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Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 Rechtfertigungsgründe (Wiederholung und Vertiefung) 1. Notwehr (32 StGB) 1) Notwehrlage Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr setzt an erster Stelle das Bestehen einer Notwehrlage voraus. Eine solche Notwehrlage wird begründet durch einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff eines anderen Menschen. aa) Angriff ist jede von einem Menschen ausgehende Verletzung (auch ein Unterlassen in Garanten- stellung) rechtlich geschützter Interessen (Leib, Leben, Freiheit, Ehre, Eigentum usw.). Die Gefährdung durch eine Sache (z.B. Tier) ist dann ein Angriff gemäß dieser Definition, wenn sie von einem Menschen gesteuert wird. Beispiel: A hetzt seinen Hund auf den Passanten P. Hier liegt ein Angriff des A auf P vor. bb) Gegenwärtig ist ein Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert (vgl. BGH NJW 1973, 255). Der Angriff dauert noch fort, wenn die Rechtsgutverletzung zwar schon ein- getreten ist, aber durch Gegenwehr oder sofortige Verfolgung möglicherweise noch rückgängig gemacht werden kann. Beispiel: Gegen den auf frischer Tat ertappten und verfolgten Dieb ist also noch Notwehr möglich. Bei Dauerdelikten (z.B. §§ 239, 123 StGB) dauert der Angriff solange fort, wie der rechtswidrige Zustand aufrechterhalten wird (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rz.15). Umstritten ist die Frage der Gegen- wärtigkeit eines Angriffs, wenn im Rahmen einer Nötigung gem. § 240 StGB (ebenso bei § 253 StGB) die Drohungshandlung beendet ist und nun nur noch der Nötigungserfolg andauert. Beispiel: A droht mittels eines Briefes dem B, ihn zu erschießen, wenn er ihm nicht binnen der nächsten Tage eine bestimmte Summe Geld überweist. B greift deshalb zur Selbst- initiative und sperrt den ihm bekannten A ein, bevor er sich auf den Weg macht, die Polizei zu informieren. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, in Fällen der vorliegenden Art sei die Gegenwärtigkeit des An- griffs zu bejahen, da der Angriff auf die Willensfreiheit solange noch nicht beendet ist, wie die Drohung aufrecht erhalten wird. Anmerkung: Das Problem dürfte dann jedoch meist in den Voraussetzungen der Notwehrhandlung (Erforderlichkeit und Geeignetheit des Verteidigungsmittels; Gebotensein etwaiger Trutzwehr) liegen. Die Gegenansicht vertritt den Standpunkt, die Drohung sei mit dem Aussprechen beendet; alles weitere stelle sich lediglich als schädliche Folge der Drohung dar. Dieser Ansicht zufolge ist in diesen Fällen nicht die Vorschrift des § 32 StGB einschlägig, sondern auf die Vorschrift des § 34 StGB zurückzugreifen (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, § 32 Rz. 16). cc) Rechtswidrig ist der Angriff, wenn er seinerseits nicht durch einen Erlaubnissatz gedeckt ist. Beachten Sie: Daraus folgt: Es gibt keine Notwehr gegen Notwehr. Fraglich ist, ob auch jeder unvorsätzliche, nicht fahrlässige oder schuldlose Angriff rechtswidrig ist. Die Rechtsprechung und ein Teil der Rechtslehre bejahen diese Frage, da es ihrer Ansicht nach nur auf die drohende Rechtsgutverletzung in Gestalt des Erfolgsunwerts ankommt (vgl. BGHSt 3, 217 [218]; RG8t 27,44 [45]). Im Gegensatz dazu stellt der überwiegende Teil der Rechtslehre entscheidend auf den Handlungsunwert ab, so daß jedenfalls ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten zu fordern sei mit der Folge, daß eine Rechtfertigung dann aber über die Vorschrift des § 34 StGB in Betracht kommt (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 RZ.21 m.w.N.). - 1 -

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Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 Rechtfertigungsgründe (Wiederholung und Vertiefung) 1. Notwehr (32 StGB) 1) Notwehrlage Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr setzt an erster Stelle das Bestehen einer Notwehrlage voraus. Eine solche Notwehrlage wird begründet durch einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff eines anderen Menschen. aa) Angriff ist jede von einem Menschen ausgehende Verletzung (auch ein Unterlassen in Garanten-stellung) rechtlich geschützter Interessen (Leib, Leben, Freiheit, Ehre, Eigentum usw.). Die Gefährdung durch eine Sache (z.B. Tier) ist dann ein Angriff gemäß dieser Definition, wenn sie von einem Menschen gesteuert wird. Beispiel: A hetzt seinen Hund auf den Passanten P. Hier liegt ein Angriff des A auf P vor. bb) Gegenwärtig ist ein Angriff, wenn er unmittelbar bevorsteht, gerade stattfindet oder noch fortdauert (vgl. BGH NJW 1973, 255). Der Angriff dauert noch fort, wenn die Rechtsgutverletzung zwar schon ein-getreten ist, aber durch Gegenwehr oder sofortige Verfolgung möglicherweise noch rückgängig gemacht werden kann. Beispiel: Gegen den auf frischer Tat ertappten und verfolgten Dieb ist also noch Notwehr möglich. Bei Dauerdelikten (z.B. §§ 239, 123 StGB) dauert der Angriff solange fort, wie der rechtswidrige Zustand aufrechterhalten wird (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rz.15). Umstritten ist die Frage der Gegen-wärtigkeit eines Angriffs, wenn im Rahmen einer Nötigung gem. § 240 StGB (ebenso bei § 253 StGB) die Drohungshandlung beendet ist und nun nur noch der Nötigungserfolg andauert. Beispiel: A droht mittels eines Briefes dem B, ihn zu erschießen, wenn er ihm nicht binnen der nächsten Tage eine bestimmte Summe Geld überweist. B greift deshalb zur Selbst- initiative und sperrt den ihm bekannten A ein, bevor er sich auf den Weg macht, die Polizei zu informieren. Zum Teil wird die Auffassung vertreten, in Fällen der vorliegenden Art sei die Gegenwärtigkeit des An-griffs zu bejahen, da der Angriff auf die Willensfreiheit solange noch nicht beendet ist, wie die Drohung aufrecht erhalten wird. Anmerkung: Das Problem dürfte dann jedoch meist in den Voraussetzungen der Notwehrhandlung (Erforderlichkeit und Geeignetheit des Verteidigungsmittels; Gebotensein etwaiger Trutzwehr) liegen. Die Gegenansicht vertritt den Standpunkt, die Drohung sei mit dem Aussprechen beendet; alles weitere stelle sich lediglich als schädliche Folge der Drohung dar. Dieser Ansicht zufolge ist in diesen Fällen nicht die Vorschrift des § 32 StGB einschlägig, sondern auf die Vorschrift des § 34 StGB zurückzugreifen (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, § 32 Rz. 16). cc) Rechtswidrig ist der Angriff, wenn er seinerseits nicht durch einen Erlaubnissatz gedeckt ist.

Beachten Sie: Daraus folgt: Es gibt keine Notwehr gegen Notwehr.

Fraglich ist, ob auch jeder unvorsätzliche, nicht fahrlässige oder schuldlose Angriff rechtswidrig ist. Die Rechtsprechung und ein Teil der Rechtslehre bejahen diese Frage, da es ihrer Ansicht nach nur auf die drohende Rechtsgutverletzung in Gestalt des Erfolgsunwerts ankommt (vgl. BGHSt 3, 217 [218]; RG8t 27,44 [45]). Im Gegensatz dazu stellt der überwiegende Teil der Rechtslehre entscheidend auf den Handlungsunwert ab, so daß jedenfalls ein objektiv sorgfaltswidriges Verhalten zu fordern sei mit der Folge, daß eine Rechtfertigung dann aber über die Vorschrift des § 34 StGB in Betracht kommt (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 RZ.21 m.w.N.). - 1 -

Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 Umstritten ist ferner die Frage der sog. "Präventiv-Notwehr". Beispiele: (1) Gastwirt G erfährt, daß einige Gäste in der Wirtschaft ihn zu später Stunde überfallen wollen, wenn die anderen Gäste gegangen sind. Er mischt ihnen deshalb ein schnell wirkendes Schlafmittel in das Bier.

(2) A kommt in eine Kneipe. Dort sieht er seinen Erzfeind B, von dem er weiß, daß dieser ihn umbringen will. Außerdem erkennt er, daß im Mantel des B eine Pistole verborgen ist. Er schießt daraufhin den B ohne Vorwarnung nieder, weil er bei Abwarten der Reaktion von B keine Möglichkeit mehr dazu gehabt hätte.

Nach herrschender Auffassung in der Rechtslehre ist die Konstruktion einer Präventiv-Notwehr abzu-lehnen (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rz.16). Eine Rechtfertigung kann nur über § 34 StGB erfolgen, wenn andere Abhilfe später nicht mehr möglich ist oder spätere Notwehrhandlungen den An-greifer wesentlich härter treffen würden, als die Präventivhandlung. Die Gegenansicht will in diesem Fall eine sog. "notwehrähnliche Lage" gem. § 32 StGB analog bejahen (vgl. BGHSt 14, 358 [361]; 19, 325 [332])

b) Notwehrhandlung Gegen einen Angriff im oben beschriebenen Sinne darf jede erforderliche Verteidigungsmaßnahme ergriffen werden. Eine Verteidigungsmaßnahme ist jede Handlung, die sich gegen die Rechtsgüter des Angreifers richtet oder gegen solche Rechtsgüter, die dieser für seinen Angriff einsetzt. Erforderlichkeit (= Geeignetheit und Angemessenheit) der Verteidigungshandlung ist gegeben, wenn dadurch eine sofortige Beendigung des Angriffs gewährleistet ist und von mehreren gleich wirksamen Abwehrmaßnahmen diejenige ausgewählt worden ist, die den Angreifer voraussichtlich am wenigsten schädigen wird (vgl. RG8t 55, 82 [83]; BGHSt 26, 256). Zu beachten ist dabei, daß sich der Angegriffene auf das Risiko einer unter Umständen unzureichenden Verteidigung nicht einzulassen braucht (vgl. RGSt 72,57 [58]).

Die Erforderlichkeit der Verteidigung richtet sich nach den konkreten Umständen, insbesondere nach der Intensität des Angriffs sowie nach den zur Verfügung stehenden Abwehrmitteln, nicht aber nach dem Wertverhältnis der beteiligten Rechtsgüter. Eine Rechtsgüterabwägung ist also bei der Prüfung der Erforderlichkeit einer bestimmten Notwehrhandlung jedenfalls grundsätzlich nicht vorzunehmen. Es gilt der Grundsatz: Angegriffenes Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen". Eine "schimpfliche Flucht" (turpis fuga) ist dem Angegriffenen auch dann nicht zumutbar, wenn er sich ausschließlich mit krassen Verteidigungsmitteln zur Wehr setzen kann.

c) Notwehrwille Aus der in § 32 StGB enthaltenen Wendung "um zu" (gleichlautend auch § 227 BGB) wird allgemein das Erfordernis eines Verteidigungswillens als subjektives Rechtfertigungselement der Notwehr gefolgert. Ist ein solcher Notwehrwille auf Seiten des Verteidigers vorhanden, so ist es unschädlich, wenn daneben noch andere Motive wie Zorn Hader, Rache vorliegen (vgl. RGSt 54, 196 [199]; BGH8t 3, 194 [198]; 5,245.

Beachten Sie: Insbesondere im Rahmen einverständlicher Raufereien wird es regelmäßig am erforderlichen Notwehrwillen fehlen, wenn nämlich Angriffs- und Verteidigungswillen ineinander übergehen (vgl. OLG Saarbrücken VRS 42, 419).

d) Einschränkungen des Notwehrrechts Das Gebotensein der Notwehrhandlung (vgl. §§ 32 I StGB, 227 I BGB) wird heute überwiegend als der dogmatisch zutreffende Anknüpfungspunkt für bestimmte sozialethisch begründete Einschränkungen des Notwehrrechts angesehen (vgl. Fischer, 56.Auflage, § 32, Rz.16,18). Es handelt sich dabei um Fälle, in denen sich die uneingeschränkte Ausübung eines an sich gegebenen Notwehrrechts Rechtsmißbrauch darstellen würde (vgl. Fischer, 56. Auflage, § 32 Rz.18; Schönke/Schröder/Lenckner, § 32 Rz.43 ff. m.w.N.). Da der in Notwehr Handelnde nicht allein sein bedrohtes Individualrechtsgut, sondern stets gleichzeitig auch die Rechtsordnung im ganzen verteidigt, ergeben sich Einschränkungen des Notwehrrechts immer dann, wenn entweder das Selbstschutzinteresse oder das Rechtsbewährungsinteresse erheblich gemin-dert ist.

aa) Das Selbstschutzinteresse ist dann erheblich gemindert, wenn ein krasses Mißverhältnis zwischen dem drohenden Angriffsschaden und dem voraussichtlichen Verteidigungsschaden besteht.

Beispiel: Der gelähmte und an den Rollstuhl gefesselte Landwirt (L) darf den Dieb, der den Kirschbaum plündert, nicht mit einer Schußwaffe vom Baum herunterschießen, auch wenn dies die einzige Möglichkeit ist, den Diebstahl zu verhindern. - 2 -

Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 bb) Bei der sog. Unfugabwehr wird es regelmäßig schon an einem Angriff im Sinne der §§ 32 StGB, 227 BGB fehlen.

Beispiele: Drängeln in der Warteschlange; Rempeln beim Tanzen, Meckereien im Fußballstadion Selbst wenn in diesen Fällen eine Angriff im obigen Sinne bejaht wird, stellt sich jede Abwehr, die über eine wörtliche Zurückweisung hinausgeht, wegen der Unerheblichkeit des Vorganges als nicht geboten dar. cc) Ein Fall fehlenden Rechtsbewährungsinteresses ist die sog. Notwehrprovokation. Von einer Not-wehrprovokation spricht man, wenn der spätere Verteidiger durch sein eigenes Vorverhalten den Angriff zumindest mitverursacht hat. Im Näheren ist zwischen zwei unterschiedlichen Fallgestaltungen zu unter-scheiden: (1) Absichtsprovokation Bei der sog. Absichtsprovokation kommt es dem "Verteidiger" gerade darauf an, den zuvor provozierten Angreifer unter dem Deckmantel der Notwehr verletzen zu können.

Beispiel: A hänselt den bulligen Metzgergesellen B solange, bis dieser - wie von A erhofft - sich auf ihn stürzt. A zieht das vorsorglich mitgeführte Messer und sticht B nieder. Die Rechtsprechung schließt in diesen Fällen das Notwehrrecht gänzlich aus, weil es dem Provokateur an dem Verteidigungswillen fehle; in Wahrheit handele es sich um einen Angriffswillen (vgl. BGH, MDR 1954, 335). Im Schrifttum wird dem Provokateur in Fällen der Absichtsprovokation überwiegend ein eingeschränktes Notwehrrecht zugebilligt. Der Verteidiger müsse jedoch unter Hinnahme leichterer Verletzungen zunächst ausweichen und dürfe erst in auswegloser Lage zur Trutzwehr übergehen. Zum Teil wird eine Lösung über die Rechtsfigur der a.i.i.c. (actio illicita in causa) befürwortet. Der Provo-kateur kann danach zwar nicht gezwungen werden, den Angriff zu erdulden, macht sich aber durch sein Vorverhalten zum Werkzeug seiner selbst (vgl. Lenckner, GA 1961, 300 ff.). Die Abwehr des Angriffs ist danach zwar gerechtfertigt, der Verteidiger ist jedoch wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tat zu be-strafen, da seine Rechtfertigung durch die Anknüpfung an sein Vorverhalten überwunden wird. Anmerkung: Dieser Lösungsansatz über die Anknüpfung an die Verantwortlichkeit aus dem Vorverhalten entspricht dem Gedanken der a.l.i.c ("actio libera in causa"). (2) Mitverschuldete Notwehrlage Häufiger sind die Fälle der zwar nicht absichtlich herbeigeführten, aber doch zumindest mitverschuldeten Notwehrlage.

Beispiele: Der vom Ehemann "auf frischer Tat" ertappte Ehebrecher wird von diesem mit gefährlichen Schlagwerkzeugen angegriffen.

Der "Spanner" (vornehm: Voyeur) S beobachtet den A und die B beim Liebes- spiel auf einer Parkbank; A entdeckt den S und geht auf ihn los. Die Frage, was unter "Mitverschulden" in diesem Sinne zu verstehen ist, wird nicht einheitlich beant-wortet (vgl. die Entwicklung der Rechtsprechung und den Meinungsstand bei Schönke/Schröder/Lenckner, § 32, Rz. 59 ff.). Zunächst wird zu fordern sein, daß das den Angriff auslösende Verhalten des Täters ein rechtlich und sozialethisch zu mißbilligendes Verhalten gewesen sein muß. Teilweise wird auch ver-treten, daß nur ein rechtswidriges, verbotenes oder zumindest verwerfliches Tun die Verteidigungs-befugnisse des Täters zu beschränken vermag (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, § 32, Rz.59). Weiterhin muß ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Vorverhalten und Angriff bestehen, wobei der Angriff sowohl hinsichtlich seiner Art, als auch seiner Intensität als adäquate Folge der von dem Täter begangenen Pflichtverletzung erscheinen muß (vgl. BGHSt 27,338; Schönke/Schröder/-Lenckner, § 32, Rz.59). Liegt danach eine mitverschuldete Notwehrlage vor, knüpft die herrschende Auffassung an eine Notwehrhandlung des "fahrlässigen Provokateurs" die nachfolgenden Einschränkungen: Der Vertei-diger muß dem Angriff zunächst nach Möglichkeit ausweichen oder, wenn dies nicht möglich ist, sich mit Defensivmaßnahmen begnügen. Erst nach Erfolglosigkeit von Defensivmaßnahmen ist ein Übergang zu (aktiver) Trutzwehr zulässig (vgl. BGHSt 26, 256; vgl. auch Schönke/ Schröder/Lenckner,§ 32, Rz.59ff). - 3 -

Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 dd) Weitere Einschränkungen des Notwehrrechts ergeben sich, wenn

(1) der Angriff von erkennbar Schuldlosen (Kinder, Kranke, Irrende) ausgeht, (2) eine enge persönliche Beziehung zu dem Angreifer besteht (z.B. Ehegatte).

2. Rechtfertigender Notstand a) Rechtfertigender Notstand gern. § 34 StGB Der allgemeine rechtfertigende Notstand ist von der Rechtsprechung zunächst als sog. übergesetzlicher Notstand aus dem Prinzip der Güter- und Pflichtenkollision entwickelt worden (vgl. RGSt 61, 242; 62, 137). Dieser zunächst ungeschriebene Rechtfertigungstatbestand erlaubt ausnahmsweise Eingriffe in ein Rechtsgut, um ein anderes höherwertiges Rechtsgut zu schützen. Nunmehr hat der rechtfertigende Notstand durch § 34 StGB seine positiv-rechtliche Anerkennung gefunden. Eine Notstandslage liegt nach dem Gesetz vor, wenn Gefahren für die in § 34 StGB ausdrücklich genannten oder für andere Rechtsgüter nur durch einen Eingriff in ein fremdes Rechtsgut oder in fremde Interessen abgewendet werden kann.

aa) Eine Gefahr ist ein Zustand, dessen Weiterentwicklung den Eintritt oder die Intensivierung eines Schadens ernstlich befürchten läßt (vgl. BGHSt 18, 271). Gefahr in diesem Sinne kann auch eine Dauer-gefahr sein, d. h. ein gefahrdrohender Zustand von einiger Dauer, der jederzeit in eine Rechtsgutver-letzung umschlagen kann.

Beispiele: Der Hang eines Alkoholikers, nach jeder Berauschung seine Ehefrau zu mißhandeln; Gefährlichkeit eines unberechenbar Geisteskranken. bb) Bezüglich der Gegenwärtigkeit und der Erforderlichkeit kann auf die Definitionen bei der Notwehr (siehe vorstehend) verwiesen werden. Eine Dauergefahr gilt dabei als gegenwärtig, wenn sie so akut ist, daß sie nur durch unverzügliches Handeln wirksam beseitigt werden kann (Schönke/Schröder/Lenckner, § 34 Rz.17). cc) Der Schwerpunkt einer Notstandsprüfung liegt zum einen auf der Interessenabwägung und zum anderen auf der Beurteilung der Angemessenheit der Notstandshandlung. (1) Grundlage der Güter- und Interessenabwägung ist die konkrete Lage des Einzelfalle; zu berück-sichtigen ist dabei die Gesamtheit der widerstreitenden Gesichtspunkte. Beispiele: Art, Ursprung, Intensität und Nähe der Gefahr, Rangverhältnis der betroffenen Rechts- güter, Unersetzlichkeit bedrohter Werte. Zu beachten ist jedoch, daß allein quantitative Gesichtspunkte nicht ausreichen. Die Rechtfertigung einer Tat nach § 34 StGB kommt nur dann in Betracht, wenn die Wertigkeit ein eindeutiges Übergewicht des zu schützen- den Rechtsgutes ergibt. Beachten!: Die Tötung eines Menschen durch positives Tun kann nach herrschender Meinung niemals über § 34 StGB gerechtfertigt sein. In den nachfolgend aufgeführten Schulbeispielen kommt daher lediglich ein übergesetzlicher entschuldigender Notstand in Betracht, soweit nicht bereits § 35 StGB als Entschuldi-gungsgrund eingreift. Beispiele: 1.) Ein Schiffbrüchiger stößt einen anderen Schiffbrüchigen von der einzigen Planke, die nur einen Menschen tragen kann; 2.) Als auf einer Bergtour A und B abstürzen, aber noch am Seil hängen, das zu reißen droht, kappt C das Seilende, an dem A hängt und rettet so den B; 3.) Der U-Boot-Kommandant läßt nach einem Treffer die Schotten nach achtern schließen, um das Boot und damit den größten Teil der Besatzung zu retten; die im hinteren Bootsteil eingeschlossenen Matrosen ertrinken; 4.) Der Bahnwärter lenkt einen Zug, der auf eine Schulklasse zurast, auf ein Nebengleis um, auf dem zwei Arbeiter stehen, die von dem Zug erfaßt werden. - 4 -

Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 5.) Der mittlerweile weltberühmte Mick und Muck-Fall: Aus einem brennenden Dreifamilienhaus schauen die Kleinkinder und Zwillinge Mick und Muck heraus. Mutter M kann jedoch aufgrund der tatsächlichen Umstände faktisch nur eines der Geschwister retten. Rettet sie Mick, verbrennt der Muck; rettet sie den Muck, verbrennt die Mick. Rettet sie indes keines der Kinder, haben beide Geschwister großes Pech gehabt. Als Mutter trifft sie ohne Zweifel für beide Kinder eine Garantenpflicht, diese zu retten. Rettet sie ein Kind, verletzt sie als Unterlassungstäterin vorsätzlich ihre Garantenpflicht gegenüber dem anderen Kind, so daß sie letztlich wegen Totschlags durch Unterlassung strafbar wäre. (2) Eine Notstandshandlung weist die erforderliche Angemessenheit auf, wenn die obersten Wertvor-stellungen und Prinzipien der Gesamtrechtsordnung ergeben, daß es sachgerecht und billigenswert war, die Notstandslage durch Beeinträchtigung des kollidierenden Rechtsgutes zu überwinden. Bei der nach sozialethischen Gesichtspunkten vorzunehmenden Angemessenheitsprüfung sind insbesondere von Bedeutung: das Endziel des Handelnden, besondere Gefahrtragungspflichten (Polizisten, Feuerwehr- leute, Soldaten, Seeleute), die Größe der Rettungschancen (je weniger wahrscheinlich der Erfolg der Rettungshandlung, desto mehr Zurückhaltung ist beim Eingriff in fremde Rechtssphären geboten), das Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen (z.B. Unzulässig- keit einer erzwungenen Blutentnahme), sowie eine eventuelle eigene Verursachung der Gefahr. Beispiele:

Das Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit zur Rettung eines Schwerverletzten ist nach § 34 StGB gerechtfertigt (vgl. OLG Hamm 1977, 1892). Der geistig gestörte B hat einen akuten Anfall und wird für andere zur Gefahr; das vorübergehende Einsperren des B ist gerechtfertigt. Gegenbeispiele:

Die F trägt einen mehrere zehntausend Euro teuren Pelz; als es plötzlich zu regnen beginnt, entreißt sie einer ärmlich gekleideten Passantin den Regenschirm, um ihren wertvollen Mantel zu schützen; T wird unter Androhung von Lebensgefahr dazu gezwungen, eine fremde Sache zu zerstören (sog. Nöti-gungsnotstand, der nur nach § 35 StGB entschuldbar ist). Im Rahmen des rechtfertigenden Notstandes ist - wie auch bei der Notwehr - ein subjektives Element, der Rettungswille, erforderlich. b) Defensivnotstand gem. § 228 BGB Auch der zivilrechtlich geregelte Defensivnotstand (Verteidigungsnotstand) ist eine sondergesetzliche Ausprägung des rechtfertigenden Notstandes. Die Norm beruht auf dem Gedanken, daß das Schutz-interesse des Bedrohten höher zu bewerten ist, als das Interesse des Eigentümers an einer Sache, die andere gefährdet. Die Vorschrift des § 228 BGB erlaubt die Beschädigung oder Zerstörung einer frem-den (in analoger Anwendung auch herrenlosen) Sache, um eine von dieser selbst ausgehenden drohenden Gefahr abzuwenden. Keine von einer Sache ausgehende Gefahr liegt daher vor, wenn diese - wie oben dargelegt - von einem Menschen als Waffe (Angriffsmittel) eingesetzt wird. Beispiel: der aufgehetzte Hund (siehe oben).

Art und Ausmaß der Abwehr müssen sich als erforderlich darstellen; insoweit kann auf die obigen Ausführungen zu den §§ 32, 34 StGB verwiesen werden. Im Rahmen des § 228 BGB braucht grund-sätzlich keine Güterabwägung zu erfolgen, jedoch darf der angerichtete Schaden zu dem drohenden Schaden nicht außer Verhältnis stehen. Bei einem krassen Mißverhältnis scheidet also die Möglichkeit einer Sachwehr aus. Insoweit ist eine Angemessenheitsprüfung vorzunehmen. Wie bei §§ 32, 34 StGB ist auch beim Defensivnotstand das subjektive Rechtfertigungselement erforderlich. Beispiele: Das ansonsten handzahme, aber nunmehr tollwütige Killer-Eichhörnchen des B greift den A an. Dieser schießt es nach langem Kampf und zähem Ringen nieder; A ist nach § 228 BGB gerechtfertigt. Das Haus des B brennt und das Feuer droht auf das Haus des T überzugreifen. T reißt daher die noch nicht brennenden Teile des Hauses des B ein. T kann sich auf § 228 BGB berufen. - 5 -

Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 c) Offensivnotstand gem. § 904 BGB Während der Defensivnotstand nach § 228 BGB mehr eine notwehrähnliche Situation voraussetzt, ist der in § 904 BGB geregelte Offensivnotstand (Aggressivnotstand) ein Ausdruck des Güterabwägungs-gedankens. Wie § 228 BGB erlaubt § 904 BGB unter bestimmten Voraussetzungen einen Eingriff in fremdes Eigen-tum. Das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr ist nach den gleichen Grundsätzen zu beurteilen, die auch im Falle des § 34 StGB gelten. Insoweit besteht jedoch ein gradueller Unterschied zwischen Offensiv- und Defensivnotstand; bei letzterem ist bereits eine drohende Gefahr ausreichend. Anmerkung:

Der Begriff "Notwendigkeit" der Abwendung in § 904 BGB ist gleichbedeutend mit dem Begriff der "Erforderlichkeit" der Abwendung im Sinne des § 228 BGB. Der Kernpunkt der Prüfung bei § 904 BGB ist die Güter- und Interessenabwägung (Wegfall des Erfolgsunrechts durch Rettung des höherwertigen Rechtsgutes); der sonst drohende Schaden muß daher gegenüber dem durch die Einwirkung auf die Sache entstehenden Schaden übermäßig schwer wiegen. Beispiele: Um einen Schwerkranken in abgelegener Gegend ins Krankenhaus zu verbringen, wird mangels anderer Möglichkeiten (z.B. Herbeirufen eines Taxis) ein geparktes fremdes Fahrzeug aufgebrochen und benutzt (§ 248b StGB). Ein im Hochgebirge Verirrter sucht vor einem Unwetter Schutz in einer Berghütte und bricht in diese zu diesem Zweck ein (§§ 123, 303 StGB). Als subjektives Merkmal verlangt auch die Vorschrift des § 904 BGB ein subjektives Rechtfertigungs-element, hier in Form eines Rettungswillens. Anmerkung:

Obwohl der Täter im Falle des § 904 BGB gerechtfertigt ist, und zwar sowohl in strafrechtlicher als auch zivilrechtlicher Hinsicht, bleibt er dem Eigentümer der beschädigten oder zerstörten Sache zum Schadensersatz gem. § 904 BGB verpflichtet. 3. Rechtfertigende Einwilligung -> siehe gesonderte Arbeitsblätter

4. Rechtfertigende Pflichtenkollision Von einer Pflichtenkollision spricht man beim Zusammentreffen zweier Rechtspflichten, wobei der Täter nur einer von bei den nachkommen kann und die daraus resultierende Pflichtverletzung eine mit Strafe bedrohte Handlung oder Unterlassung darstellt (RGSt 59, 404 [406 f.]). Die Voraussetzungen und die rechtliche Behandlung der Pflichtenkollision sind sehr umstritten. Dabei sind drei Gruppen der Pflichten kollision zu unterscheiden: a) Zusammentreffen einer Handlungspflicht mit einer Unterlassungspflicht. Beispiel: Ein Arzt unterläßt es, den "hoffnungslosen Fall" von der Herz-Lungen-Maschine abzu- setzen (Unterlassungspflicht) und einen anderen Patienten mit hohen Überlebens- chancen anzuschließen (Handlungspflicht). b) Zusammentreffen zweier Handlungspflichten. Beispiel: Zwei Menschen drohen gleichzeitig zu ertrinken; der Rettungsschwimmer kann nur einen von ihnen retten. c) Zusammentreffen zweier Unterlassungspflichten. Beispiel: Ein Kraftfahrer kann jeweils nur unter Gefährdung anderer entweder bremsen oder einem Hindernis ausweichen. - 6 -

Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 Die Behandlung vorstehender Fallkonstellationen entscheidet sich danach, ob ein qualitativer Unter-schied der kollidierenden Pflichten besteht. Die Abwägung der Pflichten gegeneinander erfolgt dabei nach den gleichen Grundsätzen, wie beim rechtfertigenden Notstand (§ 34 StGB). Entscheidend ist daher zunächst der Rangunterschied der Rechtsgüter. Der auf das höhere Rechtsgut bezogenen Pflicht ist daher nachzukommen (siehe auch Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem §§ 32 ff., Rz.73). Sind die kollidierenden Pflichten hingegen gleichrangig, so ist wie folgt zu differenzieren:

Bei Zusammentreffen einer Handlungs- und Unterlassungspflicht (siehe oben Beispiel unter a) ist vor-rangig der Unterlassungspflicht nachzukommen. Das Untätigbleiben des Arztes ist daher gerechtfertigt.

Bei Zusammentreffen jeweils zweier Handlungs- bzw. Unterlassungspflichten steht nach wohl über-wiegender Ansicht dem Täter ein Wahlrecht zu (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem §§ 32 ff. Rz.73 ff.) 5. Festnahmerecht Die Vorschrift des § 127 Abs. I StPO gestattet jedermann, einen auf frischer Tat betroffenen Straftäter vorläufig festzunehmen. Gedeckt durch § 127 I StPO sind die Entziehung der persönlichen Freiheit sowie geringe körperliche Beeinträchtigungen, die der Durchsetzung dieses Ziels dienen. Beispiele: Wegnehmen des Zündschlüssels, Festhalten, Fesseln, Einsperren. Ernsthafte Körperverletzungen sind jedoch durch § 127 I StPO nicht gedeckt; dies gilt insbesondere im Hinblick auf einen Schußwaffengebrauch. Wird aber gegen einen auf frischer Tat ertappten oder verfolg-ten Täter der Einsatz massiver Gewalt notwendig, so wird häufig § 32 StGB einschlägig sein.

Streitig ist nach wie vor, welcher Bedeutungsgehalt der Rechtfertigungsvoraussetzung "auf frischer Tat" beizumessen ist. Die in der Prozeßrechtsliteratur und Rechtsprechung herrschende Meinung läßt es genügen, wenn nach pflichtgemäßer Prüfung ein dringender Tatverdacht besteht (vgl. BGH NJW 1981, 745; BayObLG NJW 1986, 52). Demgegenüber wird - überwiegend im materiell-rechtlichen Schrifttum - die Auffassung vertreten, "Tat" i.S.d. § 127 StPO bedeute eine tatsächlich vorliegende zumindest objek-tive Tatbestandsverwirklichung einer Strafnorm (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem §§ 32 ff., Rz.82; Meyer-Goßner, StPO, 48. Auflage, § 127 Rz 4). 6. Züchtigungsrecht Das Bestehen eines Züchtigungsrechts wird von einem Teil der Rechtslehre im Hinblick auf Art. 2 GG ab-gelehnt, da der Gesetzesvorbehalt des Art.2 GG ein formelles Gesetz voraussetze (vgl. Schönke/ Schröder/Eser, § 223 Rz. 20 m.w.N.). Die Rechtsprechung und wohl noch insgesamt herrschende Auffas-sung (vgl. BGHSt 12, 62) hält demgegenüber weiterhin an diesem Rechtfertigungsgrund fest. Für die Eltern folgt das Züchtigungsrecht aus dem in §§ 1626, 1631 BGB normierten Sorge- und Erziehungsrecht. Voraussetzung der Befugnis maßvoller Züchtigung ist danach:

- ein hinreichender Züchtigungsanlaß, - eine Handlung zur objektiven Erreichung des Erziehungszweckes, - die Beachtung der Erforderlichkeit und Angemessenheit, - der Erziehungswille und - im Falle der Züchtigung durch Dritte die Abwesenheit beider Elternteile.

Soweit früher den Lehrern gewohnheitsrechtlich ein Züchtigungsrecht zustand, ist dies zwischenzeitlich im Wege eines Anschauungswandels zumindest in den Bundesländern entfallen, in denen körperliche Züchti-gung durch Lehrer im Wege formellen Gesetzes für unzulässig erklärt worden ist (Schönke/Schröder/-Eser, 27.Auflage, § 223 Rz.19, zum Ganzen: Tröndle/Fischer, StGB, 43. Aufl., § 223, Rn. 17).

7. Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) Die Wahrnehmung berechtigter Interessen stellt den wichtigsten Anwendungsfall der Vorschrift des § 193 StGB dar. Berechtigte Interessen im Sinne dieser Vorschrift sind Interessen des Einzelnen oder der Allgemeinheit, solange sie nicht den guten Sitten zuwiderlaufen. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen greift als Rechtfertigungsgrund ein, wenn neben dem verfolgten Interesse auch die Art ihrer Wahrnehmung nach den konkreten Umständen berechtigt ist und der Täter subjektiv zum Zwecke der Wahrnehmung dieser Interessen gehandelt hat (subjektives Rechtfertigungselement). Das von dem Täter gewählte Mittel muß dabei zur Erreichung des berechtigten Zwecks als angemessen erscheinen. - 7 -

Dr. jur. Gülpen Arbeitsgemeinschaft Strafrecht AG - Nr. 56 SS 2009 8. Sozialadäquanz Von Sozialadäquanz spricht man, wenn sich eine an sich tatbestandliche Handlung im Rahmen der Sozialordnung hält.

Beispiele: Gefährdungshandlungen im Bereich von Technik, Verkehr oder Sport.

Die soziale Adäquanz eines bestimmten Verhaltens wird im Schrifttum teilweise als eigenständiger Rechtfertigungsgrund angesehen (vgl. Schmidthäuser, Strafrecht AT, 2.Auflage, S. 298ff.), nach anderer Auffassung entfällt in einem solchen Fall schon der Tatbestand (vgl. BGHSt 23, 228; Schönke/ Schröder/Lenckner, 27.Auflage, Vorbem §§ 32 ff. Rz.107a). Festzuhalten ist, daß sich die Lehre von der Sozialadäquanz bislang noch nicht hat durchsetzen können. Teilweise wird diese Rechtsfigur auch als überflüssig abgelehnt (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, Vorbem §§ 32ft RZ.1 07a).

B. Die sog. actio Iibera in causa (Prüfungsebene: Schuld)

Steht die Schuldunfähigkeit des Täters bei Begehung der Tat - entscheidend ist der Zeitpunkt des Handelns, nicht der des Erfolgseintritts - nach Maßgabe des § 20 StGB fest, so kann eine Strafbarkeit des Täters nach den Grundsätzen der "actio libera in causa" (a.l.i.c.) oder nach der Vorschrift des § 323a StGB (Auffangtatbestand) in Betracht kommen. Die Grundsätze der "actio libera in causa" sind zwar gesetzlich nicht geregelt, stellen aber eine gewohnheitsrechtlich anerkannte Ausnahme von der vorstehenden Regelung des § 20 StGB dar, wonach sich die Frage der Schuldfähigkeit auf den Zeit-punkt der Vornahme der tatbestandsmäßigen Handlung bezieht.

Unter dem Begriff "actio libera in causa“ ist das verantwortliche Ingangsetzen eines Verhaltens zu verstehen, das erst im Zustand der Schuldunfähigkeit zur Tatbestandsverwirklichung führt, wobei der Täter sich zuvor selbst vorwertbar, das heißt vorsätzlich oder fahrlässig in diesen Zustand versetzt hat (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, 27. Auflage, § 20 Rz. 33 ff jeweils m.w.N.).

Anmerkung: Die vorsätzliche "actio libera in causa" weist insoweit eine gewisse Ähnlichkeit zur mittelbaren Täterschaft auf; der Täter benutzt sich hier gleichsam selbst als schuldlos handelndes Werk-zeug.

aa) Vorsätzliche actio libera in causa Eine vorsätzliche "actio libera in causa" ist gegeben, wenn der Täter vorsätzlich (= zumindest bedingt vorsätzlich) die eigene Schuldunfähigkeit herbeiführt und in diesem Zustand dann auch vorsätzlich die-jenige tatbestandsmäßige Handlung begeht, auf die sich zuvor (im schuldfähigen, wenn auch ggf. nur vermindert schuldfähigen Zustand) sein Vorsatz bereits bezogen hatte (so auch BGHSt 2, 14 [17]; 21, 381; Schönke/Schröder/Lenckner, 27.Auflage, § 20, Rz 36 m.w.N.). Beachte: Der Vorsatz des Täters muß sich daher sowohl auf die Herbeiführung des Defektzustandes als auch auf die Begehung der Tatbestands mäßigen Handlung richten (sog. "Doppel- vorsatz"). Erforderlich ist dabei immer, daß sich der Vorsatz auf die Begehung eines bestimmten oder zumindest der Art nach bestimmten Delikts bezieht (vgl. BGHSt 2, 14). Beispiele: Der Täter versetzt sich vorsätzlich in einen Rausch, um nach dadurch bewirkter Ausschaltung seiner Hemmungen einen bestimmten Diebstahl zu begehen (vgl. schon RGSt 73, 177 [178]). Der Täter faßt den Vorsatz, im berauschten Zustand irgendeine Frau zu vergewaltigen, was auch geschieht (BGHSt 21, 381 [383]). Nicht ausreichend ist daher insoweit die Kenntnis des Täters von seiner (generellen) Neigung zu Gewalttätigkeiten. Die Bestrafung des Täters richtet sich bei vorsätzlicher actio libera in causa nach der im Zustand der Schuldunfähigkeit begangenen Tat. In den vorstehenden Beispielen erfolgt daher eine Bestrafung des Täters nach § 242 StGB bzw. § 177 StGB und nicht nach dem jeweils subsidiären Auffangtatbestand des § 323a StGB. Bei einem Vorsatzwechsel nach Eintritt des Rauschzustandes greift für den neu gefaßten Vorsatz die Vorschrift des § 323a StGB ein. Dasselbe gilt in den Fällen, in denen sich sonstige Abweichungen von dem ursprünglich Vorgestellten ergeben und sich diese Abweichungen als wesentliche Abweichung vom Kausalverlauf darstellen.

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Beispiele: (1) Der Täter will eine ihm lästige Person töten. Nachdem er sich berauscht hat, beginnt er, seinen ursprünglich gefaßten Vorsatz in die Tat umzusetzen. Nachdem er bereits schwere Mißhandlungen vorgenommen hat, läßt er das um Gnade flehende Opfer leben und entschließt sich nunmehr, es wenigstens - anstatt zu töten - auszurauben. (2) Der Täter will eine bestimmte Frau vergewaltigen und versetzt sich hierzu vorsätzlich in einen Rausch. Im Rauschzustand vergewaltigt er schließlich eine andere Frau, die er für das zunächst aus-gewählte Opfer hielt. In vorstehendem Beispielsfall (1) ist der Täter von der versuchten Tötung (§§ 212 I, 22, 23 StGB) straf-befreiend nach § 24 Abs. I 1.AIt. StGB zurückgetreten. Der daraufhin neu gefaßte und in die Tat um-gesetzte Raubvorsatz führt zu einer Bestrafung nach § 323a StGB, da der Raubvorsatz erst im Zustand der Schuldunfähigkeit gefaßt wurde. Die rechtliche Beurteilung des Beispielsfalles (2) wird hingegen unterschiedlich vorgenommen. Zum Teil wird angenommen, daß Fälle des "error in persona" im Zuge der Tatausführung eine wesent-liche Abweichung gegenüber dem im schuldfähigen Zustand gefaßten Vorsatz bewirkten, da dem Täter dieser Irrtum bei der Objektsindividualisierung erst im Stadium der Schuldunfähigkeit unterliefe (vgl. Schönke/Schröder/Lenckner, 27.Auflage, § 20, Rz 37 m.w.N.). Hiernach ist der Täter im Hinblick auf die Vergewaltigung aus § 323a StGB zu bestrafen. Zum Teil - insbesondere der Rechtsprechung - wird demgegenüber angenommen, daß Fälle des "error in persona" keine wesentliche Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf darstellen (vgl. BGHSt 21, 381 [384]). Dieser Ansicht zufolge ist der Täter hier wegen Vergewaltigung nach § 177 StGB zu bestrafen. Der Versuch der geplanten - im Rausch-zustand zu begehenden - Straftat beginnt nach herrschender Auffassung nicht bereits mit dem Sich-berauschen, sondern erst - nach allgemeinen Regeln - mit dem unmittelbaren Ansetzen zur tatbestand-lichen Ausführungshandlung. bb) fahrlässige actio libera in causa Eine fahrlässige "actio libera in causa" ist demgegenüber anzunehmen, wenn der Täter vorsätzlich oder fahrlässig seine Handlungs- oder Schuldunfähigkeit herbeiführt und dabei damit rechnen konnte, daß er in diesem Zustand den Tatbestand eines bestimmten Fahrlässigkeitsdelikts verwirklichen würde (vgl. RGSt 22, 413,415; BGH VRS Band 23, 213; Schönke/Schröder/Lenckner, 27.Auflage, § 20, Rz 38). Für die Prüfung des verwirklichten Fahrlässigkeitsdelikts gelten die allgemeinen Grundsätze. Der praktisch häufigste Fall liegt in den Trunkenheitsfahrten. Beispiel: Wer auf Grund besonderer Umstände damit rechnen muß, nach erheblichem Alkoholgenuß ein Kraft-fahrzeug zu führen, muß zur Vermeidung der drohenden Trunkenheitsfahrt rechtzeitig Vorsorge treffen; anderenfalls haftet er für die Trunkenheitsfahrt mitsamt deren Folgen, sofern der Geschehensablauf nicht außerhalb des objektiv Vorhersehbaren liegt (vgl. hierzu OLG Hamm NJW 1983, 2456). Nicht ausreichend ist daher das Bestehen einer nur generellen Möglichkeit, der Täter werde entgegen seiner bisherigen Absicht das Fahrzeug unter Alkoholeinwirkung dann schließlich doch benutzen. Die vorstehend vorausgesetzten besonderen Umstände, wie etwa die Unsicherheit, mit einem anderen Verkehrsmittel den Heimweg antreten zu können, müssen den späteren Sinneswandel vielmehr nahe-legen (vgl. BayObLG VRS Band 36, 170; Band 61, 339).