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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts R g geschichte Rechtsgeschichte www.rg.mpg.de http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg10 Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 10 (2007) http://dx.doi.org/10.12946/rg10/063-073 Rg 10 2007 63 – 73 Ulrich Schollwöck Warum hat Zeit eine Richtung? Dieser Beitrag steht unter einer Creative Commons cc-by-nc-nd 3.0

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Zeitschri des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte Rechts Rggeschichte

Rechtsgeschichte

www.rg.mpg.de

http://www.rg-rechtsgeschichte.de/rg10

Zitiervorschlag: Rechtsgeschichte Rg 10 (2007)

http://dx.doi.org/10.12946/rg10/063-073

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Ulrich Schollwöck

Warum hat Zeit eine Richtung?

Dieser Beitrag steht unter einer

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Abstract

A surprising finding of physics is that the ubiq-uitous observation of physical processes which are irreversible, like the dissolution of a substance in a liquid, have no counterpart in the microscopic laws in physics which indicate that time is direc-tionless and allow for a reversal of the direction of time. This seemingly negates our empirical obser-vation that an open future contrasts with a fixed past. The existence of a direction or arrow of time is explained in modern physics as a statistical phe-nomenon: while at the microscopic level reversi-bility holds, at a macroscopic level the numbers of microscopic arrangements that correspond to one macroscopically observable state of the world are so vastly different that a statistical dri from less likely to more likely states turns into deterministic evolution. The direction of time is therefore an emergent phenomenon upon the advent of com-plexity in macroscopic physical systems. Various arguments have been raised against this picture, but can be shown to be either empirically irrele-vant or, more interestingly, to be refuted by the coarse graining or summarizing of world informa-tion that is a key aspect of human perception – which finds its motivation in symmetries and al-most constant quantities in physics.

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Warum hat Zeit eine Richtung?

»Zögernd kommt die Zukunft hergezogen,Pfeilschnell ist das Jetzt entflogen,Ewig still steht die Vergangenheit.«

Vielleicht noch mehr als das Phänomen derZeit selbst hat Menschen seit jeher die Beobach-tung beschäftigt, dass Zeit – anders als Raum –in drei scharf getrennte Bereiche zu zerfallenscheint: Vergangenheit, Gegenwart und Zu-kunft. Auch im Raum gibt es vermeintlich ähn-liche Einteilungen in rechts und links, vorne undhinten, oben und unten. Diese Einteilungen sindvon der Position und Orientierung des Beobach-ters abhängig, so wie auch die Einteilung inVergangenheit, Gegenwart und Zukunft vomBeobachter abhängt. Dieser Relativismus stößtaber im Fall der Zeit sofort an Grenzen. Wäh-rend die Gegenwart selbst, der Augenblick, na-hezu ohne Ausdehnung zu sein scheint, erschei-nen Vergangenheit und Zukunft als ausgedehnt,wobei Zukunft permanent in Vergangenheit ver-wandelt wird. Zeit scheint also in eine Richtungzu fließen, ist durch einen gerichteten Zeitpfeilgekennzeichnet. Der fundamentale Unterschiedzum Raum – wo man eine beliebige Raumachseebenso mit einer Richtung versehen kann – be-steht darin, dass man sich im Raum beliebig hinund auch wieder zurück bewegen kann, was inder Zeit nicht möglich scheint. Ist dieser gerich-tete Charakter der Zeit eine Illusion der mensch-lichen Wahrnehmung oder in den Gesetzen derPhysik verankert?

Zeit hat aber nicht nur gerichteten Charak-ter, sondern auch historischen Charakter: Wäh-rend die Zukunft prinzipiell offen zu sein scheint,liegt die Vergangenheit insgesamt fest und ist inihrem Verlauf durch in der Gegenwart vorliegen-

de Dokumente (Schriftstücke, Kunstwerke, Fossi-lien) zumindest ansatzweise dokumentiert. Ewigstill steht die Vergangenheit, so Friedrich Schiller.

Ein Zeitpfeil ohne Zeit?

Was hat die moderne Physik zum Problemdes Zeitpfeils und der Historizität zu sagen? Dernoch viel schwierigeren Frage nach dem Wesender Zeit »an sich« möchte ich ausweichen. Es istnämlich durchaus denkbar, dass diese Frage viel-leicht nicht nur schwierig, sondern sogar irrefüh-rend ist. Sicherlich kann man die Orte und Ge-schwindigkeiten von materiellen Objekten alsFunktionen einer Größe Zeit durchgehend aus-drücken. Stellen wir uns das Pendel einer altenStanduhr vor; dann können wir den Ort derPendelspitze und die Geschwindigkeit der Pen-delspitze in Abhängigkeit von der Zeit graphischdarstellen – Physiker verwenden anstatt der Ge-schwindigkeit lieber den Impuls, das ist dieMasse des Objekts multipliziert mit seiner Ge-schwindigkeit. Offensichtlich können wir aberauch eine direkte Zuordnung zwischen Ort undImpuls der Pendelspitze vornehmen: Befindetsich die Pendelspitze am Ort x, so hat sie einenImpuls p. Dabei ist es denkbar (man betrachtedas gedämpfte Pendel), dass zum gleichen Ort x,der immer wieder besucht wird, jeweils verschie-dene Impulse p gehören: Der Nullpunkt (wenndas Pendel senkrecht hängt) wird mit immergeringerer Geschwindigkeit (Impuls) durchlau-fen. Auf jeden Fall kann man die Größe »Zeit«aus der Beschreibung des Pendels eliminierenund die tatsächlich messbaren Größen Ort undImpuls unmittelbar miteinander verbinden. Esentsteht eine Kurve im »Orts-Impuls-Raum«.

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Dabei wird die Kurve in einer bestimmten Rich-tung durchlaufen. Aus Sicht der klassischen Phy-sik ist mit dieser Information alles über dasPendel Aussagbare gesagt, also keine Informa-tion verloren gegangen. Diese Beobachtung istkeine akademische Spielerei: In der Tat könnenwir »Zeit« selbst nie direkt messen, sondern nurdurch (bequemerweise) periodische Veränderun-gen physikalischer Systeme indirekt festnageln –zum Beispiel durch das Pendel unserer Standuhr,dessen Bewegung im Uhrwerk zur Zeitmessungumgesetzt wird. Diese Beobachtung hat Physikerwie Ernst Mach gegen Ende des 19. Jahrhun-derts dazu geführt, zu fordern, man solle dasdann doch eher okkulte Konzept der Zeit aus derPhysik eliminieren, im Sinne eines Ockhamschenentia non sunt multiplicanda sine necessitate. DieEntfernung nicht messbarer Größen aus demphysikalischen Weltbild hat in der Tat später zubahnbrechenden Fortschritten geführt. Dassman die Zeit nicht eliminiert und überhaupt Zeitwie eben erwähnt durch Referenzstandards fest-legen kann, hat damit zu tun, dass wir empirischerfahren, dass auch völlig unabhängige physika-lische Vorgänge durch eine Zeit parametrisiertwerden können. Dies würde nahe legen, dasKonzept Zeit als physikalisches Konzept durch-aus ernst zu nehmen. Eine sehr schwierige Frage,die auf tiefe ontologische und epistemologischeProbleme führt, die bis heute keine zuverlässigeAntwort erfahren haben. Interessanterweise istdie Existenz einer Richtung in der »Zeit« von dereben geführten Diskussion unabhängig: Stellenwir uns vor, wir würden die Richtung der Zeitumdrehen können – wir filmen die Pendelbewe-gung und lassen den Film rückwärts ablaufen. Inder Denkweise, die das Konzept »Zeit« explizitverwendet, folgen wir dann den Orts- und Im-pulskurven in entgegengesetzter Richtung; wirsehen als Ergebnis, dass sich die ehedem ge-

dämpfte Pendelschwingung immer weiter auf-schaukelt. Die Impulse müssen zusätzlich nochin ihrer Richtung umgekehrt werden: Läuft derFilm rückwärts, so kehren sich die Richtungender Geschwindigkeiten um. In der Denkweiseohne explizite Zeit muss man die Impulse eben-falls umkehren, durchläuft die Orts-Impuls-Kur-ve aber wieder in einer festen Richtung: Dieursprünglich gedämpfte Pendelbewegung schau-kelt sich wiederum auf. Eine quantifizierbareOrdnung des Vorher und Nachher lässt sich alsoauch ohne vorherige Einführung eines Zeitbe-griffs herstellen.

Im Folgenden werden wir dennoch der derAlltagserfahrung näheren ersten Denkweise fol-gen und die (unverstandene) Existenz von Zeitals eines die Dynamik der Welt treibenden Para-meters annehmen, aber betonen, dass – wennauch sprachlich umständlicher – sich alle folgen-den Überlegungen in eine zeitfreie Sprache brin-gen lassen.

Umkehrbare Zeit

Auch das Konzept der Zeitrichtung scheintuns zu entgleiten, sobald wir einen genauerenBlick auf die Grundgesetze der Physik werfen.Wie wir gleich sehen werden, ist nirgends in denGrundgesetzen der Physik eine Zeitrichtung odergar das Konzept einer Historizität enthalten.Jedenfalls nicht auf den ersten Blick! Vielleichtauf den zweiten Blick? Wir werden sehen, dassuns die Suche nach dem Zeitpfeil auf zunächstvöllig unverbundene, aber sicher ebenso tiefeFragen führt, etwa nach dem Wesen von Infor-mation, der Bedeutung unvollständigen Wissensüber die Welt oder etwa der Frage, ob das Uni-versum ein Gedächtnis hat – sofern man sichhemmungslos anthropomorpher Begrifflichkei-ten bedienen mag.

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Dass es ein Problem mit einer gerichtetenZeit geben mag, ahnt auch der wissenschaftlicheLaie, der als Kernaussage der Einsteinschen Re-lativitätstheorie behalten hat, dass Raum undZeit keine voneinander getrennte Existenz füh-ren, sondern in einem gewissen Maße sogar in-einander umgewandelt werden können: Was ei-nem Beobachter im Universum als ein räumlicherAbstand erscheint, kann einem anderen Beob-achter zumindest teilweise als zeitlicher Abstanderscheinen. Wie auch immer sich das im Detaildarstellen mag, so stellt sich doch unmittelbar dieFrage, wie man eine gerichtete Größe in eineungerichtete verwandeln kann und umgekehrt.Hier scheint doch eine fundamentale Inkonsis-tenz, eine begriffliche Unstetigkeit zu liegen!

Nicht aus Sicht der Physik: Im Gegensatz zujeglicher Alltagswahrnehmung kennt die Physikkeine Richtung in der Zeit. Um dies zu erkennen,ist es nicht nötig, in die arcana der Quanten-mechanik einzusteigen: Alles kann bereits an derNewtonschen Mechanik erkannt werden, dieman in der Schule kennengelernt hat: actio gleichreactio, usw. Für uns entscheidend ist das zweiteNewtonsche Gesetz, Kraft F gleich Masse m malBeschleunigung. Dieses Gesetz reguliert die ge-samte Mechanik, Planetenbewegungen ebensowie unsere Standuhr. Beschleunigung ist nichtsanderes als die Änderung der Geschwindigkeit inder Zeit. Betrachten wir einen möglichst kleinenZeitraum Ät und die in dem Zeitraum erfolgteGeschwindigkeitsänderung Äv. Die Beschleuni-gung ist dann nichts anderes als der Quotient Äv/Ät und wir haben

F = m (Äv/Ät)

Eine Umkehrung der Zeitrichtung bestehtnun darin, aus Ät einfach –Ät zu machen. Offen-sichtlich kann man das Newtonsche Gesetz dannretten, ohne an den fundamentalen Kräften zu

spielen, indem man die Änderung der Geschwin-digkeit ebenso umkehrt. Aus Äv wird –Äv unddie beiden Vorzeichen kompensieren sich. Imanschaulichen Bild entspricht dies einfach dembereits bemühten rückwärtslaufenden Film. Phy-sikstudenten zeigt man in diesem Zusammen-hang gerne Filme von Gasmolekülen in einemKasten, die sich im Kasten bewegen und wieBillardkugeln aneinander stoßen. Ob der Filmvorwärts oder rückwärts läuft, kann man hiernicht unterscheiden. Der Physiker spricht vonZeitumkehrinvarianz.

Wir können nun zu Recht einwenden, dassPhysiker wie Nichtphysiker auch schon rück-wärts laufende Filme gesehen haben, in denenMilchtropfen aus der Kaffeetasse aufsteigen, einezersprungene Vase sich wieder magisch zusam-mensetzt, und so weiter – die gewisse Komik, diemanchen dieser Filme innewohnt, kommt natür-lich daher, dass uns unsere Welterfahrung lehrt,dass so etwas nicht vorkommt. In der Tat werdenwir über Unterschiede zwischen diesen zwei Ar-ten von Filme nachdenken müssen und erken-nen, dass hier der Schlüssel zur Richtung desZeitpfeils liegt.

Bevor wir damit beginnen, noch eine weitereBeobachtung: Im Newtonschen Gesetz werdenlediglich die augenblicklich wirkende Kraft unddie Änderung der Geschwindigkeit im selbenZeitpunkt in Beziehung zueinander gesetzt; Wer-te und Änderungen der Geschwindigkeit oderauch andere Informationen aus früherer Zeittauchen nicht auf. Mathematisch gesprochen,muss man in der Newtonschen Mechanik ledig-lich die Orte und Geschwindigkeiten der Teil-chen im Augenblick wissen, um die gesamteZukunft ohne Rekurs auf die Historie, die frü-heren Orte und Geschwindigkeiten, berechnenzu können. Die Vergangenheit spricht zur Zu-kunft nur durch die Gegenwart, die außer ihrem

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So-sein, das natürlich das Ergebnis der Vergan-genheit ist, keine Erinnerung an die Vergangen-heit hat. Diese Eigenschaft einer zeitlichen Dy-namik nennt der Mathematiker markovsch. VonHistorizität zunächst keine Spur!

Die Beobachtung, dass die Grundgesetze derPhysik zeitumkehrinvariant sind, aber in derRealität stets eine Zeitrichtung vorliegt, durch-zieht die gesamte Physik: Es gibt, je nach zu-grunde liegender Theorie, einen elektrodynami-schen, einen quantenmechanischen und einenkosmologischen Zeitpfeil, die zu dem eben be-sprochenen sogenannten statistischen Zeitpfeilhinzutreten, obwohl sowohl Elektrodynamikwie auch Quantenmechanik zeitumkehrinvariantsind. Aufgrund der Konsistenz unserer physikali-schen Weltbeschreibung können diese Zeitpfeilenicht voneinander unabhängig sein – eine ArtOberpfeil könnte nach Ansicht vieler Physikerdurch den kosmologischen Zeitpfeil gegebensein, der mit dem Urknall seinen Anfang genom-men hat und sich unter anderem in der Expan-sion des Universums widerspiegelt. Diese innereKonsistenz erlaubt es mir, mich auf einen derPfeile zu konzentrieren, den statistischen Zeit-pfeil, den wir von allen am besten verstehen undder unserer Alltagserfahrung am nächsten steht.

Der Zeitpfeil alsstatistisch emergentes Phänomen

Eine erste Erkenntnis bereits des späten19. Jahrhunderts war es, dass die Emergenz ei-ner Zeitrichtung, die offensichtlich nicht in denmikroskopischen Grundgleichungen evident ist,statistische Ursache haben muss. Während dermikroskopische Film der einzelnen Gasmolekülezeitumkehrinvariant ist, ist es der makroskopi-sche Film der zerbrechenden Vase offensichtlichnicht.

Am Rande sei bemerkt, dass wir hier para-digmatisch beobachten können, dass – obwohlwir puren Reduktionismus betreiben – auf einerneuen Komplexitätsebene nicht nur quantitative,sondern qualitativ-konzeptionelle Veränderun-gen der Weltbeschreibung auftreten können: Inder Komplexität emergente Konzepte wie derZeitpfeil sind nicht Teil der Grundgleichungen,doch in irgendeiner Form bereits immanent.Zum Beleg dieses »more is different« muss manübrigens gar nicht philosophisch schwierigeKonzepte wie den Zeitpfeil bemühen. Dass essich bei dem Konzept »Temperatur« um keinephilosophische Abstraktion handelt, weiß jeder,der schon einmal an eine heiße Herdplatte ge-fasst hat. Dennoch: Temperatur hat keine mikro-skopische Natur (man kann also z. B. einemeinzelnen Gasatom keine Temperatur zuschrei-ben), kommt in keinem Grundgesetz der Physikvor, ergibt sich aber in mathematisch vollständignachvollziehbarer und objektiver Weise aus die-sen Gesetzen, sobald Komplexität hinzutritt.Interessanterweise sind die Pfade von mikrosko-pischer Abwesenheit von Zeitrichtung und Tem-peratur zu ihrer makroskopischen Ubiquität sehrähnlich.

Wie kann man so ein komplexes Systembeschreiben? Um möglichst einfach vorgehen zukönnen, bleiben wir in der klassischen Physik.Ein System von N Teilchen ist in der klassischenPhysik vollständig beschrieben und im Prinzip inseiner Dynamik für alle Zukunft festgelegt, wennwir von jedem Teilchen den Ort (3 Variable imdreidimensionalen Raum) und die Geschwin-digkeit (bzw. den Impuls, ebenfalls 3 Variable)kennen. Insgesamt sind also 6N Variablen fest-zulegen. Eine mögliche Veranschaulichung fürein Teilchen, das sich nur auf einer (eindimen-sionalen) Schiene bewegen kann, wäre durch einKoordinatensystem gegeben, wo auf der einen

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Achse der Ort, auf der anderen Achse die Ge-schwindigkeit (bzw. der Impuls) aufgetragenwird. Ein Punkt in diesem Koordinatensystementspricht einem Zustand der Welt, die hier nuraus einem einzigen Teilchen besteht. Nehmen wirein zweites Teilchen auf der Achse hinzu, könnenwir zeichnerisch nur eine der beiden weiterenbenötigten Achsen bewältigen (und auch das nurin einer räumlichen Projektion), aber im Prinzipist klar, man müsste einen sogenannten Phasen-raum mit 6N Achsen zeichnen und darin einenPunkt spezifizieren. So ein Punkt legt den Zu-stand der Welt in allen mikroskopischen Detailsfest, man spricht vom Mikrozustand.

Alternativ könnten wir einen Raum mit 6Achsen zeichnen (3 für den Ort, 3 für denImpuls) und für jedes Teilchen einen Punkt indiesem Raum entsprechend seines Ortes undseines Impulses markieren. Insgesamt wären alsoN Punkte einzutragen. Beschränkten wir uns aufdie Ortsachsen, erhielten wir ein Bild von derräumlichen Verteilung der N Teilchen. Die Dy-namik eines physikalischen Systems drückt sichin der ersten Repräsentation in einer Wanderungdes einen Punktes (des Mikrozustandes) im Pha-senraum aus, in der zweiten durch die Schwarm-bewegung aller N Punkte. In diesem Zusam-menhang führt die Physik das Konzept derWahrscheinlichkeitsdichte ein: Im Beispiel vielerTeilchen, die sich nur auf der x-Achse bewegenkönnen, würde man Ort und Impuls jedes ein-zelnen Teilchens ins selbe Bild eintragen, dasdabei zweidimensional bleibt. Wie bei einer Viel-zahl einzelner Regentropfen auf der Straße wirdaus einer Punktewolke ein Kontinuum, und mangibt nicht mehr die Position jedes einzelnenPunkts im Diagramm an, sondern nur die lokaleHäufigkeit (Dichte) der Punkte. Man nennt die-se Dichte auch Wahrscheinlichkeitsdichte. Einevollständige Kenntnis dieser Wahrscheinlich-

keitsdichte und ihrer Dynamik entspricht einervollständigen Weltkenntnis.

Wenn wir nun ein Glas Wasser betrachten(etwa 1023 Teilchen, eine 1 mit 23 Nullen), istoffensichtlich, dass wir die Werte aller Variablenweder wissen können noch wollen. Die offen-sichtliche praktische Unmöglichkeit ist klar:Würden wir etwa die Positionen der Wasser-moleküle auf 1 Angström (das ist in etwa dieGröße eines Atoms, 10–10 m: 10 MilliardenAtome aneinandergelegt ergeben einen Meter)festlegen, so müssten wir (bei einer Darstellungim üblichen Computerformat von 8 Byte proZahl) 2,4 mal 1024 Bytes abspeichern. Das ent-spricht etwa 1015 DVDs, etwa 1 Million DVDspro Erdbewohner. Selbst bei weiteren unerhörtentechnologischen Revolutionen, die diese Spei-chermenge erlaubten, wäre nichts wirklich ge-wonnen: Die Chaostheorie hat uns gelehrt, dassbereits kleinste Ungenauigkeiten in unseremWissen über den augenblicklichen Zustand desWassers im Glas Voraussagen auch über dienähere Zukunft bereits unmöglich machen.Selbst atomare Auflösung der Molekülpositio-nen ist bei weitem zu ungenau; wir laufen alsoeiner Chimäre hinterher. Es ist aber auch garnicht notwendig, dies zu tun: Offensichtlich istdas Glas Wasser durch das Volumen V desWassers, seine Temperatur T, die MolekülzahlN (bzw. seine Masse) für alle Alltagszwecke undübrigens auch aus Sicht der Physik (sofern wiruns auf die sogenannten Gleichgewichtseigen-schaften beschränken) hinreichend beschrieben.Ein so beschriebenes physikalisches System be-findet sich in einem sogenannten Makrozustand.

Makro- und Mikrozustände

Machen wir uns nun diese makroskopischeSichtweise, die die feinen Details ignoriert, zu

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eigen, so ist offensichtlich, dass es viele Möglich-keiten gibt, einzelne Moleküle umzuordnen, mitanderen Impulsen zu versehen, ohne dass sich anden eben eingeführten makroskopischen Eigen-schaften irgendetwas ändert. Dennoch entsprichtjede dieser neuen Möglichkeiten oder Teilchen-konfigurationen einem anderen Mikrozustand:Der Punkt im Phasenraum wird seine Positiongeändert haben. Etwas salopp ausgedrückt,schauen aus makroskopischer Sicht viele mikro-skopische Zustände »gleich« aus: In der Spracheder Physik sagt man, dass es zu einem Makrozu-stand eine (wie wir sehen werden, gigantische)Zahl makroskopisch ununterscheidbarer kom-patibler Mikrozustände gibt. Für unsere Über-legungen zur Richtung des Zeitpfeils ist aber nunentscheidend, dass die jeweilige Zahl kompa-tibler Mikrozustände für verschiedene Makro-zustände der Welt unter Umständen extremunterschiedlich ist. Um eine Ahnung von derBedeutung des Wortes »extrem« zu bekommen,betrachten wir ein Gas aus N Teilchen (es seienwieder 1023 Teilchen), das in einen Behälter mitVolumen V eingeschlossen ist. Mikrozuständezeichnen sich durch eine vollständige Angabealler Orte und Impulse aus; ignorieren wir imFolgenden die Impulse zur Gänze. Greifen wiruns ein Gasteilchen heraus: Wie viele verschie-dene Mikrozustände kann dieses Teilchen an-nehmen? Hier treffen wir en passant auf einesder großen Wunder der Physik: Die Zahl derMikrozustände wird hier offensichtlich die Zahlder verschiedenen Positionen im Raum sein, diefür das Teilchen denkbar sind. Doch was heißtverschieden? Wenn sie um einen Moleküldurch-messer differieren? Um ein Zehntel? Oder darfman etwas gröber herangehen? Diese Frage ista priori nicht beantwortbar, aber offensichtlichmüssen wir einen solchen Minimalabstand, bzw.in drei Dimensionen verallgemeinert, ein Mini-

malvolumen V0 einführen: Die Zahl der Mikro-zustände beträgt dann V/V0 für dieses eine Teil-chen. Dass man ein solches Volumen einführenmuss, folgt auch aus sogenannten Dimensions-gründen: Während V die Dimension »Volumen«(d. h. m3) hat, ist die Zahl der Mikrozuständedimensionslos, d. h. ohne Maßeinheit. Diese In-konsistenz kann nur durch die Einführung einerweiteren volumenartigen Größe beseitigt wer-den. Das große Wunder besteht nun darin, dassdiese sehr einfache Überlegung der statistischenPhysik die Einführung eines solchen Minimal-volumens erzwingt, obwohl aus Sicht der klassi-schen Physik eigentlich Orte wie auch jede an-dere Messgröße Teil eines Kontinuums bilden:Die geringste Veränderung des Ortes führt zueinem anderen, im Prinzip unterscheidbaren,Ort. Hier wird offensichtlich eine grundlegen-dere Theorie als die klassische Physik antizipiert.In der Tat: Die viel später aufgestellte Quanten-mechanik zeigt ganz geradlinig, dass es (auf-grund der Heisenbergschen Unschärferelation)ein wohldefiniertes Minimalvolumen gibt – derKorrektheit halber sei hinzugefügt, dass diesesMinimal»volumen« in Wirklichkeit ein Produktaus Volumina im Orts- und Impulsraum ist; wirwollen das einfach ignorieren. Betrachten wirnun das gleiche Gas in einem Behälter doppeltenVolumens 2V. Dann gibt es für das einzelneTeilchen offenbar 2V/V0 Mikrozustände, alsozweimal so viele wie vorher – und beruhigender-weise fällt bei diesem Vergleich das mysteriöseMinimalvolumen (bei dem wir offensichtlichetwas geschummelt haben) wieder aus der Rech-nung heraus. Da aber nun 1023 Teilchen im Gassind, gilt unter der Annahme, dass die Teilchenvoneinander (fast) nichts merken, dass dieseVerdoppelung der Zahl der Mikrozustände fürjedes Teilchen unabhängig gilt. Zwei Teilchenhaben also bereits viermal so viele Mikrozu-

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stände im doppelten Volumen, drei Teilchenachtmal so viele, sechzehn Teilchen 65536malso viele, und bei 1023 Teilchen sind es21000000000000000000000000000000000000000000… soviele, wobei 1023 Nullen anzuhängen sind. Ins-gesamt handelt es sich um eine etwa 1023-stelligeZahl, die den relativen Anwachs der Zahl dermöglichen Mikrozustände bei einer Verdoppe-lung des Volumen angibt und uns eine Vorstel-lung von »extrem« gibt. Es sei noch angefügt,dass man aufgrund der gigantischen Zahlen vonmöglichen Mikrozuständen in der Physik liebermit dem Logarithmus dieser Zahlen rechnet: DerLogarithmus der Zahl der Mikrozustände istaber nichts anderes als die Entropie des betrach-teten physikalischen Systems.

Diese Beobachtung führt jetzt unmittelbarzur Existenz eines Zeitpfeils. Symbolisieren wirden Phasenraum einfach durch ein Blatt Papierund stellen wir durch zwei unterschiedlich großeMengen die Mikrozustände dar, die zu zwei ver-schiedenen Makrozuständen kompatibel sind.Nehmen wir nun an, zum Zeitpunkt 0 sei dieWelt in einem Mikrozustand, der zu einem Mak-rozustand geringen Volumens gehört, etwa un-serem Makrozustand »Volumen V«. Der Mikro-zustand wird sich zeitlich durch die Dynamik derWelt ändern und dabei viele verschiedene Mikro-zustände durchlaufen. Nehmen wir einmal an,dass a priori langfristig alle Mikrozustände mitgleicher Wahrscheinlichkeit angelaufen werden.Dies ist die sogenannte Ergodenhypothese, dieman aber sehr plausibel machen kann; sie be-rücksichtigt, dass die Physik uns kein Kriteriumgibt, das uns nahe legen würde, bestimmte Mik-rozustände zu privilegieren, und wir daher kei-nen Anlass haben, dies selbst zu tun (das Prinzipdes minimalen Vorurteils). Unter dieser Hypo-these wird das System zu einem beliebigen späte-ren Zeitpunkt besonders wahrscheinlich in ei-

nem Mikrozustand sein, der zu einem Mak-rozustand mit vielen Mikrozuständen gehört,weil diese Wahrscheinlichkeit dann proportionalzur Zahl der kompatiblen Mikrozustände seinmuss. Wie wir eben gesehen haben, ist das Ver-hältnis der Zahl der Mikrozustände aufgrundder großen Zahl der Teilchen extrem. Denkenwir an ein Gas in einem Behälter des Volumens2V, wobei das Gas durch eine Trennwand zu-nächst auf ein Teilvolumen V eingesperrt sei.Was passiert, wenn wir diese Trennwand ent-fernen? Aus jeder empirischen Beobachtung istbekannt, dass sich das Gas auf das volle Volu-men ausdehnt und sich dann nicht wieder aufdas Ausgangsvolumen zusammenzieht. In un-serer Betrachtung ist der expandierte Zustand1000000000000….. (man füge 1023 Nullen hin-zu) mal wahrscheinlicher als der Ausgangszu-stand. Es ist also überwältigend wahrscheinli-cher, dass sich das Gas im expandierten Zustandbefindet als im Ausgangszustand. Bei einemderartigen Missverhältnis der Wahrscheinlich-keiten wird aus einem statistischen »überwäl-tigend wahrscheinlicher« ein deterministisches»sicher«, die Expansion ist irreversibel, eineZeitrichtung entsteht, und die Entropie nimmtin der Richtung des Zeitpfeils zu – besser gesagt:Der Zeitpfeil ist durch die Zunahme der Entropiegegeben. In dieser Betrachtung haben wir denZeitpfeil als keine fundamentale physikalischeEntität, sondern als eine emergente, in komple-xen Vielteilchensystemen wie unserem Univer-sum immanente Eigenschaft identifiziert.

Einwände gegen den statistischen Zeitpfeil

Gegen die statistische Begründung des Zeit-pfeils sind mehrere Einwände bereits Ende des19. Jahrhunderts erhoben worden. Hier seien diebeiden Haupteinwände aufgeführt, der Wieder-

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kehreinwand von Zermelo sowie der Umkehr-einwand von Loschmidt. Der Wiederkehrein-wand von Zermelo betrifft die Feststellung, dassman zeigen kann, dass in einem abgeschlossenenphysikalischen System (und als solches wollenwir das Universum einmal auffassen) jede Kon-figuration des Systems mit Wahrscheinlichkeiteins, also sicher, nach einer endlichen Zeit durchdie Dynamik des Systems wieder auftauchenwird. Dieser Einwand ist zwar prinzipiell kor-rekt, doch kann man abschätzen, dass schon einpaar hundert Teilchen ausreichen, um den Zeit-punkt dieser Wiederkehr, die sogenannte Poin-caré-Zeit, das Alter des Universums weit über-steigen zu lassen. Da diese Zeitskala mit derTeilchenzahl exponentiell rasch zunimmt, ist die-ser Zeitpunkt im realen Universum mit etwa1083 Teilchen in die unendlich ferne Zukunftgerückt.

Pragmatisch problematischer ist der Lo-schmidtsche Umkehreinwand. Er besagt ganzeinfach, dass jenseits der Argumentation überWahrscheinlichkeiten für Makrozustände dieWelt genau einen Pfad von einem Mikrozustandjetzt zu einem anderen Mikrozustand späternimmt, der aufgrund der Umkehrbarkeit derphysikalischen Grundgesetze genauso wahr-scheinlich ist wie der Umkehrpfad. Wieso solltees also aus den oben beschriebenen Gründen eineZeitrichtung geben? Den Loschmidtschen Um-kehreinwand kann man auch anders formulie-ren, indem man feststellt, dass das Maß anInformation, die in einem Zustand der Welt ent-halten ist, im Laufe der Zeit weder zu- nochabnimmt. Zur Illustration betrachten wir wiederunser Glas Wasser, in das wir einen TropfenTinte hineingeben. Die vollständige Informationüber den Verbleib des Tropfens Tinte ist be-kannt, wenn wir die Position und den Impulsaller Tintenpartikel im Wasser angeben. Die

Zahl der Partikel nimmt weder zu noch ab,die Informationsmenge ist daher konstant. Wotaucht eine Zeitrichtung auf? Dieser Einwandgewinnt noch an Interesse, wenn man hinzu-nimmt, dass – ganz kurz gefasst – aus Sicht derPhysik Entropie und Information nur die zweiSeiten ein- und derselben Medaille zu sein schei-nen – wo bleibt der zweite Hauptsatz von derZunahme der Entropie in der Welt? Auf jedenFall haben wir die Intuition, dass es leichter ist,die Information über den Tropfen Tinte zumin-dest in groben Zügen zu spezifizieren, d. h. denTintentropfen zu beschreiben, solange der Trop-fen noch Tropfenform hat (unmittelbar nachdem Zugeben), als wenn man die Tinte verrührthat und sich zahllose Tintenschlieren durch dasGlas ziehen. Physikalisch kann man diese Intui-tion auf sichere mathematische Beine stellen,indem man ein sogenanntes coarse grainingdurchführt, eine Vergröberung der vorliegendenInformation. Dies ist eine Technik, die wir Men-schen im Alltag ständig anwenden: Wir fassenetwa die Information eines Computerbild-schirms nicht als Menge einzelner farbiger Pixelauf, sondern extrahieren Grobinformationen,die wir als Muster bezeichnen – z. B. Buchstabenoder Icons. Genau hier liegt eine wesentlicheVerarbeitungsleistung des Gehirns, die zum Bei-spiel Autisten nur in eingeschränktem Maßeleisten. Im Beispiel der Tinte vergröbern wir,indem wir nicht so genau hinschauen, also unserGesamtvolumen in eine Vielzahl kleiner Volumi-na aufteilen und nur die mittlere Zahl und denmittleren Impuls von Tintenpartikeln in diesenkleinen Volumina betrachten. Dabei werden die-se kleinen Volumina immer größer gewählt, dieInformation also immer mehr vergröbert. DieInformationsmenge nimmt dabei drastisch ab,aber der Unterschied zwischen Tropfen und ver-rührter Tinte ist robust: Ein Tropfen bleibt ein

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Tropfen, d. h. ab einer gewissen Vergröberungwird nur ein einziges Teilvolumen gefüllt sein,während sich die vermischte Tinte auf allenSkalen als vermischt, d. h. in allen Teilvoluminaanwesend, präsentiert. Unser Weltwissen ist im-mer das Resultat einer solchen Vergröberung,wobei die vorhin angegebene Beschreibung desGlases Wasser allein durch Volumen, Molekül-zahl und Temperatur bereits die extremste nochphysikalisch relevante Vergröberung darstellt.Entscheidend ist für uns jetzt die folgende Über-legung: Auf mikroskopischer Ebene mit voll-ständiger Information gilt Zeitumkehr – könntees sein, dass die menschliche Operation mitunvollständiger Information die Zeitrichtung ge-neriert? Dieser Ansatz ist nicht rein subjektiv,denn was relevante Information ist, ist kein Zu-fall, sondern typischerweise persistente Informa-tion, die sich nur langsam ändert: Während sichetwa die Position der Wassermoleküle in einerSekunde millionenfach geändert hat, ändert sichzum Beispiel die Temperatur des Wassers auf derSkala von Minuten. Die Physik lehrt uns, dassderartige relevante Information im Verhältniszur Gesamtinformation nur einen infinitesimalenBruchteil, viel weniger als die Spitze eines Eis-bergs, ausmacht. Könnte uns dieser Aspekt hel-fen, auch etwas über die Historizität der Zeitauszusagen – die Gesetze der Physik sind jazunächst markovsch, d. h. gedächtnislos?

Relevantes und irrelevantes Weltwissen

In diesem Zusammenhang erweist es sich alspraktisch, nicht die Darstellung physikalischerSysteme im Phasenraum, sondern die alternativeDarstellung im sechsdimensionalen Raum derWahrscheinlichkeitsdichte zu wählen, weil essehr viel schwieriger ist, am einzelnen Punkt imPhasenraum das Konzept der Vergröberung fest-

zumachen. Bereits seit dem neunzehnten Jahr-hundert ist bekannt, dass die zeitliche Änderungder vollständigen Wahrscheinlichkeitsdichte dersogenannten Liouville-Gleichung genügt. DieseGleichung ist wiederum im direkten Anschlussan die zugrunde liegenden Gleichungen mar-kovsch und ahistorisch: Es kommt für Ände-rungen nur auf das Hier und Jetzt an.

Versuchen wir nun eine einfache Vergröbe-rung der Weltbeschreibung durch die Wahr-scheinlichkeitsdichte, indem wir sie in einenrelevanten und einen irrelevanten Anteil aufspal-ten. Der relevante Anteil könnte etwa die mitt-lere Teilchendichte pro Kubikzentimeter sein, derirrelevante Anteil die Abweichungen von diesermittleren Dichte auf allen kleineren Längenska-len. Diese letztlich willkürliche Zerlegung kön-nen wir zu jedem Zeitpunkt vornehmen. In einergewagten Analogie könnten wir an eine Zerle-gung der neuronalen Zustände unseres Gehirnsin diejenigen denken, die uns bewusst sind – eineverschwindende Minderheit – sowie diejenigen,die unbewusst bleiben. Wie im Gehirn, so hängtauch in der Welt die Dynamik der relevanten,uns zugänglichen Information von beiden Infor-mationsformen ab, der relevanten genauso wieder irrelevanten, was die Willkür der Zerlegungakzeptabel macht. Um starten zu können, müs-sen wir zunächst die vorhandene Anfangsinfor-mation klassifizieren. Wenn wir im Ursprung desUniversums starten und dabei an den Urknalldenken, so wissen wir, dass die Welt zum Zeit-punkt 0 in einem hochsingulären Zustand war,der zunächst keine irrelevante Information ent-hielt. Wir starten also mit ausschließlich relevan-ter Information. Berechnet man nun die Dyna-mik der relevanten Information, so erhält manzwei Beiträge, die man leicht interpretieren kann:

Den ersten Beitrag leistet die momentanerelevante Weltinformation. Ihr Einfluss auf die

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zukünftige relevante Weltinformation ist sowohlzeitumkehrinvariant wie auch markovsch. In derAnalogie zum Gehirn entspräche er einer Ände-rung des bewussten Anteils unseres Gehirns auf-grund seines eigenen augenblicklichen Zustands.

Spannender ist der zweite nicht-markovscheBeitrag: Zur relevanten Weltinformation trägtauch in nichttrivialer Weise die relevante Welt-information zu allen früheren Zeitpunkten bei.Hier taucht die Historizität der Zeit auf demNiveau der relevanten Weltinformation auf; dader erste Beitrag zeitumkehrinvariant ist, hat derzweite Beitrag auch die Nichtumkehrbarkeit desZeitpfeils zur Folge. Zu jedem Zeitpunkt in derVergangenheit wird relevante Information einerzeitlichen Dynamik unterworfen und dabei zumTeil in irrelevante Information umgewandelt –vergleichbar dem sich auflösenden Tintentrop-fen. Diese irrelevante Information trägt aberspäter wieder zur Dynamik der relevanten Infor-mation bei.

Es kommt also zunächst zu einer Drift vonrelevanter Information zu irrelevanter Informa-tion. Dabei hat die unendlich viel größere Kapa-zität der irrelevanten Information zur Folge, dasses sich hier de facto um eine Einbahnstraßehandelt, auch wenn irrelevante Information wie-der in relevante Information zurückverwandeltwird. Aufgrund der sehr geringen Informations-kapazität der relevanten Information handelt essich dabei nur um Zufallstreffer: Um der allge-meinen Drift der Information ins Irrelevante zuentgegnen, muss es geradezu zu einer Verschwö-rung unter den irrelevanten Informationen kom-men, um gezielt zur Relevanz zurück zu gelan-gen. Im Bild des Tintentropfens: Egal, wie wirrühren, wir werden ihn im Wasser auflösen(wobei dieser Zustand auf mikroskopischer Ebe-ne jeweils anders aussehen wird). Umgekehrtgibt es sicher auch einen Weg des Umrührens,

der den Tropfen wiederherstellt, aber es ist nurein einziger für die vorgefundene Mischung. Ihnvollständig zu gehen, ist beliebig unwahrschein-lich. Die verbleibende teilweise Rückdrift insRelevante ist letztlich, was der Welt Gedächtnisund Historizität gibt, wobei wir bei unserenDokumenten diese Drift letztlich gezielt steuern.

Die Vorstellung einer gerichteten Zeit folgtalso auch dann aus ungerichteten Naturgesetzen,wenn wir nicht nur – wie in der Diskussion überdie Expansion eines Gases – Anfangs- und End-zustände unmittelbar vergleichen, sondern auchwenn wir die dabei ignorierte Dynamik, die denAusgangszustand sich in den Endzustand ver-wandeln lässt, berücksichtigen, auch wenn dieseDiskussion hier nur sehr oberflächlich ausfallenkonnte. Schlüssel war dabei, dass unser Welt-wissen immer nur einen minimalen Bruchteil desGesamtweltwissen darstellen wird, nur die mak-roskopische Spitze des Eisbergs. Diese gibt es,weil Erhaltungssätze und Symmetrien der Natureinzelne Freiheitsgrade gegenüber anderen lang-lebig und damit makroskopisch relevant, alsoauch für unser Überleben wichtig machen. DieRichtung des Zeitpfeils ist dann ein statistischerEffekt makroskopischer Natur. Umgekehrt gilt,dass sich die Richtung der Zeit umso stärkerauflöst, je mehr unser Weltwissen dem vollstän-digen Wissen über die Welt entspricht. In Beispieldes Films von der Bewegung einzelner Gasmole-küle kann man in der Tat die Richtung der Zeitnicht mehr feststellen: weil man »alles« weiß.

Was das Wesen der Zeit selbst ist? Wer weißes! Eine verlockende Überlegung wäre es, nichtnur dem Zeitpfeil, sondern auch der Zeit an sichsolchen statistisch emergenten Charakter zuzu-schreiben, die empirische Kohärenz einfacherperiodischer Vorgänge im Universum auf statis-tische, rein zufällige Prozesse auf subatomarerSkala mit einer Nettodrift zurückzuführen, bei

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Warum hat Zeit eine Richtung?

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der dann – wie bei der statistischen Erklärungdes Zeitpfeils – das Gesetz der großen Zahlenaus Wahrscheinlichkeit Sicherheit macht. Viel-leicht hätte dann doch Albert Einstein Rechtgehabt: »Für uns gläubige Physiker hat die Un-

terscheidung zwischen Vergangenheit, Gegen-wart und Zukunft nur die Bedeutung einer wennauch hartnäckigen Illusion.«

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