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suhrkamp taschenbuch 3991 Rehe am Meer Erzählungen Bearbeitet von Ralf Rothmann 1. Auflage 2008. Taschenbuch. 212 S. Paperback ISBN 978 3 518 45991 1 Format (B x L): 10,9 x 17,8 cm Gewicht: 146 g schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.

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suhrkamp taschenbuch 3991

Rehe am Meer

Erzählungen

Bearbeitet vonRalf Rothmann

1. Auflage 2008. Taschenbuch. 212 S. PaperbackISBN 978 3 518 45991 1

Format (B x L): 10,9 x 17,8 cmGewicht: 146 g

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft.Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programmdurch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr

als 8 Millionen Produkte.

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Leseprobe

Rothmann, Ralf

Rehe am Meer

Erzählungen

© Suhrkamp Verlag

suhrkamp taschenbuch 3991

978-3-518-45991-1

Suhrkamp Verlag

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Liebesgeschichten? Gibt es denn andere, fragt der Autor und bannt uns einmal mehr mit einer Sprache, die realistisch und metaphysisch zugleich ist. Und ob er nun von den Nöten einer Zwölfjährigen schreibt, die sich nach dem Tod der Mut-ter verantwortlich fühlt für die Familie, ob er einen Polter-abend mit ostdeutschen Bauarbeitern schildert oder von ei-ner Krankenschwester in der Uckermark erzählt, die ihr Haus westdeutschen Feriengästen überläßt, während sie mit ihrem Sohn im Garten kampiert, ob er uns einen arbeitslosen Alko-holiker vorstellt, der seiner Frau auf die Schliche kommt, oder einen Zirkushelfer, der die Mißhandlung der Tiere nicht mehr erträgt – immer ist die Liebe das Wasserzeichen dieser Geschichten.Ralf Rothmann, geboren 1953 in Schleswig, aufgewachsen im Ruhrgebiet, lebt seit 1976 in Berlin. Zuletzt erschienen die Romane Junges Licht (st 3754) und Hitze (st 3675) sowie der Erzählungsband Ein Winter unter Hirschen (st 3524).

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Ralf RothmannRehe am Meer

Erzählungen

Suhrkamp

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suhrkamp taschenbuch 3991Erste Auflage 2008

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2006 Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere dasder Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowieder Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,

auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Umschlag: Göllner, Michels, ZegarzewskiPrinted in Germany

ISBN 978-3-518-45991-1

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Inhalt

Nasse Spatzen 9

In tiefster Trauer 28

Stolz des Ostens 40

Die Schatten der Seele 64

Mein zweibeiniger B�cker 80

Gethsemane 101

Rehe am Meer 114

Willst du Nudeln? 128

Spitze Schuhe 147

Den Blitz begraben 161

Tausend Mçnche 183

Der ganze Weg 201

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God knows how I adore lifeWhen the wind turns on the shore lies another day

I cannot ask for more

Beth Gibbons

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Nasse Spatzen

Es lohnte sich nicht, so kurz vor Feierabend zumAltenzu gehen. Dem fiel immer noch was ein, auch am Wo-chenende. Also blieb ich, wo ich war, rauchte eine Ak-tive und sah �ber die D�cher zum See. Daß die Vçgelsich bei dem Wetter nicht die Fl�gel brachen, konnteeinen schon wundern. Sie hatten Nester im Rohbaugegen�ber, und das Echo ihrer Schreie hallte durchdie unverputzten R�ume, wenn sie in die Treppenh�u-ser flogen – so schnell, daß die Zimmerleute zwischenihren Balken erschraken. Einer schmiß eine HandvollN�gel nach ihnen.Mir wurde warm, doch die Fenster mußten geschlos-sen bleiben; Wand- und Fußbodenheizung liefen aufProbe, und manchmal kam ein Installateur aus demKeller und notierte sich die Zahlen auf den Thermo-metern. Ein netter Kerl, Motorradfahrer, und als ichdie letzte Kachelecke ausspritzte, zeigte er grinsendauf das Schild neben der Einfahrt. Die Farben warenverblichen, und es wackelte im Sturm, doch die »Wohn-anlage M�ggelsee« mit dem Gr�n auf den Balkonenundder winkenden Familie vor der T�r sah immer nochbesser aus als das Original.»N�chsteWoche bezugsfertig – ist doch ’nWitz, oder?Da hat sich euer Alter ganz schçn �bernommen.«

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Ich ließ die Spritze sinken; ein Faden Silikon hing ander T�lle und bewegte sich in der warmen Luft, dievomBoden aufstieg. Nat�rlich hatte er recht, aber war-um sollte ich das zugeben. »Nee, nee,meinGutster,wirwaren genau im Plan. F�r uns hat der Sommer gemau-ert«, sagte ich. »Die Subunternehmer, diese Kroaten –die haben uns h�ngenlassen. Immer nur blau. Wenndu solche Leute hast, kannst du alles richtig machen,und doch ist es falsch. In’n Wind schießen w�rd ichdie!«Er sch�ttelte nur den Kopf, rieb einen Daumen anden Fingerspitzen und verschwand wieder im Keller.Es war kurz nach sechs, ich brachte die Patronen insMagazin, schloß ab und ging �ber den Platz zur Bude.Ein Jaguar und ein Mercedes mit Hamburger Kenn-zeichen parkten davor, neben Juhres altem Skoda; seinKartentisch war voller Akten, und er stand an der Pinn-wand und erkl�rte den Typen etwas auf dem Plan. Einguter Chef, er schrie fast nie, jedenfalls nicht mit uns,und faßte immer noch selbst mit an. So eine zerfransteJacke trug kein Eisenwichser, die Hose hatte einen Riß,durch den man die Unterhose sah, und w�re nicht derweiße Helm gewesen, h�tte ihn keiner f�r den Baulei-ter gehalten.Die Hamburger, wie immer schnieke, drehten sich um.Ihre Schuhe gl�nzten wie die Autos, und ich kratztemich unter meinem Tirolerhut, nahm ihn aber nichtab. Wer bin ich denn. »Also, Juhre, der verdammteWestfl�gel ist fertig; die Mieter kçnnen kommen.Ich mach jetzt Schicht. Bis nachher dann.«

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Seit der Scheidung trug er so ein Stoffarmband,das ihmseine Tochter geschenkt hatte; doch wenn Offiziellekamen, nahm er es ab. Es hing am Fenstergriff, under schrieb etwas auf den Plan. »Ist gut, Manni, vielenDank. Und schçnes Wochenende.« Dann hob er denKopf. Blaß war er geworden in letzter Zeit, magererauch, und seine Augen lagen in dunklen Hçfen. »Wiesobis nachher?«Da mußte ich doch grinsen. Wenn es um Sachen ging,die außerhalb der Baustelle lagen, konntest du nichtsmit ihm anfangen. Auf dem Ger�st oder am Schreib-tisch war er glockenklar in der Birne; doch schicktestdu ihn W�rstchen kaufen, brachte er garantiert Rosi-nenbrot. »Na, hçr mal«, sagte ich. »Du hast doch demSobotzki sein’n Polterabend nicht vergessen?!«Das war ihm jetzt wohl peinlich; er kratzte sich dasKinn. Einer der Bauherren tippte was in seinen Rech-ner, der andere schaute auf die Uhr, so ein Protzding,das aussah wie drei, und Juhre murmelte: »Ach das . . .Na ja, werd sehen. Vielleicht komm ich auf ’ne Stunderum.«»Das mach mal! Ist schließlich dein alter Kolonnen-f�hrer. Der freut sich ’n zweites Loch in’n Arsch.«Das hatte ich nat�rlich extra so gesagt – wie das mitden Mietern, die kommen kçnnen.War ja alles Eigen-tum. Ich mochte die Hamburger eben nicht; besondersden Grauen mit der Perle im Schlips, den hatte ich ge-fressen. Der wollte mal den Vierkçtter von der Bau-stelle jagen. Es ging um irgendwelche Risse, eine feh-lende Dehnungsfuge, und der Jupp, ganz Sachse, gabihmZunder; die stand n�mlich nicht im Plan. Da sagte

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der Lackierte doch glatt: »Wir sind in Berlin, meinHerr. Sie kçnnen deutsch mit mir reden.«Ich dr�ckte die Blecht�r zu, stopfte mir den Hut in dieTasche und stieg aufs Rad. Der Gegenwind war stark,Hemd und Hosenbeine schlotterten, aber zum Gl�ckhatte ich es nicht weit, und w�hrend ich �ber das Pfla-ster fuhr, �berlegte ich, obman jetzt ein Geschenkmit-bringen mußte zu einem Polterabend oder nur altesGeschirr. Auch die Kleiderfrage war unklar. MeinenSonntagszwirn wollte ich nicht anziehen, denn gefeiertwurde draußen, unter so einemZeltdach, undwenn dieerdige Lisa sich an dir rieb, war der Anzug nicht langegut. Sobotzki wohnte in Schçneiche, direkt am Wald,wo wir manchmal Schlingen legten, und Lisa war einzahmes Wildschwein. »Es gibt keinen besseren Wach-hund«, sagte er immer. »Schweine sind gelehriger, alsman denkt. Nur den Garten, den kannst du nat�rlichvergessen.« Deswegen hatte er alles betoniert.Na ja, fast alles. Ich duschte und rasierte mich undzog den alten Blazer an, den mit den silbernen Knçp-fen. Sogar einen Schlipsknoten kriegte ich hin, und da-bei dachte ich an die drei Spatzen auf dem Ast, so einNippesding, das ich nachMutters Tod in die Besenkam-mer gestellt hatte; das ging als Geschenk durch undwar gleichzeitig Porzellan, falls es jemand zerdeppernwollte. Ich wickelte es in ein Handtuch und klemmtees auf den Gep�cktr�ger.Doch als ich losfahren wollte, fiel mir ein, daß ich imFinstern zur�ckkommen w�rde; die Waldwege nachSchçneiche waren unbeleuchtet, und mein Drahteselhatte schon lange keine Lampe mehr. Also nahm ich

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ein St�ck Schnur aus dem Schuppen und band einenHandstrahler an den Lenker. Geht alles. Ich fuhr nochmal an der Baustelle vorbei, und jetzt stand nur nochJuhres Auto vor der Bude. Er gr�belte �ber den Pl�-nen, und wahrscheinlich hatte er sich gerade den Helmabgenommen; die Haare waren noch verformt. Dochals ich pfiff, hob er nicht den Kopf.Der Wind hatte sich gelegt; in den Scheiben gl�nztedie Sonne wie rotes Gold, und wenn man die Klinker-w�nde sah, konnte man schon stolz werden auf seineArbeit. Ich meine, ich bin bloß Handlanger, klar, aberauf den Speiß kommts auch an. Nur ein bißchen unrei-ner Sand, etwas Mischçl zuwenig oder eine SchippeKalk zuviel, und schon kannst du den Akkord ver-gessen, und die Maurer m�ssen sich fragen lassen, obsie mit der Schnapsflasche gelotet haben. Ist doch so.Speiß anmachen bleibt eine Kunst, besonders heutzu-tage, wo alle mit Stecksteinen und Klebern arbeiten,und wenn der Sobotzki »Manni!« ruft, »Manni, machmal!«, dann kriegt er, was er braucht. Erste Sahne.Als ich in Schçneiche ankam,war die Party schon ziem-lich angeheizt, und viele hatten einen Servus, auch B�r-bel, seine neue Frau. Siewar spindeld�rr,mit einer rich-tig durchger�ucherten Stimme, und sie umarmte mich,obwohl wir uns noch nie getroffen hatten. Die Z�hnesahen kaputt aus, grau; aber das lag wohl an den Plom-ben dahinter. »Der G�nther hat mir schon so viel vondir erz�hlt«, sagte sie, was garantiert nicht stimmte;ich kenn den. Siewollte eben freundlich sein. Und dannwendete sie ein paar W�rstchen auf dem Grill.Ich hatteDoris, seine erste Frau, ziemlich gern gemocht;

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sie konnte gut Haare schneiden. Aber B�rbel war be-stimmt auch nicht schlecht. Sobotzki hatte mir erz�hlt,daß sie Portr�ts malte, nach Fotos. Sie trug weiße Jeansmit Schlag und so ein Hippiehemd und hatte sich Ket-ten und Armb�nder aus Eicheln, Hagebutten und Ka-stanien umgeh�ngt. Manche waren goldbemalt, undsie nahm meine Hand und f�hrte mich unter das Zelt-dach, wo jede Menge Kerzen brannten.»Menschenskind!« rief G�nther, der mit ein paar Leu-ten Karten spielte; er trug zwar ein gutes Hemd, aberkurze Hosen, und auch die anderen waren eher l�ssiggekleidet, im Freizeit-Look. »Hat der Alte dich endlichgehen lassen? Ich glaub, ihr habt ’n Liebesverh�ltnis,ihr zwei, oder?« Er knallte ein As zwischen die Gl�ser.»Was bringst’n da?«Sein Bauch war unglaublich, aber er hatte flinke Beineundmauerte die schwersten Ecken, als w�ren sie leicht;er schien die Steine nur mit den Fingerspitzen zu be-r�hren. Doch als er mein Geschenk aus demHandtuchwickelte, brach er einem Vogel die Schwanzfeder ab.Sie war ziemlich d�nn. »Na, macht nichts.« Ich lok-kerte meinen Schlips. »Ist eh zum Poltern gedacht.«»Sehr gut!« sagte er und holte auch schon aus mit demTeil. Er wollte es wohl in die Garage pfeffern, wo einHaufen Scherben lag, nicht nur Porzellan; ich konnteGlas, kaputte Gehwegplatten und Blumentçpfe sehen.Doch er zielte nicht richtig, die Spatzen fielen in denNachbargarten, zersprangen in einem leeren Bassin,und er grinste mich an. »Siehste, alles verkehrt . . . Hei-rate nie!« Dann schlug er seiner B�rbel auf den Hin-tern. »Und du gib dem Kerl was zu trinken, verdammt,

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oder soll der hier festtrocknen? Und nimm dir endlichdas Studentenfutter von der Brust! Sieht ja furchtbaraus!«Sie hob das Kinn. »Seit wann denn das? Gestern hastdu’s noch gemocht!«Er mischte neu; sie warf sich das Zeug �ber die Schul-ter nach hinten. »Kein Kunstverst�ndnis«, murmeltesie und f�hrte mich in den Wintergarten, wo ein lan-ger Tisch stand, ein tolles Buffet, schon ein bißchen ge-pl�ndert. Die halbe Firmawar da, inklusive Sekret�rin,jedeMenge Nachbarn und drei oder vier Leute, die ichnicht kannte. »St�rk dich erst mal, hçrst du. Damit du’ne Grundlage hast. Die Soleier sind super. Und dashier ist Gehacktes vom Hirsch. Ansonsten gibts nochFleisch auf dem Grill.Willst du ’n Bier?«Sie war wirklich nett, und ich packte mir einen Tellervoll und setzte mich an einen Campingtisch im Gar-ten. Die Musik, die aus den Boxen auf den Fensterb�n-ken kam, war nicht gerade mein Fall, deutsches Zeug,doch manche sangen mit. Ein Weißhaariger legte sieauf, der einzige, der außer mir ein Sakko trug, einenAnzug sogar, aber mit Turnschuhen; er stand an einemMischpult undw�nschte mir einen guten Appetit �bersMikrophon. Ich hatte gerade denMund voll und blick-te mich um.Wenige Frauen in meinem Alter, genauge-nommen zwei; aber die tanzten zusammen.Kurz darauf notierte er sich Plattenw�nsche und kamauch zumir. Er hatte interessanteManschettenknçpfe,Ferrari-Wappen. »Gef�llt Ihnen meine Musik?«Ich nickte. »Tadellos. Machen Sie das beruflich?«»Ich? Nein, nein. Ich mach nichts. Bin B�rbels erster

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Mann.Also, ihr dritter, r�ckw�rts gesehen.Wo ist denndiese komische Wildsau jetzt? Vor der muß man sichh�ten, oder?«»Ach was!« Ich zeigte auf das Buffet. Die Papierdeckereichte nicht ganz bis zum Boden, und wenn man ge-nau hinsah, konnte man Lisas Fell erkennen. ZwischenBrotst�cken und Salatbl�ttern schien sie zu schlafen,wahrscheinlich vollgefressen. »Die ist in Ordnung.Nur nicht f�ttern, sonst wird man sie nicht los. Hatmir schon Knçpfe von der Hose geknabbert.«Sp�ter kam Leo an meinen Tisch,G�nthers Bruder. Erwar der �lteste in der Kolonne und hatte schon Proble-me mit dem Kreuz. Hinter seinen Lupengl�sern schie-nen die Augen immer ein bißchen zu wackeln, als l�gensie nicht fest in den Hçhlen, und er trank Kamillen-tee mit Schuß, was bei ihm nichts Besonderes war. Ersp�lte auch seine Herztabletten mit Kaffee runter.Wir knobelten ein paar Runden, und nachdem ich drei-mal hintereinander gewonnen hatte, stand er auf undging davon. Er konnte nicht verlieren. Dann knipstensie die Partylichter an, bunte Ketten, und immer mehrLeute tanzten vor derGarage,meistens Klammerblues.G�nther hatte sich die Tochter von seinem Nachbarngeschnappt, so eine Knackige im Minirock, die garan-tiert keinen BH trug, und er schnitt mir Fratzen hin-ter ihrem R�cken. Aber vielleicht meinte er auch seineFrau; die hatte sich einfach neben mich gesetzt undwischte mir irgendwas vom Schlips.»Ich wette, bei dem tropfts schon«, sagte sie. »Guckmal, wo seine Hand liegt . . .« Dann bot sie mir eineZigarette an, ein d�nnes Ding mit Bl�mchenfilter, und

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gabmir Feuer. Sie hatte so einen Colt. »Na, heute kanner sich noch mal austoben.«Wir tranken einen Kurzen, und beim Anstoßen sah siemir ziemlich tief in die Augen. Danach tanzte sie auch,allein, und ich setzte mich zu Czapla, dem Kranf�hrer.Mit dem war ich in der NVA gewesen, und er wohnteebenfalls in Friedrichshagen, aber in dem Hochhausam Markt. Eigentlich schlimm. Damals, als mein Va-ter und ich anfingen zu bauen, hatte er nur gegrinst.Ich meine, es gab ja nichts, schiefe Bretter und Sauer-kohlplatten; du warst nur amOrganisieren, einen R�u-cheraal gegen zwei Schubkarren Sand, und er sagteimmer: Ihr seid doch blçd. Ich zahl sechzig Mark,mit M�llschlucker; so billig kann keiner bauen. Wasruiniert ihr euch die Nerven. – Und jetzt h�ngt er im-mer noch in der Kiste, wird von den Handy-Antennenverstrahlt und muß mehr als den halben Lohn Mieteberappen.Er trank ziemlich viel f�r einen Kranf�hrer, auch aufArbeit; doch passiert war noch nichts. »Hçr mal zu«,sagte er und machte eine lange Pause. Die Musik warleiser als vorher,die Tanzenden schienen sich �berhauptnichtmehr zu bewegen, standen einfach da in dem bun-ten Licht, und das Wildschwein ging zwischen ihnenherum und beschnupperte den Boden. Komisch, dach-te ich noch, ich hab mir einen Polterabend immer an-ders vorgestellt.»Hat der Alte schon mit dir geredet?«»Wieso?« fragte ich, und wieder starrte er lange vorsich hin. Flugzeuge blinkten im Himmel. Nirgendwoein Stern.

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»Aber mit mir . . .«, sagte Czapla, und nahm sein Pilsaus dem Gras. »Mich verkauft keiner f�r doof. Ichseh jede Ratte in meinem Schwenkbereich. Die See-seite haben wir doch prima hingekriegt, oder? Da kçn-nen Filmstars wohnen. Aber der Termin gilt f�r beideFl�gel, und die ganze Kiste ist eine Nummer zu groß,das hab ich ihm gleich gesagt. Mit den Leihgeb�renf�r Silos und Maschinen f�ngts an, und mit diesenSubunternehmern hçrts auf. Die lassen dich h�ngen,wenn du keine knallharten Vertr�ge machst; die gehenlieber auf Schwarzarbeit. Und dann bist du eben imArsch.« Er hob den Kopf. »Nicht wahr, G�ntherchen?Der Juhre ist kein Mann f�r harte Vertr�ge.«Sobotzki, das Hemd bis zum Nabel offen, zog einenPlastikstuhl an den Tisch. Er hatte den Schmuck sei-ner Zuk�nftigen in der Hand und kratzte sich den be-haarten Bauch. »Wer? Der Juhre? Mit dem bin ich fer-tig. Wenn der sich zu fein ist f�r meinen Polterabend,kann er mich kreuzweise, der Arsch. Wer hat ihm dieFirma denn aufgebaut nach der Wende? Wir, die Ko-lonne Sobotzki, stimmts? Weil es uns gibt, kriegt er dieAuftr�ge. Keiner mauert so sauber. Und jetzt spielt erden dicken Kapitalisten und l�ßt sich nicht blickenbeim Volk.«Dann pfiff er, mehrmals, wie nach einem Hund, undschon kam Lisa angetrabt. Sie war ein schlankes, ziem-lich hochbeinigesWildschwein, immer zum Toben be-reit; der GeruchwarGeschmackssache, undwennmanihr �ber den R�cken strich, hatte man das Gef�hl,eine Schuhb�rste zu streicheln. Aber Menschen tat sieeigentlich nichts. Nur den Dackel des Nachbarn, den

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hatte sie mal so gebissen, daß man ihm eine Pfote ab-nehmen mußte.»Der ist sowieso im Eimer, unser Juhre.Wenn die Ham-burger hart bleiben, muß er Vertragsstrafe zahlen. Dashaben die gleich mit einkalkuliert, die Br�der; die wuß-ten, daß so ein kleiner Ostkrauter die Termine nichthalten wird. Und das ist kein Taschengeld, Leute; dasist die Bausumme! Da kann er nur noch Konkurs an-melden, und wir sehen uns im Arbeitsamt wieder.«Sobotzki warf Lisa die Ketten und Armb�nder hin, undsie beschnupperte sie kurz und grunzte ein bißchen,scharrte im Gras. Die Ohren und das Schw�nzchenzuckten, und dann hçrte man sie auch schon krachenzwischen ihren Z�hnen, die Eicheln, Hagebutten undKastanien, auch die goldenen, und ich blickte michnach B�rbel um.Aber sie war nirgends zu sehen. Wir spielten ein paarRunden Skat, und gegen Mitternacht lernte ich dochnoch eine Frau kennen, eine entfernte Verwandte vonihr, ungef�hr in meinem Alter. Sie hieß Cornelia, kamaus Wismar und arbeitete als Formenschnitzerin f�rMarzipantorten. Wußte gar nicht, daß es so einen Be-ruf �berhaupt gibt. Die nehmen nur Birnenholz. Wirtranken Bowle auf der Veranda, und sie erz�hlte mir,daß man sie letztes Jahr sogar zu einem Wettbewerbnach L�beck eingeladen hatte. »Ach was«, sagte ich.»Ist ja ’n Ding. Herzlichen Gl�ckwunsch!«Sie schlug die Beine �bereinander, zog an ihrem Rock.»Von wegen! Die haben mich gleich wieder disquali-fiziert. Man sollte diese Jury verklagen. Ich hatte eintraumhaftesDing geschnitzt, eineHafenszenemit Schif-

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Page 22: Rehe am Meer - ReadingSample€¦ · 1. Auflage 2008. Taschenbuch. 212 S. Paperback ISBN 978 3 518 45991 1 Format (B x L): 10,9 x 17,8 cm Gewicht: 146 g ... Ein netter Kerl, Motorradfahrer,

fen und Kr�nen und allem Gedçns; sogar ein kleinerAngler saß auf der Mauer. Da war meine ganze Liebedrin. Und wissen Sie, warum die mich gar nicht erstantreten ließen? Weil sie meine Form f�r schadhafthielten. Die dachten, sie h�tte einenHaarriß,diese Idio-ten.« Sie sch�ttelte den Kopf. »Dabei war das dieSchnur von dem Angler!«»Scheiße auch«, murmelte ich, und dann tanzten wirein bißchen, ziemlich eng. Ich mochte zwar ihr Parf�mnicht besonders, zu schw�l, doch sie war schçn grif-fig und so, und ich glaube, sie bef�hlte meine Muckisdurch den Stoff. Sie duzte mich schon nach dem zwei-ten Tanz. Aber dann nahm sie ihre Handtasche vomTisch und verschwand, und als sie nach einer Weilenicht wiederkam, ging ich sie mal suchen. Vielleichth�tte ich sie k�ssen sollen, dachte ich noch; einmalhatte sie mich so angesehen.Das Schwein lief mir nach, schnappte nach meinenSchuhb�ndern, und ich gab ihm einen Tritt, nur leicht;doch das Quieken klang wie ein Fliesenschneider.Mei-ne Schçne saß im Badezimmer, auf dem Wannenrand,und trçstete die heulende B�rbel. �berall lagen zer-kn�llte Papiertaschent�cher, manche hatten schw�rz-liche Flecken, und sie riß gerade ein neues P�ckchenauf und machte mir so ein Zeichen: jetzt nicht . . .Und das wars auch schon. Ein ziemlich lahmes Fest.Der G�nther schlief im Wintergarten, vor laufenderGlotze; er hielt noch die Fernbedienung in der Hand,und als ich wieder auf dem Fahrrad saß, fiel mir auf,daß ich ganz schçn benebelt war von den Schn�psen.Außerdem hatte ich die Lampe nicht richtig festgebun-

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