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DOI: 10.1002/bewi.201301641 Rezensionen Hans Werner Ingensiep, Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart, Stuttgart: Hirzel 2012. 317 S., Ill., geb., e 24,90. ISBN 978-3-7776- 2149-4. Hans Werner Ingensiep unternimmt einen Streif- zug durch die europȨische Kulturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart entlang der Leitfrage „was ist der Mensch“, gespiegelt im (zumeist phi- losophischen) Nachdenken ɒber Affen und Men- schenaffen. Einen so großen Bogen zu schlagen, ist einerseits heikel und andererseits verdienstvoll. Heikel ist es, weil in einer Zeit, in der Fachartikel und Fachbɒcher im Sekundentakt erscheinen, eine weltumfassende enzyklopȨdische Gelehrsamkeit wie etwa zur Zeit der AufklȨrung kaum noch zu er- langen und glaubwɒrdig zu vertreten ist – auch wenn ,die Welt‘ bei so konzipierten Bɒchern hauptsȨchlich aus Europa besteht. Die kurzen Ein- lassungen ɒber postkoloniale Theorie und zum Eurozentrismus wirken angesichts der zahllosen „Eingeborenen“, die das Buch in unterschiedlichen ZusammenhȨngen und ohne Anfɒhrungszeichen bevɆlkern, etwas bemɒht. Diese Terminologie mag man in den Kapiteln zur Vormoderne und zur Frɒ- hen Neuzeit noch als leicht ironisch gemeinte Ƞbernahme der Quellensprache werten, doch selbst die Bɒrgerinnen und Bɒrger von Kamerun werden als „Eingeborene“ tituliert. Das sollte ein Lektorat bemerken – so es eines gibt. Verdienstvoll ist ein solches Unterfangen, weil historisch und thematisch breit angelegte Ƞber- blickswerke gerade heute wichtige und nɒtzliche Pfade bahnen kɆnnen, wo Spezialistentum sich je- dem Blick ɒber das eigene enge Forschungsgebiet hinaus verbietet. Das ist Hans Werner Ingensieps Sache nicht, der als ausgebildeter Biologe und Phi- losoph das Denken ɒber Disziplinengrenzen hin- weg in eigener Person verkɆrpert, in seinen Schrif- ten und VortrȨgen ebenso wie in seinen For- schungsgebieten. Dass es in seinem Werk zum kul- tivierten Affen nicht um Affen geht, sondern um Menschen, schreibt er bereits in den ersten AbsȨt- zen der Einleitung, doch bereichert sein auch zoo- logisches Wissen die einzelnen Kapitel durchgȨn- gig. Allerdings stellt sich die Frage, an wen sich das Buch genau richtet. Fɒr das aus unterschiedlichen Grɒnden an Affen interessierte Publikum ist es dann, wenn es um Spezialfragen der Philosophie, um Zitationskartelle, Referenzen und Verweis- systeme geht, wohl viel zu detailliert und zu spe- ziell, auch wenn in den ersten Kapiteln als Ent- schȨdigung fɒr die eher mɒhsam zu lesenden Pas- sagen im Gang durch die Philosophiegeschichte immer wieder hinreißende – bekannte und weni- ger bekannte – schriftliche und visuelle Quellen ausgebreitet und kenntnisreich kommentiert wer- den. (Dass dabei hȨufig auf Illustrationen und Bil- der aus den zitierten Bɒchern verwiesen wird, die dann leider nicht abgebildet sind, ist stɆrend, aber wohl der Verlagspolitik geschuldet.) Fɒr das Fach- publikum hingegen sind die ɒberaus knappen Dar- stellungen zur Philosophiegeschichte und die das Buch durchziehenden Kurzexkurse ɒber einzelne Philosophen eher unbefriedigend. Im Kapitel ɒber Philosophische Anthropologie werden zum Bei- spiel nacheinander Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen auf einigen wenigen Seiten ab- gehandelt, dann folgt als weiterer Unterpunkt die „Kulturphilosophie“, und hier wird Albert Schweitzer „als einziger Philosoph, der auf Men- schenaffen in deren Heimatland traf und sie hu- man behandelte“ (S. 211) eingefɒhrt. Was aber hat Schweitzers Fɒrsorge fɒr verletzte Affen in Lambarene mit Plessner zu tun? Und was bedeu- ten die kurzen Randbemerkungen ɒber die Kritik an Schweitzer als „irrationale[m] Biozentriker“ (S. 211)? Betitelt ist das gesamte Kapitel „Schimpansen auf dem Weg zu Intelligenz und KreativitȨt“, und es beginnt mit der hochspannenden Schilderung von Wolfgang KɆhlers Affenstation auf Teneriffa (1914 bis 1920) und endet mit „Apestract“, den Produkten malender Affen im Zoo, die besonders in den 1960er Jahren Furore machten. Dass „zum komplexen Prozess der Kultivierung von Men- schenaffen im 20. Jahrhundert“ aber auch ihre Ver- nutzung als Labortiere, ihre Dressur und ihr Ein- satz als Schauspieler und Schausteller gehɆrte, dass sie Bier trinkend, rauchend und Schlittschuh lau- fend das Publikum amɒsierten, wird in diesem, das kurze 20. Jahrhundert umspannenden Kapitel nicht weiter erɆrtert. Das mag an der Vorentschei- dung des Autors liegen, die Affenfragen der jewei- ligen Epochen nicht in einem historischen Ge- samtzusammenhang zu analysieren. Vielmehr 260 i 2013 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 36 (2013) 260–274 www.bwg.wiley-vch.de

Rezension: Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart von Hans Werner Ingensiep

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Page 1: Rezension: Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte und Gegenwart von Hans Werner Ingensiep

DOI: 10.1002/bewi.201301641

Rezensionen

Hans Werner Ingensiep, Der kultivierte Affe. Philosophie, Geschichte undGegenwart, Stuttgart: Hirzel 2012. 317 S., Ill., geb., e 24,90. ISBN 978-3-7776-2149-4.

Hans Werner Ingensiep unternimmt einen Streif-zug durch die europ�ische Kulturgeschichte vonder Antike bis zur Gegenwart entlang der Leitfrage„was ist der Mensch“, gespiegelt im (zumeist phi-losophischen) Nachdenken �ber Affen und Men-schenaffen. Einen so großen Bogen zu schlagen, isteinerseits heikel und andererseits verdienstvoll.Heikel ist es, weil in einer Zeit, in der Fachartikelund Fachb�cher im Sekundentakt erscheinen, eineweltumfassende enzyklop�dische Gelehrsamkeitwie etwa zur Zeit der Aufkl�rung kaum noch zu er-langen und glaubw�rdig zu vertreten ist – auchwenn ,die Welt‘ bei so konzipierten B�chernhaupts�chlich aus Europa besteht. Die kurzen Ein-lassungen �ber postkoloniale Theorie und zumEurozentrismus wirken angesichts der zahllosen„Eingeborenen“, die das Buch in unterschiedlichenZusammenh�ngen und ohne Anf�hrungszeichenbev�lkern, etwas bem�ht. Diese Terminologie magman in den Kapiteln zur Vormoderne und zur Fr�-hen Neuzeit noch als leicht ironisch gemeinte�bernahme der Quellensprache werten, dochselbst die B�rgerinnen und B�rger von Kamerunwerden als „Eingeborene“ tituliert. Das sollte einLektorat bemerken – so es eines gibt.

Verdienstvoll ist ein solches Unterfangen, weilhistorisch und thematisch breit angelegte �ber-blickswerke gerade heute wichtige und n�tzlichePfade bahnen k�nnen, wo Spezialistentum sich je-dem Blick �ber das eigene enge Forschungsgebiethinaus verbietet. Das ist Hans Werner IngensiepsSache nicht, der als ausgebildeter Biologe und Phi-losoph das Denken �ber Disziplinengrenzen hin-weg in eigener Person verk�rpert, in seinen Schrif-ten und Vortr�gen ebenso wie in seinen For-schungsgebieten. Dass es in seinem Werk zum kul-tivierten Affen nicht um Affen geht, sondern umMenschen, schreibt er bereits in den ersten Abs�t-zen der Einleitung, doch bereichert sein auch zoo-logisches Wissen die einzelnen Kapitel durchg�n-gig.

Allerdings stellt sich die Frage, an wen sich dasBuch genau richtet. F�r das aus unterschiedlichenGr�nden an Affen interessierte Publikum ist esdann, wenn es um Spezialfragen der Philosophie,um Zitationskartelle, Referenzen und Verweis-

systeme geht, wohl viel zu detailliert und zu spe-ziell, auch wenn in den ersten Kapiteln als Ent-sch�digung f�r die eher m�hsam zu lesenden Pas-sagen im Gang durch die Philosophiegeschichteimmer wieder hinreißende – bekannte und weni-ger bekannte – schriftliche und visuelle Quellenausgebreitet und kenntnisreich kommentiert wer-den. (Dass dabei h�ufig auf Illustrationen und Bil-der aus den zitierten B�chern verwiesen wird, diedann leider nicht abgebildet sind, ist st�rend, aberwohl der Verlagspolitik geschuldet.) F�r das Fach-publikum hingegen sind die �beraus knappen Dar-stellungen zur Philosophiegeschichte und die dasBuch durchziehenden Kurzexkurse �ber einzelnePhilosophen eher unbefriedigend. Im Kapitel �berPhilosophische Anthropologie werden zum Bei-spiel nacheinander Max Scheler, Helmuth Plessnerund Arnold Gehlen auf einigen wenigen Seiten ab-gehandelt, dann folgt als weiterer Unterpunkt die„Kulturphilosophie“, und hier wird AlbertSchweitzer „als einziger Philosoph, der auf Men-schenaffen in deren Heimatland traf und sie hu-man behandelte“ (S. 211) eingef�hrt. Was aber hatSchweitzers F�rsorge f�r verletzte Affen inLambarene mit Plessner zu tun? Und was bedeu-ten die kurzen Randbemerkungen �ber die Kritikan Schweitzer als „irrationale[m] Biozentriker“ (S.211)?

Betitelt ist das gesamte Kapitel „Schimpansenauf dem Weg zu Intelligenz und Kreativit�t“, undes beginnt mit der hochspannenden Schilderungvon Wolfgang K�hlers Affenstation auf Teneriffa(1914 bis 1920) und endet mit „Apestract“, denProdukten malender Affen im Zoo, die besondersin den 1960er Jahren Furore machten. Dass „zumkomplexen Prozess der Kultivierung von Men-schenaffen im 20. Jahrhundert“ aber auch ihre Ver-nutzung als Labortiere, ihre Dressur und ihr Ein-satz als Schauspieler und Schausteller geh�rte, dasssie Bier trinkend, rauchend und Schlittschuh lau-fend das Publikum am�sierten, wird in diesem, daskurze 20. Jahrhundert umspannenden Kapitelnicht weiter er�rtert. Das mag an der Vorentschei-dung des Autors liegen, die Affenfragen der jewei-ligen Epochen nicht in einem historischen Ge-samtzusammenhang zu analysieren. Vielmehr

260 i 2013 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim

Ber. Wissenschaftsgesch. 36 (2013) 260–274 www.bwg.wiley-vch.de

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Rezensionen

Ber. Wissenschaftsgesch. 36 (2013) 260–274 i 2013 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 261

schreibt er in weiten Teilen eine geisteswissen-schaftliche Philosophiegeschichte, bei der nichtnur die Affen bzw. das Nachdenken �ber sie imMittelpunkt stehen, sondern auch gezeigt werdensoll, wie das Wissen �ber Affen (oder jeden ande-ren Gegenstand der Philosophie) hergestellt wird.Auch in philosophischer Hinsicht ist der großeBogen schwer zu schlagen, denn die Frage, wasder Mensch sei, wurde eben nicht immer anhandvon Affen und Menschenaffen verhandelt, wieIngensiep selber schreibt. Und selbst wenn sich diePhilosophen mit dem Verh�ltnis von Mensch undAffe besch�ftigt haben, lassen sich die jeweilsdr�ngenden Fragen der unterschiedlichen Epochenkaum auf dieses eine Thema engf�hren. Allerdingswird, je n�her die Kapitel der Gegenwart r�cken,die Konzentration auf die Philosophie immer wie-der durchbrochen, zum Beispiel wenn es um Ver-haltensforschung geht oder um die Affen in derKunstgeschichte. Selbstverst�ndlich fehlt auch ein

Kapitel �ber Darwin nicht, wobei es ein wenig ir-ritiert, dass wieder einmal zu lesen ist, zu den„Grundelementen von Darwins Lehre“ geh�re dasPostulat der „Abstammung des Menschen vondem ihm nach Owen so �hnlichen n�chsten Affen,dem Gorilla“ (S. 165 f.), obwohl Darwin in DieAbstammung des Menschen und die Zuchtwahl ingeschlechtlicher Beziehung weitaus differenzierterschrieb: „Es ist daher wahrscheinlich, daß Afrikaeinst von nunmehr erloschenen Affen bewohntwar, die mit dem Gorilla und Schimpansen engver-wandt waren; und da diese zwei Arten jetzt desMenschen n�chste Verwandte sind, so ist es wahr-scheinlicher, daß unsere fr�heste Vorfahren aufdem afrikanischen Kontinent lebten, als ander-w�rts“ (Leipzig: Reclam 1894, S. 233). Insgesamtaufgrund der Materialf�lle und der vielen interes-santen Details ein lesenswertes Buch.

Gesine Kr�ger (Z�rich)

DOI: 10.1002/bewi.201301633

Kurt Bayertz, Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens,M�nchen: C.H. Beck 2012. 415 S., 11 Abb., geb., e 26,95. ISBN 978-3-406-63848-0.

Lange Zeit wurde heftig dar�ber gestritten, ob dieSprachf�higkeit oder der Werkzeuggebrauch die,differentia specifica‘ des Menschen sei, das, wasihn vom Tier unterscheidet. Kurt Bayertz hat jetzteine Geschichte des anthropologischen Denkensrekonstruiert, die zum ersten Mal ein scheinbarmarginales Merkmal in den Mittelpunkt der Auf-merksamkeit stellt: den aufrechten Gang. Dabeizeigt sich, dass dieses Kriterium alles andere als ne-bens�chlich gewesen ist. Es ist vielmehr in der Phi-losophie- und in der allgemeineren Geistesge-schichte seit der Antike omnipr�sent.

Geistesgeschichtliche Topoi ver�ndern im Laufeder Zeit ihre Bedeutung, weil sie in je unterschied-lichen Kontexten gebraucht werden. Das machtgenau genommen erst ihre Geschichtsf�higkeitaus, andernfalls w�re es eine Auflistung von Fund-stellen. Bayertz muss also, indem er die Metamor-phosen des Motivs vom aufrechten Gang �berrund 2 500 Jahre verfolgt, immer auch die gesamteAnthropologie, in die es eingebettet ist, miterz�h-len. Und da auch die Anthropologie sich nicht ver-stehen l�sst, ohne nachzuvollziehen, wie die Weltbegriffen worden ist, in der ihr Mensch jeweilslebt, heißt das nichts weniger, als die gleichzeitigeRekonstruktion der Kosmologie insgesamt. Dabeiist es mindestens genauso interessant, wo dasMerkmal bem�ht wird, wie wo es nicht erscheint.

So ist dann auch der Untertitel des Buches, EineGeschichte des anthropologischen Denkens, genauzu lesen: Es ist eine Geschichte ,der‘ Anthropolo-gie insgesamt, aber eine mit einem bestimmten Fo-kus, eben nur ,eine‘ Geschichte dieser Disziplin,andere w�ren m�glich, nicht v�llig andere, aberdoch anders akzentuierte.

Der Antike-Teil beginnt dabei interessanterwei-se mit dem Bekenntnis, dass in dieser Epoche garkein Denken im Sinne dessen, was man sp�ter alsPhilosophische Anthropologie bezeichnet hat,existierte. Nat�rlich gab es eine Theorie dar�ber,was den Menschen ausmache, aber nicht eine, dieim starken Sinne von ihm ausging, sondern eine„Kosmo-Anthropologie: Eine Theorie des Men-schen in seinen kosmischen Bez�gen“ (S. 50). Undder Kosmos wurde als wohlgeordnete, hierarchi-sche Einheit gedacht. Die g�ttlichen Sterne be-wohnten schon bei Platon den ontologisch privile-gierten Ort, die �ußerste Himmelssph�re, standenalso am h�chsten. Der Mensch bildete diese Hier-archie im Kleinen ab; an seiner h�chsten Stelle,dem Kopf, war die der g�ttlichen Sph�re entstam-mende Vernunft beheimatet, thymos, der wenigeredle, in der Brust und die niederen Triebe im Un-terleib. Aufrechten Ganges und erhobenen Haup-tes sollte der Mensch sich zu den G�ttern hinauforientieren. Er „muss seine Seele nach oben rich-