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Ass. jur. Christine Mertesdorf Sommersemester 2003 wiss. Mitarbeiterin Repetitorium für Verfassungsrecht und Verfassungsprozessrecht Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG) 27.05.2003 Sachverhalt (In Anlehnung an VG Gießen NJW 2003, 1265) Der dreijährige X soll den in seinem Wohnort gelegenen und in Trägerschaft der Gemeinde befindlichen Kindergarten besuchen. Bei einer Informationsveranstaltung, einen Monat vor dem ersten Tag des X im Kindergarten, erhalten seine Eltern E Kenntnis davon, dass es in dem Kindergarten üblich ist einmal am Tag, vor der gemeinsamen Mahlzeit, ein ca. 5-15 Se- kunden dauerndes Tischgebet zu sprechen. Das Beten ist Bestandteil des Erziehungskonzep- tes, welches den Eltern E ausgehändigt wird. Darin heißt es unter dem Punkt „Religiöse Er- ziehung“: „Obwohl wir ein kommunaler Kindergarten sind, grenzen wir unsere Religion nicht aus. Wir sind uns der multikulturellen Vielfalt in unserer Gruppe bewusst und tolerieren anders geartete Religio- nen. Doch ist es meinen Kolleginnen und mir ein wichtiges Unterfangen, die Kinder mit dem christlichen Glauben zu konfrontieren. So feiern wir kirchliche Feste, hören biblische Geschichten und lernen viele Gebete. Wir möchten den Kindern von unserem Glauben erzählen, bieten Religi- on an, stülpen aber niemandem unsere Überzeugung auf. Auch wenn ein Kind atheistisch erzogen wird, so hat es nur die Meinungsfreiheit, wenn es beider Überzeugungen kennt und sich irgend- wann für oder gegen Religion selbst entscheidet. Außerdem ist unsere christliche Religion, egal an welche Konfession gebunden, Teil unserer abendländischen Kultur.“ Auf Nachfrage wird E mitgeteilt, dass die praktizierten Tischgebete allgemein gehalten seien und entsprechend nicht Ausdruck des Bekennens eines bestimmten, konfessionell gebundenen Glaubens im Rahmen der jeweils festgelegten Glaubenslehren, gleichwohl aber ein Akt reli- giösen Bekennens, nämlich der Anrufung Gottes aus christlichem Glauben heraus. Die E beanstandeten daraufhin bei der Kindergartenleitung die Praxis des Betens unter Hin- weis darauf, dass sie Atheisten seien und auch X den Atheismus vermitteln würden. Ihnen wurde erklärt, die Vormittagsgestaltung erfolge dergestalt, dass sich die Kinder bis gegen 10 Uhr in seiner sog. Freispielphase befinden würden. Hieran schließe sich das gemeinsame Frühstück an. Auf das Gebet werde nicht verzichtet und X sei es freigestellt, nicht mit zu be- ten oder während des Gebetes den Raum zu verlassen. Ebenso könne die Freispielphase so organisiert werden, dass sich eine Erzieherin des X annehme und erst dann den Gruppenraum mit ihm betrete, wenn das Tischgebet bereits gesprochen wurde. Eine schriftliche Aufforderung der E an den Bürgermeister, im Kindergarten christliche kulti- sche Handlungen, insbesondere Gebete durch das Kindergartenpersonal mit den Kindern während des Kindergartenbetriebs zu unterbinden, wurde abgelehnt. Nach erfolgloser Erschöpfung des Rechtsweges im Eilverfahren - die Gerichte haben teilwei- se die Eilbedürftigkeit verneint, weil X noch nicht den Kindergarten besucht - möchten die Eltern E, wenige Tage bevor X das erste Mal den Kindergarten besuchen soll, das Bundesver- fassungsgericht anrufen und sich gegen alle ergangenen Entscheidungen wenden. Sie sehen sich durch die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes sowie das Beten im Kindergarten in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Wie wird das BVerfG über ihre Verfassungsbeschwerde entscheiden?

Repetitorium für Verfassungsrecht und Verfassungsprozessrecht · So hat etwa das BVerwG in seiner Osho-Entscheidung (BVerwGE 90, 112 (115)) folgende Formel geprägt: „Unter Religion

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Page 1: Repetitorium für Verfassungsrecht und Verfassungsprozessrecht · So hat etwa das BVerwG in seiner Osho-Entscheidung (BVerwGE 90, 112 (115)) folgende Formel geprägt: „Unter Religion

Ass. jur. Christine Mertesdorf Sommersemester 2003 wiss. Mitarbeiterin

Repetitorium für Verfassungsrecht und Verfassungsprozessrecht

Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG)

27.05.2003

Sachverhalt

(In Anlehnung an VG Gießen NJW 2003, 1265) Der dreijährige X soll den in seinem Wohnort gelegenen und in Trägerschaft der Gemeinde befindlichen Kindergarten besuchen. Bei einer Informationsveranstaltung, einen Monat vor dem ersten Tag des X im Kindergarten, erhalten seine Eltern E Kenntnis davon, dass es in dem Kindergarten üblich ist einmal am Tag, vor der gemeinsamen Mahlzeit, ein ca. 5-15 Se-kunden dauerndes Tischgebet zu sprechen. Das Beten ist Bestandteil des Erziehungskonzep-tes, welches den Eltern E ausgehändigt wird. Darin heißt es unter dem Punkt „Religiöse Er-ziehung“:

„Obwohl wir ein kommunaler Kindergarten sind, grenzen wir unsere Religion nicht aus. Wir sind uns der multikulturellen Vielfalt in unserer Gruppe bewusst und tolerieren anders geartete Religio-nen. Doch ist es meinen Kolleginnen und mir ein wichtiges Unterfangen, die Kinder mit dem christlichen Glauben zu konfrontieren. So feiern wir kirchliche Feste, hören biblische Geschichten und lernen viele Gebete. Wir möchten den Kindern von unserem Glauben erzählen, bieten Religi-on an, stülpen aber niemandem unsere Überzeugung auf. Auch wenn ein Kind atheistisch erzogen wird, so hat es nur die Meinungsfreiheit, wenn es beider Überzeugungen kennt und sich irgend-wann für oder gegen Religion selbst entscheidet. Außerdem ist unsere christliche Religion, egal an welche Konfession gebunden, Teil unserer abendländischen Kultur.“

Auf Nachfrage wird E mitgeteilt, dass die praktizierten Tischgebete allgemein gehalten seien und entsprechend nicht Ausdruck des Bekennens eines bestimmten, konfessionell gebundenen Glaubens im Rahmen der jeweils festgelegten Glaubenslehren, gleichwohl aber ein Akt reli-giösen Bekennens, nämlich der Anrufung Gottes aus christlichem Glauben heraus. Die E beanstandeten daraufhin bei der Kindergartenleitung die Praxis des Betens unter Hin-weis darauf, dass sie Atheisten seien und auch X den Atheismus vermitteln würden. Ihnen wurde erklärt, die Vormittagsgestaltung erfolge dergestalt, dass sich die Kinder bis gegen 10 Uhr in seiner sog. Freispielphase befinden würden. Hieran schließe sich das gemeinsame Frühstück an. Auf das Gebet werde nicht verzichtet und X sei es freigestellt, nicht mit zu be-ten oder während des Gebetes den Raum zu verlassen. Ebenso könne die Freispielphase so organisiert werden, dass sich eine Erzieherin des X annehme und erst dann den Gruppenraum mit ihm betrete, wenn das Tischgebet bereits gesprochen wurde. Eine schriftliche Aufforderung der E an den Bürgermeister, im Kindergarten christliche kulti-sche Handlungen, insbesondere Gebete durch das Kindergartenpersonal mit den Kindern während des Kindergartenbetriebs zu unterbinden, wurde abgelehnt. Nach erfolgloser Erschöpfung des Rechtsweges im Eilverfahren - die Gerichte haben teilwei-se die Eilbedürftigkeit verneint, weil X noch nicht den Kindergarten besucht - möchten die Eltern E, wenige Tage bevor X das erste Mal den Kindergarten besuchen soll, das Bundesver-fassungsgericht anrufen und sich gegen alle ergangenen Entscheidungen wenden. Sie sehen sich durch die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes sowie das Beten im Kindergarten in ihren Grundrechten beeinträchtigt. Wie wird das BVerfG über ihre Verfassungsbeschwerde entscheiden?

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Ass. jur. Christine Mertesdorf Sommersemester 2003 wiss. Mitarbeiterin

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Repetitorium für Verfassungsrecht und Verfassungsprozessrecht

Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 4 GG)

27.05.2003

Lösungshinweise

Bitte beachten Sie: Die nachstehenden Lösungshinweise fassen die wichtigsten Probleme - ohne Anspruch auf Vollständigkeit - zusammen. Sie beinhalten jedoch in keiner Weise ein klausurmäßiges Aufbauschema und geben nur Beispiele, wie in einer Examensklausur argumentiert werden könnte. EXKURS: Art. 4 I, II GG (Glaubensfreiheit) Die Glaubensfreiheit wird in Art. 4 I, II GG gewährleistet. In enger Verbindung zu Art. 4 GG stehen die durch Art. 140 GG inkorporierten Normen der WRV (namentlich Art. 136-139, 141 WRV), die vollgültiger Teil des Grundgesetzes sind und damit geltendes Verfassungsrecht. Sie stehen nicht etwa auf einer Stufe minderen Ranges (BVerfGE 19, 206 (219)), sondern bilden mit dem Grundgesetz ein organisches Ganzes. Von besonderer Relevanz für die Gewährleis-tung des Art. 4 I, II GG sind die Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I, III und IV, 137 II, III und VII WRV. Die in Art. 4 I GG angesprochene Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschau-lichen Bekenntnisses, sowie das in Art. 4 II GG angesprochene Recht der ungestörten Religi-onsausübung bilden ein einheitliches Grundrecht (BVerfGE 24, 236 (245f.)). Geschützt wird das Recht, einen Glauben zu bilden, zu haben, den Glauben zu bekennen, zu verbreiten und gemäß dieses Glaubens zu handeln. (vgl. BVerfGE 32, 98 (106f.); 69, 1 (33f.)) 1. Sachlicher Schutzbereich Der Begriff des „Glaubens“ bzw. die Begriffe „Religion“ und „Weltanschauung“ sind schwer zu definieren. Entsprechend uneinheitlich sind die Stimmen in Literatur und Recht-sprechung. So hat etwa das BVerwG in seiner Osho-Entscheidung (BVerwGE 90, 112 (115)) folgende Formel geprägt: „Unter Religion oder Weltanschauung ist eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen; dabei legt die Religion eine den Menschen überschreitende und umgreifende („transzendente“) Wirklichkeit zugrunde, während sich die Weltanschauung auf innerweltliche („immanente“) Bezüge beschränkt. Soweit es den Begriff des Glaubens betrifft, kann verallgemeinernd gesagt werden, dass es um die Überzeugung des Einzelnen von der Stellung des Menschen in der Welt und seinen Beziehungen zu höheren Mächten oder tieferen Seinssichten geht. Nicht erforderlich ist, dass andere die Glaubensüberzeugung teilen. (vgl. Manssen, Staatsrecht II. Grundrechte, 2. Aufla-ge 2002, Rdnr. 257)

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Nachdem dies jedoch eine uferlose Weite bedeutet, besteht die Gefahr der Konturenlosigkeit des Schutzbereiches. Es sind deshalb weitere Anforderungen zu stellen, um Missbräuche aus-zuschließen. So genügt etwa die schlichte Behauptung, es handle sich bei einem bestimmten Verhalten um eine religiös motivierte Betätigung, nicht aus, um den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 4 I, II GG zu eröffnen. (vgl. Manssen, a.a.O., Rdnr. 258) Das BVerfG hat lange Zeit, zwecks näherer Bestimmung, die sog. „Kulturadäquanzformel“ angewendet. Geschützt wird danach nicht jede Glaubensbetätigung, sondern nur eine solche, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat. (BVerfGE 12, 1 (4); 24, 236 (245f.)) Diese Auffassung hat es später aufgegeben. In der neueren Recht-sprechung rekurriert das BVerfG (BVerfGE 83, 341 (353)) schließlich für die Bestimmung „auf die aktuelle Lebenswirklichkeit, Kulturtradition und allgemeines wie auch religionswis-senschaftliches Verständnis“ und fordert, es müsse sich „auch tatsächlich nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild, um eine Religion oder Religionsgemeinschaft han-deln“ (BVerfGE 83,341 (353)). Dgl. gilt für den weltanschaulichen Bereich. Geschützte Tätigkeiten: • natürliche Personen: Die Glaubensfreiheit umfasst die Freiheit natürlicher Personen einen Glauben (religiöse bzw. areligiöse Sinndeutung von Welt und Mensch, vgl. BVerwGE 89, 368 (370)) zu bilden, zu ha-ben, zu äußern und dementsprechend zu handeln. Geschützt wird das Recht des Einzelnen sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln (BVerfGE 32, 98 (106); 93, 1 (15)) Geschützt wer-den auch kultische Handlungen sowie religiöse und weltanschauliche Feiern und Gebräuche. Beispiele für „Handeln“ sind: (häusliche und öffentliche) Manifestation der Glaubensinhalte durch Symbole und Riten, Gebete, Gottesdienste, Sakramente, Prozessionen, Glockengeläut, Ruf eines Muezzin usw. (Pieroth / Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 18. Auflage 2002, Rdnr. 509) Daneben werden aber auch diakonische und karitative Betätigungen, wie z. B. religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern, sowie andere Äußerungen des reli-giösen und weltanschaulichen Lebens erfasst. (BVerfGE 24, 236 (246ff.) Schließlich auch das Recht des einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln. (BVerfGE 32, 98 (106); 93, 1 (15)) Bsp.: Die Beachtung religiöser Ernährungsvorschriften, wie das Schächten von Tieren. Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz einer Vereinigung kommt es nicht an. (BVerfGE 32, 98 (106)). Die Glaubensfreiheit ist den Mitgliedern der Großkirchen und den Angehörigen kleiner kirchlicher und religiöser Gemeinschaften in gleicher Weise gewährleis-tet. Auf sie können sich auch die Angehörigen sog. Minderheitenreligionen und „Jugendsek-ten“ berufen (VGH Mannheim NVwZ 1989, 279). • Personenvereinigungen Kollektive Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist die einer religiösen oder weltanschau-lichen Gemeinschaft bzw. Vereinigung als solcher zukommende Freiheit. Ob politische oder wirtschaftliche Tätigkeiten, die unter dem „Deckmantel“ einer Religion oder Weltanschauung betrieben werden, geschützt sind, ist umstritten. Im Ergebnis sollte auf das Gesamtbild der Gemeinschaft und den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit abgestellt werden. Dabei kann etwa unter anderem berücksichtigt werden, ob die Religion bzw. Weltanschauung als Vorwand für eine wirtschaftliche Betätigung oder die wirtschaftliche Betätigung zur Finanzierung der seelsor-gerischen Aufgaben der Gemeinschaft dient.

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Geschützt sein können auch die Tätigkeiten der religiösen und weltanschaulichen Vereini-gungen, soweit sie nach ihrem Selbstverständnis unter die Glaubensfreiheit fallen. Bsp.: Ver-breitung der eigenen Überzeugung, religiös-karitative Sammlungen, kirchlich getragene Krankenpflege, schulische Erziehung; wobei jedoch das Selbstverständnis keine ausschließ-lich entscheidende Geltung beanspruchen kann. Dagegen kann eine juristische Person als solche keinen Glauben haben, weil dies - es handelt sich um psychische Phänomene - wesensmäßig nur auf natürliche Personen paßt (vgl. Sachs, Verfassungsrecht II. Grundrechte, 2. Auflage 2003, B 4, Rdnr. 12). Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 III WRV schützen darüber hinaus die Selbstbestimmung der Reli-gionsgemeinschaften über die eigene Organisation, Normsetzung und Verwaltung. Bspe. für „eigene Angelegenheiten“ der Gemeinschaften sind: arbeits- und dienstrechtliche Gestal-tung, Ordensrecht, kirchliche Gerichtsbarkeit. Soweit Art. 4 I, II GG auch die religiöse Vereinigungsfreiheit schützt, verdrängt er insofern für diesen Bereich Art. 9 GG (BVerfGE 83, 341 (354)). Erfasst wird von Art. 4 I, II GG neben der positiven auch die negative Glaubensfreiheit (vgl. auch Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 III 1, IV WRV). Zum Schutzbereich gehört also auch die (negative) Freiheit, nicht zu glauben, einen Glauben oder eine Weltanschauung nicht zu bekennen, d. h. die eigene Überzeugung zu verschweigen, glaubensgeleitete Handlungen zu unterlassen, sowie eine bestimmte religiöse oder weltan-schauliche Überzeugung abzulehnen. (BVerfGE 46, 266 (267); 65, 1 (39); kritisch: Ipsen, Staatsrecht II. Grundrechte, 6. Auflage 2003, Rdnr. 354 m.w.N., der die Attribute „positiv“ und „negativ“ entgegen der h.A. für verfehlt hält.) 2. Persönlicher Schutzbereich Geschützt wird - wie bereits angedeutet - die individuelle und die kollektive Glaubensfreiheit. Dabei ist die Glaubensfreiheit als Menschenrecht ausgestaltet, d.h. sie steht jedermann - auch Ausländern und Staatenlosen - zu. [Beachte aber bzgl. ausländischer juristischer Personen Art. 19 III GG: „inländische“.] a) Individuelle Glaubensfreiheit Träger der individuellen Glaubensfreiheit sind natürliche Personen. Gewisse Beschränkun-gen der Glaubensfreiheit Minderjähriger ergeben sich jedoch aus dem von Art. 6 II GG ge-schützten elterlichen Erziehungsrecht (vgl. dazu unten). b) Kollektive Religions- und Weltanschauungsfreiheit bzw. Glaubensfreiheit Träger der kollektiven Glaubensfreiheit sind juristische Personen, aber auch sonstige Verei-nigungen, deren Zweck die Pflege oder Förderung eines religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses oder die Verkündung des Glaubens ihrer Mitglieder ist (BVerfGE 19, 129 (132); 24, 236 (246f.); 70, 138 (160f.)). Es kommt insofern nicht darauf an, in welcher Rechtsform die Vereinigung organisiert ist; die Grundrechtsträgerschaft ist unabhängig von einer öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Organisationsform (Manssen, a.a.O., Rdnr. 264; zur Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts vgl. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 V WRV). Auch soweit es sich um eine Körperschaft des öffentlichen Rechts handelt, steht einer Gemeinschaft das Grundrecht aus Art. 4 I, II GG zu. Damit können z. B. die gro-ßen Kirchen unter Berufung auf Art. 4 I, II GG ebenfalls Verfassungsbeschwerde erheben. Ebenso steht das Recht auch Vereinigungen zu, die gegenüber den Kirchen verselbständigt sind (Bsp.: nichtrechtsfähiger katholischer Jugendverein, privatrechtlich organisierte konfes-sionelle Krankenhäuser, sowie als Körperschaft des öffentlichen Rechts verfasste Erziehungs-einrichtungen). (Pieroth / Schlink, a.a.O., Rdnr. 518 m.w.N.)

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3. Eingriff Die Glaubensfreiheit wird beeinträchtigt, wenn der Staat die geschützte Tätigkeit regelt oder faktisch in erheblicher Weise beeinträchtigt, z. B. durch Warnungen vor einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft oder durch Förderung von Vereinen, deren Aufgaben darin besteht, bestimmte Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften zu bekämpfen; dgl. gilt für Ungleichbehandlungen verschiedener Gemeinschaften, die nicht in ihrer Verschiedenheit begründet sind oder die Verpflichtung zu einer religiösen Eidesleistung, desweiteren bei Be-stehen einer Schulpflicht bzgl. einer bekenntnisgebundenen Schule oder strafrechtlicher Sank-tion von glaubensgeleitetem Verhalten. 4. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Die individuelle Glaubensfreiheit steht nicht unter Gesetzesvorbehalt. Diskutiert wird / wur-de, ob Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I oder Art. 136 III 2 oder Art. 137 III 1 WRV anwendbar sind. Nur Art. 136 III 2 WRV hat in der Rechtsprechung des BVerfG Bedeutung erlangt. (vgl. zu dieser Problematik Pieroth / Schlink, a.a.O., Rdnr. 504 und 536ff.; Umbach / Clemens-Wenckstern, GG. Mitarbeiterkommentar, 2002, Art. 4 I, II, Rdnr. 76ff.; Dreier-Morlok, GG, 1996, Art. 4, Rdnr. 89ff.; Sachs-Kokott, GG, 3. Auflage 2003, Art. 4, Rdnr. 110ff.; speziell zu Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 I WRV Ipsen II, a.a.O., Rdnr. 358.) Als Schranke sind jedoch die kollidierenden Grundrechte und andere Verfassungsgüter zu beachten (sog. verfassungsimmanente Schranken). (Vgl. zur Schrankenproblematik: Fehlau, JuS 1993, 441; Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 115; Jarass / Pieroth-Jarass, Grundgesetz. 6. Auflage 2002, Art. 4, Rdnr. 30ff. m.w.N.) Bei rein innerkirchlichen Angelegenheiten unterliegt die kollektive bzw. korporative Glau-bensfreiheit nach Ansicht des BVerfG keinem Gesetzesvorbehalt (a. A.: Jarass / Pieroth, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 35 m.w.N. zu beiden Ansichten). Als Schranke sind jedoch auch hier die sog. verfassungsimmanenten Schranken zu beachten. EXKURS: Neben der in Art. 4 I, II GG gewährleisteten Glaubensfreiheit sind weitere Prinzipien für das staatskirchenrechtliche System in der Bundesrepublik Deutschland bestimmend. Es sind dies: Die grundsätzliche Trennung von Staat und Kirche (vgl. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 I WRV), die Grundsätze der Nichtidentifikation, der Neutralität und der Parität, wobei die letztgenannten Konsequenz der Gewährleistung in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 I WRV sind. (vgl. hierzu von Campenhausen, Staatskirchenrecht, 3. Auflage 1996, § 40) - Der Grundsatz der Nichtidentifikation betrifft die grundlegende Absage an eine inhaltli-

che Festlegung des Staates auf konfessionelle oder weltanschauliche Sätze. Erforderlich ist vielmehr eine am Gleichheitssatz orientierte Behandlung der verschiedenen Religionen und Weltanschauungen (BVerfGE 93, 1 (17)).

- Das Prinzip der Parität verbietet (negativ) die rechtliche Bevorzugung bestimmter Be-kenntnisse und Religionsgemeinschaften. Positiv gebietet die Parität Gleichrang und Gleichbehandlung verschiedener Bekenntnisse und Bekenntnisgemeinschaften. Sachlich begründete Differenzierungen, die ihre Grundlage in der Verschiedenheit der einzelnen Religionsgemeinschaften haben, sind jedoch möglich. (BVerfGE 19, 1 (8))

- Der Grundsatz der Neutralität macht es dem Staat zur Pflicht sich in weltanschaulichen Fragen des Urteils und der Parteinahme zu enthalten. Die Rechtsordnung ist demgemäß neutral, wenn sie den Staatsbürgern die Möglichkeit erhält, ihren religiös-weltanschaulichen Überzeugungen auch im öffentlichen Leben soweit wie möglich Gel-tung zu verschaffen. Diese Neutralität bedeutet jedoch keine schematische Gleichbehand-

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lung, vielmehr sind Differenzierungen aus sachlichen Gründen gestattet (BVerfGE 19, 1 (8)).

EXKURS: Art. 6 GG (Ehe und Familie) Art. 6 GG umfasst verschiedene Garantien, die Ehe, Familie und Kindererziehung betreffen. - Abs. 1 enthält das Grundrecht auf Ehe und Familie.

Es verpflichtet den Staat zum Schutz der Ehe (Institutsgarantie). Dies meint - positiv - die Aufgabe Ehe und Familie vor Beeinträchtigungen zu bewahren und durch geeigne-te Maßnahmen zu fördern, sowie - negativ - das Verbot, sie zu schädigen oder sonst zu beeinträchtigen (vgl. BVerfGE 6, 55 (76); 55, 114 (126f.); 87, 1 (35)).Der Begriff der Ehe wird nicht im Grundgesetz definiert. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist Ehe im Sinne des Art. 6 I GG die auf Dauer angelegte, grundsätzlich unauflösliche Le-bensgemeinschaft von Mann und Frau (BVerfGE 10, 59 (66); 31, 58 (82); 53, 224 (245);62, 323 (330); 87, 234 (264)). Dem liegt das Bild einer „verweltlichten“ bürger-lichen Ehe zugrunde, die in den rechtlichen Formen geschlossen wird (BVerfGE 31, 58 (82); 53, 224 (245)). Der Schutz reicht dabei von der Eheschließung und der Namens-wahl über das eheliche Zusammenleben bis hin zum Recht auf Ehescheidung.

Familie ist die umfassende Gemeinschaft zwischen Eltern und Kindern; auf deren Ehe-lichkeit oder Nichtehelichkeit kommt es nicht an. Ebenso erfasst wird die Gemeinschaft zwischen Alleinerziehenden und ihren Kindern sowie die Gemeinschaft mit Adoptiv-, Stief- oder Pflegekindern. Geschützt wird die Familiengründung und das familiäre Zu-sammenleben.

Grundrechtsträger können sowohl Deutsche als auch Ausländer sein. - Abs. 2 und 3 schützen das Elternrecht.

In Abs. 2 S. 1 ist das Recht der Eltern niedergelegt, ihre Kinder zu pflegen (d.h. die Sorge um Wohl, Ernährung, Gesundheit, Vermögen des Kindes) und zu erziehen (d.h. Wissen zu vermitteln und wertbezogen auf die Kinder einzuwirken) (vgl. Sachs-Schmitt-Kammler, a.a.O., Art 6, Rdnr 52). In S. 2 wird der staatlichen Gemeinschaft ein Wächteramt übertragen. Die elterlichen Befugnisse nehmen mit zunehmendem Alter ab und erlöschen mit der Volljährigkeit des Kindes. Bei Interessenkollisionen zwischen Eltern und Kind genießt das Kindeswohl bis dahin Vorrang (BVerfGE 72, 122 (137); 79, 203 (210f.)). Umfasst wird insbesondere die religiöse Unterweisung des Kindes und die Schulausbildung. Al-lerdings kann es insoweit zu Konflikten mit der staatlichen Schulhoheit des Art. 7 I GG kommen.

Grundrechtsträger sind neben den leiblichen Eltern auch Adoptiv-, nicht aber Pflege-eltern.

- Abs. 4 enthält ein Leistungsrecht der Mütter hinsichtlich des Schutzes und der Fürsorge durch die Gemeinschaft.

- Abs. 5 verpflichtet den Gesetzgeber zur Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern und enthält insoweit einen Gleichstellungsauftrag.

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zum Fall: Gefragt ist nach den Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde der Eltern. Soweit auch eine Verfassungsbeschwerde von Kindern in Betracht kommt, stellt sich die Situation wie folgt dar: Grundsätzlich ist Träger des Grundrechtes aus Art. 4 I, II GG jedermann, also auch Kinder. (vgl. Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7) Kinder werden jedoch bis zu ihrer Religionsmündigkeit durch ihre Eltern vertreten (was im Rahmen der Prozessfähigkeit zu erörtern wäre), die zugleich jedoch auch ein eigenes Recht zur religiösen Erziehung ihrer Kinder aus Art. 4 I, II i.V.m. Art. 6 II GG innehaben, nachdem Erziehungsarbeit und weltanschaulich-religiöse Grundhaltung in einer nicht lösbaren Ver-bindung stehen. Staatliche Eingriffe in die Religionsfreiheit des Kindes können daher zugleich das Grundrecht des Kindes und das der Eltern verletzen. (vgl. Umbach / Clemens-Wenckstern, GG, Art. 4 I, II, Rdnr. 26; Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7) Die Religionsmündigkeit ist im Gesetz über die religiöse Kindererziehung (RelKErzG) von 1921 näher geregelt. Danach kann das Kind ab dem 14. Lebensjahr selbst entscheiden, in welchem Bekenntnis es erzogen wird. Schon vom 12. Lebensjahr an darf das Kind nicht gegen seinen Willen in einem anderen Bekenntnis als zuvor erzogen werden (vgl. § 5 RelKErzG so-wie Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7). Hier tritt das elterliche Erziehungsrecht zurück. Die Glaubensfreiheit Minderjähriger kann jedoch bis zum Eintritt der Volljährigkeit vom Er-ziehungs- und Sorgerecht der Eltern teilweise überlagert werden. Insofern ist das religions-mündige Kind in Glaubensfragen, die sich von der allgemeinen Erziehung kaum trennen las-sen, nicht jeder Einflussnahme der Eltern entzogen. (vgl. Umbach / Clemens-Wenckstern, GG, Art. 4 I, II, Rdnr. 26; Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7, jeweils m.w.N.) Bestimmte Rechte können Kinder nicht aus ihrer Religionsmündigkeit ableiten. Dies sind Fragen, die das all-gemeine Sorgerecht der Eltern betreffen, wonach diese über Schule, Aufenthalt und Woh-nung der Kinder - wenn auch unter wachsender Beteiligung bei fortschreitendem Alter der Kinder - zu bestimmen haben (von Mangoldt / Klein / Starck-Starck, Grundgesetz, 4. Auflage 1999, Art. 4 Abs. 1, 2, Rdnr. 66). Bspe.: für ein Fortwirken des elterlichen Erziehungsrechts nach Eintritt der Religionsmündigkeit: Wunsch allein nach Indien zu fahren, um dort einen Guru aufzusuchen, Einzug in eine religiöse Wohngemeinschaft. A. Zulässigkeit 1. Beschwerdefähigkeit Beschwerdefähig ist nach Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG jedermann, sofern er fähig ist, Träger von Grundrechten zu sein, also auch die Eltern E. 2. Beschwerdegegenstand Die Verfassungsbeschwerde von E muss sich gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG gegen einen Akt der deutschen öffentlichen Gewalt richten. Öffentliche Gewalt meint alle Staatsgewalt, sowohl die Exekutive, die Legislative, als auch die Judikative. Akte der öffent-lichen Gewalt sind hier die ergangenen Entscheidungen der Gerichte, nachdem V sich nach Erschöpfung des Rechtsweges des Eilverfahrens an das BVerfG wenden möchte. Kommen mehrere Beschwerdegegenstände - wie die hier im Instanzenzug ergangenen ge-richtlichen Entscheidungen - als „Akte der öffentlichen Gewalt“ in Betracht, so muss der Be-schwerdeführer jedenfalls die letztinstanzliche Entscheidung angreifen; bzgl. der Frage, ob er zusätzlich auch die Entscheidungen der Vorinstanzen angreift, lässt ihm das BVerfG die

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Wahl, so dass ein Vorgehen gegen alle ergangenen Entscheidung - wie vorliegend beabsich-tigt - möglich ist. Hinweis: Greift der Beschwerdeführer auch vorinstanzliche Entscheidungen an, so liegt den-noch nur eine Verfassungsbeschwerde vor. (Pieroth / Schlink, a.a.O., Rdnr. 1127; Pestalozza, Verfassungsprozeßrecht, 3. Auflage 1991, § 12 II, Rdnr. 26) 3. Beschwerdebefugnis Die Beschwerdebefugnis folgt aus § 90 I BVerfGG. Der Beschwerdeführer muss begründet behaupten, durch den angegriffenen Akt der öffentlichen Gewalt selbst, gegenwärtig und un-mittelbar in seinen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten verletzt zu sein. Es gilt insofern die sog. Möglichkeitstheorie, d. h. die Verletzung muss möglich bzw. - mit anderen Worten - sie darf nicht von vornherein ausgeschlossen sein. Soweit die E sich, wegen der Verneinung der Eilbedürftigkeit und der hieraus resultie-renden Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes beeinträchtigt sehen, könnten sie mögli-cherweise in ihrem Grundrecht aus Art. 19 IV GG tangiert werden. Soweit es die Grundrechtsbeeinträchtigung wegen der daraus resultierenden Beibehaltung des Gebetes betrifft, gilt folgendes: Eltern haben ein eigenes Recht zur religiösen Erziehung ihrer Kinder aus Art. 4 I, II i.V.m. Art. 6 II GG, nachdem Erziehungsarbeit und weltanschaulich-religiöse Grundhaltung in einer nicht lösbaren Verbindung stehen. Staatliche Eingriffe in die Religionsfreiheit des Kindes können daher neben dem Grundrecht des Kindes auch Grundrechte der Eltern tangieren. (Vgl. Umbach / Clemens-Wenckstern, GG, Art. 4 I, II, Rdnr. 26; Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7) Das Tischgebet und die ablehnenden Entscheidungen des Bürgermeisters sowie der Gerichte verletzen daher die Eltern E möglicherweise in ihrem Recht aus Art. 6 II 1 i.V.m. Art. 4 I, II GG zur Kindererziehung in religiösen und weltanschaulichen Belangen. Exkurs: Gegenwärtige Betroffenheit bedeutet, dass der Beschwerdeführer nicht bloß irgendwann in der Zukunft, aber auch nicht lediglich in der Vergangenheit betroffen ist. Es bleibt allerdings bei der gegenwärtigen Betroffenheit, wenn der Beschwerdeführer schon jetzt zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen gezwungen ist oder Dispositionen treffen muss, die spä-ter nicht mehr nachgeholt werden können. (Robbers, Verfassungsprozessuale Probleme in der öffentlich-rechtlichen Arbeit, 1996, S.25) Dem steht - im Hinblick auf die gegenwärtige Betroffenheit - nicht entgegen, dass X den Kindergarten noch nicht besucht; vielmehr die E, noch vor dem ersten Tag des X im Kinder-garten, Verfassungsbeschwerde erheben möchten. Denn es steht fest, dass dieser alsbald, d. h. in weniger als einem Monat, den Kindergarten besuchen wird (vgl. BVerfGE 41, 29 (42)). 4. Erschöpfung des Rechtsweges Gemäß § 90 II 1 BVerfGG (vgl. auch Art. 94 II 2 GG) ist es erforderlich, dass vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde der Rechtsweg erschöpft wurde, sofern gegen die betreffende staatliche Maßnahme der Rechtsweg eröffnet ist und alle anderweitig bestehenden Möglich-keiten, die Grundrechtsverletzung zu beseitigen oder ohne Inanspruchnahme des BVerfG im (praktischen) Ergebnis dasselbe zu erreichen, wahrgenommen wurden (sog. Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde).

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Rechtsweg ist dabei die gesetzlich vorgesehene Möglichkeit, ein Gericht anzurufen. Der Beg-riff ist weit. Es handelt sich um den Weg, der den einzelnen mit seinem Begehren, die von ihm behauptete Grundrechtsverletzung zu überprüfen und zu beseitigen, vor die staatlichen deutsche Gerichte führt. Der Rechtsweg endet dabei mit der letztinstanzlichen Entscheidung eines Gerichts gegen die kein weiteres Rechtsmittel gegeben ist. (Umbach / Clemens-Kley/Rühmann, BVerfGG. Mitarbeiterkommentar, 1992, § 90, Rdnr. 90; Pestalozza, a.a.O., § 12, Rdnr. 46; Robbers, a.a.O., S. 26; Pieroth / Schlink, a.a.O., Rdnr. 1150) Fraglich ist hier, ob die Ausschöpfung der Möglichkeiten des vorläufigen Rechtsschutzes vor den Zivilgerichten den Anforderungen genügt, die § 90 II 1 BVerfGG an die Erschöpfung des Rechtsweges stellt. Erschöpfung des Rechtsweges bedeutet, dass der Beschwerdeführer alle prozessualen Mög-lichkeiten zur Beseitigung der behaupteten Grundrechtsverletzung in Anspruch genommen haben muss. (Pieroth / Schlink, a.a.O., Rdnr. 1152) Auszugehen ist dabei von dem Grundsatz, dass bei im Eilverfahren ergangenen Entschei-dungen, die Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sind, nicht ohne weiteres die Erschöp-fung des Rechtsweges im Hauptsacheverfahren verlangt werden kann, um die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde zu begründen. Der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbe-schwerde, der auch im Verhältnis von vorläufigem Rechtsschutz und Hauptsacheverfahren zur Anwendung kommt, gebietet die Erschöpfung des Rechtsweges in der Hauptsache viel-mehr nur dann, wenn sich dort nach Art des gerügten Grundrechtsverstoßes die Chance bietet der verfassungsrechtlichen Beschwer abzuhelfen. Tragender Grundsatz ist insofern der Ge-sichtspunkt, dass der Subsidiaritätsgrundsatz primär sicherstellen soll, dass durch die umfas-sende fachgerichtliche Vorprüfung der Beschwerdepunkte dem BVerfG ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und ihm die Fallanschauung und Rechtsauffassung der Gerichte vermittelt wird. Das BVerfG soll nicht in Gefahr geraten, auf ungesicherten Grundlagen weitreichende Entscheidungen treffen zu müssen. Auch soll es nicht Aussagen über den Inhalt einer einfachgesetzlichen Regelung treffen müssen, solange sich hierzu noch keine gefestigte Rechtsprechung der Fachgerichte entwickelt hat. (BVerfGE 77, 381 (401); 79, 275 (278f.); 80, 40 (45); Lechner / Zuck, BVerfGG, 4. Auflage 1996, § 90, Rdnr. 142 m.w.N.) Wenn zwar das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, nicht aber das Hauptsacheverfah-ren durchgeführt und letztinstanzlich über die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ent-schieden wurde, besteht die Möglichkeit der Erschöpfung des Rechtsweges im Sinne des § 90 II BVerfGG, nämlich des Rechtsweges des Eilverfahrens. Bei diesem Verfahren handelt es sich um ein gegenüber dem Hauptsacheverfahren eigenständiges Verfahren, so dass das Hauptsacheverfahren keinen Rechtsweg gegen die Entscheidung im vorläufigen Rechts-schutzverfahren darstellt. Die erfolglose Ausschöpfung der Möglichkeiten vorläufigen Rechtsschutzes gegen die ergangene Unterlassungsanordnung enthält hier für den Betroffenen regelmäßig eine selbständige Beschwer, die sich mit derjenigen des Hauptsacheverfahrens nicht deckt. Der Beschwerdeführer muss sich in einem solchen Fall nicht unter Hinweis auf die Subsidia-rität der Verfassungsbeschwerde auf die Durchführung des Hauptsacheverfahrens verweisen lassen, wenn • das Hauptsacheverfahren keine ausreichende Möglichkeit bietet der Grundrechts-

verletzung abzuhelfen, • es dem Betroffenen nicht zuzumuten ist, das Hauptsacheverfahren durchzuführen

oder

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• es einer weiteren tatsächlichen oder einfachrechtlichen Aufklärung des Sachverhal-tes nicht bedarf, weil die im vorläufigen und im Hauptsacheverfahren zu entscheidenden Rechtsfragen identisch sind und deshalb nicht damit gerechnet werden kann, dass ein Hauptsacheverfahren die Anrufung des BVerfG entbehrlich machen könnte.

Zudem müssen die Voraussetzungen gegeben sein, unter denen gemäß § 90 II 2 BVerfGG bei einer sog. Vorabentscheidung vom Erfordernis der Rechtswegerschöpfung abgesehen werden kann, d. h. die Verfassungsbeschwerde muss • von allgemeiner Bedeutung sein oder • dem Beschwerdeführer muss ein schwerer und unabwendbarer Nachteil drohen, wenn

er auf den Rechtsweg in der Hauptsache verwiesen würde. (BVerfGE 42, 163 (167f.); 51, 130 (138ff.); 53, 30 (52ff.); 75, 318 (325); 77, 381 (400ff.); 78, 290 (302); 79, 275 (278f.); 80, 40 (45); 86, 15 (22f.); 93, 1 (12); 95, 220 (233); BVerfG NVwZ 1995, 577; Robbers, a.a.O., S. 27f.; Umbach / Clemens-Kley/Rühmann, BVerfGG, § 90, Rdnr. 91; Pieroth / Schlink, a.a.O., Rdnr. 1155, 1159f.; Schlaich / Korioth, Das Bundes-verfassungsgericht, 5. Auflage 2001, Rdnr. 242; Jarass / Pieroth-Jarass, a.a.O., Art. 93, Rdnr. 62; Sachs-Sturm, a.a.O., Art. 94, Rdnr. 19) Eine Verfassungsbeschwerde ist von allgemeiner Bedeutung, wenn sie grundsätzliche verfas-sungsrechtliche Fragen aufwirft, die noch nicht geklärt sind, und über den Fall des Be-schwerdeführers hinaus Klarheit über die Rechtslage in einer Vielzahl gleich gelagerter Fälle geschaffen wird. Entscheidend ist insoweit, dass die aufgeworfenen Fragen sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lassen und noch nicht durch die verfassungsge-richtliche Rechtsprechung geklärt sind. (BVerfGE 19, 268 (273); 19, 288 (289); 25, 236 (246); 27, 88 (97); 62, 338 (342); 68, 176 (185); 84, 90 (116f.); 84, 133 (144); 95, 193 (208f.); 97, 298 (309f.); BVerfG NJW 1994, 993; Robbers, a.a.O., S. 28; Umbach / Clemens-Kley / Rühmann, BVerfGG, § 90, Rdnr. 106; Lechner / Zuck, a.a.O., § 90, Rdnr. 146f.; Jarass / Pieroth-Pieroth, a.a.O., Art. 93, Rdnr. 63) Der schwere und unabwendbare Nachteil liegt nur dann vor, wenn gerade das Abwarten einer späteren Entscheidung diesen Nachteil begründet, etwa weil sie zu spät käme und den Beschwerdeführer damit praktisch rechtsschutzlos stellen würde. Schwere Nachteile sind z. B. besonders schwere Grundrechtseingriffe. Unabwendbar ist ein Nachteil wenn der Schaden durch die Verweisung auf den Rechtsweg auch durch ein späteres Obsiegen im Verfassungs-beschwerdeverfahren nicht mehr oder im wesentlichen nicht mehr ausgeglichen werden könn-te, dies gilt insbesondere bei Irreparabilität. Dabei lässt sich nicht allgemeinverbindlich fest-legen wann ein Nachteil gegeben ist, vielmehr richtet sich dies nach den Umständen des Ein-zelfalles. (BVerfGE 34, 205 (208); 69, 233 (241); 78, 290 (305f.); 86, 382 (388ff.); 88, 366 (376); Robbers, a.a.O., S. 28; Umbach / Clemens-Kley / Rühmann, BVerfGG, § 90, Rdnr. 109f.; Jarass / Pieroth-Pieroth, a.a.O., Art. 93, Rdnr. 63) Auch die voraussichtliche Dauer des Hauptverfahrens kann dazu führen, dass es dem Be-schwerdeführer nicht zuzumuten ist, vor einer Entscheidung des BVerfG den Hauptsache-rechtsweg zu erschöpfen (Schlaich / Korioth, a.a.O., Rdnr. 242). Grundsätzlich ist also auch gegen letztinstanzliche Entscheidungen in Verfahren des vorläufi-gen Rechtsschutzes eine Verfassungsbeschwerde statthaft. Es stellt sich nunmehr die Frage, ob die aufgezeigten Voraussetzungen, unter denen dies mög-lich ist, auch hier gegeben sind, so dass vom Hauptsacheverfahren kein zusätzlicher Ertrag zu erwarten ist. Soweit die E eine Verletzung von Art. 19 IV GG geltend machen, bedarf es keiner weiteren tatsächlichen oder einfachrechtlichen Klärung.

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Desweiteren ist - aufgrund der Sachlage - auch bzgl. des Rechtes aus Art. 6 II GG i.V.m. Art. 4 I, II GG eine Verweisung auf das Hauptsacheverfahren nicht zumutbar: X steht am Beginn seines Kindergartenbesuches und es geht um Fragen, die für seine Erziehung und Entwick-lung wesentlich sind und keinen Aufschub dulden. Zugleich sind aus dem letztgenannten Grund auch die Voraussetzungen des § 90 II 2 BVerfGG (hier: schwerer und unabwendbarer Nachteil) erfüllt. 5. Rechtsschutzbedürfnis Der Sachverhalt bietet keine Anhaltspunkte für das Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses. 6. Form Gemäß § 23 I 1 BVerfGG ist die Verfassungsbeschwerde schriftlich zu erheben. Nach § 23 I 2 BVerfGG ist sie zu begründen und die erforderlichen Beweismittel sind anzugeben. Eine nähere Ausgestaltung des Begründungserfordernisses findet sich in § 92 BVerfGG. Bei Erhe-bung der Verfassungsbeschwerde müssen diese Formvorschriften beachtet werden. 7. Frist Die Verfassungsbeschwerde ist innerhalb eines Monats nach Zustellung der letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung zu erheben (§ 93 I 1 BVerfGG). Auch dies ist bei der Erhebung der Verfassungsbeschwerde zu beachten. 8. Ergebnis Eine Verfassungsbeschwerde der E ist zulässig, unter der Voraussetzung der Beachtung des Form- und Fristerfordernisses. B. Begründetheit Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn die Eltern E in ihren Grundrechten verletzt sind und keine Rechtfertigung des Eingriffs vorliegt. I. Rechtsschutzgarantie (Art. 19 IV GG) Die Verweigerung vorläufigen Rechtsschutzes durch die Gerichte, die mit der fehlenden Eil-bedürftigkeit begründet wurde, könnte die E in ihrem Grundrecht aus Art. 19 IV GG verlet-zen. Art. 19 IV GG eröffnet jedermann den Rechtsweg gegen jede behauptete Verletzung subjek-tiver Rechte durch ein Verhalten der öffentlichen Gewalt. Gewährleistet wird nicht nur das formelle Recht, die Gerichte anzurufen, sondern auch die Effektivität des Rechtsschutzes (vgl. BVerfGE 93, 1 (13) m.w.N.), d. h. eine tatsächlich wirksame Kontrolle durch die Gerich-te (Jarass / Pieroth-Jarass, a.a.O., Art. 19, Rdnr. 35). Gewährleistet wird also Schutz durch den Richter NICHT aber gegen den Richter (Pieroth/Schlink, a.a.O., Rdnr. 1009). Wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Dar-aus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich im Eilverfahren soweit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maß-nahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. (Vgl. BVerfGE 93, 1 (13) m.w.N.) Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz. (Vgl. BVerfGE 93, 1 (13)

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m.w.N.) So sind die Fachgerichte etwa bei der Auslegung und Anwendung des § 123 VwGO gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn sonst dem Antragsteller eine erhebli-che, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in seinen Rechten droht, die durch die Ent-scheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahms-weise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen. (Vgl. BVerfGE 93, 1 (13f.) m.w.N.) Solche Gründe sind hier nicht ersichtlich. Die Verneinung der Eilbedürftigkeit, weil X noch nicht den Kindergarten besucht, ist insofern nicht stichhaltig. Der Kindergartenbesuch steht unmittelbar bevor; die Geschehnisse bewegen sich in dem Zeitraum einen Monat vor dem ersten Kindergartentag des X. Zudem geht es um einen Lebenssachverhalt, der bereits wegen seines zeitlichen Fortschreitens, nachdem der Kindergartenbesuch i.d.R. nur ca. 3-4 Jahre erfolgt, besonders eilbedürftig ist. Der Anspruch auf Unterlassung des Gebetes ist aus diesem Grund, wegen des Zeitablaufs, im Hauptsacheverfahren regelmäßig nicht durchzusetzen. Damit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 19 IV GG vor. Ein solcher Eingriff ist zugleich eine verfassungsrechtlich nicht zu rechtfertigende Verletzung (Pieroth/Schlink, a.a.O., Rdnr. 1024). II. Recht zur Kindererziehung in Glaubensfragen (Art. 6 II i.V.m. Art. 4 I, II GG) Die ablehnenden Entscheidungen könnten die Eltern E des weiteren in ihrem Recht zur Kin-dererziehung auch in religiösen und weltanschaulichen Belangen aus Art. 6 II 1 i.V.m. Art. 4 I, II GG verletzen. 1. Schutzbereich a) Sachlicher Schutzbereich Art. 6 II 1 GG gewährt den Eltern das Recht und die Pflicht, die Pflege und Erziehung ihrer Kinder nach ihren eigenen Vorstellungen frei zu gestalten. Art. 4 I, II GG schützt die Glaubensfreiheit. Die Entscheidung für oder gegen einen Glauben ist danach Sache des Einzelnen, nicht des Staates. Der Staat darf ihm einen Glauben weder vorschreiben noch verbieten. Zur Glaubensfreiheit gehört nicht nur die Freiheit einen Glauben zu haben, sondern auch die Freiheit, nach den eigenen Glaubensüberzeugungen zu leben und zu handeln. Insbesondere gewährleistet die Glaubensfreiheit die Teilnahme an den kultischen Handlungen, die ein Glaube vorschreibt oder in denen er Ausdruck findet. Dem entspricht umgekehrt die Freiheit, kultischen Handlungen eines nicht geteilten Glaubens fern zu bleiben. (BVerfGE 32, 98 (106); 93, 1 (15); VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Im Verein mit Art. 6 II 1 GG umfasst Art. 4 I, II GG ein eigenes Recht der Eltern zur Kinder-erziehung auch in religiösen und weltanschaulichen Belangen, nachdem Erziehungsarbeit und weltanschaulich-religiöse Grundhaltung in einer nicht lösbaren Verbindung stehen (vgl. BVerfGE 41, 29 (44); 52, 223 (235f.); VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266); Umbach / Cle-mens-Wenckstern, GG, 2002, Art. 4 I, II, Rdnr. 26; Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7). Eltern haben danach das Recht, ihren religionsunmündigen Kindern die von ihnen für richtig gehaltene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu vermitteln (BVerfGE 41, 29 (48f.); 52, 223 (236); 93, 1 (17); VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) und entsprechend die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die ihnen falsch oder schädlich erscheinen. (von Mangoldt / Klein / Starck-Robbers, a.a.O., Art. 6 Abs. 2, Rdnr. 204 m.w.N. zur Rechtspre-chung). Dem entspricht das Recht, zum Atheismus zu erziehen (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)).

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Demgemäß ist, soweit es um die Frage der Durchführung des Tischgebetes bzw. die Versa-gung von dessen Unterbindung und die hiermit für X verbundenen Konsequenzen geht, der Schutzbereich des Rechts auf religiöse und weltanschauliche Kindererziehung aus Art. 6 II GG i.V.m. Art. 4 I, II GG einschlägig. b) Persönlicher Schutzbereich Art. 6 II i.V.m. Art. 4 I, II GG sind als Menschenrecht ausgestaltet, d.h. sie stehen jedermann und damit auch den Eltern E zu. 2. Eingriff Die Glaubensfreiheit wird beeinträchtigt, wenn der Staat die geschützte Tätigkeit regelt oder faktisch in erheblicher Weise beeinträchtigt. Eingriffe des Staates in das Grundrecht des Kindes aus Art. 4 I, II GG können zugleich Ein-griffe in das elterliche Erziehungsrecht des Art. 6 II GG sein (von Mangoldt / Klein / Starck-Starck, a.a.O., Art. 4 Abs. 1, 2, Rdnr. 64; Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7; Umbach / Clemens-Wenckstern, GG, Art. 4 I, II, Rdnr. 26; Sachs-Kokott, a.a.O., Art. 4, Rdnr. 7) Sie können durch den Zwang, ihr Kind einer von ihnen nicht geteilten Glaubensmanifestation aussetzen zu müssen, die ihren Erziehungsvorstellungen in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht nicht entspricht, in ihrer grundrechtlichen Stellung betroffen werden (vgl. BVerfGE 41, 29 (47). So ist es auch bzgl. der Eltern E. Die von ihnen praktizierte Erziehung des X zum Atheismus ist untrennbarer Bestandteil ihrer Eltern-Kind-Beziehung, die das Grundgesetz durch die Ge-währleistung der Familie in Art. 6 I GG und den Schutz des elterlichen Erziehungsrechtes in Art. 6 II GG besonders schützt. Bei dem besonderen Gewicht, das dem Glaubenselement in der elterlichen Erziehung zukommt, kann jedoch das gesamte Eltern-Kind-Verhältnis durch die Konfrontation mit anderen Glaubensauffassungen im Kindergarten belastet werden. (Vgl. BVerfGE 41, 29 (47)) Insofern wird durch die Veranstaltung des Tischgebetes in dem kommunalen (und damit staatlichen) Kindergarten das Grundrecht aus Art. 6 II i.V.m. Art. 4 I, II GG, d. h. das Recht der Eltern, ihren religionsunmündigen Kindern die von ihnen für richtig gehaltene religiöse oder weltanschauliche Überzeugung zu vermitteln (BVerfGE 41, 29 (48f.); 93, 1 (17)) und entsprechend die Kinder von Glaubensüberzeugungen fernzuhalten, die ihnen falsch oder schädlich erscheinen, dadurch beeinträchtigt, dass die Eltern X einem ihrer Überzeugung wi-dersprechenden Verhalten aussetzen müssen. (Vgl. BVerfGE 41, 29 (48)) 3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Grundrechte die nicht mit einem Gesetzesvorbehalt versehen sind, wie etwa Art. 4 I, II GG und Art. 5 III GG sind gleichwohl nicht schrankenlos gewährleistet. Sie finden ihre Schranken in kollidierenden Grundrechten und anderen Verfassungsgütern (sog. verfassungsimmanente Schranken). Diese grundsätzliche Beschränkungsmöglichkeit ergibt sich aus dem Grundsatz der Einheit der Verfassung. Die Grundrechte des Art. 4 I, II GG sind keinem Gesetzesvorbehalt unterworfen. Dennoch sind sie nicht schrankenlos gewährleistet. Grenzen können den Freiheiten des Art. 4 I, II GG nach dem Grundsatz der Einheit der Verfassung jedoch nur durch andere Bestimmungen des Grundgesetzes gezogen werden (sog. verfassungsimmanente Schranken). Ein Eingriff des

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Staates in die Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit bedarf mithin einer unmittelbaren verfassungsrechtlichen Legitimation Diese ist um so eher gegeben, je mehr das beanstandete staatliche Handeln dem Schutz der im Einzelfall kollidierenden Grundrechte anderer oder der Gewährleistung verfassungsrechtlich hervorgehobener Gemeinschaftsgüter dient. (BVerfG NJW 1989, 3269 (3270)). Wie sich aus dem Erziehungskonzept des Kindergartens ergibt, bekennen sich die hier im Verantwortungsbereich des Staates handelnden Erzieherinnen zum christlichen Glauben und bringen diesen insbesondere durch die Praxis des Tischgebetes zum Ausdruck. Hierbei kön-nen sie sich auf das Grundrecht des Art. 4 I, II GG berufen und für sich reklamieren, in ihrem Recht der positiven Religionsfreiheit nicht verletzt zu werden. (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Ebenso besteht hier ein Spannungsverhältnis zwischen dem Begehren der E dem X eine ihren atheistischen Vorstellungen gemäße Erziehung angedeihen zu lassen und ihn von religi-ösen Einflüssen fernzuhalten sowie den Rechten anderer Eltern, ihre Kindern religiös zu erziehen. (Vgl. BVerfGE 41, 29 (49); sowie VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Der hierdurch angelegte und im Fall zum Ausdruck gekommene Konflikt zwischen verschie-denen Trägern eines vorbehaltlos gewährten Grundrechts ist nach dem Grundsatz der prak-tischen Konkordanz zu lösen (BVerfGE 93, 1 (21)). Exkurs: Die praktische Konkordanz Soweit durch verfassungsimmanente Schranken andere Verfassungsgüter durch ein grund-rechtlich geschütztes Verhalten beeinträchtigt werden, muss im Wege der praktischen Kon-kordanz ein Ausgleich zwischen dem Grundrecht und dem anderen Verfassungsgut / Grund-recht gefunden werden. Es darf nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet werden (VG Gießen NJW 2003, 1265). Die gegenläufigen Interessen sind vielmehr gegeneinander abzuwägen. Dabei müssen die betroffenen Grundrechte „im Konfliktfall nach Möglichkeit zum Ausgleich gebracht werden; lässt sich dies nicht erreichen, so ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und der besonderen Umstände des Einzelfalles zu entscheiden, welches Interesse zurückzutreten hat“ (BVerfGE 67, 213 (228)). Notwendig ist „ein Ausgleich der gegenläufigen ... Interessen mit dem Ziel ihrer Optimie-rung“. (BVerfGE 81, 278 (292); 93, 1 (21)). Die Freiheit des einen wie des anderen muss in möglichst weitem Umfang gewahrt bleiben. Eine Ausnahme gilt für die Menschenwürdegarantie; dies folgt aus dem Wort „unantastbar“ in Art. 1 I GG. Der Grundsatz der praktischen Konkordanz fordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal behauptet wird, sondern alle einen möglichst scho-nenden Ausgleich erfahren (BVerfGE 93, 1 (21) m.w.N.; VG Gießen NJW 2003, 1265 und 1266). D.h. sie müssen im Rahmen der Abwägung zu einer möglichst optimalen Entfaltung im Einzelfall gebracht werden (Kästner / Anke JuS 1996, 719 (723)). Dieser Ausgleich muss unter Berücksichtigung des Toleranzgebotes erfolgen (BVerfGE 52, 223 (247)). Wie der Staat im übrigen diesen Ausgleich vornimmt, ist seiner freien Gestaltung anheimgestellt (BVerfGE 52, 223 (242)). Zwischen dem Grundrecht des Art. 4 I, II GG und den kollidierenden Verfassungsgütern muss also eine Abwägung stattfinden.

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Für die Konfliktlösung von Bedeutung ist, dass die Inanspruchnahme der Glaubensfreiheit Rücksichtnahme auf gegenläufige Glaubensbetätigungen verlangt (Kästner / Anke JuS 1996, 719 (723)). Ausgehend von der Rechtsprechung des BVerfG hat der Einzelne in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt insoweit kein Recht darauf, von frem-den Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben. (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Denn angesichts der pluralistischen Prägung der Gesellschaft kann der Staat nicht allen Wün-schen von Kindern und Eltern Rechnung tragen (Kästner / Anke JuS 1996, 719 (723)). Damit ist die Einführung christlicher Bezüge in Lebensbereichen, die vom Staat in Vorsorge genommen worden sind, nicht schlechthin verboten, mag auch die Minderheit der Erzie-hungsberechtigten, die bei der Erziehung ihrer Kinder in dieser Einrichtung, wie hier einem öffentlichen Kindergarten, nicht ausweichen kann, keine religiöse Erziehung wünschen. (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Wesentlich ist jedoch, dass hierbei der „ethische Standard“ des Grundgesetzes, die Offenheit gegenüber dem Pluralismus weltanschaulich-religiöser Anschauungen angesichts eines Men-schenbildes ist, das von der Würde des Menschen und der freien Entfaltung der Persönlichkeit in Selbstbestimmung und Eigenverantwortung bestimmt ist, gewahrt wird. Denn nur in dieser Offenheit bewahrt der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschau-liche Neutralität. (Vgl. BVerfGE 41, 29 (50)) Dieser Grundsatz staatlicher Neutralität gegenüber unterschiedlichen Religionen und Be-kenntnissen folgt aus der Glaubensfreiheit des Art. 4 I, II GG. Art. 4 I, II GG entfaltet seine freiheitssichernde Wirkung gerade in Lebensbereichen, die nicht der gesellschaftlichen Selbstorganisation überlassen, sondern vom Staat in Vorsorge genommen worden sind. Dabei beschränkt sich Art. 4 I, II GG allerdings nicht darauf, dem Staat eine Einmischung in Glau-bensüberzeugungen, -handlungen und -darstellungen Einzelner oder religiöser Gemeinschaf-ten zu verwehren. Er erlegt ihm vielmehr auch die Pflicht auf, ihnen Betätigungsraum zu si-chern, in dem sich die Persönlichkeit - geschützt vor Angriffen oder Behinderungen von An-hängern anderer Glaubensrichtungen oder konkurrierender Religionsgruppen - auf weltan-schaulich-religiösem Gebiet entfalten kann. Art. 4 I, II GG verleiht dem Einzelnen und den religiösen Gemeinschaften aber grundsätzlich keinen Anspruch darauf, ihrer Glaubensüber-zeugung mit staatlicher Unterstützung Ausdruck zu verleihen (BVerfGE 93, 1 (16); VG Gie-ßen NJW 2003, 1265 (1266)). Hier besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Begehren der E dem X eine ihren atheis-tischen Vorstellungen gemäße Erziehung angedeihen zu lassen und ihn von religiösen Ein-flüssen fernzuhalten sowie den Rechten anderer Eltern, ihre Kindern religiös zu erziehen. (Vgl. BVerfGE 41, 29 (49); sowie VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Die Ausschaltung aller religiösen Bezüge würde diese bestehenden Spannungen und Gegensätze nicht neutralisieren, sondern diejenigen Eltern in ihren Grundrechten benachteiligen, die eine christliche Erzie-hung ihrer Kinder wünschen. (Vgl. BVerfGE 41, 29 (49f.)) Ebensowenig lässt sich der hieraus entstehende Konflikt nach dem Mehrheitsprinzip lösen, denn gerade das Grundrecht der Glaubensfreiheit bezweckt in besonderem Maße den Schutz von Minderheiten. (BVerfGE 93, 1 (24)). Entscheidend muss insoweit vielmehr das Prinzip der Freiwilligkeit sein (VG Gießen NJW 2003, 1265 und 1266). Soweit Raum belassen ist, dass Träger des Grundrechts aus Art. 4 I, II

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GG auch innerhalb einer staatlichen Institution ihre Glaubensüberzeugungen betätigten, müs-se dies „Andersdenkenden zumutbare, nicht diskriminierende Ausweichmöglichkeiten las-sen“. (BVerfGE 52, 223 (241); 93, 1 (24); VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Nur in einem solchen Fall völliger Freiwilligkeit der Teilnahme hat das BVerfG keine verfassungsrechtli-chen Bedenken gegen ein solches Gebet (vgl. BVerfGE 52, 223 (241)). Hier wird das Prinzip der Freiwilligkeit gewahrt. Denn die Kinder sind den Tischgebeten nicht ohne Ausweichmöglichkeit ausgesetzt. Dies aus zweierlei Gründen: Auch wenn Kinder gemäß § 24 SGB VIII vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz haben, so ist der Besuch des Kin-dergartens als solcher gleichwohl freiwillig (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267)) Des weiteren ist es X, worauf im Sachverhalt hingewiesen wurde, freigestellt am Tischgebet teilzunehmen. (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267)) Er kann dem Gebet auch in zumutbarer Weise ausweichen. Wie im Sachverhalt geschildert, erfolgt die Vormittagsgestaltung derge-stalt, dass sich die Kinder bis gegen 10 Uhr in seiner sog. Freispielphase befinden. Hieran schließt sich das gemeinsame Frühstück an. X bleibt es überlassen, an dem vor dem Einneh-men der Mahlzeit stattfindenden Tischgebet teilzunehmen oder nicht. So kann er etwa wäh-rend des Gebetes den Raum verlassen oder die Freispielphase kann - laut Sachverhalt - so organisiert werden, dass sich eine Erzieherin des X annimmt und erst dann den Gruppenraum mit ihm betritt, wenn das Tischgebet bereits gesprochen wurde. [Dies muss X allerdings von seinen Eltern vermittelt werden.] (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267)) Ebenso könnte X erst nach dem Gebet / der gemeinsamen Mahlzeit oder nur Halbtags und zwar nur Nachmittags den Kindergarten besuchen. Zwar heben diese Ausweichmöglichkeiten X gegenüber den betenden Kindern in seinem Verhalten heraus; er verhält sich sichtbar anders als die anderen Kinder. Diese Heraushebung könnte für X unzumutbar sein, wenn sie ihn zwangsläufig in eine Außenseiterrolle bringt und ihn gegenüber den anderen Kindergartenkindern diskriminieren würde (vgl. BVerfGE 52, 223 (248.); VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267)). Insofern ist zu berücksichtigen, dass die Stellung eines Kindergartenkindes in der Gruppengemeinschaft eine andere, weit schwierigere ist als die des erwachsenen Bürgers, der in der Öffentlichkeit durch die Nichtteilnahme an bestimm-ten Veranstaltungen seine abweichende Überzeugung offenbart (vgl. BVerfGE 52, 223 (248f.); VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267)). Insbesondere wird das Kindergartenkind noch kaum zu kritischer Selbstbehauptung seiner eigenen Position gegenüber seiner Umgebung in der Lage sein; im allgemeinen wird es vielmehr in der Frage des Gebetes in einen nicht von ihm selbst, sondern von seinen Erziehungsberechtigten einerseits, den Eltern anderer Kinder oder den Erziehern andererseits getragenen Konflikt gestellt (vgl. BVerfGE 52, 223 (249); VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267)). Gleichwohl drängt das Ausweichen vor dem Tischgebet X nicht in eine Außenseiterposition. Das Tischgebet hält sich nach Dauer (ca. 5-15 Sekunden) und Häufigkeit (einmal während des Kindergartentages) in angemessenen Grenzen. Desweiteren sind die Erziehungsberechtig-ten über das Kindergartenkonzept, welches ausdrücklich auch die religiöse Erziehung und insbesondere das Tischgebet benennt, informiert worden. (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267); allgemein zu diesen Anforderungen BVerfGE 52, 223 (249)). Zudem hat auch ein Kind, das nicht am Gebet teilnehmen will oder auf Geheiß seiner Eltern nicht teilnehmen soll, Duldsamkeit gegenüber dem Interesse der anderen Kinder und ihrer Eltern an der Vornahme des Gebetes und damit gegenüber deren Religionsausübung zu ler-nen. Er darf sich nicht deswegen zurückgesetzt fühlen, weil die anderen Kinder eine Bekennt-nishandlung vornehmen, von der er sich ausschließen will oder soll (vgl. BVerfGE 52, 223 (251)). Die (restliche) Sonderstellung, die ihm aufgrund der Nichtteilnahme verbleibt, wird es ertra-gen müssen und können, denn ihm bleibt diese Stellung auch außerhalb des Kindergartens bei

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anderen Gelegenheiten nicht erspart. So etwa, wenn es später die Schule besucht und nicht wie die (meisten) anderen Kinder am Religionsunterricht teilnimmt (vgl. auch BVerfGE 52, 223 (252)). Desweiteren sind - laut Sachverhalt - die praktizierten Tischgebete allgemein gehalten und entsprechend nicht Ausdruck des Bekennens eines bestimmten, konfessionell gebundenen Glaubens im Rahmen der jeweils festgelegten Glaubenslehren, gleichwohl sollen sie aber einen Akt religiösen Bekennens, nämlich die Anrufung Gottes aus christlichem Glauben her-aus, darstellen. Insofern sind sie eine religiöse Übung, an der teilzunehmen gemäß Art. 4 I, II GG und Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 IV WRV niemand verpflichtet ist. (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Sie beziehen sich insofern in erster Linie auf die Anerkennung des prä-genden Kultur- und Bildungsfaktors, wie er sich in der abendländischen Geschichte herausge-bildet hat, nicht auf die Glaubenswahrheit und sind damit auch gegenüber dem Nichtchristen durch das Fortwirken geschichtlicher Gegebenheiten legitimiert. (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1267); BVerfGE ) 41, 29 (52); 52, 223 (237); 93, 1 (23)) Zugleich wahrt dies auch den Gedanken der Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Deren Konfrontation mit einem Weltbild, in dem die prägende Kraft christlichen Denkens bejaht wird, führt jedenfalls solange nicht zu einer diskriminierenden Abwertung der dem Christen-tum nicht verbundenen Minderheiten und ihrer Anschauungen, als es hierbei nicht um den Absolutheitsanspruch von Glaubenswahrheiten, sondern um das Bestreben nach Verwirkli-chung der autonomen Persönlichkeit gemäß der Grundentscheidung des Art. 4 I, II GG geht. (Vgl. BVerfGE 41, 29 (52); 52, 223 (237); 93,1 (23)) Anhaltspunkte dafür, dass der Kindergarten hier zu religiös-weltanschaulicher Indoktrination mißbraucht und so das Toleranzgebot mißachtet werden soll, bestehen nicht. Eine Ausdehnung des Rechts auf Schweigen, das nicht erst durch den Zwang, das zu offenba-ren, was man selbst glaubt oder denkt, sondern schon durch die Kundgabe einer positiven oder negativen Einstellung zum bekenntnisgeprägten Verhalten anderer verletzt würde, ist dagegen vom Grundrecht der negativen Bekenntnisfreiheit nicht gedeckt. Denn dann würde diesem Recht auf Schweigen der absolute Vorrang vor der Religionsausübung anderer gege-ben werden (vgl. zum „Schulgebet“ BVerfGE 52, 223 (245f., 247)). (VG Gießen NJW 2003, 1265 (1266)) Dahinter steht der Gedanke, dass die Freiheit, selbst zu entscheiden, ob man etwa an einer religiösen Übung teilnehmen will, voraussetzt, dass überhaupt solche religiösen Übungen stattfinden. Durch die Ausübung des Grundrechts auf Nichtteilnahme offenbart der Betroffene zwangsläufig, dass er mit der Überzeugung der anderen nicht übereinstimmt. Die Verfassung setzt in diesem Falle für die Ausübung des Verweigerungsrechts gerade die Of-fenbarung der Überzeugung voraus. (Vgl. BVerfGE 52, 223 (246) Dementsprechend trägt die im Sachverhalt geschilderte Umsetzung des religionspädagogi-schen Konzepts im Kindergarten den verfassungsrechtlichen Anforderungen ausreichend Rechnung. Die Abwägung der kollidierenden Güter führt dazu, dass den gegenläufigen Inte-ressen durch die bestehende Praxis hinreichend Rechnung getragen wird. Die grundgesetzlich verbürgten Freiheiten der Erzieherinnen sowie der Eltern und Kinder, die die Berücksichti-gung christlicher Elemente wünschen, werden ebenso gewahrt, wie Rücksicht auf die von den E vorgenommene atheistische Erziehung des X und deren Wunsch nach einer Verschonung des X von christlichen Glaubensmanifestationen genommen wird, indem ihm die Teilnahem freigestellt ist und Ausweichmöglichkeiten bestehen. C. Gesamtergebnis

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Die Verfassungsbeschwerde der E hat Aussicht auf Erfolg, soweit sie sich auf eine Verletzung des Art. 19 IV GG berufen; soweit sie eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 6 II i.V.m. Art. 4 I, II GG geltend machen, ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet. Wesentliche Entscheidungen: • BVerfGE 52, 223 (Schulgebet) • BVerfGE 93, 1 (Kruzifix) EXKURS: Näher würde es liegen, wenn die E angesichts der Eilbedürftigkeit beim BVerfG einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellen würden. Auf die Gründe, wieso gleichwohl oben eine Verfassungsbeschwerde zu prüfen war, wurde im Repetitorium hingewiesen. Einstweilige Anordnung gemäß § 32 I BVerfGG Die E könnten, statt eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, beim Bundesverfassungsgericht auch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 32 I BVerfGG stellen. I. Zulässigkeit 1. Statthaftigkeit: Zuständigkeit des BVerfG im Hauptsacheverfahren Die einstweilige Anordnung ist in allen Verfahrensarten vor dem BVerfG statthaft. Voraus-setzung ist allerdings, dass das BVerfG überhaupt zur Entscheidung über den Streitfall beru-fen ist. Rechtsfragen, die wegen des Enumerationsprinzips in Art. 93 GG, § 13 BVerfGG nicht im Hauptsacheverfahren vor das BVerfG gebracht werden können, kann das BVerfG auch nicht im Wege einer einstweiligen Anordnung vorläufig regeln. (Robbers, a.a.O., S. 90; Schlaich / Korioth, a.a.O., Rdnr. 452) Gegen die endgültige Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzes ist seitens der E gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90ff. BVerfGG eine Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG statthaft, so dass auch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung statthaft ist. Die Statthaftigkeit der Verfassungsbeschwerde folgt aus der Tatsache, dass E gerade durch die Eilentscheidungen möglicherweise in ihren Grundrechten aus Art. 19 IV GG sowie Art. 6 II i.V.m. Art. 4 I, II GG verletzt werden. 2. Antrag (§ 23 I 1 BVerfGG) Die einstweilige Anordnung wird nach § 23 I 1 BVerfGG, der für alle Verfahren vor dem BVerfG gilt, grundsätzlich auf Antrag erlassen. (Lechner / Zuck, a.a.O., § 23, Rdnr. 1; Um-bach / Clemens - Berkemann, BVerfGG, § 32, Rdnr. 47; Robbers, a.a.O., S. 91) a) Antragsteller Antragsteller kann jedermann sein, der an dem Hauptsacheverfahren beteiligt ist oder, wenn es erst noch anhängig zu machen ist, beteiligt sein kann. (Robbers, a.a.O., S. 91)

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Nach Art. 93 I Nr. 4a GG, § 90 I BVerfGG sind die E beschwerdefähig, weil sie - wie oben aufgezeigt - Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde sein können. b) Isolierter Eilantrag Die E sind nicht verpflichtet zunächst das Hauptsacheverfahren einzuleiten, vielmehr können sie sofort einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung stellen (sog. isolierter Eilan-trag). Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist also auch dann zulässig, wenn noch kein Hauptsacheverfahren anhängig gemacht wurde. (Umbach / Clemens – Berkemann, BVerfGG, § 32, Rdnr. 56; Pestalozza, a.a.O., § 18, Rdnr. 5; Maurer, Staatsrecht I, 3. Auflage 2003, § 20, Rdnr. 36; Robbers, a.a.O., S. 91; einschränkend Schlaich / Korioth, a.a.O., Rdnr. 451: sofern die Einleitung des Hauptverfahrens mit Sicherheit erwartet werden kann) 3. Keine evidente Unzulässigkeit des Hauptverfahrens Ist von vornherein deutlich, dass ein Verfahren in der Hauptsache unzulässig ist, wird auch der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung als unzulässig abgelehnt werden müs-sen. (Robbers, a.a.O., S. 91) Allerdings muss die Zulässigkeit des Hauptverfahrens nicht um-fassend geklärt werden. Für unzulässig ist der Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz dann zu halten, wenn sich die Unzulässigkeit des Hauptantrages ohne weiteres („offensichtlich“) er-gibt, vor allem wegen Ablaufs der Antragsfrist, Missachtung der notwendigen Formvorschrif-ten oder Unstatthaftigkeit. Sind hingegen eingehendere Überlegungen zur Zulässigkeit des Hauptsacheverfahrens notwendig, wird davon die Zulässigkeit des Verfahrens der einstweili-gen Anordnung nicht berührt. (Benda / Klein, Verfassungsprozeßrecht, 2. Auflage 2001, Rdnr. 1204) Der Sachverhalt bietet vorliegend keine Anhaltspunkte für eine evidente Unzulässigkeit der – in der Hauptsache statthaften - Verfassungsbeschwerde. 4. Keine Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache Aus dem Charakter der einstweiligen Anordnung als Entscheidung zur vorläufigen Sicherung und Regelung folgt, dass in diesem Verfahren jedenfalls grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorweggenommen werden darf. Nur in Fällen, in denen die Hauptsache-entscheidung zu spät käme und dem Antragsteller in anderer Weise kein ausreichender Rechtsschutz gewährt werden kann, ist eine Ausnahme zu machen. (BVerfGE 34, 160 (162); BVerfGE 67, 149 (151); Robbers, a.a.O., S. 91f.; Schlaich / Korioth, a.a.O., Rdnr. 452; Um-bach / Clemens - Berkemann, BVerfGG, § 32, Rdnr. 95ff.) Mit der angestrebten Entscheidung des BVerfG, das Tischgebet zu untersagen, wird die Hauptsache nur bedingt vorweggenommen. Zunächst stellt dies eine nur vorläufige Regelung bis zur Entscheidung in der Hauptsache dar. Soweit allerdings die Hauptsacheentscheidung erst dann ergehen sollte, wenn X bereits die Schule besucht, ist sie für seine Kindergarten-gruppe gleichbedeutend mit einer endgültigen Entscheidung. Gleichwohl ist der Antrag zuläs-sig, weil eine Hauptsacheentscheidung in Anbetracht der Tatsache, dass der Kindergartenbe-such des X in weniger als einem Monat beginnen soll, nicht mehr ergehen kann. Die Frage der Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung kann mit Pestalozza, a.a.O., § 18, Rdnr. 11 auch im Prüfungspunkt „Rechtsschutzbedürfnis“ erörtert werden. 5. Rechtsschutzbedürfnis Der Antragsteller muss ein besonderes, auf den Erlass der einstweiligen Anordnung bezoge-nes, Rechtsschutzbedürfnis haben. Die vorläufige Entscheidung des BVerfG muss erforder-lich und geeignet sein, seine rechtlich geschützten Interessen zu wahren. Daran fehlt es, wenn die beschwerende fachgerichtliche Entscheidung noch nicht ergangen ist oder wenn die Ent-

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scheidung in der Hauptsache rechtzeitig käme oder der Antragsteller durch eigene zumutbare Maßnahmen sein Ziel erreichen könnte. (Robbers, a.a.O., S. 92) Die E haben sowohl die Möglichkeit einer einvernehmlichen Lösung mit dem Bürgermeister, als auch den Rechtsweg im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, ausgeschöpft. Eine Ent-scheidung in der Hauptsache durch die Verwaltungsgerichtsbarkeit wird nicht mehr rechtzei-tig vor dem Kindergartenbesuch ergehen, weil diese teilweise die Eilbedürftigkeit des Anlie-gens verneint haben und in der Folge zu erwarten steht, dass sie auch das Rechtsschutzbe-dürfnis für eine bereits jetzt einzureichende Klage im Hauptsacheverfahren verneinen werden. Die E können ihre in Art. 6 II i.V.m. Art. 4 I, II GG garantierte elterliche Erziehungsfreiheit nicht anders als durch eine umgehende Entscheidung des BVerfG im Verfahren des einstwei-ligen Rechtsschutzes durchsetzen, so dass das Rechtsschutzbedürfnis zu bejahen ist. 6. Schriftform (§ 23 I 1 BVerfGG) Die Schriftform des § 23 I 1 BVerfGG muss von E bei der Antragstellung im Verfahren der einstweiligen Anordnung nach § 32 I BVerfGG beachtet werden. (Maurer, a.a.O., § 20, Rdnr. 36; Pestalozza, a.a.O., § 18, Rdnr. 4) 7. Zwischenergebnis Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wäre zulässig. II. Begründetheit Nach § 32 I BVerfGG kann eine einstweilige Anordnung erlassen werden, wenn sie zur Ab-wehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wich-tigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Dabei ist zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund zu unterscheiden. Der Antrag von E auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet, wenn ein Anordnungsan-spruch gegeben ist und ein Anordnungsgrund vorliegt. Der Anordnungsanspruch besteht, wenn sich der Antragsteller im Hauptsacheverfahren durchsetzen würde. Erforderlich ist insoweit eine Glaubhaftmachung des Anordnungsan-spruchs. Glaubhaft gemacht ist der Anspruch, wenn die Erfolgsaussichten des Antragstellers überwiegen. (Pestalozza, a.a.O., § 18, Rdnr. 15) Dieses Überwiegen wird im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes summarisch geprüft. Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache bleiben im Grundsatz ausgeblendet. Es geht hier nur um eine vorläufige Regelung, so dass es prinzipiell nicht auf die Verfassungsmäßigkeit oder Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme ankommt. Anders ist es nur, wenn schon vorab die Erfolgsaussichten der Hauptsache mit Sicherheit beurteilt werden können, etwa wenn der - bei Entscheidung vor Anhängigkeit: „gedachte“ - Hauptsacheantrag offen-sichtlich unzulässig oder unbegründet ist. In einem solchen Fall wird die einstweilige Anord-nung abgelehnt, da die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens nicht überwiegen. Ist der Hauptsacheantrag dagegen offensichtlich zulässig und begründet, ergeht die einstweilige Anordnung. (Maurer, a.a.O., § 20, Rdnr. 37; Schlaich / Korioth, a.a.O., Rdnr. 454; Robbers, a.a.O., S. 93; Pestalozza, a.a.O., § 18, Rdnr. 15) Bei offenem Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens ist in der Begründetheitsprüfung mit dem BVerfG folgendermaßen vorzugehen: Es sind die Folgen abzuwägen, die eintreten würden, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Antrag in der Hauptsache aber Erfolg hätte, gegen die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, dem Antrag in der Hauptsache aber der Erfolg zu versagen wäre. (BVerfGE 82, 54 (57)). Das Gericht muss also zwei Prognosen (Hypothesen) anstellen und sie mit ein-

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ander abwägen. Aus diesem Grund wird auch von einer „Doppelhypothese“ gesprochen. (Robbers, a.a.O., S. 93; Maurer, a.a.O., § 20, Rdnr. 38; Schlaich / Korioth, a.a.O., Rdnr. 453) Desweiteren muss - als Anordnungsgrund - die einstweilige Anordnung zur Abwehr schwe-rer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten sein. Das für alle Tatbestandsvoraussetzungen erfor-derliche Gemeinwohlinteresse umfasst auch individuelle Interessen. Sind die Voraussetzun-gen gegeben, muss das Gericht die einstweilige Anordnung erlassen; das „kann“ in § 32 I BVerfGG bezeichnet die Kompetenz des Gerichts und räumt nicht etwa ein Ermessen ein (Robbers, a.a.O., S. 92f.). Bei der weiteren Prüfung von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind die bereits oben dargelegten Argumente einschlägig. Auf sie sei verwiesen.