (Halbwerts-zeit: 5,3 Jahre; Gammaenergie: 1,1 MeV und 1,3 MeV) einer Aktivität im Bereich von 1015 Bq–1016 Bq verwendet, selte-ner werden auch 137Cs-Quellen (Halbwertszeit: 30,2 Jahre; Gamma-Energie: 661 keV) eingesetzt. Da am Ort der Be-strahlung mit hohen Dosen gearbeitet wird – typische Dosis-raten liegen bei einem Gray pro Sekunde – sind die Anlagen mit dicken Abschirmeinrichtungen ausgerüstet, um die Strahlenexpositionen für das Personal gering zu halten.

Im Zeitraum 1990–1994 erhielten die weltweit etwa 57.000 in diesem Bereich Beschäftigten nur eine mittlere jährliche effektive Dosis von 0,1 mSv. Bei etwa 2.500 Personen kam es aber zu höheren Expositionen, die zu einer mittleren jähr-lichen effektiven Dosis dieser Gruppe von 2,3 mSv führten (UNSCEAR 2000).

- Anlagen zur Polymerisation von Kunststoffen

Da bei Bestrahlung chemische Bindungen aufgebrochen werden, können dadurch die Eigenschaften verschiedenster Kunststoffe verändert werden. Diese Eigenschaft wird bei-spielsweise bei der Polimerisation von Kunststoffen bei der Herstellung von Schrumpfmaterialien angewendet.

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Herstellung von Radioisotopen

Radioaktive Isotope werden hergestellt für einen weiten An-wendungsbereich in Industrie und Medizin. Beispiele für die Anwendungen von Gammastrahlern wie 137Cs und 60Cowurden bereits weiter oben angesprochen. Radioisotope finden außerdem Anwendung bei der Untersuchung des ki-netischen Verhaltens bestimmter Elemente in verschiedens-ten Umgebungen. Dazu zählt zum Beispiel die Untersu-chung des menschlichen Metabolismus bestimmter Elemen-te mit radioaktiven Isotopen desselben Elements („Tracer-Verfahren“, siehe unten). Man macht sich dabei zunutze, dass die chemischen Eigenschaften eines Elements nur von der Anzahl der Elektronen in der Atomhülle abhängen, und dementsprechend alle Isotope desselben Elements identi-sche chemische Eigenschaften aufweisen. Wenn physikali-sche Unterschiede zwischen den Isotopen eines Elements (z. B. Atomgewicht, Atomdurchmesser) vernachlässigt wer-den können, dann kann ein radioaktives Isotop, das wegen der beim Zerfall ausgesandten Strahlung leicht nachgewie-sen werden kann, verwendet werden, um das Verhalten der stabilen Isotope desselben Elements zu untersuchen. Weite-re wichtige Anwendungen von Radioisotopen finden sich in der Nuklearmedizin sowie in der medizinischen Diagnostik (PET, Szintigraphie). Diese werden an anderer Stelle disku-tiert.

- Radioisotope in Kalibrierquellen

Ein weiterer Anwendungsbereich von Radioisotopen stellt die Herstellung von Prüf- und Kalibrierquellen definierter Ak-tivität und Geometrie (Punkt-, Flächen-, Volumenquelle) dar, die eingesetzt werden, um beispielsweise Messgeräte für den Nachweis von ionisierender Strahlung auf ihre Funkti-onsfähigkeit zu überprüfen und ihr energieabhängiges An-sprechvermögen zu quantifizieren. Stellvertretend sei hier das Radioisotop 152Eu erwähnt (Halbwertszeit: 13,33 Jahre), das beim Zerfall eine Reihe Gammaquanten unterschied-lichster Energie mit unterschiedlichen, aber gleichfalls be-kannten Intensitäten emittiert (von 122 keV bis 1,4 MeV). Hiermit können die Nachweiswahrscheinlichkeiten von Pho-tonen unterschiedlicher Energien von Halbleiter- oder Szin-tillationsdetektoren über einen weiten Energiebereich be-

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stimmt werden. Die in diesem Bereich eingesetzten radioak-tiven Quellen kommen mit einer deutlich geringeren Aktivität aus als die weiter oben diskutierten Quellen, die in der Ra-diographie oder in Bestrahlungsanlagen eingesetzt werden. In vielen Fällen ist eine Aktivität im unteren kBq-Bereich be-reits ausreichend.

- Radioisotope für Rauchmelder

Auch Produkte im Alltag können in kleinen Konzentrationen künstlich hergestellte Radioisotope enthalten. Ein Beispiel dafür sind Rauchmelder, in denen häufig eine 241Am-Quelleeingebaut ist. In einer Ionisationskammer werden die beim Zerfall des 241Am (Halbwertszeit: 433 Jahre) emittierten Al-pha-Teilchen nachgewiesen. Falls Rauchteilchen eindrin-gen, verringert sich das von der Ionisationskammer nach-gewiesene Signal. Bei dieser Anwendung reicht bereits eine 241Am-Aktivität von einigen kBq aus.

- Radioisotope in Regel- und Messeinrichtungen

Die Abschwächung von Gammastrahlung beim Durchgang durch Materie wird in der Industrie beispielsweise auch ge-nutzt bei der Messung von Füllstandshöhen in Behältern oder bei der Überprüfung von Restwandstärken von sich abnutzenden Bauteilen.

Weltweit waren von 1990–1994 in der Herstellung von Ra-dioisotopen etwa 24.000 Personen beschäftigt. Diese waren einer mittleren jährlichen effektiven Dosis von etwa 2 mSv ausgesetzt.

3.3 Beispiele für Anwendungen in der Wissen-schaft

Ionisierende Strahlung besitzt ein enorm breites Anwen-dungsspektrum in der allgemeinen Wissenschaft, sodass an dieser Stelle nur eine kleine Auswahl davon gegeben wer-den kann. Alles was der Mensch heute über das unendliche Universum und die kleinsten Elementarteilchen, die die Welt im Inneren zusammenhalten, weiß, beruht letztlich auf der wissenschaftlichen Beobachtung, Analyse und Interpretation

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von Strahlenmessungen. Die Temperatur der Erde wird durch die radioaktive Zerfallswärme natürlicher Radionuklide im Erdinneren auf das für das Leben wichtige Niveau erhöht. Radioaktivität ist überall (ubiquitär) und seit der Entstehung der Erde (primordial) in der Natur vorhanden. Die meisten (ca. 1.800) der bekannten Isotope (über 2.700) des Perio-densystems der Elemente zeigen diese Eigenschaft. Die Wissenschaft zieht daraus vielfältigen Nutzen auf vielen Ge-bieten.

Radioisotope

Im vorhergehenden Kapitel wurde bereits die industrielle Herstellung und der Einsatz von Radionukliden als zuge-setzte, "exogene" Tracer in Forschung und Wissenschaft erwähnt. Dabei werden Radioisotope desjenigen Elements, dessen dynamisches Verhalten im Menschen, einer Pflanze, etc. oder in einem unbelebten Umweltkompartent untersucht werden soll, in Spurenmengen dem System kontrolliert zu-gegeben. Diese Spurenmengen sollen möglichst das stu-dierte Objekt oder das Verhalten des Elements in ihm nicht verändern und in den Proben, die dem System entnommen werden, gerade noch quantitativ hinreichend genau nach-weisbar sein. Es sei aber auch darauf hingewiesen, dass auch Radionuklide, die aus technischen Anlagen routine-mäßig (z. B. aus den Wiederaufarbeitungsanlagen in Sella-field und an der französischen Atlantikküste) oder bei Stör- und Unfällen (z. B. beim Reaktorunfall von Tschernobyl) in die Atmosphäre oder die aquatische Umwelt abgegeben werden, zum wissenschaftlichen Studium z. B. von Laufzei-ten und Transportwegen von Wasserkörpern in Meeresströ-mungen im Atlantik, von kontaminierten Luftmassen in der Troposphäre und Stratosphäre, oder von Stoffen in der Nah-rungskette für wissenschaftliche Zwecke benutzt werden.

Bei der kontrollierten Verwendung von kleinen Mengen von Radioisotopen wird z B. das Verhalten von interessierenden Atomen oder chemischen, pharmazeutischen Molekülen im Menschen für Zwecke der Pharmazie oder der internen Do-simetrie untersucht, das Verhalten von Düngemitteln in der Umwelt oder der Fluss von Wasserkörpern im Untergrund, in Flüssen oder im Meer.

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Die dabei eingesetzten Radionuklide sollten u. a. die Eigen-schaft haben, dass sie in den benötigten Konzentrationen nicht toxisch auf die untersuchte Einheit wirken, ihre Halb-wertszeiten der zeitlichen Länge der jeweiligen Untersu-chungen optimal angepasst sind und ionisierende Strahlung emittieren, die hinsichtlich Strahlenart und -Energie effizient nachgewiesen werden kann. Die zugesetzten Radionuklide (es können auch gleichzeitig mehrere verschiedene Isotope in unterschiedlicher chemischer Art und mit unterschiedli-chen Halbwertszeiten eingesetzt werden) stellen oft eine im Moment der Zugabe gestartete "Stoppuhr" dar, mit deren Hilfe auch Laufzeiten von Stoffen in den untersuchten Sys-temen studiert werden können (z. B. Meeresströmungen, atmosphärische Verfrachtungen).

Es können aber auch Konzentrationen von "endogenen", d.h. einem untersuchten Kompartment nicht künstlich von außen zugesetzte, sondern in ihm natürlicherweise vor-kommende Tracerisotope wissenschaftlich analysiert wer-den z. B. zum Zwecke der Alters- und/oder Herkuftsbestim-mung eines Objektes. Diese nutzen den Vorteil, dass die intranuklearen Kernbindungkräfte um viele Größenordnun-gen größer sind als die thermischen und chemischen Ener-gien, die in der Umwelt überhaupt vorliegen können. In der Geochronologie, d.h. der Altersbestimmung von Gesteinen, betrachtet man Radionuklide mit sehr langen Halbwertszei-ten (HWZ, in aufsteigender Reihenfolge), wie z. B.

- die 235U - 207P - Datierung ( 0,7 Mrd. Jahre HWZ), - die 40K - 40Ar - Datierung ( 1,3 Mrd. Jahre HWZ), - die 238U - 206Pb - Datierung ( 4,5 Mrd. Jahr HWZ), - die 232Th - 208Pb - Datierung ( 14 Mrd. Jahre HWZ), - die 87Rb - 87Sr - Datierung ( 49 Mrd. Jahre HWZ), - die 147Sm - 143Nd - Datierung (106 Mrd. Jahre HWZ).

Bei Verwendung der sog. Isochronendiagramme müssen die anfänglichen Radionuklidkonzentrationen und Isotopenver-hältnisse der Folgenuklide der Zerfallsketten nicht bekannt sein. Sie resultieren aber – neben dem meist primär zu be-stimmenden Alter der Probe – auch aus der Untersuchung und erlauben Aussagen über eventuelle Einflüsse der Um-welt auf die Messungen.

99

Zu Lebens-Beginn des Sonnensystems gab es in den sola-ren Nebeln bereits die relativ kurzlebigen Radionuklide 26Al,60Fe, 53Mn und 129J, die vermutlich durch Explosionen von Supernovae entstanden waren. Sie selbst sind zwar inzwi-schen völlig zerfallen, aber ihre Folgeprodukte können noch in alten Meteoriten entdeckt und gemessen werden (z. B. durch Massenspektrometer). Mit Hilfe von Isochrondiagram-men können dann relative Zeiten seit Ereignissen in der Frühgeschichte unseres Universums bestimmt werden; bei zusätzlicher U-Pb Datierung können hier manchmal sogar absolute Alter abgeschätzt werden.

Viele Minerale zeigen auch die physikalische Eigenschaft der Thermolumineszenz. Die Gehalte an natürlichen 40K-,238U- und 232Th-Isotopen und das natürliche externe Strah-lungsfeld am Gesteinsort bewirken bei der Wechselwirkung von ionisierender Strahlung mit den Steinen (oder zivilisato-rischen Keramikobjekten) die Bildung von Elektronen-Lochpaaren. Diese Mineralien verhalten sich wie ein zeitlich integrierendes Dosimeter, was u. a. in der Archäologie zur Altersbestimmung ausgenutzt wird. Die Elektronen bleiben recht langfristig in den energetisch höheren Haftstellen der vorhandenen Verunreinigungen hängen und senden erst bei der Aufheizung des Minerals und der dabei stattfindenden Leerung der Haftstellen und Rücksetzung des Signals im Labor (oder durch eine Erhitzung im Feld oder bei der Ke-ramikfabrikation) optisch messbare Strahlung aus. Aus der Menge dieser Strahlung an geeigneter Stelle im Spektrum kann – nach dann erfolgter Kalibrierung – das Alter oder die thermische Vorgeschichte eines Steins oder einer Keramik bestimmt werden.

In der Archäologie werden auch Radionuklide verwendet, al-lerdings mit bedeutend kürzeren HWZ. Hier wird sehr oft die Radiokohlenstoff (14C)- Datierung (HWZ = 5.730 Jahre) auf organische Testobjekte angewandt, die allerdings dann nicht älter als 60.000 Jahre sein sollten.

Radiokohlenstoff entsteht ständig (mit leichten, durch die Sonnenaktivität gegebenen Schwankungen) global in der Atmosphäre durch Einwirkung von sekundären, thermalisier-ten Neutronen der kosmischen Strahlung auf Luft-Stickstoff nach dem Schema 14N (n,p) 14C. Dieser zuerst atomare

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Kohlenstoff ist schnell in der chemischen Form von CO2 zufinden, nimmt so am normalen Kohlenstoffkreislauf in der Biosphäre und an der pflanzlichen Assimilation teil, solange diese Pflanzen leben. Nach dem Absterben verringert sich durch den radioaktiven Zerfall des 14C ständig sein Kon-zentrations-Verhältnis zu stabilem 12C (z. Zt. ist dieses bei lebenden Pflanzen ca. 16 Zerfälle pro Minute pro Gramm Kohlenstoff), woraus die Zeit seit dem Absterben der Pflan-zen abgeleitet werden kann.

Partikel- und Photonenstrahlung

Es gibt weltweit eine große Anzahl großer wissenschaftli-cher linearer oder kreisförmiger Teilchenbeschleuniger (z. B. bei CERN, DESY, GSI, etc.) und viele Beschleuniger niedri-gerer Energien an Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, die letztlich ionisierende Strah-lung zu wissenschaftlichen Zwecken erzeugen. Diese haben zu großartigen wissenschaftlichen Entdeckungen geführt (z. B. unzählige neue Isotope und Elementarteichen wurden entdeckt), die durch eine große Zahl hierfür vergebener No-belpreise ausgezeichnet wurden.

Seit der Entwicklung der Prinzipien eines Zyklotrons durch den Schweizer Wideroe und dessen erste, Handteller-große Realisierung (10 cm Durchmesser) durch E.O. Lawrence 1930 an der University of California in Berkeley haben derar-tige kreisförmigen Maschinen (Synchrotrons) heute deutlich größere Dimensionen (LEP-CERN 8,5 km Durchmesser) angenommen und benutzten supraleitende Magnete. Kreis-förmige Beschleuniger erzeugen auch Photonenstrahlung, Synchrotronstrahlung genannt, die heute weltweit (z. B. deutsche Anlagen BESSY und DESY, europäische Anlage in Grenoble, Rutherford-Appleton Laboratory, Harwell, UK, Advanced Light Source, Argonne,USA, Stanford Linear Ac-celerator (3 km lang): SPEAR, CA) intensiv auch zur Struk-turaufklärung biologischer Moleküle (z. B. Röntgenstreuung an Proteinen) eingesetzt wird.

Der Schutz der Gesundheit der an Hochenergie-Beschleu-nigeranlagen Arbeitenden vor ionisierender Strahlung und die geforderte Orts- und Personendosimetrie stellen in vie-len Fällen eine ungewöhnlich schwierige Aufgabe des Strah-

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lenschutzes dar. Dies liegt zum einen an der großen Vielfalt von primären und sekundären Teilchen und Atomen, die zur externen und internen Strahlenexposition in Beschleuniger-umwelten beitragen können. Zum anderen können die Mes-sungen der externen Photonen- und Teilchen-Strahlungen an diesen Stellen wegen der teilweise extrem kurzen Puls-zeiten, den oft sehr hohen Teilchen-Energien und der dort noch fehlenden Strahlenwirkungsquerschnitte und Instru-mentenkalibrierungen sehr schwierige Aufgaben des Strah-lenschutzes darstellen.

Untersuchungen im Forschungsreaktor FRM2-

Die neue deutsche Hochfluss-Neutronenquelle "Heinz Mai-er-Leibnitz (FRM-II)", als Nachfolger des berühmten Gar-chinger Atom-Ei's, dient vielfältigen Zwecken der Forschung, Wissenschaft, Medizin und Technik. Vor allem ist sie ausge-legt für Strahlrohrexperimente in den Materialwissenschaf-ten und der Katalyseforschung, für Oberflächen- und De-fektanalyse mit Positronen, für verschiedenste Forschungs-fragen in den Lebenswissenschaften und der Medizin (z. B. Tumortherapie), aber auch für Radiographie und Tomogra-phie. Es können zusätzlich Proben intern bestrahlt werden, unterschiedliche Isotope produziert und Silizium dotiert wer-den.

3.4 Beispiele für Anwendungen in der Medizin zur Diagnostik und Therapie

Radionuklide in der modernen medizinischenDiagnostik und Therapie

- Voraussetzungen zur Anwendung von Radio-nukliden in der Medizin

Radioaktive Elemente, auch Radionuklide genannt, sind zur Untersuchung elementarer Lebensprozesse in den ver-schiedenen Organen und Geweben eines Patienten heute unentbehrliche Werkzeuge der medizinischen Diagnostik. Darüber hinaus können sie auch therapeutisch höchst wirk-sam sein.

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Wie alle lebenden Gewebe ist auch der menschliche Körper aus nur wenigen Atomarten aufgebaut: im wesentlichen sind es Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Schwefel und Phosphor; dazu kommen Kalzium, insbesondere für den Knochenaufbau, und darüber hinaus noch eine Vielzahl sehr kleiner Mengen von Elementen, die als Spurenelemente Hilfsfunktionen zur Aufrechterhaltung der elementaren Le-bensvorgänge wahrnehmen. Atome einzelner Elemente sind im Körper nach bestimmten Gesetzen zu vielfältigen Mole-külen verbunden. Ihre besondere Struktur und Funktion bestimmen wiederum als Bausteine größere Strukturen.

Der Mensch nimmt mit seiner Nahrung die für ihn notwendi-gen Bausteine auf. Diese werden im Körper auf eine höchst komplexe Weise mit Hilfe von spezifischen biologischen Konstruktionsmolekülen, den so genannten Enzymen, für den Aufbau von größeren, funktionstragenden Strukturen eingesetzt und kompensieren dadurch gleichzeitig ablaufen-de strukturelle Abbauprozesse im Körper. Diese Vorgänge nennt man in ihrer Gesamtheit den Stoffwechsel.

Auch die einzelnen Zellen sind wie in einem großen Netz-werk aufeinander abgestimmt und unterliegen Regulationen, die durch als Signalsubstanzen bezeichnete Moleküle ver-mittelt werden. Diese werden von spezialisierten Zellen ab-gegeben und finden auf der Oberfläche anderer Zellen für die Erkennung der Signalsubstanzen spezifische Rezepto-ren, die wie ein Schlüsselloch nur bestimmte Schlüssel er-kennen können. Jeder Zelltyp im Körper hat ganz spezielle Aufgaben, die den Organen und Geweben ihre besondere Funktion verleihen. In Organen mit hohem Zellverlust, wie der Haut, der Magen-Darm-Schleimhaut, dem Knochenmark und den Lymphknoten findet man stets eine mehr oder we-niger stark ausgeprägte Zellteilung, die den normalen Zell-verlust ersetzt. Auch die Zellteilungen werden nicht nur durch den Stoffwechsel der Zellen selbst, sondern auch durch Signalsubstanzen zwischen verschiedenen Zellen ge-steuert. Fällt diese gezielte Zellteilung aus, kann dies zu bösartigen Tumoren führen.

Auch einzelne Organe kommunizieren als Ganzes über spe-zialisierte Zellen mit entsprechend spezialisierten Zellen anderer Organe, da auch Steuerungsmechanismen zwi-schen den verschiedenen Organen des Körpers bestehen.

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Nur so funktioniert der Körper als Einheit. Die Gesamtfunk-tion des Körpers ist somit schließlich abhängig vom Stoff-wechsel der einzelnen Organe.

Bis Anfang des letzten Jahrhunderts waren Stoffwechsel-vorgänge nur wenig bekannt, da man sie nur indirekt mit aufwändigen biochemischen Methoden an dem Organismus entnommenem Gewebe untersuchen konnte. Nach Entde-ckung der Radionuklide und nach deren Einsatz für wissen-schaftliche Untersuchungen bekamen Wissenschaft und Medizin ein ideales Werkzeug in die Hand, mit dem die Stoffwechselprozesse im lebenden Organismus untersucht werden konnten. Radioaktive Isotope eines Elementes sind zwar chemisch identisch mit den entsprechenden nicht ra-dioaktiven Elementen, sie senden jedoch Strahlen aus, die man mit entsprechend empfindlichen Geräten außerhalb des Körpers nachweisen kann. Da der Organismus nicht zwischen radioaktiven und nicht radioaktiven Elementen un-terscheiden kann, nimmt er auch die radioaktiven Substan-zen in gleicher Weise wie die nicht radioaktiven Elemente in seinen Stoffwechsel auf, wenn ihm die radioaktiven Isotope angeboten werden. Dies kann mit der Nahrungsaufnahme (per oral) oder, in der Regel, als intravenöse Injektion erfol-gen. Radionuklide, die am Stoffwechsel teilnehmen, können mit einer geeigneten Technik außerhalb des Körpers ver-folgt werden.

Die Möglichkeit zur Nutzung von Radionukliden als Indikato-ren des Stoffwechsels wurde früh von G. von Hevesy er-kannt, der 1923 mit dem natürlichen Radionuklid des Blei Un-tersuchungen an Pflanzen durchführte. Dieser Anstoß zum Einsatz von Radionukliden als Indikatoren zur Prüfung des Stoffwechsels in lebenden Systemen führte letztlich zu deren heutigen breiten Anwendung in der gesamten Biologie und Medizin. Von Hevesy erhielt hierfür 1943 den Nobelpreis.

Schon wenige Jahre nach der ersten Veröffentlichung durch von Hevesy konnten H. L. Blumgard und S. Weiss 1927 mit Hilfe des natürlichen Radionuklids Wismut (Wismut-210, auch Radium C genannt) und einfachen Strahlennachweis-geräten die Zirkulationszeit des Blutes im Menschen von der Injektionsstelle am Arm zum Herzen und wieder zum ande-ren Arm messen; dabei wurden bei Patienten mit Herz-schwäche veränderte Werte gefunden. Diesen und anderen

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vereinzelten Pionierleistungen folgte im Jahr 1934 die Ent-deckung der künstlichen Radionuklide Stickstoff-13 und Phosphor-30 durch Madame I. Curie und ihren Mann, J. F. Joliot. Dadurch wurde eine größere Anwendung der Radio-nuklide als Indikatoren für Stoffwechseluntersuchungen überhaupt erst möglich. Sehr bald wurden auch weitere künstlich hergestellte Radionuklide entdeckt. So erzeugte noch im selben Jahr 1934 E. Fermi radioaktives Iod, das biologisch deswegen interessant ist, weil die Schilddrüse als einziges Organ eine relativ große Menge Iod benötigt, und zwar für die Synthese der Schilddrüsenhormone. 1935 be-richtete v. Hevesy über seine Experimente mit radioaktivem Phosphor (Phosphor-32) an Ratten und konnte feststellen, dass der im Körper vorkommende Phosphor in den einzel-nen Organen einen unterschiedlichen Umsatz hat, der in bösartigen Tumoren relativ hoch ist. Schon 1937 begann in Boston eine interdisziplinäre Gruppe mit dem Arzt S. Hertz und den Physikern A. Roberts und R. D. Evans radioaktives Iod (Iod-128) als Indikator der Schilddrüsenfunktion bei Ka-ninchen auszuprobieren. Die Grundlage der Schilddrüsen-diagnostik mit radioaktivem Iod wurde 1938 von diesen For-schern veröffentlicht.

Nach dem zweiten Weltkrieg konnte der von E. Fermi am 2.12.1942 in Betrieb genommene Kernreaktor in Chicago als große Neutronenquelle für die Großproduktion von vie-len verschiedenen Radionukliden eingesetzt werden, womit der Weg für den allgemeinen klinischen Einsatz dieser Indi-katortechnik freigemacht wurde. Das erste Angebot zum Verkauf von Radionukliden wurde am 14.6.1946 in der Zeit-schrift „Science" bekannt gegeben.

- Radionuklide in der Diagnostik

Voraussetzung für die Anwendung von Radionukliden in der medizinischen Diagnostik ist, dass die von diesen Radionukli-den ausgehende Strahlung den Organismus der Patienten durchdringen und von außen gemessen werden kann. Hierfür eignen sich nur Radionuklide mit einer höheren Reichweite der Strahlung, der Gammastrahlung.

Die erweiterte Anwendung von Radionukliden in der medizini-schen Diagnostik setzte die Entwicklung von Strahlennach-weisgeräten voraus, welche auch in der Lage sein mussten, die

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räumliche Verteilung der Radionuklide im Organismus bild-lich darzustellen. Grundprinzip aller dieser Nachweisgeräte ist ein besonders aktivierter Natrium-Iodid-Kristall, der in der Lage ist, einfallende Gammastrahlen in sichtbares Licht um-zuwandeln, das dann weiter verarbeitet werden kann. Die ersten Geräte dieser Art, Szintigraphen genannt, wurden An-fang der 50er Jahre entwickelt. Bei diesen Geräten bewegte sich ein kleiner Mess-Kristall zeilenförmig über das zu unter-suchende Gebiet des Körpers hinweg und das jeweilige Messergebnis wurde in Form von schwarzen, bzw. bunten Strichmarkierungen auf Papier ausgedruckt (Szintigramm). Dabei war die Intensität der Schwärzung, bzw. die Art der Farbe proportional zur Intensität der gemessenen Strahlung.

Schon wenige Jahre später wurde diese Technik durch so genannte Gammakameras (Abb. 3.6a) bereichert, die durch einen großen Mess-Kristall gleichzeitig die Intensität und die Lokalisation der Strahlung in einem Feld von bis zu etwa 50 cm x 50 cm erfassen können. Zusätzlich haben diese Gammakameras den Vorteil, auch sehr schnell ablaufende Änderungen der von den Radionukliden stammenden Strah-lung registrieren zu können; so sind z. B. bei der Herzdia-gnostik bis zu 100 Aufnahmen pro Sekunde möglich, so dass die im Herzen sehr schnell ablaufenden Funktionsabläufe er-fasst werden können. Diese Szintigramme werden heute in der Regel an speziellen EDV-Bearbeitungsstationen sichtbar gemacht und ausgewertet (Abb. 3.6b). Eine zusätzliche Do-kumentation dieser digitalen Daten kann auf CD, Papier oder Röntgenfilm erfolgen.

Abb. 3.6a Doppelkopf-Gamma-Kamera

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Abb. 3.6b EDV-Bearbeitungsstation zur Bildbetrachtung und Befundung

Im Laufe der letzten Jahrzehnte gelang es, eine Vielzahl von Substanzen, die in den Stoffwechsel einzelner Orga- ne eingeschleust werden können, mit gammastrahlenden Nukliden zu markieren und damit die Funktion dieser Orga-ne zu erfassen. Die radioaktiven Substanzen, die für die Diagnostik am Menschen eingesetzt werden, werden Radio-pharmaka oder Radiopharmazeutika genannt.

Auch heute noch ist man bei dieser Technik mit der Schwie-rigkeit konfrontiert, dass nur die Radiopharmaka mit Radio-nukliden markiert werden können, welche sich wie natürliche Bausteine im Stoffwechsel der Zellen und Organe verhalten. Ein wesentlicher Grund für diese Schwierigkeit liegt in der Tatsache, dass es von den meisten Elementen, welche den Körper aufbauen, nur Radionuklide gibt, die entweder keine Gammastrahler sind oder nur eine sehr kurze Zeit strahlen. Deshalb musste für den Routineeinsatz nach Alternativen gesucht werden: das heute in der Medizin meist gebräuchli-che Radionuklid ist das Technetium-99m (Tc-99m), mit dem sich sehr viele für eine Organuntersuchung relevante Sub-stanzen markieren lassen. Für spezielle Untersuchungen werden auch Indium-111, Iod-123 und Iod-131 verwendet.

Da die für die verschiedenen diagnostischen Untersuchun-gen dem Patienten verabreichten Radiopharmaka zu einer nicht unerheblichen Strahlenexposition führen (Tab. 3.3), verlangen nuklearmedizinische Untersuchungen im Rahmen

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einer Nutzen-Risiko-Betrachtung eine besondere Sorgfalt bei der Indikationsstellung, Auswahl des geeigneten Radio-nuklids (möglichst kurze biologische und physikalische Halbwertszeit) und Durchführung der Untersuchung. Allge-mein soll für eine bestimmte Untersuchung dasjenige Ra-dionuklid als Indikator ausgesucht werden, das aufgrund der Energie der Strahlung und der Zerfallszeit die niedrigste Strahlenexposition bei größtmöglicher diagnostischer Aus-sage mit sich bringt.

UntersuchtesOrgan

Aktivitätsmenge (Referenzwert,MBq)

Effektive Dosis(mSv)

Schilddrüse (Tc-99m-Pertechnetat)

75 1,0

Skelett(Tc-99m -MDP)

500–700 2,9–4

Herz (Tc-99m-MIBI) 600–1000 7,2–8,2

Nieren(Tc-99m-MAG3)

100 0,7

Positronen-Emissions-Tomographie(PET ) (F18-FDG)

200–370 3,8–7,0

Tab. 3.3 Größenordnung der Strahlenexposition in der nuklearmedizinischen Diagnostik

Die diagnostischen Referenzwerte dieser Tabelle sowie die mit den Untersuchungen verbundenen Strahlenexpositionen wurden der Publikation von D. Noßke, V. Minkov und G. Brix “Festlegung und Anwendung diagnostischer Referenzwerte für nuklearmedizinische Untersuchungen“ in: Nuklearmedi-zin (2004) 3:79-85 entnommen.

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- Spezielle nuklearmedizinische Untersuchungen

Die Schilddrüse verwendet für die Synthese ihrer Hormone Iod. Der Einbau von radioaktivem Iod in die Schilddrüse er-laubt so die Untersuchung von Organstruktur und -funktion. Das kurzlebige Iod-123 (Halbwertszeit 12 Stunden) bringt im Vergleich zur selben Menge von langlebigerem Iod-131 (Halbwertszeit 8 Tage) eine Reduktion der Strahlenexposi- tion für die Schilddrüse um den Faktor 100. Die Nutzung von Technetium-99m, das auch von der Schilddrüse aufgenom-men wird, jedoch im Gegensatz zu Iod nicht in die Schild-drüsenhormone eingebaut wird, reduziert pro applizierter Menge des Radionuklids die Strahlenexposition im Vergleich zum Iod-123 noch einmal um den Faktor 30. Daher wird heute zur Darstellung von funktionstüchtigem Schilddrüsen-gewebe Technetium-99m bevorzugt. Etwa 20 Minuten nach intravenöser Injektion von Technetium-Pertechnetat wird die Radionuklidverteilung in der Schilddrüse mit der Gamma-Kamera bildlich dargestellt (Abb. 3.7).

5cm

Normalbefund

5cm

5cm

Normalbefund

Abb. 3.7 Schilddrüsen-Szintigramm (ohne krankhaften Befund)

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Neben Größe und Form der funktionsfähigen Schilddrüse kann mit diesem Verfahren bei verminderter Speicherung des Technetiums eine Unterfunktion (Hypothyreose) sowie bei vermehrter Speicherung eine Überfunktion (Hyperthyre-ose) nachgewiesen werden. Von noch wesentlicherer Be-deutung ist jedoch die Beurteilung, ob Knoten in der Schild-drüse eine vermehrte Speicherung (heiße Knoten) oder eine verminderte Speicherung (kalte Knoten) aufweisen.

Für Skelettuntersuchungen werden mit Technetium-99m markierte Phosphonat-Verbindungen, die in das Blut einge-schleust werden, durchblutungsabhängig in die einzelnen Knochenstrukturen eingebaut. Da das Skelettsystem einem kontinuierlichen Knochenaufbau und Knochenabbau unter-worfen ist – wobei bei Kindern und Jugendlichen der Kno-chenaufbau überwiegt, während bei Älteren der Knochen-abbau überwiegt (Osteoporose) – lässt sich mit Hilfe der Skelettszintigraphie das gesamte Skelett 3 Std. nach Injek- tion der radioaktiven Substanz detailreich darstellen (Abb. 3.8).

Alle Erkrankungen mit Knochenbeteiligung wie Knochenver-letzungen, Entzündungen, Tumoren und Verschleißerschei-nungen führen zu einem erhöhten Knochenumbau und las-sen sich durch eine vermehrte Aufnahme des Radiophar-makons im betroffenen Skelettareal nachweisen. Da diese Methode außerordentlich empfindlich ist, können z. B. ent-zündliche Veränderungen oder auch Verletzungsfolgen des Knochens zu einem Zeitpunkt erkannt werden, zu dem das Röntgenbild dieses Skelettabschnittes noch unauffällig ist.

Nach Injektion des Radiopharmakons wird dessen Weg in den betroffenen Skelettabschnitt mit der Gammakamera aufgezeichnet (Angiographie- und Blutpoolphase). 3 bis 4 Std. nach Injektion erfolgt die Abbildung des gesamten Ske-lettes mit Hilfe einer Ganzkörper-Gammakamera (Minerali-sationsphase, Abb. 3.8).

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Abb. 3.8 Ganzkörper-Szintigramm des Skelett eines Kindes (be-sonders deutlich sind die einzelnen Wachstumsfugen zu erken-nen, kein krankhafter Befund)

Bei der Diagnose von Herzerkrankungen hat die Anwen-dung von Radionukliden in den letzten Jahren eine wesent-liche Bedeutung erlangt. So können mit dieser Technik so-wohl die Pumpleistung, die Muskelwandbewegung, die Muskeldurchblutung und schließlich der Energiestoffwechsel des Herzmuskels untersucht werden.

Für die Ermittlung der Pumpleistung werden mit Techne- tium-99m markierte rote Blutkörperchen verwendet, welche nach Verteilung im zirkulierenden Blut im Gamma-Kamera-Bild die Herzhöhlen und ihre Bewegung und damit die Pumpleistung messbar machen.

Für die diagnostische Abklärung des Verdachts einer Durchblutungsstörung des Herzmuskels, z. B. bei Veren-gung der Koronararterien, werden heute vorwiegend mit Technetium-99m markierte Isonitrile verwendet.

Dieses Radionuklid wird durchblutungsabhängig in die Mus-kelzellen des Herzens aufgenommen; eine Verminderung der Durchblutung führt somit zu einer verminderten Anrei-cherung des Radiopharmakons in dem zugehörigen Mus-kelbereich.

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Die Untersuchung selbst wird in zwei Phasen durchgeführt und zwar nach körperlicher oder medikamentöser Belastung sowie in körperlicher Ruhe nach jeweiliger intravenöser In-jektion des Radiopharmakons. Ist bei der Ruheuntersu-chung der Herzmuskel unauffällig dargestellt und zeigt sich bei der Untersuchung nach Belastung eine verminderte Speicherung, so handelt es sich um eine belastungsabhän-gige Minderdurchblutung (Ischämie, Abb. 3.9), während eine verminderte Radioaktivitätsspeicherung sowohl in Ruhe als auch nach Belastung für eine Narbe (Infarkt) spricht.

Abb. 3.9 Herzmuskel-Szintigraphie mit Minderdurchblutung unter Belastung (Ischämie) in der Seitenwand des Herzmuskels (Pfeil)

Mit Radionukliden lassen sich die Funktionen der Urin-produktion in den Nieren und des Urinflusses in die Blase seitengetrennt quantitativ verfolgen. Dabei werden unter-schiedliche Erkrankungen der Nieren und einzelner Nierenabschnitte funktionell getrennt erfassbar. Zudem kann auch ein krankhaftes Zurückfließen des Urins aus der Blase in die Nieren sichtbar gemacht werden (Reflux).

Als Radiopharmakon wird heute vorwiegend Technetium-99m-Mercaptoacetyltriglycin (MAG3) verwendet, das sich sehr schnell im Nierengewebe anreichert und anschließend über das Nierenhohlraumsystem und die Harnleiter in die Blase ausgeschieden wird.

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- Nuklearmedizinische Tomographie-Untersuchungen

Single-Photon-Emissions-Computertomographie(SPECT)

Bei diesem Verfahren dreht sich der Kopf einer Gamma- kamera bzw. drehen sich die Köpfe einer Mehrkopf-Gammakamera um den Patienten, bleiben kurz stehen, messen die Strahlung, die aus dem Patienten herauskommt (Emission), drehen sich erneut, bleiben wieder stehen und messen usw.. Auf diese Weise entsteht ein “Datenwürfel“, der anschließend mit speziellen nuklearmedizinischen Aus-wertecomputern in einzelne Schichten des Körpers aufge-löst werden kann. Diese einzelnen Schichten – vergleichbar den Schichtaufnahmen der röntgenologischen Computerto-mographie – haben den Vorteil, dass sie die dreidimensio-nale Lokalisation des die Strahlung aussendenden Organs (z. B. des Herzens) überlagerungsfrei darstellen können. Ein Beispiel findet sich in Abb. 3.9, die SPECT-Aufnahmen des Herzmuskels darstellt.

Positronen-Emissions-Tomographie (PET)

In den letzten Jahren sind die technischen Voraussetzungen auch zur Anwendung der sehr kurzlebigen Radionuklide Kohlenstoff-11, Stickstoff-13, Sauerstoff-15 und Fluor-18 mit Hilfe der Positronen-Emissions-Tomographie geschaffen worden. Diese Radionuklide senden Positronen aus, die sich praktisch sofort mit benachbarten Elektronen vereini-gen. Dabei entsteht eine Vernichtungsstrahlung mit 2 Gam- maquanten, welche im Winkel von 180 Grad zueinander ausgesandt werden. Ein spezielles Messgerät für diese „doppelte" Gammastrahlung der Positronen-Emissions-Tomographie (PET-Scanner, Abb. 3.10) erlaubt die Szinti-graphie in Form von Körperschnittbildern.

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Abb. 3.10 Positronen-Emissions-Tomograph mit Bedienungs-platz.

Während in der “konventionellen" Nuklearmedizin in der Re-gel größere Moleküle radioaktiv markiert werden, die meist nicht direkt in den menschlichen Stoffwechsel eingeschleust werden können, werden für die Positronen-Emissions-Tomo-graphie die Bausteine des Lebens, wie Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff, in radioaktiver Form in einem Zyklotron her-gestellt. Diese radioaktiven Verbindungen zeigen bei Ver-wendung eines PET-Scanners direkt den Stoffwechsel und insbesondere krankhafte Stoffwechselveränderungen an. Dies gilt auch für den mit dem Positronenstrahler Fluor-18 markierten Zucker, Difluorodeoxyglucose (FDG), der insbe-sondere im Bereich der onkologischen Diagnostik eingesetzt wird. Da seit langer Zeit bekannt ist, dass die Zellen vieler Tumorarten einen vermehrten Zuckerverbrauch aufweisen, ist es verständlich, dass bei Verwendung von FDG mit Hilfe der PET diese Tumoren und deren Metastasen durch ihren er-höhten Zuckerverbrauch sichtbar gemacht werden können. Wesentlicher Nachteil der Positronenstrahler ist, dass sie in der Regel nur eine sehr kurze physikalische Halbwertszeit haben, die die Kombination von Zyklotron und PET-Scanner erforderlich macht; lediglich das Fluor-18-FDG macht hier ei-ne Ausnahme, da bei einer Halbwertszeit von 110 Minuten auch noch ein Transport vom Zyklotron in andere Kranken-häuser und Praxen möglich ist. Die Abb. 3.11 zeigt eine

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Ganzkörper-F18-FDG-PET-Untersuchung eines 11-jährigen Mädchens mit bösartigem Tumor der Muskulatur. Die PET zeigt multiple Steigerungen des Zuckerstoffwechsels, die Me-tastasen entsprechen (der intensive Zuckerstoffwechsel im Gehirn des Kindes ist durch seine Aktivität bedingt und somit normal).

Weitere Anwendungsgebiete der Positronen-Emissions-To-mographie sind entzündliche Erkrankungen, Erkrankungen des Herzmuskels und des Gehirnes.

Abb. 3.11 Das F18-FDG-PET zeigt multiple Metastasen

Seit kurzer Zeit stehen insbesondere für die Diagnostik in der Onkologie kombinierte Systeme aus Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und Computer-Tomographie (CT) zur Verfügung (Abb. 3.12). Diese PET/CT-Systeme haben den wesentlichen Vorteil, dass die funktionellen Aussagen der PET, die primär nur schwer den anatomischen Strukturen des Körpers zuzuordnen sind, mit den morphologischen Aussa-gen der CT zusammen aufgezeichnet werden. Durch die Überlagerung der Funktionsaussage im PET und der mor-phologischen Aussage des CT lässt sich eine genaue Zuord-nung, z. B. von Tumoren und Metastasen, erreichen. Aller-dings ist die Strahlenexposition für den Patienten bei den kombinierten PET/ CT-Systemen erheblich höher; sie liegt bei 10 bis 25 mSv.

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Gleiches gilt für eine neue Generation von Geräten, die seit kurzer Zeit erhältlich ist, die SPECT/CT-Systeme. Bei diesen Geräten ist eine SPECT-fähige Doppelkopfkamera mit einem Computertomographie (CT)-System fest verbunden. Dabei dient die Röntgenstrahlung der Computertomographie sowohl zur Schwächungskorrektur der SPECT-Aufnahmen, als auch – wie beim PET/CT – zur gleichzeitigen morphologischen Diagnostik.

Abb. 3.12 PET und CT-Kombinationsgerät (links CT, rechts PET)

- Radionuklide in der Therapie

Neben dem Einsatz für diagnostische Zwecke werden Radio-nuklide auch in der Therapie zur Zerstörung von wuchernden, meist bösartigen, Tumorzellen oder von solchen Zellen, die z. B. in Gelenken eine chronische Entzündung unterhalten, eingesetzt.

Grundsätzlich können bestimmte Zellen und Gewebe im Kör-per auf drei Wegen vernichtet werden:

1. durch chirurgische Entfernung des die Zellen enthaltenden Gewebes,

2. durch Behandlung mit solchen Medikamenten, die Zellen abtöten, so genannte Zytostatika, und

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3. durch ionisierende Strahlung, wobei das zu behandelnde Gewebe entweder von außen oder durch die Einschleu-sung von Radionukliden in das betroffene Gebiet bestrahlt wird.

Hierbei haben die Radionuklide generell den Vorteil, dass sie ähnlich wie bei ihrem diagnostischen Einsatz in das kranke Gewebe eingeschleust werden können, wo ihre Strahlung lo-kal bei nahezu vollständiger Schonung des gesunden Gewe-bes wirken kann. Entsprechend der Zielsetzung der Strah-lentherapie, Zellen abzutöten, liegen die applizierten lokalen Dosen sehr hoch, z. B. bei Schilddrüsenüberfunktion (Hy-perthyreose) bei etwa 400 Gy.

Trotz dieser hohen Dosen wird das den Krankheitsherd um-gebende gesunde Gewebe weitestgehend geschont. Es ist ein aktuelles Forschungsziel, möglichst alle Krebsarten so speziell behandeln zu können wie die z. B. der Schilddrüse.

Röntgendiagnostik

Die von Wilhelm Konrad Röntgen 1895 entdeckten Röntgen-strahlen eroberten in wenigen Jahren das Gebiet der medizi-nischen Diagnostik, da es mit ihnen zum ersten Mal möglich wurde, Bilder vom Inneren des lebenden und unverletzten Menschen herzustellen. 1901 erhielt Röntgen für diese wis-senschaftliche Leistung als erster den Nobelpreis für Physik.

Zur Durchführung von Röntgenuntersuchungen ist es not-wendig, einerseits Röntgenstrahlen zu erzeugen und mit die-sen das zu untersuchende Objekt – in unserem Fall den Pati-enten – zu durchdringen und andererseits die in den einzel-nen Teilen des Patientenkörpers unterschiedlich geschwäch-ten unsichtbaren Röntgenstrahlen im Röntgenbild für unser Auge sichtbar werden zu lassen. Erzeugt werden die Rönt-genstrahlen in einer Röntgenröhre, zu deren Betrieb ein Röntgengenerator erforderlich ist. In der Röntgenröhre sind eine Glühkathode in Form einer kleinen Drahtspirale aus hit-zebeständigem Wolframdraht und eine Anode eingeschmol-zen. Wird die Kathode auf über 2000 Grad Celsius aufge-heizt, so treten aus ihrer Oberfläche kleinste negativ geladene Masseteilchen – Elektronen – aus. Wird zwischen Anode und Kathode eine Hochspannung angelegt – die vom Generator

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erzeugt wird –, so werden die Elektronen mit großer Ge-schwindigkeit von der Anode angezogen und erzeugen beim Aufprallen und Abbremsen die Röntgenstrahlen.

Die Wiedergabe des durch die Röntgenstrahlen erzeugten Röntgenbildes – hier muss erneut betont werden, dass die in der Röntgenröhre erzeugten Röntgenstrahlen im lebenden Organismus unterschiedlich geschwächt werden, so werden sie durch die Lunge kaum, durch das Skelettsystem dagegen sehr intensiv abgeschwächt – erfolgt entweder auf Röntgen-filmen oder heute zunehmend in digitaler Form auf speziellen radiologischen Monitoren (Workstations).

Der Begriff „digitale Radiographie“ fasst alle Bereiche der digi-talen Röntgentechnik zusammen, bei denen die auftreffenden Röntgenstrahlen mittels Speicherfolie oder Halbleiterdetekto-ren ausgelesen und digitalisiert werden. Mit digitalen Bildver-arbeitungssystem können diese Bilder aufgenommen und weiter bearbeitet werden.

Bei einer konventionellen Aufnahme ist der Röntgenfilm gleichzeitig Aufnahme -, Speicher- und Darstellungsmedium. Im Gegensatz hierzu wird es mit der digitalen Radiographie möglich, jede einzelne Bearbeitungsstufe zu optimieren und zwar die Aufnahme des durch die Röntgenstrahlen erzeugten Bildes, seine Verarbeitung sowie seine Darstellung und Spei-cherung.

Generell wird die Röntgendiagnostik heute in vier Bereiche unterteilt und zwar:

- Röntgendurchleuchtung - konventionelle Röntgendiagnostik (Projektionsradiogra-

phie)- Interventionelle Radiologie - Computertomographie (CT)

Die Röntgendurchleuchtung hatte in früheren Jahren eine weite Verbreitung, da mit ihr insbesondere die Lunge, aber auch Strukturen und Bewegungen von Speiseröhre, Magen und Darm beurteilt werden konnten. Da diese Untersuchun-gen jedoch bei angeschalteter Röntgenröhre und damit konti-nuierlicher, zum Teil über viele Minuten andauernder Rönt-genstrahlung durchgeführt wurden, waren sie trotz aller Strah-

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lenschutzmaßnahmen mit einer hohen Strahlenexposition sowohl des Patienten als auch des Untersuchers verbunden. Aus diesen Strahlenschutzgründen, aber auch weil heute an-dere diagnostische Maßnahmen für diese Zwecke zur Verfü-gung stehen, hat die Röntgendurchleuchtung heute nur noch eine geringe Bedeutung, vor allem in speziellen internisti-schen Fachgebieten.

Die konventionelle Röntgendiagnostik wird heute zuneh-mend als Projektions-Radiographie bezeichnet.

Hierunter versteht man alle Röntgenuntersuchungen, bei de-nen Röntgenaufnahmen als Röntgenfilme oder in digitaler Form angefertigt werden, z. B. nach Verletzungen von Extre-mitäten.

Die interventionelle Radiologie ist ein spezielles Arbeitsfeld der Radiologie, das die Möglichkeit bietet, mit Hilfe von venö-sen oder arteriellen Kathetern röntgenologisch-kontrolliert Zu-gang zu den Gefäßregionen und Organen des Patienten zu erlangen und an diesen diagnostische (mit Kontrastmittel) und insbesondere auch therapeutische Maßnahmen durchzufüh-ren. So können beispielsweise verschlossene Gefäße mittels Ballonkatheter wieder geöffnet oder durch Katheter spezielle dauerhafte Materialen in den Körper eingebracht werden, wie z. B. gefäßerweiternde Hülsen (Stents) oder knochenausfül-

Ein wesentliches röntgendiagnostisches Verfahren u. a. in der interventionellen Radiologie ist die Digitale Subtraktions- angiographie (DSA). Bei der DSA handelt es sich um ein Verfahren zur besseren Darstellung der mit einem Röntgen-kontrastmittel markierten Blutgefäße im Körper. Hierfür wird zuerst ein digitales Röntgenbild des Untersuchungsgebietes zu einem Zeitpunkt, zu dem die Gefäße noch nicht kontras-tiert sind („Leeraufnahme“), aufgenommen und gespeichert. Zu einem späteren Zeitpunkt, zu dem die Blutgefäße bereits maximal mit Kontrastmittel gefüllt sind, erfolgt eine neue digi-tale Röntgenaufnahme, die von der vorher erstellten “Leer-aufnahme“ subtrahiert wird. Das daraus resultierende neue Bild zeigt als Differenz der beiden subtrahierten Bilder die kontrastgefüllten Gefäße (Abb. 3.13).

lenden Zement bei den Knochen auflösenden Metastasen.

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Abb. 3.13 Digitale Subtraktionsangiographie (DSA) zur Darstel-lung der Beckengefäße

Zwar ist die Kontrastauflösung dieser digitalen Angiographie etwas schlechter als die der konventionellen Angiographie, jedoch führt sie zu einer erheblich geringeren Strahlenexposi-tion des Patienten. Zudem kann nach der durchgeführten Un-tersuchung mit Hilfe von EDV-Bildverarbeitungsmethoden ei-ne Optimierung der Bildqualität herbeigeführt werden.

Die Computer-Tomographie (CT) ist ein Verfahren zur Her-stellung von Querschnittsbildern des Körpers mit Hilfe von Röntgenstrahlen. Die Anfertigung dieser Schnittbilder erfolgt durch ein eng begrenztes Röntgenstrahlenbündel, welches die zu untersuchende Körperschnittebene aus verschiedenen Richtungen abtastet. Zu diesem Zweck umkreisen der Strah-ler und der Detektor den Patienten in der Schnittebene. Die so erreichten Körperquerschnitte haben eine variable Dicke zwischen 1 und 10 mm. Die durch den Körper abgeschwäch-ten Röntgenstrahlen werden durch Detektoren erfasst, in elektrische Signale umgewandelt und in einem Computersys-tem zu einem Querschnittsbild aufgebaut. Dieses erscheint in verschiedenen Grauabstufungen auf einem Monitor, wo es ausgewertet und beurteilt werden kann (Abb. 3.14).

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Abb. 3.14 CT-Querschnittsbild des Bauchraumes. Zu erkennen sind die Wirbelsäule, beide Nieren, die Leber, die Bauchspei-cheldrüse und die Magenblase (unauffälliger Befund).

Die Scanzeiten haben sich heute auf 0,5 bis 2 Sekunden re-duziert. Bei moderneren Geräten können gleichzeitig mehrere Schichten des Körpers gescannt werden; hierzu stehen zur Zeit bis zu 64-Schichten-Scanner zur Verfügung, weitere Entwicklungen sind jedoch abzusehen. Wesentlicher Vorteil der Mehrschicht-Scanner ist die kürzere Untersuchungszeit die es z. B. erlaubt, während der Atemstillstandsphase des Patienten nahezu den ganzen Körper zu untersuchen. Durch besondere Rechenverfahren ist nicht nur die Darstellung ei-ner Schicht sondern auch die Darstellung dreidimensionaler Bilder (3-D-Darstellung) möglich. Diese 3-D-Darstellung ge-winnt für die plastische Chirurgie und allgemein für die Opera-tionsplanung immer mehr an Bedeutung.

Klinische Einsatzbereiche der Computertomographie finden sich in vielen Gebieten der Medizin, angefangen von der Dia-gnostik des Kopfes und Gehirnes über die Diagnostik der Lunge, der Wirbelsäule, über das Herz, bei dem heute mit dem CT sehr gut Verkalkungen der Herzkranzgefäße erfasst werden können, bis hin zur Diagnostik von durch Unfälle schwer verletzter Patienten, aus deren Erstversorgung die Computertomographie nicht mehr wegzudenken ist.

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Da alle bisher angeführten Methoden der Röntgendiagnostik mit einer Strahlenexposition des Patienten verbunden sind (Tab. 3.4), hat sich die Radiologie schon seit vielen Jahrzehn-ten intensiv mit bildgebenden diagnostischen Verfahren be-schäftigt, die keine Strahlenexposition mit sich bringen und zwar insbesondere mit den Ultraschallverfahren (Sonogra-phie) und der Kernspintomographie (auch Magnet-Resonanz-Tomographie genannt), auf die hier jedoch nicht eingegangen werden soll.

Untersuchungsart Effektive Dosis (mSv)

Durchleuchtung Magen-Darm-Passage

6–10

Thorax 1–2

Röntgenaufnahmen Thorax 0,05–0,1LWS 0,5 –1,0

Interventionelle Radio-logie

5–10

Computertomographie Thorax 5–10Abdomen 5–10

Tab. 3.4 Größenordnung der Strahlenexposition in der Röntgen-diagnostik

Perkutane Strahlentherapie

Als Begründer der therapeutischen Anwendung von Röntgen-strahlen gilt der Wiener Dermatologe Leopold Freund, der be-reits 1896 ein Muttermal auf dem Rücken eines Mädchens bestrahlte und zwar erfolgreich, wie eine Nachuntersuchung der damals mittlerweile 64-jährigen ehemaligen Patientin im Jahre 1956 zeigte. Die bald erkannten Nachteile der Röntgen-strahlen für therapeutische Zwecke wurden in den folgenden Jahrzehnten durch technische Verbesserungen (Filterung, Mehrfeldtechnik, Bewegungsbestrahlung usw.) gemindert.

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Weitere Entwicklungen in der Strahlentherapie waren die Tele-Radiumtherapie (mit natürlichem Radium 226), die Tele-Ko-balttherapie (mit Kobalt 60) sowie die Tele-Cäsiumtherapie (mit Cäsium 137). Diese Bestrahlungssysteme, die über viele Jahrzehnte zusammen mit einfacheren Beschleunigern in der Strahlentherapie verwendet wurden, sind seit den 70er Jahren fast vollständig von den technisch stabileren Linearbeschleu-nigern abgelöst worden, die neben Photonen auch Elektronen für die Strahlenbehandlung liefern.

Auch für die so genannte intrakavitäre Strahlentherapie mit umschlossenen radioaktiven Stoffen, die z. B. für die Behand-lung von bösartigen Erkrankungen der Gebärmutter eingesetzt wird, sind im Laufe der Jahre wesentliche technische Verbes-serungen möglich geworden. So werden heute hierfür nur noch Afterloading-Geräte eingesetzt, die zu einer nur noch mi-nimalen Strahlenexposition des Bedienpersonals führen.

Grundlage der modernen Strahlentherapie (heute vorwiegend als Radioonkologie bezeichnet) ist die Elektronenstrahlung. Ih-re Attraktivität, vor allem zur Behandlung oberflächlich gelege-ner Tumoren und Metastasen, verdanken die Elektronen ih-rem, gegenüber der Photonen (elektromagnetischen Wellen), unterschiedlichem Verhalten beim Durchgang durch die Mate-rie, in der sie ihre Energie über die Ladungswechselwirkung an die Atome der zu behandelnden Tumoren und Metastasen abgeben. Weitere strahlentherapeutische Maßnahmen ver-wenden Neutronen, die in Forschungsreaktoren, z. B. dem FRM II, oder in Beschleunigern (Zyklotron) erzeugt werden. Seit kurzem werden auch Protonen in der Strahlentherapie verwendet. Diese Teilchen sind trotz des enormen techni-schen Aufwandes und der hohen Kosten für einige strahlen-therapeutische Anwendungen geeignet, allerdings fehlen für verschiedene Einsatzbereiche der Protonen noch größere kli-nische Studien.

Auch die Integration der modernen bildgebenden Verfahren CT, MRT und PET in die Bestrahlungsplanung und die Ent-wicklung einer 3-D-Bestrahlungsplanung haben zu weiteren Verbesserungen in der modernen Strahlentherapie geführt, die heute unter dem Stichpunkt “intensitätsmodulierte Strahlenthe-rapie“ (IMRT) als Optimum in der Radioonkologie angesehen werden.

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Neben der Behandlung von bösartigen Erkrankungen wird die Strahlentherapie mit niedrigen Dosen bereits seit über 100 Jahren auch zur Behandlung von entzündlichen Veränderun-gen eingesetzt. Hauptindikation hierfür sind verschiedene ent-zündliche Erkrankungen, insbesondere entzündliche Gelenk-erkrankungen aber auch Verschleißerscheinungen verschie-dener Formen. Die therapeutische Wirkung dieser niedrig do-sierten Strahlentherapie bei entzündlichen Veränderungen er-folgt durch eine Reduzierung der entzündlich gesteigerten Durchblutung sowie durch eine Verminderung der die Entzün-dung fördernden weißen Blutkörperchen, so dass bei Ge-samtdosen von wenigen Gy eine rasche Verbesserung der klinischen Symptome möglich ist.

Eine – allerdings umstrittene – Sonderform der Strahlenthera-pie stellt die Radon- oder Radiumtherapie dar, die in einzelnen Heilbädern angeboten wird. Hierbei entsteht die paradoxe Si-tuation, dass einerseits eine generelle und größtenteils auch berechtigte Sorge über die Gefährdung durch ionisierende Strahlen aus Radioaktivität besteht, andererseits vor allem Pa-tienten mit chronischen entzündlichen Gelenkerkrankungen in diese Radonbäder oder -heilstollen kommen, um dort mit Hilfe der Radioaktivität ihre Leiden zu lindern. Bei diesen Kuren er-hält der Patient mit 2-3 mSv in 3 bis 4 Wochen in etwa die gleiche Strahlenmenge, wie sie jeder Deutsche jedes Jahr aus natürlichen Quellen aufnimmt.

Die Wirksamkeit dieser Radonkuren ist in Doppelblindversu-chen bewiesen worden; insbesondere bei Patienten mit ent-zündlichen Gelenk- und Wirbelsäulenveränderungen können lang andauernde Linderungen der Schmerzen und der ent-zündlichen Veränderungen beobachtet werden.

Versucht man, diese paradoxe Situation zusammenzufassen, so lässt sich sagen, dass zwar durch die erhöhte Radonkon-zentration in den Heilbädern eine potenzielle Gefährdung der Patienten besteht, dass aber letztlich die nachgewiesene hei-lende Wirkung bei den meist älteren Patienten, die in der Re-gel ohne die Behandlung unter außerordentlich unangeneh-men Schmerzen leiden, im Vordergrund steht.

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3.5 Behandlung radioaktiver Abfälle

Was sind radioaktive Abfälle?

Beim Umgang mit radioaktiven Stoffen fallen viele unter-schiedliche Formen radioaktiver Abfälle an, d.h. radioaktive Stoffe, die nicht weiter genutzt werden können, die aber auch nicht einfach wie normaler Müll in eine Deponie ver-bracht werden können. Vielmehr müssen die radioaktiven Abfälle derart behandelt und gelagert werden, dass die durch sie hervorgerufenen Strahlenexpositionen für die be-teiligten Arbeiter und die Bevölkerung so niedrig wie prak-tisch möglich gehalten werden, und dass die vorgegebenen Grenzwerte für die Strahlenexposition eingehalten werden.

Bei der Sortierung, Verarbeitung, Verpackung und Entsor-gung radioaktiver Abfälle spielen eine Reihe von physikali-schen und chemischen Eigenschaften eine Rolle, so dass es sinnvoll ist, sie durch Einteilung in verschiedene Klassen zu charakterisieren. Man unterscheidet aufgrund des Aktivi-tätsgehaltes zwischen hoch-, mittel- und schwachradioakti-ven Abfällen. Häufig werden hierfür die Bezeichnungen HAW, MAW und LAW (von den englischen Bezeichnungen high, middle und low active waste) verwendet. Die mittel- und schwachradioaktiven Abfälle werden häufig noch in kurz- und langlebige Abfälle eingeteilt (je nachdem, ob die Halbwertszeiten der enthaltenen Radionuklide kürzer oder länger als 30 Jahre sind). Für die Behandlung der Abfälle ist wegen der großen biologischen Wirksamkeit von Alpha-strahlung oft auch eine Unterteilung in solche, die wenig oder keine, und solche die viele Alpha-Strahler enthalten, sinnvoll. Für die Endlagerung von radioaktiven Abfällen spielt vor allem eine wesentliche Rolle, ob ihre Wärmeent-wicklung (aufgrund ihrer Radioaktivität) vernachlässigbar ist oder nicht: im Wirtsgestein eines Endlagers sollen aus geo-logischen Gründen keine wesentlichen Temperaturerhöhun-gen (d.h. mehr als 3 Grad) auftreten.

Quellen radioaktiver Abfälle

Eine wesentliche Quelle für radioaktive Abfälle ist der nukle-are Brennstoffkreislauf (einschließlich Uranabbau und -auf-bereitung, Anreicherung, Behandlung bestrahlter Kern-

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brennstoffe). In Kernkraftwerken fallen neben den bestrahl-ten Brennelementen eine Reihe weiterer Abfälle wie Ver-dampferkonzentrate, Filter, Reinigungsmittel und Schutz-kleidung an. Das Abfallaufkommen eines typischen Kern-kraftwerks liegt in der Größenordnung von einhundert m³ konditionierter Abfälle im Jahr. Nur ein kleiner Anteil davon zählt zu den hochaktiven Abfällen mit starker Wärmeent-wicklung. Hochaktive, wärmeentwickelnde Abfälle (Rück-stände der Brennelemente, Spaltproduktkonzentrat, Hülsen und Strukturteile, Schlämme), aber auch alle anderen Arten radioaktiver Abfälle fallen in Wiederaufarbeitungsanlagen an. Eine Vielfalt an verschiedenen radioaktiven Abfällen ent-steht auch bei der Stilllegung und dem Rückbau kerntechni-scher Anlagen.

Neben dem nuklearen Brennstoffkreislauf stammen radioak-tive Abfälle aus der Anwendung von Radioisotopen in Medi-zin, Industrie und Forschung. Diese in der Regel mittel- und schwachaktiven Abfälle werden in Landessammelstellen ge-sammelt und zwischengelagert, bevor sie einer geeigneten Behandlung und Entsorgung zugeführt werden.

Radioaktive Abfälle fallen aber auch beim Umgang mit Ma-terialien, welche natürlich radioaktive Stoffe enthalten, an. So sind z. B. die Bohr- und Fördergestänge aus der Erdöl-förderung mit radioaktiven Stoffen wie Radium oder Uran aus dem Untergrund kontaminiert und sind deswegen als radioaktiver Abfall zu betrachten.

Behandlungsmethoden

Die Anforderungen an Sortierung, Verarbeitung, Verpackung und Entsorgung der radioaktiven Abfälle richten sich nach deren Eigenschaften. Hauptziel der Abfallbehandlung ist die Reduzierung des zu entsorgenden Abfallvolumens und der Einschluss in feste Strukturen.

Radionuklide mit sehr kurzen Halbwertszeiten können dem natürlichen Zerfall überlassen werden. Dies wird z. B. bei den kurzlebigen Iodisotopen, die in der medizinischen Diag-nose und Therapie verwendet werden, angewandt. Die ra-dioaktiv kontaminierten Abwässer eines Krankenhauses werden in Abklingbehältern gesammelt und gelagert, bis

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sich ihre Aktivität so weit verringert hat, dass sie in die Ka-nalisation entlassen werden können.

Feste radioaktive Abfälle werden, soweit möglich, in ihrem Volumen reduziert (Zerkleinern, Pressen, Veraschen) und dann in Fässern oder Containern eingeschlossen. Handha-bung und Transport schwachaktiver Abfälle erfordern dabei keinen wesentlichen Aufwand für die Abschirmung der Strahlung.

Sind die radioaktiven Stoffe in nichtaktiven Flüssigkeiten ge-löst oder suspendiert, so werden sie durch Eindampfen, Fäl-len, Filtern oder Ionenaustausch daraus abgetrennt. Die verbleibenden radioaktiven Rückstände werden z. B. mit Bi-tumen oder Zement verfestigt und dann in Stahlfässern o. ä. verpackt.

Hochaktive Abfälle mit erheblicher Wärmeentwicklung aus Wiederaufarbeitungsanlagen (so genannte Spaltproduktlö-sungen) liegen in flüssiger Form vor. Sie werden durch Ver-dampfen aufkonzentriert und in Edelstahltanks gelagert. Während einer Lagerzeit von fünf Jahren sinkt die Rate der Wärmeproduktion auf etwa 6 %. Dies erleichtert die Über-führung in eine endlagerungsfähige Form, wobei die Abfälle mit glasbildenden Stoffen gemischt und daraus Glasblöcke geschmolzen werden, welche dann zusätzlich mit Edelstahl umkleidet werden.

Zwischen- und Endlager

Für eine Endlagerung der behandelten radioaktiven Abfälle ist in Deutschland die Einlagerung in geeignete tiefe geolo-gische Strukturen – z. B. in Steinsalzlagerstätten – vorgese-hen. Lediglich 1967 wurden 80 Fässer mit radioaktiven Ab-fällen im Atlantik versenkt.

Das Salzbergwerk Asse II bei Wolfenbüttel wurde 1965 von der Bundesregierung als Forschungsbergwerk zur Untersu-chung von Verfahren und Techniken zur Endlagerung radio-aktiver Abfälle erworben. Die Gesellschaft für Strahlenfor-schung (GSF; heutiger Name: Forschungszentrum für Um-welt und Gesundheit) übernahm die Betriebsführung und startete 1967 mit Forschungs- und Entwicklungsarbeiten. Bis 1978 wurden hier ca. 125.000 Behälter mit schwach-

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und rund 1.300 Fässer mit mittelaktiven Abfällen eingela-gert. Seit 1979 findet keine Einlagerung radioaktiver Abfälle mehr statt, doch liefen die Forschungsarbeiten weiter. Bis 2017 soll die Schließung der Schachtanlage nach Bundes-berggesetz vollzogen sein.

Auch in der bei Salzgitter gelegenen Eisenerzgrube Konrad, welche 1976 ihre Produktion wegen Unwirtschaftlichkeit ein-stellte, wurden seit 1975 Voruntersuchungen zur Endlage-rung radioaktiver Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeent-wicklung durchgeführt. 1982 stellte die Physikalisch-Tech-nische Bundesanstalt (PTB) einen ersten Antrag auf Einlei-tung eines Planfeststellungsverfahrens. 2002 erging hierfür der Planfeststellungsbeschluss an das Bundesamt für Strah-lenschutz (BfS). Am 8. März 2006 hat das Oberverwal-tungsgericht Lüneburg alle Klagen gegen diesen Planfest-stellungsbeschluss abgewiesen, eine Revision gegen dieses Urteil wurde nicht zugelassen. Allerdings steht den Klägern noch der Weg einer Nichtzulassungsbeschwerde beim Bun-desverwaltungsgericht offen. Sollte das Urteil rechtskräftig werden, kann nach der notwendigen technischen Einrich-tung des Endlagers frühestens ab 2012/13 mit der Einlage-rung radioaktiver Abfälle mit vernachlässigbarer Wärmeent-wicklung begonnen werden.

1970 begann in der Steinsalzgrube Bartensleben bei Mors-leben (damals DDR) die Einrichtung eines Endlagers für mit-tel- und schwachaktiven Abfall. Seit Anfang der 80er Jahre wurden in das „Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben“ (ERAM) insgesamt etwa 37.000 m3 niedrig- und mittelradio-aktive Abfälle mit überwiegend kurzlebigen Radionukliden und einer Gesamtaktivität von etwa 1014 Bq eingelagert. Die Dauerbetriebsgenehmigung für dieses Endlager ging bei der Wiedervereinigung Deutschlands als befristete Genehmi-gung auf das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) über. 1998 wurde die Annahme und Einlagerung radioaktiver Ab-fälle aufgrund einer Klage des Bundes für Umwelt und Na-turschutz (BUND) ausgesetzt, und 1999 wurde beschlossen, die Einlagerung nicht wieder aufzunehmen. Seitdem laufen die Arbeiten zur Stilllegung des Endlagers. So wurden seit 2003 Teile des Zentralteils zur bergbaulichen Gefahrenab-wehr mit Salzbeton verfüllt. Nach dem Vorliegen eines Plan-

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feststellungsbeschlusses wird für die Stilllegungsarbeiten mit einem Zeitraum von 17 Jahren gerechnet (/BFS-05/).

Die 2000/2001 getroffene „Vereinbarung zwischen der Bun-desregierung und den Energieversorgungsunternehmen“ („Atomkonsens“) enthielt u. a. das Verbot, ab 2005 abge-brannte Brennelemente zur Wiederaufarbeitung an auslän-dische Wiederaufarbeitungsanlagen abzugeben. Damit ist für bestrahlte Brennelemente die direkte Endlagerung der al-lein mögliche Entsorgungsweg. Da jedoch hierfür noch kein Endlager existiert, ergab sich für den Weiterbetrieb der lau-fenden Kernkraftwerke die Notwendigkeit, die verbrauchten Brennelemente für lange Zeit – bis zur Betriebsbereitschaft eines Endlagers – zwischenzulagern. Deshalb wurden so genannte Standortzwischenlager (Trockenlager) beantragt und zum Teil bereits errichtet. Einige Kernkraftwerke haben Interimslager errichtet, in denen die Brennelemente vorüber-gehend (etwa 5-6 Jahre) aufbewahrt werden sollen, da die Fertigstellung der eigentlichen Zwischenlager nicht schnell genug geschehen kann, ohne den Betrieb der Anlagen zu unterbrechen.

Die Suche nach einem Endlager für hochaktive Abfälle wur-de in Deutschland bereits in den siebziger Jahren begon-nen. Im Jahre 1974 wurde von der Bundesregierung das Konzept eines „Integrierten Nuklearen Entsorgungszent-rums“ erstellt. Hier sollten an einem Ort die Wiederaufarbei-tung bestrahlter Brennelemente, die Fabrikation von Brenn-elementen, die Behandlung und die Endlagerung aller Arten radioaktiver Abfälle durchgeführt werden. Nach Prüfung ei-ner Reihe von potentiellen Standorten hierfür wurde 1977 das Planfeststellungsverfahren zur Endlagerung schwach-, mittel- und hochradioaktiver Abfälle im Salzstock Gorleben, nahe an der Grenze zur DDR, eingeleitet. Nach dem Gorle-ben-Hearing 1979 (welches vom Unfall im amerikanischen Kernkraftwerk Harrisburg überschattet wurde) gab man die Wiederaufarbeitung am Standort Gorleben auf und es wurde nur noch die Eignung des Salzstocks als Endlagerstätte wei-ter untersucht. Nach der deutschen Wiedervereinigung wur-den für den Fall, dass sich Gorleben als ungeeignet für ein Endlager erweisen sollte, eine Reihe weiterer Salzlagerstät-ten, aber auch andere Gesteinsformationen zur Vervollstän-digung des Kenntnisstandes über potentielle Endlager-

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standorte überprüft. Dabei wurden vier als weiter untersu-chungswürdig eingestuft. Derzeit ist die Erkundung des Salzstocks Gorleben unterbrochen (Gorleben-Moratorium). Aus den bisherigen Resultaten der bereits weit fortgeschrit-tenen Erkundung ergeben sich allerdings keine Hinweise, die gegen eine Eignungshöffigkeit dieses Standorts spre-chen würden.

3.6 Literatur

Büll, U., H. Schicha, H.J. Biersack, et al. (1999) Nuklear-medizin. Stuttgart, Thieme Verlag. 3. Auflage.

Kauffmann, G.W., E. Moser, R. Sauer (2006). Radiologie. München, Jena, Elsevier-Verlag, Urban & Fischer. 3. Aufl.

Bundesamt für Strahlenschutz (2005). Endlagerung radio-aktiver Abfälle als nationale Aufgabe. (/BFS-05/). http://www.bfs.de/bfs/druck/broschueren/Endlagerung_national.pdf

Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) (2005). Forschungsneutro-nenquelle. Landolt-Börnstein. 3. http://www.new.frm2.tum.de.

Bryant, P. J. (1994). A brief history and review of accelera-tors. CERN Report 199. http://documents.cern.ch/archive/cernrep/199.

Koelzer, W. (2001). Lexikon der Kernenergie. Karlsruhe, Forschungszentrum Karlsruhe GmbH.

Landolt-Börnstein (2005). Energy Technologies: Nuklear Energy. Landolt-Börnstein – Group VIII Advanced Materials and Technologies 3, Subvolume B. Berlin, Heidelberg, New York, Springer Verlag.

Paretzke, H. G. (2001). Konzentrationen und Wirkungen von Radionukliden in Böden und Pflanzen. Handbuch der Um-weltveränderungen und Ökotoxiologie. R. Guderian. Sprin-ger Verlag, Berlin: 149-172.

Siehl, A. (1996). Umweltradioaktivität. Berlin, Ernst & Sohn.

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Bamberg, M, M. Molls, H. Sack (2004). Radioonkologie. München, Wien, New York, W. Zuckschwerdt Verlag.

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4. Strahlenexposition und Umweltradioaktivität

4.1 Das Verhalten radioaktiver Stoffe in der Umwelt (Radioökologie)

Die Radioökologie beschäftigt sich damit, was mit radioakti-ven Stoffen geschieht, wenn sie in unsere Umwelt freige-setzt werden. Dies umfasst

die Ausbreitung in der Atmosphäre und in Gewäs-sern,

die Ablagerung auf Pflanzen, Böden oder anderen Oberflächen in der Umgebung des Menschen,

weitere Transportvorgänge, z. B. in Böden oder in Nahrungsketten (Pflanzen Futtermittel Tiere

Tierprodukte Nahrungsmittel Mensch),

das Verhalten der radioaktiven Stoffe im Körper des Menschen und die von ihnen ausgehende Strah-lung.

Das Ziel dieser Betrachtungen ist es, die resultierende Strahlenexposition des Menschen abzuschätzen. Diese kann dadurch zustande kommen, dass der Körper durch die radioaktiven Stoffe außerhalb seines Körpers bestrahlt wird (externe Exposition), oder aber die radioaktiven Stoffe ge-langen in den menschlichen Körper und bestrahlen ihn von innen heraus (interne Exposition).

All diese Überlegungen gelten sowohl für natürliche, in un-serer Umwelt seit jeher vorhandene radioaktive Stoffe, als auch für solche, die durch menschliche Aktivitäten (z. B. bei Kernwaffentests, in kerntechnischen Anlagen, Verwendung in Medizin, Wissenschaft und Technik) erzeugt worden sind. Die meisten der beschriebenen Prozesse treffen außerdem auch für nicht-radioaktive Stoffe zu.

Das Gebiet der Radioökologie entwickelte sich ganz wesent-lich in den Zeiten der weltweiten Verteilung und Ablagerung radioaktiver Stoffe, welche bei den mehr als tausend ober-irdischen Kernwaffentests vor allem Anfang der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts freigesetzt wurden. Die Be- obachtung der radioaktiven Stoffe, die in fast allen Berei-chen unserer Umwelt messbar waren, führte zu einem um-

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fangreichen Wissen über das Verhalten von Stoffen in der Umwelt, wie es mit nicht-radioaktiven Stoffen wegen des in der Regel viel höheren Messaufwands nicht erreichbar ist.

Um diese Kenntnisse praktisch zur Abschätzung von Strah-lenexpositionen anwenden zu können, wurden verschiedene Rechenmodelle entwickelt, welche die einzelnen Ausbrei-tungsprozesse durch mehr oder weniger vereinfachende Formeln beschreiben. Je nach dem Ziel der Berechnungen ist dabei die Komplexität der Modelle unterschiedlich: geht es darum, nachzuweisen, dass aus einer Freisetzung radio-aktiver Stoffe eine bestimmte Strahlenexposition der Men-schen nicht überschritten wird, so genügen relativ einfache Modellannahmen, welche den ungünstigsten Fall betrach-ten. Ein Beispiel hierfür ist die Verwaltungsvorschrift zur Er-mittlung der Strahlenexposition (Bundesanzeiger 1990; eine Neufassung ist in Vorbereitung), welche im Genehmigungs-verfahren für kerntechnische Anlagen Anwendung findet.

Wenn andererseits Berechnungen der Strahlenexpositionen in einem akuten Fall von Umweltkontaminationen durchge-führt werden sollen mit dem Ziel, eventuell nötige Schutz- und Gegenmaßnahmen zu optimieren, dann muss das Rechen-modell möglichst realistische Abschätzungen machen. Hierzu muss es viele Ausbreitungs- und Transportprozesse detaillier-ter betrachten. Ein Beispiel hierfür ist das am GSF-For-

Müller u. Pröhl 1993), welches inzwischen u. a. im Entschei-dungshilfesystem RODOS (Real-time, on-line decision support

Ein zweiter Anstoß für die radioökologische Forschung und die Entwicklung von Rechenmodellen war die großräumige radioaktive Kontamination der Umwelt durch den Reaktorun-fall von Tschernobyl (1986). Durch die Vielzahl der in der Folge durchgeführten Messungen konnten die vorhandenen Rechenmodelle überprüft und weiterentwickelt werden.

Ausbreitung in der Atmosphäre

Werden radioaktive Stoffe in Form von sehr kleinen Parti-keln oder gasförmig in die Atmosphäre freigesetzt, so kön-

schaft für Strahlen- und Umweltforschung) entwickelte radio-ökologische Rechenmodell ECOSYS (Matthies et. al. 1982,

system, Ehrhardt et al.1997) in vielen Ländern eingesetzt wird.

schungszentrum für Umwelt und Gesundheit (früher Gesell-

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nen sie hier u. U. weit transportiert werden, wobei die Kon-zentration dieser Stoffe auf ihrem Weg durch die Atmosphä-re i. Allg. stetig abnimmt. Der Transport wird dabei im We-sentlichen von den großräumigen Luftbewegungen (Advek-tion, „Wind“) bestimmt, die Verdünnung durch die Turbulen-zen der Luft und durch Diffusion.

Einflussgrößen bei der Ausbreitung

Die Ausbreitung der radioaktiven Stoffe in der Atmosphäre wird von vielen Dingen beeinflusst, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden:

- Wind

Es mag vielleicht zunächst trivial klingen, dass die Windrich-tung bestimmt, wohin die freigesetzten Stoffe transportiert werden. Das Problem bei der Prognose der atmosphäri-schen Ausbreitung ist jedoch, dass es meist die Windrich-tung nicht gibt: sie kann sich von einem Ort zum anderen ändern, hervorgerufen durch Einflüsse der Landschaftsform (Hügel, Täler) oder auch durch Luftmassengrenzen. Auch mit der Höhe ändert sich die Windrichtung: Durch den Ein-fluss der Reibung und der Erdrotation dreht sich die Wind-richtung mit wachsender Entfernung vom Boden. In Extrem-fällen, etwa wenn Kaltluft und Warmluft aufeinander stoßen, kann die Windrichtung am Boden sich bis zu 180° von der Windrichtung in der Höhe unterscheiden.

Natürlich hat auch die Windgeschwindigkeit einen großen Einfluss auf die Konzentration der freigesetzten Stoffe: je höher die Windgeschwindigkeit, desto stärker die Verdün-nung. Wie die Windrichtung, so kann sich auch die Windge-schwindigkeit räumlich ändern: zum einen kann die Land-schaftsform Änderungen hervorrufen (z. B. Kanalisierungs-effekt in einem Tal), zum anderen bewirkt die Reibung der Luft am Boden, dass mit zunehmender Höhe die Windge-schwindigkeit zunimmt.

- Turbulenzzustand der Atmosphäre

In der Atmosphäre bilden sich ständig Luftwirbel ganz unter-schiedlicher Größe, hervorgerufen z. B. durch die Reibung am Boden, durch die Landschaftsform, und durch Erwär-mung und Abkühlung der Erdoberfläche. Diese Turbulenzen

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bewirken, dass die freigesetzten Partikel nicht einfach ge-radlinig mit dem Wind transportiert werden, sondern dass sich die Wolke zur Seite, nach oben und unten ausbreitet.

Die Turbulenzen in der Atmosphäre hängen stark damit zusammen, wie sich die Lufttemperatur mit der Höhe än- dert. Im Normalfall nimmt die Temperatur alle 100 Meter etwa um 1 Grad ab. Wird der Erdboden und damit die unte-ren Luftschichten durch starke Sonneneinstrahlung aufge-heizt (Temperaturabnahme mit der Höhe mehr als 1 Grad pro 100 m), so steigt die erwärmte Luft auf und es bilden sich verstärkte Turbulenzen. Kühlt sich dagegen der Boden und damit die unteren Luftschichten ab (z. B. in einer klaren Nacht), so bleibt die kühle Luft am Boden liegen und die Turbulenz nimmt ab; dies wird als stabile Luftschichtung be-zeichnet.

Je stabiler die Luftschichtung, desto geringer ist also die Turbulenz, und damit desto geringer die Ausbreitung der freigesetzten Stoffe in vertikaler Richtung. Umgekehrt: je turbulenter die Atmosphäre ist, desto stärker die vertikale Durchmischung, desto schneller erreicht die Wolke den Erd-boden. Bei instabiler (turbulenter) Luftschichtung liegt also das Konzentrationsmaximum am Boden nahe am Freiset-zungspunkt, bei stabiler Schichtung weiter entfernt.

Jeder hat dies schon an der „Rauchfahne“ (meist Wasser-dampf) an einem Schornstein beobachten können. Nach ei-ner klaren Winternacht (stabile Schichtung) ist die Fahne oft über eine weite Strecke hin sichtbar und sehr schmal. Am Mittag bei Sonneneinstrahlung (instabile, turbulente Schich-tung) verbreitert sich die Fahne dagegen sehr schnell und löst sich bald auf (Abb. 4.1).

- Freisetzungshöhe

Je höher der Schornstein ist, aus dem die radioaktiven Stof-fe freigesetzt werden, desto länger dauert es, bis die Fahne den Erdboden erreicht. Deshalb nimmt der Abstand des Or-tes am Boden mit maximaler Konzentration mit wachsender Freisetzungshöhe zu. Wegen der dabei auch zunehmenden Verbreiterung der Wolke ist die maximale Konzentration am Boden umso niedriger, je höher die Freisetzung erfolgt.

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Instabile Wetterlage

neutrale Wetterlage

stabile Wetterlage (Inversion)

0

100

200

m

18 20 °C19

0

100

200

m

18 20 °C19

0

100

200

m

18 20 °C19

Abb. 4.1 Luftschichtungen und zugehörige Rauchfahnen

Werden die radioaktiven Stoffe am Kaminende mit einem Luftstrom nach oben geblasen, oder werden sie zusammen mit heißer Luft freigesetzt (was einen Auftrieb erzeugt), so liegt die Achse der Abluftfahne höher als die Kaminhöhe. Durch diese Vergrößerung der „effektiven Freisetzungshö-he“ werden ebenfalls eine Vergrößerung des Abstandes und eine Verringerung der Konzentration des Punktes maximaler Konzentration am Boden erreicht.

Beim Thema „Wind“ wurde schon darauf hingewiesen, dass sich Windrichtung und Windgeschwindigkeit mit der Höhe ändern können, manchmal sogar sehr stark. Deshalb kann eine Vergrößerung der Freisetzungshöhe auch bewirken, dass die freigesetzten Stoffe in eine andere Richtung trans-portiert werden. Dies macht eine Prognose der atmosphäri-schen Ausbreitung bei einer unfallbedingten Freisetzung

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sehr schwierig, wenn man nicht weiß, wie viel Wärme (z. B. bei einem Brand) dabei mit freigesetzt wird.

- Physikalisch-chemische Form

Die in die Atmosphäre freigesetzten Teilchen werden dort so lange mit dem Wind transportiert, bis sie durch trockene Deposition oder durch den Regen auf den Boden, auf Pflanzen oder andere Oberflächen abgelagert werden. Wie im Abschnitt “Depositon“ näher erläutert wird, spielt bei den Depositionsprozessen die Größe der Teilchen, auch die chemische Form eine Rolle. So werden z. B. sehr große Teilchen schnell abgelagert und können deshalb nicht weit in der Atmosphäre transportiert werden. Auf der anderen Seite werden Edelgase nicht abgelagert und verbleiben deshalb in der Atmosphäre, bis sie durch radioaktiven Zerfall verschwinden (sofern es sich um ein radioaktives Edelgas handelt).

Ausbreitungsmodelle

Entsprechend den komplexen Prozessen und Einflussfakto-ren bei der atmosphärischen Ausbreitung gibt es eine Viel-zahl von Modellen, mit denen sich die Ausbreitung berech-nen lässt. Es sollen hier nur kurz einige wichtige Modell-Typen vorgestellt werden.

- Gauss-Modelle

Der für praktische Anwendungen wichtigste Modelltyp ist das Gauss-Modell. Es hat seinen Namen daher, dass es die Konzentrationsverteilung in der Abluftwolke senkrecht zur Windrichtung (horizontal und vertikal) in Form einer Gauss’schen-Normalverteilung („Glockenkurve“) beschreibt (siehe Abb. 4.2). Diese Verteilung ergibt sich aus den physi-kalischen Modellansätzen, wenn man eine Reihe von ver-einfachenden Annahmen macht, z. B. dass

Windgeschwindigkeit und -richtung räumlich und zeitlich konstant sind,

die atmosphärische Turbulenz sich räumlich und zeitlich nicht ändert,

die Ausbreitung in ebenem Gelände stattfindet,

136

die Rauhigkeit des Untergrunds räumlich konstant ist,

usw.

Das Gauss-Modell verwendet zur Beschreibung des vertika-len und horizontalen Auseinanderdriftens der Abluftwolke (Breite der Gauss-Verteilungen) Parameter, welche experi-mentell bestimmt wurden.

Wenn auch die genannten vereinfachenden Annahmen in der Realität nie ganz erfüllt sind, so gibt das Gauss-Modell doch oft ohne viel Rechenaufwand eine brauchbare Ab-schätzung für die Konzentration in der Umgebung des Emit-tenten. Allerdings muss man sich davor hüten, dieses Mo-dell in ungeeigneten Situationen anzuwenden, etwa in stark hügeligem Gelände oder in zu großem Abstand (mehr als etwa 10 km) vom Freisetzungspunkt.

x

=Windrichtung

Konzentrationsverteilung

horizontal

vertikal

y

z

Abb. 4.2 Konzentrationsverteilung in einer Abluftwolke nach dem Gauss-Modell

Um die oben genannten vereinfachenden Annahmen abzu-mildern wurde eine Reihe von verfeinerten Gauss-Modellen entwickelt, welche jeweils mit geeigneten Korrekturen nähe-rungsweise den Einfluss von nicht im Gauss-Modell enthal-tenen Effekten abschätzen. So lassen sich etwa zeitliche Änderungen der Atmosphäreneigenschaften (Windrichtung und -geschwindigkeit, Turbulenz) dadurch berücksichtigen,

137

dass man die Abluftfahne für jeweils kurze Zeitintervalle (z. B. 10 Minuten) mit dem Gauss-Modell berechnet und die-se dann im nächsten Zeitintervall als Freisetzungsquelle einer erneuten Ausbreitungsrechnung betrachtet, wobei ge-genüber dem ersten Zeitintervall geänderte Ausbreitungs-bedingungen herrschen können.

Ein großer Vorteil der Gauss-Modelle ist, dass sie mit relativ geringem Rechenaufwand zu Ergebnissen führen. In vielen Fällen ist es jedoch nötig, sehr viel detailliertere Modelle zu verwenden, um die Ausbreitungsverhältnisse in der Atmo-sphäre hinreichend genau zu beschreiben. Hierbei sind dann sehr leistungsfähige Computer nötig. Für solche kom-plexen Rechenmodelle gibt es zwei grundsätzlich verschie-dene Modellansätze, die im Folgenden kurz charakterisiert werden.

- Eulersche Ausbreitungsmodelle

Die Atmosphäre in der Umgebung des Freisetzungsortes wird in dreidimensionale Gitterzellen eingeteilt. Die Größe der Gitterzellen ändert sich dabei meist mit der Höhe über Grund und mit dem Abstand vom Freisetzungsort. In jeder Gitterzelle können individuelle, zeitlich variable Bedingungen (z. B. Temperatur, Windrichtung und -geschwindigkeit, Tur-bulenz) herrschen. Die Ausbreitungsepisode wird in kleine Zeitabschnitte unterteilt. In jedem Zeitabschnitt wird berech-net, welche Menge des freigesetzten Stoffes von jeder Zelle in ihre Nachbarzellen transportiert wird.

- Lagrangesche Ausbreitungsmodelle

Zur Bestimmung des Ausbreitungsverhaltens eines Schad-stoffes werden im Computer die „Flugbahnen“ (Trajektorien) von einzelnen Schadstoffpartikeln verfolgt. Die Partikelbe-wegung wird dabei in kurzen Zeitabschnitten berechnet un-ter Berücksichtigung des aktuellen Windfeldes (das sich räumlich und zeitlich ändern kann) und einer Zufallskompo-nente, welche die turbulente Diffusion beschreibt. Nach-einander werden sehr viele Partikel verfolgt, von denen je-des einen anderen Weg nimmt. An den interessierenden Stellen wird gezählt, wie viele Partikel ein bestimmtes Volu-men durchqueren; dies ist ein Maß für die Konzentration des freigesetzten Stoffes an diesem Ort.

138

Lagrangesche Ausbreitungsmodelle sind heute Stand der Technik: sie finden z. B. in der Technischen Anleitung Luft (TA-Luft) für konventionelle Schadstoffe Anwendung.

Deposition und Verbleib auf Oberflächen

Die in die Atmosphäre freigesetzten radioaktiven Stoffe verbleiben natürlich nicht beliebig lange dort, sondern wer-den durch verschiedene Prozesse auf den Boden, auf Pflanzen und andere Oberflächen (z. B. Häuser, Gewässer) abgelagert. Bei dieser so genannten Deposition unterschei-det man je nach den vorherrschenden Mechanismen vor al-lem trockene und nasse Deposition.

- Trockene Deposition

Bei trockenen Wetterbedingungen tragen vor allem zwei Prozesse zu einer Deposition der radioaktiven Stoffe (oft auch Fallout genannt) bei:

bei relativ großen Partikeln (d.h. Teilchen von mehr als etwa 1/100 Millimeter Durchmesser) bewirkt die Schwerkraft ein Absinken auf den Boden,

sehr kleine Partikeln (vor allem bei Teilchen mit Durchmessern von weniger als ein Tausendstel Millimeter) sinken durch die Schwerkraft kaum ab, sondern bewegen sich im Wesentlichen mit den turbulenten Luftbewegungen. Kommen sie dabei in Bodennähe, so können sie mit Hindernissen (z. B. Pflanzen) zusammenstoßen und daran haften blei-ben.

Radioaktive Stoffe, welche nicht partikelgebunden, sondern gasförmig vorliegen, können ebenfalls z. B. auf Pflanzen-oberflächen abgelagert werden, besonders, wenn es sich um reaktionsfähige Gase handelt: wenn es sich um ein Gas handelt, welches am Stoffwechsel der Pflanzen teilnimmt (z. B. elementares Iod, Tritium, Kohlenstoff-14 in Form von Kohlendioxid), können dabei relativ schnell durch die Blatt-oberflächen ins Innere der Pflanze gelangen und dort ge-bunden werden. Reaktionsträge Gase dagegen, vor allem Edelgase, werden dagegen praktisch nicht abgelagert.

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Bei der technischen Nutzung der Kernenergie, besonders aus Wie-deraufarbeitungsanlagen, werden auch radioaktive Edelgase in die Atmosphäre freigesetzt. Hier spielt besonders das langlebige Kryp-ton-85 (Halbwertszeit 10,8 Jahre) eine Rolle. Da es nicht abgela-gert wird, reichert es sich in der Atmosphäre an: in den vergange-nen 20 Jahren stieg seine Konzentration in der Atmosphäre um et-wa den Faktor 3 an. Für die Strahlenexposition von Mensch und Umwelt spielt dieses Krypton-85 jedoch keine nennenswerte Rolle.

- Nasse Deposition

Wenn es während des atmosphärischen Transports von par-tikelgebundenen radioaktiven Stoffen regnet, so können die-se mit dem Niederschlag zum Boden transportiert werden. Bei dieser so genannten nassen Deposition können zwei Mechanismen eine Rolle spielen:

Die radioaktiven Partikel können in der Atmosphäre als Kondensationskeime für Regentröpfchen dienen und mit diesen zum Boden fallen, sobald die Tröpf-chen groß genug geworden sind. Dieser Prozess wird als „Rainout“ bezeichnet.

Wenn sich die Regenwolke oberhalb der Abluftfah-ne mit den radioaktiven Partikeln befindet, können die aus der Regenwolke fallenden Regentropfen die Partikel „einfangen“ und mit zum Boden transportie-ren („Washout“).

Die nasse Deposition findet naturgemäß nur in bestimmten Situationen, nämlich wenn Niederschlag fällt, statt. Wenn sie aber erfolgt, so spielt sie eine weit wichtigere Rolle als die trockene Deposition.

Dies konnte besonders deutlich in den 60-er Jahren des vergange-nen Jahrhunderts beobachtet werden: Die durch die oberirdischen Kernwaffentests hoch in die Atmosphäre gebrachten radioaktiven Partikel wurden dort weiträumig transportiert bis sie relativ gleich-mäßig in hohen Atmosphäreschichten verteilt waren. Die Deposi-tion auf den Erdboden ging über viele Jahre vor sich. Das Ausmaß der auf den Boden deponierten Aktivität z. B. von Cäsium-137 oder Strontium-90 hing dabei in hohem Maße von der regionalen mittle-ren Niederschlagsmenge ab, d.h. in trockenen Gebieten waren we-sentlich geringere Aktivitäten messbar als in Regionen mit hohen Niederschlägen.

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Auch nach dem Durchzug der Wolke mit radioaktiven Partikeln aus dem Tschernobyl-Unfall war vor allem in Süddeutschland eine aus-geprägte räumliche Variabilität der deponierten radioaktiven Stoffe feststellbar, welche durch die starken regionalen Unterschiede der Regenmengen (aufgrund lokaler Gewitterschauer) hervorgerufen wurde.

Trockene Deposition (Fallout)

Nasse Deposition (Rainout)

Nasse Deposition (Washout)

Abb. 4.3 Depositionsprozesse

- Interzeption

Wie im letzten Abschnitt beschrieben, ist für die gesamte Deposition aus der Atmosphäre zum Boden hin vor allem die nasse Deposition wichtig. Fällt der Niederschlag dabei

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auf eine Fläche, welche mit Pflanzen bewachsen ist, so bleibt nur ein gewisser Anteil der insgesamt deponierten ra-dioaktiven Stoffe auf den Blättern hängen, der Rest fällt mit dem Regenwasser zum Boden. Das Ausmaß dieser Rück-haltung durch die Pflanzen (Interzeption genannt) spielt vor allem dann eine Rolle, wenn es sich bei den Pflanzen um Nahrungsmittel (z. B. Salat, Gemüse) oder Futtermittel für Haustiere (z. B. Gras für Kühe) handelt, denn nur der von der Pflanze zurückgehaltene Anteil deponierter radioakti- ver Stoffe gelangt unmittelbar in die menschliche Nahrungs-kette.

Das Ausmaß der Interzeption hängt von verschiedenen Faktoren ab, z. B.

Je weiter die Pflanzen entwickelt sind, d.h. je grö-ßer die Blattfläche ist, desto höher ist die Rückhal-tung.

Je größer die Regenmenge ist, desto geringer ist der Anteil, der auf der Blattoberfläche verbleibt.

Die physikalisch-chemischen Eigenschaften des ra-dioaktiven Stoffs beeinflussen, wie stark die Pflanzenoberfläche diesen Stoff binden kann.

Das Ausmaß der Interzeption kann über einen weiten Be-reich variieren, von 100 % (alles verbleibt auf den Blättern; dies kann z. B. bei sehr dichtem Blattwerk und nur leichtem Nieselregen auftreten) bis nahe 0 % (alles geht auf den Bo-den; bei kleinen Pflänzchen, starkem Regen).

- Verbleib auf Oberflächen

Nach einer Ablagerung von radioaktiven Stoffen auf den Erdboden, auf Pflanzen oder andere Oberflächen, verblei-ben diese häufig nur für eine beschränkte Zeit an dieser Stelle. Nur wenn eine chemische oder physikalische Bin-dung an die Oberfläche (z. B. Aufnahme ins Blattinnere von Pflanzen, Adhäsion an kristalline Strukturen von Bodenparti-keln) erfolgt, verbleiben die abgelagerten Stoffe lange Zeit am selben Ort. Ansonsten bewirkt vor allem das Regenwas-ser, dass die Stoffe im Laufe der Zeit abgewaschen und fortgespült werden. Allgemein gilt: je glatter die Oberflächen sind und je steiler deren Neigung ist, desto schneller werden die darauf deponierten Stoffe wieder entfernt.

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Man kann dies näherungsweise durch Halbwertszeiten beschrei-ben, d.h. durch Angabe des Zeitraums, in dem die Hälfte des de-ponierten Stoffes wegtransportiert wird. Diese Halbwertszeiten können z. B. bei Fenstern (glatte, vertikale Fläche) in der Größen-ordnung von Tagen, bei rauen Dächern dagegen in der Größen-ordnung von Jahren liegen.

Insbesondere in städtischen Umgebungen spielt dieses so genannte „Abwittern“ eine große Rolle; es führt im Laufe der Zeit zu einer ganz anderen räumlichen Verteilung der radio-aktiven Stoffe im Vergleich zur Situation unmittelbar nach der Deposition. Durch ein Einspülen in die Kanalisation kön-nen sich so manche Stoffe im Klärschlamm anreichern.

Nach einer Deposition auf den Erdboden verbleiben die Stoffe dagegen meist relativ lange am gleichen Ort. Durch das Regenwasser können sie zwar etwas in den Boden ein-

denpartikel geht dies meist langsam vor sich.

So ist z. B. das radioaktive Casium-137, welches von den oberirdi-schen Kernwaffenversuchen zu Beginn der 1960er Jahre stammt,

- Resuspension

Wenn radioaktive Stoffe auf dem Boden oder auf anderen Oberflächen abgelagert worden sind, dann können sie durch den Wind auch wieder aufgewirbelt werden und dann in der Atmosphäre weiter transportiert werden. Diesen Effekt nennt man Resuspension. Durch die Resuspension kann sich das Verteilungsmuster der radioaktiven Stoffe, das sich durch atmosphärische Ausbreitung und Depositionsprozesse im Anschluss and eine Freisetzung ergeben hat, auch langfris-tig noch ändern. Allerdings ist das Ausmaß der Resuspen-sion abhängig davon, wie feucht es in einer Region ist. In Mitteleuropa z. B. spielt sie keine wesentliche Rolle, dage-gen ist sie in Trockengebieten viel stärker ausgeprägt.

Durch die Resuspension kann es auch längerfristig zu einer Deposition der radioaktiven Stoffe auf Pflanzenoberflächen kommen. Neben dem Aufwirbeln mit dem Wind kann hierfür auch das Hochspritzen von Wasser und Erdpartikeln (mit anhaftenden radioaktiven Stoffen) bei starkem Regen wirk-sam sein („Rainsplash“).

obersten Bodenschichten zu finden. in den meisten Böden auch heute noch fast vollständig in den

gewaschen werden, doch aufgrund von Bindungen an Bo-

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Die Resuspension führt auch zu einer langfristigen Aufnah-me der radioaktiven Stoffe in den Körper durch Einatmen (Inhalation). Im Vergleich zur Aufnahme mit kontaminierten Nahrungsmitteln ist sie aber nur für solche radioaktiven Stof-fe bedeutsam, die eine sehr geringe Mobilität in den Nah-rungsketten (z. B. Aufnahme aus dem Boden in die Pflan-zen, Übergang vom Tierfutter in Milch oder Fleisch) haben. Ein Beispiel hierfür ist das Plutonium.

Ausbreitung in Gewässern

Werden radioaktive Stoffe in ein Gewässer freigesetzt, so findet auch dort, ähnlich wie in der Atmosphäre, eine Aus-breitung dieser Stoffe aufgrund des Fließens des Wassers, aber auch aufgrund von Turbulenzen statt.

Bei einer Einleitung in einen Fluss sind drei Phasen zu be-obachten. Ganz zu Beginn wird die Ausbreitung oft überwie-gend durch die Turbulenzen, welche durch den eingeleiteten Strahl verursacht werden, bestimmt. Bei geplanten Einlei-tungen in Gewässer wird oft durch entsprechende Einlei-tungsvorrichtungen ganz gezielt eine möglichst starke an-fängliche Durchmischung erzeugt. In der zweiten Phase fin-det die Ausbreitung der eingeleiteten Stoffe durch turbulente Diffusion im Fließgewässer statt. Besonders Flusskrüm-mungen, Buhnen etc. verstärken dabei die Ausbreitung quer zur Fließrichtung. Nach genügend langer Wegstrecke (bei einem großen Fluss nach mehreren Kilometern bis mehre-ren 10 Kilometern) wird die dritte Phase erreicht, in der die eingeleiteten Stoffe gleichmäßig horizontal und vertikal über das gesamte Flussprofil verteilt sind.

Bei einer Einleitung radioaktiver Stoffe in stehende Gewäs-ser (Teich, See) sind die Ausbreitungsverhältnisse viel stär-ker von den individuellen Eigenschaften des Gewässers ab-hängig. Dabei haben die Strömungsverhältnisse, z. B. ver-ursacht durch Zu- und Abflüsse, einen großen Einfluss. Au-ßer durch Strömung wird Turbulenz durch Wind und durch Temperaturunterschiede hervorgerufen. Eine besondere Rolle spielt dabei die vertikale Temperaturschichtung des Wassers. Im Laufe des Winters sinkt das an der Oberfläche abgekühlte Wasser in die Tiefe. Im Sommer erfolgt eine Er-

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wärmung des oberflächennahen Wassers, welches aufgrund seiner geringeren Dichte über dem kalten Tiefenwasser liegt. Hierbei erfolgt kaum ein Austausch zwischen den ver-schiedenen Höhenschichten. Im Laufe des Sommers weitet sich die erwärmte Oberflächenschicht aus, und wenn im Herbst Stürme stattfinden, dann erreicht die vertikale Durchmischung des Sees ein Maximum.

Radionuklide in Nahrungsketten

Bei der Deposition von radioaktiven Stoffen aus der Atmo-sphäre auf den Boden oder auf Pflanzen, welche der Vieh-fütterung oder der menschlichen Ernährung dienen, gelan-gen diese Stoffe in die Nahrungsketten, an deren Ende der Mensch steht. Der Mensch nimmt damit radioaktive Stoffe in seinen Körper auf, was zu einer internen Strahlenexposition des Körpers führt.

- Kontamination von Pflanzen

Die Kontamination von pflanzlichen Produkten durch radio-aktive Stoffe kann auf verschiedenen Wegen erfolgen (siehe Abb. 4.4).

Die direkte Deposition auf die als Futter- oder Nahrungsmit-tel genutzten Pflanzenteile spielt vor allem bei solchen Pflanzen eine Rolle, die als Ganzes geerntet und gegessen oder verfüttert werden (z. B. Blattgemüse, Gras, Silomais). Je größer hierbei das Verhältnis von exponierter Blattober-fläche zur Gesamtmasse ist, desto höher ist die Aktivitäts-konzentration im geernteten Produkt: während z. B. Kopfsa-lat, Spinat oder Gras mit am höchsten kontaminiert werden, ist die Aktivitätskonzentration z. B. in Weiß- oder Blaukraut deutlich niedriger, da bei letzteren nur die äußeren Blätter, welche meist bei der Zubereitung entfernt werden, kontami-niert werden. Bei Pflanzen, von denen nur bestimmte Teile genutzt werden (z. B. Tomaten, Bohnen) spielt die direkte Deposition auf diese Teile seltener eine wichtige Rolle, da diese Früchte nur während eines relativ kleinen Zeitraums im Jahr eine entsprechend große Oberfläche haben. Zudem sind manche Pflanzenteile z. B. durch Spelzen oder den Erdboden (Kartoffeln) vor einer direkten Deposition ge-schützt.

145

Ein wichtiger Kontaminationspfad bei teilweise genutzten Pflanzen ist die Deposition auf das Blattwerk (große Ober-fläche) und der anschließende Transport (Translokation) in die genutzten Teile. Dies spielt z. B. bei Getreide und Kartof-feln eine große Rolle. Das Ausmaß der Translokation hängt davon ab, in welchem Entwicklungszustand die Pflanzen-blätter kontaminiert werden; am effektivsten ist die Translo-kation, wenn die Deposition etwa zu Beginn der Entwicklung der Speicherorgane (Kartoffelknollen, Getreidekörner) statt-findet. Die Translokation ist auch nicht für alle radioaktiven Stoffe gleich groß. Manche Elemente (z. B. Cäsium, Iod) sind hier als mobil, andere (z. B. Strontium) als immobil ein-zustufen. Um das Ausmaß der Translokation zu veran-schaulichen: Wird Cäsium zu Beginn des Ährenschiebens auf die Blätter von Getreide abgelagert, so werden rund 10 % der abgelagerten Aktivität in die Getreidekörner verla-gert.

Während die direkte Ablagerung auf den Pflanzenblättern (mit oder ohne Translokation) nur bei einer Deposition zu bestimmten Jahreszeiten (nämlich dann, wenn die Pflanzen auf den Feldern stehen) eine Rolle spielt, kann eine Deposi-tion auf den Boden immer stattfinden. Durch Regenwasser, Pflügen usw. wird die deponierte Aktivität im oberen Boden verteilt und kann von den Pflanzen über die Wurzeln aufge-nommen werden. Diese Art der Pflanzenkontamination ist – im Gegensatz zur direkten Deposition auf den Blättern – nicht nur im ersten Jahr nach der Deposition, sondern lang-fristig wirksam. Auch hier gibt es Elemente, die von den Pflanzen gut aufgenommen werden (z. B. Strontium), und andere, die nur in sehr geringem Maße über die Wurzeln transportiert werden (z. B. Plutonium). Die in den Boden ein-gebrachten Radionuklide stehen auch nicht voll für die Wurzelaufnahme zur Verfügung, sondern manche Elemen-te, z. B. Cäsium, werden relativ schnell an Bodenpartikel gebunden.

Ein anderer Transportweg vom Boden hin zu den Pflanzen ist das Aufwirbeln von Bodenpartikeln (mit den daran haf-tenden radioaktiven Stoffen) durch den Wind und die an-schließende Deposition auf der Pflanze. Diese so genannte Resuspension ist der dominierende langfristige Kontamina-tionspfad für die Pflanzen bei Elementen mit sehr geringer

146

Wurzelaufnahme (z. B. Plutonium). Auch das Hochspritzen von Bodenpartikeln bei starken Regenfällen kann den Pflan-zen radioaktive Stoffe aus dem Boden zuführen.

1

43

2

Abb. 4.4 Pfade für die Kontamination von Pflanzenprodukten:

1: Direkte Deposition auf die genutzten Pflanzenteile (z. B. Früchte),

2: Deposition auf die Blätter und anschließender Transport in die Früchte (Translokation),

3: Deposition auf den Boden und anschließende Aufnahme in die Pflanze über die Wurzeln,

4: Deposition auf den Boden und anschließendes Hochwirbeln und Deposition auf die Blätter oder Früchte (Resuspension).

- Kontamination von Tierprodukten

Werden radioaktiv kontaminierte Futtermittel an Tiere verfüt-tert, so wird ein Teil der radioaktiven Stoffe durch das Blut in verschiedene Organe transportiert und so in den Tierproduk-ten (Fleisch, Milch, Eier) zu finden sein.

Die Zufuhr radioaktiver Stoffe zum Tier wird dabei wesent-lich durch die Art und Menge der Futtermittel bestimmt. Häu-fig wird der so genannte „Weide-Kuh-Milch-Pfad“ betrachtet, der zumindest in der Anfangsphase nach einer Deposition radioaktiver Stoffe zu einer relativ hohen Kontamination der

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Milch führt. Will man dagegen realistische Werte der Konta-mination von Tierprodukten abschätzen, so müssen die tat-sächlichen Fütterungsgewohnheiten zugrunde gelegt wer-den. Diese können regional und saisonal stark schwanken, so dass es zu einer großen Bandbreite der beobachteten Kontamination von Tierprodukten kommen kann.

Wird einem Tier von einem bestimmten Zeitpunkt an täglich die gleiche Menge eines radioaktiven Stoffs gefüttert, so ist in der Milch oder im Fleisch nicht schlagartig eine bestimmte Konzentration dieses Radionuklids zu finden, sondern es stellt sich erst im Laufe der Zeit ein Gleichgewichtswert ein (siehe Abb. 4.5). Dieser wird meist beschrieben durch den so genannten Transferfaktor, welcher das Verhältnis der Ak-tivitätskonzentration im Tierprodukt (angegeben in Bq/kg) zu der täglich dem Tier zugeführten Aktivitätsmenge (Bq/Tag) angibt. Nach Beendigung der Aktivitätszufuhr zum Tier geht die Aktivität im Tierprodukt auch nicht schlagartig zurück, sondern sie klingt langsam ab, weil der im Körper vorhande-ne radioaktive Stoff langsam ausgeschieden wird.

Zeit

Akt

ivitä

t im

Tie

rpro

dukt

Zeitraum der

Aktivitätszufuhr

Gleichgewichtswert

Abb. 4.5 Schematische Darstellung des Radionuklid-Transfers in Tierprodukte

Die Transferfaktoren können sehr unterschiedliche Werte annehmen; sie hängen stark vom betrachteten radioaktiven Stoff und der chemischen Verbindung, in der er vorliegt,

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aber auch von der Tierart bzw. dem Tierprodukt ab. Es ist aber auch zu bedenken, dass die Transferfaktoren keine Naturkonstanten, wie man sie aus der Physik kennt, sind. In biologischen Systemen gibt es immer natürliche Variationen, und so kann z. B. der Transferfaktor für Milch von einer Kuh-rasse zur anderen verschieden sein, aber auch innerhalb ei-ner Rasse gibt es Variabilitäten von einer Kuh zur anderen.

Der Zeitraum, in dem sich bei konstanter Aktivitätszufuhr ein Gleichgewichtswert im Tierprodukt einstellt, hängt ebenfalls von vielen Faktoren ab. Während sich z. B. beim Übergang von Cäsium in die Milch bereits nach wenigen Tagen ein mehr oder weniger konstanter Wert einstellt, dauert es bei Elementen, welche sich langfristig in bestimmten Organen akkumulieren (z. B. Strontium im Knochen), viel länger.

- Einfluss der Verarbeitung und Lagerung auf die Kontamination

Häufig werden pflanzliche oder tierische Produkte erst eine Zeit lang gelagert und/oder verarbeitet, bevor sie als Futter- oder Nahrungsmittel dienen. Dies kann den Transfer der ra-dioaktiven Stoffe in den Nahrungsketten deutlich beeinflus-sen.

Durch die Lagerung ergibt sich bei kurzlebigen Radionukli-den durch den radioaktiven Zerfall eine Reduktion der Kon-tamination. So bewirkt z. B. eine Lagerung von 2 Monaten bei dem potentiell wichtigen Radionuklid Iod-131 (8 Tage Halbwertszeit) eine Reduktion der Aktivität um den Faktor 180. Ein anderer Effekt der Lagerung besteht darin, dass sich die Aktivitätszufuhr zum Menschen am Ende der Nah-rungskette zeitlich nach hinten verschiebt. Nach dem Tschernobyl-Unfall Ende April 1986 wurde so der maximale Körper-Gehalt an Cäsium-137 bei einer großen Probanden-Gruppe in München erst im April 1987 gemessen.

Bei der Verarbeitung von Pflanzen- oder Tierprodukten zu Futter- und Nahrungsmitteln kann es in den verarbeiteten Produkten zu einer Erhöhung oder Reduktion der Aktivitäts-konzentration gegenüber dem Rohprodukt kommen. Im Jah-re 1986 hatte Winterweizen im Raum München eine Cäsi-um-137-Konzentration von rund 100 Bq/kg. Nach dessen Verarbeitung in einer Mühle war im Mehl eine Kontamination

149

von 50 Bq/kg zu messen, während das Nebenprodukt des Mahlvorgangs, die Kleie, einen Cäsium-137-Gehalt von rund 300 Bq/kg aufwies (Abb. 4.6). Für die Radioökologie wichti-ge Verarbeitungsprozesse in den Nahrungsketten sind auch die Herstellung von Butter, Käse und anderen Produkten aus Milch.

Abb. 4.6 Änderung der Aktivitätskonzentration beim Mahlen von Getreide

Auch die Verarbeitung von Nahrungsmitteln in der Küche kann zu Veränderungen (in der Regel zur Reduktion) der radioaktiven Kontamination führen. Äußerlich auf Pflanzen haftende radioaktive Partikel können teilweise abgewaschen werden. Beim Kochen gehen die wasserlöslichen radioakti-ven Stoffe teilweise ins Kochwasser und werden so – falls das Kochwasser weggeschüttet wird – aus der Nahrungs-kette entfernt. Es wurden nach dem Tschernobyl-Unfall eine Reihe von „Rezepten“ weitergegeben, mit denen sich z. B. aus Pilzen oder Fleisch der allergrößte Teil des Radio-Cäsiums entfernen ließ; es erscheint jedoch dabei teilweise fraglich, was dabei an Nährstoffen und Geschmack der Le-bensmittel übrig bleibt.

Interne Strahlenexposition

Von einer internen Strahlenexposition spricht man dann, wenn ein radioaktiver Stoff in den menschlichen Körper ge-langt. Während des Aufenthalts im Körper zerfallen dessen Atome teilweise und senden dabei Strahlung aus, die den Körper von innen heraus bestrahlt.

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Die wichtigsten Pfade, auf denen bei einer radioaktiven Kon-tamination der Umwelt radioaktive Stoffe in den Körper ge-langen können, sind die Aufnahme durch kontaminierte Nahrungsmittel (Ingestion) und mit der Atemluft (Inhalation). Darüber hinaus gibt es auch die Aufnahme über die Haut, über eine Wunde oder durch Injektion; diese Pfade sind aber im Allgemeinen weniger wichtig und werden hier nicht weiter behandelt.

Für eine Abschätzung der internen Strahlenexposition sind grundsätzlich zwei Schritte nötig: zum einen die Abschät-zung, wie groß die Menge (Aktivität) des vom Menschen in den Körper aufgenommenen radioaktiven Stoffes ist, zum anderen die Berücksichtigung, wo und wie lange der Stoff im Körper verbleibt und wie viel der ausgesandten Strahlung die verschiedenen Organe und Gewebe des Körpers trifft.

- Ingestion

Die Menge (Aktivität) eines mit der Nahrung aufgenom-menen radioaktiven Stoffes hängt zum einen davon ab, wie hoch die Nahrungsmittel kontaminiert sind (dies wurde im letzten Abschnitt diskutiert), zum anderen, wie viel der Mensch von den Nahrungsmitteln isst. Will man also eine quantitative Abschätzung der Aktivitätszufuhr machen, be-nötigt man realistische Daten über die Verzehrsmengen. Meist werden hierfür mittlere Verzehrsmengen der Gesamt-bevölkerung genommen. Die Verzehrsgewohnheiten von In-dividuen können jedoch stark von den mittleren abweichen; deswegen sind auch Abschätzungen für besondere Grup-pen (z. B. Vegetarier, überdurchschnittliche Milchtrinker, Fleischesser etc.) von Interesse.

Das Ausmaß der aktuellen radioaktiven Kontamination der Nahrungsmittel lässt sich durch Messung an repräsentativen Nahrungsmittelproben ermitteln. Um eine Prognose in die Zukunft zu erstellen, kann man es aber auch mit radioökolo-gischen Rechenmodellen abschätzen, welche die im letzten Abschnitt diskutierten Prozesse in den Nahrungsketten be-rücksichtigen. Ausgangspunkt hierzu ist die Menge der auf Böden und Pflanzen deponierten Radioaktivität.

Wenn eine Region (Land, Wirtschaftsraum) jedoch sehr unter-schiedlich hoch mit radioaktiven Stoffen kontaminiert ist, wie es

151

z. B. nach dem Tschernobyl-Unfall in Deutschland der Fall war, dann ist es für die Abschätzung der Aktivitätszufuhr einer bestimm-ten Personengruppe wichtig zu wissen, welche Nahrungsmittel von wo bezogen werden. Dies ist kein Problem für Selbstversorger, die sämtliche Nahrungsmittel lokal produzieren. Allerdings hat diese Gruppe heutzutage einen verschwindend geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung. Selbst auf dem Land werden heute viele Nah-rungsmittel im Handel bezogen, wobei die Nahrungsmittel häufig einen weiten Transport vom Ort der Produktion zum Ort des Verbrauchs hinter sich haben.

Noch vor wenigen Jahrzehnten wäre die Abschätzung der Nah-rungsmitteltransporte wesentlich einfacher gewesen, denn es gab viele Gebiete, welche mehr oder weniger autark waren, d. h. weit-gehend alle verzehrten Nahrungsmittel produziert haben. Heute dagegen liegt die Nahrungserzeugung und -verteilung weitgehend in den Händen großer Handelsketten, was ein starkes Anwachsen und auch eine große Variabilität der Nahrungsmitteltransporte zur Folge hat. Nahrungsmittel werden überwiegend dort gekauft, wo sie gerade am billigsten sind; Transportkosten spielen dabei meist kei-ne entscheidende Rolle. Traditionell wichtige Erzeuger-Verbrau-cher-Beziehungen sind dabei unwichtiger geworden.

Dies macht es äußerst schwer, in einer Abschätzung der Strahlen-exposition durch kontaminierte Nahrungsmittel die wahren Trans-portwege zu berücksichtigen. Das Problem wird noch größer bei einer Prognose der Ingestionsdosis nach einer größeren radioakti-ven Kontamination (wie z. B. der Situation nach dem Tschernobyl-Unfall): hierbei können sich die vorhandenen Handelswege schlag-artig und unvorhersagbar ändern, auch aufgrund der Reaktion der Bevölkerung.

- Inhalation

Solange radioaktive Stoffe als sehr feine Partikel oder an Aerosolpartikel gebunden in der Luft schweben, können Sie vom Menschen beim Einatmen inkorporiert werden. Je nach Größe der Partikel gelangen die Teilchen mehr oder weniger tief in den Atemtrakt und werden dort abgeschieden. Je nach Eindringtiefe verbleiben sie einige Zeit in der Lunge, und die beim radioaktiven Zerfall ausgesandte Strahlung bestrahlt das umgebende Gewebe.

Die Menge der dabei inkorporierten radioaktiven Stoffe hängt zum einen von der Konzentration dieser Stoffe in der Luft, zum anderen von der Menge der eingeatmeten Luft ab.

152

Die Atemrate, d. h. das pro Zeiteinheit eingeatmete Luftvolu-men, hängt vor allem vom Lebensalter des Menschen und von der momentanen körperlichen Aktivität ab, schwankt aber auch individuell von Person zu Person. Einen Eindruck von der Schwankungsbreite vermittelt Abb. 4.7.

50

Kleinkind(1 Jahr)

Kind (10 Jahre)

Erwachsene

schwere Arbeit

Atemrate(Liter/Minute)

40

10

20

30

0

leichteAktivität

ruhend

Abb. 4.7 Schwankungsbreiten von Atemraten

Nach einer Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Atmosphä-re kann die Inhalation zu einer bedeutenden Quelle der Strahlenexposition werden, wenn sich der Mensch in der Ausbreitungsfahne aufhält. Besonders bei kurzlebigen Ra-dionukliden, die beim Transfer in den Nahrungsketten zerfal-len, gewinnt die Inhalation relativ an Bedeutung. Das Einat-men radioaktiver Edelgase jedoch führt nur zu sehr geringen Dosen, da diese sich nicht in der Lunge ablagern, sondern schnell wieder ausgeatmet werden.

Langfristig führt die Inhalation von resuspendierten radioak-tiven Partikeln zu einer Strahlenexposition. Diese spielt aber nur für solche Radionuklide eine nennenswerte Rolle, die über die Nahrungsketten nur in sehr geringem Umfang zum Menschen gelangen und die aufgrund ihrer ausgesandten Strahlung bei Einatmen zu einer hohen Dosis führen (z. B. Plutonium).

- Verhalten der radioaktiven Stoffe im Körper

Die Abschätzung der in den Körper durch Ingestion oder In-halation aufgenommenen Aktivität besagt noch nichts über

153

die daraus resultierende Wirkung, wie z. B. das Risiko einer Krebsentstehung. Um ein Maß für die Wirkung zu haben, muss erst noch abgeschätzt werden, welche Dosis aus der Inkorporation des radioaktiven Stoffes entsteht. Die Um-rechnung von der aufgenommenen Aktivität in die Dosis ist für jedes Radionuklid verschieden, denn sie hängt u. a. da-von ab

in welchem Ausmaß der radioaktive Stoff ins Blut aufge-nommen (resorbiert) wird,

wie er sich im Körper verteilt,

wie schnell er wieder ausgeschieden wird,

wie schnell er durch radioaktiven Zerfall reduziert wird,

welche Art von Strahlung er aussendet,

welche Energie diese Strahlung hat.

Um das Verhalten von Radionukliden im Körper und die daraus resultierende Strahlenexposition abzuschätzen, gibt es so genannte biokinetische Rechenmodelle, welche den Transport des Stoffes zwischen den einzelnen Organen und Geweben simulieren.

Ist in einem Organ oder Gewebe die Aktivität eines bestimmten Radionuklids je Masseeinheit bekannt, lässt sich aus der absor-bierten Energie die Energiedosisleistung (pro Zeiteinheit an das betroffene Gewebe übertragene Energiemenge) errechnen. Berück-sichtigt man dabei zusätzlich, dass in lebendem Gewebe die einzelnen Strahlenarten unterschiedliche Qualitätsfaktoren der biologischen Wirksamkeit besitzen, ergibt sich die Äquivalent-dosisleistung (siehe Kapitel 1.3). Aus der Dosisleistung (bei-spielsweise in Mikrosievert pro Stunde) und der Zeit, über die sie einwirkt (beispielsweise 1 Jahr), ist die Dosis in diesem Zeitraum errechenbar (im gewählten Beispiel die Jahresdosis in Mikrosievert oder Millisievert). Die auf Aktivitätszufuhr bezogene Integraldosis, also diejenige Dosis, die ein Organ oder Gewebe als Folge einer einmaligen Zufuhr eines oder mehrerer Radionuklide im gesamten (un-begrenzten) Zeitraum nach der Aufnahme bis zum vollstän-digem Verschwinden dieser Nuklide aus dem Körper erhält, wird als Folgedosis bezeichnet.

154

Begrenzt man den betrachteten Zeitraum nach der Aufnahme, ergibt sich die beschränkte Folgedosis (englisch: dose com-mitment), zum Beispiel die 50-Jahre Folgedosis.

Daten über anatomische Werte oder das Stoffwechselge-schehen unterliegen naturgemäß starken individuellen Schwankungen. Für die Berechnung der Strahlendosis hat die ICRP daher in ihrer Veröffentlichung Nr. 23 /ICR-75/ für ei-nen Durchschnittsmenschen (Reference Man) Standardwerte in allen Einzelheiten festgelegt. Auf der Grundlage dieser Stan-dardwerte ist auch die Referenzperson der deutschen Strah-lenschutzverordnung definiert.

Im praktischen Strahlenschutz ist es zur Ermittlung der Fol-gedosis aus einer Inkorporation eines radioaktiven Stoffes nicht nötig, aufwendige Rechnungen mit einem biokineti-schen Modell durchzuführen. Vielmehr kann auf Dosisfakto-ren zurückgegriffen werden, welche aus solchen Rechenmo-dellen gewonnen wurden. Diese Faktoren geben jeweils für ein bestimmtes Nuklid die aus der Inkorporation von einem Bec-querel resultierende Folgedosis an. Dosisfaktoren sind ge-trennt für Ingestion und Inhalation und für verschiedene Alters-gruppen verfügbar.

Aufgenommene Radionuklide werden dann zu einer ver-gleichsweise hohen Strahlenexposition führen, wenn sie

• eine hohe spezifische Aktivität (Becquerel pro Gramm) besitzen,

• im Körper stark angereichert werden,

• lange dort verweilen und schließlich noch

• eine biologisch besonders wirksame Strahlung aussen-den.

Solche Radionuklide (beispielsweise die Alpha-Strahler Radi-um-226 oder Plutonium-238 und -239) bezeichnet man als hoch radiotoxisch (strahlengiftig). Auf der anderen Seite gibt es auch radioaktive Stoffe, die vom Körper kaum aufge-nommen werden, eine biologisch wenig wirksame Strahlung aussenden und im Falle der äußeren Strahlenexposition nur die Haut bestrahlen. Ihre Radiotoxizität ist gering (Beispiel: Krypton-85).

155

Bei Iod-131, das bevorzugt in die Schilddrüse aufgenommen wird, führt zum Beispiel die Zufuhr von 1.000 Becquerel mit der Nahrung zu Folgedosen für die Schilddrüse von 0,43 mSv beim Erwachsenen be-ziehungsweise 3,5 mSv beim Kleinkind (wegen einer hohen Aktivi-tätskonzentration in der sehr kleinen Schilddrüse).

Bei Cäsium-137, das sich im Körper annähernd gleichmäßig verteilt, liegt die Folgedosis (Effektivdosis) durch Zufuhr von 1.000 Bq für den Erwachsenen bei ca. 0,01 mSv. Für Kinder (mit Ausnahme der unter 1-Jährigen) ist die Dosis wegen der kürzeren Verweilzeit des Cäsiums im Körper niedriger als für Erwachsene.

Externe Strahlenexposition

Radioaktive Stoffe können zu einer externen Strahlenexpo-sition des Menschen führen, wenn sie sich außerhalb des Körpers befinden und die von ihnen ausgehende Strahlung auf den Körper trifft.

- Strahlung aus einer „radioaktiven Wolke“

Wenn radioaktive Stoffe in die Atmosphäre freigesetzt wur-den und sich in der Atmosphäre ausbreiten, so zerfällt ein Teil der radioaktiven Atome hierbei und sendet ionisierende Strahlung aus. Hält sich ein Mensch in oder nahe bei der vorbeiziehenden radioaktiven Wolke auf, so kann diese Strahlung von außen seinen Körper treffen. Hierbei hat Al-pha-Strahlung keine Bedeutung, da sie in Luft nur eine Reichweite von wenigen Zentimetern hat. Auch Beta-Strahlung ist hier von sehr untergeordneter Bedeutung, da ihre Reichweite in Luft maximal einige Dezimeter bis einige Meter beträgt. Es kommt dazu, dass Alpha- und Betastrah-lung beim Auftreffen auf den Körper in der Haut absorbiert werden, so dass die strahlenempfindlicheren Organe und Gewebe keine Strahlung abbekommen.

Gammastrahlung dagegen hat eine Reichweite in Luft, die in der Größenordnung von 100 m liegt (abhängig von der Pho-tonenenergie des jeweiligen Radionuklids). Dies bedeutet, der Mensch kann von Gammastrahlung der Radionuklide im diesem Umkreis getroffen werden. Gammastrahlung kann auch ins Innerste des Körpers eindringen, d.h. alle Organe und Gewebe des Menschen werden bestrahlt. Aus diesen Gründen spielt bei der äußeren Bestrahlung die Gamma-strahlung die überragende Rolle.

156

Die Strahlenexposition des Menschen beim Vorbeiziehen einer radioaktiven Wolke wird stark reduziert, wenn sich der Mensch in einem Gebäude aufhält. Je nach Gebäudeaus-maßen, Wandstärken und Baumaterial kann die Bestrahlung im Gebäude einen Faktor 2 bis 20 niedriger sein als beim Aufenthalt im Freien, beim Aufenthalt im Keller bei großen Gebäuden kann der Reduktionsfaktor sogar bis in die Grö-ßenordnung von 1.000 gehen!

- Strahlung von abgelagerten Nukliden

Die Bestrahlung durch die in der Atmosphäre vorbeiziehen-den Radionuklide stellt lediglich eine relativ kurzzeitige Strahlenquelle dar. Dagegen können die am Boden und auf anderen Oberflächen in der Umgebung des Menschen (z. B. Bäume, Hausdächer) deponierten Radionuklide als eine sehr lang anhaltende Strahlenquelle wirken. Deswegen kann dieser Expositionspfad einen relativ großen Beitrag zur gesamten Strahlenexposition liefern. So stammt der größte Teil der Strahlenexposition, den ein Mensch in Deutschland langfristig durch die Ablagerung radioaktiver Stoffe vom Re-aktorunfall in Tschernobyl bekommt, von den am Boden ab-gelagerten Radionukliden, vor allem vom Cs-137.

Auch hier spielen Alpha- und Beta-Strahlung eine unwesentliche Rolle, in erster Linie ist hier die Gammastrahlung maßgebend. We-gen der großen Reichweite der Gammastrahlung trägt hier die ge-samte Umgebung bis zu mehreren 10 Metern Abstand zur Bestrah-lung bei: wenn man sich auf einer ebenen Wiese aufhält, die gleichmäßig mit Cs-137 kontaminiert worden ist, dann stammt rund die Hälfte der auf einen wirkenden Strahlung aus Bereichen, die mehr als 7 m entfernt sind, und rund ein Viertel stammt aus Berei-chen, die mehr als 25 m entfernt sind (Zähringer und Pfister 1998)!

Radioaktive Edelgase werden nicht am Boden abgelagert, spielen deswegen bei diesem Expositionspfad keine Rolle.

Auch bei der Strahlenexposition durch am Boden abgelager-te Radionuklide ergibt sich eine starke Reduktion der Be-strahlung, wenn man sich in Gebäuden aufhält. So verrin-gert sich beispielsweise die Dosisleistung nach einer Depo-sition von Cs-137 in Gebäuden gegenüber einem Aufenthalt im Freien um den Faktor 2 bis 100, im Keller sogar bis zum Faktor 500 (Jacob 1991).

157

Eine spezielle Art der Strahlenexposition durch abgelagerte radioaktive Stoffe entsteht, wenn die Ablagerung auf die Haut oder die Kleidung des Menschen erfolgt. Hierbei ver-größert sich der relative Anteil von Alpha- und Betastrahlung an der Strahlenexposition etwas, da eine Bestrahlung der Haut durch diese Strahlenarten auftritt. Insgesamt ist dieser Expositionspfad aber im Allgemeinen von geringer Bedeu-tung, da davon auszugehen ist, dass die Verweilzeit der ra-dioaktiven Stoffe durch Waschen, Duschen und Kleidungs-wechsel relativ gering ist.

4.2 Strahlenexposition aus natürlichen Quellen

Seit es Leben gibt, ist dieses unter dem Einfluss der natürli-chen Strahlung. Die so genannte „natürliche Untergrund-strahlung“, d.h. die ionisierende Strahlung, die durch in un-serer Natur vorhandenen Quellen bedingt ist, hat mit Si-cherheit eine wichtige Rolle in der Evolution gespielt, kann zugleich aber erkennbare Strahlenschäden verursachen. So ist zweifelsfrei das natürliche radioaktive Edelgas Radon für viele ernste Lungenschädigungen bei Bergwerksarbeitern bereits in den vergangenen Jahrhunderten ursächlich.

Wenn man auch jede Exposition des Menschen mit ionisie-render Strahlung als potentiell gesundheitsschädigend be-trachtet, wobei die Wahrscheinlichkeit eines Schadens mit der Dosis ansteigt, so haben wir doch bisher damit überlebt und uns trotz der natürlichen Untergrundstrahlung (vielleicht sogar mit ihrer Hilfe) zu unserer gegenwärtigen Form entwi-ckelt. Häufig denkt man bei der natürlichen Untergrundstrah-lung nur an die leicht messbare Strahlung, die von außen auf uns einwirkt, dabei darf man gerade die so genannte in-nere Strahlenexposition, die durch natürliche Radionuklide in unserem Körper verursacht wird, keinesfalls vernachläs-sigen, zumal sie verglichen mit der äußeren Strahlenexposi-tion eine deutlich höhere Dosis und damit ein größeres Risi-ko beschert.

Externe Strahlenexposition

Die äußere Strahlenexposition stammt aus ganz unter-schiedlichen Quellen, die die Natur für uns bereithält. Neben

158

der ionisierenden Strahlung, die von den in der Erdkruste vorhandenen radioaktiven Isotopen als so genannte ter- restrische Strahlung ausgeht, „prasseln“ ständig hochener-getische ionisierende Teilchen aus dem Weltraum als kos-mische Strahlung auf uns nieder.

- Kosmische Strahlung

Entstehung

Der Ursprung der Strahlung aus dem Weltall ist bislang noch nicht endgültig geklärt, wenngleich mehrere plausible Theo-rien angeboten werden können. Prinzipiell können Super-nova-Explosionen als ihr Ursprung angesehen werden, bei denen durch den Gravitationskollaps große Energiemengen freigesetzt werden, doch können kosmische Magnetfelder geladene Teilchen ebenfalls auf beträchtliche Energien be-schleunigen (aber auch abbremsen), wobei nach vielen der-artigen Wechselwirkungen bei hochenergetischen Teilchen der Energiegewinn gegenüber dem -verlust durch Abbrem-sung überwiegt. Nach heutiger Vorstellung ist davon auszu-gehen, dass die kosmische Strahlung in unserer eigenen Galaxis, der Milchstraße, entsteht, lediglich der Ursprung sehr hochenergetischer Teilchen ( 1017 eV) dürfte in frem-den Galaxien (schwarze Löcher, Neutronensterne, Quasare) zu finden sein.

Unsere Sonne leistet nur einen geringen Beitrag zur kosmi-schen Strahlung, die wir auf der Erdoberfläche erleben. In unregelmäßigen Abständen werden bei Strahlungsausbrü-chen auf der Sonne („solar flares“) geladene Teilchen mit Energien bis zu einigen GeV in den Weltraum geschleudert und führen einige Male im Jahr zu einer kurzfristig messba-ren Dosisleistungserhöhung in den unteren Atmosphären-schichten. Wenngleich solche Eruptionen für uns auf der Er-de vernachlässigbar sind, da die Erdatmosphäre sehr gut gegen diese relativ niederenergetischen Teilchen schützt, so können sie in den äußeren Atmosphärenschichten kurzfristig die Flussdichte um mehr als das Hundertfache ansteigen lassen und für die Kosmonauten im freien Weltraum ohne jeglichen Schutz durch die Atmosphäre ernste Probleme be-reiten.

159

Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass magnetische „Stürme“ auf der Sonnenoberfläche zusammen mit dem Erdmagnetfeld die Erde gegen niederenergetische Nukleonen aus dem Kosmos abschirmen und die galakti-sche Strahlung kurzfristig verringern können. Allerdings ist dieser Effekt für uns zwar messbar aber ohne größere Be-deutung. Abb. 4.8 lässt auch erkennen, dass die Sonnenak-tivität (etwa 11-jähriger Zyklus) die Dosis in Äquatorgegend selbst in typischer Flughöhe nicht mehr beeinflusst.

Abb. 4.8 Zeitlicher Verlauf der Dosisleistung (effektive Dosis pro Stunde) vergangener Jahrzehnte in 11,3 km Höhe für ver-schiedene geographische Breiten (mit freundlicher Genehmigung der AG3, Inst. f. Strahlenschutz, GSF)

Primäre und sekundäre kosmische Strahlung: Die Erd-atmosphäre schwächt die kosmische Strahlung nicht nur, sie verändert sie auch, sodass die für die Strahlenexposition auf der Erdoberfläche verantwortliche sekundäre kosmische Strahlung keinesfalls identisch ist mit der primären kosmi-schen Strahlung, die vom Weltall auf die oberen Atmosphä-renschichten trifft.

Die primäre kosmische Strahlung aus dem Weltraum be-steht überwiegend aus energiereichen Protonen (bis zu 1014

MeV), weiters aus Heliumkernen (etwas mehr als 10 %) und zu einem kleineren Anteil aus schwereren Kernen, Elektro-nen und Photonen (Abb. 4.9). Die hochenergetischen Proto-nen und Kernteilchen aus dem Kosmos werden nicht nur

1

1

160

über Ionisation und Anregung abgebremst, sondern erzeu-gen über die starke Wechselwirkung mit den Sauerstoff- und Stickstoffkernen der Atmosphäre Sekundärteilchenkaskaden einschließlich vieler kurzlebiger Elementarteilchen, mit ei-nem Maximum in ungefähr 20 km Höhe (Pfotzer-Maximum). In den oberen Atmosphärenschichten tragen vornehmlich Protonen und Neutronen zur effektiven Dosis bei, in Mee-reshöhe hingegen vorwiegend Myonen.

Abb. 4.9 Beiträge der Komponenten der kosmischen Strahlung zur effektiven Dosis in unterschiedlichen Höhen der Atmo-sphäre in Äquatorgegend bei Minimum der Sonnenaktivität (mit freundlicher Genehmigung der AG3, Inst. f. Strahlenschutz, GSF)

Auf Meeresniveau liefert die kosmische Strahlung eine effektive Dosis von etwa 0,3 mSv pro Jahr. In größeren Höhen steigt der Beitrag zur effektiven Dosis durch die er-wähnten Teilchenkaskaden merklich an, in typischen Flug-höhen von 10 bis 12 Kilometern auf etwa das Hundertfache (Abb. 4.10).

161

Abb. 4.10 Höhenabhängigkeit der Ortsdosisleistung durch kosmische Strahlung

Abb. 4.11 Weltübersichtskarte der Dosisleistung (effektive Do-sis pro Stunde) in 11,3 km Höhe (April 2005) (mit freundlicher Genehmigung der AG3, Inst. f. Strahlenschutz, GSF)

Aus Abb. 4.11 ist deutlich zu erkennen, dass die Dosis ne-ben der Flughöhe maßgeblich durch die geographische Breite mitbestimmt wird, was den Einfluss des Erdmagnet-feldes auf die geladenen Teilchen der primären kosmischen

162

Strahlung widerspiegelt. Aufgrund der Form des Erdmagnet-feldes (siehe Abb. 4.12) werden die geladenen Teilchen der kosmischen Strahlung, die in Polgegend annähernd parallel zu den Magnetfeldlinien auf die Erde niederprasseln, viel weniger abgelenkt als Teilchen, die in Äquatorgegend weit-gehend senkrecht zu den Feldlinien fliegen. Dank der Erd-atmosphäre ist dieser Einfluss auf die Dosis in Meereshöhe nur gering, für typische Flughöhen liest man hingegen aus Abb. 4.11 eine etwa 3 mal höhere Dosis für Flüge in Polar-gegend gegenüber der Äquatorregion ab, was einem etwa 100fachen bzw. 30fachen Dosisleistungsanstieg verglichen mit dem Beitrag auf der Erdoberfläche entspricht.

Abb. 4.12 Schematische Darstellung des Magnetfelds der Erde

Dieser Unterschied macht sich in der folgenden Abb. im Ver-gleich der Dosiswerte mit der Flugdauer der jeweiligen Flugrouten deutlich bemerkbar. Individuelle Flugdosen kön-nen mit einer von der GSF kostenlos zur Verfügung gestell-ten Online-Version von EPCARD (European Program Pack- age for the Calculation of Aviation Route Doses) berechnet werden unter: www.gsf.de/epcard.

Für die Strahlenexposition des Flugpersonals ist das vorwiegend durch die sekundäre kosmische Strahlung be-dingte Strahlungsfeld in etwa 10 bis 14 Kilometer Höhe aus-schlaggebend. Während die daraus resultierende Dosis für

163

Abb. 4.13 Vergleich von effektiver Dosis und Dauer für Flüge von München oder Frankfurt(*) zu ausgewählten Zielen auf dem jeweils kürzesten Weg in 11,3 km Flughöhe; Steig- und Sinkflug sind mit je 30 min berücksichtigt (mit freundlicher Ge-nehmigung der AG3, Inst. f. Strahlenschutz, GSF)

einzelne Flüge verglichen mit der Jahresdosis der natürli-chen Strahlenexposition von insgesamt etwa 2,1 Millisievert im allgemeinen bedeutungslos ist (Abb. 4.13), ist sie für das fliegende Personal mit vielen Flugstunden als berufliche Strahlenexposition durchaus zu berücksichtigen. Als obere Abschätzung der jährlichen Strahlenexposition des Flugper-sonals gibt das Bundesamt für Strahlenschutz einen Wert von etwa 8 mSv effektive Dosis an, wenn ausschließlich Flüge auf der Nordatlantik-Route angenommen werden und die maximal zulässige Arbeitszeit von 1.000 Flugstunden jährlich voll ausgenutzt wird.

- Kosmogene Radionuklide

Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass durch die Wechsel-wirkung der kosmischen Strahlung mit der Atmosphäre auch radioaktive Nuklide gebildet werden, deren Inkorporation ebenfalls zu einer geringen Strahlenexposition führt. In der folgenden Tabelle sind einige dieser Radionuklide mit ihren Halbwertzeiten angeführt.

164

Radionuklid Halbwertzeit Radionuklid Halbwertzeit

Tritium (H-3) 12,3 Jahre Silizium-32(Si-32)

101 Jahre

Beryllium-7(Be-7)

53,3 Tage Phosphor-32 (P-32)

14,3 Tage

Beryllium-10(Be-10)

1,6 106

JahreArgon-39 (Ar-39)

269 Jahre

Kohlenstoff-14 (C-14)

5730 Jahre Krypton-81(Kr-81)

2,1 105

JahreNatrium-22(Na-22)

2,6 Jahre Krypton-85(Kr-85)

10,7 Jahre

Tab. 4.1 Kosmogene Radionuklide

Für die Strahlenexposition des Menschen sind die kos- mogenen Radionuklide mit einem Gesamtbeitrag von ca. 15 µSv effektive Dosis pro Jahr von untergeordneter Bedeu-tung. Der größte Beitrag geht auf Kohlentstoff-14 zurück (ca. 12 µSv/a), gefolgt von Beryllium-7, welches für eine effektive Dosis von etwa 3 µSv pro Jahr verantwortlich ist.

- Terrestrische Strahlung

Die Erdkruste enthält eine Vielzahl natürlicher radioaktiver Stoffe, von denen die meisten einer der drei Zerfallsreihen entstammen, deren Anfangsglieder eine dem Alter des Son-nensystems vergleichbar lange Halbwertzeit 1/2 besitzen:

Uran/Radium-Reihe(Muttersubstanz U-238; 1/2 = 4,5 Mrd. Jahre)

Uran/Actinium-Reihe(Muttersubstanz U-235; 1/2 = 0,7 Mrd. Jahre)

Thorium-Reihe(Muttersubstanz Th-232; 1/2 = 14 Mrd. Jahre)

Diese langlebigen Nuklide sind somit noch immer in unserer Erdkruste vorhanden, andererseits entstehen durch ihre Umwandlung (radioaktiver Zerfall) ständig weitere, oft viel kurzlebigere Radionuklide, die in unserer Erdkruste eben-falls als natürliche Radionuklide zu finden sind.

Außer den Radionukliden der natürlichen Zerfallsreihen sind noch mehrere primordiale Radionuklide (Radionuklide, die

165

bei der Bildung der irdischen Materie entstanden und heute noch vorhanden sind) mit zum Teil extrem langen Halbwert-zeiten anzutreffen, von denen dem Kalium-40 im Hinblick auf die Strahlenexposition des Menschen die größte Bedeu-tung zukommt.

Nuklid

Halb-wert-zeit

Jahre

Nuklid

Halb-wert-zeit

Jahre

Nuklid

Halb-wert-zeit

Jahre

K-401,3109 Cd-116

2,61019 Sm-147

1,11011

V-501,41017 In-115

4,41014 Sm-148

7,01015

Ge-761,51021 Te-123

1,21013 Gd-152

1,11014

Se-821,01020 Te-128

7,21024 Lu-176

2,61010

Rb-874,81010 Te-130

2,71021 Hf-174

2,01015

Zr-963,91019 La-138

1,11011 Ta-180

1,21010

Mo-1001,21019 Nd-144

2,31015 Re-187

5,01010

Cd-1139,01015 Nd-150

1,71019 Os-186

2,01015

Pt-190 6,51011

Tab. 4.2 Primordiale Radionuklide (aus /KOE-06/)

Die unterschiedliche Aktivitätskonzentration im Boden be-dingt regionale Schwankungen der Strahlenexposition. Die folgende Abbildung (Abb. 4.14) gibt eine Übersicht über die mittlere Gamma-Ortsdosisleistung für die Bundesrepublik Deutschland einschließlich des Beitrags der kosmischen Strahlung. Die üblichen Werte für Norddeutschland liegen zwischen 0,5 und 0,9 mSv/Jahr, während die Spitzenwerte in den Mittelgebirgen bis zu 2 mSv/Jahr betragen und im weltweiten Vergleich mit Spitzenwerten von etwa 50 mSv/a

166

in Kerala (Indien), 180 mSv/a in Esperito Santo (Brasilien) bzw. über 800 mSv/a in Ramsar (Iran) noch relativ günstig liegen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anteil durch kosmische Strahlung (Jahresdosis in Meereshöhe ca. 0,3 mSv) sich alle 1.500 Höhenmeter etwa verdoppelt. In unseren Breiten kann man von einer mittleren Strahlen- exposition von etwa 0,4 mSv effektive Dosis pro Jahr in-folge der terrestrischen Strahlung ausgehen.

Abb. 4.14 Übersicht über die mittlere Gamma-Ortsdosisleis-tung in Deutschland (aus /BMU-04/).

167

Interne Strahlenexposition

- Das radioaktive Edelgas Radon

Im Rahmen der natürlichen Zerfallsreihen entstehen als Zer-fallsprodukte auch die radioaktiven Isotope Radon-222 (Halbwertzeit: 3,8 Tage), Radon-220 (Halbwertzeit 55,6 Se-kunden) und Radon-219 (Halbwertzeit: 3,96 Sekunden), die als Edelgas aus dem Erdboden in die Luft freigesetzt und eingeatmet werden und zu einer nicht unbeträchtlichen Teil-körperexposition der Lungen führen können. Wegen der grö-ßeren Halbwertzeit trägt besonders das Radon-222 mit sei-nen kurzlebigen Folgeprodukten Polonium-218, Blei-214 und Polonium-214 zur Strahlenexposition des Menschen bei und ist für den größten Beitrag zur natürlichen Strahlenex-position verantwortlich. Jedoch sind auch die Beiträge des Radon-220 nicht ganz zu vernachlässigen. Der Zerfall des Radons selbst verursacht den geringeren Teil der Strahlen-exposition, den deutlich größeren Teil liefern seine kurzlebi-gen Folgeprodukte.

Als Anhaltspunkt zur Einschätzung geologisch bedingter Ge-fährdung durch zu hohe Radonexposition kann die Radon-konzentration in der Bodenluft gesehen werden, deren re-gionale Verteilung für Deutschland in folgender Übersichts-karte (Abb. 4.15) dargestellt ist.

Die Radonkonzentration in der Raumluft hängt maßgeblich davon ab, wie viel Radon aus dem Boden austreten kann und zeigt große regionale und zeitliche Schwankungen nicht nur infolge Unterschieden der geologischen Verhältnisse, sondern auch der Bausubstanz (Abdichtung des Kellers ge-gen das Erdreich) als auch der Lüftungsgewohnheiten. Hin-zu kommen jahreszeitlich und klimatisch bedingte Schwan-kungen.

In Deutschland sind erhöhte Radonkonzentrationen in Ge-bäuden vornehmlich auf eine erhöhte Radonfreisetzung aus dem Untergrund zurückzuführen, Baumaterialien sind hier zu Lande selten die Ursache einer erhöhten Radonkon- zentration. Damit kommt in geologisch belasteten Gebieten, wo vor allem Kellerwohnungen, Souterrain-Wohnungen, in geringerem Maße auch Wohnungen im Erdgeschoss betrof-fen sind, der Abdichtung des Kellers gegen das Erdreich be-

168

Abb. 4.15 Übersichtskarte der regionalen Verteilung der Ra-donkonzentration in der Bodenluft für Deutschland (Kemski & Partner 2004)

sondere Bedeutung zu. In höher gelegenen Wohnungen (Hochhäuser), in denen die Radonkonzentration durch den Beitrag der Baumaterialien bestimmt wird, ist im Mittel mit einer Radonaktivitätskonzentration von 30 Bq/m3 zu rech-nen.

169

Eine besondere Situation ergibt sich in einigen Gebieten, wo durch hohe Permeabilität des Untergrundes (Sand- oder Schotterböden) hohe Radonmengen freigesetzt werden bzw. in Bergbaugebieten über Klüfte und Risse im Deck-gebirge Grubenwetter mit sehr hoher Radonkonzentration auftreten und über Undichtigkeiten in die Gebäude gelan- gen können. So wurden in Gegenden mit Granit-haltigem Untergrund lokal Raumluftkonzentrationen von bis zu 10.000 Bq/m3 gemessen, in einzelnen Häusern in Uran-Bergbaugebieten kurzzeitig sogar mehr als 100.000 Bq/m3.

Von untergeordneter Bedeutung für die Radonkonzentration in den meisten Haushalten hingegen ist das Radon, das im Wasser gelöst bei dessen Verwendung im Haushalt freigesetzt wird, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, da durch die Nutzung individueller Brunnen in Granitgebieten erhöhte Radon-Konzentrationen in Gebäuden auftreten können, ebenso wie generell in Anlagen der Wassergewin-nung, und -aufbereitung.

Will man die Radonkonzentration in der Wohnung bestim-men, so stehen mehrere Messverfahren zur Verfügung. Um über die erheblichen tageszeitlichen Schwankungen zu mit-teln, die, abgesehen von Luftdruckschwankungen, in Wohn-räumen primär auf die übliche Lüftung zurückgehen, sind in-tegrierende Methoden erforderlich, die mindestens über mehrere Tage mitteln. Neben elektronischen Messgeräten sind als wichtige integrative und kostengünstige Messver-fahren das track-etch-Verfahren, Elektrete und Aktivkohlen-exposimeter zu nennen. Während als einer der Hauptvortei-le des track-etch-Verfahrens lange Integrationszeiten bis zu einem Jahr und darüber hinaus anzuführen sind, ist als Nachteil anzusehen, dass Messperioden von ein bis zwei Wochen wegen zu geringer Empfindlichkeit bei üblichen Raumluftkonzentrationen nicht erreichbar sind. Hier setzen sowohl die Elektret-Ionisationskammer als auch die Aktiv-kohlenmethode mit ihrem Vorteil kurzer Integrationszeiten ein.

Der bundesweite Jahresmittelwert der Radonkonzentration in Wohnräumen liegt bei ungefähr 50 Bq/m3 Raumluft, die Mehrzahl der Messwerte liegt unter diesem Wert. Die Ra-donkonzentration im Freien ist etwa um einen Faktor 3 bis 5

170

geringer, da das Radon dort nicht in geschlossenen Räu-men „gefangen“ wird. Für den größten Teil Deutschlands liegen die Werte im Freien im Bereich von 5 bis 30 Bq/m3,unter ungünstigen atmosphärischen Bedingungen wie bei Inversion in Tallagen wurden jedoch Spitzenwerte bis 350 Bq/m3 gemessen (vornehmlich in unmittelbarer Nähe von Abwetterschächten oder großflächigen Halden). Unter der Annahme, dass wir etwa 80 % unserer Zeit in Gebäuden verbringen, resultiert daraus eine mittlere jährliche effekti-ve Dosis von etwas über 1 Millisievert.

Wie erwähnt, enthält unsere Erdkruste eine Vielzahl natür-

verantwortlich sind, von denen aber auch unser Nahrungs-kreislauf nicht verschont bleibt. Infolge dieser mit Nahrung und Trinkwasser aufgenommenen Radionuklide ist in Deutschland eine jährliche effektive Dosis im Bereich

primordialen Radionuklid Kalium-40 zuzuschreiben.

Gesamte natürliche Strahlenexposition

Die natürliche Umgebungsstrahlung bewirkt im Mittel für ei-ne Person der Bevölkerung in Deutschland eine effektiveDosis von 2,1 mSv pro Jahr, vergleichbar mit dem weltwei-ten Mittelwert von 2,4 mSv/a. Weltweite Spitzenwerte liegen bei etwa 50 mSv/a in Kerala (Indien), 180 mSv/a in Esperito Santo (Brasilien) bzw. über 800 mSv/a in Ramsar (Iran). Den mit Abstand größten Beitrag in Deutschland mit mehr als 1 mSv effektive Dosis pro Jahr liefert die Inhalation des radioaktiven Edelgases Radon, gleichzeitig besitzt dieser Beitrag die größte Variationsbreite. Die übrigen Beiträge, bedingt durch kosmische Strahlung, terrestrische Strahlung und durch mit der Nahrung aufgenommene natürliche Ra-dionuklide liegen jeweils etwa bei 0,3 bis 0,4 mSv pro Jahr effektive Dosis.

- Natürliche radioaktive Stoffe in der Nahrung

licher radioaktiver Stoffe, die für die terrestrische Strahlung

von 0,3 mSv zu erwarten, etwa 0,17 mSv davon ist dem

171

4.3 Strahlenexposition aus zivilisatorischen Quellen

Strahlenexposition in der Nähe kerntechnischerAnlagen

Mehr als 98 % der gesamten Strahlenexposition durch den bestimmungsgemäßen Betrieb einer kerntechnischen Anla-ge werden von relativ wenigen Radionukliden verursacht. Für die Abschätzung der maximal möglichen Strahlenexpo-sition in der Umgebung genügt daher im Regelfalle die Be-trachtung der Nuklide in der nachfolgenden Zusammenstel-lung. Von den physikalischen Daten nach Seelmann-Egge- bert 1981 sind dabei nur die wichtigsten Zerfallsarten und -energien angegeben (bei Betastrahlung jeweils die maxi-male Energie des Kontinuums), angeregte zwischenstabile Zustände sind nur aufgeführt, wenn sie radiologisch relevant sind. Kritische Organe sind in der Reihenfolge ihrer radiolo-gischen Bedeutung angegeben.

• Tritium (H 3) Beta-Strahlung 0,02 MeV; Tochternuklid: Helium-3 (stabil); physikalische Halbwertszeit:12,3 Jahre, kritische Organe: Ganzkörper, Körperflüssigkeiten.

• Kohlenstoff-14 (C 14)Beta-Strahlung 0,2 MeV; Tochternuklid: Stickstoff-14 (stabil); physikalische Halbwertszeit: 5730 Jahre, kritisches Organ: Ganzkörper

• Phosphor-32 (P 32) Beta-Strahlung 1,7 MeV;Tochternuklid: Schwefel-32 (stabil);physikalische Halbwertszeit:14,3 Tage, kritische Organe: Knochen, Ganzkörper, Hirn, Leber.

• Schwefel-35 (S 35) Beta-Strahlung 0,2 MeV; Tochternuklid: Chlor-35 (stabil); physikalische Halbwertszeit: 87,5 Tage kritische Organe: Haut, Hoden, Knochen, Ganzkörper.

172

• Kobalt-60 (Co 60) Beta-Strahlung 0,3 und 1,5 MeV,Gamma-Strahlung 1,2 und 1,3 MeV;Tochternuklid: Nickel-60 (stabil);physikalische Halbwertszeit: 5,27 Jahre, kritische Organe: Leber, Milz, Pankreas, Ganzkörper.

• Krypton-85 (Kr 85)Beta-Strahlung 0,7 MeV, kaum Gamma-Strahlung; Tochernuklid: Rubidium-85 (stabil); physikalische Halbwertszeit: 10,76 Jahre; keine Teilnahme am Stoffwechsel; kritische Organe: Haut (Submersion), Lunge, Blut, Fettgewebe, Ganzkörper (Inhalation).

• Strontium-89 (Sr 89) Beta-Strahlung 1,5 MeV, kaum Gamma-Strahlung; Tochternuklid: Yttrium-89 (stabil).

• Strontium-90 (Sr 90) Beta-Strahlung 0,5 MeV;Tochternuklid: Yttrium-90 (radioaktiv);physikalische Halbwertszeit: 50,5 Tage (Sr 89), 28,5 Jahre (Sr 90) kritische Organe: Knochen, Ganzkörper.

• Yttrium-90 (Y 90) Beta-Strahlung 2,3 MeV, Gamma-Strahlung 0,2 und 0,48 MeV,Tochternuklid des Strontium-90,physikalische Halbwertszeit: 61,1 Stunden im Körper im Gleichgewicht mit Sr 90.

• Ruthenium-103(Ru 103) Beta-Strahlung 0,2 und 0,7 MeV,Gamma-Strahlung 0,5 und 0,61 MeV;Tochternuklid: Rhodium-103 (stabil).

• Ruthenium-106 (Ru 106) Beta-Strahlung 0,04 MeV; Tochternuklid: Rhodium-106 (radioaktiv, phys. Halbwertszeit2,2 Stunden) physikalisch Halbwertszeit: 39,35 Tage (Ru 103), 368 Tage(Ru 106) kritische Organe: Knochen, Ganzkörper, Nieren. Beta-Strahlung 0,2 MeV, Gamma-Strahlung 0,04 MeV, Konversionselektronen; Tochternuklid: Xenon-129 (stabil).

173

• Iod-131 (1131) Beta-Strahlung 0,6 und 0,8 MeV,Gamma-Strahlung 0,28, 0,36 und 0,64 MeV;Tochternuklid: Xenon-131 (stabil);physikalische Halbwertszeit: 15,7 Millionen Jahre (1129), 8 Tage (I 131) kritisches Organ: Schilddrüse.

• Xenon-133(Xe133) Beta-Strahlung 0,3 MeV, Gamma-Strahlung 0,08 MeV;Tochternuklid: Cäsium-133 (stabil);physikalisch Halbwertszeit: 5,25 Tage keine Teilnahme am Stoffwechsel; kritische Organe: Haut (Submersion), Lunge, Ganzkörper (Inha-lation).

• Cäsium-134(Cs134) Beta-Strahlung 0,7 MeV, Gamma-Strahlung 0,6 und 0,79 MeV;Tochternuklid: Barium-134 (stabil).

• Cäsium-137(Cs137) Beta-Strahlung 0,5 und 1,2 MeV, Gamma-Strahlung 0,66 MeV aus dem angeregten Zustand des Tochternuklids (Barium-137m), das mit einer Halbwertszeit von 2,55 Minuten in den Grundzustand übergeht; Tochternuklid: Barium-137 (stabil); physikalische Halbwertszeit: 2,06 Jahre (Cs 134), 30,17 Jahre(Cs 137) kritische Organe: Ganzkörper, Muskel, Leber.

• Cer-144(Ce144)Beta-Strahlung 0,3 MeV, Gamma-Strahlung 0,08 und 0,13 MeV; Tochternuklide: Zerfall über Praseodym-144 (Beta-Strahler, Halb-wertszeit 17,3 Minuten) zum Neodym-144, einem natürlich vor-kommenden praktisch stabilen Alpha-Strahler (Halbwertszeit2,1 Billiarden Jahre);physikalische Halbwertszeit: 284,8 Tage kritische Organe: Knochen, Nieren, Ganzkörper, Leber.

• Die Actinidenelemente wichtig sind besonders Plutonium, Neptunium, Americium und Curiummeist Alpha-Strahler. Kritische Organe: bei Inhalation Lunge, Lymphknoten undKnochen, bei Ingestion Knochen, Leber und Lymphknoten.

174

Aus den Daten über die Ableitung radioaktiver Stoffe mit Fortluft oder Abwasser aus kerntechnischen Anlagen lässt sich die Strahlenexposition der Bevölkerung in der Umge-bung der Anlagen abschätzen. Dazu wird die Exposition für eine fiktive Referenzperson an den ungünstigsten Einwirk-stellen gemäß Anlage VII, Teil A bis C der Strahlenschutz-verordnung ermittelt, um sicherzustellen, dass der so ermit-telte Referenzwert die reale Strahlenexposition von Einzel-personen der Bevölkerung selbst im ungünstigsten Fall nicht unterschätzt. Für das Jahr 2004 wurden unter diesen An-nahmen folgende Strahlenexpositionen in der Umgebung von Atomkraftwerken durch die Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Fortluft oder mit dem Abwasser ermittelt*) (/BMU-04/):

*) Werte < 0,1 µSv werden im Balkendiagramm als 0,1 µSv wieder- gegeben.

Abb. 4.16 Strahlenexposition für das Jahr 2004 in der Umge-bung von Kernkraftwerken durch Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Fortluft für eine Referenzperson unter ungünstigsten Bedingungen (aus /BMU-04/)

175

*) Werte < 0,1 µSv werden im Balkendiagramm als 0,1 µSv wieder- gegeben.

Abb. 4.17 Strahlenexposition für das Jahr 2004 in der Umge-bung von Kernkraftwerken durch Ableitung radioaktiver Stoffe mit dem Abwasser für eine Referenzperson unter ungünstigs-ten Bedingungen (aus /BMU-04/)

Die Abb. 4.16 und 4.17 zeigen als größten Wert für die ef-fektive Jahresdosis 3 µSv für Erwachsene bzw. 5 µSv für Kleinkinder beim Kernkraftwerk Philippsburg, jeweils bedingt durch Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Fortluft. Die ent-sprechenden Werte aus den Ableitungen radioaktiver Stoffe mit dem Abwasser sind meist geringer. Der größte daraus resultierende Wert der effektiven Dosis beträgt 1,3 µSv für Kleinkinder am Standort Emsland.

Ähnliche Werte erhält man auch für einschlägige For-schungszentren, wobei für 2004 der höchste Referenzwert der effektiven Dosis infolge Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Fortluft mit 5 µSv für Erwachsene bzw. 8 µSv für Klein-kinder für das Forschungszentrum Jülich angegeben wird. Für die Ableitung radioaktiver Stoffe über das Abwasser weist das Forschungszentrum Rossendorf mit 22 µSv effek-tive Dosis für Erwachsene den höchsten errechneten Wert der betrachteten Forschungszentren auf.

176

Für die Kernbrennstoff verarbeitenden Betriebe in Deutsch-land wird für 2004 als ungünstigster Referenzwert der effek-tiven Dosis infolge Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Fort-luft 3 µSv für Kleinkinder bzw. 1 µSv für Erwachsene beim Betrieb NUKEM in Hanau angegeben. Die durch Ableitun-gen von Alphastrahlern mit dem Abwasser bedingten Werte lagen in diesen Fällen jeweils bei weniger als 0,1 µSv effek-tive Dosis.

Für das Endlager für radioaktive Abfälle Morsleben führt die Ableitung radioaktiver Stoffe mit der Abluft im Jahr 2004 un-ter den erwähnten ungünstigen Annahmen zu einer effekti-ven Dosis von 0,2 µSv für eine erwachsene Referenzper-son, für Kleinkinder (Altersgruppe 1 bis 2 Jahre) bzw. für mit Muttermilch ernährte Säuglinge liegen die Werte bei 0,4 bzw. 1,2 µSv pro Jahr. Die entsprechenden Werte infolge Ableitung mit dem Abwasser liegen in allen diesen Fällen unter 0,1 µSv pro Jahr.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Strah-lenexposition durch reguläre Ableitungen radioaktiver Stoffe aus kerntechnischen Anlagen weniger als 10 µSv effektive Dosis pro Jahr für die Bewohner in der Nähe der Anlagen beträgt und damit deutlich kleiner ist als es der Schwan-kungsbreite der natürlichen Strahlenexposition in Deutsch-land entspricht.

Strahlenexposition durch den Reaktorunfall von Tschernobyl

Die Strahlenexposition durch die beim Reaktorunfall in Tschernobyl in Deutschland deponierten Radionuklide rührt heute fast ausschließlich von Cäsium-137 mit 30 Jahren Halbwertzeit her, die Radionuklide mit kürzerer Halbwertzeit sind schon weitgehend zerfallen. Das Bundesamt für Strah- lenschutz kalkuliert mit einer externen Strahlenexposition von etwa 10 µSv effektive Dosis für das Jahr 2004 durch das im Boden deponierte Cs-137. Die Abschirmwirkung der Wände bei Aufenthalt in Gebäuden ist in dieser Abschät-zung bereits berücksichtigt.

Zur Abschätzung der Dosis infolge des mit der Nahrung auf-genommenen Cs-137 (Ingestion) wurden in Deutschland

177

verzehrsfertige Menüs aus Kantinen, Heimen, Gaststätten und Krankenhäusern hinsichtlich ihres Aktivitätsgehalts ver-messen. Mit knapp 1,5 µSv effektive Dosis pro Jahr ist die-ser Beitrag vergleichsweise gering. In Gebieten mit höherer Radionukliddeposition nach dem Unfall, wie man sie südlich der Donau findet, können diese Werte bis zu einer Größen-ordnung höher sein. Die folgende Tabelle gibt einen Über-blick über den zeitlichen Verlauf der mittleren effektiven Do-sis in Deutschland durch den Reaktorunfall in Tschernobyl.

Jahr Strahlenexposi-tion extern (mSv/a)

Strahlenexposi-tion intern (mSv/a)

gesamteStrahlen-exposition

1986 ca. 0,07a) ca. 0,04b) ca. 0,11 1987 ca. 0,03 ca. 0,04c) ca. 0,07 1988 ca. 0,025 ca. 0,015d) ca. 0,04 1989 ca. 0,02 ca. 0,01 ca. 0,03 1990 ca. 0,02 < 0,01 ca. 0,025 1991-1993

< 0,02 < 0,01 ca. 0,02e)

1994 < 0,02 < 0,01 < 0,02 1995-1999

< 0,015 < 0,001 < 0,02

2000-2003

< 0,01 0,001 < 0,015

Tab. 4.3 Mittlere effektive Dosis durch den Reaktorunfall in Tschernobyl für Erwachsene in Deutschland in verschiedenen Zeiträumen (aus /BMU-03/)

a) Im Münchner Raum um etwa den Faktor 4, im Berch-tesgadener Raum um etwa den Faktor 10 höher; dies gilt in etwa auch für die folgenden Jahre

b) In Bayern um etwa den Faktor 4, in Südbayern um etwa den Faktor 6 höher

c) In Bayern um etwa den Faktor 3, in Südbayern um etwa den Faktor 6 höher

d) Die regionalen Unterschiede sind nicht mehr so stark ausgeprägt wie in den Vorjahren

e) Die mittlere effektive Dosis wird ab 1991 fast aus-schließlich durch die Bodenstrahlung des deponierten Cs-137 verursacht

178

Für einzelne Personen kann die individuelle Dosis insbe-sondere im südbayerischen Raum nach wie vor die in der Tabelle angegebenen Werte beträchtlich überschreiten. So wurden auch 2003 in einzelnen Nahrungsmitteln wie Blüten-honig, Waldbeeren oder Pilzen Cäsium-137-Aktivitäten von einigen hundert Becquerel pro Kilogramm Frischmasse nachgewiesen, der Mittelwert von im Rahmen eines BMU-Forschungsvorhabens analysierten 45 Wildschweinproben aus dem Bayerischen Wald lag sogar bei 3.900 Bq/kg Mus-kelfleisch, wobei Werte über 600 Bq/kg nicht mehr verkehrs-fähig sind. Der Verzehr eines Nahrungsmittels mit einer Ak-tivität von 1.000 Becquerel Cs-137 würde zu einer effektiven Dosis von etwa 13 Mikrosievert insgesamt führen (d.h. auf die gesamte Lebenszeit hochgerechnet).

Der Strontium-90-Gehalt der Nahrungsmittel blieb in letzter Zeit ziemlich konstant und verursachte eine effektive Dosis von ca. 2 µSv pro Jahr, wobei dieses Radionuklid zu mehr als 90 Prozent aus oberirdischen Kernwaffenversuchen der Fünfziger und Sechziger Jahre stammt und nur zu einem kleinen Teil aus dem Reaktorunfall von Tschernobyl.

Strahlenexposition durch den Transport von radio-aktiven Stoffen (Castor)

Der Transport von radioaktiven Stoffen unterliegt strengen Bestimmungen hinsichtlich der zulässigen Strahlenexpositi-on sowohl für die Bevölkerung als auch für das Begleitper-sonal. Abgebrannte Brennelemente aus einem Kernreaktor, die in eine Zwischen- oder Endlagerstätte bzw. in eine Wie-deraufbereitungsanlage transportiert werden, stellen die am stärksten emittierenden radioaktiven Frachten dar. Ihr Transport erfolgt in speziell konstruierten unfallsicheren Transportbehältern (z. B. CASTOR – Cask for Storage and Transport of Radioactive Material), die extremen mechani-schen und thermischen Belastungen standhalten und stren-gen Sicherheitsanforderungen genügen müssen. Weiters darf in zwei Metern Abstand von der Fahrzeugoberfläche die Dosisleistung 0,1 mSv effektive Dosis pro Stunde nicht ü-berschreiten, wobei die tatsächlich gemessenen Werte in der Regel eine Größenordnung unter diesem Grenzwert la-gen. In umfangreichen Messkampagnen wurde die Perso-nendosis von mehr als 1.000 Personen der Polizei- und Si-

179

cherheitskräfte während ihres Einsatzes bei CASTOR-Transporten ermittelt, keiner der Messwerte fand sich ober-halb der Nachweisgrenze des Personendosimeters von 0,1 mSv. Lediglich bei Dosimetern, die einige Stunden direkt an der Oberfläche des Containers fixiert waren, wurden Werte über der Nachweisgrenze registriert.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass nach bis-her vorliegenden Ergebnissen und Sicherheitsanalysen beim Transport von radioaktiven Brennelementen keine nen-nenswerten Strahlenexpositionen für die polizeilichen Si-cherheitskräfte oder die Bevölkerung aufgetreten sind und die Dosen für alle Beteiligten deutlich unter den vorge-schriebenen Grenzwerten lagen.

Strahlenexposition durch Quellen in Industrie, Wissen-schaft und Medizin

In der Industrie kommen vor allem umschlossene radioakti-ve Quellen als auch Röntgenanlagen oder Beschleuniger zum Einsatz. Laut UNSCEAR /UNS-00/ ist die Strahlenex-position für die Beschäftigten generell gering. Im Folgenden sollen einige Anwendungsgebiete genannt werden.

- Bestrahlungsanlagen

Besonders hohe Dosen sind zur Sterilisation von medizini-schen und pharmazeutischen Produkten erforderlich. Meist werden in Gamma-Bestrahlungsanlagen 60Co- oder 137Cs-Quellen verwendet, wobei die Bestückung der Anlagen we-gen der extremen Dosen in unmittelbarer Umgebung der Quellen unter ganz speziellen Abschirm- und redundant ausgelegten Sicherheitseinrichtungen zu erfolgen hat. Der Betrieb selbst benötigt nur wenig Bedienpersonal, die Strah-lenexposition ist niedrig.

- Zerstörungsfreie Materialprüfung

Die zerstörungsfreie Materialprüfung verwendet sowohl um-schlossene radioaktive Quellen als auch Röntgenanlagen. Spezielle Sicherheitsvorschriften und Schutzmaßnahmen gewährleisten bei korrekter Handhabung, dass die Strahlen-exposition des Personals sowohl bei fest installierten Anla-gen als auch beim variablen Einsatz auf Bau- oder Monta-

180

gestellen im üblichen niedrigen Dosisbereich für beruflich strahlenexponierte Personen liegt.

- Leuchtziffern (Lumineszenz) Radioaktive Stoffe in Lumineszenzmaterialien für Leuchtzif-fern stellen eine der ältesten Anwendungsgebiete ionisie-render Strahlung dar. Im Gegensatz zu früher, als man Ra-dium unter absolut unzureichenden Sicherheitsvorkehrun-gen gehandhabt hat, trägt dieser Industriezweig heute kaum noch zur Strahlenexposition des Personals bei. Meist ver-wendet man Tritium-haltige Leuchtfarben oder Tritium als Gas eingeschlossen in mit phosphoreszierendem Material ausgekleidetem Glas, die jedoch im Konsum-Bereich in Deutschland nicht zugelassen sind.

- Radioisotope – Produktion und Versand Radioisotope finden in vielen Industriezweigen Anwendung, zum Beispiel für Füllstands- oder Schichtdickenmessungen oder zur Präzisionsuntersuchung des Verschleißes von Ma-schinenteilen nach radioaktiver Markierung ihrer Oberfläche. Die Strahlenexposition der in Produktion und Versand Be-schäftigten stammt größtenteils von außen, in Einzelfällen ist die Inkorporation von Radionukliden von Bedeutung.

- Bohrlochmessungen („Well Logging“) Für geophysikalische Bohrlochmessungen kommen sowohl Gammastrahler als auch Neutronenquellen zum Einsatz. Wenngleich für dieses Einsatzgebiet keine detaillierten An-gaben der Einzeldosen vorliegen, kann der Beitrag zur von der Industrie verursachten Strahlenexposition auf weniger als 10 % geschätzt werden. /UNS-00/

- Beschleuniger Der Hauptbeitrag zur Strahlenexposition von Beschleunigern im Forschungsbereich entstammt den Aktivierungsproduk-ten in der unmittelbaren Umgebung der Targets. Die größten Dosen treten bei der Wartung, Reparatur oder bei Umbau-ten der Anlagen auf.

- Medizinische Strahlenexposition Betrachtet man die im medizinischen Bereich applizierte Dosis, so muss man zweifelsfrei die Strahlentherapie an ers-ter Stelle nennen. Die Anwendung der Strahlentherapie be-

181

schränkt sich auf einen kleinen, schwer erkrankten Teil der Bevölkerung*) mit dem Ziel, durch hohe Dosen im Tumorbe-reich die bösartig veränderten Zellen zu zerstören. Da bei derart hohen Dosen eindeutig die deterministische Wirkung im Vordergrund steht, verliert das Konzept der effektiven Dosis, das ausschließlich auf stochastische Schäden ab-zielt, seine Gültigkeit. Eine Mittelung der therapeutisch ver-abreichten Dosen über die Gesamtbevölkerung ist daher nicht geeignet, die therapeutische Strahlenexposition zu charakterisieren.

Dies gilt nicht für die Anwendung ionisierender Strahlung im Rahmen der Diagnostik. Für Röntgenuntersuchungen oder in der nuklearmedizinischen Diagnostik kann man aus der effektiven Dosis einen vernünftigen Anhaltspunkt zum Ver-gleich der strahlenbedingten Risiken ableiten. Der entschei-dende Vorteil der effektiven Dosis besteht zweifelsfrei darin, Teilkörperexpositionen mit unterschiedlichen Expositionsbe-dingungen, wie sie in der Röntgen- oder nuklearmedizini-schen Diagnostik vorliegen, mit einer Dosisangabe charak-terisieren und hinsichtlich des Risikos vergleichen zu kön-nen, wenngleich das Konzept der effektiven Dosis nicht vor-behaltlos anzuwenden ist. So kann das Konzept nicht den mitunter für den Behandlungserfolg entscheidenden Nutzen der jeweiligen Untersuchung berücksichtigen. Ebenso findet die unterschiedliche Altersverteilung von medizinisch strah-lenexponierten Patienten und der Gesamtbevölkerung im Konzept der effektiven Dosis keine Entsprechung, genauso wie die Tatsache, dass viele (oft dosisintensive) Untersu-chungen vornehmlich schwer kranke Personen betreffen, für die das strahlenbedingte Krebsmortalitätsrisiko angesichts ihres krankheitsbedingten Sterberisikos und der langen La-tenzzeiten bis zum Auftreten der meisten Malignome deut-lich geringer ist als bei der gleichen Altersgruppe der Nor-malbevölkerung. Diese Aspekte dürfen insbesondere beim Vergleich der auf die Gesamtbevölkerung umgelegten Do-

*) In Deutschland werden etwa 220.000 Personen jährlich mit ionisie-render Strahlung behandelt, ca. 20.000 davon durch Brachytherapie (Bezugsjahr 2001)

182

sen der medizinischen Strahlenexposition und der natürli-chen Umgebungsstrahlung nicht unbeachtet bleiben.

Der folgenden Tabelle 4.4 sind typische Dosiswerte für häu-fige Röntgenuntersuchungen zu entnehmen. Die Werte be-ziehen sich auf einen Standardpatienten von 70 kg ± 5 kg, dickere Patienten haben bei Untersuchungen im Körper-stammbereich mit höheren Dosen zu rechnen, entsprechend einer Halbwertschichtdicke von etwa 3 cm bezogen auf Weichteilgewebe und typische Röntgenstrahlenqualitäten im Diagnostikbereich.

Untersuchungsart Effektive Dosis [mSv]

Untersuchungen mit Röntgenaufnahmen Zahnaufnahme 0,01 Extremitäten (Gliedmaßen) 0,01–0,1 Schädelaufnahme 0,03–0,1 Halswirbelsäule in 2 Ebenen 0,1–0,2 Brustkorb (Thorax), 1 Aufnahme 0,02–0,08 Mammographie beidseits in je 2 Ebenen 0,2–0,6 Brustwirbelsäule in 2 Ebenen 0,5–0,8 Lendenwirbelsäule in 2 Ebenen 0,8–1,8 Beckenübersicht 0,5–1,0 Bauchraum (Abdomenübersicht) 0,6–1,1

Röntgenuntersuchungen mit Aufnahmen und Durchleuchtung Magen 6–12 Darm (Dünndarm bzw. Kolonkontrast-einlauf)

10–18

Galle 1–8 Harntrakt 2–5 Bein-Becken-Phlebographie 0,5–2 Arteriographie und Interventionen 10–30

CT-UntersuchungenKopf 2–4 Wirbelsäule / Skelett 2 –11 Brustkorb (Thorax) 6–10 Bauchraum (Abdomen) 10 –25

Tab. 4.4 Bereiche mittlerer Dosiswerte einiger Röntgenunter-suchungen (bezogen auf Standardpatienten von 70 ± 5 kg Kör-pergewicht) (aus /BMU-03/)

183

Im Jahr 2001 wurden in Deutschland etwa 147 Millionen Röntgenuntersuchungen durchgeführt, womit die Anzahl der Untersuchungen seit 1996 annähernd konstant bei etwa 1,8 Untersuchungen pro Einwohner geblieben ist. Ebenso lässt die relative Häufigkeit der verschiedenen Untersuchungsver-fahren nur wenig Veränderung erkennen, wobei in den ver-gangenen Jahren eine stete Zunahme der CT-Untersuchun-gen um etwa 7 % pro Jahr sowie ein geringer Rückgang der konventionellen Untersuchungen im Bauchraum am auffäl-ligsten waren. Auf die Bevölkerung hochgerechnet liegt die effektive Dosis durch röntgendiagnostische Maßnahmen bei 1,8 mSv pro Jahr und Einwohner (Bezugsjahr 2001).

Die folgenden Abbildungen zeigen die Häufigkeit der einzel-nen Röntgenuntersuchungen sowie den Anteil an der kollek-tiven effektiven Dosis in Deutschland für das Jahr 2001.

Abb. 4.18 Relative Häufigkeit von Röntgenuntersuchungen in Deutschland 2001

Arteriographie,Intervention

2 %Mammo-graphie

5 %Verdauungs-u. Harntrakt

4 %

CT6 %

Sonstige3 % Thorax

15 %

Zähne34 %

Skelett35 %

184

Abb. 4.19 Relativer Anteil an der kollektiven effektiven Dosis von Röntgenuntersuchungen in Deutschland 2001

Für die meisten nuklearmedizinischen Untersuchungen wer-den vom Bundesamt für Strahlenschutz mittlere effektive Dosen zwischen 5 mSv und 10 mSv angegeben (/BMU-02/), abgesehen von Nierenuntersuchungen (0,7 mSv) und Schilddrüsenszintigraphien (0,9 mSv). Im Bericht /UNS-00/ finden sich etwas niedrigere Werte. In den Jahren 1996 bis 2000 wurden etwa 47 nuklearmedizinische Untersuchungen pro 1.000 Einwohner jährlich durchgeführt mit einer hochge-rechneten effektiven Dosis von 0,14 mSv pro Jahr und Ein-wohner. Die nominelle Strahlenexposition der Bevölkerung in Deutschland durch Röntgendiagnostik und nuklearmedi-zinische Untersuchungen lässt sich damit auf etwa 1,9 mSv effektive Dosis jährlich pro Einwohner schätzen.

Berufliche Strahlenexposition

Gemäß § 40 der Strahlenschutzverordnung bzw. § 35 der Röntgenverordnung unterliegen alle Personen, die mit ra-dioaktiven Stoffen umgehen, Röntgenstrahlen anwenden oder an anderen Anlagen zur Erzeugung ionisierender Strahlung tätig sind und sich dabei im Kontrollbereich auf-halten, der physikalischen Strahlenschutzüberwachung. In der Regel erfolgt die Strahlenschutzüberwachung durch Personendosimeter, die von amtlichen Personendosismess-stellen ausgegeben und ausgewertet werden. Besteht die Möglichkeit der Inkorporation radioaktiver Stoffe, kann die

Skelett11 %

Sonstige2 %

Thorax9 %

Zähne 0,2

%

Verdauungs-u. Harntrakt

11 %Mammogra- phie 2 %

Arterio-graphie, Intervention 18 %Computer-Tomographie

47 %

185

effektive Dosis durch spezielle Messverfahren wie Ganzkör-perzähler oder Ausscheidungsmessungen ermittelt werden.

Im Jahr 2004 lag der Jahresmittelwert der mehr als 313.000 in Deutschland überwachten Personen bei 0,13 mSv, für mehr als 262.000 der Überwachten war keine Dosis nach-weisbar. Das folgende Diagramm (Abb. 4.20) gibt einen Überblick über die Verteilung der Jahrespersonendosen der beruflich strahlenexponierten Personen einschließlich des fliegenden Personals für das Jahr 2004 (/BMU-04/)

Abb. 4.20 Verteilung der Jahrespersonendosen beruflich strah-lenexponierter Personen im Jahr 2004

4.4 Problematik epidemiologischer Studien zur Strahlenexposition der Bevölkerung (Fall-Kontroll-Studien)

Epidemiologie beschäftigt sich mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Faktoren, die die Gesundheit (z. B. toxi-sche Stoffe, ionisierende Strahlung) und die Krankheit (z. B. Suche nach optimalen Heilverfahren) von Individuen und von menschlichen Populationen beeinflussen können. Sie dient als Grundlage für Interventionen im Interesse der öf-fentlichen Gesundheit und der Vorsorgemedizin, aber auch

186

der Verbesserung von medizinischen diagnostischen und therapeutischen Verfahren. Epidemiologen versuchen des-halb u. a. möglichst unverfälschte Beziehungen zwischen einer vorherigen Exposition durch eine toxische Substanz, ein Spektrum von Nahrungsmittel, von Stressfaktoren, Viren, ionisierende Strahlung, einem Medikament, einer Therapie-maßnahme, etc. und gesundheitlichen Konsequenzen zu er-kennen.

Die dabei durchgeführten Studienarten können als be-schreibend, analytisch oder experimentell klassifiziert wer-den. Epidemiologen arbeiten immer in einem Dreieck aus a) betrachteter Person, b) Agens und c) Umwelt um diese Person. Nicht immer lassen sich diese drei Punkte eindeu- tig voneinander trennen. So wird z. B. ein Zigaretten- (Agens)raucher nicht nur die Verdickung seiner (Person) Schleimschicht in der Lunge bewirken, sondern auch durch die emittierten Aerosolteilchen in seiner Umwelt die Exposi-tion durch partikelgebundene Radonfolgeprodukte verän-dern.

Es gibt verschiedene Arten von epidemiologischen Studien, für die es wissenschaftliche Standards gibt. Bei so genann-ten Fall-Kontrollstudien werden zu jeder erkrankten Person ein bis zwei Kontrollpersonen nach dem Zufallsprinzip ge-sucht, die aber im Alter, Geschlecht und anderen wichtigen Faktoren sehr ähnlich sind. Für die mathematische Korrela-tionsrechnung muss die Exposition der Individuen bekannt sein. Bei Kohortenstudien vergleicht man Bevölkerungs-gruppen, von denen eine Gruppe als belastet oder exponiert bezeichnet wird. Betrachtet man einen zurückliegenden Zeit-raum, spricht man von retrospektiven Studien, bei denen die methodische Schwierigkeit in der Erfassung der Exposition liegt. Bei prospektiven Studien kann die Exposition für die kommende Zeit genau bestimmt werden, aber das Perso-nenkollektiv kann sich ändern. Der "Gold-Standard" eines Studiendesigns ist die doppelt blinde, prospektive, randomi-sierte Kontrollstudie. Dieser wird gefolgt von der Kohorten-studie. Um aber mit einer dieser beiden Methoden bei sehr seltenen Ereignissen zu statistisch signifikanten Fallzahlen zu kommen, werden sehr große Populationen benötigt (in der außergewöhnlich großen und lang andauernden Kohor-tenstudie der Atombombenüberlebenden von Hiroshima und

187

Nagasaki sind in einer Population von etwa 80 000 Überle-benden in den über 50 Beobachtungsjahren bislang gerade etwas über 500 zusätzliche Krebsfälle aufgetreten für beide Städte, beide Geschlechter, alle Jahre seit der Exposition, alle Tumorarten und alle Geburtsjahrgänge). Wenn die Ent-wicklung des Gesundheitseffektes eine lange Zeit benötigt, müssen diese großen Populationen über eine lange Zeit wissenschaftlich beobachtet werden. Dies kann auch zu vie-len "Verlusten" (z. B. durch unbekanntem Verzug) führen. Epidemiologische Studien, die über viele Beobachtungsjah-re mit großen Kollektiven durchgeführt werden, führen zu hohen Gesamtkosten.

Schneller und viel billiger sind da Fall-Kontroll-Studien. Hier-bei handelt es sich um rückblickende (retrospektive) Unter-suchungen einerseits einer Stichprobe erkrankter Personen (Fälle) und andererseits einer Stichprobe gesunder Perso-nen (Kontrollen), die ansonsten in möglichst allen anderen relevanten Werten/Eigenschaften mit den Werten/Eigen-schaften der jeweils zugeordneten Fallperson übereinstim-men sollten. Für beide Personengruppen wird nun unter-sucht, ob in der Vergangenheit Unterschiede in der Art und dem Ausmaß der Exposition durch ein hypothetisches Agens vorlagen. Dies sollten möglichst die einzigen Unter-schiede sein. Finden sich signifikante Unterschiede, kann eine Korrelation/Assoziation zwischen dem Risiko-Agens und der Erkrankung vorliegen. Man darf allerdings deswe-gen keinesfalls auf eine Ursache-Wirkungs-Beziehung für dieses Agens und diese Erkrankung schließen. Allenfalls sollten dann robustere und umfassendere Studien der bei-den weiter oben genannten Arten zu diesem Thema durch-geführt werden, um den Verdacht zu erhärten oder entkräf-ten.

Fall-Kontroll-Studien haben zu einer Reihe wichtiger epi-demiologischer Entdeckungen und Fortschritte geführt. Das klassische Beispiel für eine erfolgreiche Fall-Kontroll-Studie ist die Aufdeckung der Korrelation zwischen Zigarettenrau-chen und Lungenkrebs durch Sir Richard Doll (Doll u. Hill, 1954). Mittels einer Fall-Kontroll-Studie konnte Doll eine sta-tistisch signifikante Assoziation zwischen beiden feststellen. Aber erst die Ergebnisse einer daraufhin durchgeführten prospektiven doppelten Blindstudie ergab die notwendige

188

Sicherheit über diese Ursache-Wirkungsbeziehung, die für ernste Schlussfolgerungen aus diesem Verdacht unbedingt nötig war.

Die Verdienste von Fall-Kontroll-Studien durch Hinweise auf Assoziationen, zu denen genauere Studien durchgeführt werden sollten, haben aber leider auch zu unberechtigt gro-ßem Vertrauen in ihre Aussagekraft und in der Folge auch zu einem Verlust ihrer Glaubwürdigkeiten geführt hat (z. B. bei Studien zu Hormonersatztherapie und Herzkreislaufer-krankungen (Lawlor et al. 2004, Pettiti 2004, Stampfer et al. 2004), Sicherheitsgewinn durch Fahrradhelme). Schuld ha-ben wohl hauptsächlich Missverständnisse über die Natur und Grenzen (z. B. wegen des Einflusses der durchführen-den Person bei Spezifikationen, investigation, selection and recall biases) eines derartigen Studiendesigns.

In dieser Stelle soll kurz die Problematik in epidemiologi-schen Studien betrachtet werden, die in der Quantifizierung der Strahlenexposition (und nicht die der Strahlenwirkung) bestehen und dies insbesondere für Fall-Kontroll- Studien. Strahlenepidemiologische Studien wurden durchgeführt für eine Vielzahl exponierter Gruppen (UNSCEAR 2000) u. a.

- der Atombombenüberlebenden von Hiroshima und Naga-saki,

- der beruflich strahlenexponierten Radiologen,

- der beruflich strahlenexponierten Arbeiter in vielen kern-technischen Anlagen ,

- von durch den Reaktorunfall von Tschernobyl höher expo-nierten Arbeitern und Personen in der allgemeinen Bevölkerung,

- von Bevölkerungsgruppen, die höher dem natürlichen Edel- gas Radon und seinen Folgeprodukten exponiert sind,

- von Bevölkerungsgruppen, die im Bereich des russischen Flusses Techa gelebt haben, in den nach dem Zweiten Weltkrieg für längere Zeit größere Mengen an Radioaktivi-tät aus der Wiederaufarbeitungsanlage MAJAK abgeleitet wurden,

- von weiteren Bevölkerungsgruppen, die in Bereichen ge-lebt haben in denen die Explosion eines großen Lager-

189

tanks bei Kyschtym am 29.09.1957 und die Verteilung von Radionukliden durch einen Wirbelwind aus dem vertrock-neten See Karachay (benutzt als offene Deponie für radio-aktives Material) im Sommer 1967 zur Kontaminierung von Tausenden von Quadratkilometern und geringfügiger Ex-position von Hunderttausenden von Menschen geführt hat,

- von Bevölkerungsgruppen, die um tatsächliche oder ge-plante Standorte von kerntechnischen Anlagen leben,

- von Personen, die aus diagnostischen Gründen mit Rönt-genstrahlung oder Radioisotopen medizinisch untersucht wurden,

- von Personen, die aus therapeutischen Gründen mit exter-ner ionisierender Strahlung oder mit Radionukliden expo-niert wurden,

- etc., etc.

Zumeist waren die Häufigkeiten von Krebs- und Leukämie-erkrankungen die studierten Wirkungen, aber auch andere medizinische Endpunkte (fruchtschädigende – teratogene – Wirkungen, nicht-Krebserkrankungen, Lebenserwartung) wurden vereinzelt epidemiologisch untersucht.

In praktisch allen Fällen mussten retrospektiv die früheren externen und internen Strahlenexpositionen für viele Perso-nen möglichst genau abgeschätzt werden. Zu diesem The-menkreis und über die in der Praxis erreichbare Genauigkeit hat die ICRU für die verschiedensten wissenschaftlichen Möglichkeiten (Orts-, Personen-, biologische Dosimetrie, ra-dioökologische Rechenmodelle, etc.) einen ausführlichen Bericht veröffentlicht (ICRU 2002). Dabei ist sie zu dem Er-gebnis gekommen, dass derartige retrospektive Abschät-zungen der individuellen Strahlenexpositionen insbesondere in dem Fall niedriger, zusätzlicher externer Strahlenexpositi-onen mit sehr großen Unsicherheiten verbunden sein kön-nen. Für den Fall interner Strahlenexpositionen ergibt sich eine noch größere Unsicherheit durch die Tatsache, dass zum einen die von der ICRP für Referenzpersonen publizier-ten Dosis-Konversions-koeffizienten für Inhalation und In-gestion für viele Radionuklide von Tierdaten ausgehend für den Menschen geschätzt werden müssen und zum zweiten hier eine noch größere individuelle natürliche Variabilität im

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Metabolismus als in der Geometrie bei der externen Be-strahlung besteht. Außerdem bestehen über die Höhe der Aufnahmerate verschiedener Nahrungsmittel und deren Herkunftsorte in längst vergangenen Zeiten, sowie über die örtlichen Aufenthaltsgewohnheiten sehr große Quantifizie-rungsunsicherheiten.

Für das für die Bevölkerung wichtige, überall vorkommende (ubiquitäre) Agens Radon (7) und seine Folgeprodukte er-geben sich zusätzliche messtechnische Schwierigkeiten. Üblicherweise können nur ortsdosimetrische Daten für Kon-zentrationen an natürlichem Edelgas Radon erhoben wer-den und dies meist nicht einmal für die Zeit der täglich ca. 10 Stunden Aufenthalt außerhalb des eigenen Hauses. Für die epidemiologischen Studien wären aber individuelle Per-sonendosen durch die an den Aerosolteilchen der Atemluft anhaftenden und nicht anhaftenden (unattached fraction) Folgeprodukte seines radioaktiven Zerfalls nötig. Letztere zeichnen nach mechanistischen Organ-Dosisabschätzungen für ca. 90 % der Lungenexposition verantwortlich, das Gas nur für ca. 10 %. Das Verhältnis von Gas- zu Folgeprodukt-konzentration hängt u. a. vom Lüftungsverhalten in einem Raum, seiner Möblierung und der variablen Aerosol-Teil-chen-Konzentration in der Luft, die durch Raucher (ca. 95 % der Lungenkrebserkrankungen treten bei Rauchern auf), Kerzen, Klimaanlagen, etc. stark beeinflusst wird.

Für entsprechende Fall-Kontroll-Studien wären diese indivi-duellen Expositionsdaten retrospektiv zumindest für die letz-ten dreißig Jahre, jeweils zu den damaligen Lebensbedin-gungen zu bestimmen. Darüber hinaus ist dabei eine Ge-nauigkeit notwendig, die Unterschiede in zeitlich differentiel-len und integralen Expositionen zu anderen Personen er-kennen lassen würden. Die zeitliche Differenzierung ist auch deshalb notwendig, da gegenwärtig keine ausreichend ab-gesicherten theoretischen Strahlenkrebs-Entstehungsmodel-le existieren, die die relative Gewichtung von historischen Expositionswerten hinsichtlich des zeitabhängigen Risikos einer Erkrankung eines exponierten Organs erlauben wür-den.

Eine genaue Expositionsquantifizierung wäre nötig, da im Niedrigdosisbereich epidemiologische Studien zudem schon

191

durch kleine Unterschiede in den Parametern (wie z. B. ge-netischer Untergrund, Lebensweise, andere Agentien, etc.), die nicht gemessen werden, von höher und geringer expo-nierten Personen verfälscht werden können. Diese Perso-nen führen jeweils ein normales Leben und leben nicht unter eng und stark kontrollierten experimentellen Bedingungen (z. B. "SPF" - specific pathogene free environment") in ei-nem Labor. Deshalb haben Studien insbesondere im Nied-rigdosisbereich ein großes Potential für falsch-negative oder falsch-positive Assoziationen und für eine substantielle Überschätzung der wahren Größe von Risiken (Land, 1980).

Zusammenfassend ist festzustellen, dass es aus prinzipiel-len Gründen, die zu einem großen Teil in der oben ange-sprochenen Problematik der methodisch unvermeidbaren (inhärenten) Unsicherheiten bei der Expositionsabschätzung liegen, nicht erwartet werden kann, dass die möglichen gesundheitlichen Wirkungen niedriger Strahlendosen (< 10 mSv) mit Hilfe von in diesem Dosis-Bereich durchge-führten epidemiologischen Studien quantifiziert werden kön-nen. Hier ist Fortschritt nur vom besseren mechanistischen Verständnis der molekularen, zellulären und systemaren Vorgänge in betroffenen Organen bei Störungen des Funk- tionsgleichgewichts (der Homöostase) durch niedrige Strah-lendosen zu erhoffen.

192

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5. Strahlenschutz und gesetzliche Vorschriften

5.1 Planung und Durchführung des praktischen Strahlenschutzes

Der Zweck des Strahlenschutzes ist es, die Exposition von Mensch und Umwelt mit ionisierender Strahlung so gering wie möglich zu halten. Insbesondere hat der Betreiber einer Anlage, in der mit radioaktiven Substanzen umgegangen wird, dafür Sorge zu tragen, dass die Radionuklide nicht in die Umwelt gelangen.

Schutz vor äußerer Exposition

Die wichtigsten Verhaltensregeln zur Verringerung der äu-ßeren Strahlenexposition sind die drei „A“ des Strahlen-schutzes:- Abstand - Abschirmung - Aufenthaltszeit im Strahlungsfeld.

Den Abstand von der Strahlenquelle zu vergrößern, ist im-mer die erste Schutzmaßnahme und meistens einfach zu realisieren. Für einen isotrop strahlenden punktförmigen Strahler im Vakuum verringert sich die Dosis bei Verdoppe-lung des Abstandes zur Strahlenquelle auf ein Viertel, oder allgemein: die Dosis ist umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstandes. Dies wird als Abstandsquadratgesetz be-zeichnet.

Das Abstandsquadratgesetz ist rein geometrischer natur. Es lässt sich am einfachsten anhand der Abb. 5.1 erklären. Bei einem divergierenden Strahl deckt die rechteckige Fläche im Abstand 1r einen bestimmten Teil des Strahlungsfeldes ab. Beim doppelten Abstand 2r werden nach dem Strahlensatz vier solcher Flächenstücke benötigt um dasselbe Strahlen-bündel abzudecken. Wegen der Erhaltung der Strahlungs-energie entfällt auf jedes dieser Flächenstücke nur noch ein Viertel der Dosis. Beim dreifachen Abstand 3r sind es dann schon 9 Flächenstücke, die Dosis verringert sich auf ein Neuntel.

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Abb. 5.1 Das Abstandsquadratgesetz

In der Praxis kann das Abstandsquadratgesetz für viele Strahlenquellen in Luft mit ausreichender Genauigkeit an-gewendet werden. Eine Strahlenquelle kann als punkförmig angesehen werden, wenn ihre räumliche Ausdehnung sehr viel kleiner ist als der zu betrachtende Abstand. Für Strah-lenquellen, die nicht als Punkförmig angesehen werden können (z. B. Linienquellen), oder für stark kollimierte Strah-lung ist dieses Gesetz nicht gültig. Ebenso muss für Alpha-strahlung auch die beträchtliche Abschirmwirkung der Luft (Reichweite in Luft nur wenige Zentimeter) in Betracht gezo-gen werden.

Eine wichtige Konsequenz des Abstandquadratgesetzes ist die Verwendung von Pinzetten beim Arbeiten mit radioakti-ven Stoffen. Eine gewöhnliche Pinzette vergrößert den Ab-stand der Quelle zur Hand von 1 mm auf 10 cm (Faktor 100) und verringert die Hautdosis auf ein Zehntausendstel.

Die zweite wichtige Schutzmaßnahme ist die Abschirmungder ionisierenden Strahlung. Je nach Strahlenart und Strah-lenqualität muss eine geeignete Abschirmung gewählt wer-den.

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Alpha- und Betastrahlung sind relativ leicht abzuschirmen (Alphastrahlung: Blatt Papier, Betastrahlung: einige cm Ple-xiglas, vgl. Kapitel 1.2). Prinzipiell kann zur Abschirmung je-des Material verwendet werden, solange es nur genügend dick ist. Bei der Abbremsung von geladenen Teilchen ( , ß) in Materie entsteht allerdings Bremsstrahlung. Gerade bei Betastrahlung darf die Bremsstrahlung nicht vernachlässigt werden. Die Intensität der Bremsstrahlung nimmt annähernd proportional mit der Kernladungszahl Z des Abschirmmate-rials zu. Idealerweise sollte die Abschirmung von Betastrah-lung daher aus zwei Komponenten bestehen: die erste Schicht aus einem niedrig Z Material (z. B. Plexiglas) zur vollständigen Abschirmung der Betateilchen, die zweite Schicht aus einem hoch Z Material (z. B. Blei oder Wolfram) zur Abschirmung der entstandenen Bremsstrahlung.

Zur Abschirmung von Gamma- und Röntgenstrahlung ist ein Material von hoher Dichter und hoher Ordnungszahl am besten geeignet. Gängige Materialien sind Blei, Wolfram oder Schwerbeton. Neuere Untersuchungen zeigen, dass unter gewissen Voraussetzungen auch körniger Gips geeig-net ist. Das Spektrum der benötigten Abschirmdicken reicht je nach Energie und Intensität der Strahlung von einigen Zehntel Millimetern Blei in Röntgenschürzen in der Medizin über Zentimetern bei typischen Radionukliden in der Nukle-armedizin (I-131, F-18) bis zu Meter dicken Betonwänden in Kernreaktoren oder Teilchenbeschleunigern. Bei letztern beiden handelt es sich allerdings auch um eine Kombination aus Neutronen- und Gammastrahlung bzw. Protonen- und Gammastrahlung.

Die dritte Verhaltensregel ist die Minimierung der Aufent-haltszeit im Strahlungsfeld. Die Dosisreduktion durch diese Vorsichtsmaßnahme ist leicht einzusehen. Die Halbierung der Expositionszeit halbiert ebenfalls die absorbierte Dosis. Eine einfache Maßnahme hierzu ist die gute Vorbereitung jeglicher Arbeiten in Strahlungsfeldern. Die Arbeitszeit sel-ber, z. B. Reparaturmaßnahmen oder radiochemische Ana-lysen oder Synthesen, kann nur in den seltensten Fällen verkürzt werden. Allerdings sollten Verzögerungen durch das Beschaffen benötigter Werkzeuge und Hilfsmittel ver-mieden werden.

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Ionisierende Strahlung ist mit den menschlichen Sinnen nicht wahrnehmbar. So weiß zwar der Verursacher eines erhöhten Strahlungspegels (Einschalten eines Beschleuni-gers / einer Röntgenröhre, Herausnehmen eines radioakti-ven Präparats aus der Abschirmung) von der möglichen Ge-fährdung, nicht aber seine Mitarbeiter, geschweige denn der zufällige Passant. Zu diesem Zweck sieht der Gesetzgeber die Einrichtung von gekennzeichneten Strahlenschutzberei-chen vor. Je nach möglicher Jahresdosis bzw. Dosisleistung sind dies der Überwachungsbereich, der Kontrollbereich und der Sperrbereich. Außerhalb des Betriebsgeländes können keine Strahlenschutzbereiche ausgewiesen werden. Daher hat der Betreiber einer Einrichtung, in der ionisierende Strahlung erzeugt wird oder in der mit radioaktiven Substan-zen umgegangen wird, dafür zu sorgen, dass außerhalb des Betriebsgeländes eine über dem Grenzwert erhöhte Dosis-leistung ausgeschlossen ist.

Die Zuweisung der Strahlenschutzbereiche und der Nach-weis, dass keine Gefährdung der übrigen Bevölkerung be-steht, erfolgt anhand eines Strahlenschutzplans. Bei dessen Aufstellung müssen die Äquivalentdosen aller Strahlenquel-len unter Berücksichtigung des Abstands und der Abschir-mung addiert werden. Bei innerbetrieblichen Strahlen-schutzbereichen kann auch die eingeschränkte Aufenthalts-zeit der Mitarbeiter in diesen Bereichen in Betracht gezogen werden. Außerhalb des Betriebsgeländes muss allerdings von einem Daueraufenthalt ausgegangen werden. Strahlen-schutzbereiche, die aufgrund temporärer Strahlenquellen (Röntgengeräte, Beschleuniger) eingerichtet wurden, kön-nen ebenfalls temporär sein, also nur bei laufendem Betrieb der Strahlenquellen.

Vorraussetzung zur Aufstellung eines Strahlenschutzplans ist die Kenntnis der Äquivalentdosisleistung jeder Strahlen-quelle. Diese kann durch Messung oder Rechnung erlangt werden. Die von radioaktiven Stoffen verursachte Dosisleis-tung wird durch Multiplikation der Aktivität mit der entspre-chenden Dosisleistungskonstante H dividiert durch das Quadrat des Abstandes ermittelt. Die Dosisleistungskon-stante berücksichtigt Strahlenart und -qualität und damit die biologische Wirksamkeit der Strahlung individuell für jedes Radionuklid. Sie hat die Dimension µSv·m2/GBq/h. Einige

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Dosisleistungskonstanten gängiger Radionuklide sind in Ta-belle 5.1 zusammengestellt.

Radionuklid H

in µSv·m2/GBq/hF-18 155

Na-22 322 Mn-56 243 Co-60 351

Tc-99m 16 I-123 39 I-125 39 I-128 14,31 I-131 59

Ba-133 80 Cs-137 88 Ir-192 125

Ra-226 251 U-235 19,17

Am-241 6,6

Tab. 5.1 Dosisleistungskonstanten gängiger Radionuklide

Die Abschirmwirkungen verschiedener Materialen, die eben-falls in die Aufstellung eines Strahlenschutzplans eingehen, kann für die Strahlung einiger Radionuklide der DIN 6844 Teil 3 und für die Strahlung aus Röntgenanlagen der DIN 6812 entnommen werden. Für nicht aufgeführte Strahlungs-arten und Abschirmmaterialien bzw. Abschirmungen unbe-kannter Materialzusammensetzung sind Messungen not-wendig, um die Schwächungsfaktoren zu bestimmen.

Personenkontamination und Dekontaminationsmöglich-keiten

Beim Umgang mit offenen radioaktiven Substanzen besteht neben der rein äußerlichen Strahlenexposition die Gefahr der Kontamination der Kleidung oder, noch gefährlicher, der Haut. Eine Kontamination ist das Aufbringen eines radioakti-ven Stoffes auf eine Person oder einen Gegenstand, d.h. die Person, der Gegenstand ist kontaminiert. Oft sind die Stoff-

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mengen so klein, dass eine Kontamination unter Umständen erst viel später bemerkt wird, aber dennoch eine erhebliche Strahlenexposition verursacht. Dies bewirkt der minimale Abstand durch den direkten Körperkontakt. Zudem kann das Strahlungsfeld nicht wie bei einer stationären Strahlungs-quelle ohne weiteres verlassen werden.

Besonders Radionuklide, die Alpha- oder Betastrahlung emittieren, können nicht unerhebliche Strahlenschäden ver-ursachen. Die Eindringtiefe der Strahlung ins Gewebe ist zwar relativ begrenzt, das heißt aber, dass ihre gesamte Energie lokal deponiert wird. Entsprechend groß ist ihre schädigende Wirkung. Gerade Alphastrahlung, deren Anteil an der Personendosis sonst allein wegen der Abschirmwir-kung der Luft vernachlässigt werden kann, ist besonders ge-fährlich.

Die anzuwendenden Schutzmaßnahmen sind trivial, werden in der Praxis aber leider häufig vernachlässigt. Das Tragen von entsprechender Schutzkleidung ist beim Umgang mit of-fenen radioaktiven Stoffen obligatorisch. Diese lässt sich im Falle einer Kontamination leicht wechseln. Kontaminationen der Haut lassen sich so vermeiden. Beim Umgang mit Al-pha- oder Betastrahlern sollte auf besonders dichte Kleidung und Handschuhe geachtet werden.

Da eine Kontamination nicht ohne weiteres bemerkt werden kann, ist eine regelmäßige Messung mit einem Kontaminati-onsmonitor notwendig. Das sind Strahlungsmessgeräte, mit denen je nach Auslegung kleine Flächenstücke (tragbare Handgeräte), Hände und Füße gleichzeitig (stationäre Hand-Fuß-Kleider-Monitore) oder sogar der ganze Körper (Ganz-körperzähler) auf Kontaminationen untersucht werden kön-nen. Eine regelmäßige Kontrolle von Kleidung und Arbeits-platz ist nicht nur aus Gründen des Selbstschutzes geboten, sondern auch zum Schutz der übrigen Mitarbeiter durch die Vermeidung unbemerkter Verschleppungen von radioakti-ven Substanzen.

Hat eine Kontamination stattgefunden und ist diese erkannt worden, so müssen unverzüglich Dekontaminationsmaß-nahmen getroffen werden. Der radioaktive Stoff muss ent-fernt und so gelagert werden, dass eine weitere Personen-gefährdung ausgeschlossen werden kann. Betrifft die Kon-

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tamination ausschließlich die Kleidung, so kann die Dekon-tamination durch einen einfachen Kleiderwechsel vorge-nommen werden. Die kontaminierten Kleidungsstücke sind dann solange zu lagern, bis die Aktivität durch den radioak-tiven Zerfall auf ein ungefährliches Maß abgeklungen ist, wobei die Lagerzeit von der Aktivitätsmenge, der Qualität der emittierten Strahlung und den Halbwertszeiten der zur Kontamination beitragenden Radionuklide abhängt.

Bei einer Kontamination der Haut ist vor allen Dingen Schnelligkeit gefragt, nicht nur wegen der akuten Strahlen-exposition, sondern auch weil je nach chemischer Verbin-dung der Radionuklide die Gefahr einer Diffusion der radio-aktiven Stoffe in die Haut besteht. Eine Dekontamination ist dann sehr viel aufwendiger wenn nicht gar unmöglich. Die Dekontamination des Körpers erfolgt durch sorgfältiges Wa-schen der betroffenen Körperteile. Hierzu gibt es spezielle Waschlotionen, die die Dekontamination auf mechanische (Peeling) oder chemische Art unterstützen. Beim Waschen ist darauf zu achten, dass eine Aufnahme der Radionuklide in den Körper vermieden wird. So sollte z. B. die Dekonta-mination der Haare nur über den Hinterkopf erfolgen (wie beim Friseur), so dass kein Wasser in Augen, Ohren oder gar Nase und Mund gerät. Deswegen sollte bei der Dekon-tamination des Kopfes eine weitere Person behilflich sein.

In der Regel ist eine Dekontamination so oft zu wiederholen, bis die Kontamination vollständig beseitigt ist oder keine Verbesserungen mehr erreicht werden.

Inkorporation und Dekorporationsmöglichkeiten

Die größte Gefahr geht von der Aufnahme radioaktiver Stof-fe in den Körper aus. Die Inkorporation kann über den Ma-gen (Ingestion), die Lunge (Inhalation) oder über offene Wunden geschehen. Die Radionuklide gelangen so in den Stoffwechselkreislauf und können sich unter Umständen in einigen für die jeweilige chemische Verbindung typischen Organen anreichern. Hierdurch kann es zu erheblichen Akti-vitätskonzentrationen und hohen Organdosen in diesen Or-ganen kommen. Wie bei der Kontamination sind auch bei der Inkorporation die Alpha- und Betastrahler die Nuklide mit dem größten Gefährdungspotential. Sie deponieren die

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Energie ihrer Strahlung direkt in den betroffenen Organen. Bei manchen Radionukliden (z. B. Uran, Plutonium) geht die Radiotoxizität mit einer Chemotoxizität einher, die meist das weitaus größere Risiko darstellt.

Ein zusätzliches Problem stellt die unter Umständen lange Verweildauer der Radionuklide im Körper dar. Sie verbleiben solange im Organismus bis sie abgeklungen sind oder auf natürlichem Wege ausgeschieden werden. Durch die zu-sätzliche Möglichkeit der Ausscheidung nimmt die Aktivität im Körper schneller ab als alleine durch den radioaktiven Zerfall. Man spricht in diesem Fall auch von einer effektivenHalbwertszeit.

Da die Abnahme der Aktivität im Körper von zwei voneinan-der unabhängigen Prozessen bestimmt wird, ist der Kehr-wert der effektiven Halbwertszeit gleich der Summe der Kehrwerte der physikalischen und der biologischen Halb-wertszeit (1/T1/2,eff = 1/T1/2,phys + 1/T1/2,biol). Beispiel: I-131 in der Schilddrüse, T1/2,phys 8 Tage, T1/2,biol 80 Tage, T1/2,eff

7,27 Tage.

Im praktischen Strahlenschutz kann zur Ermittlung der Fol-gedosis, also derjenigen Dosis, die ein Organ oder Gewebe als Folge einer einmaligen Zufuhr eines oder mehrerer Ra-dionuklide im gesamten Zeitraum nach der Aufnahme bis zum vollständigen Verschwinden dieser Nuklide aus dem Körper erhält, auf Dosiskoeffizienten zurückgegriffen wer-den. Diese Koeffizienten geben jeweils für ein bestimmtes Nuklid die aus der Inkorporation von einem Becquerel resul-tierende Folgedosis an. Dabei werden folgende Daten be-rücksichtigt:

Physikalisch/chemische Daten des zugeführten Nuklids:NuklidartHalbwertszeit (physikalisch) Aus der Aktivitätszufuhr abgeleitete Aktivitätskonzentration im Or-gan oder Gewebe Strahlenart(en)Strahlenenergie(n)ZerfallsenergieAbsorbierter Anteil der Zerfallsenergie Chemische Form Stofflicher Zustand (Gas, Aerosol usw.)

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Biologische Daten für die Aufnahme durch den Menschen: Alter (Kleinkind, Kind, Erwachsener) GeschlechtKörpergewichtAufnahmeweg (Inhalation, Ingestion) Resorbierter Anteil der zugeführten Aktivitätsmenge Verteilungsmuster des aufgenommenen Nuklids im Körper (be-stimmt durch physikalische Halbwertszeit sowie Anreicherung, Stoffwechsel und Ausscheidung) Kritische Organe für das aufgenommene Nuklid Gewicht und Größe der kritischen Organe

Die heute gültigen Dosiskoeffizienten sind im Bundesanzei-ger veröffentlicht (Bekanntmachung der Dosiskoeffizienten zur Berechnung der Strahlenexposition vom 23.07.2001, BAnz. Nr. 160a und 160b) /BUA-01/.

In der Medizin ist die Inkorporation und Anreicherung von Radio-nukliden zu therapeutischen Zwecken erwünscht, wie z. B. bei der Radioiod-Therapie bei Schilddrüsenerkrankungen. Der Betastrahler I-131 reichert sich vorwiegend in der Schilddrüse an und kann dort seine strahlentherapeutische Wirkung entfalten. Das übrige Iod, das nicht in der Schilddrüse gespeichert wird, wird über die Nieren ausgeschieden. Der Ausscheidungsprozess kann durch Flüssig-keitsgabe beschleunigt werden, um die Strahlenexposition der Nie-ren und der Blase gering zu halten.

Ein Beispiel für die unerwünschte Inkorporation ist die Inhalation von Polonium-210 mit dem Zigarettenrauch. Das in der Natur selte-ne Polonium-210, ein Alphastrahler, reichert sich auf den Tabak-blättern an und wird mit dem Feinstaub des Zigarettenrauchs inha-liert. Aufgrund der geringen Selbstreinigungsfähigkeit der Lunge von Feinstaub verbleibt es dort praktisch ein Leben lang und ist mitverantwortlich für das erhöhte Lungenkrebsrisiko.

Generell gilt zur Vermeidung von Inkorporationen wie auch zur Vermeidung von Kontaminationen das Tragen von Schutzkleidung am Arbeitsplatz, speziell von Handschuhen. Leicht flüchtige Substanzen sollten nur in einem Abzug ver-arbeitet werden, die Abluft ist mit entsprechenden Filtern zu reinigen. Insbesondere gilt an allen Arbeitsplätzen, an denen mit offenen radioaktiven Substanzen umgegangen wird, ein absolutes Verbot von Rauchen, Essen, Trinken, Schminken etc. Hierdurch wird die Möglichkeit einer Inkorporation durch eventuell kontaminierte Hände eingeschränkt. Alle Tätigkei-

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ten, bei denen die Hände ins Gesicht bzw. an den Mund ge-führt werden, sollten erst dann durchgeführt werden, nach-dem die Hände auf eventuelle Kontamination geprüft wor-den sind.

Ähnlich wie bei der Kontaminationsüberwachung bedient man sich zur Überwachung möglicher Inkorporationen hochempfindlicher Messgeräte wie z. B. Ganzkörper- bzw. Teilkörperzähler. Daneben besteht auch die Möglichkeit der Messung der Aktivitätskonzentrationen in den Ausscheidun-gen oder im Blut. Ein gängiges Verfahren zur Abschätzung eines generellen Inkorporationsrisikos durch Inhalation ist die Bestimmung der Aktivitätskonzentration in der Raumluft.

Die erste Dekorporationsmaßnahme ist die Beschleunigung des natürlichen Stoffwechsels, um die Ausscheidung der Radionuklide zu forcieren. Denkbar ist z. B. die verstärkte Gabe von Flüssigkeit zur Ausschwemmung oder Abführmit-tel, sofern sich die Radionuklide noch im Verdauungstrakt befinden.

Generell ist nach einer Inkorporation rasches Handeln erfor-derlich. Hat erst mal die Anreicherung der inkorporierten Substanzen in den Organen stattgefunden, sind die Radio-nuklide meist nur schwer und in langwierigen Prozessen wieder aus dem Körper entfernbar. In diesen Fällen muss zwischen den Gesundheitsgefährdungen der medikamentö-sen Ausscheidungskuren einerseits und des Verbleibs der radioaktiven Nuklide im Körper andererseits sorgfältig ab-gewogen werden. Sind die inkorporierten Elemente nicht to-xisch, so können auch große Mengen stabiler Nuklide des-selben Elements eingenommen werden. Dies führt zu einer Verdünnung und Verdrängung der instabilen, radioaktiven Nuklide im Körper. Genau dieses Verfahren lag der Empfeh-lung zu Grunde, nach dem Reaktorunglück in Tschernobyl Algen zu essen. Die iodreiche Nahrung sollte den Iodbedarf der Schilddrüse mit stabilem Iod-127 stillen, so dass das ra-dioaktive Iod-131 nicht aufgenommen und gespeichert wird.

Zum Zweck der medizinischen Versorgung und Risikoab-schätzung bei Inkorporationen größerer Mengen radioaktiver Stoffe sowie bei schweren Kontaminationen sind regionale Strahlenschutzzentren eingerichtet worden. In ihnen ist das

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physikalische und medizinische Know-how für sofortige Hilfsmaßnahmen vorhanden. In Bayern sind dies:

Regionales Strahlenschutzzentrum München Städtisches Krankenhaus Schwabing Institut für medizinische Physik

Regionales Strahlenschutzzentrum Neuherberg GSF Forschungszentrum Institut für Strahlenschutz

Regionales Strahlenschutzzentrum Würzburg Universität Würzburg Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin

5.2 Gesetzliche Schutzvorschriften

Der Umgang mit radioaktiven Substanzen sowie die Errich-tung und der Betrieb von Anlagen, die ionisierende Strah-lung erzeugen, sind im Atomgesetz (AtG) /ATG-85/ geregelt. Vornehmlich ist damit die friedliche Nutzung der Kernener-gie gemeint. Das Atomgesetz enthält aber auch alle Rechts-vorschriften, um Leben, Gesundheit und Sachgüter vor der schädlichen Wirkung ionisierender Strahlen zu schützen. Im Atomgesetz ist die Möglichkeit vorgesehen Rechtsverord-nungen zur Konkretisierung der Schutzmaßnahmen zu er-lassen. Dies ist mit dem Erlass der Strahlenschutzverord-nung (StrlSchV) und der Röntgenverordnung (RöV) gesche-hen. Vorsorgemaßnahmen und ein wirksames und ko-ordiniertes Vorgehen aller beteiligten Dienststellen in Bund und Ländern bei großräumig wirkenden Verfrachtungen von Radioaktivität auf das Gebiet der Bundesrepublik sind im Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG) geregelt.

Strahlenschutzverordnung (StrlSchV)

Die Strahlenschutzverordnung /STR-01/ enthält Grundsätze und Anforderungen für Vorsorge- und Schutzmaßnahmen zum Schutz von Mensch und Umwelt vor der schädigenden Wirkung ionisierender Strahlung natürlichen oder zivilisatori-schen Ursprungs. Mit der Neufassung der Strahlenschutz-verordnung vom 20.7.2001 (zuletzt geändert am 1.9.2005) sind die europäischen Richtlinien 96/29/EURATOM und

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97/43/EURATOM in deutsches Recht umgesetzt worden. In ihr sind weiterführende Regelungen zum Umgang mit radio-aktiven Stoffen sowie zu der Errichtung und dem Betrieb von Anlagen zur Erzeugung ionisierender Strahlung enthalten. Für die Genehmigung und die Überwachung des Umgangs mit radioaktiven Stoffen und des Betriebs von Beschleuni-geranlagen nach der Strahlenschutzverordnung ist in Bay-ern das Landesamt für Umwelt zuständig.

- Festlegung der Grenzwerte unter gesundheitlichen, gesellschaftspolitischen und ökonomischen Aspekten

Die internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) bewer-tet die Ergebnisse und Erkenntnisse über die biologische Wirksamkeit ionisierender Strahlung und veröffentlicht in re-gelmäßigen Abständen aktualisierte Strahlenschutzempfeh-lungen. Die derzeit gültigen Empfehlungen zu Dosisgrenz-werten sind 1991 in der ICRP Publikation Nr. 60 erschienen /ICR-91/. Der Entwurf einer Neufassung ist als Diskussions-grundlage erhältlich. Die ICRP ist ein international anerkann-tes, unabhängiges Expertengremium von derzeit 13 Wis-senschaftlern. Ihre Empfehlungen bilden in vielen Ländern die Grundlage für die gesetzlichen Schutzvorschriften. So sind die empfohlenen Grenzwerte unter anderem auch in der europäischen Richtlinie 96/29/EURATOM übernommen worden und seit Bekanntgabe der Strahlenschutzverord-nung vom 20.7.2001 und der Röntgenverordnung (RöV) vom 18.06.2002 in der Bundesrepublik Deutschland bin-dend. Die festgelegten Grenzwerte sollen die möglichen Ri-siken auf ein akzeptables Maß begrenzen. Diese Begrün-dung bedeutet, dass das Risiko auch bei Einhaltung des Grenzwertes nicht gleich Null ist und bei Überschreitung nicht sofort bedrohliche Ausmaße erreicht.

Dem praktischen Strahlenschutz liegt das ALARA-Prinzip (As Low As Reasonably Achievable) der internationalen Strahlenschutzkommission zugrunde. Im Einzelnen beinhal-tet das ALARA-Prinzip:

RechtfertigungDer Nutzen aus einem Umgang mit ionisierender Strahlung muss die möglichen Gefährdungen überwiegen.

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DosisbegrenzungDie Grenzwerte der Personendosis für Einzelpersonen der Bevölkerung (1 mSv/a, StrlSchV, RöV) und für beruflich strahlenexponierte Personen (20 mSv/a, StrlSchV, RöV) müssen eingehalten werden.

DosisreduzierungDie Dosis soll auch unterhalb der Grenzwerte nach wirt-schaftlichen und sozialen Gesichtspunkten bestmöglich re-duziert werden.

Kritiker halten der ICRP oft vor, zu industriefreundlich zu sein. Sie würde mit ihren Grenzwerten und dem Zusatz der Wirtschaftlichkeit bei der Dosisreduzierung den aktuellen Belastungsstand festschreiben. Ebenso seien neue wissen-schaftliche Erkenntnisse, dass das Risiko niederer Strahlen-dosen unterschätzt wird, nicht berücksichtigt worden. Um-gekehrt versuchen einige Vertreter der Industrie, die ICRP zur Wiedereinführung des Schwellenmodels für stochasti-sche Strahlenschäden zu bewegen. Beträchtliche Investiti-onsersparnisse im baulichen Strahlenschutz aufgrund höhe-rer Grenzwerte wären die Folge.

Es sollte dabei aber nicht vergessen werden, dass es gute Argumente für die Wahl der Grenzwerte gibt. So liegt der Grenzwert für die effektive Dosis von 1 mSv/a, die Einzel-personen der Bevölkerung zugemutet werden darf, inner-halb der Schwankungsbreite der natürlichen Strahlenbelas-tung. Auswirkungen auf die Gesundheit des Menschen konnten in diesem Dosisbereich bisher nicht nachgewiesen werden. Bei einer effektiven Jahresdosis von 20 mSv, das ist der Grenzwert für beruflich strahlenexponierte Personen, ist das Risiko strahlenbedingter Erkrankungen ebenso hoch wie das Unfallrisiko in anderen hoch technisierten Berufs-zweigen, in denen das Unfallrisiko gesellschaftlich akzeptiert ist.

Bei der Anwendung des Konzepts der effektiven Dosis, das die relative Strahlenempfindlichkeit der einzelnen Organe und Gewebe berücksichtigt, wird die Festsetzung gesonder-ter Dosisgrenzwerte für einzelne Organe oder Gewebe im Prinzip unnötig, zur sicheren Vermeidung akuter (nichtsto-chastischer) Schäden ist sie jedoch in bestimmten Fällen sinnvoll (vgl. Tabelle 5.2).

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Organ Über 18 Unter 18Augenlinse 150

mSv/a15

mSv/aHaut, Hände, Unterarme, Füße, Knöchel

500mSv/a

50mSv/a

Keimdrüsen, Gebärmutter, Kno-chenmark

50 mSv/a

Schilddrüse, Knochenoberfläche 300 mSv/a

Dickdarm, Lunge, Magen, Blase, Brust, Leber, Speiseröhre, ande-re Organe

150mSv/a

Tab. 5.2 Grenzwerte der jährlichen Organdosen beruflich strah-lenexponierter Personen

Besonderer Schutz gilt dem ungeborenen Leben. So ist die Dosis an der Gebärmutter gebärfähiger Frauen auf 2 mSv im Monat beschränkt. Ab Bekantwerden einer Schwanger-schaft darf die Dosis für das ungeborene Kind bis zum Ende der Schwangerschaft höchstens 1 mSv betragen.

Ausnahmen von den Grenzwerten gibt es in der Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlen am Patienten zu medizinischen Zwecken. Hier sind die Grenzwerte durch die Vorschrift ersetzt, dass die durch die ärztlichen Untersu-chungen bzw. Therapien bedingte Strahlenexposition so weit einzuschränken ist, wie dies mit den Erfordernissen der medizinischen Wissenschaft vereinbar ist. Entsprechende Regelungen finden sich auch in der Röntgenverordnung.

Das ALARA-Prinzip ist in der deutschen Strahlenschutz-verordnung (StrlSchV) verankert (§§ 4, 5, 6), allerdings mit einer entscheidenden Änderung. Die Dosisminimierung soll hier nicht nach wirtschaftlichen Aspekten erfolgen sondern nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Technik. Der Schutz der Einzelperson steht hierbei eindeutig im Vor-dergrund.

Die deutsche Strahlenschutzkommission (SSK) ist das na-tionale Pendant zur ICRP. Sie veröffentlicht ebenfalls Empfehlungen und Stellungnahmen zu Strahlenschutzthe-men und berät das Bundesministerium für Umwelt, Natur-

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schutz und Reaktorsicherheit. Ihr Einfluss auf die Grenzwer-te ist allerdings gering, da die Bundesrepublik Deutschland an die EURATOM-Richtlinien gebunden ist. Einzig eine Ver-schärfung, d.h. eine Absenkung, der nationalen Grenzwerte gegenüber denjenigen in den europäischen Richtlinien ist möglich. Der Schwerpunkt der SSK liegt bei Empfehlungen zur praktischen Durchführung des Strahlenschutzes und zur Handhabung der Grenzwerte.

- Höchstwerte der Oberflächen- und massenbezogenen Kontamination

Dem Betreiber einer Anlage, in der mit radioaktiven Sub-stanzen umgegangen wird oder in der ionisierende Strah-lung erzeugt wird, obliegt die Einhaltung der Grenzwerte. Der Schutz vor äußerer Strahlenexposition durch die beim Betrieb entstehende ionisierende Strahlung kann durch die bekannten Maßnahmen Abstand, Abschirmung und Aufent-haltszeit (vgl. Kapitel 5.1) realisiert werden.

Ebenso wichtig ist die Vermeidung einer unkontrollierten Verbreitung radioaktiver Substanzen. Die Verbreitung kann mit der Abluft, dem Abwasser, Abfällen oder kontaminierten Gegenständen geschehen. Einmal freigesetzt, gelangen die radioaktiven Nuklide über die Nahrungskette in den mensch-lichen Körper und führen so zu einer inneren Strahlenexpo-sition. Daher ist das Herausbringen eines Gegenstandes aus Kontrollbereichen, in denen mit offenen radioaktiven Substanzen umgegangen wird, streng reglementiert. Erlaubt ist das Entfernen nur für Kleidung, Werkzeuge, Messgeräte und sonstige Apparate, die auf Kontaminationen überprüft worden sind, d.h. deren Oberflächenaktivität bzw. massen-spezifische Aktivität unterhalb bestimmter Grenzwerte liegt (StrlSchV § 44).

Die Festlegung von Grenzwerten, die vor den Gefahren ei-ner inneren Strahlenexposition schützen sollen, kann nur nuklidspezifisch getroffen werden. Denn neben der freige-setzten Aktivität sind auch Strahlenart und Strahlenqualität für die biologische Wirksamkeit entscheidend. Genauso gilt es, die physikalische und die biologische Halbwertszeit der Nuklide zu berücksichtigen, wie auch die unterschiedliche Strahlenempfindlichkeit der verschiedenen Organe, in denen

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eine Aktivitätsanreicherung wahrscheinlich ist. Zuletzt sind die unterschiedlichen Expositionspfade, Ingestion oder Inha-lation, in Betracht zu ziehen. Die effektive Dosis von Einzel-personen der Bevölkerung bei Inkorporation von Radionukli-den können der Bekanntmachung der Dosiskoeffizienten zur Berechnung der Strahlenexposition vom 23.07.2001, BAnz. Nr. 160a und 160b /BUA-01/, entnommen werden. Den Be-rechnungen liegt ein alters- und geschlechtsabhängiges Stoffwechselmodell zugrunde.

In der Strahlenschutzverordnung wurden die Grenzwerte un-ter der Vorgabe festgelegt, dass für Einzelpersonen der Be-völkerung eine zusätzliche effektive Dosis von nicht mehr als 10 Sv/a (1/100 des Jahresgrenzwertes) durch die Frei-setzung kontaminierter Gegenstände auftreten kann. Dem Ausbreitungsverhalten der freigesetzten radioaktiven Sub-stanzen wird unter anderem dadurch Rechnung getragen, dass die Grenzwerte nicht für absolute Aktivitätsmengen sondern für Aktivitätskonzentrationen angegeben werden (vgl. Tabelle 5.3). Wenn der Gegenstand mit mehr als einem radioaktiven Nuklid kontaminiert ist, wird die Summenformel angewendet. Die Summenformel verhindert die Erhöhung des Gefährdungspotentials durch Nuklidgemische. Ein Ge-genstand gilt demnach als nicht kontaminiert, wenn die Summe der Quotienten aus Aktivitätskonzentration und dem jeweiligen Grenzwert kleiner als 1 ist, d.h. wenn z. B. bei ei-nem Gemisch aus zwei Nukliden die Aktivitätskonzentration des einen Nuklids bereits 60 % des spezifischen Grenzwer-tes beträgt, dann darf die Aktivitätskonzentration des ande-ren höchstens 40 % seines Grenzwertes betragen.

In Strahlenschutzbereichen muss die Oberflächenkontami-nation der Arbeitsflächen regelmäßig kontrolliert werden. Die Grenzwerte hierbei beziehen sich allerdings nur auf die nicht haftenden Kontaminationen zur Vermeidung von unbemerk-ten Personenkontaminationen und Inkorporationen. Da in den Strahlenschutzbereichen ausschließlich eingewiesenes Personal tätig ist, das um die möglichen Gefährdungen weiß und sich entsprechend verhält, liegen die Grenzwerte im Überwachungsbereich um den Faktor 10, im Kontrollbereich um den Faktor 100 höher als beim Herausbringen von Ge-genständen aus dem Kontrollbereich.

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Radio-nuklid

Oberflächenkontami-nation in Bq/cm2

Spezifische Aktivitätin Bq/g

H-3 1 E+2 1 E+3 C-14 1 E+2 8 E+1 F-18 1 1 E+1Co-60 1 0,1 Tc-99m 1 E+1 1 E+2 I-131 1 E+1 2 Cs-137 1 5 E-1U-235 1 5 E-1U-238 1 6 E-1

Tab. 5.3 Grenzwerte einiger Radionuklide für Oberflächen- und massenbezogene Kontaminationen (StrlSchV Anlage III Tabelle 1)

- Freigabeverfahren

Bis zur Neufassung der Strahlenschutzverordnung vom 20.7.2001 konnten nur nicht kontaminierte oder dekontami-nierte Gegenstände aus Kontrollbereichen entfernt werden. Der Gegenstand selbst aber musste inaktiv sein. Zudem be-schränkten sich die entfernbaren Gegenstände auf Klei-dung, Werkzeuge, Messgeräte und sonstige Apparate. Aber auch ursprünglich radioaktive Substanzen zerfallen mit ihren spezifischen Halbwertszeiten und sind schließlich inaktiv. Eine Abgabe dieser nunmehr inaktiven Stoffe in den norma-len Umgang war bisher nicht vorgesehen, die teure Einlage-rung in Sonderlager war die Regel.

Mit dem neuen Freigabeverfahren unterliegen ehemals ra-dioaktive Stoffe nach der Freigabe nicht mehr der Strahlen-schutzverordnung. Sie können wie inaktive Stoffe behandelt werden. Freigegeben werden können bewegliche, feste und flüssige Gegenstände, aber auch Einrichtungen, Räume und sogar ganze Gebäude. Jede Freigabe muss zuvor bei der zuständigen Aufsichtsbehörde (in Bayern das Landesamt für Umwelt) beantragt und von dieser genehmigt werden. Das genaue Verfahren ist in § 29 der Strahlenschutzverordnung beschrieben.

Vorraussetzung für die Freigabe ist, wie beim Herausbrin-gen von nicht kontaminierten Gegenständen aus dem Kon-trollbereich, die Beschränkung der zusätzlichen effektiven

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Dosis von Einzelpersonen der Bevölkerung durch die freige-gebenen Aktivitäten auf höchstens 10 Sv/a. Die Grenzwer-te der erlaubten Aktivitätskonzentrationen für die Freigabe sind ebenfalls nuklidspezifisch. Je nach Weiterverwendung der freigegebenen Gegenstände gelten verschieden strenge Werte. Unterschieden wird dabei zwischen einer uneinge-schränkten Freigabe und einer Freigabe zur Beseitigung.

Die strengeren Grenzwerte gelten für die uneingeschränkte Freigabe, für die keine Angaben über den Verbleib der freigegebenen Gegenstände oder Räume gemacht werden müssen. Sollen die freigegebenen Gegenstände beseitigt bzw. die Gebäude abgerissen werden, kann davon ausge-gangen werden, dass diese auf einer Mülldeponie landen. Hier ist mit keinem großen Publikumsverkehr zu rechnen und die Gefährdungswahrscheinlichkeit für Einzelpersonen der Bevölkerung weitaus geringer als bei einer Wiederver-wertung. Dementsprechend höher sind die Grenzwerte an-gesetzt.

Unabhängig davon ob eine uneingeschränkte Freigabe oder eine Freigabe zur Beseitigung / zum Abriss erlangt werden soll, entscheidend für das Freigabeverfahren ist, dass die Stoffe nicht absichtlich verdünnt werden dürfen, um die Grenzwerte für die massenbezogenen Aktivitätskonzentrati-onen zu unterschreiten. Das Abklingen der Aktivität durch entsprechende Lagerzeiten aufgrund des radioaktiven Zer-falls ist das alleinig gültige Verfahren zum Unterschreiten der Grenzwerte. Bei Nuklidgemischen ist die Summenfor-mel, wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, an-zuwenden.

Röntgenverordnung (RöV)

Auf gleicher Ebene mit der Strahlenschutzverordnung steht die Röntgenverordnung /RÖV-01/. Wie mit der aktuellen Strahlenschutzverordnung werden mit der Neufassung der RöV vom 30.4.2003 die europäischen Richtlinien 96/29/ EURATOM und 97/43/EURATOM umgesetzt. Im Gegensatz zur StrlSchV ist der Zweck der RöV nicht explizit erwähnt. Er ergibt sich aus §1 des Atomgesetzes und dem vollständigen Titel der Röntgenverordnung: Verordnung über den Schutz vor Schäden durch Röntgenstrahlen.

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Der Anwendungsbereich der Röntgenverordnung ist auf den Betrieb von Röntgeneinrichtungen und Störstrahlern mit Elektronenenergien von 5 keV bis 1 MeV beschränkt. Rönt-geneinrichtungen sind Einrichtungen, die zum Zweck der Erzeugung von Röntgenstrahlen betrieben werden. Zur Röntgeneinrichtung gehören der Röntgenstrahler, der Gene-rator, Anwendungsgeräte und Zubehör. Die bekanntesten Anwendungen von Röntgeneinrichtungen sind die Aufnah-me- und Durchleuchtungseinrichtungen sowie die Compu-tertomographie in der Medizin. Ein weiteres großes Anwen-dungsgebiet ist die zerstörungsfreie Materialprüfung. Stör-

ohne zu diesem Zweck betrieben zu werden. Typische Stör-strahler im genannten Energiebereich sind Spezialröhren

Schalten, Gleichrichten, Geräte zur Materialuntersuchung durch Elektronenstrahlen, z. B. Elektronenmikroskope, Ge-räte zur Materialbearbeitung durch Elektronenstrahlen, z. B. Elektronenstrahlschweißanlagen oder Elektronenbeschleu-nigeranlagen zur Kunststoffvernetzung, Abwasserentfär-bung, Sterilisation. Vielen ist aber nicht bewusst, dass sie beinahe täglich mit Störstrahlern nach der Röntgenverord-nung zu tun haben, mit dem Fernseher oder dem Compu-terbildschirm. Gemeint sind nicht die neuen TFT- oder Plasmabildschirme, sondern die üblichen Röhrenbildschir-me, in denen Elektronen zur Bilderzeugung beschleunigt werden. Das ist eine der wenigen Ausnahmen, bei denen nicht der Betreiber sondern der Hersteller für den Strahlen-schutz verantwortlich ist. Explizit ist hier nur der Betrieb und nicht wie in der StrlSchV auch die Errichtung gemeint, da bei Röntgenanlagen ausschließlich beim Betrieb ionisierende Strahlung entsteht. Die RöV hat einen uneingeschränkten Geltungsbereich. Es wird nicht unterschieden zwischen den industriellen, technischen, wissenschaftlichen oder medizini-schen Zwecken. Die RöV gilt folglich, soweit ihr Geltungsbe-reich in den einzelnen Bestimmungen der Verordnung nicht ausdrücklich beschränkt ist, für den gewerblichen Unter-nehmer, freiberuflich Tätige, also für Ärzte, Zahnärzte, Tier-ärzte, Wissenschaftler, für Unternehmen ohne Erwerbscha-rakter, z. B. gemeinnützige Krankenhäuser, für Privatperso-nen und auch für die öffentliche Verwaltung (Bund, Länder,

zur Mikrowellenerzeugung, Elektronenröhren zum Senden,

strahler sind Einrichtungen, die Röntgenstrahlen erzeugen,

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Gemeinden, Gemeindeverbände, Körperschaften, Stiftun-gen und Anstalten des öffentlichen Rechts). Für die Geneh-migung und die Überwachung des Betriebs von Röntgenein-richtungen nach der Röntgenverordnung sind in Bayern die Gewerbeaufsichtsämter bei den Regierungen zuständig.

Die Strahlenschutzgrundsätze und die Grenzwerte für beruf-lich strahlenexponierte Personen sowie für Einzelpersonen der Bevölkerung sind in der Röntgenverordnung und in der Strahlenschutzverordnung gleich. Die Äquivalentdosis macht gerade unterschiedliche Strahlenarten vergleichbar, so dass für die Grenzwerte die Herkunft der Strahlung (Ra-dioaktivität oder Röntgenröhre) keine Rolle spielt. Die ein-zelnen Regelungen sind ähnlich und lediglich an die Beson-derheiten angepasst.

Grundsätzlich bedarf der Betrieb jeder Röntgeneinrichtung der Genehmigung. Unter bestimmten Voraussetzungen ge-nügt eine Anzeige. Im Genehmigungsverfahren wird geprüft, ob Strahlenschutzbeauftragte in der entsprechenden Anzahl schriftlich bestellt sind und die Fachkunde im Strahlenschutz auf dem jeweiligen Verwendungsgebiet besitzen, ob Hilfs-kräfte Kenntnisse im Strahlenlschutz haben und ob alle Maßnahmen zur Gewährleistung ausreichenden Strahlen-schutzes einschließlich der Qualitätssicherung getroffen sind.

Alle Röntgeneinrichtungen, auch Hochschutz- und Voll-schutzgeräte müssen einer wiederkehrenden Prüfung durch einen Sachverständigen unterzogen werden. Der Zeitab-stand zwischen den wiederkehrenden Prüfungen beträgt maximal 5 Jahre.

Personen, denen der Zutritt zum Kontrollbereich erlaubt ist, oder Personen, die Röntgenstrahlen anwenden, sind über die Arbeitsmethoden, Gefahren und Schutzmaßnahmen zu unterweisen.

Außergewöhnliche Ereignisabläufe oder Betriebszustände beim Betrieb einer Röntgeneinrichtung oder eines Störstrah-lers nach § 5 Abs. 1 sind der zuständigen Behörde unver-züglich zu melden, wenn zu besorgen ist, dass eine Person eine Strahlenexposition erhalten haben kann, die die Grenzwerte der Körperdosis nach § 31a Abs. 1 oder 2 über-

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steigt, oder sie von erheblicher sicherheitstechnischer Be-deutung sind.

Neue Regelungen in der StrlSchV und in der RöV

Neben dem bereits besprochenen Freigabeverfahren sind in die Neufassung der Strahlenschutzverordnung vom 20.7. 2001 weitere bisher nicht enthaltene Regelungen aufge-nommen worden. Einige betreffen die medizinische Anwen-dung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlung am Menschen. Mit den Paragraphen zur rechtfertigenden Indi-kation, den Dosisreferenzwerten und der ärztlichen Stelle sollen unnötige Patientendosen vermieden werden. Außer-dem werden nun erstmals natürliche Strahlenquellen bei der Arbeit berücksichtigt.

- Rechtfertigende Indikation

Bevor ein Patient zu diagnostischen oder therapeutischen Zwecken ionisierender Strahlung ausgesetzt wird, muss die rechtfertigende Indikation gestellt werden. Die Frage nach der rechtfertigenden Indikation steht bewusst vor Beginn der Untersuchung bzw. Behandlung. Damit wird geklärt, ob der Nutzen für den Patienten größer ist als der mögliche Scha-den durch die Strahlenexposition.

Verantwortlich ist dabei immer der untersuchende bzw. be-handelnde fachkundige Arzt. Die Anwendung radioaktiver Stoffe und ionisierender Strahlung alleine auf die Anforde-rung des überweisenden Arztes ist nicht zulässig. Die recht-fertigende Indikation muss vom verantwortlichen fachkundi-gen Arzt gestellt werden. Insbesondere sind dabei eventuell vorhandene Voruntersuchungen zur Vermeidung von Dop-peluntersuchungen zu berücksichtigen. Ebenso müssen al-ternative Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erwo-gen werden, die eine Strahlenexposition des Patienten ver-ringern oder sogar ganz vermeiden.

Besonders muss der fachkundige Arzt bei der Stellung der rechtfertigenden Indikation auf die Möglichkeit einer Schwangerschaft weiblicher Patienten achten. Zum Schutz des ungeborenen Kindes ist die Untersuchung bzw. Be-handlung mit radioaktiven Stoffen und ionisierender Strah-

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lung meist nur in besonders dringlichen Situationen ange-bracht. Gerade wenn offene radioaktive Stoffe angewendet werden sollen, gilt dies auch für stillende Patientinnen. Eine Stillpause ist unbedingt zu empfehlen.

- Teleradiologie

Erstmals werden Regelungen zur Teleradiologie getroffen.Teleradiologie umfasst die Untersuchung des Patienten mit Röntgenstrahlung und die Feststellung des Befundes mit Hilfe der angefertigten Röntgenaufnahmen an unterschiedli-chen Orten, die über moderne Telekommunikation „online“ miteinander verbunden sind. Die Regelung soll einerseits dem Patienten einen unnötigen Transport in ein anderes Krankenhaus ersparen, aber andererseits zum Schutz des Patienten gewährleisten, dass er von ausreichend fachkun-digem Personal versorgt wird und die zur Datenübertragung genutzten Einrichtungen nicht zu Verfälschungen der über-tragenen Bilder führen. Um zu verhindern, dass Teleradiolo-gie im Krankenhaus zum „Normalfall“ und damit das ent-sprechende Fachpersonal nicht mehr vorgehalten wird, wird Teleradiologie grundsätzlich auf den Nacht-, Wochenend- und Feiertagsdienst beschränkt. Die zuständige Landesbe-hörde kann eine weitergehende Ausnahmegenehmigung er-teilen, wenn hierfür ein Bedürfnis im Hinblick auf die Patien-tenversorgung besteht.

- Diagnostische Referenzwerte

Nachdem die rechtfertigende Indikation gestellt und die An-wendung von radioaktiven Stoffen oder ionisierender Strah-lung am Patienten entschieden ist, gilt es, die Strahlenexpo-sition auf ein Minimum zu beschränken. Dies geschieht nach dem Grundsatz: So viel wie nötig, so wenig wie möglich.

Aus Sicht des Strahlenschutzes soll die effektive Dosis des Patienten möglichst gering sein. In der Diagnostik verlangt der Mediziner detailreiche, rauscharme Bilder, in der Thera-pie hundertprozentigen Heilerfolg. Hier gilt es den entspre-chenden Kompromiss zu finden. Ein Szintigramm beispiels-weise, das wegen des Bildrauschens oder der schlechten Auflösung nicht aussagekräftig ist, verursacht nur unnötige Strahlenbelastung für den Patienten. Die entsprechende Un-

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tersuchung müsste wiederholt werden. Umgekehrt bedeutet jedes Becquerel Aktivität zu viel eine unnötig hohe Strahlen-belastung.

Der Kompromiss schlägt sich in den diagnostischen Referenzwerten nieder. Für die gängigsten Untersuchungen werden Dosiswerte bzw. Standardaktivitäten angegeben, die ohne Begründung nicht überschritten werden dürfen. Mit den Referenzwerten wird eine einheitliche Basis geschaffen, fehlerhafte Untersuchungen aufgrund falscher Aktivitätsga-ben werden vermieden.

Die diagnostischen Referenzwerte sind Werte aus der Pra-xis und unter Mitarbeit führender Radiologen und Nuklear-mediziner entstanden. Sie spiegeln jahrelange Erfahrungen gepaart mit den technischen Möglichkeiten wider.

- Ärztliche Stelle

Die rechtfertigende Indikation und die diagnostischen Refe-renzwerte sind Bestimmungen zur Minimierung der Strah-lenexposition des einzelnen Patienten. Der vollständige Un-tersuchungs- und Behandlungsprozess mit radioaktiven Stoffen und ionisierender Strahlung wird von der ärztlichen Stelle überprüft. Mit dieser Form der Qualitätssicherung sol-len generelle, methodische Fehler vermieden werden.

Die ärztliche Stelle entsendet ein Prüfungskomitee, beste-hend aus Medizinern und Physikern, das regelmäßig alle Kliniken und Praxen entweder vor Ort oder anhand einge-sendeter Unterlagen bewertet. Kontrolliert wird dabei nicht nur die Qualität der verwendeten Apparate und Einrichtun-gen, sondern auch die Durchführung deren regelmäßiger Funktionsprüfungen. Neu hinzugekommen ist die Bewertung der ärztlichen Arbeit. Anhand einiger Stichproben vollzieht die ärztliche Stelle den vollständigen Untersuchungsverlauf nach. Dies geht von der ersten Anamnese, über die Durch-führung der Untersuchungen bis zur Stellung der Diagnose. Besonderes Augenmerk wird auf die korrekte Stellung der rechtfertigenden Indikation und die Einhaltung der diagnosti-schen Referenzwerte gerichtet.

Die vorrangige Aufgabe der ärztlichen Stelle ist die Beratung der überprüften Institute. Sie soll vor allem Verbesserungs-

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vorschläge zur Optimierung der Arbeitsabläufe geben. Ent-sprechend der Schwere der gefundenen Mängel können die Intervalle zur nächsten Überprüfung verkürzt werden. Die Ergebnisse der Untersuchung werden gegebenenfalls an die zuständige Behörde weitergereicht, die weitere Schritte ein-leitet. Besonders wenn die Verbesserungsvorschläge der ärztlichen Stelle wiederholt ignoriert werden, hat die betref-fende Einrichtung mit Folgen zu rechnen.

- Berücksichtigung natürlicher Strahlenquellen bei der Arbeit

Bis zur Neufassung der Strahlenschutzverordnung vom 20.7.2001 wurden bei der Bestimmung der beruflichen Strahlenexposition ausschließlich diejenigen Strahlenquellen berücksichtigt, mit denen zielgerichtet umgegangen wurde. Gemeint sind Handlungen, bei denen bewusst ionisierte Strahlung erzeugt wird oder radioaktive Stoffe verwendet werden, deren physikalische Eigenschaften genutzt werden sollen. In der Neufassung der Strahlenschutzverordnung werden diese Handlungen mit dem Begriff Tätigkeiten be-zeichnet.

Neu ist die Berücksichtigung natürlicher Strahlenquellen, die nicht direkt mit der eigentlichen Arbeit in Verbindung stehen. Gemeint sind Handlungen, die nicht zum Zweck der Nut-zung der ionisierten Strahlung sondern die aus anderen Gründen nur an diesen Orten mit erhöhter Strahlenexpositi-on ausgeführt werden können. Diese Handlungen werden in der Strahlenschutzverordnung Arbeiten genannt. Arbeiten im Sinne der Strahlenschutzverordnung sind beispielsweise Bergwerksarbeiten, ausgenommen die Gewinnung von Uranerzen, da hier die zielgerichtete Nutzung des Urans be-absichtigt ist.

Ebenso gehört das fliegende Personal in Flugzeugen (Flug-begleiter, Piloten), das der extraterrestrischen (Höhen-) Strahlung verstärkt ausgesetzt ist, zu den beruflich strahlen-exponierten Personen. Die Arbeitgeber sind angehalten zu prüfen, ob eine Bestimmung der Körperdosis notwendig ist, d.h. ob die effektive Jahresdosis des fliegenden Personals über 1 mSv liegt. Die Strahlenexposition ist umso größer, je höher die Flughöhe ist, da die abschirmende Wirkung der

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Atmosphäre mit zunehmender Höhe abnimmt. Über den Po-len, an denen die Magnetfeldlinien senkrecht auf der Erd-oberfläche stehen, fällt zusätzlich die Schutzwirkung des Erdmagnetfeldes weg, das vor Strahlung geladener Teilchen wie den Elektronen schützt. Daher ist die Strahlenexposition auf den Polrouten, die wegen des kurzen Weges die bevor-zugte Verbindung zwischen Europa und Nordamerika sind, besonders groß. Diese bedeutet allerdings nach heutigem Wissensstand keine Gefährdung für den einzelnen Touris-ten, der auf dieser Strecke nur wenige Male im Jahr fliegt (ca. 0,05 mSv pro Transatlantikflug). Erst die vielen Flug-stunden der Berufsflieger erhöhen deren Strahlenbelastung deutlich.

Eine Berufsgruppe, die bislang selten mit einer erhöhten Strahlenexposition in Verbindung gebracht wurde, sind die Mitarbeiter der Wasserwirtschaft. Dabei gehören sie zu den am stärksten exponierten Berufsgruppen. Praktisch jede Quelle in Bayern spült mit dem Wasser nicht unerhebliche Mengen Radon, ein Zerfallsprodukt des Uran-238, aus dem Gestein an die Oberfläche. In geschlossenen Räumen, wie z. B. den Trinkwasserspeichern, kann die Konzentration des Edelgases Radon, ein Alphastrahler, in der Raumluft erhöh-te Werte annehmen. Eine Überwachung der Mitarbeiter wird in vielen Fällen angebracht sein. Auf dem Weg von der Quelle zum Wasserhahn hat sich das Radon durch die Wasserbewegung verflüchtigt, so dass für den Endverbrau-cher kein Gefährdungspotential besteht.

Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG)

Messungen der Aktivitätskonzentrationen in der Umwelt werden bereits seit den 50iger Jahren durchgeführt. Bun-desweit waren aber weder die Messdatenerfassung noch die Interpretation derselben einheitlich geregelt. Außerdem führten widersprüchliche Empfehlungen zu Verwirrungen der Bürger nach dem Unglück in Tschernobyl 1986. Mit dem Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG) /STR-86/ sollte diese Misere beseitigt werden. Das StrVG regelt Aufgaben und Kompetenzen von Bund und Ländern im Ereignisfall, d.h. im Falle von großräumigen Verfrachtungen von Radioaktivität auf das Gebiet der Bundesrepublik.

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Zu den Aufgaben des Bundes zählen insbesondere:

- Großräumige Ermittlung der Umweltradioaktivität - Entwicklung und Festlegung von Mess- und Berechnungs-

verfahren- Aufbereitung, Sammlung und Bewertung der Umweltradio-

aktivitätsdaten

Die Aufgaben der Länder bestehen in erster Linie in:

- Ermittlung der Radioaktivität in bestimmten Umweltberei-chen

- Übermittlung der Daten an die Bundeszentrale - Umsetzung von Vorsorgemaßnahmen

Auf der Grundlage des Strahlenschutzvorsorgegesetzes können Bundesbehörden Empfehlungen von Verhaltenswei-sen zum Schutz der Bevölkerung aussprechen sowie Verbo-te und Beschränkungen bei Lebensmitteln, Futtermitteln, Arzneimitteln und sonstigen Stoffen aussprechen, um den Radioaktivitätseintrag in die Ernährungsketten zu begren-zen.

- Immissions- und Emissionsüberwachung

Die Zuständigkeiten für die Messungen der Umweltradioak-tivität sind zwischen Bund und Ländern aufgeteilt. Der Bund ist verantwortlich für die großräumige Überwachung der Ortsdosisleistung und der Aktivitätskonzentration in der Luft und in den Niederschlägen. Hierzu wurde ein flächende-ckendes Netz von über 2000 automatischen Messstellen er-richtet, die Daten rund um die Uhr ermitteln und an die Leit-stellen weiterleiten. Weiterhin gibt der Bund auch die Mess- und Analyseverfahren für die von den Ländern durchzufüh-renden Radioaktivitätsermittlungen vor.

Die Länder sind verpflichtet, die Aktivitätskonzentrationen im Boden und im Wasser, in der Nahrung und in Medikamenten zu bestimmen. Dies geschieht durch Auswertung von Stich-proben, die nach einheitlichen Vorgaben gesammelt wer-den. Die von den Ländern erhobenen Daten werden eben-falls an eine Bundeszentralstelle weitergeleitet. Im Rahmen dieses Umweltüberwachungsprogramms werden zur Zeit in Bayern jährlich rd. 7000 Messdaten erhoben. Ein landesei-genes Überwachungsprogramm liefert zusätzlich mehrere 100 weitere Messungen in verschiedensten Medien, u. a.

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auch bei Wild und wild wachsenden Pilzen. Als Serviceleis-tung für den Bürger können die in Bayern ermittelten Mess-werte auf den Internetseiten des Landesamtes für Umwelt unter http://www.bayern.de/lfu/strahlen/ abgerufen werden.

Zur Sammlung, Bearbeitung und Darstellung der aus den verschiedenen Radioaktivitätsüberwachungsprogrammen gewonnenen Daten hat der Bund Anfang 1994 das Integrier-te Mess- und Informationssystem zur Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS) eingerichtet. In dieses System werden auch die in Bayern gesammelten Daten zur Umwelt-radioaktivität vom zuständigen Landesamt für Umwelt ein-gespeist und auf diese Weise allgemein verfügbar gemacht. Auch die Daten der automatischen Messnetze des Bundes sowie die Daten aus rd. 40 Messlaboren in den Ländern fließen hier ein.

Die Auswertung der so gewonnenen Daten im IMIS-System ermöglicht einen schnellen Überblick über die großflächige radiologische Belastungssituation. Darauf wiederum würden sich die Empfehlungen der zuständigen Bundsbehörden zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung gründen.

Außerdem betreibt das Bayerische Landesamt für Umwelt ein eigenes flächendeckendes Messsystem, das bayerischeImmissionsmessnetz für Radioaktivität (IfR). Die Messstati-onen überwachen ebenfalls automatisch und kontinuierlich die Ortsdosisleistung und die Aktivitätskonzentrationen in der Luft. Das IfR ist ein unabhängiges Messnetz zur Früher-kennung erhöhter Luftaktivitätskonzentration. Es ist wie das IMIS nach den Erfahrungen mit dem Tschernobyl-Unglück entstanden. Bis dahin existierte lediglich das 1978 errichtete bayerische Kernreaktor-Fernüberwachungssystem (KFÜ).Mit seinen ringförmig um die Kernreaktoren angeordneten Messsonden war es das weltweit erste System zur automa-tischen Immissionsüberwachung. Damit sollen Unregelmä-ßigkeiten im Betrieb und Emissionen radioaktiver Stoffe aus den Anlagen frühzeitig entdeckt werden können. Weitere Einzelheiten zur Überwachung der Umweltradioaktivität in Bayern sind in Kapitel 6.3 zu finden.

Die Immissionsüberwachung wird durch die Emissionskon-trolle wirkungsvoll ergänzt, z. B. durch das KFÜ, das auch der Überwachung der Aktivitätsemissionen dient. Daher soll

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in diesem Kapitel ebenfalls die Emissionsüberwachung be-sprochen werden, die in der Strahlenschutzverordnung (StrlSchV § 48) geregelt ist. Der Betreiber einer Anlage, in der mit radioaktiven Stoffen umgegangen wird, muss für die kontinuierliche Überwachung der Abluft und des Abwassers sorgen. Die abgegebenen Aktivitätskonzentrationen, aufge-schlüsselt nach den einzelnen Nukliden, sind mindestens einmal jährlich an das Landesamt für Umwelt zu melden. Darüber hinaus ist das Landesamt für Umwelt selber oder ein von ihm beauftragter Sachverständiger jederzeit berech-tigt, die Grundstücke bzw. Anlagen zu betreten, Proben zu ziehen und Messungen der Radioaktivitätskonzentrationen vorzunehmen.

- Höchstwerte der Aktivitätskonzentration in Luft und Wasser

Bei der Festlegung der Höchstwerte für die Aktivitätskon-zentrationen in Abwasser und Abluft aus Strahlenschutzbe-reichen werden analog zu der Festlegung der Grenzwerte für die Freigabe die möglichen Expositionspfade berücksich-tigt. Unterschieden wird hier zwischen der direkten Einwir-kung, wie z. B. der Aufenthalt im Abluft- bzw. Abwasser-strom, und der indirekten Einwirkung über die Aufnahme mit der pflanzlichen und tierischen Nahrung. Zur Festlegung der indirekten Einwirkungen sind detaillierte radioökologische Berechnungen notwendig, die das Verhalten radioaktiver Stoffe in der Biosphäre beschreiben. Es handelt sich dabei um sehr komplexe Vorgänge (siehe auch Kapitel 4.1), wie

- Ausbreitungs- und Verdünnungsvorgänge in Luft, Wasser und Boden,

- Ablagerungen auf Boden und Pflanzen,

- Verteilungs- und Anreicherungsvorgänge in Pflanze und Tier,

- Verhalten der mit Nahrung und Atemluft aufgenommenen radioaktiven Stoffe im Körper des Menschen.

Die Verfolgung des Weges radioaktiver Stoffe vom Abgabe-ort bis in ein menschliches Organ erlaubt die Abschätzung der möglichen Strahlenexposition des Menschen und damit auch die Festlegung maximal zulässiger Ableitungswerte (Emissionswerte) für bestimmte radioaktive Stoffe aus kern-

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technischen Anlagen. In die Berechnung gehen auch einige unsichere Faktoren ein, wie z. B. Annahmen über die Wet-terlage und damit der Ausbreitung der Aktivität oder die Le-bensgewohnheiten der Bevölkerung. Generell darf die effek-tive Dosis für eine Einzelperson der Bevölkerung, die sich an der ungünstigsten Stelle aufhält, 0,3 mSv im Jahr nicht überschreiten.

Für die Betreiber einer Anlage oder Einrichtung, die keine Kernbrennstoffe verarbeitet oder lagert, das sind z. B. die Forschungslaboratorien der Physik oder der Radiochemie und die Nuklearmedizin, ergeben sich Erleichterungen. Hier ist die aufwändige Berechnung der möglichen Strahlenex-position nicht nötig. Stattdessen sind in der Strahlenschutz-verordnung nuklidspezifische Grenzwerte für die Aktivitäts-konzentrationen in Abluft und Abwasser vorgegeben, die im Jahresmittel eingehalten werden müssen (vgl. Tabelle 5.4). Die Grenzwerte sind so gewählt, dass eine Gefährdung der Bevölkerung ausgeschlossen ist. Sind mehrere Nuklide im Abwasser bzw. in der Abluft enthalten, dann gilt auch hier wiederum die Summenformel, um ein Ansteigen des Ge-fährdungspotentials zu verhindern.

RadionuklidA = Aerosol (Luft) B = elementar (Luft) O = organisch

in der Luft in Bq/m3

im Wasser in Bq/m3

H-3 A 1 E+2 1 E+7 H-3 O 1 E+2 1 E+6 C-14 A 6 6 E+5 F-18 A 5 E+2 2 E+6 Co-60 A 1 2 E+4 Tc-99m

A 2 E+3 4 E+6

I-131 E 5 E-1 5 E+3 Cs-137

A 9 E-1 3 E+4

U-235 A 4 E-3 3 E+3 U-238 A 5 E-3 3 E+3

Tab. 5.4 Grenzwerte einiger Radionuklide für Aktivitätskon-zentrationen aus Strahlenschutzbereichen (StrlSchV Anlage VII Tabelle 4 /STR-01/)

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5.3 Genehmigungspflicht des Umgangs mit radio-aktiven Stoffen

In den Paragraphen 3, 4, 6, 7 und 9 des Atomgesetzes heißt es sinngemäß: Wer mit radioaktiven Stoffen umgeht, bedarf einer Genehmigung. Entsprechende Paragraphen finden sich in der Strahlenschutzverordnung für den Umgang mit radioaktiven Stoffen und den Betrieb von Anlagen, die ioni-sierende Strahlung erzeugen. Ausgenommen ist der Um-gang mit radioaktiven Stoffen unterhalb der Freigrenze, wo-bei bei Nuklidgemischen wiederum die Summenformel zu berücksichtigen ist. Ist einmal eine Genehmigung für ein be-stimmtes Radionuklid notwendig und erteilt, so muss auch für alle weiteren Nuklide, mit denen umgegangen werden soll, eine Genehmigung eingeholt werden, auch wenn die entsprechenden Mengen unterhalb der Freigrenze liegen.

Genehmigungsvoraussetzungen(Rechtfertigung, Sicherheitsanforderungen)

Die erste Voraussetzung zur Genehmigung des Umgangs mit radioaktiven Stoffen ist bereits in den Strahlenschutz-grundsätzen festgelegt. Hierin heißt es, dass der Nutzen aus einem Umgang größer sein muss als die möglichen Gefah-ren. Nur ein gerechtfertigter Umgang, der überwiegenden öf-fentlichen Interessen nicht entgegensteht, ist genehmi-gungsfähig.

Weiterhin muss die Zuverlässigkeit des Antragstellers, des Strahlenschutzverantwortlichen, gegeben sein. Der Strah-lenschutzverantwortliche bestellt zu seiner Unterstützung ei-ne ausreichende Anzahl Strahlenschutzbeauftragte. Die Strahlenschutzbeauftragten sorgen in ihrem jeweiligen, vor-her festgelegten Aufgabenbereich für die Einhaltung der Schutzvorschriften und der in der Genehmigung festge-schriebenen Auflagen. Verantwortlich für den Schutz von Mensch und Umwelt bleibt der Strahlenschutzverantwortli-che. Die Strahlenschutzbeauftragten müssen ihre Fachkun-de im Strahlenschutz nachweisen, die durch eine geeignete Ausbildung, durch praktische Erfahrung und durch die er-folgreiche Teilnahme an anerkannten Kursen erworben wird. Alle übrigen Mitarbeiter müssen wenigstens Kenntnisse im Umgang mit radioaktiven Stoffen und ionisierender Strah-lung besitzen.

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Bei der Anwendung radioaktiver Stoffe am Menschen in der Medizin muss der Antragsteller oder wenigstens ein Strah-lenschutzbeauftragter als Arzt approbiert sein. Die erforder-liche Fachkunde zur Bestellung als Strahlenschutzbeauf-tragter erhält der Arzt in der Regel mit der Facharztprüfung in einer der drei Strahlenfächern, Radiologie, Strahlenthera-pie und Nuklearmedizin, wobei nur in den letzten beiden Fäl-len der Umgang mit radioaktiven Stoffen gestattet ist.

Neben der Rechtfertigung und den personellen Voraus-setzungen müssen geeignete Räume, Ausrüstungen und Geräte vorhanden sein, um die geltenden Schutzvorschrif-ten einhalten zu können. Neben der Gewährleistung eines regulären Betriebs schließt dies auch den Schutz vor äuße-ren Einwirkungen ein, durch die radioaktive Stoffe freige-setzt werden können. Denkbar sind Feuer und Naturereig-nisse, wie Erdbeben und Überschwemmungen, aber auch zerstörerische Absichten Dritter.

Zuletzt ist für eine Ausreichende Deckungsvorsorge zu sor-gen, d.h. der Antragsteller muss nachweisen, dass er die gesetzlichen Schadensersatzverpflichtungen erfüllen kann. Die Höhe der Deckungsvorsorge wird alle 2 Jahre von der zuständigen Behörde erneut festgelegt.

Nachweis der Einhaltung der Schutzbestimmungen(Radioökologische Berechnungen u. a.)

Der aufwändigste Teil im Genehmigungsverfahren ist der Nachweis der Einhaltung der gesetzlichen Schutzbestim-mungen, insbesondere die Einhaltung der Grenzwerte für die effektive Dosis. Für den Fall einer äußeren Strahlenex-position durch ortsfeste Strahlenquellen geschieht dies mit Hilfe eines Strahlenschutzplans. Im Strahlenschutzplan wird die Äquivalentdosis aus den Aktivitätsmengen mit Hilfe der Dosisleistungskonstanten (vgl. Tabelle 5.1) unter Berück-sichtigung des Abstandquadratgesetzes (vgl. Abb. 5.1) und der vorhandenen Abschirmung (vgl. Abb. 1.5) berechnet. Hieraus ergibt sich auch die Notwendigkeit der Einrichtung von Strahlenschutzbereichen und die Pflicht der Überwa-chung der Personendosis der Mitarbeiter.

Ferner müssen die Aktivitätskonzentrationen aller Ableitun-gen aus der Anlage kontrolliert werden. Je nach Verbreitung

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der Radionuklide in der Umwelt kann sich hieraus sowohl eine äußere wie auch eine innere Strahlenexposition für Einzelpersonen der Bevölkerung ergeben. Zu deren Ab-schätzung sind detaillierte radioökologische Berechnungen vorzulegen, die alle denkbaren Expositionspfade berück-sichtigen.Das in seinen Abläufen außerordentlich komplexe radioöko-logische Geschehen lässt sich nicht in allen Details vollstän-dig mathematisch erfassen. Eine Abschätzung der höchst-möglichen Dosis ist jedoch durch eine modellhafte Be-schreibung durchaus möglich. Dazu werden alle notwendi-gen Annahmen so getroffen, dass sie stets den ungünstigs-ten Fall mit einbeziehen. Das Ergebnis eines solchen Vorgehens ist ein Rechenwert, der insgesamt höher liegt, als es der Realität entspricht, also „konservativ“ ist. Die Anwendung der Berechnungsprinzipien auf die Messwerte der Radioaktivität aus den Ablagerungen nach dem Tschernobyl-Unfall hat nun gezeigt, dass in allen Fällen die Strahlendosis überschätzt wurde. Die Rechenwer-te lagen also in der Tat auf der sicheren Seite. Bei radioökologischen Berechungen im Rahmen des atom-rechtlichen Genehmigungsverfahrens muss nicht jeder Ein-zelwert, sondern das Gesamtergebnis konservativ sein. So überschätzt beispielsweise der überdurchschnittlich hoch angenommene Nahrungsverbrauch der Referenzperson die stark unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten von Ein-zelpersonen, wie extremen Fleischessern, Vegetariern und anderen. Die für die Referenzperson errechneten Höchstdo-sen werden deshalb von real existierenden Personen mit Si-cherheit nicht erreicht. Für Überwachungsmessungen muss eine ausreichende An-zahl von Messinstrumenten zur Erfassung der Aktivitätskon-zentrationen im Abfall, im Abwasser und in der Abluft vor-handen sein. Das Landesamt für Umwelt schreibt die Mess-protokolle vor und kann im Einzelfall die korrekte Durchfüh-rung der Messungen kontrollieren. Genauso müssen Mess-geräte zur Feststellung von Personenkontaminationen ver-fügbar sein und gegebenenfalls geeignete Dekontaminati-onseinrichtungen.Der Nachweis, dass alle Mitarbeiter mit den betriebsinternen Regelungen zum Einhalten der Schutzmaßnahmen vertraut

226

gemacht worden sind, wird durch eine Strahlenschutzanwei-sung erbracht. Die Strahlenschutzanweisung wird von den zuständigen Strahlenschutzbeauftragten erstellt und ist von allen Mitarbeitern zur Kenntnis zu nehmen. Sie enthält alle Verhaltensweisen zum Umgang mit radioaktiven Stoffen im normalen Betrieb, sowie Verhaltensanweisungen bei mögli-chen Unfällen. Zudem müssen alle Mitarbeiter jährlich im Umgang mit radioaktiven Stoffen unterwiesen werden. Ne-ben der Auffrischung allgemeiner Strahlenschutzgrundsätze soll hierbei auch auf betriebsspezifische Besonderheiten und Neuerungen hingewiesen werden.

Ist der Umgang genehmigt und die Anlage in Betrieb, über-prüft das Landesamt für Umwelt die Einhaltung aller Schutzmaßnahmen und Auflagen. Außerdem besteht eine Mitteilungspflicht über jeglichen Zu- und Abgang von Aktivi-täten mit ihrem jeweiligen Verbleib. Die Überprüfung wird in regelmäßigen Abständen in Form einer Begehung der Ein-richtung vollzogen. Neben der augenscheinlichen Begutach-tung der örtlichen Gegebenheiten sind den Prüfern die Do-kumentation der regelmäßigen Qualitätskontrollen der ver-wendeten Messgeräte, die Aufzeichnungen über die jährli-che Unterweisung der Mitarbeiter und die Bestätigung ihrer Fachkunde bzw. Kenntnisse vorzulegen.

5.4 Literatur

Atomgesetz (1985). (/ATG-85/).http://bundesrecht.juris.de/atg/index.html.

Dosiskoeffizienten bei äußerer und innerer Strahlenexpositi-on. Bundesanzeiger (/BUA-01/). (2001). 160 a und b.

Röntgenverordnung (2001). (/RÖV-01/). http://bundesrecht.juris.de/strlschv_2001/index.html.

Strahlenschutzvorsorgegesetz (1986). (/STR-86/). http://bundesrecht.juris.de/strvg/index.html.

Strahlenschutzverordnung (2001). (/STR-01/). http://bundesrecht.juris.de/bundesrecht/strlschv_2001/gesamt.pdf.

227

6. Vorsorgemaßnahmen bei Strahlenunfällen

6.1 Reaktorunfälle (Beispiel Tschernobyl)

Reaktorunfälle vor Tschernobyl

Im Oktober 1957 kam es in Windscale, UK, in einem gas-gekühlten Reaktor mit Graphitkern ohne Sicherheitscon-tainment zu einem schweren Unfall. Die Überhitzung des Graphitkerns führte zu einem Brand, der nur unter größten Schwierigkeiten am nächsten Tag gelöscht werden konnte. Es folgte eine Freisetzung von Radioaktivität, wobei Partikel von vorhandenen Filtern zurückgehalten werden konnten. Insgesamt wurden ca. 750 TBq flüchtiges I-131 in die Atmo-sphäre freigesetzt. In einem Umfeld von 300 Quadratkilome-tern wurde kontaminierte Milch für die Dauer von einem Mo-nat mit einem Verzehrsverbot belegt. Die kollektive Schild-drüsendosis für die englische Bevölkerung wurde mit 2,5*104 Personen-Sievert geschätzt. Hieraus wurden zu-sätzlich 6,5 Schilddrüsenkrebsfälle pro Jahr abgeschätzt, die bei einer erwarteten natürlichen Inzidenz von über 600 pro Jahr statistisch nicht nachweisbar sind.

Im März 1979 ereignete sich ein schwerer Unfall im Kern-kraftwerk Three Mile Island in Harrisburg, Pennsylvania, USA. Hierbei handelt es sich um einen wassergekühlten Reaktor mit Sicherheitscontainment. Aufgrund einer Verket-tung von Fehlern in der Bedienung des Reaktors kam es zu einem Versagen der Haupt- und Notkühlung. Die Folge war eine Kernschädigung mit einer Freisetzung von rund 50 % des Reaktorinventars an Radiocäsium und 40 % an Radio-iod. Diese enormen Radioaktivitätsmengen wurden aber weitgehend vom Reaktorgebäude zurückgehalten, so dass kein Radiocäsium und nur ein sehr geringer Teil (0,00002 %) des Radioiods in die Umgebung entwichen. Die Gesamt-menge an freigesetztem Iod wurde mit 550 GBq geschätzt. Systematische Untersuchungen der exponierten Bevölke-rung ergaben keine eindeutigen Hinweise dafür, dass die Freisetzung zu einer Erhöhung der Krebsmortalität geführt hat.

228

Der Tschernobylunfall

Am 26. April 1986 ereignete sich im Reaktorblock 4 der ukrainischen Kernkraftwerksanlage Tschernobyl 100 km nördlich von Kiew unweit der Grenze zu Weißrussland der folgenschwerste Unfall in der Geschichte der zivilen Nut-zung der Kernenergie. Die Bedienmannschaft hatte einen unangekündigten Test des Kühlsystems nach Abschalten der Elektrizitätsversorgung für die Turbinen vorgenommen. Der Graphit moderierte Reaktor, der über kein heutigen Maßstäben genügendes Reaktordruckgefäß und kein Si-cherheitscontainment verfügte, geriet innerhalb kürzester Zeit außer Kontrolle.

Abb. 6.1 Der havarierte Reaktorblock 4 des KKW Tschernobyl am 26.04.1986 (Russian Research Centre „Kurchatov Institute“ 1996)

Aufgrund der speziellen Bauweise des Reaktors führte die sich verstärkende Kettenreaktion zur Explosion des Reak-torkerns, wobei die Sprengkraft mit 30-40 t TNT gleichge-setzt wurde. Freigesetzt wurden große Teile des radioakti-ven Reaktorinventars von etwa 40–50 % des Radiocäsiums und des Radioiods. Da der Graphitbrand innerhalb eines

229

Zeitraums von 10 Tagen nicht gelöscht werden konnte, wur-den täglich etwa 10 16 Bq I-131 und 10 15 Bq Cs-137 freige-setzt.

Abb. 6.2 Freisetzung von I-131, Te-132 und Cs-137 während des Brands des Reaktorblocks 4 des KKW Tschernobyl in den 10 Tagen nach dem 26.04.1986 (UNSCEAR 2000)

Infolge der heftigen Explosion und des Feuers reichte die radioaktive Wolke bis zu 10 km hoch und führte zu einer Verfrachtung des radioaktiven Materials über Teile der Ukraine, Russlands und Weißrusslands. Die Wolke wurde aufgrund der anfangs vorherrschenden Winde zunächst nach Nordwesten abgetrieben, was dazu führte, dass vor al-lem weißrussische Gebiete (wie z. B. um die Großstadt Go-mel herum) besonders vom Fallout betroffen wurden. Aber auch das Gebiet unmittelbar um den Reaktor und die Nach-barstadt Pripyat wurden erheblich kontaminiert. Die Bevölke-rung von Pripyat wurde innerhalb von 2 Tagen evakuiert und die Einwohner der Dörfer innerhalb einer 30-km-Zone in der Folgezeit. Insgesamt wurden etwa 30.000 Quadratkilometer mit mehr als 185 kBq/m2 kontaminiert, was die Evakuierung von rund 115.000 Einwohnern zur Folge hatte. In den Jah-ren nach dem Unfall wurden zusätzlich 210.000 Einwohner in weniger kontaminierte Gebiete umgesiedelt.

230

Abb. 6.3 Kontamination der näheren und weiteren Umgebung des Tschernobylreaktors mit Cs-137 (UNSCEAR 2000)

Nachdem die Windrichtung in den folgenden Tagen mehr-fach wechselte, wurden auch weiter entfernte Gebiete Euro-pas zum Teil erheblich kontaminiert. In Skandinavien bei-spielsweise wurden Expositionen von Cäsium-137 bis zu 120 kBq/m2 gemessen. Aufgrund einer ausschließlich stabi-len, mehrere Tage andauernden Ostwindlage zog die radio-aktive Wolke auch über Deutschland hinweg, wobei sie ins-besondere im süddeutschen Raum durch stärkere Regenfäl-le niedergeschlagen wurde. Südlich der Donau und im Bay-erischen Wald wurde zwischen 10 und 50 kBq/m2 Cäsium-137 am Boden gemessen.

231

Abb. 6.4 Radioaktivitätsverfrachtungen während 7 Tagen nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl am 26.04.1986 (GRS 1996)

Gesundheitliche Folgen des Tschernobylunfalls

Die gesundheitlichen Folgen der Tschernobylkatastrophe wurden kürzlich von dem Tschernobylforum, einer Initiative der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internatio-nalen Atomenergie-Organisation (IAEO), bewertet. Zu diesem Tschernobylforum zählten zahlreiche internationale Experten sowie Vertreter der Wissenschaft aus den von der Tscherno-bylkatastrophe betroffenen Ländern Ukraine, Weißrussland und Russland. Das Tschernobylforum machte sich zur Auf-gabe, die im Bericht des United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) aus dem Jah-re 2000 publizierten Daten zu den Folgen des Tschernobylun-falls zur aktualisieren und durch neuere Publikationen in „peer reviewed journals“ sowie durch Berichte staatlicher Einrich-tungen der betroffenen Länder zu ergänzen.

232

Mangels Verfügbarkeit geeigneter Messinstrumente und der Durchführung systematischer Untersuchungen in der Bevöl-kerung unmittelbar nach der Katastrophe ist die Datenlage zu den Strahlendosen der Bevölkerung relativ schlecht. Hin-zu kommt, dass die Exposition auf den kontaminierten Ge-bieten teilweise relativ niedrig ist. Hiervon ist allerdings die hohe, besser dokumentierte Strahlenbelastung der Schild-drüse, die vor allem auf den Verzehr kontaminierter Milch zurückzuführen ist, abzugrenzen. Auch zu den hoch expo-nierten Ersthelfern auf der Kernkraftwerksanlage liegen be-lastbarere Dosisabschätzungen vor.

Was die gesundheitlichen Risiken infolge des Tschernobyl-unfalls betrifft, so ist zu berücksichtigen, dass die Lebenser-wartung der davon betroffenen Bevölkerung nach dem Zu-sammenbruch der Sowjetunion auch in nicht kontaminierten Regionen dramatisch abgenommen hat. Über einen Zeit-raum von 15 Jahren reduzierte sich die durchschnittliche Lebenserwartung für einen Mann von 70 auf 61 Jahre in Russland und von 67 auf 61 Jahre in der Ukraine (zum Ver-gleich: die durchschnittliche Lebenserwartung für Männer in Westeuropa liegt derzeit bei 75 Jahren). Man geht davon aus, dass die reduzierte Lebenserwartung durch die Ver-schlechterung der sozioökonomischen Bedingungen und des Gesundheitssystems bedingt ist.

Die von der Expertengruppe analysierten Studien weisen leider häufig Mängel durch kleine Fallzahlen oder unzuläng-liche Kontrollgruppen auf. Der Einfluss des Rauchens und des Alkoholkonsums kann zu starken Veränderungen der Mortalität und Morbidität führen (insbesondere verschiede-ner Krebs- und kardiovaskulärer Erkrankungen). Ohne Zwei-fel kann die psychische Belastung durch bestehende oder vermutete Strahlenexposition zu einer Zunahme des Tabak- oder Alkoholkonsums führen, was den Anstieg der Häufig-keit von Krebs und kardiovaskulärer Erkrankungen zur Folge haben kann, ohne dass Strahlung hierbei direkt die Ursache ist.

Bei den gesundheitlichen Effekten müssen stochastische von deterministischen Strahleneffekten unterschieden wer-den (vgl. Kapitel 2.2).

233

- Exponierte Personen

Die von der Tschernobylkatastrophe betroffene Bevölkerung kann in drei Kategorien eingeteilt werden:

So genannte Liquidatoren, die unmittelbar nach dem Reaktorunfall oder später während der Aufräumphase strahlenexponiert wurden. Besonders hoch exponiert wa-ren die 150 zum Zeitpunkt des Unfalls auf der Anlage be-schäftigten Mitarbeiter. In den Jahren 1986 und 1987 setzte man 240.000 Liquidatoren zur Beseitigung der Folgen der Reaktorkatastrophe ein. Bis 1990 wurde eine große Zahl weiterer ziviler und militärischer Kräfte hinzu-gezogen, so dass insgesamt 600.000 Personen an den Aufräumarbeiten beteiligt waren. Das gesamte Einsatz-personal erhielt spezielle Zertifikate als Liquidatoren und damit auch soziale Vergünstigungen. Es muss allerdings davon ausgegangen werden, dass nur ein kleiner Teil dieses Personenkreises hoch exponiert war, während der weitaus größte Teil der Liquidatoren, der in einiger Ent-fernung von der Anlage und auch zu späten Zeitpunkten eingesetzt wurde, allenfalls niedrige Strahlendosen er-hielt.

Einwohner, die aus kontaminierten Gebieten evaku-iert wurden. Hierbei handelt es sich um 116.000 Perso-nen, die im Jahre 1986 aus der Umgebung des Tscher-nobylreaktors evakuiert wurden und zusätzliche 220.000 Personen, die nach 1986 aus verschiedenen, relativ hoch kontaminierten Gebieten Weißrusslands, Russlands und der Ukraine umgesiedelt wurden.

Einwohner kontaminierter Gebiete, die nicht evakuiert wurden. Es wird geschätzt, dass rund 5 Mio. Einwohner auf geringer kontaminierten Gebieten leben, für die eine Evakuierung als nicht erforderlich ertrachtet wurde.

Die Art der Exposition war dabei meist unterschiedlich, so wurden die Ersthelfer und die höher exponierten Liquidato-ren hauptsächlich einer äußeren Strahlenexposition ausge-setzt (durch Gamma- und Betastrahlung während der Tätig-keit auf der Anlage). Die allgemeine Bevölkerung wurde ei-nerseits Direktstrahlung aus der radioaktiven Wolke und

234

später von auf dem Boden deponierten Radionukliden aus-gesetzt. Hinzukommt die mögliche Inhalation von Radioakti-vität aus der Luft und die Ingestion von kontaminierter Nah-rung und Wasser.

- Strahlendosen

Nachdem sich 1991–1992 erstmals zeigte, dass die stei-gende Häufigkeit von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Zu-sammenhang mit der Strahlenexposition zu bringen ist, wur-den die Schilddrüsendosen intensiv untersucht. Sie variieren über einen weiten Bereich in Abhängigkeit vom Lebensalter der exponierten Personen, der Höhe der Bodenkontaminati-on, dem Milchverzehr und der Höhe der Aktivitätskonzentra-tion in der Milch. Die individuellen Schilddrüsendosen er-reichten bis zu 50 Gy, mit durchschnittlichen Dosen zwi-schen 0,03 und 0,3 Gy. Die Einschätzung dieser Schilddrü-sendosen basieren auf rund 350.000 Messungen, die inner-halb weniger Wochen nach dem Unfall bei Einwohnern Weißrusslands, der Ukraine und Russlands durchgeführt wurden. Was die Strahleneffekte an der Schilddrüse betrifft, so ist zu berücksichtigen, dass die kontaminierten Gegen-den Weißrusslands, Russlands und der Ukraine zum Teil als Gebiete mit mildem oder moderatem Iodmangel zu betrach-ten sind. Mit der verringerten Zufuhr stabilen Iods nehmen die Schilddrüsenmasse und die Aufnahme von Iod-131 zu. Iodtabletten zur Blockierung der Aufnahme von Radioiod wurden nur vereinzelt (wie z. B. in der Stadt Pripyat) inner-halb von 6 bis 30 Stunden nach der Freisetzung von Radio- iod verteilt. Man nimmt an, dass dies bei den Einwohnern Pripyats zu einer Reduktion der Schilddrüsendosis um etwa den Faktor 6 geführt hat. Im übrigen hat sich die Iodblocka-de in Polen, wo ebenfalls erhebliche Expositionen mit I-131 zu vermelden waren, außerordentlich bewährt.

Die Anlagenmitarbeiter und Ersthelfer erhielten Strahlendo-sen zwischen einigen Gy bis zu 16 Gy. Von den derart hoch exponierten verstarben 28 innerhalb der ersten 4 Monate nach der Strahlenexposition. Die Dosen, die bei den Liqui-datoren registriert wurden, erreichten bis zu 500 mGy, mit einer durchschnittlichen Dosis von etwa 100 mGy.

235

Die Strahlenexposition der Bevölkerung im Zeitraum 1986 bis 2005 wird mit wenigen mSv bis zu einigen 100 mSv geschätzt, wobei die Durchschnittsdosen zwischen 10 und 20 mSv liegen (zum Vergleich: Die durchschnittliche Dosis durch natürliche Umgebungsstrahlung in Deutschland pro Person liegt bei etwa 2,4 mSv/Jahr. Während des gesamten Lebens kommt es somit zu einer akkumulierten Dosis von wenigstens 100 mSv).

- Schilddrüsenerkrankungen

Die Schilddrüse benötigt Iod als Baustein für die Schild-drüsenhormonsynthese und konzentriert auf die Art und Weise auch Radioiod sehr stark. Es ist seit langem bekannt, dass ionisierende Strahlung Schilddrüsenkrebs erzeugen kann, wobei Kinder besonders strahlenempfindlich sind.

Zwischen 1992 und 2000 wurden in Weißrussland, Russ-

bei Kindern und Jugendlichen (jünger als 18 Jahre zum

die Hälfte dieser Fälle auf die Strahlenexposition zurückzu-führen ist. Nach den vorliegenden Daten zu den Verläufen der Krebserkrankungen bei 1.152 Schilddrüsenkrebsfällen bei Kindern aus Weißrussland liegen die Überlebensraten für den Zeitraum 1992 bis 2002 bisher bei rund 99 %. Da die Schilddrüsenkrebsfälle bei einem nicht unerheblichen Teil dieses weißrussischen Kollektivs (ca. 20 %) in fortgeschrit-tenen Tumorstadien (N+, M+) diagnostiziert wurden, ist eine sichere Beurteilung der Prognose erst nach Jahrzehnten möglich.

In jüngster Zeit wird auch über eine Zunahme der Schilddrü-senkrebs-Häufigkeit bei Erwachsenen berichtet. Bei auch in anderen Regionen der Welt steigenden Inzidenzen und ei-ner nicht eindeutigen Korrelation der zunehmenden Inziden-zen bei Erwachsenen aus den unmittelbar betroffenen Ge-bieten der ehemaligen Sowjetunion mit der Strahlendosis durch Tschernobyl ist ein kausaler Zusammenhang bisher unklar.

Zeitpunkt der Reaktorkatastrophe) diagnostiziert, wobei etwa

land und der Ukraine ca. 4.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs

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Kinder (0 - 14) Jugendliche (15 - 18) Erwachsene (19 - 34)

Fälle pro 100 000

Jugendliche

Erwachsene

Kinder

Abb. 6.5 Jährliche Inzidenz der Schilddrüsenkarzinome bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Weißruss-land (Cardis et al. 2006)

Andere Schilddrüsenerkrankungen – wie gutartige Schild-drüsenerkrankungen, Hypothyreose oder Autoimmunthyreo- iditis – wurden vereinzelt berichtet. Die Zusammenhänge zwischen der Strahlenexposition nach Tschernobyl und der-artigen Beobachtungen sind jedoch noch unklar.

- Leukämie

Nach den Beobachtungen, die an den Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki gemacht wurden, zählt die Leukämie zu den gesicherten Folgen einer Strahlenexposition. Insbesondere Kinder gelten hierbei als besonders strahlenempfindlich. Die vorliegenden Daten las-sen den Schluss nicht zu, dass die Strahlenexposition durch Tschernobyl zu einer signifikanten Erhöhung der Rate kind-licher Leukämien geführt hat. Gleichermaßen liegt kein ein-deutiger Hinweis dafür vor, dass die Leukämie bei erwach-senen Einwohnern der exponierten Gebiete zugenommen hat. Für die Liquidatoren zeichnet sich ab, dass das Risiko der Leukämie nach Exposition mit mehr als 150 mGy um den Faktor 2 zunimmt. Diese Beobachtung bedarf jedoch noch einer Bestätigung durch weitere Untersuchungen.

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- Andere solide Tumoren als Schilddrüsenkrebs

Nach dem aktuellen Bericht des Tschernobylforums liegen für die Bevölkerung bisher keine gesicherten Erkenntnisse über die Zunahme der Inzidenzen anderer solider Tumoren als Schilddrüsenkrebs durch die Tschernobylkatastrophe vor. Eine Ausnahme stellt allerdings möglicherweise der Brustkrebs bei prämenopausalen Frauen dar. Auch die Ge-samtzahl solider Tumoren bei Liquidatoren steigt mögli-cherweise an. Für die Nicht-Schilddrüsenkrebse müssen La-tenzzeiten von 10 bis 15 und mehr Jahren angenommen werden, so dass die Beobachtungszeiträume hier zum Teil noch zu kurz sind.

- Andere gesundheitliche Effekte

Die Angaben zu durch Tschernobyl bedingten Todesfällen,die in den letzten 20 Jahren gemacht wurden, bewegen sich zwischen zweistelligen und sechsstelligen Zahlen. Als gesi-chert kann gelten, dass bis heute rund 48 Personen verstor-ben sind (darunter 31 an Folgen des akuten Strahlensyn-droms und 9 an Schilddrüsenkrebs). Angaben zu mehr als 100.000 nach Tschernobyl verstorbenen Einwohnern der Ukraine beziffern die Gesamtmortalität und nicht die auf die Strahlenexposition zurückzuführende Sterblichkeitsrate. Die Gesamtzahl aller in der Zukunft zu erwartenden Todesfälle durch Krebs, die auf den Tschernobylunfall zurückzuführen sind, wird nach derzeitigen Schätzungen mit 4.000 bis ma-ximal 9.000 beziffert.

Was die psychologischen Effekte der Tschernobylkata-strophe betrifft, so handelt es sich hierbei um das bei weitem größte Problem. Das Ausmaß der Tschernobylkatastrophe und die große Zahl der betroffenen Personen auch in wei- ter entfernten Gebieten mit den dadurch verbunden Fol- gen der Evakuierung und Umsiedelung sowie dem Verlust der ökonomischen Stabilität der Länder der ehemaligen Sowjetunion führten bei den Betroffenen zu verständli- chen Ängsten, massiver Verunsicherung und damit verbun-denen psychischen und psychosomatischen Beschwerden. Unter den Stresssymptomen herrschen Depression und Angstsymptome vor; die Selbstmordrate ist stark angestie-gen. Die Tatsache, dass diese Störungen auch von man-

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chen Ärzten als direkte Folgen der Strahlenexposition erklärt werden, verschlechtert die Befindlichkeit der betroffenen Personen.

Besondere Besorgnis haben Berichte zur Störung der kind-lichen Hirnentwicklung in utero durch die Tschernobylka-tastrophe ausgelöst. Eine Pilotstudie der WHO und zwei weitere Untersuchungen ergeben hierfür jedoch keinen Hin-weis.

Bezüglich hereditärer Effekte und Sterilität bzw. Infertilitätzeigen die Erfahrungen aus Hiroshima und Nagasaki, dass derartige Störungen nur oberhalb von Schwellendosen auf-treten, mit denen allenfalls die Ersthelfer auf der Anlage ex-poniert waren. Für die Bevölkerung könnten somit derartige Effekte ausgeschlossen werden. Dies steht nicht in Wider-spruch zu der Beobachtung, dass die Geburtenraten in den betroffenen Gebieten abgenommen haben, wobei hierfür andere Effekte, wie z. B. die Unsicherheit über die sozio-ökonomische Entwicklung, ursächlich verantwortlich sein dürften.

Kardiovaskuläre Erkrankungen haben in den letzten Jah-ren in der Ukraine, Weißrussland und Russland stark zuge-nommen. Aus Russland wird auch über eine groß angelegte Studie an Liquidatoren berichtet, die eine Zunahme des rela-tiven Risikos für Tod an kardiovaskulären Erkrankungen zeigt. Eine Korrelation mit der Strahlendosis fehlt jedoch. Es bedarf weiterer Studien an Ersthelfern unter Verwendung geeigneter Kontrollgruppen und adäquater Dosimetrie, um diesen Effekten nachzugehen.

Ein weiteres in der Öffentlichkeit viel diskutiertes Thema ist eine auf die Strahlenexposition zurückgeführte Immun-schwäche, auch als „Tschernobyl-AIDS“ bezeichnet. Bisher lassen sich für Dosen bis zu einigen 10 mGy keine eindeuti-gen, auf die Strahlenexposition zurückzuführenden Effekte nachweisen.

- Strahlenexposition in Deutschland durch Tschernobyl

Die Strahlenexposition von Menschen in Deutschland wurde durch folgende Expositionspfade verursacht:

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Bestrahlung von außen durch radioaktive Stoffe in der umgebenden Luft und durch ihre Ablagerung am Boden

Bestrahlung von innen durch Inhalation von kontaminier-ter Luft sowie Ingestion von kontaminierten Lebensmitteln

Die Bestrahlung aus der umgebenden Luft lieferte im Ver-gleich zu den anderen Expositionspfaden nur geringe Bei-träge, dies gilt auch für die Inhalation von kontaminierter Luft (inklusive der Aufnahme von radioaktivem Iod). Die Auf-nahme kontaminierter Nahrungsmittel (Ingestion) trug in hö-herem Maße zu der Gesamtdosis bei, die durch die Reak-torkatastrophe in Tschernobyl verursacht worden ist. Auch heute noch sind in damals hochkontaminierten Gebieten Wildfleisch und bestimmte Waldpilze mit langlebigem Cä- sium kontaminiert.

Abb. 6.6 Strahlenexposition im ersten Jahr nach der Reaktor-katastrophe von Tschernobyl und als kumulative 50 Jahre-Folgedosis für verschiedene deutsche Gebiete in Relation zur Variationsbreite der natürlichen jährlichen Strahlenexposition (SSK 1996)

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Die gesamte Strahlenexposition der Menschen in Deutsch-land ist in Abb. 6.6 dargestellt. Im ersten Jahr nach der Re-aktorkatastrophe war die zusätzliche Strahlendosis im Mittel kleiner als die normale Variation der jährlichen natürlichen Strahlenexposition, die durch Unterschiede im Aufenthaltsort innerhalb Deutschlands bedingt ist. Die Strahlenschutz-kommission schätzte bereits 1996 zutreffend ab, dass die gesamte Lebenszeitdosis der Menschen in den relativ hoch kontaminierten Voralpengebieten durch den Reaktorunfall etwa gleich sein wird wie die Strahlendosis aus natürlichen Quellen innerhalb eines Jahres (2,4 mSv). Der mittlere Wert der Exposition für die deutsche Bevölkerung durch den Tschernobylunfall liegt unterhalb von einem mSv. Gesund-heitliche Effekte für die Bevölkerung in Deutschland sind zwar vielfältig diskutiert worden. So finden sich Berichte über die Erhöhung von Missbildungen, Sterberaten bei Frühgeborenen und genetische Effekte (Mongolismus). Eine sorgfältige Überprüfung dieser Daten hat aber ergeben, dass gesundheitliche Effekte bei der Bevölkerung in Deutschland durch die Strahlendosen infolge der Reaktor- katastrophe in Tschernobyl nicht verursacht sein können. Dies gilt auch für Krebserkrankungen bzw. Krebstodesfälle. Aufgrund der strahlenbiologischen und klinischen Erfahrun-gen mit ionisierenden Strahlen waren derartige Effekte bei den aufgetretenen Strahlendosen auch nicht zu erwarten.

Iodblockade als Maßnahme zur Strahlenschutzvorsorge

Im Falle der Freisetzung von radioaktivem Iod durch einen Reaktorunfall kann die Aufnahme des radioaktiven Iods durch stabiles Iod in Tablettenform effektiv blockiert werden. Derartige Iodtabletten sind prinzipiell leicht verfügbar, preis-wert und in geeigneter Verpackung lange haltbar. Um eine ausreichende Wirkung zu erzielen, muss die Tablettenein-nahme wenige Stunden vor oder nach der Exposition mit ra-dioaktivem Iod erfolgen.

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Zeit der Kaliumiodid-Gabe relativ zur Radioiod-Inkorporation (h)

Iodman-

Iodversorgung ausrei-

Vermeidbare Schilddrüsendosis (%)

Abb. 6.7 Effektivität – ausgedrückt als vermeidbare Dosis in Pro-zent – der Verordnung von Kaliumiodid in Relation zur Inkorpora-tion von Radioiod (in Stunden). Unterschiedliche Betrachtung für ausreichende (durchgezogene Linie) bzw. unzureichende (gestri-chelte Linie) Zufuhr von Iod mit der Nahrung (Reiners 2006

Die Iodtabletten dienen in erster Linie der Blockierung der Aufnahme von Radioiod durch Inhalation aus einer radioak-tiven Wolke. Iodtabletten sollten im Prinzip nur einmal verab-reicht werden, da ggf. zusätzliche Schutzmaßnahmen grei-fen müssen (wie Evakuierung oder Verzehrsverbot für kon-taminierte Milch und Nahrungsmittel).

Nach den vorliegenden epidemiologischen Erkenntnissen sind Ungeborene, Kleinkinder, Kinder sowie Schwangere und stillende Frauen besonders schutzbedürftig. Kinder bis zu 4 Jahren sind besonders empfindlich gegen die mögli-chen schädigenden Effekte ionisierender Strahlung. Außer-dem nehmen kindliche Schilddrüsen – bezogen auf das ge-ringere Volumen – stärker Iod auf als die Schilddrüsen älte-rer Personen. Neben dem Zeitpunkt der Verabreichung ist die Menge des stabilen Iods entscheidend für die Reduktion der Speicherung radioaktiven Iods. Eine möglichst vollstän-dige Blockade wird durch die in der nachfolgenden Tabelle altersabhängig angegebenen Dosierungen erreicht.

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Personengruppe Tagesgabein mg Iodid

Tagesgabein mg Kali-

umiodid

Tablettenà 65 mg Kalium-

iodid< 1 Monat

1–36 Monate 3–12 Jahre

13–45 Jahre > 45 Jahre

12,525501000

16,2532,5651300

1/41/2120

Tab. 6.1 Empfohlene Dosis Iodid bzw. Kaliumiodid nach Alter (SSK 2004)

Iodtabletten sind nur nach Aufforderung durch die zuständi-ge Behörde einzunehmen. Schwangere und Stillende erhal-ten die gleiche Ioddosis wie die Gruppe der 13- bis 45-Jäh-rigen. Im Regelfall ist eine einmalige Einnahme der Iod-tabletten ausreichend, im Ausnahmefall kann die zuständige Behörde eine weitere Tabletteneinnahme empfehlen. Die Tabletteneinnahme ist jedoch bei Neugeborenen stets auf einen Tag, bei Schwangeren und Stillenden auf zwei Tage zu beschränken. Aufgrund des sehr geringen Risikos der Krebsinduktion durch radioaktives Iod bei älteren Menschen und einer zunehmenden Häufigkeit funktioneller Autonomien mit Krankheitswert bei fortschreitendem Lebensalter soll die Iodblockade bei über 45-Jährigen nicht durchgeführt wer-den.

Kontraindikationen gegen die Iodblockade sind Iodallergien (nicht zu verwechseln mit einer Unverträglichkeitsreaktion gegenüber iodhaltigen Medikamenten oder Röntgenkon-trastmitteln), Dermatitis herpetiformis Duhring, Iododerma tuberosum, hypokomplementämische Vaskulitis und Myoto-nia congenita. Für diese Patienten kommt alternativ eine Schilddrüsenblockade durch Natriumperchlorat (1 g täglich über 7 Tage) infrage.

In der Bundesrepublik wurden erstmals 1975 Empfehlungen zur Iodblockade für den Fall eines Kernkraftwerkunfalls aus-gesprochen und Iodtabletten in einer Dosierung von 130 mg Kaliumiodid von den Ländern für den Katastrophenschutz im Umkreis von 25 km um die Atomkraftwerke beschafft. Auf der Grundlage aktueller Empfehlungen der Strahlenschutz-

243

kommission wurden diese Tabletten im Frühjahr 2004 aus-getauscht. In der unmittelbaren Umgebung der Atomkraft-werke (bis 25 km) sorgen die Länder für die Versorgung der Bevölkerung. Neu ist, dass für den Entfernungsbereich bis 100 km Iodtabletten in 7 Zentrallagern aufbewahrt werden und allen Ländern bei Bedarf für die Iodblockade zur Verfü-gung stehen. Geändert wurde auch die Dosierung: Die neu-en Iodtabletten enthalten 65 mg Kaliumiodid, was die Dosie-rung bei Kindern erleichtert. Die Beschaffung von insgesamt 137 Mio. Iodtabletten wurde von den Atomkraftwerksbetrei-bern finanziert und erfolgte in enger Kooperation mit dem Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit (BMU).

6.2 Missbrauch von radioaktiven Stoffen

Der Missbrauch von nuklearen oder anderen radioaktiven Stoffen wird nach Auflösung der Sowjetunion und angesichts der Bedrohung durch den internationalen Terrorismus aus-gehend von Staaten, Gruppen oder Einzeltätern und durch die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen nicht länger nur als hypothetische sondern als reale Gefahr betrachtet. Das Spektrum des Missbrauchs reicht von der Nuklearkriminalität bis hin zum Nuklearterrorismus. Die zugrunde liegenden Mo-tive sind entweder finanzieller oder terroristischer Art.

Nuklearkriminalität

Fälle von Nuklearkriminalität (illegaler Handel, vorsätzlicher Erwerb, Verkauf oder Schmuggel sowie versehentliches Verbringen von nuklearem oder anderem radioaktiven Mate-rial, wie unbeabsichtigte Entsorgung oder der Nachweis von kontaminierten Produkten) sind in der umfassenden IAEA Datenbank „Illicit Trafficking Database“ (ITDB) dokumentiert.

244

Abb. 6.8 Bestätigte Vorfälle in der IAEA Datenbank „Illicit Traf-ficking Database“, 1993-2004 (IAEA 2005)

Von 1993 bis Ende Dezember 2004 wurden 662 Vorfälle bestätigt, davon 196 mit nuklearem Material, 400 mit ande-rem radioaktiven Material sowie 24 Vorfälle sowohl mit nuk-learem als auch anderem radioaktiven Material. Im Jahr 1996 wurde mit 26 Vorfällen die geringste Zahl dokumen-tiert, 2004 die höchste Anzahl mit 93 Vorkommnissen. In 50 % der Fälle handelte es sich um kriminelle Aktivitäten wie Diebstahl, illegalen Besitz, versuchten Verkauf oder Schmuggel.

Abb. 6.9 Verteilung der Vorkommnisse von illegalem Handel mit nuklearem Material, 1993-2003 (IAEA 2004)

245

In der Mehrzahl der Vorfälle zwischen 1993–2004 lag nukle-ares Material in Form von natürlichem Uran, abgereichertem Uran oder niedrig angereichertem Uran vor. Bei 17 Vorfällen bis 2003 und bei einem Vorfall 2004 lag Handel mit hoch angereichertem Uran und Plutonium vor. Hoch angereicher-tes Uran (high enriched uranium: HEU) und Plutonium (Pu) sind geeignet für den unmittelbaren Gebrauch in einer im-provisierten Nuklearbombe. Nuklearmaterial in der Form von niedrig angereichertem Uran (low enriched uranium), abge-reichertem Uran (depleted uranium), natürlichem Uran (na-tural uranium) und Thorium erfordert dagegen eine intensi-ve, technisch komplexe Verarbeitung, um in einer improvi-sierten Nuklearbombe Verwendung zu finden.

Wie Tabelle 6.1 zeigt, kam es nach Auflösung der Sowjet-union in den frühen 90er Jahren zu einem Anstieg der Vor-fälle mit nuklearem Material. Seit 1994 ist diese Tendenz stark rückläufig. In nur ganz wenigen Fällen ging es um waf-fentaugliches Nuklearmaterial, wobei es sich meist um klei-ne Proben von größeren Mengen Nuklearmaterials handel-te, selten um waffentaugliches Nuklearmaterial in der Grö-ßenordnung von Kilogrammmengen. In Deutschland ist ille-galer Handel mit nuklearem Material seit 1992 bekannt. Auch in Bayern wurden mehrere Fälle festgestellt. Die Herkunfts-länder des nuklearen Materials waren überwiegend Staaten des ehemaligen Ostblocks.

246

Datum Ort Material Vorfallbeschreibung

24.05.1993

VilniusLitauen

HEU/ 150 g

Auffinden von 140 kg mit HEU kontaminiertem Beryl-lium im Tresorraum einer Bank in Teilen einer Fracht-sendung von 4.4 t legal im-portiertem Beryllium

März1994

St. Peters-burgRussland

HEU/ 2.972 kg

Verhaftung einer Person wegen Besitz von in einer nukleartechnischen Anlage gestohlenem HEU

10.05.1994

Tengen-WiechsDeutschland

Pu/ 6.2 g Auffinden von Pu bei einer polizeilichen Hausdurchsu-chung

13.06.1994

LandshutDeutschland

HEU/ 0.795 g Verhaftung mehrerer Per-sonen wegen Besitz von HEU

25.07.1994

MünchenDeutschland

Pu/ 0.24 g

Konfiszierung einer gerin-gen Menge eines PuO2-UO2 Gemischs im Zusam-menhang mit einer größe-ren Beschlagnahme auf dem Flughafen München am 10.08.1994

10.08.1994

MünchenDeutschland

Pu/ 363.4 g Beschlagnahme eines PuO2-UO2 Gemischs auf dem Flughafen München

14.12.1994

PragTschechien

HEU/ 2.73 kg Beschlagnahme von HEU durch die Polizei in Prag

Juni1995

MoskauRussland

HEU/ 1.7 kg

Verhaftung einer Person wegen Besitz von in einer nukleartechnischen Anlage gestohlem HEU

06.06.1995

PragTschechien

HEU/ 0.415 g Beschlagnahme einer Pro-be HEU durch die Polizei in Prag

08.06.1995

Ceske Bude-joviceTschechien

HEU/ 16.9 g Beschlagnahme einer Pro-be HEU durch die Polizei in Ceske Budejovice

247

29.05.1999

RousseBulgarien

HEU/ 10 g

Verhaftung einer Person durch Zollbehörden beim versuchten Schmuggel von HEU am Zollkontrollpunkt Rousse

02.10.1999

Kara-BaltaKirgisien

Pu/ 1.49 g Verhaftung zweier Perso-nen wegen versuchten Verkaufs von Pu

19.04.2000

BatumiGeorgien

HEU/ 770 g Verhaftung von vier Perso-nen wegen Besitz von HEU

16.09.2000

TbilisiGeorgien

Pu/ 0.4 g

Beschlagnahme von nukle-arem Material einschließ-lich Pu durch die Polizei auf dem Flughafen Tbilisi

Dezem-ber 2000

KarlsruheDeutschland

Pu/ 0.001 g

Diebstahl unterschiedlichen radioaktiven Materials ein-schließlich einer winzigen Menge Pu aus der ehemali-gen Versuchsanlage zur Wiederaufarbeitung

28.01.2001

AsvestochoriGriechenland

Pu/ ~3 g

Auffinden von 245 kleinen Pu-haltigen Metallplatten in einem Geheimlager im Wald Kouri beim Dorf As-vestochori

16.07.2001

ParisFrankreich

HEU/ 0.5 g Verhaftung von drei Perso-nen in Paris beim versuch-ten Verkauf von HEU

26.06.2003

SadahloGeorgien

HEU/ ~170 g

Verhaftung einer Person wegen Besitz von HEU beim versuchten Schmug-gel des Materials

Tab. 6.2 Bestätigte Vorfälle mit high enriched uraniuim (HEU) oder Plutonium (Pu) (nach IAEA 2005)

Bei anderem radioaktiven Material handelte es sich zu-meist um umschlossene radioaktive Quellen mit unter-schiedlicher Aktivität und unterschiedlichem Verwendungs-zweck. Die Mehrzahl der Quellen war Cs-137, gefolgt von

248

Sr-90, Am-241, Co-60 und Ir-192. Bei einem Großteil der Vorkommnisse lag kein krimineller Hintergrund vor.

Abb. 6.10 Verteilung der angegebenen Aktivität von anderem radioaktiven Material bei bestätigten Vorfällen, 1993-2003 (vor-läufige Zahlen für 2003) (IAEA 2004)

Nuklearterrorismus

Unter Nuklearterrorismus versteht man den Gebrauch von nuklearem oder anderem radioaktiven Material sowie Hand-lungen gegen nukleare Anlagen aus terroristischen Motiven. Verschiedene Szenarien des Nuklearterrorismus mit unter-schiedlicher Eintrittswahrscheinlichkeit und unterschiedlichen Auswirkungen und Folgen lassen sich differenzieren. Die Eintrittswahrscheinlichkeit ist beim Nuklearterrorismus von der technischen Machbarkeit abhängig; durch diese wird das Risiko in erster Linie bestimmt, nicht durch die Auswirkungen und Folgen.

Drei Arten des Nuklearterrors lassen sich unterscheiden, ers-tens der Einsatz von radioaktivem Material als „schmutziger Bombe“ bzw. der Strahlenterrorismus (z. B. die Kontaminati-on von Trinkwasser und Nahrungsmitteln oder das Ablegen von radioaktiven Quellen in dicht bewohnten Gebieten), zweitens die Sabotage von oder der Angriff auf kerntechni-sche Anlagen oder Wiederaufarbeitungsanlagen und drittens der Diebstahl von Nuklearwaffen oder von nuklearem Mate-rial zum Bau einer improvisierten nuklearen Bombe.

249

Effekte / Schäden Machbar-keit / Wahr-

schein-lichkeit

Betroffe-nes

GebietMensch

Umwelt / Wirt-schaft

Psy-che

Risiko

Strahlen-terrorismus / „SchmutzigeBombe“

schwie-rig,

abermachbar

Vor-wiegend

lokal

klein bis mittel

großsehrgroß

mittel

Sabotage / Anschlagauf kern-technischeAnlage

sehrschwierig

sehr groß (>100km2)

be-schränkt

sehrgroß

ge-waltig

sehrklein

Improvisier-te Nuklear-bombe

extremklein

groß(>50km2)

sehrgroß bis

kata-strophal

ver-heerend

traumatisch

extremklein

Tab. 6.3 Vergleichende Risikoabschätzung für verschiedene Formen des Nuklearterrorismus (nach Anet 2001)

- „Schmutzige Bombe“

Bei einer „schmutzigen Bombe“ handelt es sich um konven-tionellen Sprengstoff, z. B. Dynamit, dem radioaktive Stoffe in Form von Puder oder kleinsten Kugeln beigefügt oder beigemischt sind. Durch die Explosion kommt es zu einer Verteilung (Dispersion) von radioaktivem Material. Dadurch unterscheidet sich das Szenario eines „Radiological Disper-sion Device“ („RDD“) bzw. einer „schmutzigen Bomben“ von einer Nuklearbombe, die auf einer Kernspaltung beruht.

Unterschiedliche Radionuklide mit stark variierenden Aktivi-täten finden in der zivilen Industrie, in Forschung und Medi-zin breite Anwendung. Zu den gebräuchlichsten radioaktiven Quellen gehören Kobalt-60 für die Bestrahlung von Lebens-mitteln, Cäsium-137 für medizinische und wissenschaftliche Geräte, Americium-241 in Rauchmeldern und technischen Messgeräten, Tritium für Leuchtfarben, Iridium-192 in Gerä-ten zur Überprüfung von Schweißnähten und Nickel-63 für chemische Analysen. Weitere wichtige Nuklide im Zusam-menhang mit der "schmutzigen Bombe" sind Strontium-90 und Plutonium-239.

250

- Sabotage bzw. terroristischer Anschlag

Als Ziele von Sabotage oder eines terroristischen Anschlags könnten vor allem Kernkraftwerke dienen. Radioaktive Frei-setzungen aus nuklearen Anlagen sind nicht mit einer Nuklearbombe vergleichbar, da Nuklearanlagen nicht explo-dieren können. Auch Lager für militärisches und ziviles nukleares Material und für radioaktive Abfälle, Wiederauf- arbeitungsanlagen für nukleare Brennstoffe, Urananreiche-rungsanlagen, Forschungsreaktoren und Nukleartransporte kämen als Ziele in Frage.

Angriffe auf Kernkraftwerke sind zwar möglich, in Anbetracht der umfassenden Sicherheitsmaßnahmen von kerntechni-schen Anlagen zeichnet sich dieses Szenario jedoch durch eine geringe Machbarkeit aus und stellt damit ein sehr un-wahrscheinliches Ereignis dar.

Im Gegensatz zur geringen Wahrscheinlichkeit steht das große Gefährdungspotential, das einem nuklearen Fallout gleichkäme. Aber selbst wenn Anschläge nicht oder nur zu einer geringen Freisetzung von Radioaktivität führen wür-den, wären die psychologischen Auswirkungen in der Bevöl-kerung sehr groß und der Schaden würde sich auf die ge-samte Nuklearindustrie erstrecken.

- Improvisierte Nuklearbombe

Der Bau von improvisierten Nuklearbomben durch Terroris-ten setzt die Beschaffung einer genügenden Menge von ge-eignetem nuklearem Material, hoch angereichertem Uran bzw. Plutonium, voraus. Trotz der bekannt gewordenen Fäl-le von Schmuggel ist eine unentdeckte Abzweigung großer Mengen nuklearen Materials durch nicht-staatliche Organi-sationen äußerst unwahrscheinlich oder gar unmöglich. Zu-dem ist die Entwicklung selbst einer einfachen Nuklearbom-be technisch äußerst anspruchsvoll und setzt eine aufwen-dige und teuere Ausrüstung voraus, die überdies unter in-ternationaler Kontrolle steht. Das Szenario einer improvisier-ten Nuklearbombe ist daher äußerst unwahrscheinlich. Die Verwendung von gestohlenen Nuklearwaffen scheint dage-gen eher möglich. Schwer berechenbare Risiken stellen der Verlust der Kontrolle Russlands und der Folgestaaten der

251

früheren Sowjetunion über nukleares Material, über sensiti-ve Technologien und über das Know-how auf dem Gebiet der Nuklearwaffen dar sowie die Rekrutierung arbeitsloser Nuklearspezialisten durch Länder und terroristische Organi-sationen.

Die Folgen einer Nuklearbombe wären unvorstellbar groß, wobei die Auswirkungen von Druckwelle und Hitze die Fol-gen von Radioaktivität übersteigen würden. Die Anzahl der Betroffenen wäre groß und weite Gebiete wären kontami-niert.

Gegenmaßnahmen

Die in der Bundesrepublik getroffenen Maßnahmen begrün-den einen im europäischen Vergleich hohen Standard. Initia-tiven der Europäischen Union zur Angleichung der in den Mitgliedsstaaten noch unterschiedlichen Standards sind ein-geleitet.

Der Prävention des illegalen Handels und des missbräuchli-chen Einsatzes nuklearer und anderer radiologischer Quel-len kommt der höchste Stellenwert zu. Maßnahmen gegen den illegalen Handel beinhalten einmal effektive Schutz-maßnahmen und zum anderen Kontroll- und Sicherungs-maßnahmen. Der sog. physische Schutz umfasst den Schutz des nuklearen Materials vor Diebstahl, Sabotage oder anderen illegalen Aktivitäten innerhalb der Landes-grenzen. Schutzmaßnahmen des Betreibers schließen um-fassende technische und administrative Vorkehrungen ge-gen Abzweigung von nuklearem Material ein, z. B. Zaun-überwachung oder Wachdienste, die gesicherte Lagerung des nicht in Nutzung bzw. Verarbeitung befindlichen nuklea-ren Materials und die laufende Beobachtung mit automati-schen Kameras. Aufgabe der IAEA und ihrer Mitgliedsstaa-ten ist es, illegalen Handel durch entsprechende Kontroll-maßnahmen zu verhindern. Kontroll- und Sicherungsmaß-nahmen beinhalten die laufende Buchführung über den Ein-gang und Ausgang radioaktiver Stoffe und Abfälle, also die regelmäßige Bestimmung des Inventars und mindestens ei-ne jährliche Inventur. Hoheitliche Kontrollen umfassen die regelmäßige visuelle Kontrolle vor Ort und Durchsicht der

252

Dokumentation durch Inspektoren der IAEA sowie der Euro-päischen Atomgemeinschaft (EURATOM).

Die Kontrolle des Schmuggels etwa durch Radioaktivitäts-messung beim grenzüberschreitenden Verkehr kommt zum Einsatz, wenn Präventionsmaßnahmen nicht greifen.

6.3 Überwachung der Umweltradioaktivität in Bayern

Die Überwachung der Umweltradioaktivität ist auch aufgrund des § 1 des Strahlenschutzvorsorgegesetzes (StrVG) eine Verpflichtung für Bundes- und Landesbehörden (siehe Nr. 5.4.2). Die Überwachung der Umweltradioaktivität ist eine wichtige Komponente des präventiven Notfallschutzes bei einem nuklearen Ereignisfall und dient als Basis für die Be-wertung eines Ereignisses und für das Ergreifen von ent-sprechenden Maßnahmen.

Bei der Radioaktivitätsüberwachung werden zwei Bereiche unterschieden, erstens die großräumige Überwachung der allgemeinen Umweltradioaktivität im gesamten Staatsgebiet bzw. in einem Bundesland und zweitens die Umgebungs-überwachung im Nahbereich einer kerntechnischen Anlage.

Integriertes Mess- und Informationssystems (IMIS) zur Überwachung der allgemeinen Umweltradioaktivität

In Deutschland begann die Überwachung der Umwelt in den frühen fünfziger Jahren mit der Messung des radioaktiven Fallouts der oberirdischen Atomwaffentests. Der Reaktor-unfall in Tschernobyl war der Anlass, das bisherige seit dem EURATOM-Vertrag bestehende Überwachungssystem flä-chenmäßig auszuweiten, messtechnisch erheblich auszu-bauen und mit Hilfe der Informationstechnik zum Integrierten Mess- und Informationssystem (IMIS) zusammenzufassen.

IMIS gewährleistet mit seinen Daten aus den Messstationen des Bundes und ca. 400 Messstationen in Bayern, dass eine erhöhte Umweltradioaktivität flächendeckend, schnell und sicher erkannt wird. Diese Überwachung erfolgt routinemä-ßig (Routinebetrieb) und bei Störfällen oder Unfällen (Stör-fallbetrieb). Damit spielt IMIS eine wichtige Rolle bei der

253

Notfallvorsorge. Überschreitet die Radioaktivität einen be-stimmten Schwellenwert wird automatisch ein Alarm ausge-löst. Dies ist eine wesentliche Grundlage für Entscheidun-gen des BMU zur Einleitung umgehender koordinierter Vor-sorgemaßnahmen.

Abb. 6.11 Übersicht über beteiligte Institutionen bei der Über-wachung der Umweltradioaktivität (IMIS) in Bayern

Die Bundeseinrichtungen überwachen Luft, Niederschlag, Boden, Wasser, Schwebstoffe und Sediment, die Landes- einrichtungen überwachen Lebensmittel, Futtermittel, Dün-gemittel, Arzneimittel, Gebrauchsgegenstände usw. IMIS greift auf die bundesweit existierenden Messnetze der fol-genden Behörden zu:

Bundesamt für Strahlenschutz (BfS): etwa 2.150 Mess-stellen zur Überwachung der bodennahen Gamma-Orts-dosisleistung, die flächendeckend in einem Raster von jeweils 15 x 15 km über Deutschland verteilt sind und 12 Messstellen zur Überwachung der Radioaktivität in der Luft.

Deutscher Wetterdienst (DWD): 39 Messstellen zur Über-wachung der Radioaktivität in Luft und Niederschlag.

Zentralstelle für die Überwachung der Umweltradioaktivität in Bayern

Landesmessstelle

Bayerisches Landesamt für Umwelt, Augsburg

Zentralstelle des Bundes für die Überwachung der Umweltradio-

aktivität (ZdB) Bundesamt für Strahlenschutz

Neuherberg

Bundesmessnetze von Bundesamt für Strahlenschutz Deutscher Wetterdienst Bundesamt für Gewässerkunde Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrographie Bundesumweltamt

Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-

heit

Bundesleitstellen für die Überwachung der Umweltradioaktivität

1. Ebene: „Datenermittlung“

2. Ebene: „Sammlung, Auswer-tung und Dokumentation von Radioaktivitätsdaten in Bayern“

3. Ebene: „Datenzusammenführung“

4. Ebene: „Entscheidung- und Informationsebene“

Bund

Freistaat Bayern

254

Bundesanstalt für Gewässerkunde (BfG): 40 Messstellen zur Überwachung der Bundeswasserstraßen (Flüsse und Kanäle).

Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie (BSH): 12 Messstellen zur Überwachung der Küstengewässer.

Die Dienststelle Freiburg des BfS sammelt die Daten der Messnetze des BfS und des DWD, wertet sie aus und übergibt sie an die Zentralstelle des Bundes (ZdB) im BfS zur Weiterleitung an das BMU.

Abb. 6.12 Mittlere externe Strahlenexposition in Deutschland in Bodennähe im Freien, 2004 (BMU 2005)

Immissionsmessnetz für Radioaktivität (IfR) zur Über- wachung der Umweltradioaktivität Neben dem bundesweiten IMIS haben einzelne Länder zusätzlich eigene Umweltüberwachungssysteme eingerich-tet. In Bayern werden Daten zur Umweltradioaktivität mit dem Immissionsmessnetz für Radioaktivität (IfR) erfasst und an die jeweiligen Landesbehörden automatisch weitergege-ben. IfR entstand als Konsequenz des Reaktorunfalls von

255

Tschernobyl 1986 ergänzend zum Kernreaktor-Fernüberwa-chungssystem (KFÜ).

Bei einer Radioaktivitätsbelastung der Umwelt sind für den Menschen 3 Belastungspfade von Bedeutung, erstens die externe Belastung durch Gamma-Strahlen, zweitens die Auf-nahme luftgetragener Radionuklide mit der Atmung und drit-tens die Aufnahme von Radionukliden mit der Nahrung.

Das IfR des Bayerischen Landesamtes für Umweltschutz (LfU) misst in 31 automatischen Messstationen kontinuierlich und flächendeckend die Gamma-Ortsdosisleistung und die Aktivi-tätskonzentrationen in der Luft sowie mit 24 weiteren Messge-räten den Niederschlag. Als wichtigste Messgrößen werden radioaktive Edelgase mittels Proportional-Zählrohr-Detektoren,radioaktive Aerosole mittels Plastik-Szintillations-Detektoren und die Iod-131-Aktivitätskonzentration in der Luft mit Natrium-Iodid-Detektoren erfasst. Zusätzlich können auf der Zugspitze und in der Außenstelle des LfU in Kulmbach Aerosol gebun-dene radioaktive Nuklide getrennt erfasst werden. Die Mess-ergebnisse werden an die Messnetzzentrale im LfU in Augs-burg zur Auswertung gesandt. Als Folge einer Überschreitung von Grenzwerten wird im LfU ein Alarm ausgelöst, um ggf. rechtzeitig Schutzmaßnahmen vorbereiten zu können.

Abb. 6.13 IfR-Messstation mit Messgerät: Blick vom Schnee-ferner Haus auf das Zugspitzplatt (LfU 2005)

256

Umgebungsüberwachung bayerischer Kernkraftwerke

Die Umgebungsüberwachung kerntechnischer Anlagen stellt eine zusätzliche Überprüfung der Emissionsüberwachung dar und gibt unmittelbar Aufschluss über die Auswirkungen der Emissionen. Im Rahmen der Umgebungsüberwachung werden von den Betreibern der kerntechnischen Anlagen und von unabhängigen Messstellen regelmäßig Proben ge-nommen und deren Radioaktivität bestimmt. Zu den unab-hängigen Messstellen in Bayern gehören das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), die Framatome ANP GmbH, Standort Erlangen (FANPE), die Universität Regensburg, Zentrales Radionuk-lidlaboratorium, UmweltRadioAktivität-Laboratorium (URA) und das Forschungszentrum für Umwelt und Gesundheit, Oberschleißheim (GSF). Die zehn erfassten Umweltberei-che sind Luft, Niederschlag, Boden/-Oberfläche, Pflan-zen/Bewuchs, Futtermittel, Ernährungskette Land, Milch und Milchprodukte, oberirdische Gewässer, Ernährungskette Wasser und Grund-/Trinkwasser.

Abb. 6.14 Übersicht über Expositionspfade in der Umgebung eines Kernkraftwerkes (BfS 2005)

257

Kernreaktor-Fernüberwachungssystem (KFÜ)

Ein Störfall des Kernkraftwerks Gundremmingen im Jahre 1977 war Anlass für das von Bayern ausgehende Kernreaktor-Fernüberwachungssystem (KFÜ). Dieses System erfasst au-tomatisch die sicherheitstechnischen Parameter, die Emissio-nen, meteorologischen Werte und Immissionsgrößen in der Umgebung von Kernkraftwerken und leitet die Resultate an die atomrechtlichen Aufsichtsbehörden im Allgemeinen an die Länderministerien weiter. Die Betreiber des Kernreaktor-Fernüberwachungssystems (KFÜ), dessen Messstellen ent-lang des Zauns von Kernkraftwerken kreisförmig verteilt sind, sind die Kernkraftwerksbetreiber und die Länder.

6.4 Radioaktivitätsmessungen beim grenzüberschreitenden Verkehr

„Tschernobyl-Verordnung“

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurden bei der Einfuhr von bestimmten Lebensmitteln aus Osteuropa erhöhte Werte für Radioaktivität nachgewiesen. 1987 hat deshalb die Europäische Kommission in der Verordnung

geändert durch Verordnung (EG) Nr. 616/2000 vom 20.03. 2000, für die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern Höchstwerte an Radioaktivität fest-gelegt. So darf die maximale kumulierte Radioaktivität von Cäsium 134 und 137 für Milch und Milcherzeugnisse sowie für Lebensmittel für die Ernährung speziell von Kleinkindern 370 Bq/kg und für alle anderen betroffenen Erzeugnisse 600 Bq/kg nicht überschreiten.

Insbesondere bei bestimmten Pilzarten aus Drittländern sind wiederholt Fälle der Nichteinhaltung der zulässigen Höchst-werte an Radioaktivität festgestellt worden. Obgleich die festgelegten Höchstwerte nur für die Einfuhr von Nahrungs-mitteln in die Europäische Union gelten, werden sie in der Praxis aber auch innerhalb der EU als solche angewendet. Die Einfuhr aller von der Verordnung erfassten Erzeugnisse aus osteuropäischen Ländern ist nur mit dem vorgeschrie-benen Ausfuhrzeugnis zulässig, d.h. dass die Höchstwerte

(EWG) Nr. 3955/87, der „Tschernobyl-Verordnung“, zuletzt

258

an radioaktiven Stoffen nicht überschritten werden. Die Gel-tungsdauer dieser Überwachungsmaßnahmen wurde bis zum 31. März 2010 verlängert.

Die Zulässigkeit der Einfuhr der von der Tschernobyl-Verordnung erfassten Waren wird im Rahmen der Überwa-chung des grenzüberschreitenden Warenverkehrs geprüft und im Zweifelsfall wird von der Zollverwaltung eine Probe-entnahme und Untersuchung durch die zuständigen Le-bensmittelüberwachungsbehörden veranlasst. Für Fragen im Zusammenhang mit der Einfuhr von Lebensmitteln, die von der Tschernobyl-Verordnung erfasst werden, und den damit verbundenen besonderen Kontroll- und Überwa-chungsmaßnahmen stehen neben dem Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft und den zuständigen Lebensmittelüberwachungsbehörden auch örtlich zuständige Zollstellen sowie das Zoll-Infocenter in Frankfurt/Main zur Verfügung.

Grenzmonitoring

Die Ein- und Ausfuhr von nuklearem oder sonstigem radio-aktiven Material nach Deutschland ist grundsätzlich nur mit einer Genehmigung des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) zulässig (§ 3 Atomgesetz und § 11 Strahlenschutzverordnung). Die Zollverwaltung überprüft im Rahmen der Überwachung des grenzüberschreitenden Wa-renverkehrs die Zulässigkeit der Ein- und Ausfuhr von nuk-learem oder sonstigem radioaktiven Material. Ziel ist die Prävention bzw. Kontrolle des Schmuggels über Landes-grenzen.

Zum Aufspüren von illegal befördertem nuklearem oder an-derem radioaktiven Material bzw. der unabsichtlichen Verbringung dieser Stoffe werden von den Zollstellen Mess-geräte zur Radioaktivitätsüberwachung von Fracht, Fahr-zeugen und Personen eingesetzt. Das Monitoring von Neu- tronenstrahlung ist essentiell für die Entdeckung von nukle- arem Material, anderes radioaktives Material wird durch Messung der Gamma-Strahlung erfasst. Zur Erstidentifizie-rung sind Strahlenmonitore geeignet, die radioaktives Mate-rial schnell und qualitativ erfassen. Zur Lokalisation, Verifi-zierung und Nuklididentifizierung werden Radioisotopen-

259

detektoren eingesetzt. Nach ihrem Verwendungszweck las-sen sich drei Messgerätetypen unterscheiden, erstens Ta-schenmonitore, zweitens tragbare oder mobile Messgeräte, die auch in Fahrzeugen, Helikoptern oder auf Schiffen zur Verfügung stehen und stationäre Monitore, die üblicherweise an Landesgrenzen und Flughäfen fest eingebaut sind. Ergibt sich bei der Überprüfung der Verdacht, dass radioaktive Stoffe illegal befördert oder mitgeführt werden, so benach-richtigt die Zollstelle unverzüglich die zuständige Landesbe-hörde und regelt das weitere Verfahren.

Abb. 6.15 Radioaktivitätsmessung eines Fahrzeugs bei der Grenzkontrolle mit einem tragbaren Handmonitor (IAEA 2005)

Zur Bekämpfung der Nuklearkriminalität hat die IAEA mit Schaffung eines neuen Programms reagiert und die Durch-führung einer Pilotstudie zur praktischen Erprobung von Grenzmonitorsystemen angeregt. Die Pilotstudie ITRAP (Illi-cit Trafficking Radiation Detection Assessment Program)wurde von September 1997 bis September 2000 von den Austrian Research Centres Seibersdorf (ARCS) durchge-führt, um die technischen Voraussetzungen zur Detektion von nuklearem und anderem radioaktiven Material an Grenzübergängen zu erarbeiten und die Machbarkeit eines solchen Überwachungssystems abzuschätzen. Die Voraus-wahl der Geräte und umfassende Laboruntersuchung im Forschungszentrum Seibersdorf bildeten die Basis für den Testbetrieb der Überwachungsgeräte am Flughafen Schwe-chat in Wien und am österreichisch-ungarischen Grenz-übergang Nickelsdorf.

260

Vier zentrale Ergebnisse sind:

einheitliche, international verwendbare Spezifikationen für die Überwachungssysteme

der Nachweis, dass Monitoringsysteme an den Grenzen installiert werden können, ohne den Ablauf gravierend zu stören, ein entsprechendes Training der Beamten vor-ausgesetzt

die Erarbeitung eines einheitlichen Verfahrensablaufs, der die reibungslose Zusammenarbeit der betroffenen Einsatzorgane sicherstellt

die Möglichkeit der Instandhaltung und Wartung der Ge-räte ohne größeren Aufwand.

Die Resultate der Studie können somit zur Erarbeitung von realistischen Durchführungsbestimmungen für Grenzmoni-torsysteme dienen unter Berücksichtigung von technischen und ökonomischen Gesichtspunkten.

6.5 Katastrophenschutz-Maßnahmen

Im Hinblick auf kerntechnische Unfälle wird in Deutschland zwischen anlageinternem und anlageexternem Notfallschutz unterschieden. Der anlageinterne Notfallschutz, Vorsorge- und Schutzmaßnahmen obliegen dem Betreiber auf der Grundlage der Strahlenschutzverordnung. Beim Konzept des anlageexternen Notfallschutzes ist zu berücksichtigen, dass in Deutschland die gesetzlich vorgeschriebene Unterschei-dung zwischen Katastrophenschutz und Strahlenschutzvor-sorge gilt. In anderen Staaten dagegen werden die den deut-schen Vorsorgemaßnahmen vergleichbaren Maßnahmen als Notfallschutzmaßnahmen in der späten Phase eines kern-technischen Unfalls angesehen.

Der Notfallschutzplanung liegen Eingreifrichtwerte zugrunde, bei deren Überschreitung die Einleitung von Maßnahmen zu prüfen ist und Eingreifwerte bei deren Überschreitung die Maßnahmen durchzuführen sind.

Katastrophenschutz

- Zuständigkeit und rechtliche Grundlagen

Die Planung und die Durchführung des Katastrophenschut-zes fallen in die Zuständigkeit der Bundesländer. Nach dem

261

Bayerischen Katastrophenschutzgesetz vom 24. Juli 1996 ist das Staatsministerium des Innern das zuständige Ministeri-um für den allgemeinen Katastrophenschutz. Die zwischen Bund und Ländern abgestimmten „Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen (RE 99)“ zielen auf die Angleichung der Verfah-rensweisen im gesamten Bundesgebiet und beinhalten die organisatorischen Vorgaben. Vorschläge für die Einleitung medizinischer Maßnahmen sind in den „Radiologischen Grundlagen für Entscheidungen über Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung bei Unfall bedingten Freisetzungen von Radionukliden“ beschrieben.

Für den Fall, dass bei einem kerntechnischen Unfall die ge-staffelten Sicherheitsmaßnahmen nicht greifen und die Ein-greifwerte überschritten werden könnten, wurden Kata-strophenschutzplanungen für die Umgebung von Kernkraft-werken erarbeitet. Die Katastrophenschutzmaßnahmen zie-len primär auf den Schutz der Bevölkerung vor einer Unfall bedingten Exposition und auf die Vermeidung deterministi-scher Strahlenschäden.

- Maßnahmen

Die Aufgaben der Katastrophenschutzbehörden sind vorbeu-gender und abwehrender Katastrophenschutz, der Maßnah-men für die Umgebung der kerntechnischen Anlage bis zu einem Radius von 25 km vorsieht.

Die vorbeugenden Maßnahmen der behördlichen Kata-strophenschutzplanungen beinhalten besondere festgelegte Planungszone, Alarmpläne und Alarmierungsprozeduren. Ei-ne grundlegende Maßnahme bildet die Einteilung der Umge-bung der kerntechnischen Anlage in 3 Planungszonen, die Zentralzone mit bis zu 2 km Umkreis um die Anlage, die Mit-telzone mit etwa 10 km und die Außenzone mit ca. 25 km um die Anlage. Bei der Anordnung von Katastrophenschutz-maßnahmen kann hiermit auf eindeutige und einfache Weise festgelegt werden, in welchen Zonen und Sektoren welche Maßnahmen erforderlich sind.

Zwei Alarmstufen werden unterschieden: Voralarm wird aus-gelöst, wenn bei einem Ereignis noch keine oder geringe

262

Auswirkungen auf die Umgebung auftreten. Katastrophen-alarm wird ausgelöst, wenn bei einem kerntechnischen Unfall eine Gefahr bringende Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Umgebung festgestellt wird oder droht. Die Bevölkerung wird dann durch Sirenensignale und Lautsprecherfahrzeuge ge-

Messungen in der Umgebung gemäß der „Richtlinie zur Emissions- und Immissionsüberwachung kerntechnischer Anlagen (REI)“ von Gamma-Ortsdosisleistung, Aktivitätskon-zentrationen verschiedener Radionuklide und der Luft und flächenbezogener Aktivität auf dem Boden. Die dabei ge-wonnenen Erkenntnisse sind Grundlage für die zu treffenden Schutz- und Abwehrmaßnahmen.

Abwehrende Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung sind in erster Linie der „Aufenthalt in Gebäuden“, die „Aus-gabe von Iodtabletten“ und die „Evakuierung“. Weitere Maß-nahmen des Katastrophenschutzes sind u. a. Umsiedlung, Unterrichtung und Warnung der Bevölkerung, Verkehrsein-schränkungen (Zugangsbeschränkungen und Sperrung von Gebieten), Warnung vor dem Verzehr frisch geernteter Le-bensmittel, Dekontamination in Notfallstationen und ärztliche Betreuung und Versorgung. Ziele, Konzepte, Strategien und Methoden des medizinischen Notfallschutzes werden im Notfallplan festgelegt und umfassen alle administrativen Maßnahmen zur Vorbereitung auf Strahlennotfälle.

Vier Bereiche der medizinischen Notfallvorbereitung lassen sich unterscheiden:

Der Aufbau und die Vorhaltung notwendiger Organisa-tionsstrukturen beinhalten die Festlegung der Zustän-digkeiten bei der Rettung, die Bestimmung der ärztlichen Leitung der Notfallstation, die Regelung des Einsatzab-laufs sowie Anordnungen zur Informationsvermittlung und Dokumentation.

Die raumplanerische Notfallvorbereitung definiert neben den Gefahren- und Kontrollbereichen am Unfallort, Pla-nungszonen von Notfallstationen, d. h. Ausweisung eines separaten Eingangs, von kontaminierten, Puffer- und nicht kontaminierten Zonen und die Festlegung von Messstellen an den Übergangszonen.

warnt bzw. informiert. Weitere vorbeugende Maßnahmen sindLageermittlung, d. h. Prognose der radiologischen Lage,

263

Die technische Notfallvorbereitung umfasst die Planung und Einrichtung der Notfallstation, Lagerhaltung und Be-reitstellung von Ausrüstung zur Kontaminationskontrolle der Notfallstation, Ausrüstung zum Selbstschutz des Per-sonals, von Hilfs- und Arbeitsmitteln zur Dekontamination, Mess- und Analysegeräten, medizinischen Hilfsmitteln und Medikamenten zur Dekorporation.

Zu den personellen Kapazitäten gehören Rufbereitschaf-ten von ärztlichen und nicht ärztlichen Fachkräften, medi-zinischem und technischem Assistenzpersonal sowie ihre fachliche Schulung, Fortbildung und Übung.

Abb. 6.16 Organisationsschema der ärztlichen Versorgung in Notfallstationen (SSK 1995)

Die Durchführung effektiver und rechtzeitiger medizinischer Notfallmaßnahmen zur Rettung und Behandlung von Be-troffenen beinhaltet die Übernahme von Patienten an der Grenze zum Gefahrenbereich, den Transport der Patienten, Triage und medizinische Erstversorgung in Notfallstationen, Identifizierung von bzw. Weiterleitung an geeignete stationä-re Behandlungszentren, Durchführung von Dekorporations- und Dekontaminationsmaßnahmen, Ausführung von Kon-trollmessungen, Probenentnahme und Dokumentation.

264

Strahlenschutzvorsorgezentren

Regionale Strahlenschutzzentren

Zur Versorgung bei betrieblichen Strahlenunfällen wurde von der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elek- trotechnik das Institut für Strahlenschutz (IfS) gegründet, das ein System der Regionalen Strahlenschutzzentren (RSZ) aufgebaut hat. Durch vertragliche Vereinbarungen entstanden so an verschiedenen Instituten, Kliniken und Forschungseinrichtungen die RSZ als Leitstellen für alle Fragen, die einer strahlenmedizinischen Beratung und Ver-sorgung bedürfen. Das RSZ Netzwerk umfasst zurzeit 11 Einrichtungen. Die RSZ verfügen im Allgemeinen über alle erforderlichen Einrichtungen für eine eventuell notwendige Direktversorgung und für die ambulante oder stationäre Überwachung von beruflich Strahlenverunfallten. Bei schwe-ren Strahlenunfällen kann die Spezialstation der Berufge-nossenschaftlichen Unfallklinik in Ludwigshafen-Oggersheim und bei schweren Hautverbrennungen die Fachklinik Horn-heide bei Münster nach Vermittlung durch ein RSZ in An-spruch genommen werden.

Greifswald

Hamburg

Hannover

JülichDresden

Berlin

Homburg

Karlsruhe

Würzburg

München

Neuherberg

Ludwigshafen

Abb. 6.17 Netz der Regionalen Strahlenschutzzentren (RSZ) in Deutschland

265

Ein Arzt und ein Physiker des Regionalen Strahlenschutz-zentrums sind 24 Stunden erreichbar, stehen telefonisch für konkrete Beratungen zur Verfügung und bieten Informatio-nen und Entscheidungshilfen an. Ärzte geben Anweisungen zu Dekontaminationsmaßnahmen, Dekorporationstherapien, zur Überwachung von Verunfallten, zum Vorgehen bei kom-binierten Verletzungen (Kontamination und offene Wunden, Frakturen und Verbrennungen) und zu Selbstschutzmaß-nahmen von Einsatzkräften und Sicherheits- und Rettungs-personal.

REMPAN-Netzwerk der WHO – Kollaborationszentren für medizinische Vorsorge und Hilfe bei Strahlenunfällen

Das REMPAN (Radiation Emergency Medical Preparedness and Assistance Network) System der WHO ist der Zusam-menschluss von zurzeit 17 fachkundigen medizinischen Ein-richtungen und etwa 15 assoziierten Instituten zu einem weltweiten Wissens- und Kompetenznetzwerk. Die primären Ziele sind die medizinische Vorsorge und Förderung von vorkehrenden Schutzmaßnahmen im Hinblick auf Strahlen-unfälle, die internationale Hilfeleistung und Beratung bei Strahlenunfällen und die Förderung der Nachbereitung eines Unfalls in Form von wissenschaftlichen Studien.

Abb. 6.18 Internationales Netzwerk der WHO REMPAN Zentren

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266

Seit Juni 2005 ist die Klinik und Poliklinik für Nuklearmedizin des Universitätsklinikums Würzburg das offizielle deutsche WHO REMPAN-Kollaborationszentrum für medizinische Vor-sorge und Hilfe bei Strahlenunfällen, das im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsi-cherheit (BMU) etabliert wurde. Die drei Aufgabenschwer-punkte des WHO REMPAN-Zentrums Würzburg liegen in der Verbesserung der medizinischen Versorgung von Strahlen-unfallpatienten in Deutschland, der Repräsentanz Deutsch-lands im internationalen WHO REMPAN-Netzwerk zur ge-genseitigen Hilfe bei Strahlenunfällen und in der medizini-schen Auswertung von Strahlenunfällen auf der Basis des Datenbanksystems SEARCH (System for Evaluation and Archiving of Radiation Accidents based on Case Histories).

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274

7. Erläuterung von Fachbegriffen

A

AbsorptionAufnahme

AerosoleGase mit festen oder flüssigen Schwebeteilchen.

AfterloadingNachladetechnik für die intrakavitäre und interstitielle Strah-lentherapie, z. B. mit 137-Cäsium-Quellen, bei der zunächst der leere Applikator in das Zielvolumen, z. B. die weibliche Gebärmutter, gebracht und erst nach Lagekontrolle und ferngesteuert mit dem radioaktiven Präparat beschickt wird.

Akkumuliert- kumulativ

AktivierungEntstehung eines - Radionuklids aus einem stabilen -Nuklid durch Beschuss von - Protonen, - Neutronen oder anderen Teilchen.

AktivitätMaß für die - Radioaktivität. Einheit: - Becquerel.

AktivitätskonzentrationVerhältnis der - Aktivität eines - Radionuklids zum Vo-lumen des Materials, in dem das Radionuklid verteilt ist.

Aktivkohledosimeter (-exposimeter) Mit Aktivkohle gefüllte, luftdicht verschließbare Dose (ca. 10 cm Durchmesser), mit der die Radonkonzentration in der Luft bestimmt werden kann.

Akutes Strahlensyndrom Folge einer Ganzkörperexposition ab 1 - Gray. Schwere-grad, Verlauf und - Prognose sind von Art und - Dosis der - ionisierenden Strahlung abhängig.

Alpha-Strahler- Radionuklid, das unter Aussendung eines - Alpha-Teilchens zerfällt (- radioaktiver Zerfall).

275

Alpha-Strahlung- Strahlung aus - Alpha-Teilchen.

Alpha-TeilchenHeliumkern, bestehend aus zwei - Protonen und zwei -Neutronen.

Alpha-ZerfallKernumwandlung unter Aussendung eines - Alpha-Teil-chens.

Americium-241Künstliches radioaktives Element, das - Alpha-Strahlung aussendet.

Anderes radioaktives Material Nicht durch - Kernspaltung entstandene - radioaktive Stoffe.

AngiographieRadiologisches Verfahren zur Darstellung der Blutgefäße (Arterien und Venen) durch Injektion eines Röntgenkon-trastmittels und anschließende Anfertigung schneller pro-grammierter Aufnahmeserien.

ÄquivalentdosisDosisgröße im Strahlenschutz unter Berücksichtigung der biologischen Wirksamkeit der - Strahlung. Einheit: -Einheit: - Sievert.

AtomElektrisch neutraler Baustein der Materie, bestehend aus ei-nem positiv geladenen - Atomkern und einer negativ gela-denen Elektronenhülle.

AtomkernZusammengesetzt aus den Kernbausteinen (- Nukleo-nen). Er trägt beinahe die gesamte Masse des Atoms.

AtomreaktorUmgangssprachlich für - Kernreaktor.

Atomwaffentest, oberirdischer Oberirdische Zündung eines nuklearen Sprengsatzes zu Testzwecken.

276

Austrian Research Centres Seibersdorf (ARCS) Größte Tochtergesellschaft des ARC-Konzerns, die u. a. in Forschungs- und Entwicklungsprojekten für nationale und in-ternationale Auftraggeber interdisziplinär zusammenarbeitet.

B

Becquerel (Bq) Einheit der - Aktivität. Zerfälle pro Sekunde.

BerylliumLeichtmetall, das meist als Legierungszusatz verwendet wird. Durch - Alpha-Teilchen werden aus Beryllium -Neutronen freigesetzt.

Beta-Strahler- Radionuklid, das unter Aussendung eines - Beta-Teil-chens zerfällt (- radioaktiver Zerfall).

Beta-Strahlung- Strahlung aus - Beta-Teilchen.

Beta-Teilchen- Elektron

Beta-ZerfallKernumwandlung unter Aussendung eines - Beta-Teil-chens.

Biologische Halbwertszeit - Halbwertszeit, biologische

BrachytherapieMinimalinvasive strahlentherapeutische Methode, bei der radioaktive Strahlungsquellen entweder im Tumorgewebe oder kontaktierend am Tumorgewebe positioniert werden.

BremsstrahlungElektromagnetische Strahlung. Sie entsteht durch Beschleu-nigung oder Abbremsung geladener Teilchen in Materie.

BrennelementAus einer Vielzahl von - Brennstäben montierte Anord-nung in der - Kernbrennstoff in den - Kernreaktor einge-setzt wird.

277

BrennstabBestimmte Form, in der - Kernbrennstoff, umgeben von einem Hüllmaterial, in einem - Kernreaktor eingesetzt wird.

C

Cäsium-137Das bedeutendste künstliche Cäsium- - Isotop ist ein -Beta- und - Gamma-Strahler.

ChemotoxizitätGiftigkeit einer Substanz auf Grund ihrer chemischen Eigen-schaften.

ChromosomenStrukturen einer lebenden Zelle, auf denen die Erbanlagen (Gene) lokalisiert sind. Die Gesamtheit der Chromosomen bezeichnet man als Genom. Außer bei den niederen Lebe-wesen (z. B. Bakterien) befinden sich die Chromosomen in einem Zellkern. Die Zellkerne der meisten Lebewesen ent-halten mehrere Chromosomen, die sich in der Größe von-einander unterscheiden. Je nach der Zahl, in der jedes Chromosom vorhanden ist, spricht man von einem haploi-den (jedes Chromosom einmal), von einem diploiden (jedes Chromosom doppelt) oder einem polyploiden (jedes Chro-mosom vielfach) Chromosomensatz.

Curie (Ci)

Alte Einheit für die - Aktivität. 1 Ci = 37 GBq.

D

DekontaminationBeseitigung oder Verminderung von oberflächlichen Verun-reinigungen mit - radioaktiven Stoffen (- Kontamination).

DekorporationEntfernung - radioaktiver Stoffe, die vom menschlichen Organismus aufgenommen wurden.

Deponiertabgelagert

278

DepositionAblagerung von in der Atmosphäre vorhandenen Schweb-stoffen oder Gasen auf dem Boden, Pflanzen oder anderen Oberflächen.

DetektorHier Gerät zum Nachweis und zur Messung - ionisieren-der Strahlung.

Deterministische Strahleneffekte Treten in der Regel ab einer bestimmten - Schwellendosis auf; die Schwere des Schadens nimmt mit der Dosis zu (vgl. - stochastische Strahleneffekte).

DiagnoseZuordnung der Symptome und Untersuchungsergebnisse in ein Krankheitsbild.

Diagnostischer Referenzwert Auf Vorschlag der Strahlenschutzkommission wurden in Deutschland im Jahre 2003 vom Bundesamt für Strahlen-schutz diagnostische Referenzwerte für Radiopharmaka festgelegt und im Bundesanzeiger veröffentlicht. Darin sind Referenzwerte der Radiopharmaka für häufige nuklearmedi-zinische Untersuchungsverfahren sowie dosisintensive nuk-learmedizinische Untersuchungsverfahren enthalten. Eine Überschreitung dieser Referenzwerte bedarf einer Begrün-dung durch einen fachkundigen Nuklearmediziner und muss entsprechend dokumentiert werden.

Dicht ionisierendStrahlung, die bei Wechselwirkung mit Materie ihre Energie auf einem sehr kurzen Weg an diese überträgt und daher dicht beieinander liegende lonisationsereignisse auslöst.

DNSDesoxyribonukleinsäure, im englischen Schrifttum mit DNA bezeichnet. Riesenmolekül, das aus zwei Strängen besteht und die Erbinformation in Form eines chemischen Codes enthält. Bestandteil der - Chromosomen.

279

DosimeterDosimeter dienen zur Messung der externen Strahlendosis (- Personendosis). Man unterscheidet zwischen direkt an-zeigenden Dosimetern (z. B. Stabdosimeter) und indirekt messenden Dosimetern (z. B. Filmplakette, Glasdosimeter), bei denen messtechnisch erfassbare Veränderungen der Dosis proportional sind.

DosimetrieBestimmung der - Dosis.

Dosis- lonendosis - Energiedosis - Äquivalentdosis - ef-fektive Äquivalentdosis Maß für die Wirkung - absorbierter - ionisierender Strah-lung.

- Gesamtdosis Summe der in Teilen zu verschiedenen Zeitpunkten - ap-plizierten oder erhaltenen - Dosis.

- Lebenszeitdosis Summe der im Lauf des Lebens in Teilen - applizierten oder erhaltenen - Dosis.

DosisabschätzungAbschätzung der - Strahlenexposition unter Einbeziehung aller relevanten - Expositionspfade.

DosisfaktorFaktor zur Umrechnung von - Aktivität in Dosis. Dosisfak-toren für aufgenommene Aktivität berücksichtigen neben den physikalischen Größen (Energie pro Zerfallsereignis, Strahlenart, -Halbwertszeit) und der chemischen Form des aufgenommenen Radionuklids auch noch biologische Pa-rameter (Alter, Aufnahmedauer, Anreicherung, Organgröße, Dosisverteilung u. s. w.) und schließlich die Art der Aufnah-me (- Inhalation, - Ingestion). Dosisfaktoren für Inhalati-on erlauben z. B. aus der Aktivitätskonzentration in der Luft eine Berechnung der Organ-Dosen; Dosisfaktoren für äuße-re Bestrahlung erlauben aus der Aktivitätskonzentration in Luft oder Aktivität pro Fläche am Boden eine Berechnung der externen Körper-Dosen.

Dosisleistung- Dosis pro Zeiteinheit.

280

Dosisrichtwert- Eingreifrichtwert

Down-SyndromAngeborene Erkrankung, die auf das dreifache Vorhanden-sein des - Chromosoms 21 zurückzuführen ist.

DSADigitale Subtraktionsangiographie Röntgenologische Kontrastdarstellung des Herzens und von Blutgefäßen unter Anwendung der digitalen Subtraktionsme-thode. Dabei werden die digitalen Aufnahmen der Gefäße mit Kontrastmittel von denen ohne Kontrastmittel abgezo-gen: Es entsteht eine reine Darstellung der Gefäße.

E

EdelgasGruppenbezeichnung für die Elemente Helium, Neon, Ar-gon, Krypton, Xenon und das radioaktive Radon.

Effektive Äquivalentdosis, effektive DosisGröße im Strahlenschutz, unter Berücksichtigung der unter-schiedlichen Strahlenempfindlichkeiten der Organe. Einheit: Sievert.

Effektive Halbwertszeit - Halbwertszeit eines radioaktiven Stoffes im Körper. Da-bei gehen sowohl der - radioaktive Zerfall wie auch die Ausscheidung des Stoffes ein.

EingreifrichtwertDosiswert, bei dessen Erreichen die Einleitung von Schutz-maßnahmen zu prüfen ist.

ElektronElementarteilchen mit einer Ladung von einer negativen -Elementarladung.

Elektronenvolt (eV) Gebräuchliche Energieeinheit für - Strahlung.

ElementHier chemisches Element, - Atom mit einer bestimmten - Kernladungszahl bzw. - Ordnungszahl.

281

ElementarladungKleinste nachgewiesene elektrische Ladung. Ein - Elek-tron trägt eine negative E., ein - Proton eine positive E.

EmbryoFrühes Entwicklungsstadium des keimenden Lebens (beim Menschen bis zum 3. Monat).

EmissionAbgabe von (Schad-)Stoffen an die Atmosphäre oder in Gewässer.

EmittentVerursacher von - Emissionen.

EndlagerAnlage zur langfristig wartungsfreien, zeitlich unbefristeten sicheren Lagerung von radioaktiven Abfällen ohne beabsich-tigte Rückholung.

EnergiedosisAbsorbierte Strahlungsenergie je Masseneinheit.

Enzym„Biokatalysator", Eiweißstoff, der jeweils nur ganz bestimmte Stoffwechselreaktionen beschleunigt.

EpidemiologieErforschung von Krankheiten anhand der Beobachtung gro-ßer Bevölkerungs- - kollektive.

EURATOMDie 1957 gegründete Europäische Atomgemeinschaft EURATOM hat die friedliche Nutzung der Kernenergie sowie die Entwicklung einer entsprechenden Kernindustrie zum Ziel.

EURATOM-VertragDie Grundlage für die Arbeit von - EURATOM trat 1958 in Kraft.

EvakuierungVorübergehende Räumung eines Gebietes.

Exposition, exponiert - Strahlenexposition

282

ExpositionspfadWeg radioaktiver Stoffe von der Ableitung aus einer Anlage oder Einrichtung über einen Ausbreitungs- oder Transport-vorgang bis zu einer - Strahlenexposition des Menschen (z. B. Luft - Futterpflanze - Kuh - Milch).

Extraterrestrisch außerirdischen Ursprungs

F

FälleGruppe von Erkrankten, die mit einer Gruppe vergleichbarer Personen ohne diese Krankheit, sog. - Kontrollgruppe, in Untersuchungen verglichen wird.

FalloutRadioaktiver Niederschlag aus kleinsten Teilchen in der At-mosphäre.

Fallzahl- Fälle

FetusSpätes Entwicklungsstadium des Keimes der Säugetiere (beim Menschen ab dem 3. Monat).

FolgedosisStrahlendosis, die als Folge einer einmaligen Aktivitätsauf-nahme im gesamten (unbegrenzten) Zeitraum nach der Auf-nahme resultiert. Die in der Radioökologie häufig verwende-te 50-Jahre-Folgeäquivalentdosis ist die Äquivalentdosis, die als Folge einer einmaligen Aktivitätszufuhr in einem Zeit-raum von 50 Jahren (das Bezugsjahr mitgerechnet) resul-tiert (beschränkte Folgedosis).

ForschungsreaktorKernreaktor, der für wissenschaftliche Forschung verwendet wird.

Freisetzung radioaktiver Stoffe Entweichen radioaktiver Stoffe aus den vorgesehenen Um-schließungen in die Anlage oder in die Umgebung.

283

G

Gamma-Ortsdosisleistung- Strahlenexposition, die von außen auf den Menschen einwirkt. Sie wird angegeben als - Äquivalentdosis, ge-messen an einem bestimmten Ort pro Stunde.

Gamma-Strahler- Radionuklid, das unter Aussendung eines - Gamma-Quants zerfällt (- radioaktiver Zerfall).

Gamma-Strahlung- Strahlung aus - Gamma-Quanten.

Gamma-Quant- Photon aus einem Kernzerfall.

Gamma-ZerfallKernumwandlung unter Aussendung eines - Gamma-Quants.

Gen, Genom - Chromosomen

GenmutationÄnderungen des Erbgutes.

Gray (Gy) Einheit der - Energiedosis.

GrenzmonitoringMessung der - Radioaktivität des grenzüberschreitenden Verkehrs.

H

Halbwertszeit, biologischeZeit, nach der von der ursprünglichen Menge eines in den Körper aufgenommenen Stoffes die Hälfte vom Organismus ausgeschieden oder abgebaut ist.

Halbwertszeit, effektiveZeit, nach der durch radioaktiven Zerfall und biologische Vorgänge (z. B. Ausscheidung) die Aktivitätskonzentration in einem Organismus auf den halben Wert abgeklungen ist.

284

Halbwertszeit, physikalischeZeit, nach der von der ursprünglichen Menge der- Radio-nuklide die Hälfte zerfallen ist.

Havariertverunglückt

Hereditärer Effekt Erblicher Effekt, Weitergabe von (Krankheits-)Anlagen an die nächste Generation.

HypothyreoseUnterfunktion der Schilddrüse.

I

ICRPInternational Commission on Radiological Protection (Inter-nationale Strahlenschutzkommission).

ICRUInternational Commission on Radiation Units and Measure-ments (Internationale Kommission für radiologische Einhei-ten und Messungen).

ImmissionsgrößenMaß für schädliche Umwelteinwirkungen, die durch - Emis-sion entstanden sind.

InfertilitätUnfähigkeit, eine Schwangerschaft bis zu einem entwickel-ten Kind auszutragen.

IngestionAufnahme von Stoffen durch den Magen-Darmtrakt.

InhalationAufnahme von Stoffen über die Atemwege.

InkorporationAufnahme von Stoffen in den Körper.

Internationale Atomenergie Organisation (IAEO) Englisch: International Atomic Energy Agency (IAEA), ist ei-ne eigenständige Organisation innerhalb der UN zur Förde-rung der friedlichen Anwendung und Nutzung der Atom-energie.

285

Integriertes Mess- und Informationssystem (IMIS) Dient zur Überwachung der Umweltradioaktivität.

InterzeptionAnteil der deponierten Luftschwebstoffe (=> Deposition), der auf den Pflanzen verbleibt.

In utero im Mutterleib

InzidenzAnzahl von Personen, die innerhalb eines Jahres neu an ei-ner bestimmten Krankheit erkranken.

J

IodBaustein für die - Synthese von Schilddrüsenhormonen.

- Stabiles Iod Nicht radioaktives - Isotop des Iods

- Instabiles Iod radioaktives - Isotop des Iods (- Radioiod).

IodblockadeVorbeugende Maßnahme zur Verhinderung der Einlagerung von - radioaktivem Iod nach - Reaktorunfällen durch z. B. Kaliumiodid.

IodidChemisches Salz der Iodwasserstoffsäure, z. B. Kaliumiodid.

Iododerma tuberosum Hautveränderung, die bei langer Iodeinnahme bei Überem-pfindlichkeit gegenüber - Iod entsteht.

IonDurch überschüssige oder fehlende - Elektronen gelade-nes - Atom.

IonisationskammerGerät zur Messung - ionisierender Strahlung durch Mes-sung des elektrischen Stromes, der entsteht, wenn Strah-lung das Gas in der Kammer ionisiert.

286

lonendosisDie erzeugte Ladung je Masseneinheit, gemessen in Cou-lomb pro Kilogramm (C/kg).

Ionisierende Strahlung - Strahlung, die in der Lage ist - Ionen zu erzeugen.

Iridium-192Eines der 20 radioaktiven Iridium - Isotope.

IsotopeUnterscheiden sich in ihrem Kernaufbau durch die Anzahl ihrer - Neutronen.

ITRAPAbkürzung für Illicit Trafficking Radiation Detection Assess-ment Program, deutsch: Programm zur Aufdeckung des ille-galen Schmuggels und Handels mit radioaktiven Stoffen.

K

Kardiovaskuläre Erkrankung Herzerkrankung

Karzinogenkrebserregend

Kausalursächlich

KernbrennstoffSpaltbare Materialien in Form von - Uran als Metall, Le-gierung oder chemischer Verbindung (einschließlich - na-türlichen Urans), - Plutonium als Metall, Legierung oder chemischer Verbindung.

Kernkraftwerk (KKW) Ein mit - Kernreaktoren betriebenes Dampfkraftwerk; um-gangssprachlich Atomkraftwerk.

KernladungszahlAnzahl der - Protonen, positiven - Elementarladungen, in einem Atom.

KernreaktorAnlage zur Nutzung von Kernenergie.

287

KernspaltungSpaltung schwerer Atomkerne durch Beschuss mit - Neu-tronen in jeweils zwei mittelgroße Kerne, die radioaktiven Spaltprodukte, wobei große Energiemengen freigesetzt werden.

KernspurdetektorBestimmte Materialien, bei denen nach elektrochemischer Ätzung die Einschlagstellen der Alpha-Teilchen vergrößert dargestellt und elektronisch oder visuell mit dem Mikroskop gezählt werden können.

Kerntechnische Anlagen Kerntechnische Anlagen sind - Kernkraftwerk (KKW), -Wiederaufarbeitungsanlagen, militärische Anlagen zur Er-zeugung von - Kernwaffen, Zwischenlager, - Endlager und - Anreicherungsanlagen und - Forschungsreakto-ren.

KernumwandlungAlle nicht stabilen Atomkerne („Radionuklide") wandeln sich – teilweise in mehreren Stufen – unter Abgabe energierei-cher Strahlung in stabile Kerne um. Das jeweilige Produkt einer Kernumwandlung wird als Tochternuklid bezeichnet.

Die Erscheinung, dass ein Stoff ohne vorherige Anregung und von außen nicht beeinflussbar Strahlung aussendet, wird als Radioaktivität bezeichnet. Da der ursprüngliche Stoff dabei allmählich „verschwindet", prägte man dafür den Begriff – radioaktiver Zerfall. Manche schweren Kerne zei-gen mit einer gewissen Häufigkeit Spontanspaltungen; der Kern zerbricht dabei ohne äußere Einwirkung in zwei etwa gleich große Bruchstücke und es tritt Neutronenstrahlung auf.

Kettenreaktion Die durch - Absorption eines - Neutrons ausgelöste -Kernspaltung setzt ihrerseits wieder einige Neutronen frei, die weitere Spaltungen auslösen können.

KollektivGruppe von Personen mit ähnlichen Eigenschaften.

288

Kontamination, kontaminierte Verunreinigung von Flächen, Gegenständen oder Personen mit - radioaktiven Stoffen.

Kontaminationsmonitor Messgerät zum Aufspüren von - Kontaminationen.

Kontrollbereich- Strahlenschutzbereich in dem mit einer erhöhten -Strahlenexposition zu rechnen ist.

Kontrollgruppe Gruppe von Nicht-Erkrankten, die bezogen auf Risikofakto-ren mit den sog. - Fällen vergleichbar ist.

Korrelation- Statistische Bezeichnung für einen Zusammenhang.

KrebsinduktionHervorrufen einer Krebserkrankung.

L

Landesamt für Umwelt (LfU) Aufsichtsbehörde für Strahlenschutzbelange in Bayern.

LETLinear energy transfer, Energieübertragungsvermögen einer Strahlung pro Wegeinheit.

LinearbeschleunigerTeilchenbeschleuniger, in dem die Teilchen geradlinig, hochfrequenzgesteuert, energiezuführende elektrische Fel-der durchlaufen. Spezielle Konstruktionen für die Strahlen-therapie liefern Elektronenstrahlen und ultraharte Röntgen-strahlen.

LiquidatorPerson, die an der Beseitigung (Liquidation) der Folgen des Reaktorunfalls von Tschernobyl beteiligt war.

Locker ionisierendStrahlung, die bei Wechselwirkung mit Materie ihre Energie auf einem verhältnismäßig langen Weg an diese überträgt und daher relativ weit voneinander entfernte lonisationse-reignisse auslöst.

Lymphatisches System Lymphbahnen und Lymphdrüsen.

289

M

MassenzahlAnzahl der Kernbausteine, - Nukleonen, in einem Atom.

Metastabiler Zustand Scheinbar stabiler Zustand eines - Radionuklids mit be-schränkter Lebensdauer.

Moderiert, Moderator Ein Moderator bremst die schnellen bei einer Kernspaltung freigesetzten Neutronen ab. Der Moderator umgibt in der Regel den Brennstoff; er besteht z. B. aus Wasser oder Gra-phit.

MolekülChemische Verbindung aus mehreren - Atomen.

MonitorGerät zur Aufzeichnung und Messung von nuklearem oder anderem radioaktivem Material.

N

NaI-DetektorStandard- - detektor für - Gamma-Strahlung in der Nuklearmedizin.

NatriumperchloratHemmt die Aufnahme von - radioaktivem Iod in die Schilddrüse dadurch, dass es wie - Iod von der Schilddrü-se aufgenommen wird.

Natürliche Umgebungsstrahlung - Exposition

NeutronElektrisch neutrales Elementarteilchen. Kernbaustein (-Nukleon).

NeutronenstrahlungStrahlung in Form elektrisch neutraler Elementarteilchen (- Neutronen), die insbesondere bei der Kernspaltung frei-gesetzt werden.

290

NuklearbombeBeruht auf der Kernspaltung von - Uran-235 oder - Plu-tonium-239.

Nukleares Material Durch - Kernspaltung entstandene - radioaktive Stoffe, abzugrenzen von - anderem radioaktiven Material.

NuklearmedizinAnwendung radioaktiver Stoffe in der Medizin zu diagnosti-schen und therapeutischen Zwecken.

NuklearwaffenBezeichnung für Geschosse, Raketen, - Bomben, Minen mit Sprengladungen aus - Kernbrennstoff.

NukleonenKernbausteine: - Protonen und - Neutronen.

NuklidAtomkern

NuklididentifizierungNachweis und Messung von - Nukliden.

O

OrdnungszahlAnzahl der - Protonen, positiven Ladungen, in einem -Atom.

OrgandosisMittelwert der - Äquivalentdosis über ein Organ.

Ortsdosis- Äquivalentdosis gemessen an einem bestimmten Ort.

P

PartikelTeilchen

Peer reviewed journalsWissenschaftliche Zeitschriften, in denen nur Veröffentli-chungen erscheinen, die zuvor von mindestens einem Gut-achter kritisch bewertet wurden.

291

PersonendosisDie an einer repräsentativen Stelle der Körperoberfläche gemessene - Äquivalentdosis.

PETPositronen-Emisssions-Tomographie.Nuklearmedizinisches, diagnostisches Verfahren, bei dem Positronen aussendende radioaktive Substanzen, insbeson-dere der radioaktiv markierte Zucker (18F-FDG), vorwiegend zur Darstellung von vitalem Tumorgewebe verwendet wer-den.

PhotonQuant elektromagnetischer - Strahlung. Ein Photon ist die kleinste Strahlungsmenge. Sie kann jede beliebige Energie tragen, aber nur als ganzes erzeugt oder vernichtet werden.

Pilotstudieoder Machbarkeitsstudie untersucht, ob und unter welchen Bedingungen eine geplante aufwändige Untersuchung er-folgreich sein kann.

Plutonium-239Der Alpha-Strahler entsteht bei normalem Betrieb eines -Reaktors und kann in - Nuklearwaffen verwendet werden.

PositronAntiteilchen des - Elektrons mit einer positiven - Ele-mentarladung.

PrämenopausalZeit vor den Wechseljahren.

Primordiale Radionuklide Radionuklide, die bei der Bildung der irdischen Materie ent-standen und heute noch vorhanden sind.

PrognoseVorhersage einer zukünftigen Entwicklung, z. B. eines Krankheitsverlaufs.

ProtonElementarteilchen mit einer positiven Elementarladung. Kernbaustein (- Nukleon).

PuO2-UO2

Chemische Formel für Plutoniumdioxid und - Urandioxid.

292

R

RadikalKurzlebiges, extrem reaktionsfähiges Bruchstück eines -Moleküls.

Radioaktive Quelle bzw. Strahlungsquelle ist ein Gerät oder Material, das -ionisierende Strahlung aussenden kann.

- Umschlossene radioaktive Quellen sind ständig von einer allseitig dichten, festen, inaktiven Hülle umschlossen oder in festen inaktiven Stoffen ständig so eingebettet, dass bei üblicher betriebsmäßiger Beanspruchung ein Austritt ra-dioaktiver Stoffe mit Sicherheit verhindert wird.

- Offene radioaktive Quellen sind alle radioaktiven Quellen mit Ausnahme der umschlossenen.

Radioaktiver Zerfall Kernumwandlung unter Aussendung von - Strahlung. Das entstehende - Tochternuklid kann wiederum instabil, d.h. radioaktiv, sein.

Radioaktivität - Radioaktiver Zerfall

RadiocäsiumRadioaktives Cäsium - Isotop

RadioisotopRadioaktives Isotop

Radioisotopendetektor- Detektor zur Lokalisation, - Verifikation und - Nuklid-identifizierung.

Radiological Dispersion Device (RDD) Englischer Fachbegriff für sog. - „Schmutzige Bombe“.

RadionuklidInstabiler Kern, der sich durch Aussendung von - Strah-lung in einen stabileren Kern umwandelt.

RadioökologieLehre vom Verhalten radioaktiver Stoffe in der Umwelt.

RadiotoxizitätGiftigkeit einer Substanz auf Grund - radioaktiver Strah-lung.

293

Reaktor Kurzbezeichnung für - Kernreaktor.

Reaktorunfall - Strahlenunfall

Regionale Strahlenschutzzentren (RSZ) Von der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und Elek-trotechnik und der Berufsgenossenschaft der Chemischen Industrie eingerichtete Leitstellen zur optimalen Versorgung von - beruflich strahlenexponierten Personen bei einem -

Strahlenunfall.

Relatives Risiko Gibt den Faktor an, um den sich die Erkrankungshäufigkeit in einer - exponierten Gruppe von der in einer - Kon-trollgruppe unterscheidet.

REMPAN (Radiation Emergency Medical Preparedness and Assistance Network)Netzwerk von zur Zeit ca. 30 Kollaborationszentren der -WHO.

ResuspensionWiedereintritt von am Boden oder auf Pflanzen deponierten Luftschwebstoffen in die Atmosphäre, z. B. infolge Aufwir-belns durch den Wind.

RöntgenkontrastmittelSubstanz zur Verbesserung der röntgenologischen Darstel-lung von u. a. Körperräumen und Gefäßen.

RöntgenstrahlungElektromagnetische - ionisierende Strahlung, entstanden durch Beschleunigen oder Abbremsen geladener Teilchen (-

Bremsstrahlung) oder Elektronenübergänge in der Atom-hülle (charakteristische Röntgenstrahlung).

RöVVerordnung über den Schutz vor Schäden durch Röntgen-strahlen (Röntgenverordnung).

294

S

Schilddrüsendosis- Organdosis für die Schilddrüse.

Schmutzige Bombe Umgangssprachlicher Begriff für konventionellen Spreng-stoff, dem - radioaktive Stoffe beigefügt oder beigemengt sind (englisch: - Radiological Dispersion Device (RDD)).

SEARCH (System for Evaluation and Archiving of RadiationAccidents based on Case Histories).Datenbank zur Archivierung und Auswertung von - Strah-lenunfällen basierend auf Patientenkrankenakten.

SicherheitscontainmentSchutzhülle zum Einschluss der - Radioaktivität eines -Reaktors, die besonders hohe Anforderungen hinsichtlich Dichtheit und Stabilität erfüllt.

SievertEinheit der - effektiven Dosis und der - Äquivalentdosis.

Solider Tumor - Tumor eines Organs.

Somatischkörperlich

Somatisches StrahlenrisikoRisiko für eine körperliche Schädigung der von der Bestrah-lung betroffenen Person; zur Unterscheidung vom geneti-schen Risiko, das für die Schädigung der Folgegenerationen besteht.

Spaltprodukte- Nuklide, die bei der Spaltung schwerer - Atomkerne entstehen.

Spezifische Aktivität Verhältnis der - Aktivität eines - Radionuklids zur Masse des Materials, in dem das Radionuklid verteilt ist.

SpontanspaltungSpaltung schwerer Atomkerne in mehrere größere Bruch-stücke ohne äußere Einwirkungen.

295

SterilitätZustand der Unfruchtbarkeit.

Stochastische Strahleneffekte Hierbei führt eine Erhöhung der - Dosis zu einer höheren Eintrittswahrscheinlichkeit der Strahlenschäden. Eine -Schwellendosis gibt es hier nicht (vgl. - deterministische Strahleneffekte).

Strahlenbiologisch, Strahlenbiologie Wissenschaft, die die Wechselwirkungen zwischen -ionisierender Strahlung mit biologischer Materie untersucht.

StrahlendosisDosis an - ionisierender Strahlung.

StrahlenexpositionEinwirkung - ionisierender Strahlung auf den Menschen.

StrahlenschutzbereichGekennzeichneter Bereich, in dem mit erhöhter - Strah-lenexposition zu rechnen ist.

StrahlenunfallEreignisablauf, der für eine oder mehrere Personen eine -effektive Dosis von mehr als 50 Millisievert zur Folge haben kann.

StrahlungEnergieform, die sich als elektromagnetische Welle oder als Teilchenstrahlung ausbreitet.- direkte Strahlung: - Alpha- oder - Beta-Strahlung - indirekte Strahlung: - Photonen (- Gamma- und Rönt-

genstrahlung) oder - Neutronenstrahlung

Strahlungsquelle- Radioaktive Quelle

Strahlenschutzverordnung (StrlSchV)Verordnung über den Schutz vor Schäden durch die An-wendung radioaktiver Substanzen.

Strontium-90Der - Beta-Strahler entsteht bei der - Kernspaltung von - Uran.

296

Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG) Verordnung zur Vorsorge vor Schäden durch ionisierende Strahlung.

SzintigrammAbbildung der Radioaktivitätskonzentration im Körper.

T

TeilchenstrahlungAus geladenen (z. B. - Elektronen, - Protonen) oder un-geladenen Teilchen (z. B. Neutronen, Neutrinos) bestehen-de Strahlung (im Gegensatz zur elektromagnetischen Wel-lenstrahlung).

TeleradiologieDurchführung einer Röntgenuntersuchung, bei der der ver-antwortliche Arzt per (Bild-)Telefon mit den durchführenden Personen in Verbindung steht.

Thorium- Isotop 232 ist ein - Alpha-Strahler.

TNTAbkürzung für den wichtigen Explosivstoff Trinitrotoluol, dessen Sprengwirkung als Maß der Wirkung von - Nukle-arwaffen dient.

TochternuklidAus einer Kernumwandlung (- radioaktiver Zerfall) entste-hendes Nuklid.

Track-etch-Detektor (Kernspurdetektor) Bestimmte Materialien, bei denen nach elektrochemischer Ätzung die Einschlagstellen der Alpha-Teilchen vergrößert dargestellt und elektronisch oder visuell mit dem Mikroskop gezählt werden können.

TransferfaktorBeschreibt quantitativ den Übergang eines Radionuklids von einem Compartment in ein anderes (z. B. Boden - Pflanze, Futterpflanze - Milch usw.).

TriageEinteilen von Verletzten (unter Katastrophenbedingungen) nach zunehmender Verletzungsschwere.

297

TritiumRadioaktives - Isotop des Wasserstoffs, das - Beta-strahlung sehr niedriger Energie aussendet.

TschernobylforumSammelt seit 2003 im Auftrag der - Weltgesundheitsorga-nisation (WHO) wissenschaftliche Daten über die Auswir-kungen der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl auf die Ge-sundheit, Psyche, Wirtschaft und Umwelt

Tschernobyl-VerordnungDie Verordnung (EWG) Nr. 737/90 der Europäischen Kom-mission legt für die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse mit Ursprung in Drittländern Höchstwerte an - Radioaktivi-tät fest, deren Einhaltung von den Mitgliedsstaaten überprüft wird.

U

United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation (UNSCEAR) Deutsch: Komitee der Vereinten Nationen über die Wirkung von atomarer Strahlung, ein wissenschaftliches Komitee, das regelmäßig Berichte für die UN-Vollversammlung über die - Strahlenexposition und die Wirkungen - ionisieren-der Strahlung erstellt.

UptakeAufnahme eines - Radionuklids und dessen Anreicherung in einem bestimmten Organ.

UranUran kommt in der Natur (- Natururan) hauptsächlich in zwei - Isotopen vor: U-238 und U-235; es enthält weniger als 1 Prozent spaltbares Uran (U-235).

- Beim angereicherten Uran wird der Anteil an U-235 ge-genüber dem U-238 durch Anreicherung erhöht. Schwach angereichertes Uran, englisch: low-enriched uranium (LEU), enthält etwa 2-4 % U-235; es wird gewöhnlich in - Kernreaktoren eingesetzt. Hoch angereichertes, eng- lisch: high-enriched uranium (HEU), enthält mehr als 20 % U-235; es kann auch zur Herstellung von - Nuklearwaf-fen verwendet werden.

298

- Abgereichertes Uran, englisch: depleted uranium (DU), ist ein Rückstand, der bei der Erzeugung von - Brennstä-ben oder - Nuklearbomben entsteht. Es besteht zu fast 100 Prozent aus U-238. DU ist chemisch hochgiftig und schwach radioaktiv.

UrananreicherungsanlageEinrichtung, in der der Prozentsatz des spaltbaren - lso-tops - Uran-235 über den Gehalt von 0,72 % des - Na-tururans hinaus gesteigert wird.

Urandioxid (UO2)Häufigstes Uranoxid und chemisch sehr stabil. Der - Kern-brennstoff für die meisten - Reaktoren ist heute Uran-dioxid, früher wurde dagegen oft metallisches - Uran (U) verwendet.

V

VerifikationVorgehen, das durch Überprüfung die Richtigkeit bestätigt.

W

WeichteilgewebeRepräsentiert im Mittel die Eigenschaften aller Körpergewe-be mit Ausnahme der Knochen und Knorpel. Definition für die - Dosimetrie: Homogenes Material mit einem Masse-gehalt von 10,1 % Wasserstoff, 11,1 % Kohlenstoff, 2,6 % Stickstoff und 76,2 % Sauerstoff.

WellenstrahlungAus elektromagnetischen Wellen bestehende Strahlung (z. B. Licht, Radiowellen, Röntgen- und - Gammastrahlen).

WeltgesundheitsorganisationEnglisch: World Health Organization (WHO).

WiederaufarbeitungsanlageAnlage, in der die Stoffe - Uran und - Plutonium (in Form chemischer Verbindungen) aus verbrauchten -Brennelementen zurück gewonnen und die hoch radioakti-ven Abfälle abgetrennt werden.

299

Z

ZerfallsreiheFür ein - Radionuklid charakteristisches Zerfallsschema über wiederum instabile - Tochternuklide bis zu seinem letztlich stabilen Tochternuklid.

ZwischenlagerZeitlich befristete Lagerung bestrahlter - Brennelemente oder radioaktiver Abfälle vor ihrer - Endlagerung.

ZyklotronBeschleuniger für positiv geladene Teilchen (Protonen, Deuteronen, Alphateilchen). Die Teilchen laufen unter Einfluss eines magnetischen Feldes auf halbkreisförmigen Bahnen von zunehmendem Durchmesser und treten jeweils nach halbem Umlauf aus der einen in die andere Umlaufkammer über, wodurch sie beschleunigt werden und hohe kinetische Energien gewinnen. Zyklotrone werden in der Medizin zur Erzeugung kurzlebiger Radioisotope und zur Neutronentherapie eingesetzt.

300

8. Sachverzeichnis

AAbschirmung der Strahlung 12 Abwehr- und Reparaturmechanismen vielzelliger Systeme 44 Adaptive Reaktionen 43 Äquivalentdosis (H) 20 Ärztliche Stelle 216 Aktivitätskonzentration in Luft und Wasser, Höchstwerte 221 Akute Bestrahlung 37 Akute Strahlenkrankheit 51 Akute Strahlenkrankheiten nach einmaliger Ganzkörperexposi- tion 54 Akute Strahlenschäden 53 Alphastrahlung 6 Anpassungsreaktionen von Organismen 62 Apoptose 36 Atome 1

sphäre 135

BBestrahlung des roten Knochenmarks 45 Betastrahlung 6 Biologische Dosimetrie 39 Biologische Grundlagen 25 Bystander Effekte 41

CChronische Bestrahlung 37 Chronische Strahlenkrankheit 51 Comptoneffekt 11

DDekontaminationsmöglichkeiten 198 Dekorporationsmöglichkeiten 200 Deterministische Spätschäden 61, 62 Deterministische Strahlenwirkungen 50 Diagnostische Referenzwerte 215 Digitale Radiographie 117

DNS-Doppelstrangbrüche (DSB) 32

Ausbreitungsmodelle radioaktiver Stoffe in der Atmo-

Ausbreitung radioaktiver Stoffe in Gewässern 143

Computer-Tomographie (CT) 114, 119

Digitale Subtraktionsangiographie (DSA) 118

301

DNS-Schäden 32 Dosisleistung 18 Druckwasserreaktor 87

EEffektive Dosis (E) 15 Effekte durch chronische Strahlenexposition mit niedriger Dosisrate 61 Effektüberschneidungen 48 Energiedosis (D) 13 Energieerzeugung 82 Epidemiologische Studien (Fall-Kontroll-Studien) 185 Epidemiologische Studien an exponierten Populationen 69 Externe Strahlenexposition 155

FFaktorabhängigkeit der Strahlenwirkungen 52

GGammakamera 105 Gammastrahlung 6 Genetisch signifikante Dosis 16 Genetische Mutationen 34 Genetische Strahlenwirkungen 52 Genom-Instabilität 36 Gesetzliche Strahlenschutzvorschriften 204 Gray (Gy) 13 Grenzmonitoring 258

HHerz-Diagnostik, nuklearmedizinisch 110 Hiroshima und Nagasaki, Überlebende 66 Hormesis und kleine Dosen 76

I

Immissionsmesssystem für Radioaktivität (IfR) 254 Improvisierte Nuklearbombe 250 Industrie 92 Ingestion 150 Inhalation 151 Inkorporation 200 Integriertes Mess- und Informationssystem (IMIS) 252 Internationale Strahlenschutzkommission (ICRP) 67 Interne Strahlenexposition 149, 167 Interventionelle Radiologie 118

Immissions- und Emissionsüberwachung 219

302

Interzeption 140 Iodblockade zur Strahlenschutzvorsorge 240 Ionendosis (J) 13 Isotope 2

KKalibrierquellen 95 Katastrophenschutz 260 Katastrophenschutz, abwehrende Maßnahmen 262 Katastrophenschutz, vorbeugende Maßnahmen 261 Katastrophenschutz-Maßnahmen 260 Kernfusion 83 Kernspaltung 84 Kollektivdosis 16 Kontamination von Pflanzen 144 Kontamination von Tierprodukten 146 Konventionelle Röntgendiagnostik 118 Kosmische Strahlung 158 Kosmogene Radionuklide 163 Kritische Organe 17

LLetal-Dosen 36 Leukämie 45 Leukämie nach Tschernobylunfall 236 Lineares Energie-Übertragungsvermögen (LET) 20

MMechanismen der Zellschädigung 28 Medizinische Strahlenexposition 180 Messgrößen im Strahlenschutz 20 Missbildungen 60 Missbrauch von radioaktiven Stoffen 243

NNasse Deposition 139 Neutronen-Therapie 122 Nieren-Diagnostik, nuklearmedizinisch 111 Nuklearkriminalität 243 Nuklearterrorismus 248 Nuklide 2

PPaarbildung 11 Partikel- und Photonenstrahlung 100 Perkutane Strahlentherapie (Radioonkologie) 121

303

Personenkontamination 198 PET/CT-Systeme 114 Photoeffekt 11 Physiologische Abwehr- und Anpassungsreaktionen biologi- scher Systeme 73 Polymerisation von Kunststoffen 94 Positronen-Emissions-Tomographie (PET) 112 Projektions-Radiographie 118 Protonen-Therapie 122

RRadioaktive Abfälle 124 Radioaktive Abfälle, Behandlungsmethoden 125 Radioaktive Abfälle, Quellen 124 Radioaktive Stoffe, Verhalten in der Umwelt (Radioökologie) 130

Radioaktivität 2 Radioaktivitätsmessungen beim grenzüberschreitenden Ver-- kehr 257 Radiographie 93 Radioisotope, Herstellung 95 Radioisotope in der Wissenschaft 97 Radionuklide in der Medizin, Voraussetzungen 101 Radionuklide in der medizinischen Diagnostik 104 Radionuklide in der Therapie 115 Radionuklide in Nahrungsketten 144 Radioökologie 17 Radiopharmaka 106 Radiopharmazeutika 106 Radon 167 Radon-/Radium-Therapie 123 Rauchmelder 96 Reaktortypen 85 Reaktorunfälle 227 Reaktorunfall von Tschernobyl 228 Reaktorunfall von Tschernobyl, gesundheitliche Folgen 231 Reaktorunfälle vor Tschernobyl 227 Rechtfertigende Indikation 214 Regel- und Messeinrichtungen 96 Regionale Strahlenschutzzentren 264 Reichweite der Strahlung 9 Relative Biologische Wirksamkeit (RBW) 31 REMPAN-Netzwerk der WHO 265

Radioaktive Stoffe, Ausbreitung in der Atmosphäre 132

304

Reparatur von Strahlenschäden 33 Resuspension 142 Risikoanalyse 63 Risikoanalyse, Modifikationen 71 Risikoanalyse, sekundäre Faktoren 65 Röntgendiagnostik 116 Röntgendurchleuchtung 117 Röntgenfluoreszenz-Analyse 93Röntgenverordnung (RöV) 211

SSchilddrüsen-Diagnostik, nuklearmedizinisch 108 Schilddrüsenerkrankungen nach Tschernobylunfall 235Schmutzige Bombe 249 Siedewasserreaktor 87 Sievert (Sv) 14

Skelett-Diagnostik, nuklearmedizinisch 109 Somatische Spätschäden nach Strahlenexposition mit hoher

SPECT/CT-Systeme 115 Sterilisation und Konservierung 94

Stochastische Strahlenwirkungen 47 Strahlenarten 5 Strahlendosen nach Tschernobylunfall 234 Strahlendosisbegriffe 13 Strahleneinfangereignisse 38 Strahlenempfindliche Teile der Zelle 31 Strahlenexposition aus natürlichen Quellen 157 Strahlenexposition aus zivilisatorischen Quellen 171 Strahlenexposition, beruflich 184 Strahlenexposition des Flugpersonals 163 Strahlenexposition durch den Betrieb von Kernkraftwerken, Be- schäftigte 90 Strahlenexposition durch den Betrieb von Kernkraftwerken, Be- völkerung 90 Strahlenexposition durch den Reaktorunfall von Tscherno- byl 176 Strahlenexposition durch den Transport von radioaktiven Stof- fen (Castor) 178 Strahlenexposition durch nuklearmedizinische Untersuchun- gen 106, 107

Single-Photon-Emissions-Computer-Tomographie (SPECT) 112

Dosis/-rate 62

Stochastische Spätschäden 49,-63

305

Strahlenexposition durch Quellen in Industrie, Wissenschaft und Medizin 179 Strahlenexposition in der Nähe kerntechnischer Anlagen 171 Strahlenexposition in der Röntgendiagnostik 121 Strahlenexposition in Deutschland durch Tschernobyl 238 Strahleninduzierte Störungen des biologischen Gleich- gewichtes 43 Strahlenschäden der Haut, verstärkende 58Strahlenschäden der Keimdrüsen 58 Strahlenschäden des ungeborenen Lebens 59 Strahlenschäden, späte 61 Strahlenschutz und gesetzliche Vorschriften 194 Strahlenschutzverordnung (StrlSchV) 204 Strahlenschutz vor äußerer Exposition 194 Strahlenschutzvorsorgegesetz (StrVG) 218 Strahlenschutzvorsorgezentren 264 Strahlungs-Wichtungsfaktor 13 Szintigramm 105

TTeleradiologie 215 Terrestrische Strahlung 164 Tomographie-Verfahren, nuklearmedizinisch 112 Trockene Deposition 138 Tschernobyl-Verordnung 257

UÜberwachung der Umweltradioaktivität in Bayern 252 Umgang mit radioaktiven Stoffen, Genehmigungspflicht 223 Umgebungsüberwachung bayerischer Kernkraftwerke 256 Unterschiedliche Strahlenempfindlichkeiten im Körper 35

WWechselwirkung der Strahlung mit der Materie 9 Werkstoffprüfung 93 Wirkungsweise ionisierender Strahlen 25 Wirkungsweise ionisierender Strahlen auf vielzellige Orga- nismen 40

ZZellen als kleinste Funktionseinheiten 25 Zellerneuerungssysteme 53 Zwischen- und Endlager 126

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