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Allgemeiner Teil des Strafrechts Zusammenfassung von Patrick Vogler ([email protected]; [email protected]; mig- [email protected]) anhand von: STRATENWERTH GÜNTER, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 3. Aufl., Bern 2005; DONATSCH ANDREAS/TAG BRIGITTE, Strafrecht I, Verbrechenslehre, 8. Aufl., Zürich 2006; FLACHSMANN STEFAN/ECKERT ANDRE- AS/ISENRING BERNHARD, Tafeln zum Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Zürich 2008. Inhaltsverzeichnis I. Das Vorsatzdelikt ............................................................................................................... 8 A. Der objektive Tatbestand ................................................................................................ 8 1. Täterkreis ..................................................................................................................... 8 2. Tathandlung ................................................................................................................. 8 3. Taterfolg ...................................................................................................................... 8 4. Die Zurechnung des Erfolgs ........................................................................................ 8 5. Die natürliche Kausalität ............................................................................................. 8 a) Regelfall ............................................................................................................................................. 8 b) Spezialfälle......................................................................................................................................... 9 6. Die adäquate Kausalität ............................................................................................... 9 a) Zweck der Adäquanz ......................................................................................................................... 9 b) Inhalt .................................................................................................................................................. 9 7. Die Lehren der objektiven Zurechnung .................................................................... 10 a) Fehlen eines rechtlich relevanten Risikos ........................................................................................ 10 b) Fehlender Risikozusammenhang ..................................................................................................... 10 c) Fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang ................................................................................... 10 d) Risikoverringerung .......................................................................................................................... 10 e) Zurechnungsverlagerung auf Dritte ................................................................................................. 11 B. Der subjektive Tatbestand ............................................................................................ 11 1. Wissen ....................................................................................................................... 11 a) Das Wissen um die Tatumstände ..................................................................................................... 11 b) Das Wissen um den Geschehensablauf ........................................................................................... 12 2. Willen ........................................................................................................................ 12 a) Direkter Vorsatz ............................................................................................................................... 12 b) Eventualvorsatz ................................................................................................................................ 12 c) Dolus subsequens im Speziellen ...................................................................................................... 13 3. Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale ............................................................ 13

Strafrecht AT (Allgemeiner Teil)

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Lehre vom Verbrechensaufbau im schweizerischen Strafrecht

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Page 1: Strafrecht AT (Allgemeiner Teil)

Allgemeiner Teil des Strafrechts Zusammenfassung von Patrick Vogler ([email protected]; [email protected]; [email protected]) anhand von: STRATENWERTH GÜNTER, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil I: Die Straftat, 3. Aufl., Bern 2005; DONATSCH ANDREAS/TAG BRIGITTE, Strafrecht I, Verbrechenslehre, 8. Aufl., Zürich 2006; FLACHSMANN STEFAN/ECKERT ANDRE-AS/ISENRING BERNHARD, Tafeln zum Strafrecht, Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Zürich 2008.

Inhaltsverzeichnis

I.   Das Vorsatzdelikt ............................................................................................................... 8  

A.   Der objektive Tatbestand ................................................................................................ 8  1.   Täterkreis ..................................................................................................................... 8  2.   Tathandlung ................................................................................................................. 8  3.   Taterfolg ...................................................................................................................... 8  4.   Die Zurechnung des Erfolgs ........................................................................................ 8  5.   Die natürliche Kausalität ............................................................................................. 8  

a)   Regelfall ............................................................................................................................................. 8  b)   Spezialfälle ......................................................................................................................................... 9  

6.   Die adäquate Kausalität ............................................................................................... 9  a)   Zweck der Adäquanz ......................................................................................................................... 9  b)   Inhalt .................................................................................................................................................. 9  

7.   Die Lehren der objektiven Zurechnung .................................................................... 10  a)   Fehlen eines rechtlich relevanten Risikos ........................................................................................ 10  b)   Fehlender Risikozusammenhang ..................................................................................................... 10  c)   Fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang ................................................................................... 10  d)   Risikoverringerung .......................................................................................................................... 10  e)   Zurechnungsverlagerung auf Dritte ................................................................................................. 11  

B.   Der subjektive Tatbestand ............................................................................................ 11  1.   Wissen ....................................................................................................................... 11  

a)   Das Wissen um die Tatumstände ..................................................................................................... 11  b)   Das Wissen um den Geschehensablauf ........................................................................................... 12  

2.   Willen ........................................................................................................................ 12  a)   Direkter Vorsatz ............................................................................................................................... 12  b)   Eventualvorsatz ................................................................................................................................ 12  c)   Dolus subsequens im Speziellen ...................................................................................................... 13  

3.   Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale ............................................................ 13  

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a)   Absicht ............................................................................................................................................. 13  b)   Beweggründe ................................................................................................................................... 13  c)   Gesinnungsmerkmale ....................................................................................................................... 13  

C.   Exkurs: Der Versuch .................................................................................................... 13  1.   Beginn der Ausführungshandlung (Schwellentheorie) ............................................. 14  

a)   Zur-Tat-Schreiten (örtliche und zeitliche Tatnähe) ......................................................................... 14  b)   Tatplan ............................................................................................................................................. 14  

2.   Tauglicher und offensichtlich untauglicher Versuch ................................................ 14  a)   Tauglicher Versuch .......................................................................................................................... 14  b)   Untauglicher Versuch ...................................................................................................................... 14  c)   Untauglicher Versuch aus grobem Unverstand ............................................................................... 15  d)   Das untaugliche Subjekt/das Wahndelikt im Speziellen ................................................................. 15  

3.   Rücktritt ..................................................................................................................... 15  a)   Objektive Seite ................................................................................................................................. 16  b)   Subjektive Seite ............................................................................................................................... 16  

4.   Tätige Reue ............................................................................................................... 16  a)   Objektive Seite ................................................................................................................................. 16  b)   Subjektive Seite ............................................................................................................................... 16  

5.   Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch .......................................... 17  6.   Versuch und Übertretung .......................................................................................... 17  7.   Rechtsfolge ................................................................................................................ 17  8.   Praktisches Vorgehen ................................................................................................ 17  

D.   Die Rechtswidrigkeit .................................................................................................... 17  1.   Einwilligung des Verletzten ...................................................................................... 17  

a)   Individualrechtsgut ........................................................................................................................... 18  b)   Verfügungsgewalt des Einwilligenden über das Rechtsgut ............................................................. 18  c)   Akt der Selbstbestimmung ............................................................................................................... 18  d)   Einwilligung vor der Tat .................................................................................................................. 18  e)   Wissen des Täters ............................................................................................................................. 18  

2.   Die mutmassliche Einwilligung des Verletzten ........................................................ 18  a)   Individualrechtsgut ........................................................................................................................... 18  b)   Verfügungsgewalt des Einwilligenden über das Rechtsgut ............................................................. 19  c)   Sozial üblicher Eingriff .................................................................................................................... 19  d)   Zwangssituation ............................................................................................................................... 19  e)   Handeln im Sinne des Betroffenen .................................................................................................. 19  f)   Wissen des Täters ............................................................................................................................. 19  

3.   Der rechtfertigende Notstand .................................................................................... 19  a)   Individualrechtsgut ........................................................................................................................... 19  b)   Unmittelbare Gefahr ........................................................................................................................ 19  

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c)   Strikte Subsidiarität .......................................................................................................................... 20  d)   Proportionalität (Wahrung höherwertiger Interessen) ..................................................................... 20  e)   Wissen und Willen des Täters .......................................................................................................... 20  

4.   Der übergesetzliche Notstand .................................................................................... 20  5.   Die rechtfertigende Notwehr ..................................................................................... 20  

a)   Unmittelbarer Angriff ...................................................................................................................... 20  b)   Individualrechtsgut .......................................................................................................................... 20  c)   Rechtswidrigkeit des Angriffs ......................................................................................................... 21  d)   Abwehr richtet sich gegen die Rechtsgüter des Angreifers ............................................................. 21  e)   Angemessenheit der Abwehrmittel .................................................................................................. 21  f)   Wissen und Willen des Täters .......................................................................................................... 21  g)   Weitergehende Einschränkungen der Notwehr ............................................................................... 21  

6.   Weitere Rechtfertigungsgründe ................................................................................. 21  a)   Die gesetzlich erlaubte Handlung .................................................................................................... 21  b)   Amtspflichten ................................................................................................................................... 22  c)   Berufspflichten ................................................................................................................................. 22  d)   Behördliche Bewilligungen ............................................................................................................. 22  e)   Wahrnehmung berechtigter Interessen ............................................................................................. 22  f)   Pflichtenkollision .............................................................................................................................. 22  

7.   Die subjektiven Elemente der Rechtfertigung .......................................................... 22  a)   Putativrechtfertigung ........................................................................................................................ 22  b)   Der indirekte Verbotsirrtum ............................................................................................................. 23  c)   Rechtswidrigkeit und Versuch ......................................................................................................... 23  

E.   Die Schuld ..................................................................................................................... 23  1.   Die Schuldunfähigkeit ............................................................................................... 23  

a)   Ausschluss/Verminderung der Einsichtsfähigkeit ........................................................................... 23  b)   Ausschluss/Verminderung der Bestimmungsfähigkeit .................................................................... 23  c)   Ausschluss/Verminderung obiger Fähigkeiten zur Zeit der Tat ...................................................... 24  d)   Ausschluss/Verminderung obiger Fähigkeiten in Bezug auf die konkrete Straftat ......................... 24  e)   Gründe für die Schuldunfähigkeit .................................................................................................... 24  f)   Rechtsfolgen ..................................................................................................................................... 24  

2.   Sonderfall der actio libera in causa ........................................................................... 24  3.   Die virtuelle Verbotskenntnis .................................................................................... 25  

a)   Direkter Verbotsirrtum ..................................................................................................................... 25  b)   Indirekter Verbotsirrtum .................................................................................................................. 25  c)   Unvermeidbarkeit des Irrtums ......................................................................................................... 25  

4.   Unzumutbarkeit rechtmässigen Alternativverhaltens im Allgemeinen .................... 26  5.   Der entschuldbare Notstand ...................................................................................... 26  

a)   Hochwertiges Invidiualrechtsgut in unmittelbarer Gefahr ............................................................... 26  

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b)   Subjektive Unzumutbarkeit ............................................................................................................. 26  c)   Subsidiarität ..................................................................................................................................... 26  d)   Wissen und Willen des Täters ......................................................................................................... 26  e)   Rechtsfolge ....................................................................................................................................... 27  

6.   Die entschuldbare Notwehr ....................................................................................... 27  a)   Intensiver Exzess .............................................................................................................................. 27  b)   Extensiver Exzess ............................................................................................................................ 27  c)   Rechtsfolge ....................................................................................................................................... 27  

F.   Objektive Strafbarkeitsbedingungen ............................................................................. 27  II.   Anmerkungen zum Medienstrafrecht ............................................................................ 27  

A.   Voraussetzungen von Art. 28 ........................................................................................ 27  B.   Rechtsfolge .................................................................................................................... 28  

1.   Grundsatz .................................................................................................................. 28  2.   Ausnahme .................................................................................................................. 28  

C.   Verhältnis von Art. 28 zu Art. 28a ................................................................................ 28  III.  Das fahrlässige Erfolgsdelikt .......................................................................................... 28  

A.   Tatbestandsmässigkeit .................................................................................................. 29  1.   Ungewolltes Bewirken eines tatbestandsmässigen Erfolgs ...................................... 29  

a)   Täterkreis ......................................................................................................................................... 29  b)   Der Taterfolg .................................................................................................................................... 29  c)   Die Tathandlung ............................................................................................................................... 29  d)   Natürliche Kausalität der Handlung für den Erfolg ......................................................................... 29  

2.   Verletzung einer Sorgfaltspflicht .............................................................................. 29  a)   Generell-abstrakte Sorgfaltsnorm als Ausgangspunkt (das objektiv Gebotene) ............................. 29  b)   Individuelle Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs (adäquate Kausalität) ................. 30  c)   Individuelle Vermeidbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs ....................................................... 30  d)   Schaffung eines unerlaubten Risikos ............................................................................................... 30  

3.   Risikozusammenhang ................................................................................................ 31  a)   Fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang ................................................................................... 31  b)   Haftungsbegrenzung durch den Schutzzweck der Sorgfaltsnorm ................................................... 31  

B.   Rechtswidrigkeit ............................................................................................................ 31  C.   Schuld ........................................................................................................................... 31  

IV.  Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt .............................................................. 31  A.   Objektiver Tatbestand ................................................................................................... 31  

1.   Abgrenzung zum Handlungsdelikt ............................................................................ 31  2.   Täterqualifikation (Garantenstellung) ....................................................................... 31  

a)   Gesetz (lit. a) .................................................................................................................................... 32  b)   Vertrag (lit. b) .................................................................................................................................. 32  

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c)   Freiwillig eingegangene Gefahrengemeinschaft (lit. c) ................................................................... 32  d)   Ingerenz (lit. d) ................................................................................................................................ 32  e)   Herrschaft über eine Gefahrenquelle ............................................................................................... 33  f)   Sonderfall der Geschäftsherrenhaftung ............................................................................................ 33  

3.   Nichtvornahme der unter den Umständen gebotenen Handlung .............................. 34  4.   Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs ................................................................... 34  5.   Hypothetische Kausalität ........................................................................................... 34  6.   Tatmacht .................................................................................................................... 34  

B.   Subjektiver Tatbestand .................................................................................................. 34  1.   Wissen ....................................................................................................................... 34  2.   Willen ........................................................................................................................ 35  

C.   Rechtswidrigkeit ........................................................................................................... 35  D.   Schuld ........................................................................................................................... 35  E.   Versuch beim Unterlassungsdelikt ................................................................................ 35  

V.   Das vorsätzliche echte Unterlassungsdelikt ................................................................... 35  A.   Objektiver Tatbestand ................................................................................................... 35  

1.   Täterbezeichnung ...................................................................................................... 35  2.   Nichtvornahme der unter den Umständen gebotenen Handlung .............................. 35  3.   Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs ................................................................... 36  4.   Hypothetische Kausalität ........................................................................................... 36  5.   Tatmacht .................................................................................................................... 36  

B.   Subjektiver Tatbestand .................................................................................................. 36  1.   Wissen ....................................................................................................................... 36  2.   Willen ........................................................................................................................ 36  

C.   Rechtswidrigkeit ........................................................................................................... 36  D.   Schuld ........................................................................................................................... 36  E.   Echte Unterlassung und Versuch .................................................................................. 36  

VI.  Das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt ................................................................ 36  A.   Garantenstellung .......................................................................................................... 37  B.   Tatbestandsmässiger Erfolg ......................................................................................... 37  C.   Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung ex ante gebotenen Handlung ................... 37  D.   Verletzung einer Sorgfaltspflicht .................................................................................. 37  E.   Tatmacht ....................................................................................................................... 37  F.   Hypothetische Kausalität .............................................................................................. 37  G.   Rechtswidrigkeit ........................................................................................................... 37  H.   Schuld ........................................................................................................................... 37  

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VII.   Täterschaft und Teilnahme ....................................................................................... 37  A.   Mittäterschaft ................................................................................................................ 37  

1.   Übersicht ................................................................................................................... 37  2.   Gemeinsame Entschliessung/Planung ....................................................................... 38  

a)   Objektive Seite ................................................................................................................................. 38  b)   Subjektive Seite ............................................................................................................................... 38  c)   Abgrenzungen .................................................................................................................................. 38  

3.   Gemeinschaftliche Ausführung ................................................................................. 38  a)   Objektive Seite ................................................................................................................................. 38  b)   Subjektive Seite ............................................................................................................................... 39  c)   Grenzen der Mittäterschaft prüfen! .................................................................................................. 39  d)   Versuch im Speziellen ..................................................................................................................... 39  e)   Rechtswidrigkeit/Schuld .................................................................................................................. 39  f)   Rücktritt und tätige Reue .................................................................................................................. 39  

4.   Rechtsfolgen .............................................................................................................. 40  5.   Mittäterschaft bei Fahrlässigkeitsdelikten ................................................................. 40  

B.   Nebentäterschaft ........................................................................................................... 40  C.   Mittelbare Täterschaft .................................................................................................. 40  

1.   Übersicht ................................................................................................................... 40  2.   Praktisches Vorgehen ................................................................................................ 41  

a)   Strafbarkeit des Tatmittlers .............................................................................................................. 41  b)   Strafbarkeit des mittelbaren Täters (Tatbestandsmässigkeit) .......................................................... 41  c)   Grenzen der mittelbaren Täterschaft ................................................................................................ 41  d)   Rechtswidrigkeit/Schuld .................................................................................................................. 41  

3.   Rechtsfolge ................................................................................................................ 41  4.   Strafbarkeit des Tatmittlers ....................................................................................... 41  

D.   Anstiftung ...................................................................................................................... 41  1.   Begriff ....................................................................................................................... 41  2.   Abgrenzungen ........................................................................................................... 41  3.   Voraussetzungen ....................................................................................................... 42  

a)   Haupttat ............................................................................................................................................ 42  b)   Anstiftung ........................................................................................................................................ 42  

4.   Rechtsfolge ................................................................................................................ 43  5.   Anstiftung und Versuch im Speziellen ...................................................................... 43  6.   Problematik der Abweichung des Haupttäters .......................................................... 43  

a)   Quantitative Abweichung nach oben (quantitativer Anstiftungsexzess) ......................................... 43  b)   Quantitative Abweichung nach unten .............................................................................................. 43  c)   Qualitative Abweichung (qualitativer Anstiftungsexzess) .............................................................. 44  

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E.   Gehilfenschaft ............................................................................................................... 44  1.   Begriff ....................................................................................................................... 44  2.   Abgrenzungen ........................................................................................................... 44  3.   Voraussetzungen ....................................................................................................... 44  

a)   Haupttat ............................................................................................................................................ 44  b)   Gehilfenschaft .................................................................................................................................. 44  

4.   Rechtsfolge ................................................................................................................ 45  F.   Gemeinsame Probleme ................................................................................................. 45  

1.   Teilnahme am Sonderdelikt ...................................................................................... 45  2.   Besondere persönliche Merkmale ............................................................................. 45  3.   Notwendige Teilnahme ............................................................................................. 45  4.   Verhältnis der Beteiligungsmöglichkeiten zueinander ............................................. 45  

VIII.   Unternehmensstrafrecht ............................................................................................ 46  A.   Die Anlasstat ................................................................................................................. 46  

1.   Art. 102 Abs. 1 .......................................................................................................... 46  2.   Art. 102 Abs. 2 .......................................................................................................... 46  

B.   Primäre und subsidiäre Verantwortlichkeit ................................................................. 46  1.   Art. 102 Abs. 1 .......................................................................................................... 46  2.   Art. 102 Abs. 2 .......................................................................................................... 46  

C.   Unternehmen ................................................................................................................ 46  D.   Bezug zum Unternehmen (Geschäftliche Verrichtung) ................................................ 46  E.   Mangelhafte Organisation ............................................................................................ 46  

1.   Art. 102 Abs. 1 .......................................................................................................... 46  2.   Art. 102 Abs. 2 .......................................................................................................... 47  

F.   Subjektiver Tatbestand .................................................................................................. 47  G.   Abgrenzung zur Geschäftsherrenhaftung ..................................................................... 47  

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I. Das Vorsatzdelikt Nur ein Verhalten eines Menschen, das seinem eigenen Willen untersteht, ist strafbar. Durch „vis absoluta“ (Ge-walt, die körperlichen Widerstand verunmöglicht) erzwungene Verhaltensweisen, Reflexe und im Zustande völli-ger Bewusstlosigkeit ausgeführte Bewegungen werden vom strafrechtlichen Verhaltensbegriff nicht erfasst. An-ders: „vis compulsiva“ (Gewalt, die körperlichen Widerstand nicht verunmöglicht, z.B. Misshandlungen).

A. Der objektive Tatbestand

1. Täterkreis 1 Diese Voraussetzung ist nur zu prüfen, wenn ein Sonderdelikt vorliegt.

Pro memoria: Straftaten heissen echte Sonderdelikte, wenn die Verletzung der Sonderpflicht die Strafbarkeit erst begründet, unechte, wenn sie sie nur erhöht. Im Gesetz heisst es beispielsweise: „eine Mutter“ (Art. 116), „als Zeu-ge“ (Art. 307), „als Mitglieder einer Behörde oder Beamte“ (Art. 312, 314).

2. Tathandlung 2 Die Tathandlung kann beliebiger Art sein – deshalb wird sie im Gesetz bei den Erfolgsdelik-

ten selten umschrieben. Wichtig beim Erfolgsdelikt ist lediglich, dass die Handlung für den Taterfolg ursächlich war.

3 Bei Tätigkeitsdelikten erfüllt die blosse Vornahme einer Handlung bereits den Tatbestand. Ein äusserer Erfolg, der von der Handlung ablösbar wäre, ist für die Strafbarkeit nicht erforder-lich. Deshalb ist bei Tätigkeitsdelikten der Kausalzusammenhang (zwischen Handlung und Erfolg) logischerweise nicht zu prüfen.

3. Taterfolg 4 Bei Erfolgsdelikten erfüllt die blosse Vornahme einer Handlung nicht bereits den Tatbestand.

Ein über die Handlung herausgehender Erfolg ist erforderlich. Zwischen der Handlung und dem Erfolg muss ein Zusammenhang bestehen (Zurechnung des Erfolgs).

5 Taterfolg ist jede vom Tatbestand erfasste Wirkung der verbotenen Handlung, die über den Vollzug der Handlung als solchen hinausgeht. Nicht als Erfolg gilt die Verletzung des jeweils geschützten Rechtsgutes. Als Taterfolg gilt zum einen die Einwirkung auf das Tatobjekt. Erfolg gibt es aber auch bei Straftaten ohne Tatob-jekt. Bei der ehrverletzenden Äusserung beispielsweise muss die herabsetzende Äusserung nicht nur getan, sondern von einem anderen auch vernommen werden. Deshalb dieser weit gefasste Begriff.

4. Die Zurechnung des Erfolgs 6 Der Erfolg ist nur bedeutsam, wenn er auf menschliches Verhalten zurückgeht.

Als Verhalten kommt zuvorderst ein aktives Tun in Frage. Dann stellen sich die Fragen der natürlichen und adä-quaten Kausalität. Beim Unterlassungsdelikt gibt es demgegenüber keine natürliche Kausalität (es lässt sich nicht „naturwissenschaftlich“ nachweisen, ob die Unterlassung kausal für den Erfolg war). Man kann nur danach fragen, ob etwas hypothetisch möglich wäre (hypothetische Kausalität mittels Risikoerhöhungs- oder Wahrscheinlichkeits-theorie).

7 Die Voraussetzungen für die Zurechnung des Erfolgs sind:

– die natürliche Kausalität;

– die adäquate Kausalität; sowie

– u.U. die Lehren der objektiven Zurechnung.

5. Die natürliche Kausalität

a) Regelfall 8 Als ursächlich gilt jede Bedingung, die zur Erfolgsverwirklichung beigetragen hat. Dabei

gelten alle Bedingungen, die zum Erfolg beigetragen haben, als gleichwertig. Umgekehrt:

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Bliebe der Erfolg bestehen, auch wenn die Tathandlung weggedacht würde, liegt keine natür-liche Kausalität vor (Äquivalenztheorie). Die natürliche Kausalität kann mittels Tatsachenfeststellung ermittelt und bewiesen werden. Sie klärt, ob zwischen Ursache und Wirkung tatsächlich, also nach empirischen Gesetzen, ein Zusammenhang besteht. Weil sie nur den tatsächlichen Zusammenhang klärt, ist sie für die Unterlassung unbrauchbar (dort ist nach der hypothetischen Kau-salität zu fragen).

b) Spezialfälle 9 In den Fällen konkurrierender Kausalität (auch: Doppelkausalität oder alternative Kausalität

genannt), wenn jede der gleichzeitig begangenen Tathandlungen den Erfolg hätte verursachen können, ist die einzelne Handlung für sich alleine genommen gerade nicht „conditio sine qua non“ für den Erfolgseintritt. In solchen Fällen „nimmt man beide Handlungen zusammen“ und betrachtet sie zusammen als natürlich kausal. Täte man dies nicht, würde das dazu führen, dass das Opfer gewissermassen „vogelfrei“ würde.

10 Tritt eine Ersatzursache hinzu, die den Tod des Opfers herbeigeführt hätte, wenn der Täter nicht gehandelt hätte, kommt es allein darauf an, welches Risiko den Erfolg wirklich herbei-geführt hat (i.d.R. die Handlung des Täters). Beispiel: Der Täter erschiesst einen Menschen auf dem Weg zum Flughafen. Das Flugzeug, welches das Opfer be-steigen wollte, stürzt in einen aktiven Vulkan.

11 Eröffnet ein späteres Ereignis eine neue Ursachenkette, liegt ein Unterbruch der ersten Kau-salkette resp. ein überholendes Zweitereignis vor. Der erste Täter ist des Versuchs, der zweite Täter ist der vollendeten Verübung strafbar. Beispiel: A vergiftet C mit einem langsam wirkenden Gift. Bevor C stirbt, erschiesst B den C. A ist wegen Ver-such, B ist wegen vollendeter Tötung strafbar.

12 Die Formel der conditio sine qua non kann nicht zur Ermittlung eines Kausalzusammenhanges dienen, der nicht bereits bekannt ist. Um sagen zu können, dass der Erfolg entfiele, wenn eine bestimmte Bedingung hinweggedacht wird, muss man schon wissen, dass sie ihn mitverur-sacht hat (generelle Kausalität; Beweisproblematik). Beispiel: Werden die Tathandlungen nacheinander begangen, und ist nicht festzustellen, welche der Handlungen den Erfolg verursacht hat, ist der Täter grds. straffrei. Ausweichmöglichkeit: Kann nicht an eine Handlung ange-knüpft werden, ist die Unterlassung zu prüfen; dort wird nicht natürliche, sondern lediglich hypothetische Kausali-tät verlangt.

13 In Fällen der gemeinsamen Kausalität (auch: kumulative Kausalität genannt), wo beide Tat-handlungen zum Erfolg nötig sind, sind beide auch natürlich kausal. Natürlich kausal ist eine Handlung bereits dann, wenn sie zur Erfolgsverwirklichung beigetragen hat.

6. Die adäquate Kausalität Die adäquate Kausalität ist im Gegensatz zur natürlichen Kausalität keine Tatfrage, sondern eine Rechtsfrage.

a) Zweck der Adäquanz 14 Die Haftung darf nicht über die Fähigkeit des Menschen, Kausalabläufe zu steuern, hinausge-

hen. Die adäquate Kausalität dient zum Ausschluss aussergewöhnlicher Erfolgsursachen. Sie ist dementsprechend ein sehr grobes Raster.

b) Inhalt 15 Rechtserheblich ist nur die Ursache (Handlung, nicht Unterlassung), die nach dem gewöhnli-

chen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet ist, einen Erfolg von der Art des Eingetretenen herbeizuführen. Bei der Beurteilung der adäquaten Kausalität kann nicht die nachträgliche (bessere) Kenntnis der Zusammenhänge entscheidend sein. Abgestellt wird auf das Wissen eines hypothetischen einsichtigen Beobachters zum Zeitpunkt der Tat (ex ante-Betrachtung), kombiniert mit dem Sonderwissen des Täters zum Tatzeitpunkt.

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Die adäquate Kausalität ist beim Fahrlässigkeitsdelikt als „individuelle Vorhersehbarkeit“, die selbst Teil der Sorg-faltspflichtverletzung ist, ausgestaltet. Nur Geschehensabläufe, die im Rahmen des gewöhnlichen Laufs der Dinge liegen, die also noch mehr oder weniger vorhersehbar sind, sind als solche adäquat kausal für den Erfolg.

7. Die Lehren der objektiven Zurechnung 16 Die objektive Zurechnung soll die Sonderbeziehung zwischen der Handlung des Täters und

dem tatbestandsmässigen Erfolg normativ (wertend) begründen. Dies wird mit Fallgruppen gemacht, bei denen die objektive Zurechnung nicht gegeben ist:

a) Fehlen eines rechtlich relevanten Risikos 17 Es ist nicht verboten, ein allgemeines Lebensrisiko normaler Höhe zu schaffen (sog. Sozial-

adäquanz). Um jedes Risiko auszuschliessen, müsste man gewisse Tätigkeiten gänzlich ver-bieten, die sozial nützlich oder üblich sind. Allerdings muss die Gefahr auf ein vertetbares Minimum beschränkt sein. Die verbleibende Gefährdung wird als „erlaubtes Risiko“ bezeich-net. Geht man bei Tätigkeiten, die weder sozial nützlich oder üblich sind, Gefahren ein, dann ist das erlaubte Risiko ohnehin gering. In solchen Fällen darf man nämlich eigentlich gar kein Risiko eingehen. Beispiel „Rolling Stones“- Fall: Bei einem solch gefährlichen Verhalten darf man kein auch noch so kleines Risiko eingehen; man darf auch nicht zu einem so dummen Verhalten anregen. Weiteres Beispiel: Der Sohn, der den Vater zu einer Abenteuerreise überredet, um ihn endlich beerben zu können, handelt (noch) nicht tatbestandsmässig.

18 Relevanz: Das Fehlen eines rechtlich relevanten Risikos führt in Grenzfällen der adäquaten Kausalität dazu, dass dem Täter der Erfolg nicht zugerechnet wird. Beim Fahrlässigkeitsdelikt schliesst die Schaffung eines lediglich sozialadäquaten Risikos die Sorgfaltspflichtverletzung aus. FLACHSMANN/ECKERT/ISENRING, S. 24 berücksichtigen das Fehlen eines rechtlich relevanten Risikos zusätzlich auf subjektiver Ebene (Willenselement). Im obigen Beispiel vom Sohn, der den Vater beerben will, argumentieren sie, dass der subjektive Tatbestand nicht erfüllt ist, weil der Täter sich die Tatmacht nicht zuschreibt. Die Tatmacht ge-hört m.E. dagegen zum Wissenselement: Der Täter muss m.a.W. wissen, dass er die Tatmacht innehat (und dem-entsprechend mit der verletzenden Handlung aufhören könnte). Man kann Tatmacht nicht „wollen“; entweder man hat sie, oder man hat sie nicht.

b) Fehlender Risikozusammenhang 19 Die anwendbare Norm muss vor der Gefahr/dem Risiko, die/das den Erfolg verursacht hat,

schützen wollen (Haftungsbegrenzung durch den Schutzzweck der Verhaltens- resp. Sorg-faltsnorm). Hat eine Gefahr, die ausserhalb des Schutzbereiches der Norm liegt, zum Erfolg geführt, fehlt der Risikozusammenhang. Man spricht in diesem Fall auch vom fehlendem Risikozusammenhang aus normativen (wertenden) Gründen oder von der Haftungsbegrenzung durch den Schutzzweck der Sorgfaltsnorm; demgegenüber existiert aber auch der „fehlende Risikozusammenhang aus tatsächlichen Gründen“. Dieser wird sogleich unter dem Begriff des „fehlen-den Pflichtwidrigkeitszusammenhangs“ erörtert.

20 Relevanz: Fahrlässigkeitsdelikte.

c) Fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang 21 Nach der in Praxis und Doktrin überwiegenden Auffassung kann dem Täter der Erfolg nicht

zugerechnet werden, wenn der Erfolg trotz pflichtgemässem (Alternativ-)Verhalten höchst-wahrscheinlich eingetreten wäre (sog. Wahrscheinlichkeitstheorie). Ein anderer Teil der Lehre geht davon aus, dass für die Zurechnung des Erfolgs genügt, dass der Täter zur Gefahr für das Rechtsgut beigetragen hat (sog. Risikoerhöhungstheorie). Es ist durchaus möglich, dass ein Täter zwar sorgfaltswidrig handelt, zwischen der Sorgfaltswidrigkeit und dem Er-folg aber kein Zusammenhang besteht. Diesfalls ist der Täter nicht strafbar.

22 Relevanz: Fahrlässigkeitsdelikte.

d) Risikoverringerung 23 Hat der Täter einen Erfolg abgeschwächt, und damit den Erfolg natürlich und adäquat kausal

(mit-)verursacht, wird ihm der Erfolg nicht zugerechnet.

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Beispiel: T will O mit einer Eisenstange zu Tode prügeln. Im letzten Moment lenkt R die Eisenstange auf O’s Schulter ab. Er hat damit die Verletzung an der Schulter natürlich und adäquat kausal mitverursacht. Anhand dieses Beispiels lässt sich die Risikoverringerung auch von der Notwehrhilfe/Notstandshilfe abgrenzen: Bei der Notwehr-hilfe greift der Täter in die Rechtsgüter des Angreifers ein; bei der Notstandshilfe greift der Täter zum Schutz des eigenen Rechtsguts oder jenes des Opfers in die Rechtsgüter eines unbeteiligten Dritten ein; bei der Risikoverrin-gerung greift er in die Rechtsgüter des Opfers ein. Zwischen der Risikoverringerung und der mutmasslichen Ein-willigung des Verletzten ergeben sich ebenfalls Überschneidungen: Im obigen Beispiel wäre die mutmassliche Einwilligung des Verletzten nämlich m.E. zu bejahen.

24 Relevanz: Natürliche und adäquate Kausalität.

25 Risikoverringerung vs. Risikosteigerung: Der tatbestandsmässige Erfolg wird prinzipiell dem-jenigen zugerechnet, der das Risiko, dass er eintreten könnte, geschaffen oder gesteigert hat. Relevanz des TBE der Risikosteigerung: Unterlassungsdelikte (z.B. bei Ingerenz).

e) Zurechnungsverlagerung auf Dritte 26 Die adäquate Kausalität kann durch das Verhalten von Dritten oder dem Opfer selbst unter-

brochen werden. Vorausgesetzt wird, dass der Dritte/das Opfer ebenfalls vorsätzlich oder in Kenntnis der Gefahrensituation frei handelt. Beispiel: T gibt dem heroinsüchtigen O eine Spritze mit dem Hinweis, dass das Heroin sehr rein und die Injektion gefährlich ist. Injiziert sich O trotzdem die tödliche Menge Heroin, kann T für dessen Tod nicht verantwortlich gemacht werden.

27 Relevanz: Adäquate Kausalität und Fahrlässigkeitsdelikte (Vorhersehbarkeit). Die Anwendung des TBE auf Fahrlässigkeitsdelikte ist m.E. grenzwertig. Ausserdem führt die Zurechnungsverla-gerung auf Dritte streng genommen nicht zu einer Unterbrechung der adäquaten Kausalität, sondern dazu, dass die adäquate Kausalität zu verneinen ist.

B. Der subjektive Tatbestand 28 Wissen und Willen müssen sich auf alle Elemente des objektiven Tatbestandes beziehen, also

beim Erfolgsdelikt auf die rechtlich relevante Handlung, den Erfolg und die Kausalität (beim Sonderdelikt auch auf die eigene Täterqualität).

1. Wissen

a) Das Wissen um die Tatumstände 29 Der Täter muss alle rechtlich erheblichen Tatumstände im Zeitpunkt der Tatbegehung gekannt

haben. Konkreter:

30 Massstab: Er muss den Tatbestand so verstehen, wie es der landläufigen Anschauung eines Laien entspricht (sog. Parallelwertung in der Laiensphäre). Intensität: Mitbewusstsein („dau-erndes Begleitbewusstsein“) genügt. Zeitpunkt: Tatzeitpunkt. Tatumstände: Rechtlich erheb-lich sind nicht nur die blossen Tatsachen, sondern auch allfällige normative Elemente. Beispiel für ein normatives (wertendes) Element: Vorliegen einer fremden Sache beim Diebstahl. Der Täter muss wissen, dass die Sache „jemand anderem gehört“, aber nicht etwa, dass er nicht Eigentümer i.S.v. Art. 641 ZGB ist).

31 Das Wissen um die Tatumstände kann einem „Defekt“ unterliegen: Konstellation: Objektiver Tatbestand erfüllt, subjektiver Tatbestand nicht erfüllt (Tatbestandsirrtum).

– Der Täter weiss nicht, dass er den objektiven Tatbestand erfüllt; Der Täter wird danach beurteilt, was er sich vorgestellt hat (Art. 13 Abs. 1). Ist die vorgestellte „Tat“ gar nicht nach dem StGB strafbar, kann er nicht bestraft werden. Ist sie hingegen strafbar, wird sie der Täter i.d.R. nicht er-füllen (objektiver Tatbestand nicht erfüllt, hingegen subjektiver Tatbestand erfüllt); diesfalls ist Versuch der vorge-stellten Tat zu prüfen. Vorbehalten bleibt in beiden Fällen die fahrlässige Begehung der tatsächlich begangenen Tat (Art. 13 Abs. 2). Hinweis: Es kann ein Fall von mittelbarer Täterschaft vorliegen, wenn der Tatbestandsirrtum von einem anderen (dem Hintermann) hervorgerufen oder ausgenutzt wurde.

– Der Täter stellt sich einen anderen objektiven Tatbestand zu seinen Gunsten vor;

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Vorgehen wie im ersten Fall: Der Täter wird danach beurteilt, was er sich vorgestellt hat (Art. 13 Abs. 1). Er ist i.d.R. wegen Versuch der vorgestellten Tat und evtl. wegen fahrlässiger Begehung der tatsächlich begangenen Tat strafbar.

– Der Täter stellt sich einen objektiven Tatbestand zu seinen Ungunsten vor. Vorgehen analog zu Art. 13 Abs. 1: Der Täter ist evtl. wegen fahrlässiger Tatbegehung des begangenen Delikts und versuchter Begehung des vorgestellten Delikts zu bestrafen. Beim vorgestellten Delikt kann es sich um einen untauglichen Versuch i.S.v. Art. 22 Abs. 2 handeln (weil das Tatobjekt untauglich ist, um zur Tatvollendung zu führen).

b) Das Wissen um den Geschehensablauf 32 Zum Vorsatz gehört auch die Voraussicht des Geschehensablaufs. Sie ist das Gegenstück zur

Zurechenbarkeit (Zurechnung des tatbestandsmässigen Erfolgs resp. Kausalzusammenhang) im objektiven Tatbestand. Grundsätzlich genügt es, wenn der Täter weiss, dass der Erfolg eine mögliche Folge seiner Tathandlung ist (vgl. dazu die untenstehenden Ausführungen zur Wil-lensseite).

33 Verbunden mit der Voraussicht des Geschehensablaufs ist die Möglichkeit des Irrtums über den Kausalverlauf. Bedeutsam wird dieser Irrtum nur dann, wenn man den Kausalzusammen-hang nicht schon im objektiven Tatbestand verneint hat. Sonderfälle sind: (1) abberatio ictus (Abirrung des Angriffs), (2) der error in persona vel objecto (Irrtum in der Person oder in der Sache) und (3) dolus generalis (ausführlich STRATENWERTH, AT I, § 9 Rz. 84 ff.) Ein Teil der Doktrin hält den Irrtum über den Kausalverlauf für unbeachtlich, weil Geschehensabläufe, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht zu erwarten waren, in jedem Falle ausscheiden. Auf der Wissensseite lässt sich in der Regel argumentieren, dass (1) bei der abberatio ictus der Täter den Erfolgs-eintritt für möglich gehalten haben muss, und (2) beim error in persona vel objecto der Erfolgseintritt genau seiner Vorstellung entsprach (Beispiel: Wenn der Täter sich auch in der Person des Opfers getäuscht hat, wollte er im Tatzeitpunkt doch genau dieses Opfer umbringen).

2. Willen 34 Die Wissensseite wird als Indiz für die Willensseite herangezogen. Weiss der Täter um alle

objektiven Tatbestandsmerkmale, kann man davon ausgehen, dass er deren Verwirklichung auch tatsächlich wollte. Der Ausgang sehr vieler Prozesse hängt von der Überzeugungskraft nicht direkt beweisbarer Tatsachen ab. Diese nicht direkt beweisbaren Tatsachen können nur durch Indizien (ein Indiz erlaubt lediglich Schlüsse auf die zu be-weisende Tatsache) und Beispiele dargelegt werden.

a) Direkter Vorsatz 35 Der Täter wollte die Verwirklichung der Tat. Unterschiede gibt es in der Frage, warum der

Täter den Erfolg wollte: (1) Die Tatbestandsverwirklichung ist das eigentliche Ziel der Hand-lung; (2) die Tatbestandsverwirklichung erscheint dem Täter als notwendige Vorbedingung für das Erreichen seines Ziels; (3) die Tatbestandsverwirklichung erscheint dem Täter als not-wendige Nebenfolge für das Erreichen seines Ziels (Ziff. 3 ist eigentlich „nur“ ein direkter Vorsatz 2. Grades).

b) Eventualvorsatz 36 Der Täter nimmt die Verwirklichung der Tat in Kauf.

Der Täter strebt die Tatverwirklichung nicht an. Der Erfolgseintritt kann ihm gar gleichgültig oder unerwünscht sein. Vielmehr nimmt er den Erfolgseintritt in Kauf: „Soll es so oder anders kommen, auf jeden Fall handle ich.“

37 Eventualvorsatz genügt nicht bei Straftaten, wo beispielsweise „Handeln wider besseres Wis-sen“ oder „wissentliches“ Handeln verlangen. Blosse nachträgliche Billigung eines bereits eingetretenen Deliktserfolgs reicht ebenfalls nicht (vgl. auch Rz. 39).

38 Bewusste Fahrlässigkeit und Eventualvorsatz stimmen auf der Wissensseite überein. Sie sind auf der Willensseite voneinander abzugrenzen. Der eventualvorsätzlich handelnde Täter ist sich ebenso wie der bewusst fahrlässig Handelnde der Möglichkeit des Erfolgseintrittes be-

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wusst, nimmt diese Möglichkeit aber in Kauf, wogegen letzterer auf dessen Ausbleiben ver-traut (z.B. aus blossem Leichtsinn). Hier gilt:

– Je mehr sich die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts dem Täter aufdrängt,

– je höher das bekannte Risiko ist, und

– je schwerer die Sorgfaltspflichtverletzung wiegt,

desto eher ist vom Eventualvorsatz auszugehen.

c) Dolus subsequens im Speziellen 39 Der nachträgliche böse Wille ist strafrechtlich irrelevant.

DONATSCH/TAG, S. 112: Die Berücksichtigung des der Tathandlung nachfolgenden Vorsatzes ist mit dem Schuld-prinzip unvereinbar. Beispiel: A gibt unabsichtlich einen Schuss auf B ab. Weil er B noch nie leiden konnte, ist er im Nachhinein über dessen Tod erfreut. A ist wegen fahrlässiger Tötung zu bestrafen.

3. Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale 40 Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale beziehen sich nicht auf den objektiven Tatbe-

stand. Die Abgrenzung zwischen den unten genannten Merkmalen ist nicht immer einfach, aber auch nicht von grosser praktischer Bedeutung.

a) Absicht 41 Absicht ist ein über das vollendete Delikt hinausgehende Handlungsziel. Sie liegt immer vor

bei den Delikten mit überschiessender Innentendenz (auch: inkongruente Delikte). Eventu-alabsicht (wo der Eintritt des Handlungsziels in Kauf genommen wird) genügt. Beispiel: Die Bereicherungsabsicht von Art. 137 Ziff. 1 verlangt nicht die Bereicherung an sich, sondern nur die entsprechende Absicht.

42 Die Vollendung der Tat tritt im Moment ein, in dem sämtliche objektiven Tatbestandsmerk-male verwirklicht sind. Die Beendigung tritt nur bei Absichts- und Dauerdelikten ein. Bei den Absichtsdelikten tritt die Beendigung ein, wenn sich die vom Täter verfolgte Absicht objektiv verwirklicht hat, bei den Dauerdelikten mit dem Aufhören des rechtswidrigen Zustands. Beispiel: Die Beendigung des Betrugs (Art. 146) tritt erst ein, wenn beim Betrüger eine Bereicherung vorliegt. Vollendet ist die Tat hingegen bereits, wenn das Opfer am Vermögen geschädigt wurde.

b) Beweggründe 43 Im Gegensatz zur Absicht liegen Beweggründe bildlich gesprochen vor der Tat, Absichten

(Handlungsziele) hinter der Tat. Oder anders: Beweggründe verwirklichen sich vor der Tat. Beispiel: Art. 114 f.

c) Gesinnungsmerkmale 44 Grundsätzlich enthalten Gesinnungsmerkmale ein allgemeines Werturteil.

Beispiel: Besondere Skrupellosigkeit bei Mord gem. Art. 112.

C. Exkurs: Der Versuch 45 Ist der objektive Tatbestand nicht oder nicht vollständig erfüllt (unvollendetes Delikt), liegen

hingegen alle subjektiven Tatbestandselemente des zu prüfenden Delikts vor (insbesondere die besonderen subjektiven Tatbestandsmerkmale wie Absicht etc.), ist Versuch zu prüfen. Liegen alle subjektiven Tatbestandselemente vor, hat der Täter m.E. den Tatentschluss gefasst.

Den fahrlässig begangenen Versuch gibt es nach den obigen Ausführungen nicht. Doch wird die fahrlässige Ge-fährdung, das Gegenstück zum Versuch, vom Gesetz u.U. mit Strafe bedroht (vgl. z.B. Art. 222, 225). Unerheblich ist beim Versuch also auch, ob der Täter von seinem Vorhaben ablässt (vgl. den Wortlaut von Art. 22 Abs. 1), oder ob der Erfolg nicht eintritt.

46 Beim Tätigkeitsdelikt kommt nur der unbeendete Versuch in Frage.

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Unbeendet ist der Versuch, wenn der Täter „die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende“ (Art. 23 Abs. 1) führt. Wäre der Versuch des Tätigkeitsdelikts beendet, dann wäre das Tätigkeitsdelikt bereits selbst vollendet.

47 Der Versuch ist vom Tatbestandsirrtum abzugrenzen, wo der objektive Tatbestand erfüllt ist, der subjektive hingegen nicht. Bezieht sich der subjektive Tatbestand auf eine andere, mit Strafe bedrohte Tat, dann ist in Bezug auf diese der Versuch zu prüfen.

48 Die Strafbarkeit des Versuchs wird damit begründet, dass derjenige, der mit der Ausführung einer Straftat beginnt, bereits die Verhaltensnorm verletzt, die durch die Strafdrohung gesi-chert werden soll. Der Handlungsunwert liegt vor, der Erfolgsunwert hingegen noch nicht.

1. Beginn der Ausführungshandlung (Schwellentheorie) 49 Der Versuch ist von der straflosen Vorbereitungshandlung (Ausnahmen: Art. 244, 260bis) ab-

zugrenzen. Vorbereitungshandlungen sind Vorkehrungen, welche die Ausführung der Tat er-möglichen sollen. Nach der Schwellentheorie ist die Schwelle zum Versuch übertreten, wenn der Täter nach seinem konkreten Tatplan zur Tat schreitet (wenn er beginnt, die Tat auszufüh-ren). Der Beginn der Ausführungshandlung beinhaltet also eine objektive und eine subjektive Komponente: Das Zur-Tat-Schreiten (örtliche und zeitliche Tatnähe) sowie den Tatplan (die konkrete Vorstellung des Täters).

a) Zur-Tat-Schreiten (örtliche und zeitliche Tatnähe) 50 Ob der Täter örtlich und zeitlich tatnah ist, hängt davon ab, ob er auf dem Weg zur Tatbe-

standsverwirklichung den ersten entscheidenden Schritt getan hat, von dem es in der Regel kein Zurück mehr gibt, es sei denn wegen äusserer Umstände, die eine Weiterverfolgung der Absicht erschweren (BGer spricht vom „letzten entscheidenden Schritt“). Die Formulierung „in der Regel“ legt nahe, dass bei der objektiven Komponente des Versuchs auf eine gedachte Drittperson in derselben Lage (persönliche Verhältnisse, konkrete Umstände) abgestellt wird. Würde diese gedach-te Drittperson von ihrem Vorhaben nicht mehr ablassen, ist die Schwelle zum Versuch überschritten. Sie ist spätes-tens dann übertreten, wenn der Täter beginnt, die objektiven Tatbestandsmerkmale auszuführen/zu verwirklichen (Beispiel: Der Griff nach der fremden beweglichen Sache beim Diebstahl). Nicht ausgeschlossen wird dadurch, dass ein Täter nach dem Überschreiten dieser Schwelle trotzdem von seinem Vorhaben ablässt (vgl. den Wortlaut von Art. 22 Abs. 1).

b) Tatplan 51 Der Tatplan ist die konkrete Vorstellung des Täters bezüglich des Tatablaufs. Für den Beginn

der Ausführungshandlung darf die örtliche und zeitliche Tatnähe nicht nur objektiv gesehen bestehen. Es gilt, zusätzlich auf die Vorstellung des Täters abzustellen. Beispiel: Nur aufgrund objektiver Merkmale lässt sich nicht eruieren, ob eine Person, die, mit Schraubenzieher und Bohrer „bewaffnet“ auf ein Haus zuläuft, das Haus reparieren oder ausräumen will.

2. Tauglicher und offensichtlich untauglicher Versuch

a) Tauglicher Versuch 52 Sind Tatmittel und Tatobjekt geeignet, zur Vollendung der Tat zu führen, ist der Versuch ein

tauglicher.

b) Untauglicher Versuch 53 Ist das Tatmittel oder das Tatobjekt nicht geeignet (untauglich), um zur Vollendung der Tat zu

führen, ist der Versuch selbst ein untauglicher. Der untaugliche Versuch ist strafbar gem. Art 22 Abs. 1 („oder kann dieser nicht eintreten“).

54 Der Versuch an einem untauglichen Tatobjekt ist der Sache nach ein Tatbestandsirrtum; der Täter handelt „in einer irrigen Vorstellung über den Sachverhalt“ (Art. 13 Abs. 1). Ob das Tatobjekt untauglich ist, stellt sich bereits bei der Prüfung des objektiven Tatbestandes heraus. Es ist nach den dortigen Regeln weiterzufahren (vgl. oben Rz. 31).

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Pro memoria: Entspricht der Angriff auf das Tatobjekt objektiv gesehen einem weniger schweren Tatbestand, liegt ein Irrtum zu Ungunsten des Täters vor; die Vorstellung des Täters geht dahin, die Tat an einem Objekt auszufüh-ren, das „mehr geschützt“ ist (z.B. „Zerstörung“ eines Menschen anstatt einer Sache). Der Täter ist diesfalls wegen Versuchs der vorgestellten Tat zu bestrafen. Stellte sich der Täter hingegen ein „weniger geschütztes“ Tatobjekt vor, entspricht der Angriff auf das Tatobjekt objektiv betrachtet mithin einem schweren Tatbestand, liegt ein Irrtum zu Gunsten des Täters vor (Art. 13 Abs. 1).

55 Der Versuch mit einem untauglichen Mittel kann sich aus dem Fehlen eines objektiven Tatbe-standsmerkmals ergeben. In der Regel werden die Mittel zur Ausführung der Tat (gleich wie die Begehungsweise) aber vom Gesetz nicht näher umschrieben. Ist das Tatmittel Tatbestandsmerkmal, liegt bei dessen Fehlen u.U. ein Tatbestandsirrtum vor. Das ergibt sich be-reits aus dem objektiven Tatbestand: Es ist nach den dortigen Regeln weiterzufahren (vgl. oben Rz. 31).

c) Untauglicher Versuch aus grobem Unverstand 56 Verkennt der Täter aus grobem Unverstand, dass die Tat nach der Art des Gegenstandes oder

des Mittels, an oder mit dem er sie ausführen will, überhaupt nicht zur Vollendung gelangen kann, so bleibt er straflos (Art. 22 Abs. 2; es handelt sich um den Fall des untauglichen Ob-jekts). Die Tat erscheint also mehr dumm als gefährlich, die Untauglichkeit des Gegenstands oder des Mittels wäre von jedem normal denkenden Menschen ohne weiteres erkannt worden (sog. „Dummenprivileg“). Beispiel: X will Y mit einer Überdosis Schwarztee ermorden.

57 Voraussetzungen des untauglichen Versuchs aus grobem Unverstand sind also:

– Tatmittel oder Tatobjekt sind zur Vollendung der Tat untauglich (objektive Seite); und

– der Täter verkennt dies aus grobem Unverstand (subjektive Seite).

d) Das untaugliche Subjekt/das Wahndelikt im Speziellen 58 Art. 22 Abs. 2 behandelt dem Wortlaut nach nur Fälle des untauglichen Objekts (Gegen-

stand/Mittel). Daneben gibt es einen dritten Fall, nämlich den des untauglichen Subjekts: Un-tauglich ist das Subjekt (der Täter) dann, wenn er eine bestimmte täterschaftliche Qualifikati-on nicht aufweist (echte/unechte Sonderdelikte). Rechtsfolge ist die Straflosigkeit. Hier gilt: Ein Nichtqualifizierter kann das Delikt so wenig versuchen wie vollenden. Bei einer Prüfung stellt man dann schon beim objektiven Tatbestand fest, dass dem Täter die Sondereigenschaft fehlt, und er deshalb den Tatbe-stand nicht erfüllen (und eben auch nicht versuchen) kann. Beispiel: Der Ehemann, der vom Tod seiner seit langem von ihm getrennten Ehefrau nichts weiss, geht eine neue Ehe ein (Art. 215; Verbot der Mehrehe).

59 Der Versuch des untauglichen Täters steht dem Wahndelikt (Putativdelikt) nahe. Beim Wahndelikt zielt der Verwirklichungswille ebenfalls auf einen nicht tatbestandsmässigen Sachverhalt. Der Täter glaubt, seine Handlung sei verboten, obwohl sie erlaubt ist. Er befindet sich m.a.W. in einem umgekehrten Verbotsirrtum. Das Wahndelikt ist ebenfalls straflos (denn es besteht keine Norm, die das Verhalten sanktioniert).

60 Das Wahndelikt ist aber nicht immer leicht vom untauglichen Versuch abzugrenzen. Das Wahndelikt bezieht sich immer auf ein nicht strafbares Verhalten. Aber warum ist der Täter nicht strafbar? Weil er gegen eine Norm verstösst, die nicht im StGB existiert, oder weil er gegen eine Norm verstösst, die zwar im StGB existiert, aber im konkreten Fall nicht anwendbar ist (umgekehrter Subsumtionsirrtum)?

Problematisch im zweiten Fall: Der Vorsatz des Täters bezieht sich auf einen objektiven Tatbestand. Trotzdem ist der Täter nicht wegen Versuchs strafbar; denn der Vorsatz des Täters bezieht sich auf einen Sachverhalt, der den objektiven Tatbestand nicht erfüllt.

61 Rechtsfolge: Sowohl das untaugliche Subjekt als auch das Wahndelikt sind nicht strafbar. Beides stellt sich bereits beim objektiven Tatbestand heraus: Dem Täter fehlt entweder eine Sondereigenschaft, o-der er begeht gar keine Straftat (entweder weil die Straftat nicht im StGB geregelt ist, oder weil sie nicht anwend-bar ist).

3. Rücktritt 62 Beim Rücktritt führt der Täter aus eigenem Antrieb die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende.

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a) Objektive Seite 63 Der Rücktritt ist nur beim unbeendeten Versuch möglich. Unbeendet ist der Versuch, wenn

der Täter „die strafbare Tätigkeit nicht zu Ende“ (Art. 23 Abs. 1) führt. Im Einzelnen bedeutet das:

– Der Täter hat noch nicht alle Handlungen ausgeführt, die nach seinem Tatplan nötig gewe-sen wären; und Massgebendes Abgrenzungskriterium zwischen beendetem und unbeendetem Versuch ist diese Vorstellung des Tä-ters: Hat der Täter alles nach seinem Plan nötige getan, um den Erfolg herbeizuführen, ist der Versuch beendet. Hat der Täter nicht alles nach seinem Tatplan nötige getan, ist der Versuch unbeendet.

– der tatbestandsmässige Erfolg ist ausgeblieben (keine Deliktsvollendung). Das ergibt sich eigentlich bereits aus dem objektiven Tatbestand. Unerheblich ist, ob das Ausbleiben des Erfolgs auf den Rücktritt zurückzuführen ist (Kausalzusammenhang). Auch beim untauglichen Versuch ist ein Rücktritt möglich. Der Erfolg kann auch aus „anderen Gründen“ (Art. 23 Abs. 3) ausbleiben. Tritt trotz Rücktritt der Erfolg ein, findet Art. 23 keine Anwendung. Der Rücktrittsversuch kann allein bei der Strafzumessung nach Art. 48 be-rücksichtigt werden. Hinweis: Beim Rücktrittsversuch ist der obj. Tatbestand des Rücktritts nicht erfüllt, der subj. Tatbestand hingegen schon.

b) Subjektive Seite 64 Auf der subjektiven Seite wird für den Rücktritt gefordert:

– dass der Täter endgültig von der konkreten Tat abgelassen hat; sowie Mit anderen Worten: endgültige Aufgabe des Tatentschlusses.

– dieses „Ablassen“ von der Tat aus eigenem Antrieb erfolgt ist. Nicht erfüllt ist diese Voraussetzung, wenn nur ein äusserer (und kein innerer, willentlicher) Umstand den Täter daran hindert, die Tat zu Ende zu führen. Auf die Motive kommt es nicht an; Angst vor Strafe genügt. Nach der Formel von FRANK ist der Rücktritt dann freiwillig, wenn sich der Täter sagt: „Ich will nicht zum Ziel kommen, selbst wenn ich es könnte.“ Unfreiwillig ist der Rücktritt dagegen, wenn sich der Täter sagt: „Ich kann nicht zum Ziel kommen, selbst wenn ich es wollte.“

4. Tätige Reue 65 Bei der tätigen Reue verhindert der Täter aus eigenem Antrieb die Vollendung der Tat.

a) Objektive Seite 66 Die tätige Reue ist nur beim beendeten Versuch möglich. Beendet ist der Versuch, wenn der

Täter alle nach seinem Tatplan erforderlichen Handlungen ausgeführt hat, der Erfolg aber ausgeblieben ist. Im Einzelnen erforderlich ist, dass:

– der Täter alle nach seinem Tatplan erforderlichen Handlungen ausgeführt hat;

– der Täter mit dem Ziel tätig wird, den Erfolgseintritt zu verhindern; und Unerheblich ist laut h.L., ob der Beitrag kausal für das Ausbleiben des Erfolges ist (anders der Wortlaut von Art. 23 Abs. 1). Hier liegt übrigens der Unterschied zum Rücktritt, wo der Täter keinen aktiven Beitrag zur Verhinde-rung des Erfolgs leisten muss.

– der Erfolg auch tatsächlich ausbleibt. Das ergibt sich eigentlich bereits aus dem objektiven Tatbestand.

b) Subjektive Seite 67 Der Beitrag zur Verhinderung des Erfolgseintritt muss freiwillig geleistet werden.

Daran fehlt es, wenn sich der Täter nur aufgrund äusserer Umstände gezwungen sieht, den Erfolgseintritt zu ver-hindern. Beispiel: Der Täter schiesst auf das Opfer; als er wegrennen will, sieht ihn ein Passant. Der Täter tut nun so, als würde er dem Opfer helfen. Durch seine Hilfe wird der Tod des Opfers schlussendlich tatsächlich abgewen-det. Der Täter hat diesfalls nicht freiwillig den Erfolgseintritt verhindert. Gegenbeispiel: Der Täter entschliesst sich aus Angst, den von ihm gelegten Brand zu löschen (allerdings fraglich, ob Angst auf einen freien Willen zurückzu-führen ist, oder ob Angst gerade die Freiwilligkeit einer Handlung verdrängt).

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5. Abgrenzung von beendetem und unbeendetem Versuch 68 Massgebendes Abgrenzungskriterium ist die Vorstellung des Täters: Hat der Täter alles nach

seinem Plan nötige getan, um den Erfolg herbeizuführen, ist der Versuch beendet, sonst nicht. Beides wird bei der Strafzumessung berücksichtigt.

6. Versuch und Übertretung 69 Der Versuch ist bei Verbrechen und Vergehen strafbar (Art. 22 Abs. 1). Bei Übertretungen ist

Art. 105 Abs. 2 zu beachten.

7. Rechtsfolge 70 Bei Versuch kann das Gericht die Strafe mildern (Art. 22 Abs. 1 i.V.m. Art. 48a).

Dem Wortlaut von Art. 24 Abs. 1 nach kommt die fakultative Strafmilderung von Art. 22 Abs. 1 auch dem Anstif-ter zugute, wenn die Haupttat im Versuch stecken bleibt. Grund dafür ist das Prinzip der limitierten Akzessorietät: Wenn die Anstiftung nur strafbar ist, wenn die Haupttat vorsätzlich und widerrechtlich (aber nicht schuldhaft; da-her „limitiert“) begangen wurde, folgt daraus, dass Merkmale, welche den Tatbestand oder die Rechtswidrigkeit der Haupttat betreffen, auch auf die (akzessorische) Anstiftung übertragen werden. Dazu gehört auch der Versuch, weil dieser auf die Ebene des (obj. und subj.) Tatbestandes „gehört“. Anderes gilt freilich dann, wenn das Ver-suchsstadium aufgrund des Rücktritts oder der tätigen Reue (Art. 23 Abs. 1) des Haupttäters nicht überschritten wird (Art. 23 Abs. 2–4). In solchen Fällen profitiert der Anstifter nicht von der Strafmilderung von Art. 22 Abs. 1, und zwar deshalb, weil Rücktritt und tätige Reue nicht auf die Ebene des Tatbestandes „gehören“. Vielmehr han-delt es sich dabei um besondere persönliche Verhältnisse i.S.v. Art. 27. Vgl. bereits den Wortlaut von Art. 23 Abs. 2: „Sind an einer Tat mehrere Täter oder Teilnehmer beteiligt, so kann das Gericht die Strafe dessen mildern [...], der aus eigenem Antrieb dazu beiträgt, die Vollendung der Tat zu verhindern.“

8. Praktisches Vorgehen 71 Praktisch wäre bei einer Prüfung wie folgt vorzugehen:

– Feststellung, dass der objektive Tatbestand nicht erfüllt ist, der subjektive hingegen schon;

– Strafbarkeit des Versuchs prüfen (Art. 22 i.V.m. Art. 10 Abs. 2 u. 3, evtl. Art 105 Abs. 2);

– Prüfung des Beginns der Ausführungshandlung;

– Prüfung des offensichtlich untauglichen Versuchs; Evtl. Abgrenzung zum strafbaren tauglichen Versuch (kein grober Unverstand), zum straflosen Wahndelikt und zum straflosen untauglichen Subjekt.

– Rechtswidrigkeit und Schuld;

– versuchsspezifisch: Rücktritt oder tätige Reue;

– objektive Strafbarkeitsbedingungen.

D. Die Rechtswidrigkeit

1. Einwilligung des Verletzten 72 Man unterscheidet zwei Grundgedanken der Einwilligung des Verletzten:

– Der Verletzte verzichtet auf den Rechtsschutz Problematisch: In manchen Fällen (bei Offizialdelikten) hängt die Strafverfolgung nicht vom Strafantrag ab.

– Die Einwilligung hebt die Rechtsgutverletzung selbst auf Die Idee ist hier, dass nicht das Rechtsgut selbst, sondern die freie Verfügungsmöglichkeit darüber geschützt wird. Die Beeinträchtigung des Rechtsguts kann demnach kein Unrecht sein, wenn sie vom Willen des Betroffenen ge-deckt ist. Man spricht vergröbernd von einem Verzicht auf das Rechtsgut (und nicht nur auf den Rechtsschutz).

73 Man unterscheidet grds. zwischen der tatbestandsausschliessenden und der rechtfertigenden Einwilligung. Allerdings ist die Frage, ob die Einwilligung des Verletzten „schon“ den Tatbe-stand oder „erst“ die Rechtswidrigkeit ausschliesst, ohne praktische Bedeutung. Die Anforde-rungen an die konkrete Einwilligung des Verletzten sind im Einzelfall aufgrund von Sachge-sichtspunkten festzulegen.

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Nicht unter die Rechtswidrigkeit subsumiert man z.B. die Fälle, in denen die Einwilligung des Betroffenen bereits die Tatbestandsmässigkeit entfallen lässt. Einverständliche Sexualbeziehungen sind beispielsweise nicht als eine mit Einwilligung des Verletzten verübte Vergewaltigung zu qualifizieren.

74 Die Rechtsgutverletzung wird bei der Einwilligung des Verletzten nicht – wie sonst – auf-grund eines höheren Interesses aufgehoben, sondern aufgrund der Verfügung des Rechtsgut-trägers über das betroffene Gut.

75 Die Einwilligung des Verletzten ist unter folgenden Voraussetzungen wirksam:

a) Individualrechtsgut 76 Mit dem betroffenen Rechtsgut dürfen ausschliesslich Individualinteressen geschützt sein.

Weil die Urkundenfälschung nicht nur Invidualinteressen, sondern auch das Rechtsgut „Treu und Glauben im Ge-schäftsverkehr“ schützt, ist sie nicht einwilligungsfähig.

b) Verfügungsgewalt des Einwilligenden über das Rechtsgut 77 Das betroffene Rechtgut muss in der Verfügungsgewalt des Einwilligenden stehen. Die Ver-

fügungsgewalt des Trägers der Individualinteressen wird rechtlich nicht uneingeschränkt an-erkannt. Das geltende Recht billigt niemandem die Freiheit zu, andern gegenüber auf sie selbst als ganze oder ohne triftige Gründe in wesentlicher Hinsicht zu verzichten. Beispiele: Die Einwilligung in die vorsätzliche Auslöschung des Lebens ist unwirksam (vgl. Art. 114). Die Einwil-ligung in eine einfache Körperverletzung wird allgemein anerkannt, ohne Rücksicht auf die Gründe des Verletzten. Bei der schweren Körperverletzung hingegen wird zumeist auf den Zweck der Einwilligung abgestellt. Bei den meisten anderen Individualrechtsgütern (die nicht das Leben oder die körperliche Unversehrtheit betreffen, z.B. Ehre, Vermögen etc.) wird die Einwilligung grds. anerkannt.

c) Akt der Selbstbestimmung 78 Die Einwilligung muss im konkreten Fall ein Akt wirklicher Selbstbestimmung sein. Der Be-

troffene muss (i.S. der Urteilsfähigkeit):

– Bedeutung und Tragweite des tatbestandsmässigen Eingriffs beurteilen können; und

– frei von ausserhalb der Sache liegenden Einflüssen entscheiden können (Willensmängel). Irrtum, Drohung oder Täuschung machen die Einwilligung unwirksam.

79 Anstelle des urteilsunfähigen Opfers kann auch der gesetzliche Vertreter einwilligen.

d) Einwilligung vor der Tat 80 Die Einwilligung muss vor der Tat erfolgen. Die nachträgliche Zustimmung ist belanglos. Die

Einwilligung kann jederzeit widerrufen werden. Sie kann auch konkludent erfolgen.

e) Wissen des Täters 81 Der Täter muss um die Einwilligung des Verletzten wissen.

Dort, wo die Einwilligung vorhanden ist, sie dem Täter aber nicht bekannt ist, ist ein untauglicher Versuch anzu-nehmen. Die Vorzeichen sind im Gegensatz zum „üblichen“ Versuch gerade umgekehrt: Der objektive Tatbestand der Rechtfertigung liegt vor, der subjektive nicht. Versuch ist die Folge, weil zwar ein Handlungsunwert, aber kein Erfolgsunwert vorliegt.

2. Die mutmassliche Einwilligung des Verletzten 82 Die mutmassliche Einwilligung ist in den Fällen relevant, wo der Betroffene dem Eingriff in

seine Rechtsgüter nicht zugestimmt oder nicht zustimmen können, vermutlich aber zuge-stimmt hätte. Sie tritt an die Stelle der tatsächlichen Einwilligung und kann daher nie weiter-gehen als diese. Die Voraussetzungen einer Rechtfertigung durch mutmassliche Einwilligung sind im Einzelnen:

a) Individualrechtsgut 83 Mit dem betroffenen Rechtsgut dürfen ausschliesslich Individualinteressen geschützt sein.

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Weil die Urkundenfälschung nicht nur Invidualinteressen, sondern auch das Rechtsgut „Treu und Glauben im Ge-schäftsverkehr“ schützt, ist sie nicht einwilligungsfähig.

b) Verfügungsgewalt des Einwilligenden über das Rechtsgut 84 Das betroffene Rechtgut muss in der Verfügungsgewalt des Einwilligenden stehen. Die Ver-

fügungsgewalt des Trägers der Individualinteressen wird rechtlich nicht uneingeschränkt an-erkannt. Das geltende Recht billigt niemandem die Freiheit zu, andern gegenüber auf sie selbst als ganze oder ohne triftige Gründe in wesentlicher Hinsicht zu verzichten.

c) Sozial üblicher Eingriff 85 Praktisch denkbar sind nur solche Fälle, in denen der Eingriff, mit Zustimmung des Betroffe-

nen vorgenommen, völlig im Rahmen des sozial Üblichen gelegen hätte.

d) Zwangssituation 86 Zwang, eine Entscheidung zu treffen, sowie Unmöglichkeit der Einwilligung des Verletzten.

e) Handeln im Sinne des Betroffenen 87 Der Täter muss im Sinne des Betroffenen handeln.

Die Übereinstimmung nicht mit dem wirklichen, sondern mit dem mutmasslichen Willen trägt die Rechtfertigung. Steht der wirkliche Wille des Betroffenen dem Eingriff allerdings erkennbar entgegen, so scheidet eine Rechtferti-gung hier aus.

f) Wissen des Täters 88 Der Täter muss die objektiven TBE kennen.

3. Der rechtfertigende Notstand 89 Der Notstand hat eine Doppelnatur. Das Gesetz unterscheidet zwischen dem rechtfertigenden

und dem entschuldbaren Notstand. Beim rechtfertigenden Notstand ist bereits das Unrecht tat-bestandsmässigen Verhaltens ausgeschlossen. Beim Notstand ist ein eigenes oder fremdes Rechtsgut bedroht, und der Täter greift in das Rechtsgut eines unbetei-ligten Dritten (i.c. das Opfer) ein, um das eigene od. fremde (Notstandshilfe) Rechtsgut zu retten (die Bedrohung kann gleichwohl in einem rechtswidrigen Angriff liegen; greift der Täter aber nicht in die Rechtsgüter des Angrei-fers, sondern eines anderen ein, liegt Notstand vor). Bei der Notwehr hingegen ist ein eigenes oder fremdes Rechtsgut durch einen Angreifer bedroht, und der Täter greift in die Rechtsgüter des Angreifers ein, um es zu ret-ten.

90 Damit der Notstand rechtfertigend wirkt, kann es nicht darauf ankommen, ob der Täter die Notstandslage herbeigeführt hat. Allerdings bleibt er dafür verantwortlich, dass sie überhaupt eingetreten ist. Beispiel: Jemand zündet vorsätzlich ein Haus an, und versucht dann, es zu löschen. Um das zu bewerkstelligen, muss er den Briefkasten des Nachbarn zerstören (z.B. mit dem Auto kaputt fahren). Die Sachbeschädigung ist da-mit noch gerechtfertigt. Die ursprüngliche Brandstiftung nicht.

91 Die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstandes sind:

a) Individualrechtsgut Eigenes Rechtsgut (Notstand) oder Rechtsgut einer anderen Person (Notstandshilfe) bedroht. Nur Individualrechtsgüter sind notstandsfähig. Ausnahme: Der übergesetzliche Notstand. Hinweis: Ist ein Rechts-gut des Opfers bedroht, ist die Notstandshilfe ausgeschlossen. Es darf nicht sein, dass ein Aussenstehender (Täter) einen Interessenkonflikt für das Opfer entscheidet. Beispiel: Ein Arzt kann einen Patienten, der nicht behandelt werden will, nicht aufgrund der Notstandshilfe zwangsbehandeln. Er benötigt dessen Einwilligung. Vgl. allerdings auch die Ausführungen zur Risikoverringerung (Rz. 23 ff.).

b) Unmittelbare Gefahr 92 Unmittelbare Gefahr (für das eigene Rechtsgut oder jenes der anderen Person): Unmittelbar ist

die Gefahr, wenn weiteres Zuwarten die Gefahr wesentlich erhöhen könnte. Wodurch die Ge-

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fahr begründet wird, spielt – im Gegensatz zur Notwehr, wo die Gefahr in einem rechtswidri-gen Angriff liegt – keine Rolle.

c) Strikte Subsidiarität 93 Die Gefahr darf nicht anders abwendbar sein als durch die mit Strafe bedrohte Tat. Gibt es

eine schonendere (ggf. ebenfalls strafbare) Möglichkeit, die betroffenen Rechtsgüter zu retten, muss diese zwingend ergriffen werden. Demgegenüber verlangt Notwehr nur die „Angemessenheit der Abwehrmittel“ – also keine strikte Subsidiarität. Der Angegriffene muss bei der Notwehr das leichteste ihm zur Verfügung stehende Abwehrmittel wählen.

d) Proportionalität (Wahrung höherwertiger Interessen) 94 Das gewahrte Interesse (nicht: Individualrechtsgut!) muss (deutlich) höherwertig sein als das

verletzte Interesse. Sind die beiden Interessen gleichwertig, ist der Notstand nur gerechtfertigt, wenn dem vom Täter geschützten Rechtsgut eine viel schwerere Verletzung droht als jenem Rechtsgut, in das der Täter eingreift (ansonsten ggf. entschuldbarer Notstand). Rechtfertigend ist der Notstand also nur, wenn die Preisgabe des gefährdeten Gutes objektiv unzumutbar war. Ent-schuldbar ist der Notstand e contrario dann, wenn die Preisgabe des gefährdeten Gutes subjektiv unzumutbar war (vgl. Art. 18 Abs. 2). Bei subjektiver Zumutbarkeit besteht immerhin die Möglichkeit der Strafmilderung (Art. 18 Abs. 1).

95 Für die Güterabwägung können diverse Elemente eine Rolle spielen. Rang der in Frage stehenden Rechtsgüter (z.B. Leben vor Vermögen); Schwere des Eingriffs (z.B. Körperverlet-zung vs. Bagatelleingriff in die pers. Freiheit); Grösse der Gefahr (z.B. Verletzung der Verkehrsregeln zur Rettung eines Verletzten). Die Grösse der Gefahr ist allerdings nur zu berücksichtigen, wenn die Rettungshandlung ein fremdes Rechtsgut nicht mit Sicherheit beeinträchtigt. Nicht ausschlaggebend ist die Anzahl der betroffenen Rechtsgüter (man darf nicht ein Leben riskieren, um fünf andere zu retten). Geht es nur um ein Rechtsgut, das man, um es aus einer Gefahr zu retten, einer anderen Gefahr aussetzen muss, so tritt die Gefahren- an die Stelle der Gü-terabwägung: Die Rettungshandlung ist rechtmässig, wenn die mit ihr verbundene Gefahr geringer als die abge-wendete war, und dies auch dann, wenn die Rettungshandlung misslingt (Prinzip des überwiegenden Interesses). Man nennt diesen Fall auch „individuelle Interessenkollision“.

e) Wissen und Willen des Täters 96 Der Täter muss alle obigen Voraussetzungen (die Notstandssituation) kennen (Wissen), und er

muss, wie das Gesetz hier ausdrücklich fordert, handeln, „um […] zu retten“ (Rettungswille).

4. Der übergesetzliche Notstand 97 Beim rechtfertigenden Notstand kann es nur um Individualrechtsgüter gehen (vgl. Rz. 91).

Der übergesetzliche Notstand trägt deshalb zur Wahrung von Interessen der Allgemeinheit bei (er ist identisch mit dem sog. Staatsnotstand). Die übrigen Voraussetzungen sind dieselben wie beim rechtfertigenden Notstand.

5. Die rechtfertigende Notwehr 98 Bei der Notwehr greift der Täter in die Rechtsgüter des Angreifers ein – dies im Gegensatz

zum Notstand, wo der Täter in die Rechtsgüter eines unbeteiligten Dritten eingreift.

99 Die Voraussetzungen der rechtfertigenden Notwehr sind:

a) Unmittelbarer Angriff 100 Der Angriff muss unmittelbar drohen (d.h. dass jedenfalls Anzeichen einer Gefahr vorhanden

sind, die eine Verteidigung nahe legen) oder gegenwärtig sein (d.h. die Zufügung einer neuen oder die Vergrösserung der bereits eingetretenen Verletzung durch das Verhalten des Angrei-fers steht unmittelbar bevor).

b) Individualrechtsgut 101 Der Angriff richtet sich gegen ein Individualrechtsgut des Täters (Notwehr) oder einer ande-

ren Person (Notwehrhilfe).

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Dazu zählen auch solche Individualrechtsgüter, die keinen strafrechtlichen Schutz geniessen.

c) Rechtswidrigkeit des Angriffs Jeder vorsätzliche oder fahrlässige Angriff ohne Rechtfertigungsgrund ist rechtswidrig.

d) Abwehr richtet sich gegen die Rechtsgüter des Angreifers

e) Angemessenheit der Abwehrmittel 102 Subsidiaritätsprinzip: Der Angegriffene muss das mildeste ihm zur Verfügung stehende, er-

folgsversprechende Abwehrmittel (Verteidigung, nicht: Flucht) wählen. Demgegenüber wird im Notstand verlangt, dass der Täter das objektiv mildeste Mittel zum Rechtsgüterschutz wählt (daher „strikte“ Subsidiarität). Gibt es eine schonendere Rettungsmöglichkeit, muss diese zwingend ergriffen werden.

103 Proportionalitätsprinzip: Die den Umständen angemessene Verteidigung erfordert eine gewis-se Proportionalität zwischen der abgewehrten und der durch sie herbeigeführten Rechtsguts-beeinträchtigung. Zwar muss der Angegriffene zur Erfüllung des Proportionalitätsprinzips hier nicht höherwertige Interessen schützen (anders beim Notstand!). Trotzdem darf zwischen den beiden betroffenen Rechtsgütern kein offensichtliches Missverhältnis bestehen. Ein Vermö-genseingriff vermag i.d.R. keine schwere Körperverletzung oder Tötung zu rechtfertigen. Es müssen immer die Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden (vgl. dazu die Ausführun-gen zur Proportionalität beim Notstand), das Gericht hat einen grossen Ermessensspielraum.

104 Hinweis: Es wird lediglich die Angemessenheit der Abwehrmittel, nicht der Abwehr als sol-cher verlangt. Das heisst, dass der Angegriffene dem Angriff nicht auszuweichen braucht, flüchten oder polizeiliche Hilfe holen muss. Bei der Notwehr ist also mehr erlaubt als beim Notstand. Grund dafür ist die Überlegung, dass Recht dem Unrecht nicht weichen muss.

f) Wissen und Willen des Täters 105 Der Täter muss sich der Notwehrsituation bewusst sein (Wissen) und mit dem Willen zur

Verteidigung handeln (Verteidigungswille).

g) Weitergehende Einschränkungen der Notwehr 106 Beim Angriff schuldunfähiger Personen (Kindern, Geisteskranken) sollte man Vorsicht walten

lassen (obwohl Notwehr nur den rechtswidrigen Angriff erfordert). Der Angegriffene muss wenn möglich ausweichen und schlimmstenfalls einen leichten Angriff dulden. Bei der provo-zierten Notwehrlage bleibt der Täter in vollem Umfang strafbar. Dabei gibt es unzählige Ab-stufungen. Eine Einschränkung der Notwehr kann sich auch im Blick auf besondere Pflichten gegenüber dem Angreifer rechtfertigen (z.B. bei Ehegatten).

6. Weitere Rechtfertigungsgründe 107 In den meisten folgenden Fällen (vorläufige Festnahme, Amtspflicht, behördliche Bewilligung

etc.) stellt die entsprechende Norm (z.B. das Recht zur vorläufigen Festnahme) den objektiven Tatbestand des Rechtfertigungsgrundes dar. Subjektiv ist mindestens zu fordern, dass der Tä-ter in Kenntnis des Rechtfertigungsgrundes handelt und diesen auch in Anspruch nehmen will.

a) Die gesetzlich erlaubte Handlung 108 Wer handelt, wie es das Gesetz gebietet oder erlaubt, verhält sich rechtmässig, auch wenn die

Tat mit Strafe bedroht ist (Art. 14). Dazu zählen:

– Hoheitliche Eingriffe: Benötigen eine gesetzliche Grundlage (Art. 36 BV);

– Vorläufige Festnahme;

– Selbsthilfe nach Art. 52 Abs. 3 OR: Relevant, wenn zeitl. Grenzen d. Notwehr überschritten;

– Züchtigungsrecht nach Art. 296, 405 ZGB: Nur Tätlichkeiten (Art. 126) sind gedeckt.

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b) Amtspflichten 109 Rechtsstaatlich heikel, weil in vielen Fällen keine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht.

c) Berufspflichten 110 Erlaubt kann hier nur sein, was die Rechtsordnung an irgendeiner Stelle gebietet. Strafrecht-

lich relevante Eingriffe in geschützte Interessen können nicht schon durch die Ausübung eines bestimmten Berufs gerechtfertigt werden. Beispiel: Art. 321.

d) Behördliche Bewilligungen 111 Nichtige Bewilligungen sind strafrechtlich unbeachtlich.

e) Wahrnehmung berechtigter Interessen 112 Es handelt sich um einen Rechtfertigungsgrund, der dem Notstand ähnlich ist. Aber anstatt ein

individuelles Freiheitsgut zu wahren, wird die Ausübung allgemeiner Freiheitsrechte gesi-chert. Es sollen publizistische, künstlerische und wissenschaftliche Freiräume bewahrt wer-den.

113 Als berechtigtes Ziel kann jedes schutzwürdige private oder öffentliche Interesse in Betracht kommen, bei dem es nicht schon um die Rettung bedrohter Rechtsgüter geht. Die Tat lässt sich rechtfertigen, wenn sie ein „zur Erreichung des berechtigten Ziels notwendiges und an-gemessenes Mittel ist, sie insoweit den einzig möglichen Weg darstellt und offenkundig we-niger schwer wiegt als die Interessen, welche der Täter zu wahren versucht“. Ausserdem muss der Täter den Rechtsweg mit legalen Mitteln beschritten und ausgeschöpft haben. Mit anderen Worten ist eine Interessenabwägung zwischen der Schwere der Rechtsgutverletzung und dem entspre-chenden Interesse vorzunehmen.

f) Pflichtenkollision Von der individuellen Interessenkollision (vgl. Rz. 95 in fine) zu unterscheiden.

114 Bei der Pflichtenkollision treffen zwei (oder mehrere) Rechtspflichten in derselben Situation so zusammen, dass der Verpflichtete keine von ihnen ohne Verletzung der anderen erfüllen kann. Hier verhält sich (wie bei der Güterkollision) rechtmässig, wer die höhere Pflicht auf Kosten der weniger wichtigen erfüllt. Sind die kollidierenden Pflichten gleichwertig, handelt rechtmässig, wer eine der beiden Pflichten erfüllt.

7. Die subjektiven Elemente der Rechtfertigung 115 In der Regel genügt es, wenn der Täter das rechtlich Erlaubte im Wissen um die rechtfertigen-

de Sachlage tut (STRATENWERTH, AT I, § 10 Rz. 105). Anderes muss freilich dort gelten, wo der Täter sachfremde Zwecke verfolgt. Beispiel: Ein Vater, der von seinem Züchtigungsrecht Gebrauch macht, nicht um sein Kind zu erziehen, sondern um seinem Sadismus freien Lauf zu lassen.

116 Hinsichtlich der subjektiven Elemente sind zwei (drei) Fälle von „Fehlern“ möglich:

a) Putativrechtfertigung Der Täter glaubt aufgrund einer falschen Einschätzung des Sachverhalts einen Rechtferti-gungsgrund zu haben, ohne dass dies der Fall ist (Putativrechtfertigung). Die objektiven Vo-raussetzungen der Rechtfertigung fehlen; die subjektiven liegen hingegen vor. Es liegt ein Sachverhaltsirrtum (Art. 13) vor (Fahrlässigkeit gem. Art. 13 Abs. 2 prüfen!). Wäre das Ver-halten unter Annahme der vom Täter vorgestellten Sachlage gerechtfertigt, ist er grundsätz-lich nicht strafbar. Wäre aber selbst dann kein Rechtfertigungsgrund gegeben, wenn die Vor-stellung des Täters zutreffen würde, ist sein Verhalten nicht gerechtfertigt (allenfalls Strafmil-derung nach Art. 19 Abs. 2; evtl. liegt eine irrige Annahme einer unzumutbaren Sachlage, also ein nach Art. 13 zu behandelnder Sachverhaltsirrtum auf der Schuldebene vor).

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Diese Sachlage liegt insbesondere beim extensiven Exzess (entschuldbare Notwehr) vor, wo der Täter den Zeit-rahmen für die erlaubte Abwehr überschreitet (der Angriff ist entweder nicht mehr „unmittelbar“ oder „dauert nicht mehr an“). Eigentlich handelt es sich beim extensiven Exzess um einen Tatbestandsirrtum i.S.v. Art. 13, wenn sich der Täter über das Stadium des Angriffs irrt (objektive Seite der Rechtfertigung ist nicht erfüllt, subjektive hinge-gen schon). Erkennt er hingegen die wahre Sachlage (dass kein Rechtfertigungsgrund vorliegt), liegt kein Ab-wehrwille vor.

b) Der indirekte Verbotsirrtum Beim indirekten Verbotsirrtum glaubt der Täter aufgrund falscher Gesetzeskenntnis einen Rechtfertigungsgrund zu haben, ohne dass dies der Fall ist. Der indirekte Verbotsirrtum gehört (wie der direkte auch) zur Schuldfrage und ist dort zu prüfen (vgl. Rz. 134).

c) Rechtswidrigkeit und Versuch 117 Der Täter weiss von der rechtfertigenden Sachlage nichts. Die objektiven Voraussetzungen

der Rechtfertigung liegen vor; die subjektiven hingegen nicht. Rechtsfolge ist die Annahme eines vollendeten Versuchs, und zwar deshalb, weil – wie bei jedem Versuch – der Hand-lungsunwert zwar vorliegt, der Erfolgsunwert aber nicht. Beispiel: Ein Patient gibt der Krankenschwester die Einwilligung, der behandelnde Arzt weiss aber nichts davon. Der Erfolgsunwert fällt hier weg. Achtung: Bei der Tatbestandsmässigkeit sind die Vorzeichen für den Versuch ge-nau umgekehrt: Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt, der subjektive hingegen schon. Auch hier liegt nur der Handlungsunwert vor.

E. Die Schuld 118 Das Strafrecht verlangt für die Strafbarkeit des Täters zwingend das Vorliegen der Schuld:

Ohne Schuld keine Strafe (Schuldprinzip).

119 Schuld ist die persönliche Vorwerfbarkeit der Tat (normativer Schuldbegriff): Nur wo der Täter die Möglichkeit hatte, die rechtliche Sollensforderung zu erkennen und sich nach ihr zu richten, kann ihm sein rechtswidriges Verhalten vorgeworfen werden. Obwohl an sich ganz auf die individuellen Fähigkeiten des Täters und ganz auf die unwiederholbare Situation ab-gestellt werden müsste, steckt im Schuldmassstab des Strafrechts eine gewisse Generalisierung – in bestimmten Grenzen wird die Fähigkeit des Täters, sich normgerecht zu verhalten, von ihm kurzerhand gefordert, d.h. als vor-handen vorausgesetzt (sozialer Schuldbegriff).

120 Schuldausschlussgründe sind:

– Die Schuldunfähigkeit des Täters (Rz. 121 ff.)

– Fehlendes Unrechtsbewusstsein des Täters (fehlende Verbotskenntnis, Rz. 131 ff.)

– Unzumutbarkeit rechtmässigen Verhaltens (insbesondere Notwehrexzess, der entschuldi-gende Notstand, Rz. 139 ff.)

1. Die Schuldunfähigkeit 121 War der Täter zur Zeit der Tat nicht fähig, das Unrecht seiner Tat einzusehen oder gemäss

dieser Einsicht zu handeln, so ist er nicht strafbar (Art. 19 Abs. 1). Die Schuldunfähigkeit ist demnach immer relativ. Ihre Voraussetzungen sind:

a) Ausschluss/Verminderung der Einsichtsfähigkeit Ausschluss/Verminderung der Einsichtsfähigkeit („das Unrecht der Tat einzusehen“): Kann der Täter tatsächliche Abläufe nicht erfassen, oder kann er zwischen Recht und Unrecht nicht unterscheiden, ist seine Einsichtsfähigkeit gemindert (Abs. 2) oder ausgeschlossen (Abs. 1). Es handelt sich um intellektuelle „Fehler“ (Wissenselement).

b) Ausschluss/Verminderung der Bestimmungsfähigkeit 122 Ausschluss/Verminderung der Bestimmungsfähigkeit („sich entsprechend dieser Einsicht zu

verhalten“): Die Bestimmungsfähigkeit fehlt (Abs. 1) oder ist vermindert (Abs. 2), wenn der

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Täter der Versuchung zur Tat nicht oder nur durch eine ungewöhnliche Willensanstrengung (DONATSCH/TAG, Strafrecht I, S. 273) hätte widerstehen können. Es handelt sich um voluntative „Fehler“ (Willenselement).

c) Ausschluss/Verminderung obiger Fähigkeiten zur Zeit der Tat 123 Die Schuldfähigkeit ist relativ. Einzig die Fähigkeit zur Zeit der Tathandlung ist massgebend.

d) Ausschluss/Verminderung obiger Fähigkeiten in Bezug auf die konkrete Straftat 124 Aus der Relativität der Schuldfähigkeit ergibt sich auch, dass sie sich auf die konkrete Straftat

beziehen muss. So schliesst beispielsweise eine schwere Alkoholisierung die Hemmung bei einem Sexualdelikt eher aus als bei einer Urkundenfälschung.

e) Gründe für die Schuldunfähigkeit 125 Einsichts- und Bestimmungsfähigkeit ausschliessen oder vermindern können insbesondere:

– Jugendliches Alter; Unter 10 Jahren können gegen Kinder keine strafrechtlichen Sanktionen ausgefällt werden. Für Jugendliche zwi-schen 10 und 18 Jahren gilt das Jugendstrafrecht. Dort steht der Erziehungsgedanke im Vordergrund. Nur in Aus-nahmefällen ist eine Freiheitsstrafe bis vier Jahre möglich.

– psychopathologische Zustände; Dazu zählen die Schizophrenie, das Delir, der Wahn, der pathologische Intelligenzmangel, allgemein Bewusst-seinsstörungen etc.

– physiologische Erscheinungen; Physiologische Erkrankungen können sich auf die Psyche auswirken und damit die Einsichts- und Bestimmungsfä-higkeit herabsetzen. Beispielsweise Hirntumore können eine Schizophrenie „nachahmen“. Auch die völlige Über-müdung ist eine physiologische Erscheinung, welche die Einsichts- und Bestimmungsfähigkeit herabsetzen kann.

– Alkoholkonsum im Speziellen. Beim Alkoholkonsum nimmt das BGer Schuldunfähigkeit bei über 3 Promille an. Unter 2 Promille gilt man dem-gegenüber als grds. schuldfähig.

f) Rechtsfolgen 126 Vgl. Art. 19 Abs. 1–3.

2. Sonderfall der actio libera in causa Wichtig: Der Vorsatz ist i.d.R. zu bejahen; Alkoholisierung hat keinen Einfluss auf den Vorsatz, sondern senkt le-diglich die Hemmschwelle (und damit die Zurechnungsfähigkeit). Bei einer Prüfung stellt man auf der Schuldebe-ne dann fest, dass die Schuldfähigkeit (mindestens) beeinträchtigt ist. Dann prüft man die Voraussetzungen von Art. 19 Abs. 4.

127 Actio libera in causa bedeutet „die im Grunde [im Entschluss] freie Handlung“. Das kommt auch im Gesetz so zum Ausdruck: „Konnte der Täter die Schuldunfähigkeit […] vermeiden“ (Art. 19 Abs. 4). Die actio libera in causa ist m.a.W. ein verschuldeter Auschluss der Schuld-fähigkeit.

128 Ihre konkreten Voraussetzungen sind gem. Abs. 4:

– Vermeidbarkeit; Führte der Täter den Defektzustand im noch schuldfähigen Zustand vorsätzlich oder fahrlässig herbei, so war die Schuldunfähigkeit vermeidbar. Beispiel: Weiss der Täter nicht, dass ihm Medikamente oder Betäubungsmittel ver-abreicht werden, oder kennt er die Wirkung eines Mittels nicht, ist die Anwendung von Art. 19 Abs. 4 ausgeschlos-sen.

– Voraussehbarkeit; Hatte der Täter bei der Herbeiführung des Defektzustandes den Vorsatz bezüglich der späteren Tatbegehung, oder hätte er bei Anwendung der geschuldeten Sorgfalt zumindest mit der späteren Tatbegehung rechnen müssen (Fahr-lässigkeit), so war die spätere Tat voraussehbar. Vorsicht: Der Täter muss die konkrete Tat vorausgesehen haben

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können; es reicht nicht, wenn er irgendeine (andere) Tat vorausgesehen hat (z.B. eine Urkundenfälschung anstelle der tatsächlichen Tötung).

– schliesslich muss der Täter die eigentliche Straftat vorsätzlich oder fahrlässig begehen. Das ergibt sich im Prinzip aus der Prüfung des Delikts; handelte der Täter tatbestandsmässig, so beging er die ei-gentliche Straftat vorsätzlich oder fahrlässig. Wichtig: Der Anknüpfungszeitpunkt für den Vorsatz im Tatbestand ist der Zeitpunkt der Tat. Bei der actio libera in causa wird z.T. auch von Vorsatz gesprochen; der Anknüpfungs-punkt ist allerdings verschieden.

129 Sind Vermeidbarkeit und Voraussehbarkeit erfüllt, ist der Täter wegen vorsätzlicher Bege-hung der eigentlichen Straftat zu belangen. Handelt er in einem der beiden Fälle (oder in bei-den Fällen) fahrlässig, so ist er wegen fahrlässiger Begehung der eigentlichen Straftat zu be-langen, sofern diese überhaupt strafbar ist (vgl. Art. 12 Abs. 1).

130 Sieht das Gesetz keine Haftung wegen fahrlässiger Tatbegehung vor, kommt Art. 263 in Fra-ge. Die Norm setzt voraus:

– Begehung einer der Taten von Art. 263;

– Vorsätzliches Herbeiführen des Defektzustandes;

– mangelnde Voraussehbarkeit (Vorsatz/Fahrlässigkeit bzgl. der späteren Tat fehlen). Art. 263 ist mit Blick auf das Schuldprinzip aufgrund dieses Erfordernisses höchst problematisch!

3. Die virtuelle Verbotskenntnis 131 Wer im Zeitpunkt der Tat nicht weiss und auch nicht wissen konnte, dass sein Verhalten

rechtlichen Normen widerspricht, handelt nicht schuldhaft (Art. 21 Abs. 1). Es genügt bereits, wenn der Täter das unbestimmte Empfinden hat, etwas Unrechtes zu tun (z.B. bei Wissen um die Sittenwidrigkeit der Tat), um den (unvermeidbaren) Verbotsirrtum auszuschliessen. Dabei ist das durchschnittliche Wissen eines Laien um rechtliche Regeln massgebend. Die virtuelle Verbotskenntnis wird auch „Rechtsirrtum“ (vgl. Marginalie d. Art. 21) und „Verbotsirrtum“ genannt.

132 Für den schuldausschliessenden Verbotsirrtum wird vorausgesetzt:

– Vorliegen eines direkten/indirekten Verbotsirrtums (dazu sogleich);

– Unvermeidbarkeit des Irrtums. War der Irrtum vermeidbar, mildert das Gericht die Strafe nur (Art. 21).

a) Direkter Verbotsirrtum 133 Der Täter hält sein Verhalten schlicht für nicht verboten (fehlendes Unrechtbewusstsein). Das

ist im Kernbereich des Strafrechts eher selten.

b) Indirekter Verbotsirrtum 134 Der Täter ist sich bewusst, dass sein Verhalten normalerweise verboten wäre, hält es aber

fälschlicherweise für ausnahmsweise erlaubt. Er nimmt also einen Rechtfertigungsgrund an, den es nicht gibt. Er irrt sich im Gegensatz zur Putativrechtfertigung nicht über den Sachver-halt, sondern über die rechtliche Qualifikation seiner Handlung. Achtung: Nimmt der Täter eine falsche Sachlage an, die, wenn sie wirklich bestünde, einen Rechtfertigungsgrund schaffen würde, liegt kein Verbotsirrtum, sondern ein Sachverhaltsirrtum (Putativrechtfertigung; Art. 13) vor. Der Sachverhaltsirrtum ist systematisch der Prüfung der Rechtfertigungsgründe zuzuordnen (vgl. Rz. 116).

c) Unvermeidbarkeit des Irrtums 135 Die Rechtsfolgen nach Art. 21 sind unterschiedlich, je nachdem, ob der direkte/indirekte Ver-

botsirrtum vermeidbar war (Strafmilderung) oder nicht (Befreiung von Strafe):

136 Unvermeidbarer Irrtum: Der Irrtum ist unvermeidbar, wenn Tatsachen vorliegen, durch die sich auch ein gewissenhafter Mensch hätte in die Irre führen lassen.

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Beispiele (BGer): Auskünfte einer zuständigen Behörde, das Verhalten des Täters sei nicht strafbar; früherer ge-richtlicher Freispruch wegen desselben Verhaltens; völlig unklare gesetzliche Regelung. Hätte sich der Täter er-kundigen sollen, ist der Irrtum i.d.R. vermeidbar.

137 Vermeidbarer Irrtum: Vermeidbar ist ein Irrtum dann, wenn der Täter nach den Umständen an der Rechtmässigkeit seines Tuns hätte zweifeln müssen. Hat der Täter den Verdacht, etwas Unrechtes zu tun, wurde er von den Behörden auf die Unzulässigkeit seines Verhaltens hingewiesen, oder ist er sich der Sittenwidrigkeit seines Tuns bewusst, ist der direkte Verbotsirrtum ausgeschlossen.

4. Unzumutbarkeit rechtmässigen Alternativverhaltens im Allgemeinen 138 Ist die Entscheidungsfreiheit des Täters derart aussergewöhnlich eingeschränkt, so dass ihm

ein rechtmässiges Verhalten im Zeitpunkt der Tat nicht zumutbar war, handelte er nicht schuldhaft. Fälle der Unzumutbarkeit sind:

– Der entschuldbare Notstand;

– die entschuldbare Notwehr; sowie

– weitere Fälle (z.B. Art. 305 Abs. 2, Art. 308 Abs. 2).

5. Der entschuldbare Notstand Beispiel: Weil kein rechtfertigender Notstand, aber Hinweise auf den entschuldbaren Notstand vorliegen, ist dieser auf der Schuldebene gesondert zu prüfen. Hinsichtlich der Tatbestandselemente „Individualrechtsgut in unmittelba-rer Gefahr“ wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Zusätzliche (obj.) Anforderung an den entschuldbaren Notstand sind: (1) Hochwertigkeit des Individualrechtsguts (vgl. die Aufzählung in Art. 18 Abs. 1), (2) subjektive Unzumutbarkeit der Preisgabe des gefährdeten Guts und (3) Subsidiarität (ergibt sich bereits aus den obigen Aus-führungen). Vorliegend war das Leben des Täters bedroht. Es handelte sich dabei also um ein hochwertiges Gut i.S.v. Art. 18 Abs. 1. Der Täter hatte auf dem Floss die Wahl: Entweder, er und das Opfer ertrinken, oder er schubst das Opfer vom Floss, und überlebt. Das bedrohte und das angegriffene Interesse waren somit gleichwertig. Daher liegt subjektive Unzumutbarkeit vor. Der Täter befand sich daher in einem entschuldbaren Notstand.

a) Hochwertiges Invidiualrechtsgut in unmittelbarer Gefahr 139 Vgl. bzgl. den Begriffen „Individualrechtsgut“ und „unmittelbare Gefahr“ die Ausführungen

zum rechtfertigenden Notstand. Das zu schützende Rechtsgut muss hochwertig sein (vgl. die Aufzählung in Art. 18 Abs. 1). Leib, Leben, Vermögen, Freiheit, Ehre u.a. sind hochwertige Güter. Im Ergebnis bedeutet das, dass der entschuldbare Notstand für weniger Güter möglich ist als der rechtfertigende Notstand, der keine derartige Einschränkung kennt.

b) Subjektive Unzumutbarkeit 140 Dem Täter war die Preisgabe des gefährdeten Gutes nicht zuzumuten (subjektive Unzumut-

barkeit; Art. 18 Abs. 2). Dem Täter ist insbesondere dann nicht zuzumuten, das gefährdete Gut preiszugeben, wenn es mindestens ebenso wertvoll ist wie das Gut, in welches er eingreift (z.B. Leben des Täters vs. Leben des Opfers). Dabei ist nie auf eine abstrakte Betrachtung abzustellen, sondern es sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (wie beim Er-fordernis der Proportionalität beim rechtfertigenden Notstand).

c) Subsidiarität

d) Wissen und Willen des Täters 141 Der Täter muss alle obigen Voraussetzungen kennen (Wissen), und er muss, wie das Gesetz

hier ausdrücklich fordert, handeln, „um […] zu retten“ (Rettungswille). Das ergibt sich ebenfalls i.d.R. aus der Prüfung des rechtfertigenden Notstands.

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e) Rechtsfolge 142 Der Täter handelte nicht schuldhaft (Art. 18 Abs. 2). Eine Strafmilderung ist für den unent-

schuldbaren Notstand vorgesehen, nämlich dann, wenn die Handlung den Erfordernissen der subjektiven Unzumutbarkeit oder der Subsidiarität (!) nicht genügt (Art. 18 Abs. 1).

6. Die entschuldbare Notwehr 143 Beim Notwehrexzess ist regelmässig eine der Voraussetzungen der rechtfertigenden Notwehr

nicht erfüllt:

a) Intensiver Exzess 144 Das Erfordernis der Subsidiarität und/oder Proportionalität wird vom Täter nicht eingehalten:

Der Täter wehrt den Angriff entweder nicht mit dem leichtesten ihm zur Verfügung stehen-den, erfolgsversprechenden Mittel ab (Subsidiarität), oder die von ihm begangene Rechtsguts-beeinträchtigung steht in keinem Verhältnis zur Rechtsgutsbeeinträchtigung des Angreifers (Proportionalität).

b) Extensiver Exzess 145 Der Angegriffene überschreitet den Zeitrahmen für die erlaubte Abwehr: Der Angriff ist ent-

weder nicht mehr „unmittelbar“ oder „dauert nicht mehr an“. Der extensive Exzess ist eigent-lich kein Schuldausschlussgrund (wird von einem Teil der Lehre aber als solcher behandelt). Tatsächlich handelt es sich eher um einen Tatbestandsirrtum i.S.v. Art. 13, wenn sich der Tä-ter über das Stadium des Angriffs irrt (objektive Seite der Rechtfertigung ist nicht erfüllt, sub-jektive hingegen schon). Erkennt er hingegen die wahre Sachlage (dass nämlich kein Recht-fertigungsgrund vorliegt), liegt kein Abwehrwille vor.

c) Rechtsfolge 146 Rechtsfolge bei der entschuldbaren Notwehr ist die obligatorische Strafmilderung nach Art.

16 Abs. 1. Ausnahmsweise, wenn der Täter die Grenzen der Notwehr in „ entschuldbarer Auf-regung oder Bestürzung über den Angriff“ überschreitet (asthenischer Affekt), handelt er nicht schuldhaft (Art. 16 Abs. 2). Wichtig: Der in entschuldbarer Notwehr Handelnde kann zu einer Massnahme verurteilt werden. Ausserdem ist die entschuldbare Notwehr ein rechtswidriger Angriff, Notwehr des Angegriffenen ist also wiederum erlaubt.

F. Objektive Strafbarkeitsbedingungen 147 Objektive Strafbarkeitsbedingungen machen die Strafbarkeit einer Handlung von einer zusätz-

lichen Bedingung abhängig. Der Eintritt dieser Bedingung muss nicht auf die Tathandlung zu-rückzuführen sein (kein Kausalzusammenhang); m.a.W. sind sie nicht Teil der Umschreibung des verbotenen Verhaltens. Der subjektive Tatbestand muss sich nicht auf diese Bedingungen beziehen. Es kommt allein auf ihr Vorliegen/Nichtvorliegen an. Beispiele: Eröffnung des Konkurses oder Ausstellung eines Verlustscheins bei Art. 163 Ziff. 1; Eintritt des Todes oder der Körperverletzung beim Raufhandel (Art. 133) und beim Angriff (Art. 134).

II. Anmerkungen zum Medienstrafrecht 148 Das Medienstrafrecht (Art. 28 f.) enthält eine von den normalen Bestimmungen über Täter-

schaft und Teilnahme abweichende besondere Regelung für Delikte im Bereich der Medien. Vgl. die Rechtsfolge von Art. 28 Abs. 1: Der Autor haftet grds. allein; notwendige Beteiligte bleiben straflos.

A. Voraussetzungen von Art. 28 149 Voraussetzungen für die medienstrafrechtliche Haftung sind:

– Vorliegen einer strafbaren Handlung; Mediendelikte sind insbesondere Ehrverletzungen (Art. 173 ff.), Verletzung von Amts- und Berufsgeheimnissen (Art. 320 f.), Aufforderungen zu Verbrechen und Gewalttätigkeit (Art. 259) und unlauterer Wettbewerb. Wichtig:

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Art. 28 ist keine Strafnorm, sondern regelt die Täterschaft und Teilnahme beim Mediendelikt (vgl. obige Ausfüh-rungen). Die Beteiligten (z.B. der Autor) haften daher nicht aus Art. 28, sondern aufgrund der spezifischen Straf-norm (z.B. Art. 173 Ziff. 1).

– Veröffentlichung in einem Medium; Der Begriff des Mediums ist extensiv auszulegen (Zeitschriften, Bilder, Internet, Radio, Fernsehen usw.). Erfasst von Art. 28 werden im Gegensatz zu Art. 28a nicht bloss periodisch erscheinende Medien.

– die strafbare Handlung muss sich in der Veröffentlichung durch das Medium „erschöpfen“. Mit der Erschöpfung ist die Deliktsvollendung gemeint, d.h. die oben genannte strafbare Handlung (z.B. die Ehr-verletzung) muss mit der Veröffentlichung durch das Medium vollendet sein. Das führt eigentlich bei der Ehrver-letzung (Art. 173 Ziff. 1) und der Verleumdung (Art. 174 Ziff. 1) zu Problemen, weil diese Delikte bereits (oder erst) mit der Kenntnisnahme eines Dritten (und nicht mit der Veröffentlichung durch das Medium) vollendet sind. Trotzdem fallen sie auch unter den Geltungsbereich von Art. 28.

B. Rechtsfolge

1. Grundsatz 150 Der Autor haftet allein (Art. 28 Abs. 1).

Notwendige Beteiligte (z.B. Redaktor, Drucker, Verleger, Kioskverkäufer) bleiben straflos. Aussenstehende Teil-nehmer und Mittäter sind nach den üblichen Regeln zu bestrafen.

2. Ausnahme 151 In den Fällen von Art. 28 Abs. 2 und 3 i.V.m. Art. 322bis haften primär der verantwortliche

Redaktor, subsidiär die für die Veröffentlichung tatsächlich verantwortliche Person. Art. 322bis ist ein echtes Unterlassungsdelikt: Die „verantwortliche Person“ muss tatsächlich die Möglichkeit ge-habt haben, einzuschreiten (Tatmacht ist ein Element des. obj. TB des echten Unterlassungsdelikts). Direktions- und Verwaltungsräte eines Medienunternehmens scheiden daher i.d.R. von der Haftung aus.

C. Verhältnis von Art. 28 zu Art. 28a 152 Medienschaffende haben gem. Art. 28a Abs. 1 ein Zeugnisverweigerungsrecht. Das bedeutet,

dass Strafen (z.B. Art. 292) oder prozessuale Zwangsmassnahmen, welche die Ausübung die-ses Verweigerungsrechts hindern, unzulässig sind.

153 Hingegen haften Medienschaffende (z.B. Redaktoren) subsidiär trotzdem aufgrund von Art. 28 Abs. 2 u. 3 i.V.m. Art. 322bis für Mediendelikte, auch wenn sie das Zeugnis über den Autor nach Art. 28a verweigern. Das hängt damit zusammen, dass Art. 322bis ein eigenständiger Straftatbestand ist, der sachlich nichts mit der Zeugnisverweigerung zu tun hat. Verweigert nämlich ein Medienschaffender das Zeugnis bzgl. eines Autors, der sich keines Mediendelikts strafbar gemacht hat, wird der Medienschaffende auch nicht nach Art. 28 Abs. 2 oder 3 i.V.m. Art. 322bis strafbar.

III. Das fahrlässige Erfolgsdelikt Bei Fahrlässigkeitsdelikten kommen weder Mittäterschaft noch mittelbare Täterschaft in Frage, weil beim Fahrläs-sigkeitsdelikt gerade eben keine Tatherrschaft vorliegt (und dies mitunter dem Täter vorgeworfen wird – dass er keine Tatherrschaft hatte, obwohl er sie hätte haben sollen). Zudem muss bei der Mittäterschaft ein gemeinsamer Entschluss, der auf einen gewollten Erfolg abzielt, sowie eine bewusste gemeinsame Begehung vorliegen (Vor-satz). Wo der Täter aber die Folgen seiner Handlung nicht bedacht oder darauf vertraut hat, dass sie schon nicht eintreten werden, liegt aber kein Vorsatz vor. Nach der h.L. ist auch die fahrlässige Anstiftung/Gehilfenschaft straf-los. Ebensowenig kann man jemanden zu einem Fahrlässigkeitsdelikt anstiften oder Gehilfenschaft leisten.

154 Man unterscheidet zwischen unbewusster und bewusster Fahrlässigkeit:

– Unbewusste Fahrlässigkeit („nicht bedenkt“, vgl. Art. 12 Abs. 3) (1) Wissen: Der Täter verkennt sorgfaltswidrig die Möglichkeit des Erfolgseintritts; (2) Wollen: -

– Bewusste Fahrlässigkeit („nicht Rücksicht nimmt“, vgl. Art. 12 Abs. 3)

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(1) Wissen: Der Täter hält den Eintritt des Erfolgs für möglich (wie beim Eventualvorsatz); (2) Wollen: Der Täter vertraut sorgfaltswidrig auf das Ausbleiben des Erfolgs (im Gegensatz zum Eventualvorsatz, wo der Täter den Er-folgseintritt willentlich in Kauf nimmt).

155 Das sorgfaltswidrige Verkennen der Möglichkeit des Erfolgseintritts resp. das sorgfaltswidri-ge Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolgs impliziert, dass der Täter sich nicht entsprechend des objektiv Gebotenen und des subjektiv Zumutbaren verhalten hat. D.h. er könnte sich sorg-fältig verhalten, tut es aber in der konkreten Situation nicht. Hier lässt sich erkennen, dass jedes Fahrlässigkeitsdelikt eine Unterlassung i.w.S. beinhaltet: Der Täter unterlässt es, sorgfältig zu handeln. Die Abgrenzung zu den Unterlassungsdelikten ist deshalb nicht immer einfach.

156 Die Unterscheidung zwischen grober und leichter Fahrlässigkeit spielt für die Subsumtion keine Rolle, weil jede Sorgfaltspflichtverletzung mit Strafe bedroht ist. Sie wirkt sich aller-dings bei der Strafzumessung aus.

A. Tatbestandsmässigkeit

1. Ungewolltes Bewirken eines tatbestandsmässigen Erfolgs

a) Täterkreis 157 Vgl. oben Rz. 1.

b) Der Taterfolg 158 Vgl. oben Rz. 5.

c) Die Tathandlung 159 Vgl. oben Rz. 2.

d) Natürliche Kausalität der Handlung für den Erfolg 160 Vgl. oben Rz. 6 f. Die Prüfung der adäquaten Kausalität erfolgt auf Stufe der individuellen

Voraussehbarkeit des Erfolgs.

2. Verletzung einer Sorgfaltspflicht 161 Die Verletzung einer Sorgfaltspflicht ist der Kern des Fahrlässigkeitsdelikts. Das Tatbe-

standsmerkmal grenzt erlaubte von unerlaubten Handlungen ab.

162 Das Gesetz spricht von pflichtwidriger Unvorsichtigkeit. Pflichtwidrig ist die Unvorsichtig-keit, wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach sei-nen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Art. 12 Abs. 3). Der Sorgfaltsmassstab ist also individuell, nicht generell: Relevant ist also – allgemein gesprochen – nicht, ob der Täter etwas erkennen musste (objektiv), sondern ob er die Sorgfaltspflichtverletzung erkennen konnte (subjektiv).

– Individuelle Sonderbefähigungen wirken sorgfaltspflichterhöhend;

– individuelle Minderbegabungen wirken sorgfaltspflichtmindernd.

a) Generell-abstrakte Sorgfaltsnorm als Ausgangspunkt (das objektiv Gebotene) 163 Ausgangspunkt zur Bestimmung einer möglichen Sorgfaltspflicht bilden generell-abstrakte

Sorgfaltsnormen. Solche ergeben sich teils aus gesetzlichen Normen (beispielsweise ZGB, SVG), teils aus aussergesetzlichen Regelwerken (z.B. SUVA-Vorschriften). Existiert eine derartige Sorgfaltsnorm, sind die individuelle Voraussehbarkeit und Vermeidbarkeit nicht zu prüfen – Sorgfaltsnormen werden in der Regel aufgrund eben dieser Kriterien aufgestellt.

164 Sind in einem Fall keine solchen Normen vorhanden, kann eine Sorgfaltswidrigkeit durch Rückgriff auf den allgemeinen Gefahrensatz begründet werden, der jeden verpflichtet, Gefah-ren, die durch sein Verhalten für Dritte entstehen, zu erkennen (Voraussehbarkeit) und zu

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vermeiden (Vermeidbarkeit) oder wenigstens dafür zu sorgen, dass sich die Gefahr nicht in einer Rechtsgutverletzung realisiert (Verminderung des Risikos auf das sozial adäquate Mass):

b) Individuelle Voraussehbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs (adäquate Kausalität) Vgl. Art. 12 Abs. 3: „wer die Folge seines Verhaltens aus pflichtwidriger Unvorsichtigkeit nicht bedenkt“.

165 Das Tatbestandsmerkmal der individuellen Voraussehbarkeit ist über weite Strecken mit je-nem der adäquaten Kausalität identisch: Voraussehbar (adäquat kausal) ist der Erfolg, wenn die Tathandlung nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfah-rung zu dessen Verwirklichung geeignet ist. Abgestellt wird dabei nicht auf die nachträgliche bessere Kenntnis der Dinge, sondern auf das Wissen eines hypothetischen einsichtigen Be-obachters, kombiniert mit dem Sonderwissen zu Gunsten oder zu Lasten des Täters.

166 Die konkrete Frage lautet: Konnte der Täter (mit seinem Sonderwissen, also nach dem ge-wöhnlichen Lauf der Dinge sowie seiner Lebenserfahrung) die Tatbestandsverwirklichung un-ter den gegebenen Umständen zum Zeitpunkt der Tat voraussehen? Musste er damit rechnen? War die Tatbestandsverwirklichung wahrscheinlich? Der adäquate Kausalzusammenhang berücksichtigt nur ein bestimmtes Sonderwissen zu Lasten des Täters. Beim Erfordernis der individuellen Voraussehbarkeit muss aber auch ein Mangel an Kenntnissen und Erfahrungen be-rücksichtigt werden, wenn er bewirkt, dass ein an sich im Rahmen der Adäquanz liegender Geschehensablauf für diesen Täter nicht vorhersehbar war.

167 Zudem gilt es den Vertrauensgrundsatz zu berücksichtigen. Nach dem Vertrauensgrundsatz darf man grundsätzlich darauf vertrauen, dass sich die anderen Beteiligten pflicht-gemäss verhalten, es sei denn, dass gewisse Anzeichen oder besondere Umstände das Gegenteil befürchten lassen. Gesetzliche Sorgfaltspflichten bauen auf dem Vertrauensgrundsatz auf – sie regeln den Normalfall, in welchem sich die anderen Beteiligten (auch das Opfer) pflichtgemäss verhalten. Verhalten sie sich nicht sorgfältig, und weiss der Täter darum, ist seine Sorgfaltspflicht regelmässig höher als die gesetzlich normierte. In solchen Fällen ist trotz Bestehen einer Sorgfaltspflicht die Voraussehbarkeit/Vermeidbarkeit/unerlaubtes Risiko zu prüfen! Bei-spiel: Der Autofahrer, der weiss, dass der Velofahrer vor ihm betrunken ist, muss beim Überholen mehr als den ge-setzlichen Mindestabstand einhalten, um sich nicht dem Vorwurf der Sorgfaltswidrigkeit auszusetzen. Ausser-dem:Wer sich selbst sorgfaltswidrig verhält, kann sich nicht mit dem Hinweis auf den Vertrauensgrundsatz entlas-ten, indem er geltend macht, ein Dritter hätte seinen Fehler bemerken und dessen Folgen abwenden müssen.

c) Individuelle Vermeidbarkeit des tatbestandsmässigen Erfolgs Vgl. Art. 12 Abs. 3: „oder darauf nicht Rücksicht nimmt“.

168 Dem Täter kann nur dann ein Vorwurf gemacht werden, wenn dieser die Fähigkeit besessen hätte, den Erfolgseintritt zu vermeiden, sei es durch Ergreifen entsprechender Vorsichtsmass-nahmen oder durch Unterlassen seiner gefährlichen Handlung. Das bedeutet im Prinzip: Existiert ein Alternativverhalten zur Tathandlung, so ist der Erfolg vermeidbar.

169 Wer gar nicht fähig ist, eine bestimmte Tätigkeit mit der generell gebotenen Sorgfalt auszu-üben, darf sie allerdings in der Regel gar nicht ausführen. Geschieht dies trotzdem, spricht man vom Übernahmeverschulden. Vorausgesetzt ist aber, dass der Täter wenigstens fähig war, seine mangelnde Qualifikation zu erkennen:

– Dem Täter ist es gar nicht möglich, den tatbestandsmässigen Erfolg zu vermeiden;

– der Täter war fähig, diese Tatsache (seine mangelnde Qualifikation) zu erkennen; und

– der Täter führt die Tätigkeit trotzdem aus.

d) Schaffung eines unerlaubten Risikos 170 Der Täter muss durch sein Verhalten ein Risiko unerlaubter Höhe geschaffen haben.

171 Es ist nicht verboten, ein allgemeines Lebensrisiko normaler Höhe zu schaffen (sog. Sozial-adäquanz). Um jedes Risiko auszuschliessen, müsste man gewisse Tätigkeiten gänzlich ver-bieten, die sozial nützlich oder üblich sind. Allerdings muss die Gefahr auf ein vertretbares Minimum beschränkt sein. Die verbleibende Gefährdung wird als „erlaubtes Risiko“ bezeich-net. Vgl. bereits oben Rz. 15.

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Das bedeutet im Prinzip: Ist das Alternativverhalten zur Tathandlung dem Täter zuzumuten, so war die Schaffung des Risikos nicht erlaubt.

Geht man bei Tätigkeiten, die weder sozial nützlich oder üblich sind, Gefahren ein, dann ist das erlaubte Risiko ohnehin gering. In solchen Fällen darf man nämlich eigentlich gar kein Risiko eingehen. Beispiel „Rolling Stones“- Fall: Bei einem solch gefährlichen Verhalten darf man kein auch noch so kleines Risiko eingehen; man darf auch nicht zu einem so dummen Verhalten anregen.

3. Risikozusammenhang

a) Fehlender Pflichtwidrigkeitszusammenhang Oder anders (kurz): Nutzlosigkeit des rechtmässigen Alternativverhaltens.

172 Dem Täter kann kein Vorwurf gemacht werden, wenn der Erfolg selbst bei pflichtgemässem (Alternativ-) Verhalten höchstwahrscheinlich eingetreten wäre (sog. Wahrscheinlichkeitstheo-rie). Hat sich die Sorgfaltswidrigkeit gar nicht auf den konkreten Fall ausgewirkt, ist der Fahrlässigkeitstatbestand nicht erfüllt. Niemand kann dafür verantwortlich gemacht werden, dass etwas unvermeidliches eingetreten ist.

b) Haftungsbegrenzung durch den Schutzzweck der Sorgfaltsnorm Oder anders: Der Eintritt des Erfolgs war rein zufällig.

173 Die Herbeiführung derjenigen Gefahr, die in den Erfolg umgeschlagen ist, muss dem spezifi-schen Schutzzweck der übertretenen Norm widersprechen. Vgl. bereits oben Rz. 15.

B. Rechtswidrigkeit 174 Vgl. oben Rz. 72 ff.

C. Schuld 175 Vgl. oben Rz. 118 ff.

IV. Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt 176 Die Strafbarkeit des unechten Unterlassungsdeliktes findet ihre Rechtfertigung darin, dass

derjenige, der verpflichtet ist, durch Handeln einen bestimmten Erfolg abzuwenden, und dazu auch in der Lage ist, aber untätig bleibt, grundsätzlich ebenso strafwürdig ist wie derjenige, der den Erfolg durch Tun herbeiführt. Hinweis: Das unechte Unterlassungsdelikt ist (wie das echte auch) ein echtes Sonderdelikt. Das bedeutet mithin, dass bei Unterlassungsdelikten die Mittäterschaft ausgeschlossen ist, wenn der Beteiligte nicht auch Garant ist.

177 Man könnte auch sagen, beim Unterlassungsdelikt verstösst der Täter gegen ein Gebot; beim Begehungsdelikt (Tätigkeits- oder Erfolgsdelikt) verstösst der Täter gegen ein Verbot.

A. Objektiver Tatbestand

1. Abgrenzung zum Handlungsdelikt 178 Kann nicht an eine aktive Handlung des Täters angeknüpft werden, ist die Unterlassung zu

prüfen (Subsidiaritätsprinzip; anders: Schwerpunkttheorie). Wer durch sein Verhalten kein Er-folgsrisiko schafft oder erhöht, sondern lediglich dafür sorgt, dass ein bereits bestehendes Ri-siko nicht vermindert wird, handelt nicht, sondern unterlässt. DONATSCH/TAG, a.a.O., S. 290 ff. plädieren für eine „Mischung“ zwischen Subsidiaritätsprinzip und Schwerpunkt-theorie. Die Schwerpunkttheorie fragt danach, ob der Schwerpunkt des „Verhaltens“ des Täters in der Handlung oder der Unterlassung liegt.

2. Täterqualifikation (Garantenstellung) 179 Ein unechtes Unterlassungsdelikt kann nur begehen, wer pflichtwidrig untätig bleibt (Art. 11

Abs. 1). Pflichtwidrig untätig bleibt, wer die Gefährdung oder Verletzung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes nicht verhindert, obwohl er aufgrund seiner Rechtstellung dazu ver-

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pflichtet ist (Art. 11 Abs. 2). Eine derartige Rechtsstellung (Garantenstellung) besitzt also, wer für ein Rechtsgut in gesteigertem Masse verantwortlich ist. In gesteigertem Masse für ein Rechtsgut verantwortlich ist der:

– Obhutsgarant; und der Der Obhutsgarant ist dafür verantwortlich, dass er ein Rechtsgut gegen alle Gefahren zu schützen hat, welche die-sem drohen. Ihn treffen Obhuts- oder Beschützerpflichten.

– Überwachungsgarant. Der Überwachungsgarant ist verpflichtet, alle von einer bestimmten Gefahrenquelle ausgehenden Bedrohungen ab-zuwenden. Ihn treffen Überwachungs- oder Sicherungspflichten.

180 Art. 11 Abs. 2 nennt exemplarisch Fälle, in denen eine Garantenstellung gegeben sein kann:

a) Gesetz (lit. a) 181 Das Gesetz kann einer Person zum Garanten erheben durch:

– die Übertragung von Verantwortung für einen bestimmten Aufgabenbereich;

– die Pflicht, für einen anderen Menschen Sorge zu tragen; oder

– die Pflicht, eine Gefahrenquelle im eigenen Herrschaftsbereich zu überwachen. Beispiele: Geschäftsherrenhaftung, Tierhalterhaftung aus dem OR.

b) Vertrag (lit. b) 182 Für die Garantenstellung aus Vertrag ist nötig, dass die Garantenpflicht die Hauptpflicht und

den eigentlichen Gegenstand des Vertrages bildet (die Garantenpflicht ergibt sich also nicht nur aus Treu und Glauben). Die zivilrechtliche Wirksamkeit des Vertrags ist irrelevant. Der Garant muss seine Stellung als Obhuts- oder Überwachergarant zudem im Zeitpunkt der Tat faktisch übernommen haben.

c) Freiwillig eingegangene Gefahrengemeinschaft (lit. c) 183 Eine freiwillig eingegangene Gefahrengemeinschaft begründet eine Garantenstellung für die

Mitglieder, wenn sie sich zusammengetan haben, um drohende Gefahren durch den Zusam-menschluss zu minimieren. Die Beistandspflicht (Obhutsgarant) ist auf Rechtsgüter be-schränkt, denen Gefahr aufgrund des Unternehmens droht. Allein aus dem Umstand, dass sich mehrere Personen gemeinsam in einer Gefahr befinden, lässt sich keine Garan-tenpflicht ableiten.

d) Ingerenz (lit. d) 184 Für die Garantenstellung aufgrund der Schaffung einer Gefahr gelten folgende kumulativen

Voraussetzungen:

– Schaffung einer Gefahr für ein Rechtsgut („vorangegangenes gefährdendes Tun“); Bei der Unterlassung gilt das Subsidiaritätsprinzip: Nur wenn an keine aktive Handlung des Täters angeknüpft werden kann, ist die Unterlassung zu prüfen. Streng genommen ist die „Schaffung“ einer Gefahr eine Handlung, welche das Begehen durch Unterlassen ausschliesst. Gewisse Lehrmeinungen gehen davon aus, dass „ein Verhal-ten aufgrund seiner sozialen Bedeutung als Unterlassung qualifiziert wird, selbst wenn damit gewisse Tätigkeiten verbunden sind“ (DONATSCH/TAG, a.a.O., S. 307).

– Die Gefahr muss natürlich und adäquat kausal für die Rechtsgutverletzung sein; Von diesem Erfordernis zu unterscheiden ist die später zu prüfende hypothetische Kausalität. Dort wird nämlich gefragt, ob die Vornahme der vom Täter gebotenen Handlung den Erfolg verhindert hätte, und nicht, ob die ge-schaffene Gefahr ursächlich für den Erfolg war.

– Die Schaffung der Gefahr ist pflichtwidrig (oder: „nicht im Bereich der erlaubten Risiken“); Wenn der Täter die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhält-nissen verpflichtet ist, handelt er sorgfaltspflichtwidrig (Art. 12 Abs. 3). Nach dem allgemeinen Gefahrensatz ist jeder verpflichtet, Gefahren, die durch sein „Verhalten“ (i.c. die Gefahrschaffung; Vorsicht: wir sind hier bei einem Unterlassungsdelikt!) für Dritte entstehen, zu erkennen (individuelle Voraussehbarkeit) und zu vermeiden (indivi-

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duelle Vermeidbarkeit) oder wenigstens dafür zu sorgen, dass sich die Gefahr nicht in einer Rechtsgutverletzung realisiert (Reduktion der Gefahr auf das sozial adäquate Mass resp. Existenz eines zumutbaren Alternativverhal-tens). Derjenige, der die Gefahr schafft, muss das Risiko einer Rechtsgutverletzung auf ein angemessenes Mass minimieren. Hat er das getan, ist die geschaffene Gefahr sozial adäquat. Tat er das nicht, handelte er pflichtwidrig. Hier wird gewissermassen die Prüfung der Sorgfaltswidrigkeit vorgezogen: Beim fahrlässigen unechten Unterlas-sungsdelikt ist sie deshalb nicht ein zweites Mal gesondert zu prüfen. Beim vorsätzlichen unechten Unterlassungs-delikt hat das Erfordernis des „erlaubten Risikos“ dennoch seine Berechtigung: Denn dort ist – wie beim Tätig-keitsdelikt – die Tatbestandsmässigkeit des Verhaltens zu verneinen, wenn der Täter sich sozial adäquat verhalten hat.

– Die geschaffene Gefahr darf nicht durch ein Eingriffsrecht gedeckt sein. So trifft denjenigen, der sich gegen einen rechtswidrigen Angriff auf zulässige Weise wehrt, nicht eine Garanten-pflicht zum Schutz des Angreifers. Das ist in der Lehre allerdings umstritten (vgl. DONATSCH/TAG, a.a.O., S. 308).

e) Herrschaft über eine Gefahrenquelle 185 Wer die Herrschaft über eine Gefahrenquelle innehat, kann zum Garant für Dritte werden, die

durch die Gefahr tangiert werden. Vorausgesetzt wird im Einzelnen:

– Herrschaft über eine Gefahrenquelle;

– die Gefahr muss natürlich und adäquat kausal für die Rechtsgutverletzung sein; Von diesem Erfordernis zu unterscheiden ist die später zu prüfende hypothetische Kausalität. Dort wird nämlich gefragt, ob die Vornahme der vom Täter gebotenen Handlung den Erfolg verhindert hätte, und nicht, ob die ge-schaffene Gefahr ursächlich für den Erfolg war.

– derjenige, der die Gefahrenquelle beherrscht, verhaltet sich pflichtwidrig. Pflichtwidrig handelt, wer die Vorsicht nicht beachtet, zu der er nach den Umständen und nach seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet ist (Art. 12 Abs. 3). Nach dem allgemeinen Gefahrensatz ist jeder verpflichtet, Gefahren, die durch seine Gefahrenquelle (nicht: „Handeln“: wir sind hier bei einem Unterlassungsdelikt!) für Dritte entste-hen, zu erkennen (individuelle Voraussehbarkeit) und zu vermeiden (individuelle Vermeidbarkeit) oder wenigstens dafür zu sorgen, dass sich die Gefahr nicht in einer Rechtsgutverletzung realisiert (Reduktion der Gefahr auf das sozial adäquate Mass): Derjenige, der die Gefahr schafft, muss das Risiko einer Rechtsgutverletzung auf ein ange-messenes Mass minimieren. In der Regel wird er für die typischen Gefahren, die von der Quelle ausgehen, Vor-sichtsmassnahmen (z.B. ein Sicherheitsdispositiv) treffen müssen; Dritte verlassen sich nämlich i.d.R. darauf, dass der Beherrscher der Gefahrenquelle das tut resp. sich sorgfältig verhält (Vertrauensgrundsatz; oben Rz. 165). Hat er das getan, ist die geschaffene Gefahr sozial adäquat. Tat er das nicht, handelte er pflichtwidrig.

186 Ein Anwendungsfall der Herrschaft über die Gefahrenquelle ist die Geschäftsherrenhaftung:

f) Sonderfall der Geschäftsherrenhaftung 187 Bei der Geschäftsherrenhaftung steht eine natürliche Person (Geschäftsherr bei Art. 55 OR

kann dagegen auch eine juristische Person sein) als Geschäftsherr für Delikte von Angestell-ten des Unternehmens ein. Sie kommt nur unter folgenden Voraussetzungen in Frage:

– Herrschaft (d. Geschäftsherrn) über eine betriebstypische Gefahr; Ziel der Geschäftsherrenhaftung ist nicht, einen Unternehmer für jede Straftat seiner Mitarbeiter zur Verantwor-tung zu ziehen. Daher das Erfordernis, dass das Delikt auf eine betriebstypische Art zurückzuführen sein muss.

– die Gefahr muss natürlich und adäquat kausal für die Rechtsgutverletzung sein; Die Rechtsgutverletzung darf keine andere Ursache haben.

– Sorgfaltswidrigkeit des Geschäftsherrn. Jede Person, die eine beherrschende Rolle innehat, muss dafür besorgt sein, dass sich die betriebstypische Gefahr nicht in einer Rechtsgutverletzung verwirklicht. Nach dem allgemeinen Gefahrensatz ist jeder verpflichtet, Gefah-ren, die durch seinen „Betrieb“ (Vorsicht: wir sind hier bei einem Unterlassungsdelikt!) für Dritte entstehen, zu er-kennen (individuelle Voraussehbarkeit) und zu vermeiden (individuelle Vermeidbarkeit) oder wenigstens dafür zu sorgen, dass sich die Gefahr nicht in einer Rechtsgutverletzung realisiert (Reduktion der Gefahr auf das sozial adä-quate Mass). Hier wird gewissermassen (wie bei der Ingerenz) die Prüfung der Sorgfaltswidrigkeit vorgezogen: Beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt ist sie deshalb m.E. nicht ein zweites Mal gesondert zu prüfen. Beim vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt hat das Erfordernis des „erlaubten Risikos“ dennoch seine Be-rechtigung: Denn dort ist – wie beim Tätigkeitsdelikt – die Tatbestandsmässigkeit des Verhaltens zu verneinen, wenn der Täter sich sozial adäquat verhalten hat.

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188 Der Geschäftsherr wird natürlich nach den üblichen Regeln bestraft, wenn ihm eine Form der Teilnahme oder Mittäterschaft nachgewiesen werden kann. Die Geschäftsherrenhaftung be-trifft demnach nur Fälle, in denen der Geschäftsherr das bestehende Risiko einer Straftat nicht vermindert, obwohl er davon Kenntnis hatte oder zumindest mit dessen Verwirklichung rech-nen musste.

3. Nichtvornahme der unter den Umständen gebotenen Handlung 189 Tatbestandsmässig verhält sich bei der Unterlassung der mutmassliche Täter dann, wenn er

die unter den Umständen zur Erfolgsabwendung ex ante (zum Tatzeitpunkt) gebotenen Hand-lung nicht vornimmt. Wer die unter den Umständen gebotene Handlung nicht vornimmt, handelt regelmässig pflichtwidrig (fahrlässig, da vermeidbar, weil ein Alternativverhalten denkbar ist). Die Pflichtwidrigkeit wird an dieser Stelle nicht geprüft, weil sie beim vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt durch den Vorsatz „konsumiert“ wird; demgegenüber wird sie beim fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt separat geprüft. Hier ergeben sich regelmässig Über-schneidungen.

Als „unter den Umständen gebotene Handlung“ kommt im Übrigen alles mögliche in Frage. Beispiel: Aufhalten des Kindes, das auf die Strasse rennt.

4. Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs 190 Der Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs ist vom jeweiligen Delikt abhängig.

Beim blossen Tätigkeitsdelikt ist die strafbare Unterlassung schwierig zu umschreiben (immerhin wird beim Tätig-keitsdelikt ja die Tätigkeit als solche bestraft). Es stellt sich zudem die Frage, ob dem Täter bei der Unterlassung eines Tätigkeitsdelikts wirklich nach den Umständen der Tat derselbe Vorwurf gemacht werden kann, wie wenn er die Tat durch ein aktives Tun begangen hätte (vgl. Art. 11 Abs. 3). DONATSCH/TAG, a.a.O., S. 313, plädieren für die Prüfung des Versuchs.

5. Hypothetische Kausalität 191 Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie (vgl. bereits oben Rz. 15) wird die hypothetische Kausa-

lität bejaht, wenn die Vornahme der erwarteten Handlung den Erfolg höchstwahrscheinlich („möglicherweise“ reicht nicht) verhindert hätte. Anders als beim Handlungsdelikt fragt man nicht nach der Ursache des Erfolgs, sondern danach, ob der Erfolg ausgeblieben wäre, wenn der Täter die erwartete, unterlassene Handlung pflichtgemäss vorgenommen hätte.

6. Tatmacht 192 Eine Unterlassung i.S.v. Art. 11 ist nur dann möglich, wenn es dem „Täter“ möglich gewesen

wäre, zu handeln. Man unterscheidet hierbei zwischen objektiver und subjektiver Tatmacht.

– Objektive Tatmacht Ist zu bejahen, wenn eine Handlung objektiv gesehen in der konkreten Situation möglich gewesen wäre.

– Subjektive Tatmacht Ist zu bejahen, wenn eine Handlung des „Täters“ auch innerhalb seiner individuellen Fähigkeiten gelegen hätte.

193 Die Tatmacht ist von der Tatherrschaft abzugrenzen. Tatmacht hat, wem es möglich ist, durch seine Handlung einen Erfolg zu verhindern. Tatherrschaft hat, wer den Tatablauf bewusst und unmittelbar steuert. Das bedeutet: Ein Täter kann zwar Tatmacht haben; durch sein Nicht-Eingreifen hat er aber keine Tatherrschaft, denn er beherrscht das Geschehen nicht unmittelbar kausal. Die Tat-macht ist beim Unterlassungsdelikt, die Tatherrschaft dagegen bei der Täterschaft/Teilnahme anzusiedeln. Beim Begehungsdelikt ist die Tatmacht von der Tatherrschaft m.E. kaum zu unterscheiden.

B. Subjektiver Tatbestand 194 Der Vorsatz muss sich auf sämtliche objektiven Tatbestandsmerkmale beziehen.

1. Wissen 195 Vgl. oben Rz. 29 f. Konkret musste der Täter wissen:

– dass die tatsächlichen Voraussetzungen der Garantenstellung bestanden;

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Eine Parallelwertung in der Laiensphäre genügt; der Täter muss nicht wissen, was eine Garantenstellung ist, aber er musste sich mindestens bewusst gewesen sein, dass er entweder hätte helfen oder überwachen sollen.

– dass er unter den Umständen die „gebotene Handlung“ vornehmen sollte; Daran fehlt es, wenn der Garant gar nichts von der konkreten Gefahr weiss.

– dass er die Tatmacht innehat; Daran fehlt es, wenn er zwar weiss, welches die gebotene Handlung wäre, aber glaubt, nicht die Möglichkeiten o-der die Mittel zu besitzen (obwohl er sie hätte). Beispiel: Ein Begleiter eines verunfallten Alpinisten (Gefahrenge-meinschaft) weiss nicht, dass der Kollege im Rucksack ein Handy mitführt, das es ihm erlauben würde, die REGA zu alarmieren. Deshalb verharrt er untätig bei seinem Kollegen.

– dass die erwartete Handlung den Erfolg höchstwahrscheinlich verhindert hätte. Mit anderen Worten: Er muss erkennen, dass gerade wegen des Ausbleibens seiner Hilfe der tatbestandsmässige Erfolg höchstwahrscheinlich eintritt. Daran fehlt es, wenn er der irrigen Meinung ist, jede Hilfe komme zu spät.

196 Fehlt es an dieser Kenntnis, ist das ein nach Art. 13 zu behandelnder Tatbestandsirrtum. Dann kommt die fahrlässige Unterlassung in Betracht. Vgl. hierzu bereits oben Rz. 31.

2. Willen 197 Der Täter muss die Verwirklichung der Tat gewollt haben.

Es kann vorkommen, dass sich der Täter (willentlich) entschliesst, das geforderte Verhalten nicht zu erbringen. Es ist aber auch möglich, dass er gar nicht erst in Betracht zieht, zu handeln. In beiden Fällen wollte er die Verwirkli-chung der Tat.

C. Rechtswidrigkeit 198 Vgl. oben Rz. 72 ff.

D. Schuld 199 Vgl. oben Rz. 118 ff.

E. Versuch beim Unterlassungsdelikt 200 Die Schwelle zum Versuch ist bei der Unterlassung dann überschritten, wenn das pflichtge-

mässe Handeln (die unter den Umständen gebotene Handlung) einsetzen müsste. Sie ist spä-testens dann überschritten, wenn der Täter die letzte Möglichkeit zu handeln ungenützt ver-streichen lässt.

V. Das vorsätzliche echte Unterlassungsdelikt 201 Das echte Unterlassungsdelikt wird im Gesetz als solches bezeichnet.

Beispiel: Art. 305ter („und es unterlässt“).

A. Objektiver Tatbestand

1. Täterbezeichnung 202 Der objektive Tatbestand enthält zunächst die Bezeichnung des Täters, der für ein bestimmtes

Rechtsgut Obhuts- oder Überwachergarant ist. Bei den echten Unterlassungsdelikten handelt es sich also i.d.R. um echte Sonderdelikte. Ausnahme: Art. 128 Abs. 1, im zweiten Fall, wonach jeder zur Hilfe verpflichtet ist, der sich einem in Lebensgefahr schwebenden Menschen gegenübersieht.

2. Nichtvornahme der unter den Umständen gebotenen Handlung 203 Vgl. oben Rz. 189. Tatbestandsmässig verhält sich bei der Unterlassung der mutmassliche

Täter dann, wenn er die unter den Umständen zur Erfolgsabwendung ex ante gebotenen Hand-lung nicht vornimmt.

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3. Eintritt des tatbestandsmässigen Erfolgs 204 Zumeist wird der Tatbestand beim echten Unterlassungsdelikt hingegen schon damit erfüllt,

dass der Täter die von ihm geforderte Handlung im gebotenen Zeitpunkt nicht durchführt. Die entsprechenden Tatbestände werden als Unbotmässigkeitsdelikte bezeichnet. Sie bilden die Parallele zum Tätigkeitsdelikt (gegenüber dem Erfolgsdelikt).

4. Hypothetische Kausalität 205 Vgl. oben Rz. 191. Die hypothetische Kausalität ist beim Unbotmässigkeitsdelikt natürlich

nicht zu prüfen.

5. Tatmacht 206 Vgl. oben Rz. 192. Eine Unterlassung i.S.v. Art. 11 ist nur dann möglich, wenn es dem „Tä-

ter“ möglich gewesen wäre, zu handeln. Man unterscheidet hierbei zwischen objektiver und subjektiver Tatmacht.

B. Subjektiver Tatbestand

1. Wissen 207 Vgl. oben Rz. 195 f. Konkret musste der Täter wissen:

– dass die Täterbezeichnung auf ihn passt;

– dass er unter den Umständen die „gebotene Handlung“ vornehmen sollte;

– dass er die Tatmacht innehat;

– dass die erwarteten Handlung den Erfolg höchstwahrscheinlich verhindert hätte.

208 Fehlt es an dieser Kenntnis, ist das ein nach Art. 13 zu behandelnder Tatbestandsirrtum. Dann kommt die fahrlässige Unterlassung in Betracht.

2. Willen 209 Der Täter muss die Verwirklichung der Tat gewollt haben.

Es kann vorkommen, dass sich der Täter (willentlich) entschliesst, das geforderte Verhalten nicht zu erbringen. Es ist aber auch möglich, dass er gar nicht erst in Betracht zieht, zu handeln. In beiden Fällen wollte er die Verwirkli-chung der Tat.

C. Rechtswidrigkeit 210 Vgl. oben Rz. 72 ff.

D. Schuld 211 Vgl. oben Rz. 118 ff.

E. Echte Unterlassung und Versuch 212 Beim Unterlassungsdelikt kommt Versuch in Betracht, insbesondere dann, wenn der Täter

durch äussere Umstände veranlasst wird, die gebotene Handlung doch zu erbringen. Der objektive Tatbestand (Nichtvornahme der gebotenen Handlung) ist dann nicht erfüllt, der subjektive hingegen schon. Wird dies festgestellt, ist vor Prüfung der Rechtswidrigkeit/Schuld der Versuch auf herkömmliche Weise zu prüfen.

VI. Das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt 213 Das fahrlässige unechte Unterlassungsdelikt setzt sich zusammen aus den Tatbestandselemen-

ten des vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikts und des fahrlässigen Erfolgsdelikts. Es können sich Überschneidungen bei den Erfordernissen ergeben. Geprüft wird die Tatbe-standsmässigkeit wie folgt:

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A. Garantenstellung 214 Hier können sich Überschneidungen mit dem Sorgfaltswidrigkeitserfordernis des Fahrlässig-

keitsdelikts ergeben (bei Garantenstellung aufgrund Ingerenz, Herrschaft über die Gefahren-quelle, insbesondere Geschäftsherrenhaftung).

B. Tatbestandsmässiger Erfolg 215 Das Erfordernis gilt es immer bei Erfolgsdelikten zu prüfen und gilt sowohl beim Fahrlässig-

keits- als auch beim Unterlassungsdelikt.

C. Nichtvornahme der zur Erfolgsabwendung ex ante gebotenen Handlung 216 Das Erfordernis stammt aus dem Unterlassungsdelikt. Es ersetzt die Tathandlung des fahrläs-

sigen Tätigkeitsdelikts.

D. Verletzung einer Sorgfaltspflicht

E. Tatmacht

F. Hypothetische Kausalität 217 Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie (vgl. bereits oben Rz. 15) wird die hypothetische Kausa-

lität bejaht, wenn die Vornahme der erwarteten Handlung den Erfolg höchstwahrscheinlich („möglicherweise“ reicht nicht) verhindert hätte.

G. Rechtswidrigkeit 218 Vgl. oben Rz. 72 ff.

H. Schuld 219 Vgl. oben Rz. 118 ff.

VII. Täterschaft und Teilnahme

A. Mittäterschaft

1. Übersicht 220 Täter ist, wer das tatbestandsmässig relevante Geschehen (den Sachverhalt) bewusst und un-

mittelbar kausal beherrscht (Tatherrschaft). Mittäter ist demnach, wer das Geschehen (Ent-schliessen, Planung, Ausführung) bewusst mit beherrscht (Mit-Tatherrschaft). Mit-Tatherrschaft deshalb, weil bei einer Mehrheit von Personen dem Individuum über das betreffende Geschehen nicht vollständige Tatherrschaft zukommen kann, sondern nur allen zusammen. Hier lässt sich auch die Mittäter-schaft von der Gehilfenschaft abgrenzen: Der Gehilfe beherrscht das Geschehen nicht mit, sondern fördert es nur.

221 In den Worten des BGer: „Mittäter ist, wer bei der Entschliessung, Planung oder Ausführung vorsätzlich und in massgebender Weise mit anderen Tätern zusammenwirkt, sodass er als Hauptbeteiligter dasteht“ (BGE 120 IV 256). Das Wort „oder“ stellt klar, dass der Mittäter nicht an allen Elementen direkt beteiligt zu sein braucht (alternativ). Sein Vorsatz muss sich aber auf alle beziehen (kumulativ). Entgegen dem Wortlaut reicht die blosse Teilnahme am Entschluss hingegen nicht, um Mittäterschaft zu begründen (der blosse Mitentscheid führt evtl. zu Anstiftung oder mittelbarer Täterschaft). Notwendig für die Mittäterschaft ist immer ein gemeinsamer Tatentschluss (wobei sich ein Mittäter den Tatentschluss auch erst im Nachhinein zu eigen machen kann) und eine gemeinsame Ausführung (wobei im Regelfall jeder Täter selber wesentliche Ausfüh-rungshandlungen vornehmen muss).

222 Praktisch ist bei einer Prüfung wie folgt vorzugehen:

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2. Gemeinsame Entschliessung/Planung Erst der gemeinsame Tatentschluss stellt jenen Zusammenhang zwischen den Tatanteilen der am Delikt Beteiligten her, der es gestattet, jedem von ihnen auch den Tatanteil der anderen zuzurechnen. Beispiel (vorsätzliche Tötung, begangen in Mittäterschaft): Obj. TB: Mittäterschaft setzt den gemeinsamen Tatentschluss voraus. A und B haben sich abgesprochen und den Tathergang geplant. A sollte das Opfer festhalten, während B zusticht. Subj. TB: Aus der Tatsache, dass A und B eiskalt die Tat zusammen besprachen, lässt sich schliessen, dass sie sich bewusst wa-ren, dass sie eine Tötung planen. Der gefällte Entschluss war das eigentliche Handlungsziel der Absprache. Somit liegt ein gemeinsamer Tatentschluss zur Begehung einer vorsätzlichen Tötung vor.

a) Objektive Seite 223 Das Kriterium der Mit-Tatherrschaft setzt voraus, dass die fraglichen Personen am Tatent-

schluss und/oder der Planung mitbeteiligt sind (Mit-Tatherrschaft) oder sich den Entschluss und den Tatplan nachträglich, aber vor Beginn der Ausführungshandlung zu eigen machen. Wer sich nach Beginn der Ausführung anschliesst, haftet nur für diejenigen Tatbestandteile, die nach seinem Bei-tritt ausgeführt wurden (obwohl sich sein Vorsatz auf die ganze Tat beziehen kann). Wer seinen Vorsatz nach Be-ginn der Ausführung der Tat, aber vor dessen Vollendung aufgibt, kann wegen Versuch bestraft werden. Man stellt sich dann folgendes vor: Hätte der fragliche Täter alleine gehandelt, hätte die Aufgabe seines Tatentschlusses die Vollendung der Tat verhindert. Es läge dann zwar der subjektive Tatbestand vor; objektiv wären aber nicht alle Tatbestandselemente erfüllt. Ihm wird der (tatsächlich eingetretene) Erfolg nicht zugerechnet. Wer vor dem Beginn der Ausführung der Tat seinen Vorsatz aufgibt, macht sich nicht strafbar (Ausnahme: strafbare Vorbereitungshand-lungen nach Art. 260bis).

b) Subjektive Seite 224 Der Mittäter muss Kenntnis vom Entschluss und vom Tatplan haben und ihn auch wollen

(was eben auch bei der nachträglichen Aneignung der beiden gegeben wäre). Bezieht sich der Vorsatz des Beteiligten nicht auf den ganzen gefassten Entschluss oder auf einen anderen Tatplan, liegt bei ihm keine Tatbestandsmässigkeit vor. Auch Gehilfenschaft kommt nicht in Frage, weil sich auch beim Gehilfen der Vorsatz auf die Haupttat beziehen muss.

c) Abgrenzungen 225 Das Tatbestandselement des gemeinsamen Tatentschlusses dient einerseits zur Begründung

der Mittäterschaft, andererseits zur Abgrenzung von der Nebentäterschaft. Bei der Nebentäter-schaft liegt nämlich kein Entschluss zur gemeinsamen Verübung vor.

3. Gemeinschaftliche Ausführung Das Tatbestandselement der „gemeinschaftlichen Ausführung“ bezweckt die wechselseitige Zurechnung der Tat-beiträge der Beteiligten. Führt erst die Kumulation der einzelnen Tatbeiträge zur Erfüllung des Tatbestandes, setzt die gegenseitige Zurechnung folgendes voraus: Mit-Tatherrschaft bei der Ausführung. Besteht Mit-Tatherrschaft bei der Ausführung, werden die einzelnen Tatbeiträge den Beteiligten wechselseitig zugerechnet. Damit ist aber noch nicht festgestellt, dass diese Tatbeiträge zusammengenommen den objektiven Tatbestand auch wirklich erfül-len!

a) Objektive Seite Die Tat muss mindestens das Stadium des strafbaren Versuchs (oder der strafbaren Vorbereitungshandlung) er-reicht haben; ansonsten sind die Beteiligten nicht strafbar. Das ergibt sich aus der nachfolgenden Prüfung, muss aber in jedem Fall als obj. TBE der gemeinschaftlichen Ausführung festgehalten werden.

226 Hier fragt man, ob jeder Täter den ganzen objektiven Tatbestand für sich alleine erfüllt (im-mer mit Hinweis auf die Doppelkausalität). Man stellt also den Obersatz (z.B. den objektiven Tatbestand für Diebstahl) auf, und subsumiert die äusseren Vorgänge jedes einzelnen Täters darunter. Steht die gemeinschaftliche Ausführung der Tat fest, prüft man den subjektiven Tat-bestand (unten). Kommt man hingegen zum Schluss, dass nur die Kumulation der einzelnen Tatbeiträge zur Erfüllung des objektiven Tatbestandes führt, ist folgendes zu prüfen:

227 Mit-Tatherrschaft: Wenn die Beteiligten bei der Ausführung Mit-Tatherrschaft innehatten (weil sie in „massgebender Weise“ mitgewirkt haben), können ihnen die Tatbeiträge wechsel-seitig zugerechnet werden. Ob die Beteiligung massgeblich ist, ist immer auch eine Wertungsfrage. Massgeblich ist der Tatbeitrag des Einzel-nen immer dann, wenn die Tat ohne den Beitrag des Beteiligten nicht zustandegekommen wäre, sei dies aus tat-

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sächlichen (obj. TB) oder subjektiven Gründen (z.B. wenn einer der Beteiligten nicht bereit ist, die Tat auszufüh-ren, wenn der andere nicht auch teilnimmt). Es kann hingegen nicht darauf ankommen, ob einer der Beteiligten be-reit gewesen wäre, die Rolle eines anderen zu übernehmen („Austauschbarkeit der Rollen“), denn dann bestraft man den Täter nicht für das, was er getan hat, sondern dafür, was er dachte (umstritten). Nimmt der konkret Betei-ligte gar keine oder nur unwesentliche Ausführungshandlungen vor, liegt i.d.R. keine Mittäterschaft vor.

Weiterführende Hinweise: Obwohl den Tätern ihre Tatbeiträge wechselseitig zugerechnet werden können, müssen sie bei einem echten Sonderdelikt alle die Sondereigenschaft haben. Ansonsten kommt für die Beteiligten nur An-stiftung oder Gehilfenschaft in Frage. Beim unechten Sonderdelikt ist die Mittäterschaft möglich, auch wenn der Mittäter die Sondereigenschaft nicht besitzt (der Mittäter wird dann einfach nach dem Grundtatbestand bestraft). Art. 26 ist in solchen Fällen nicht anwendbar, da er nur die Teilnahme betrifft. Zu beachten gilt ferner, dass bei ei-genhändigen Delikten Mittäterschaft ebenfalls ausgeschlossen ist. Beim Mittäterexzess sind die exzessiven Hand-lungen des einen Mittäters den anderen nicht zuzurechnen; evtl. ist die exzessive Handlung des Mittäters separat zu prüfen. Diese zusätzlichen Überlegungen muss man sich in den Fällen, in denen jeder Täter den ganzen objektiven Tatbestand für sich alleine erfüllt, nicht machen, da dies bei der Subsumtion der obj. Seite der gemeinsamen Tat-ausführung ohnehin rauskommt. Mit-Tatherrschaft bei der Ausführung kommt in seltenen Fällen auch vor, wenn ein Beteiligter frühzeitig aus dem Tatgeschehen ausscheidet, weil er z.B. festgenommen wird, oder wenn der Betei-ligte die anderen psychisch unterstützt (und die anderen ohne diese Unterstützung nicht handeln würden). Bei de-likteinleitenden Gremienentscheiden kann jedes Mitglied i.d.R. argumentieren, die Tat wäre auch begangen wor-den, wenn es selbst dagegen gestimmt hätte (keine natürliche Kausalität). Trotzdem werden diejenigen Mitglieder, die für ein deliktisches Verhalten gestimmt haben, bestraft aufgrund der „Lehre von der gesetzmässigen Bedin-gung“.

b) Subjektive Seite 228 Jeder Täter muss für sich alleine den subjektiven Tatbestand des konkreten Delikts erfüllen.

Vorgehen: Obersatz aufstellen; Subsumtion der inneren Vorgänge aller Täter unter diesen Obersatz. Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale müssen bei jedem Täter einzeln vorliegen. Wer sich nach Beginn der Ausführung anschliesst, haftet nur für diejenigen Tatbestandsteile, die nach seinem Beitritt ausgeführt wurden (obwohl sich sein Vorsatz auf die ganze Tat beziehen kann). Verwirklicht ein Täter mehr Unrecht als geplant (sog. „Mittäterex-zess“), wird das den anderen Mittätern nicht zugerechnet.

c) Grenzen der Mittäterschaft prüfen! Wie bereits erwähnt: Besondere subjektive Tatbestandsmerkmale müssen bei allen Tätern vorliegen. Ansonsten wird ein Mittäter eines Betrugs nur aufgrund von Art. 151 bestraft. Bei echten Sonderdelikten muss jeder Mittäter die Sondereigenschaft haben, sonst kommt lediglich Gehilfenschaft in Frage. Gleiches gilt für eigenhändige Delik-te.

d) Versuch im Speziellen 229 Beim Versuch führt selbst die Kumulation der einzelnen Beiträge nicht zur Erfüllung des ge-

samten objektiven Tatbestandes. Beispiel (versuchte Tötung, begangen in Mittäterschaft): Der gemeinsame Tatentschluss liegt vor. Es gilt, die ge-meinschaftliche Ausführung zu prüfen. Obj. TB: Die vorsätzliche Tötung nach Art. 111 StGB setzt den Tod eines Menschen voraus. Das Opfer ist nicht gestorben. Der objektive Tatbestand ist nicht erfüllt. Selbst die Kumulation der einzelnen Tatbeiträge würde daran nichts ändern. Trotzdem ist zu prüfen, ob die Beteiligten Mit-Tatherrschaft innehatten, ob sie also in massgebender Weise mitgewirkt haben, denn nur in solchen Fällen kommt eine Bestra-fung als Mittäter in Frage. Der Täter A hat mit der Railgun gezielt, während der Täter B die Waffe gehalten hat. Beide Handlungen sind für die Schussabgabe notwendig. Hätte einer die Waffe nicht gehalten, hätte der andere nicht zielen können. Beide hatten somit Tatherrschaft inne. Subj. TB: Der Tötungsvorsatz liegt bei beiden vor. Be-ginn der Ausführungshandlung: Nach der Schwellentheorie ist die Schwelle zum Versuch überschritten, wenn die Täter nach ihrem Plan zur Tat schreiten. Mit der Schussabgabe ist die Schwelle zum Versuch überschritten. Es liegt ein vollendeter Versuch vor.

e) Rechtswidrigkeit/Schuld 230 Für jeden Täter einzeln zu prüfen.

f) Rücktritt und tätige Reue 231 Rücktritt des einzelnen Mittäters ist nur möglich, wenn die Tat im unvollendeten Versuch

stecken blieb. Tätige Reue kann dem Mittäter selbst dann noch angerechnet werden, wenn die Tat trotzdem vollendet wird (Art. 23 Abs. 4). Rücktritt und tätige Reue sind nur bei dem Mit-täter zu prüfen, bei dem sie vorliegen. Tätige Reue ist i.d.R. nur möglich, wenn der Versuch vollendet, der Erfolg hingegen noch nicht eingetreten ist (Art. 23 Abs. 1 u. 2).

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4. Rechtsfolgen 232 Jeder Mittäter muss für die ganze Tat einstehen.

5. Mittäterschaft bei Fahrlässigkeitsdelikten 233 Bei Fahrlässigkeitsdelikten kommt nur Nebentäterschaft in Frage. Für Mittäterschaft müsste

ein gemeinsamer Tatentschluss vorliegen, was bei Fahrlässigkeitsdelikten nie der Fall sein kann.

B. Nebentäterschaft Beachte auch hier: Doppelkausalität/kumulative Kausalität.

234 Von Nebentäterschaft wird gesprochen, wenn zwei Täter unabhängig voneinander auf densel-ben Taterfolg hinwirken. Die Nebentäterschaft ist kein Fall von Beteiligung; Nebentäter wer-den wie Alleintäter behandelt. Die Nebentäterschaft komt v.a. bei Fahrlässigkeitsdelikten vor. Die Unabhängigkeit äussert sich v.a. im fehlenden gemeinsamen Tatentschluss und in der fehlenden gemeinsamen Tatbegehung.

C. Mittelbare Täterschaft

1. Übersicht 235 Als mittelbarer Täter gilt, wer „einen anderen Menschen als sein willenloses oder wenigstens

nicht vorsätzlich handelndes Werkzeug benützt, um durch ihn die beabsichtigte strafbare Handlung ausführen zu lassen“ (BGer). Die Formulierung trägt nicht allen möglichen Konstellationen (unten Rz. 236 ff.) Rechnung.

236 Beim Tatmittler muss jeweils auf einer Ebene des Tataufbaus ein „Defekt“ vorliegen. Liegt ein solcher Defekt vor, handelt der Tatmittler nicht volldeliktisch.

237 Auf der Tatbestandsebene liegt ein Defekt vor, wenn:

– der Tatmittler den objektiven Tatbestand nicht erfüllt; oder Das kann insbesondere dann passieren, wenn der mittelbare Täter das Opfer veranlasst, sich selbst die tatbestands-mässige Schädigung zuzufügen.

– der Tatmittler ohne Vorsatz handelt. Der Tatmittler leidet dann an einem Tatbestandsirrtum (Fahrlässigkeit des Tatmittlers prüfen!). Beispiel: Der Tat-mittler weiss nicht, dass er sich eine fremde Sache aneignet. Hinweis: Kein Fall von mittelbarer Täterschaft liegt vor, wenn der Tatmittler rein instrumental, sozusagen als Waffe, benutzt wird.

238 Auf der Rechtfertigungsebene liegt ein Defekt vor, wenn:

– die Handlung des Tatmittlers gerechtfertigt ist (z.B. Notwehr/Notstand); Beispiel: Der mittelbare Täter droht dem Tatmittler mit dem Tod, wenn er die strafbare Handlung nicht begeht.

– der Tatmittler fälschlicherweise eine rechtfertigende Sachlage annimmt; Der Tatmittler unterliegt diesfalls einem Tatbestandsirrtum zu seinen Gunsten i.S.v. Art. 13 (Fahrlässigkeit des Tatmittlers prüfen!).

239 Auf der Schuldebene liegt ein Defekt vor, wenn:

– der Tatmittler völlig schuldunfähig ist; Der Tatmittler ist nicht fähig, das Unrecht seiner Schuld einzusehen. Bei einer bloss herabgesetzten Schuldunfä-higkeit (z.B. herabgesetzte Bestimmungsfähigkeit) kommt nicht mittelbare Täterschaft, sondern Anstiftung in Fra-ge.

– der Tatmittler einer unvermeidbaren Verbotsunkenntnis unterliegt; War der Verbotsirrtum für den Tatmittler vermeidbar, kommt nicht mittelbare Täterschaft, sondern Anstiftung in Frage.

– der Tatmittler unter Zwang steht.

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Der Tatmittler wird durch den Einsatz psychischen oder physischen Zwangs zur Tat veranlasst und befindet sich in einer entschuldbaren Notlage. Der Zwang geht i.d.R. vom mittelbaren Täter aus.

2. Praktisches Vorgehen

a) Strafbarkeit des Tatmittlers 240 In der Falllösung sollte man am besten mit dem Tatnächsten beginnen. Beim Tatmittler ergibt

sich dann ein Defekt im obigen Sinne, sodass er entweder nicht tatbestandsmässig oder nicht widerrechtlich handelt oder schuldunfähig ist. Unterlag der Tatmittler einem Tatbestandsirrtum, ist zusätzlich die fahrlässige Tatbegehung zu prüfen.

b) Strafbarkeit des mittelbaren Täters (Tatbestandsmässigkeit) 241 Der objektive und subjektive Tatbestand des mittelbaren Täters in Bezug auf die Haupttat ist

zu prüfen (mittelbare Täterschaft ist eine Form der Täterschaft). Dann stellt sich heraus: Der mittelbare Täter erfüllt den objektiven Tatbestand nicht, den subjektiven hingegen schon. Normalerweise wäre in einer solchen Konstellation der Versuch zu prüfen.

242 Es stellt sich die Frage, ob die Erfüllung des objektiven Tatbestandes durch den Tatmittler dem mittelbaren Täter zugerechnet werden kann. Das ist möglich, wenn der mittelbare Täter die Tatherrschaft innehatte. Tatherrschaft hat, wer das tatbestandsmässig relevante Geschehen (den Sachverhalt) bewusst und unmittelbar kausal beherrscht, sodass dem Tatmittler jede strafrechtliche Verantwortlichkeit abgesprochen werden muss.

c) Grenzen der mittelbaren Täterschaft 243 Eigenhändige Delikte können nicht in mittelbarer Täterschaft begangen werden. Bei Delikten

mit besonderen subjektiven Tatbestandsmerkmalen und Sonderdelikten ist mittelbare Täter-schaft nur möglich, wenn die Voraussetzungen beim mittelbaren Täter und beim Tatmittler vorliegen.

d) Rechtswidrigkeit/Schuld 244 Weiter wird noch dessen eigene Rechtfertigung/Schuld zu prüfen sein.

3. Rechtsfolge 245 Der mittelbare Täter ist wie ein Alleintäter zu bestrafen.

4. Strafbarkeit des Tatmittlers 246 Der Tatmittler kann höchstens wegen Fahrlässigkeit zur Verantwortung gezogen werden.

Voraussetzung: Der Tatmittler verkennt sorgfaltswidrig, dass er eine verbotene Handlung vornimmt. Dabei handelt es sich um einen Sachverhaltsirrtum i.S.v. Art. 13 (Irrtum zugunsten des Täters).

D. Anstiftung

1. Begriff 247 Der Anstifter bestimmt jemanden vorsätzlich zu dem von diesem verübten Verbrechen oder

Vergehen (Art. 24 Abs. 1). Die Strafbarkeit der Anstiftung wird damit begründet, dass (a) der Anstifter auf den Täter einwirkt und ihn ins Verbrechen führt und damit die Gefahr einer sozialen Desintegration bewirkt (Korruptionstheorie), sowie (b) weil der Teilnehmer sich am rechtswidrigen Verhalten des Haupttäters beteiligt (Unrechtsteilnahmetheorie; h.L.). Nach der Unrechtsteilnahmetheorie leitet sich die Strafbarkeit der Anstiftung und Gehilfenschaft aus derjenigen der Haupttat ab (Akzessorietät).

2. Abgrenzungen 248 Zur Mittäterschaft und zur mittelbaren Täterschaft: Der Anstifter hat keine Tatherrschaft, son-

dern gibt nur den entscheidenden Impuls; der Vordermann hat die Tatherrschaft. Der Anstifter

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wirkt auch nicht bei der Planung oder Ausübung mit. Zur psychischen Gehilfenschaft: Der Anstifter weckt den Tatentschluss, während der psychische Gehilfe den Täter nach der Fas-sung des Tatentschlusses unterstützt.

249 Die Anstiftung ist limitiert akzessorisch zur Haupttat: Die Haupttat muss widerrechtlich be-gangen worden sein, nicht aber schuldhaft. In vielen Fällen, in denen der Angestiftete schuld-los handelt, liegt mittelbare Täterschaft vor. Aus der limitierten Akzessorietät ergibt sich, dass bei der Prüfung immer mit der Haupttat/dem Haupttäter zu be-ginnen ist.

3. Voraussetzungen

a) Haupttat 250 In der Falllösung sollte man am besten mit dem Tatnächsten beginnen, d.h. mit dem Haupttä-

ter (dem Angestifteten). Die Haupttat muss folgende Qualitäten besitzen, um für die Anstif-tung in Frage zu kommen:

– Vergehen, Verbrechen oder Übertretung (Art. 104);

– Vorsatztat; Man kann niemanden zu einer fahrlässigen Tat anstiften; der Anstifter ruft ja gerade den Tatentschluss hervor, was Wissen und Wollen beim Haupttäter impliziert.

– Widerrechtliche Haupttat; Nach der limitierten Akzessorietät muss die Haupttat tatbestandsmässig und rechtswidrig begangen worden sein, nicht aber schuldhaft. Hinweis: In vielen Fällen, in denen der Angestiftete schuldlos handelt, liegt keine Anstiftung, sondern eine mittelbare Täterschaft vor.

– Die Haupttat muss mindestens ins Versuchsstadium gelangt sein. Wenn der Angestiftete das Vorbereitungsstadium nicht verlässt, oder der Anstifter keinen Tatentschluss wecken kann (was insbesondere auch beim „omnimodo facturus“ der Fall ist, weil dieser den Tatentschluss im Zeitpunkt der Anstiftung bereits gefasst hatte), ist versuchte Anstiftung anzunehmen. Die versuchte Anstiftung ist nur bei Verbrechen strafbar (Art. 24 Abs. 2).

251 Hat die Haupttat die obigen Qualitäten, stellt sich die Frage, ob eine zweite Person am Delikt durch Anstiftung teilgenommen (vgl. Unrechtsteilnahmetheorie) hat:

b) Anstiftung 252 Art. 24 Abs. 1 hält fest: „Wer jemanden vorsätzlich zu dem von diesem verübten Verbrechen

oder Vergehen bestimmt hat [...]“. Das bedeutet im Einzelnen auf der objektiven Seite:

– Hervorrufen des Tatentschlusses („Bestimmen“) Die Anstiftung muss sich auf ein bestimmtes Delikt beziehen. Das bedeutet, dass der Anstifter den Tatentschluss zur angestifteten (und nicht irgeneiner anderen) Tat hervorgerufen haben muss (gefordert ist aber nicht, dass der Anstifter die Einzelheiten der Tat nennt). Ansonsten liegt eine qualitative Abweichung (dazu sogleich unten) und damit versuchte Anstiftung vor. Der Anstifter muss auf eine oder mehrere bestimmte Personen einwirken (andern-falls: Art. 259). Die Anstiftung muss nicht ausdrücklich erfolgen (das Äussern bestimmter Wünsche reicht). Der Anstifter kann sogar scheinbar von der Tat abraten, wenn er dadurch den Tatentschluss weckt. Die Anstiftung ge-schieht durch aktives Tun (Bestimmung zur Tat; Anstiftung durch Unterlassen ist deshalb nicht möglich). Die Schaffung einer Tatgelegenheit reicht für sich allein nicht.

– Kausalität zwischen Anstiftung und Tatentschluss Nur solche Personen können angestiftet werden, welche im betreffenden Zeitpunkt nicht schon ohnehin den Ent-schluss gefasst haben, die konkrete Tat zu begehen (was beim „omnimodo facturus“ der Fall wäre). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die blosse Neigung oder gar grundsätzliche Bereitschaft zur Begehung (irgendeiner) Straf-tat der Anstiftung nicht im Wege steht.

253 Auf der subjektiven Seite wird gefordert:

– Vorsatz bezüglich des Anstiftens (Rz. 252);

– Vorsatz bezüglich der Haupttat.

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Der Anstifter muss die Haupttat wollen (Eventualvorsatz genügt) und auch die tatbestandlich relevanten Umstände kennen. Auch die Kettenanstiftung – die Anstiftung zur Anstiftung – ist tatbestandsmässig, verlangt aber den „drei-fachen“ Vorsatz.

4. Rechtsfolge 254 Der Anstifter unterliegt derselben Strafdrohung wie der Haupttäter (Art. 24 Abs. 1). Gelangt

die Haupttat nur ins Versuchsstadium, profitiert auch der Anstifter von der Strafmilderungs-möglichkeit nach Art. 22 (Grundsatz der Akzessorietät). Wichtig: Nur Unrechtsmerkmale wirken akzessorisch. Inbesondere Rücktritt und tätige Reue des Haupttäters kommen daher dem Anstifter nicht zugute. Das sind typische Merkmale von Art. 27 (Schuldebene, nicht Unrechts-ebene!).

5. Anstiftung und Versuch im Speziellen 255 Liegen die objektiven Tatbestandsmerkmale der Anstiftung nicht vor, die subjektiven hinge-

gen schon, ist die versuchte Anstiftung (Art. 24 Abs. 2) zu prüfen. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Haupttat im straflosen Vorbereitungshandeln stecken bleibt (Fehlen einer tatbestandsmässigen, widerrechtlichen Haupttat), oder wenn der Anstifter keinen Tatentschluss hervorrufen kann. In solchen Konstellationen ist übrigens auch der Rücktritt des Anstifters noch möglich (Art. 23 Abs. 2).

Auch bei der versuchten Anstiftung ist die Schwellentheorie massgebend. Die Schwelle zum Versuch ist spätestens dann überschritten, wenn der Anstifter beginnt, auf den Haupttäter einzuwirken. Ein beendeter Anstiftungsversuch liegt vor, wenn der Anstifter den Tatentschluss beim Haupttäter hervorrufen konnte, die Haupttat aber nicht zur Ausführung gelangt (resp. eben im straflosen Vorbereitungshandeln stecken bleibt).

256 Spezialfall: Die Anstiftung kann trotz Vorliegen aller objektiven und subjektiven TBE (der Anstiftung) quasi im Versuch stecken (bleiben), und zwar dann, wenn die Haupttat selbst noch nicht vollendet wurde. Das liegt daran, dass eines der Ziele des Täters (neben der Anstiftung eben auch die Haupttat) noch nicht voll ver-wirklicht wurde. Ausserdem soll dem Anstifter nicht die Möglichkeit geraubt werden, tätige Reue (Art. 23 Abs. 2) zu üben, indem er in das Geschehen der Haupttat eingreift (Beispiel: Der Anstifter verhindert, dass das Opfer nach Hause läuft, wo ihm der Auftragskiller auflauert). Erst, wenn die Haupttat vollendet wurde (und der Erfolg einge-treten ist), ist die tätige Reue des Anstifters nicht mehr möglich.

257 Neutralisiert der Anstifter schon vorher seinen Tatbeitrag (z.B. indem er dem Täter sagt, er wolle nicht mehr, dass dieser die Tat ausführt), oder verhindert er in anderer Weise, dass die Haupttat in das Versuchsstadium gelangt, ist er nicht mehr Anstifter zu dieser Tat.

258 Ob sich der Vorsatz des Anstifters auf die Vollendung der Tat beziehen muss, ist umstritten. Wollte der Anstifter den tatbestandsmässigen Erfolg der Tat, stellen sich keine Probleme. Wollte der Anstifter hin-gegen, dass die Haupttat lediglich ins Versuchsstadium gerät (insbesonderer beim „agent provocateur“, welcher den Haupttäter in flagranti erwischen will), bleibt der Anstifter straflos (DONATSCH/TAG, a.a.O., S. 153 m.w.H.).

6. Problematik der Abweichung des Haupttäters 259 Die nachfolgenden Abweichungen spielen sich auf der Tatbestandsebene ab.

a) Quantitative Abweichung nach oben (quantitativer Anstiftungsexzess) 260 Der Anstifter haftet für die Anstiftung zum geplanten Delikt.

Anwendungsfall von Art. 27 (unten Rz. 272 f.). Der objektive und subjektive Tatbestand der Anstiftung ist erfüllt.

b) Quantitative Abweichung nach unten 261 Der Anstifter haftet für die versuchte Anstiftung zum geplanten Delikt (nach FLACHSMANN/

ECKERT/ISENRING, a.a.O., S. 43; Achtung: nur bei Verbrechen möglich gem. Art. 24 Abs. 2). Anwendungsfall von Art. 27 (unten Rz. 272 f.). Die h.L. behauptet demgegenüber, dass zusätzlich vollendete An-stiftung zur verübten Tat vorliegt. Demgegenüber bin ich der Auffassung, dass der objektive Tatbestand der Anstif-tung („zu dem von diesem verübten Verbrechen oder Vergehen“) hier eben gerade nicht vorliegt.

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c) Qualitative Abweichung (qualitativer Anstiftungsexzess) 262 Begeht der Täter ein völlig anderes als das angestiftete Delikt, ist der Anstifter wegen ver-

suchter Anstiftung zum geplanten Delikt (nur bei Verbrechen; Art. 24 Abs. 2) strafbar. Praktisch ist dann der objektive Tatbestand des Anstifters (TBE des „Hervorrufen des Tatentschlusses zu dem von diesem verübten Vergehen oder Verbrechen“) nicht erfüllt, der subjektive hingegen schon. Die Schwelle zum Ver-such ist klar überschritten, weil der Anstifter bereits alles getan hat, was in seiner Vorstellung notwendig war, um die Anstiftung zu vollenden (vollendeter Versuch).

E. Gehilfenschaft

1. Begriff 263 Gehilfe ist, wer zu einem Verbrechen oder Vergehen vorsätzlich Hilfe leistet (Art. 25).

Die Strafbarkeit der Gehilfenschaft wird damit begründet, dass der Teilnehmer sich am rechtswidrigen Verhalten des Haupttäters beteiligt (Unrechtsteilnahmetheorie). Die Strafe des Gehilfen entspricht jener der Haupttat, wird aber nach Art. 48a gemildert. Für die Gehilfenschaft bei der Übertretung vgl. Art. 105 Abs. 2.

2. Abgrenzungen 264 Zur Mittäterschaft: Der Gehilfe hat keine Mit-Tatherrschaft; er ist mithin nicht am Entschluss

und der Planung der Tat beteiligt; sein Tatbeitrag ist nicht notwendig zur Erfüllung des objek-tiven Tatbestandes. Zur Anstiftung: Bei der psychischen Gehilfenschaft unterstützt der Gehil-fe den Täter erst nach der Fassung des Tatentschlusses.

3. Voraussetzungen

a) Haupttat 265 In der Falllösung sollte man am besten mit dem Tatnächsten beginnen, i.c. mit dem Haupttä-

ter. Die Haupttat muss folgende Qualitäten besitzen, um für die Gehilfenschaft in Frage zu kommen:

– Vergehen oder Verbrechen (ausnahmsweise Übertretung, vgl. Art. 105 Abs. 2);

– Vorsatztat; Man kann niemandem bei einer fahrlässigen Tat Gehilfenschaft leisten.

– Widerrechtliche Haupttat; Nach der limitierten Akzessorietät muss die Haupttat tatbestandsmässig und rechtswidrig begangen worden sein, nicht aber schuldhaft.

– Die Haupttat muss mindestens ins Versuchsstadium gelangt sein. Verlässt der Haupttäter das Vorbereitungsstadium nicht, handelt es sich um die straflose versuchte Gehilfenschaft.

266 Hat die Haupttat die obigen Qualitäten, stellt sich die Frage, ob eine zweite Person am Delikt durch Gehilfenschaft teilgenommen (vgl. Unrechtsteilnahmetheorie) hat:

b) Gehilfenschaft Prüfungshinweis: Kurz festhalten, dass die Anforderungen an die Haupttat (vgl. Rz. 265) erfüllt sind.

267 Auf der objektiven Seite wird gefordert, dass der Gehilfe zur Haupttat Hilfe leistet: Als Hilfeleistung gilt „jeder kausale Beitrag, der die Tat fördert, so dass sich diese ohne Mitwirkung des Gehilfen anders abgespielt hätte“ (BGer). Der Gehilfe fördert die Tat, wenn sich die Erfolgsschancen der Haupttat erhöhen. Das bedeutet andererseits, dass der „Gehilfe“ sich nicht strafbar macht, wenn er zwar Hilfe leistet, diese aber nicht die Haupttat fördert (weil sie z.B. vom Haupttäter nicht in Anspruch genommen wird), oder wenn der Haupttäter überhaupt nicht in strafbarer Weise tätig wird (vgl. die Anforderungen an die Haupttat); die versuchte Gehilfen-schaft ist nämlich straflos. Sozialadäquate Handlungen werden nicht als strafbar angesehen (z.B. Verkauf einer Axt).

268 Auf der subjektiven Seite des Gehilfen wird gefordert:

– Vorsatz bezüglich der Gehilfenschaft bzw. der Hilfeleistung (Rz. 0);

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– Vorsatz bezüglich der Haupttat.

269 Schliesslich ist die Rechtswidrigkeit und die Schuld des Gehilfen zu prüfen.

4. Rechtsfolge 270 Die Gehilfenschaft wird milder bestraft als die Haupttat (Art. 25 i.V.m. Art. 48a). Wurde die

Haupttat nicht vollendet, profitiert der Gehilfe zusätzlich von der Strafmilderung nach Art. 22 Abs. 1. Die versuchte Gehilfenschaft ist straflos (Art. 25, Art. 24 Abs. 2 e contrario). Für die Abweichung des Haupttäters vom ursprünglichen Plan gelten dieselben Regeln wie bei der Anstiftung.

F. Gemeinsame Probleme

1. Teilnahme am Sonderdelikt 271 Nimmt ein Extraneus (jemand, der die Sondereigenschaft nicht aufweist) an einem echten

oder unechten Sonderdelikt teil (Anstiftung od. Gehilfenschaft), so ist die Stafe gem. Art. 26 zu mildern (Ausdruck der limitierten Akzessorietät). Art. 26 ist insbesondere bei der Mittäterschaft laut h.L. nicht anwendbar (der extraneus kann beim echten Sonder-delikt kein Mittäter sein). Die analoge Anwendung der Norm ist allerdings nicht per se ausgeschlossen, weil sie sich zu Gunsten des Mittäters auswirken würde (kein Verstoss gegen Art. 1).

2. Besondere persönliche Merkmale 272 Nach Art. 27 werden besondere persönliche Merkmale, welche die Strafbarkeit erhöhen, ver-

mindern oder ausschliessen, bei dem Täter oder Teilnehmer berücksichtigt, bei dem sie vor-liegen. Jeder Beteiligte soll nach Massgabe seiner persönlichen Schuld bestraft werden.

273 Dabei kommen unterschiedliche Fallkonstellationen in Betracht:

– Auf den einzelnen Beteiligten findet ein qualifizierter Tatbestand Anwendung; Beispiel: Auf einen Täter findet Art. 112 anstatt Art. 111 Anwendung.

– einer der Mitwirkenden fällt unter einen privilegierten Tatbestand; Beispiel: Auf einen Täter findet Art. 113 anstatt Art. 111 Anwendung.

– für einen der Beteiligten gilt ein Straferhöhungs –oder minderungsgrund; Beispiele: Art. 19 Abs. 2, Art. 21 (Verbotsirrtum), Art. 48 lit. a Ziff. 1–4; Art. 48 lit. d.

– gegenüber dem Mitwirkenden kann von einer Strafe abgesehen werden. Beispiele: Art. 23 Abs. 2 (Rücktritt oder tätige Reue; vgl. auch oben Rz. 70), Art. 54.

3. Notwendige Teilnahme 274 Von notwendiger Teilnahme wird gesprochen, wenn zur Verwirklichung eines Tatbestandes

begriffsnotwendig mehrere Personen beteiligt sein müssen. Entweder sind alle Personen straf-bar (z.B. Raufhandel gem. Art. 133, Inzest gem. Art. 213 Abs. 1), oder eine Person bleibt straflos, weil die Norm gerade den Schutz ihrer Rechtsgüter bezweckt (z.B. Wucher gem. Art. 157, Betrug gem. Art. 146, Vergewaltigung nach Art. 190).

4. Verhältnis der Beteiligungsmöglichkeiten zueinander 275 Die Teilnahme geht in der Täterschaft auf (unechte Konkurrenz).

Oder anders: Der Gehilfe/Anstifter haftet nur als Mittäter, weil die Mittäterschaft das von ihm begangene Unrecht voll erfasst.

276 Die Gehilfenschaft geht in der Anstiftung auf (echte Konkurrenz). Der Gehilfe haftet nur wegen Anstiftung. Man spricht von echter Konkurrenz, weil Gehilfenschaft und Anstiftung zwei nebeneinander bestehende Tatbestände sind. Der Teilnehmer wird nur wegen Anstiftung bestraft, weil auf den Anstifter dieselbe Strafdrohung anwendbar ist wie auf den Täter (Art. 24 Abs. 1; anders Art. 25).

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VIII. Unternehmensstrafrecht 277 Das Unternehmensstrafrecht erklärt Unternehmen für strafbar, wenn ein Verbrechen oder

Vergehen aufgrund deren mangelhafter Organisation begangen wurde. Voraussetzungen für die Strafbarkeit des Unternehmens sind:

A. Die Anlasstat

1. Art. 102 Abs. 1 278 Anlasstat ist ein Verbrechen oder Vergehen (vgl. Art. 10 Abs. 2 u. 3).

2. Art. 102 Abs. 2 279 Anlasstat ist eine der in Abs. 2 aufgezählten Straftatbestände.

B. Primäre und subsidiäre Verantwortlichkeit

1. Art. 102 Abs. 1 280 Die Strafverfolgungsbehörden können die Tat keiner natürlichen Person zurechnen, obwohl

sie sich mit aller Sorgfalt um die Zurechnung der Tat zu einer natürlichen Person bemüht ha-ben. Wie soll aber die Tatbestandsmässigkeit (Anlasstat) festgestellt werden, wenn die Tat keiner Person zugerechnet werden kann? Die Erfüllung eines beliebigen objektiven Tatbestandes nachzuweisen ist noch vergleichsweise ein-fach, wenn dieser durch mehrere Täter in einem Unternehmen „additiv“ verwirklicht wurde (wobei Art. 102 Abs. 1 offen lässt, ob eine derartige Addierung von Handlungen, die im Ergebnis zur Verwirklichung eines objektiven Tatbestandes führt, überhaupt zulässig ist). Schwieriger wird der Nachweis des subjektiven Tatbestandes, unab-hängig davon, ob man ihn einem Täter (den man nicht kennt) oder mehreren Tätern zusammen (Gesamtvorsatz) nachweisen will. Vgl. den subsidiär-individuellen vs. den subsidiär-kollektiven Ansatz.

2. Art. 102 Abs. 2 281 Das Unternehmen wird unabhängig von der Strafbarkeit natürlicher Personen bestraft.

C. Unternehmen 282 Vgl. Art. 102 Abs. 4. Das Unternehmen muss einer wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen (d.h.

Gewinnorientierung).

D. Bezug zum Unternehmen (Geschäftliche Verrichtung) 283 Das Verbrechen oder Vergehen muss in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des

Unternehmenszwecks begangen werden (Abs. 1 u. 2). Es besteht klar kein Bezug, wenn das Handeln oder Unterlassen gegen das Unternehmen gerichtet ist oder nicht einmal in potenziel-ler Nutzniessung für das Unternehmen erfolgt. Die Formulierung im Passiv verschleiert an dieser Stelle ebenfalls das Problem der Zurechnung: Wie soll man fest-stellen, dass ein oder mehrere Täter eine Staftat „in Ausübung geschäftlicher Verrichtung im Rahmen des Unter-nehmenszwecks“ begehen, wenn nicht feststeht, wer die Tat begangen hat.

E. Mangelhafte Organisation

1. Art. 102 Abs. 1 284 Personeller Organisationsmangel: Die Organisation ist mangelhaft, wenn gravierende Organi-

sationsmängel bezüglich personaler Zuständigkeiten herrschen (fehlende Zuständigkeiten, Zeichnungsbefugnisse etc.). Insbesondere die Geschäftsherrenhaftung kommt nicht in Frage. Die mangelhafte Organisation muss zudem ursächlich dafür sein, dass die Straftat keiner na-türlichen Person zugerechnet werden kann (Zurechnung!).

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2. Art. 102 Abs. 2 285 Inhaltlicher Organisationsmangel: Die Organisation ist mangelhaft, wenn das Unternehmen

nicht alle erforderlichen zumutbaren organisatorischen Vorkehren getroffen hat, um eine Straftat gem. Abs. 2 zu verhindern.

F. Subjektiver Tatbestand 286 Es ist unerheblich, ob die Organisationsmängel vorsätzlich oder fahrlässig verursacht wurden.

G. Abgrenzung zur Geschäftsherrenhaftung 287 Bei der Geschäftsherrenhaftung (unechte Unterlassung bei Ingerenz) lässt sich die Tat einer

natürlichen Person zurechnen; das Unternehmensstrafrecht setzt demgegenüber in Art. 102 Abs. 1 voraus, dass die Tat eben keiner natürlichen Person zurechenbar ist. In beiden Konstel-lationen ist aber der Organisationsmangel der eigentliche Haftungsgrund.