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ECKART WILKENS REZENSION DER SCHRIFT WALTER ZIMMERMANN TONART OHNE ETHOS DER MUSIKFORSCHER MARIUS SCHNEIDER Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, 80 S.

E wilkens, rezension von der schrift tonart ohne ethos über marius schneider

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ECKART WILKENS REZENSION DER SCHRIFT WALTER ZIMMERMANN TONART OHNE ETHOS DER MUSIKFORSCHER MARIUS SCHNEIDER Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, 80 S.

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ECKART WILKENS

REZENSION DER SCHRIFT WALTER ZIMMERMANN TONART OHNE ETHOS DER MUSIKFORSCHER MARIUS SCHNEIDER Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2003, 80 S.

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I 1 Nazi-Zeit und Kriegsjahre haben in Deutschland alles sprachliche Leben zum Stocken gebracht, kulturell und individuell. Besonders davon betroffen ist die Äußerungsart, die nach der Reformation in Deutschland 1517 bis 1918 das vornehmliche Medium des Erlebten war: die Musik. 2 Als ich siebzehn Jahre nach Kriegsende in Köln zu studieren begann, traf ich auf vier Lehrer, an deren Wirken auf mich ich am ehesten zeigen kann, wie es stand: Bernd Alois Zimmermann (1918-1970) artikulierte als Komponist das Erleben der Generation, die den Zweiten Weltkrieg im dritten Lebensjahrzehnt erlebt haben, seine Oper „Die Soldaten“, mit dem Text von Reinhold Michael Lenz von 1776, also vor der Französischen Revolution, türmt das Chaos, schildert den Wahnsinn, zieht das Herz in den Strudel der Zeiten. Katalin Szabados, die Pianistin aus Ungarn, die nach dem Aufstand von 1956 nach Deutschland geflohen war, machte mich mit der Musiktradition vertraut, wie sie in Budapest prägend von Béla Bartók und Zoltán Kodály lebendig war: der Glanz ihrer Mozart-Interpretation, ihre Liebe zur Musik Chopins bestätigten und erweiterten das Fundament des Musikverständnisses. Alphons Silbermann (1909-2000) öffnete mir in seinem Seminar für Musikkritik die Frage, wie Musik denn eigentlich gehört wird und daß es auf die Verbindung durch das Hören auch wirklich ankommt. Marius Schneider (1902-1982) rückte phänomenologische Fragen der Musik in den Vordergrund und begründete mit der Methode der Vergleichenden Musikwissenschaft das Verständnis für die Zusammenhänge zwischen der Musik, die gesungen und gespielt wird, und der langen Tradition der geschriebenen (notierten) Musik. Von diesen vier Lehrern war nur Bernd Alois Zimmermann während der Nazi-Zeit und des Zweiten Weltkriegs ganz im Deutschen Reich: Marius Schneider war 1944 nach Barcelona in Spanien berufen worden und hatte dort die Entdeckungen gemacht, die Thema seines Hauptwerks, seiner noch nicht erschienenen Kosmogonie sind, und Alphons Silbermann floh 1933 nach den Niederlanden und wanderte später nach Australien aus.

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Eine Verbindung zwischen den vier Lehrern, die alle in Köln wirkten, konnte ich nicht ausmachen. Die Neue Musik, der ich mich als Kompositionsstudent zuwandte, kam im Studium der Musikwissenschaft kaum vor. Marius Schneider genoß bei vielen Studenten, die ihn hörten, den Ruf, lebendig, anschaulich und in bisher ungeahnte Sphären des Verstehens leitend zu sprechen, mündlich, ohne schriftliche Vorlage. Und auch die Rundfunkvorträge, die er hielt, hatten begeisterte Resonanz. Wir erlebten ihn als inspirierten Sprecher, bei dem die Einteilung der Welt in geistliche und weltliche Hälfte nicht mehr zählte, sondern das Wort, das gesprochene, das gehörte, zum wichtigsten Phänomen des Lebens wurde. Und hinter dem Wort der Sinn, der vielleicht von den Worten nur gestreift wird. Von den vier Brückenbauern über das Chaos der Nachkriegszeit, die ich erlebte und die zu erleben mir ewig zu Dank ist, wirkte Marius Schneider am deutlichsten orientierend auf mich ein. In den mehr als dreißig Jahren, in denen ich dann an der Volkshochschule Köln öffentlich lehrte, folgte ich seiner Methode. 3 Die Faszination, die von Marius Schneider ausging, erreichte auch die Szene der Neuen Musik in Köln. Ich kann Christoph Caskel namhaft machen, dem ich bei einem Seminar von Marius Schneider erzählte und der darauf zustimmend antworten konnte, weil er ihn auch durch seinen Vater Werner Caskel, Professor für Orientalistik in Köln, schon kannte. Aber Marius Schneider war durch seine Forschungsarbeit und durch die Musikerfahrung den verwirrenden und nur teilweise aufregenden Fragen der Neuen Musik entrückt. Dennoch ist Walter Zimmermann (geboren 1949 in Schwabach/ Mittelfranken), der von 1970 bis 1973 bei Mauricio Kagel studierte, in das Umfeld jener Faszination geraten – freilich zu spät, um Marius Schneider als Lehrer selber zu erleben. Er folgte dem Sog dieser Faszination und wurde tätig, das noch nicht erschienene Hauptwerk Marius Schneiders in die Öffentlichkeit zu bringen, im Übereifer, bevor er es hätte studieren können. 4 So war seine Kenntnis Marius Schneiders zu flüchtig, um dem Einwurf der Musikwissenschaftlerin Ruth Katz an der Hebräischen Universität in Jerusalem, anders als irritiert zu begegnen. Der Einwurf lautete: Marius Schneider, das ist doch der, der Robert Lachmann 1935 einen Brief mit „Heil Hitler“ unterschrieben geschickt hat. Das Gewissen war angesprochen. Und das Gewissen ist wie die Musik der Nerv des von der deutschen Reformation hervorgebrachten Lebens: dem mußte nachgegangen werden.

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II 1 Im siebten Kapitel bei Matthäus heißt es: Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? Also ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt arge Früchte. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Es gehört zu der Zerstörung durch Lug und Trug, Mord und Totschlag, die im Deutschen Reich unter Hitler und in seinem Namen grassierten, daß das in diesen Versen anvertraute Wissen verlorengegangen ist. Verlorengegangen ist das Wissen, daß die Lehre eines Menschen daran zu messen ist, welche Frucht sie in seinem Wirken getragen hat; daß das Leben eines Menschen daran zu messen ist, welche Frucht sie in seiner Lehre getragen hat; und daß beides noch voneinander verschieden ist. Und deshalb geht Walter Zimmermann den Weg, wie so viele Untersuchungen, die zum Beispiel für Musik Verständnis wecken wollen, in dem das Werk (das heißt also die Lehre und das Wirken) aus dem Leben erklärt werden soll. Die Wirkung auf Walter Zimmermann - pure Schwärmerei, hätte Marius Schneider vielleicht dazu gesagt - war nicht stark genug, bei der Lehre nachzugucken, woher sie wohl käme - und die Lehre selbst ist erst gar nicht mit vollem Ernst wahrgenommen. 2 Ich kenne die Versuchung, der eigenen Erfahrung zu mißtrauen, weil schriftliche Zeugnisse auftauchen, die mit dem selbst Erlebten in Mißklang geraten. Und viele Untersuchungen gibt es, die einfach voraussetzen, daß Schriftliches verläßlicher sei als Mündliches, daß Fotografiertes verläßlicher sei als – zum Beispiel in gemalten oder gezeichneten Bildern – Gesehenes. Die Versuchung wird dadurch gesteigert, daß zu der Zerstörung des Vertrauens jener Jahre auch gehört, daß darüber so beharrlich geschwiegen wurde, so daß noch nicht einmal Schriftliches und Mündliches in Widerstreit treten konnten. Deshalb lädt Walter Zimmermann zu einer endlosen Reise des Mißtrauens ein, und sie ist für ihn auch nicht beendet, als er alle zum Zwecke der Gewissenserforschung erhobenen Vorwürfe selbst widerlegt hat.

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3 Ich liste sie hier auf. ERSTER VORWURF: der Titel: Tonart ohne Ethos – das ist die Torsion des Titels Erich von Hornbostels „Tonart und Ethos“ in seinem Beitrag zur Festschrift für Johannes Wolf, Berlin 1929. Der Titel legt den Verdacht nahe, daß Marius Schneider zwar Tonarten untersucht hätte, aber dem Ethos nicht folgte. Es ist das vernichtende Urteil moralischer Art, das der Leser dann in die Worte fassen könnte: Seht, in der Nazizeit hat er die jüdischen Kollegen (Erich von Hornbostel, Robert Lachmann, Curt Sachs) verraten, Robert Lachmann (1892-1939) hat er mit dem Gruß Heil Hitler noch verspottet. Frau Schneider gibt in dem Brief, den sie an Walter Zimmermann schrieb und den er zitiert, ohne ihre Erlaubnis eingeholt zu haben, zu bedenken: Ich weiß, daß mein Mann seinen jüdischen Freunden und Kollegen beigestanden hat, wo er nur konnte. Und vorher: Heil Hitler hat kein Mensch geschrieben außer in ironischer Absicht. Wie naiv muß man eigentlich sein, wenn man daraus Schlüsse auf die Gesinnung eines Menschen zieht? Soviel weiß ich: mein Mann hat immer mit größter Hochachtung und voller Sympathie von Robert Lachmann gesprochen, und die Tatsache, daß er überhaupt einem emigrierten jüdischen Kollegen schrieb, dürfte schon ein Beweis von Mut gewesen sein. Ich kann bestätigen, daß Marius Schneider so von Robert Lachmann gesprochen hat. Wenn Frau Schneider sagt, kein Mensch habe „Heil Hitler“ außer in ironischer Absicht geschrieben, ist das übertrieben – es gab genug, die es auch meinten. Aber das Geschrieben-haben als solches reicht zur Beurteilung nicht aus. Warum ließ sich Walter Zimmermann das nicht gesagt sein und zog seinen Titel zurück? ZWEITER VORWURF: Die Unterschrift Heil Hitler unter einem Brief an Robert Lachmann aus dem Jahre 1935 entlarvt Marius Schneider als Nazi. Frau Birgit Schneider trägt erhellend bei, daß diese bei Strafe einzuhaltende Form behördlicher Schreiben mit dem Inhalt der Schreiben zusammengesehen werden muß. Der Inhalt des Schreibens vom 22.3.1935 im Nachlaß Robert Lachmanns, Hebrew University Jerusalem, ist mit dem Gruß „Heil Hitler“ nicht kompatibel:

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„Die geplante Errichtung eines Phonogramm-Archivs in Jerusalem läge auch in unserem Interesse 1. weil wir dadurch unsere Sammlung im alleinigen Austauschverfahren vergrößern können, ohne dadurch Devisen in irgendeiner Form beanspruchen zu müssen, 2. weil Dr. Lachmann ein sehr erprobter Sachverständiger ist.“ Mit anderen Worten: Marius Schneider möchte Robert Lachmann dabei unterstützen, in Jerusalem die gemeinsame Arbeit fortzusetzen. DRITTER VORWURF: In dem Artikel im MGG hat Marius Schneider sich als persona non grata der Nazis hingestellt, ohne genau zu erzählen, wie verwickelt er doch war. In dem Artikel im MGG Spalte 1904 steht: Schneider, Marius, *1. Juli 1902 in Hagenau (Elsaß). Schneider studierte Philologie und Musikwissenschaft in Straßburg, Paris und Berlin und promovierte 1930 bei Johannes Wolf (Dissertation: Die Ars nova des 14. Jahrhunderts). 1932 wurde er stellvertretender, 1934 endgültiger Leiter des Phonogramm-Archivs der staatlichen Museen in Berlin. 1937 wurde seine Habilitation auf Einspruch des Stabs Rosenberg und der Nationalsozialistischen Studentenschaft an der Universität Berlin rückgängig gemacht. Nach dem Afrikafeldzug wurde er 1944 nach Spanien zur Gründung und Leitung der musikethnologischen Abteilung des Instituto de musicologia in Barcelona beurlaubt. 1947 erhielt er einen Lehrauftrag des Consejo superior de investigaciones cientificas an der dortigen Universität. 1955 erfolgten Habilitation (Geschichte der Mehrstimmigkeit) und Berufung an die Universität Köln für das Fach Musikethnologie. Dieser knappe Lebenslauf – übrigens typisch für den Stil Marius Schneiders – gibt für die von Walter Zimmermann aufgeworfenen Fragen erschöpfend Auskunft und verschweigt gerade nicht die Jahre von 1933 bis 1945, umschreibt auch nicht, sondern nennt für einen Leser die Tatsachen, die für das Verständnis des Forscherlebens wichtig sind. Die Bibliographie ist noch deutlicher:

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Ausbildung als Musikwissenschaftler: Der Hochetus 1928/1929 Die Ars nova des 14. Jahrhunderts in Frankreich und Italien 1931 Zur Satztechnik der Notre-Dame-Schule 1931/1932 Erste Schriften als Musikethnologe: Die Gemeinde der Gogadara in Nova Guinea 1934 GESCHICHTE DER MEHRSTIMMIGKEIT: I Naturvölker II Anfänge in Europa 1934/1935 Der Wechsel der Modalitätsbestimmung 1935 Schriften während der Nazi-Herrschaft in Deutschland: Vom gregorianischen Choral 1936 Ethnologische Musikforschung 1937 Gesänge aus Uganda 1937 Über die Verbreitung afrikanischer Chorformen 1937 Bemerkungen über südamerikanische Panpfeifen 1937 Die musikalischen Beziehungen zwischen Urkulturen, Altpflanzern und Hirtenvölkern 1938 Über die wörtliche und gestaltmäßige Überlieferung wandernder Melodien 1938 Volksdeutsche Lieder aus Argentinien 1939 Kaukasische Parallelen zur europäisch-mittelalterlichen Mehrstimmigkeit 1940 Phonetische und metrische Korrelationen bei gesprochenen und gesungenen Ewe-Texten 1943/1944 Lieder ägyptischer Bauern (Fellachen) 1943 Schriften während der Jahre in Spanien: A proposito del influjo arabe: Ensayo de etnografia músical de la Espana medieval 1946 EL ORIGEN MUSICAL DE LOS ANIMALES-SIMBOLOS EN LA MITOLOGIA Y LA ESCULTURA ANTIGUAS 1946 La danza de espadas y la tarantela 1948 Rekonstruktion des „Comte Arnau“ in J. R. Figueras, El mito de el comte Arnau en la canciôn popular 1948 Tipología musical y literaria de la canción de cuna en Espana 1948 Los canto de lluvia en Espana. Estudio etnologico y comparative sobre la ideología de los ritos de pluviomágia 1949 Schriften während der Zeit bis zur Rückkehr nach Deutschland: Vom ursprünglichen Sinn der Musik 1949 Australien und Austronesien im MGG La relation entre la mélodie et le langage dans la musique chinoise 1950 Cancionero de la provincía de Madrid I-II 1951/1952 Die historischen Grundlagen der musikalischen Symbolik 1951 Ist die vokale Mehrstimmigkeit eine Schöpfung der Altrassen? 1951 Música filipina 1951 Catálogo de los instrumentos musicales „igorrotes“, conservados en el Museo Etnologico de Madrid 1951 Zur Trommelsprache der Duala 1952

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Conbribucion a la música indigena del Matto Grosso (Brasil) 1952 Die Bedeutung der Stimme in den alten Kulturen 1952/1953 Arabischer Einfluß in Spanien? Eine Kritik an der rein historizistischen Kriterienbildung 1953 Existen elementos de música popular en el Cancionero de Palacio? 1953 Zambomba und Pandero, ein Beitrag zu den spanischen Karnevalsbräuchen 1954 Fandango, Flamenco im MGG Le verset 94 de la sourate VI du Coran, étudié en une version populaire de la trois nagamât de tradition hispano-musulmane 1954 SINGENDE STEINE, Rhythmus-Studien an drei katalanischen Kreuzgängen romanischen Stils 1955 Un villancico de A. Mudarra procedente de la música popular granadina 1955 Les fondements intellectuels et psychologiques du chant magique 1952 Schriften während der Zeit in Köln: Entstehung der Tonsysteme 1956 Primitive Musik 1957 Bemerkungen über die spanische Sackpfeife (Festschrift für Hans Mersmann) 1957 Die Musik der Naturvölker (im Lehrbuch für Völkerkunde) 1958 Gestaltimitation als Kompositionsprinzip im Cancionero de Palacio 1958 Prolegomena zu einer Theorie des Rhythmus 1958 L´esprit de la musique et l´origine du symbole 1959 Ein noch heute lebendes Volkslied bei J. Vasquez (1560) 1959 Le rôle de la musique dans la mythologie et les rites des civilisations non européennes 1960 Lieder der Duala1959 Nochmals asiatische Parallelen zur Berbermusik 1960 Zur Bedeutung der Flügel (Festschrift für Otto H. Förster) 1960 Die Musik der Naga 1960 Sociologie et mythologie musicales 1960 Mundorgel im MGG Die musikalischen Grundlagen der Sphärenharmonie 1960 Musik (religionsgeschichtlich) im RGG Studien zur Rhythmik im Cancionero de Palacio (Festschrift H. Anglés) 1958-1961 Klagelieder des Volkes in der italienischen Ars nova 1961 Wurzeln und Anfänge der abendländischen Mehrstimmigkeit 1961 Tone and Tune 1961 Die Modustransformation in einer spanischen Liedgestalt (Festschrift für K. G. Fellerer) 1962 Das gestalttypologische Verfahren in der Melodik des Francesco Ladino 1964 Der Zusammenhang von Melodie und Text im Kultgesang nichtchristlicher Religionen 1963 Le style vocal dans les pays méditerranéens 1963 Raga, Sardana, Saeta, Schwirrholz im MGG La tiérce dans la formation de la gamme 1963 Kriterien zur Melodiegestalt (Festschrift H. Engel) im Druck Die Maquamtechnik in der italienischen ars nova KOSMOGONIE AUF MUSIKALISCHER GRUNDLAGE in Vorbereitung DIE MUSIK AFRIKAS in Vorbereitung

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Tonsysteme im MGG (Ich habe eine Systematik mit den Farben angedeutet: blau: Musik des Mittelalters als Übergang zwischen dem Material der mündlichen und der schriftlichen Überlieferung von Musik rot: Musikethnologisches violett: Vergleichende Musikwissenschaft grün: Studien zur Kosmogonie und der Bedeutung der Musik. Die Titel in Großbuchstaben bezeichnen die Hauptwerke, die vier Epochen des Lehrens bezeichnen: I GESCHICHTE DER MEHRSTIMMIGKEIT 1934/1936 II EL ORIGEN MUSICAL DE LOS ANIMALES-SIMBOLOS EN LA MITOLOGIA Y LA ESCULTURA ANTIGUAS 1946 III SINGENDE STEINE 1955 IV KOSMOGONIE in Vorbereitung) Auffällig ist bei allen Titeln, daß sie von dem Leser verlangen, genau hinzugucken – Marius Schneider nähert sich einer Sache immer von einer genauen Mitteilung über etwas wirklich Vorhandenes her. Die Theoriebildung erwächst aus solcher Beschäftigung am Material – nicht umgekehrt. Wer nun den Blick auf dieses gesamte Lebenswerk nicht wagt, dem entgeht, was jemandem „passiert“ ist, der von den Nazis vertrieben wurde: ihm ist ein neuer Horizont aufgegangen (II-IV). Zu dem Preis der dafür gezahlt wurde, steht im Vorwort zur zweiten Auflage der Geschichte der Mehrstimmigkeit (Tutzing 1969, Einleitung zur zweiten Auflage): „Das Manuskript, das die Mehrstimmigkeit vom 13. bis zum 17. Jahrhundert behandelte, ist verschollen.“ Ja, so läßt sich ohne Spur von Wehleidigkeit ein Verlust für die Musikwissenschaft sagen, der unersetzlich ist. Als einzige Konzession unter dem Druck der Nazis könnte man versucht sein, den Aufsatz zu volksdeutschen Liedern in Argentinien 1939 näher anzuschauen. Auch da macht der Titel schon klar genug, daß der Verfasser nach Vorgefundenem, nicht nach ideologisch Vorgegebenem geht. VIERTER VORWURF: Marius Schneider hatte keine Ahnung von den wirklichen Aufgaben der Musikethnologie und beschränkte sich auf Aufnahmen und deren Vergleich.

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Aus der Bibliographie geht hervor, daß Marius Schneider in vier Richtungen geforscht hat: die Nahtstelle zwischen mündlicher und schriftlicher Tradition aufsuchend (Ars nova, gregorianischer Choral, Landino, Cancionero de Palacio) – Transkribieren und Untersuchen von Aufnahmen außereuropäischer Musik – vergleichende Betrachtung verschiedener Musiktraditionen, um herauszufinden, welche Gesetze das Musizieren hat – die Grundlagen der schriftlichen Traditionen zur Kosmogonie erforschen, um die Gegenwart der dort besprochenen Phänomene zu erweisen und dem Leser als wiederzuentdeckendes Gut des Menschengeschlechts ans Herz zu legen. Mehrfach macht Walter Zimmermann den Vorwurf, diese Art des Forschens käme zu sehr von außen, berücksichtige zu wenig, was die Musizierenden an den jeweiligen Orten selber dazu sagten. In seiner Schrift belegt er aber selber, daß Marius Schneider in Nordafrika jede Gelegenheit benutzte, Aufnahmen zu machen – und das ging doch nicht ohne Kontakt und Gespräch (er konnte Französisch, Spanisch und Arabisch). Die Mitteilung, die Schüler Marius Schneiders hätten nur Aufnahmen bearbeitet und nicht Feldforschung betrieben, ist mit dem Wörtchen „nur“ irreführend. Ich war dabei, als Aufnahmen mit dem iranischen Santurspieler Hushan Ghaffari im Institut gemacht wurden (er studierte Geographie in Köln), habe dann diese Aufnahmen transkribiert, sowie noch Santurstücke eines professionellen Musikers aus Iran, Nasser Rastegar-nejad. Die Aufgabe bestand im Transkribieren und der strukturellen Untersuchung dieser Musik. Gewiß, das war keine Feldforschung – aber war es deswegen weniger Teil vergleichender Musikwissenschaft? Ich jedenfalls habe bei dieser Arbeit so viel über die Gesetzmäßigkeiten musikalischen Vortrags gelernt, wie bei keiner Beschäftigung mit europäischer Musik zuvor. FÜNFTER VORWURF: Die Geschichte der Mehrstimmigkeit von 1934/1935 belegt eindeutig, wie Marius Schneider von rassischen Unterscheidungsmerkmalen besessen war und insofern bestens in die Nazi-Landschaft paßte. Die Musikbeispiele aus dem ersten Band der Geschichte der Mehrstimmigkeit sind eingeteilt in: Primitivste Kulturen (Feuerländer, Andamaner , Wedda)

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Südasien und Ozeanien (Jahai, Kenta, Moni, Sakai, Semai, Süd-Nias, Enggano, Dajak (Borneo), Papua (NW Neu-Guinea), Flores, Ost-Neu-Guinea Bukava, Laewomba, Lavkanu, Sialum v. Quampu, Saleo, Sepikgebiet, S.W. Neu-Guinea Kiwai, St. Matthias, Admiralitätsinseln, Baining, Lamasea, Barrial, Ablingi (S. N. Brit), Mioko, Admiralität Patussi, Ablingi, Nakanai, NW Salomonen, Popoko, Koromida, Oiai, Kongara, Buin, Mogmog, Ifaluk, Salomonen (Rubinan) Samoa (Sawai, Upolu, Samoa, Marquesas) Afrika (Ruanda Babwa, Bakango, Hottentott, Bergdamra, Buschmann, Sandawe, Hindipa, Zeramo, Honde, Dschagga, Nyamwesi, Sukama, Hehe, Buanje, Fipa, Bamanda, Kesi?, Muera, Nicha, Akewa, Nyassa, Sutu, Tengo, Karanga, Makva, Baschlengwe, Jofane, Vandau, Zulu, Bajot, Ewhe, Tikar, Wabali, Bali, Bapyngi, Akunike, Bahutu, Batuhi, Bakongo, Uele, Baluba, Franz. Kongo, Tschissandschi) Nachtrag (Karanga, Marquesas) Die Namen der aufnehmenden Forscher stehen jeweils dabei. Die Einteilung in die vier Kreise ist keine Idee im Sinne des deutschen Idealismus, sondern der Versuch einer aus dem Hören und Betrachten geschöpften Unterscheidung des Vorgefundenen. Jegliche Näherung umfassender Art zu dem hin, was von den Völkern und Stämmen im ganzen zu hören ist, wie in der Geschichte der Mehrstimmigkeit dokumentiert, ist Walter Zimmermann fremd. Er macht es selber deutlich, daß er da einem Vorurteil auf den Leim geht: daß das Wort Rasse schon Übereinstimmung mit der Nazi-Ideologie beinhalte, auch wenn es – ohne zu werten – zur Unterscheidung tatsächlich vorfindlicher Merkmale benutzt wird. SECHSTER VORWURF: Obwohl Marius Schneider kein antisemitischer Satz nachgewiesen werden kann, redet er doch die Sprache biologistischer Einteilungen. S. o. SIEBTER VORWURF: Es ist höchst verdächtig, daß Marius Schneider so viel mit Missionsstationen zusammengearbeitet hat, von denen doch bekannt ist, wie sie die „Eingeborenen“ mißachtet haben. Von einer Mißachtung derer, von denen er Musikaufnahmen hatte, ist mir bei Marius Schneider nichts bekannt. Und auch Walter Zimmermann weiß nichts anderes zu berichten.

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ACHTER VORWURF: Stimmte Marius Schneider etwa in die Meinung ein, der gregorianische Choral sei Fremdgut für Germania, wie es die Nazis verstanden? Das kann Walter Zimmermann nicht belegt finden, im Gegenteil, anerkennend zitiert er aus dem Artikel Vom Gregorianischen Choral von 1936: „Als Haupteigenschaft des gregorianischen Chorals möchte man das wundersame Maßhalten aufführen. Nicht umsonst haben viele alte Theoretiker die Etymologie für modus in moderari gesucht. Der Choral kennt unzählige Mittel des Ausdrucks, aber er wendet sie nur mit großer Zurückhaltung und strenger discretio an. Wer bis in die Mitte des gregorianischen Wesens vorstößt, der weiß, daß dort die Varianten des musikalischen Ausdrucks mit der Genauigkeit eines Seismographen gemessen werden.“ NEUNTER VORWURF: Es sei gar nicht wahr, das die Nazis ihm die Karriere verbaut haben. Das widerlegt ein zitiertes Schreiben des Dekans der Philosophischen Fakultät vom 7.9.1936: „Ich muß im Einvernehmen mit dem Vertreter des NS-Dozentenbundes die Habilitation des Dr. Marianus (sic) Schneider völlig ablehnen. Wie schon seine nationale Zuverlässigkeit in Frage gezogen wird, so gehört er auch heute noch zu den ausgesprochenen Gegnern des Nationalsozialismus. Auf Grund dieser Tatsache sehen sich alte Parteigenossen gezwungen, jeden Verkehr mit ihm abzubrechen. Weder charakterlich noch wissenschaftlich ist ein günstiger Einfluß auf die Studenten von seiner Seite zu erwarten, da auch wissenschaftlich ihm eine völkische deutsche Fragestellung völlig fern lieg. Heil Hitler Er. Laudt.“ ZEHNTER VORWURF: Er hat nur Nutzen davon gehabt, daß Robert Lachmann und Erich von Hornbostel Deutschland verlassen mußten – und deswegen kann er ihre Vertreibung doch nur auch gewollt haben. Mit den zitierten Briefen belegt Walter Zimmermann selbst ausdrücklich, daß Marius Schneider mit beiden Musikforschern verbunden blieb. ELFTER VORWURF: Daß er das Phonogramm-Archiv von Staats wegen nicht an die zurückgeben wollte, die den Grundstock gebildet hatten, Carl Stumpf und Erich von Hornbostel, ist nur ein Zeichen, daß er die Verbissenheit der Nazis teilte. Das Phonogramm-Archiv war rechtmäßig 1922 dem Staat übereignet worden, und Marius Schneider meinte zu Recht, der musikwissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet der vergleichenden

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Musikwissenschaft in Deutschland wäre die Grundlage entzogen worden, wenn es wieder fortgegeben würde. ZWÖLFTER VORWURF: Marius Schneider nutzte die Adresse Prinz-Albrecht-Straße, wo die Gestapo in Berlin war, um verdeckt Missionsstationen als Lieferanten für das Phonogramm-Archiv zu nutzen. Walter Zimmermann suchte bei seiner Recherche mehrere Orte auf, an denen Marius Schneider gewirkt hat, und rechnet dann ihm die Verwirrung zu, die er, wegen der unaufgeklärten Tabuisierung und der Aura des Verbrechens, bei sich selber erlebt hat. Der absurde Kurzschluß in der Formulierung dieses Vorwurfs, die ich als Leser gefunden habe, um das Verworrene deutlich auszusprechen, macht die Verwirrung, die die ganze Schrift bestimmt und durchzieht, am deutlichsten. DREIZEHNTER VORWURF: Schon das Halten eines Vortrags Sprache und Musik bei den Naturvölkern 1938 in Essen ist an sich verdächtig, weil vorher diktiert worden war, er solle einen Vortrag zu dem Thema Grundsätzliches zur Rassenforschung unter besonderer Berücksichtigung der Indogermanenfrage halten, den er dann nicht hielt. Aber gerade das zeigt ja das Ausweichen. VIERZEHNTER VORWURF: Die aus dem Kriege mitgebrachten Schellackplatten waren Kriegsbeute – und von daher ist die ethische Grundlage der Musikforschung mit solchen Aufnahmen zu bezweifeln. Aber Erich von Hornbostel ist gerade durch Aufnahmen in den Kriegsgefangenenlagern vor Berlin zur Vergleichenden Musikwissenschaft gekommen, sie entsprang der Erfahrung des Ersten Weltkriegs! FÜNFZEHNTER VORWURF: Daß Marius Schneider nicht ins Exil ging wie z. B. Julius Lips aus Köln, spricht gegen ihn. Sollten alle in Deutschland Lebenden, die noch arbeiten konnten, Deutschland verlassen? Weiß Walter Zimmermann von den Umständen genug, in denen sich Marius Schneider vor allem durch die Obstruktion der Nazis gehindert sah, läßt er das Vertrauen überhaupt aufkommen, darüber mehr zu erfahren? Julius Lips wurde von den Nazis vertrieben, ich habe seinen Assistenten, der das maßgeblich mit betrieben hat und sein Nachfolger wurde, leider als Professor im Rautenstrauch-Joest Museum in Köln erlebt. Die Worte, die Julius Lips 1949 bei seiner Amtsübernahme als Rektor der Universität in

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Leipzig gesprochen hat, gelten auch für das, was Marius Schneider erlebt und bekämpft hat: „Wohl keine Wissenschaft außer vielleicht der des Rechts — der Wissenschaft des Rechts und dem Geist des Rechts — ist in den politischen Stürmen, die die Naziherrschaft über die Welt brachte, so mißhandelt und gedemütigt, verzerrt und mißbraucht worden wie meine Wissenschaft vom Menschen und seinem Schaffen... Man hat eine Wissenschaft, deren Ziel und Inhalt dazu prädestiniert sind, zu einem Verstehen der Kulturen und Völker maßgebend beizutragen, zu einer der schärfsten Waffen des Angriffskrieges umgegossen und verfälscht. Man hat aus ihr das vergiftete Werkzeug geschmiedet, um politische und menschliche Verbrechen zu rechtfertigen durch eine Indoktrinierung mit der Lehre, daß gewisse Völker nicht Menschenbrüder seien, sondern vielmehr Wesen niederer Art.“ Diese Worte hätte auch Marius Schneider sagen können. Sein Weg war ein anderer: er wurde von seiner Dienststelle, der Abwehr des Oberkommandos der Wehrmacht (wo auch der Märtyrer Helmuth James von Moltke (1907-1945) gewirkt hat, bis er verhaftet wurde) beurlaubt und konnte so einem Ruf nach Spanien folgen – durch die Strapazen während des Afrikafeldzugs gesundheitlich geschwächt, war er zum Wehrdienst nicht mehr fähig. SECHZEHNTER VORWURF: Anträge auf Forschungsmittel, die so tun, als sei die geleistete Arbeit ganz im Sinne Adolf Hitlers und der würde sich schämen, wenn er das Geld nicht dazu gäbe, sind nun so eindeutig pro, daß man nicht mehr dagegen an kann. Walter Zimmermann zitiert aus der Akte Phonogramm-Archiv 1938: „Nachdem mir nun die Herausarbeitung der verschiedenen Kulturtypen gelungen ist, und ich damit die Grundlagen einer ernsten musikalischen Rassenforschung legen konnte, glaube ich mir auf Grund einer geleisteten Arbeit das Recht zu nehmen, Alarm zu schlagen (über diese Grundlagen werde ich auf den Reichsmusiktagen in Düsseldorf berichten). Ich kann es nicht zugeben, daß die Nutznießer dieser langen Vorarbeit die amerikanischen, europäischen und jüdischen Institute sein sollten nur deshalb, weil sie die Mittel haben, um auf meinen Grundlagen weiterzuarbeiten. …. Es gibt kein Institut was, wie das unsere, Musik und Rassenforschung so eng miteinander verbindet und dadurch mehr der kulturellen Problemstellung Adolf Hitlers entspräche. Ich bin daher überzeugt, daß unser Führer, wenn er über die finanzielle Lage eines Instituts, das in so spezifischer Weise zwei wesentliche Funktionen seines Denkens pflegt, unterrichtet wäre, hierfür sofort Abhilfe einsetzen würde. Nachdem uns nun eine große einmalige Hilfe zur Rettung unserer alten indogermanischen Bestände gewährt worden ist, wird die Indogermanenfrage in den nächsten zwei Jahren eine nachhaltige Untersuchung erfahren.“

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Wer genau hört (ernsten musikalischen Rassenforschung, entspräche), spürt die Kritik und den Versuch, mit der Klugheit des Fuchses den Gegner zu überlisten. Wie wenig Aussicht das hatte, geht aus dem Schreiben an das Amt Rosenberg vom 11. Dezember 1943 hervor, das Walter Zimmermann ebenfalls zitiert, es stammt aus dem Kreis um Herbert Gerigk (2. März 1905 in Mannheim - 20. Juni 1996 in Dortmund, deutscher Musikwissenschaftler, einer der hervorstechenden Antisemiten in der Musikwissenschaft: das belegen sein Lexikon der Juden in der Musik und seine Tätigkeit als hoher Offizier im Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg beim Raub von Musikalien vor allem aus dem Besitz verfolgter Juden in den von Deutschland besetzten Ländern im Zweiten Weltkrieg): „An die Partei-Kanzlei München 33. Wir sollten Ihnen bis 1.12. eine Stellungnahme zukommen lassen, ob Marius Schneider zum Kustos am Staatlichen Institut für deutsche Musikforschung in Berlin geeignet sei. Da wir auf verschiedene Anfragen bei Gewährsleuten aus Berlin vermutlich infolge der letzten Angriffe noch keine Antwort haben, können wir auch noch nicht endgültig Stellung nehmen. Wir können Ihnen einstweilen nur sagen, daß die wissenschaftliche Befähigung von Schneider nicht in Abrede gestellt wird, jedoch wird er, soweit wir bis jetzt sehen, als ein lebensfremder Intellektueller betrachtet, der keine Berührungspunkte mit der nationalsozialistischen Weltanschauung hat. Nach uns bereits vorliegenden Unterlagen kommt er als Jugenderzieher und für die Universitätslaufbahn jedenfalls nicht in Frage. Wie weit er zum Kustos geeignet ist, können wir erst nach Beantwortung aller Anfragen Ihnen mitteilen. Immerhin sollte es für Sie auch aufschlußreich sein zu hören, daß Schneider im Jahre 1934 seiner Werke folgendermaßen datiert hat. Berlin, Maria Lichtmeß 1934 und das zweite: Berlin, am Feste Aller Heiligen 1934. Sein Gedanke, der in dem Werk „Geschichte der Mehrstimmigkeit“ ausgesprochen wird, ist, die Frühzeit der europäischen Musik durch Vergleich mit der jetzt in Phonogrammen aufgenommenen Musik der Naturvölker zu erklären. Dieser Gedanke hat immerhin etwas bedenkliches, weil dabei von vornherein der Rassenstandpunkt außer Acht gelassen wurde.“ Dieses klare Votum der Nazi-Behörden belegt die Aussichtslosigkeit selbst solchen Überlistungsversuchs.

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SIEBZEHNTER VORWURF: Daß man einer eifernden Witwe, die zehn Jahre ihres Lebens dafür hergibt, das Hauptwerk ihres verstorbenen Gatten lesbar zu machen, nicht im ganzen trauen darf, weil das zu Witwen gehört, verstünde sich von selbst. Aber es gibt gar keinen Grund, den Aussagen Birgit Schneiders, wie sie referiert werden, nicht zu trauen, gemäß dem Spruch des persischen Dichters Sadi: Wer Dich nicht mag, sieht auch Deine besten Seiten als schwarzes Laster. Wer Dich liebt, der erblickt, und wärest Du voller Laster, nur den einzig guten Fleck und nicht die kleinste Spur Deiner Sünden. Das einzige, was durch den weiteren Gang der Recherche gegenüber der Darstellung Birgit Schneiders gerückt wird, ist die Frage, wann Marius Schneider im Rahmen seiner Tätigkeit bei der Abwehr des OKW nach Nordafrika kam (s.u.). ACHTZEHNTER VORWURF: Daß Marius Schneider auf Briefpapier eines Jules Sussfeld aus Paris etwas notiert hat, kann doch nur heißen, daß er sich als deutscher Wehrmachtssoldat an jüdischem Eigentum vergangen hat. Es ist nicht möglich, diesen Zusammenhang aufzuklären, auch nicht, wer Jules Sussfeld war, welche Bedeutung diese Adresse für Marius Schneider hatte. Die Wahrscheinlichkeit des aufgeworfenen Zusammenhangs ist gering. NEUNZEHNTER VORWURF: Daß bei dem Wiederauftauchen der Bestände des Berliner Phonogram-Archivs aus Leningrad mehr als 1300 Schallplatten mehr dazu gehörten, als bei der letzten Zählung ausgemacht waren, kann nur heißen, daß diese 1300 Schallplatten und mehr Beutegut Marius Schneiders sind, die er sich unrechtmäßig angeeignet hat. Bleibt völlig unbewiesen; daß Marius Schneider dem WDR Schallplatten verkauft hat, muß damit gar nichts zu tun haben. ZWANZIGSTER VORWURF: Die Abwesenheit Marius Schneiders aus Berlin von Februar bis September 1941 legt den Verdacht nahe, daß er sich in Belgien aufgehalten hat und dort an den üblichen Raubzügen wenn nicht gar Erschießungen beteiligt war. Bleibt ebenso unbewiesen; daß er Geld für die Anschaffung von Schallaufnahmen verlangt, weist ja eher in die andere Richtung: Walter Krickeberg schrieb am 5.11.1940, ebenfalls von Walter Zimmermann zitiert: „An den Herrn Generaldirektor der staatlichen Museen (Dr. Kümmel)

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Herr Dr. Schneider ist in der Lage, uns außer den bestellten Büchern noch weitere wertvolle Publikationen aus Paris zu erwerben, wenn weitere 2000 Franc = 100 RM erforderlich sind. Da Herr Major von Eschwege, bereits am kommenden Sonntag nach Paris fährt, bitte ich weiter um die Beschleunigung der Angelegenheit.“ EINUNDZWANZIGSTER VORWURF: Daß Marius Schneider bei der Befreiung Habib Bourguibas beteiligt war (dessen Foto auf dem Schreibtisch in Marquartstein zu sehen war) läßt vermuten, wie eng er mit den Nazi-Behörden in Frankreich zusammengearbeitet hat. Walter Zimmerman weist ausdrücklich darauf hin, daß die sich anschließenden Recherchen nichts mehr mit Schneiders Aktivitäten zu tun haben und also nur atmosphärisch beim Leser eine Verdachtsverbindung auslösen können. ZWEIUNDZWANZIGSTER VORWURF: Daß Marius Schneider 1944 nach Spanien ging und sich so der „Götterdämmerung“ im Deutschen Reich entzog, grenzt an Feigheit und Vaterlandsverrat. Ist nichts als Ressentiment und wird als nichts weiter entlarvt. DREIUNDZWANZIGSTER VORWURF: Daß Marius Schneider 1948 ungerührt von dem Elend, das die Hakenkreuz-Zwölf-Jahre über Deutschland gebracht haben, von der Swastika im Zusammenhang mit dem spanischen Schwertertanz reden kann, beweist seine beispiellose Kälte gegenüber den menschlichen Schicksalen. Diese Kälte belegt (?) Walter Zimmermann andeutend mit der Antwort, die Marius Schneider ihm 1973 auf seine Frage nach Heilen durch Musik gegeben hat: „Sie wagen sich an ein recht kompliziertes Problem. Die Literatur wird Ihnen nicht viel weiter helfen. Viel schwieriger ist es, Klangbeispiele zu finden. Meine eigenen Aufnahmen (auf Folien von 1935) sind nicht mehr brauchbar. Ich habe sie deswegen wegwerfen müssen. Was ich bis jetzt an modernen Versuchen gesehen habe, ist alles recht erbärmlich und dilettantisch. Eben habe ich einen Artikel im Papierkorb wiedergefunden. Titel: Mit Mozart gegen Magengeschwüre. Mit den besten Empfehlungen Ihr Marius Schneider

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P.S. Meine kosmologischen Studien können Ihnen wenig Stütze geben, außer der Tatsache, daß die Zahlen 4, 5 und 9 (= 4+5) und die entsprechenden Metren von großer Bedeutung sind.“ VIERUNDZWANZIGSTER VORWURF: Bei der Lektüre der Kosmogonie kommen doch Bemerkungen zu dem Thema Heilen durch Musik vor – wie schäbig, daß Marius Schneider ihm diese nicht damals zur Verfügung gestellt hat. Man füttert Küken doch nicht mit Nahrung für Hähne. 4 Und noch einen Schritt weiter: Walter Zimmermanns Schrift ist genau datiert: sie setzt mit der Bemerkung von Ruth Katz in Jerusalem im April 1998 ein, sie endet mit dem Brief seines Freundes Hannes Böhringer, der auf den 23. August 1998 datiert ist. Hannes Böhringer hat den Weg Walter Zimmermanns in die Hölle des Redens von sich in der dritten Person - er spricht ja stets von dem Rechercheur, statt zu sagen: ich – gleichsam als Vergilius begleitet. Wie er dazu vorbereitet und bestellt war, mag man aus dem Lebenslauf lesen: 1948 in Hilden bei Düsseldorf geboren, Professor für Philosophie an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Prägend für sein Verständnis der zeitgenössischen Kunst war – nach eigenen Aussagen - seine Zeit als Lehrbeauftragter für Philosophie an der Düsseldorfer Kunstakademie Mitte der siebziger Jahre, unmittelbar nach dem Abgang von Beuys. Danach arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später als Professor in Münster, Berlin, Kassel und seit 1995 in Braunschweig. Von Böhringer erschienen zahlreiche Buchpublikationen wie: Was ist Philosophie? (1993), Auf der Suche nach Einfachheit. Eine Poetik (2000), Auf dem Rücken Amerikas. Eine Mythologie der neuen Welt im Western und Gangsterfilm (1998). Zuletzt veröffentlichte er 2004 den Titel Harte Bank, der Themen zu Kunst, Philosophie und Architektur behandelt. Böhringers Ansatz, in dem sich Alltagsphänomene und Kunstfragen mit klassischen Fragen der Philosophie verbinden wie auch seine an der Umgangssprache orientierte Schreibweise sind unakademisch, ja unkonventionell. Philosophie heißt bei Böhringer immer noch, die Phänomene der Welt (einschließlich der Kunst) als Fragen zu begreifen, denen der Philosoph immer wieder neuen, aktuellen und interessanten Ausdruck verleiht.) Vier Monate hat Walter Zimmermann darauf gewendet, dem Erkenntnisweg aus den Früchten … auszuweichen – und das heißt:

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Er versteht die Wirkung nicht, die Marius Schneider auf die Aura um Mauricio Kagel gehabt hat – er versteht die Lehre Marius Schneiders nicht, weil er sie nur oberflächlich studiert hat – er vergreift sich in fahrlässiger Weise an dem Leben Marius Schneiders, indem er sich flüchtig und distanziert für gut ein Vierteljahr nähert, mit mehr Angst vor dem Namen z. B. der Prinz-Albrecht-Straße in Berlin, dem ehemaligen Sitz der Nazi-Gestapo, als Liebe zu dem Menschen, dem er begegnen könnte, wenn er prüfen würde, wie er der Wirkung und der Lehre vertrauen darf. Und auch Hannes Böhringer, der Walter Zimmermann kräftig in die Schranken weist, gelangt – was Marius Schneider betrifft – nur zu der Weisheit: „Forderst Du eine Identität von Ethik und Ästhetik, eine Einheit von Leben und Werk? Eine moderne totalitäre Diktatur legt unbarmherzig die Risse im Herzen bloß und macht sie oft sogar noch aktenkundig. In den Abgrund des Herzens schaut auch sie nicht. Glücklich, wer im sicheren Hafen klarer Regimegegnerschaft ankerte! – Schneide (Schneider!) Dich bitte nicht von wichtigen Traditionen ab, nur weil sie moralisch mißbraucht worden sind!“ III 1 Tonart ohne Ethos – so heißt die Schrift Walter Zimmermanns. Der Titel enthält schon das Urteil über sie. Seit dem Ersten Weltkrieg spielt die Tonart für die Kompositionen – so heißt es – keine Rolle mehr. Die temperierte Stimmung hat die Tonarten, die Johann Sebastian Bach so stolz als vereinbar in einer einzigen Stimmung in seinem Wohltemperierten Klavier zusammengebracht hatte, so nivelliert, daß sie für das Gehör vom Klang her nicht mehr zu unterscheiden sind. Die Komponisten haben daraus die Konsequenz gezogen und in ihren immer komplizierter werdenden Kadenzen das Empfinden für die Stufenharmonik allmählich aufgehoben, bis Arnold Schönberg mit seiner Kompositionsmethode mit zwölf Tönen – die er übrigens nicht ausführlich begründet und gelehrt hat – die theoretische Grundlage setzte, daß Tonalität und Tonart fortan nicht mehr gelten sollten. Aus der Zwölftonmusik ist nach dem Zweiten Weltkrieg die serielle Kompositionstechnik geworden, der die Vorstellung zugrunde liegt, man könne räumliche Verhältnisse (Intervalle, Schwingungen) auch auf zeitliche Prozesse (Rhythmus, Form) übertragen und anwenden. Diese Musikingenieure erfanden eine solche Wucht gesetzlich geregelter Zwänge,

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daß ein damit operierender Komponist erst bei der Aufführung hören konnte, was wirklich dabei herausgekommen war. Bei den Darmstädter Ferienkursen 1962, an denen ich, angeregt durch Bernd Alois Zimmermann, teilnahm, konnte man erleben, daß Earl Brown (1926-2002) mit der Lossagung von all diesem Regelwerk dasselbe Ergebnis erzielte – freilich mit Musikern, die vorher gründlich die dazu gehörigen musikalischen Attitüden gelernt hatten. Mit der seriellen Musik endete die stilgebende Kraft der abendländischen Musik – sie hat keine Frucht getragen, soweit ich sehe. Bernd Alois Zimmermann versank in tiefe Traurigkeit, als er 1969 bemerkte, wie das Ethos des Berufs Komponist, wie die Gemeinschaft der Künstler zerfledderte (Anlaß waren die blutigen Ritualorgien Otto Mühls in der Tiefgarage am Neumarkt in Köln). Walter Zimmermann, damals zwanzigjährig, traf auf diese Lage der Auflösung und beteiligte sich an den Versuchen, durch Aufmerksamkeit Musik als einfache, verständliche Aktion neu zu finden. Tonart war längst verschwunden. 2 Die Begegnung mit Marius Schneider brachte mich gleich nach dem einschneidenden Erlebnis in Darmstadt 1962 im Herbst, also in meinem zweiten Semester, dazu, für meine kompositorische Arbeit das Hauptaxiom der Neuen Musik nicht mehr gelten zu lassen: Kompatibilität von Zeit und Raum. Mir leuchtete ein, daß es für das Musizieren zwei unerläßlich Voraussetzungen gibt, die nicht aufgegeben werden können: 1. man muß – wie Marius Schneider das sagte – etwas zu sagen haben, 2. man muß den dynamischen Impulsen ihre gestaltende Kraft lassen, wie es vielleicht am deutlichsten in den Artikeln zu Tonalität und Tonsysteme im MGG von Marius Schneider gesagt wird: „Tonalität (Sp. 510): Ursprung und Entwicklung tonaler Strukturen zeigen sich naturgemäß zuerst auf dem Gebiet der Vokalmusik. Aus tonal zunächst nur wenig gebundenen und einfachen Strukturen bildet sich (meist durch hinzutretende analoge Formeln) ein gewisses Empfinden für vielseitigere funktionale Zusammenhänge, die sich allmählich in stereotypen Wendungen kristallisieren. Solche elementaren „Systeme“ beruhen auf einer sehr variablen Weise, die Beziehungen zwischen den jeweils gebrauchten Tönen zu gliedern. Die Zahl, die Art, die Hierarchie und die Stabilität dieser Beziehungen wechseln nicht nur von Kultur zu Kultur, sondern auch je nach der Musikgattung und der Vortragsweise. – Im Bereich der Naturvölkermusik erreichen die Intonationen oft erst im Laufe des Gesanges endgültige Klarheit. Sie werden gewissermaßen erst progressiv ersungen.

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Andere Töne bewahren jedoch dauernd eine gewisse Intonationsbreite, ja sogar ein langsames Sich heranpirschen an die erstrebte Höhe, die leicht als unsichere Intonation bewertet werden könnte. Aus den konstanten Wiederholungen aber läßt sich erkennen, daß dies keine mangelhaften, sondern charakteristische Tongebungen sind. – Die Entstehung der elementaren tonalen Strukturen ist untrennbar mit der Dynamik des Vortrags verbunden. Rezitativisches Singen verharrt oft bei einer sehr rudimentären Gestaltung der tonalen Möglichkeiten, während cantabile Formen meist schon von Anfang an eine größere Zahl differenzierter tonaler Beziehungen entwickeln. Die Hierarchie der Töne hängt eng mit dem rhythmischen Impuls zusammen, der die einzelnen, als Ruhe-, Eck- oder Wendepunkte benutzten Töne funktional auszeichnet und damit alle anderen Stufen in eine bestimmte dynamische Relation zu diesen dominierenden Klängen bringt. Doch kann die Vielzahl der Töne nicht immer als Beweis für ein entwickeltes funktionsreiches Tonalitätsempfinden angeführt werden, weil viele unter ihnen oft nur rhythmischen Wert haben oder so stark miteinander verwandt sind (Konsonanz), daß sie nur verschiedene Ausdrucksformen der gleichen tonalen Funktion sind. Im Fall der sogenannten Fanfarentechnik bilden die meisten Töne mehr eine kreisende als eine funktional fortschreitende Melodie. Eine tiefer greifende Entwicklung und Gliederung der Tonalität entsteht dadurch, daß aus der Vielheit der möglichen tonalen Relationen jeweils ein bestimmter Rahmen von drei Tönen gewählt wird und die anderen Töne (möglichst auch unter sich gegliedert) im Hinblick auf diesen Rahmen mehr oder weniger in den Vordergrund gestellt werden.“ Der neunte der zehn Abschnitte des Artikels Tonalität Sp. 514 lautet: „Die Gestaltungsformen (Raumgestaltungsprinzipien) entspringen dem freien kompositorischen Wurf. Die melodischen Strukturen, in denen sich dieser Wurf niederschlägt, erhärten sich in dem Maße, als die Kollektivität sie akzeptiert und als Tradition (Hörgewohnheit) weiterführt. Meist sind es die Rahmenklänge, die von Anfang an fest intoniert sind, während sich die übrigen Töne nach und nach stabilisieren, soweit es sich nicht um Töne handelt, die grundsätzlich labil intoniert werden. Feste Tonsysteme entstehen erst dort, wo auf Grund einer Musiktheorie die Stufen auf einem Musikinstrument endgültig festgelegt werden. Solche Instrumentalstimmungen sind aber meist in größtem Ausmaß nicht von musikalischen, sondern von kosmologischen, technischen oder physikalisch-philosophischen Gesichtspunkten bestimmt, welche das naturgegebene musikalische Phänomen nachträglich rationalisieren oder irgendeinem außermusikalischen Ordnungsprinzip zu unterwerfen suchen.“ Das sind eben gerade nicht aus kosmologischen, technischen oder physikalisch-philosophischen Gesichtspunkten heraus geschriebene Sätze – sie entspringen einer jahrzehntelangen …Hörarbeit. Wenn die Musik nach den Weltkriegen neu beginnen muß, dann – so fand ich jedenfalls – mit denselben dynamisch bestimmten Vorgängen, wie sie hier beschrieben sind.

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3 In dem Artikel Tonsysteme bestimmt Marius Schneider seinen eigenen Beitrag an einem Punkt sehr genau Sp. 550f.: Bis vor wenigen Jahren pflegte man die Pentatonik aus dem Quintenzirkel abzuleiten (zuletzt Handschin, Toncharakter, 44). Diese Idee, welche Gemeingut der Forschergeneration Helmholtz, Stumpf, Laloy, von Hornbostel war, ist auch von M. Schneider (1934-1937) übernommen, jedoch 1956 (Entwicklung der Tonsysteme, 207) und 1958 (Lehrbuch der Völkerkunde, 91) durch den Begriff der Dynamik und des Melodiemodells, die bei der Bildung größerer Skalen entscheidend mitsprechen, ersetzt worden. Der Irrtum der alten Schule lag darin, daß sie die Frage der Entstehung der Systeme mit dem Mechanismus der funktionellen Beziehungen innerhalb eines fertig ausgebildeten Tonsystems vermengte. Eine andere Betrachtungsweise in der Frage nach der Entstehung solcher System schlägt L. Bárdos (1957, 209) vor, welcher den Quintenzirkel noch in begrenztem Maße gelten läßt. Nach dieser Theorie erhebt das akustische Quintgefühl die am nächsten verwandten Töne aus dem Tonkontinuum der Sprachlaute heraus. Dadurch werden auf Grund eines gefühlsmäßig bestehenden „Quintgitters“ die kontinuierlichen Sprachtöne so ausgewählt, daß sie sich allmählich mit den Tönen des Quintzirkels identifizieren. Auf den eventuellen Zusammenhang mit den Sprachtönen hat auch B. Szabolcsi (1943, 19) aufmerksam gemacht. Eine solche Leiterbildung kann jedoch nur durch sehr klangvolle Sprachen gefördert worden sein. Für konsonanzreiche Idiome dürfte sie kaum in Frage kommen. C. Brailoiu (1953, II, 329), der als erster das Prinzip der Quintengeneration in schroffster Weise abgelehnt hat, erklärt mit Recht, daß jeder Versuch, die Entstehung der innerhalb einer Reihe von drei Quart- oder Quintabständen (c-g-d) eventuell auftretenden Töne (a, e, h, b, f, fis) als eine Oktavversetzung eines weiteren Zirkelschritts zu erklären, eine theoretische Spekulation sei, die in der Praxis keine Bestätigung fand. Dies hindert aber nicht, die funktionellen Beziehungen in einer gegebenen voll entwickelten fünfstufigen Reihe durch ihre Quintrelationen zu erklären. Die radikale Ablehnung der Konsonanztheorie der alten Schule ist auch in der Frage nach der Entstehung insofern übertrieben, als ihre Vertreter nicht nur eine progressive Generationsreihe von Quarten oder Quinten in Betracht zogen, sondern auch an einen Wechsel von Quarten und Quinten dachten. Man kann von f nach c schreiten und von hier aus das g (nicht durch die nächste Quinte mit Oktavtransposition, sondern direkt als eine Unterquartbeziehung zu c) erreichen. Solche Strukturen sind in der Tat sehr häufig.

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Ich zitiere das, um zu zeigen, in welch selbstverständlicher Weise sich Marius Schneider innerhalb der Forscherschar befindet, und zwar eben nicht nur mit den Zeitgenossen, sondern weiter im Gespräch mit den Vorgängern. Das ermöglicht ja auch, daß das Gespräch nicht abbricht – wie sonst allenthalben durch das Einwirken von Lug und Trug, Mord und Totschlag während der Nazi-Zeit -, sondern auch für die Kommenden sich weiter eröffnet. In dem Literaturverzeichnis zu dem Artikel Tonsysteme sind außer M. Schneider genannt: Carl Stumpf, Erich von Hornbostel, M. Courant, A. Z. Idelsohn, A. H. Fox Strangways, H. Riemann, J. Grosset, O. Abraham, E. Fyzee Rahamin, H. G. Framer, Robert Lachmann, R. d´ Erlanger, P. R. Kirby, J. Kunst, N. Peri, M. Bukofzer, H. Husmann, A. Chottin, A. Daniélou, W. Danckert, B. Szabolcsi, C. McPhee, M. Barkechli, A. A. Bake, C. Brailoiu, M. Hodd, K. Reinhard, C. Caughie, J. Chailley. Von den Colloques internationaux du Centre National de la Recherche Scientifique Paris 1963 erfährt man noch die Namen: A. Didier, A. Tomatis, W. Wiora, R. Siohan, R. Tanner, H. Hickmann, A. Machabey, S. El Mahdi, C. Marcel-Dubois, T. v. Khé, E. Costère, F. Canac, A. Schaeffner, G. Rouget, Y Grimaud, C. Regamey, D. Bartha. 4 Wie aber kann die Musik nach den Weltkriegen das Ethos wiedergewinnen? Eugen Rosenstock-Huessy (1888-1973) hat in seiner Soziologie in zwei Bänden, I Die Übermacht der Räume 1956, II Die Vollzahl der Zeiten 1958 von dem Zwölfton des Geistes gesprochen. (Das Konzept des Kreuzes der Wirklichkeit habe ich als methodische Grundlage auch meiner Dissertation bei Marius Schneider zugrundegelegt, er bemerkte dazu: Theoretische Grundlagen solle man danach beurteilen, was sie für die Erkenntnis eines Sache erbringen.) Der Geist wirke in zwölffacher Weise während eines Menschenlebens oder in noch längeren Schritten auf uns ein und verbinde uns mit den Mitmenschen auf je andere Weise. Die zwölf Töne (Soziologie, Band II, S. 57-91) heißen: Heiße, Lies, Diene, Singe – Zweifle, Kritisiere, Protestiere, Harre – Regiere, Lehre, Prophezeie, Stifte. Der Name ruft uns ins Leben, die Schrift verbindet uns mit der ganzen Welt von den ersten Schriftzeugnissen an (dazu zählen bei Rosenstock-Huessy auch die Tätowierungen, die zum Mitglied eines Stammes machten), Dienst an einer Sache führt uns zum erstenmal über uns selber hinaus, wohl noch im

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Schutz eines Dienstherrn, der aber begrenzte Freiheit zu eigener Bewegung gewährt, erst dann wird die Seele frei, ihr ganzes Inneres frei in die Welt hinauszusingen – die Entzweiung der Geschlechter ruft den Zweifel an dem bisher als gültig Erfahrenen existentiell wach, die Kritik zwingt die Haltung des Zweifels zum genauen Prüfen dessen, was weiter mitgenommen werden kann, was nicht - das Ergebnis dieses Prozesses ist der Protest, der mit dem vollen Risiko des Nicht- oder Noch-nicht-gehört-werdens eine Zukunft anhebt, das Abwarten der Anerkennung neuer Erkenntnis fordert ein unabsehbares Ausharren bei dem einmal Gefundenen – erst dann erteilt die Welt die Vollmacht, den neu erschlossenen Weltteil auch zu verwalten, kann die neue Erkenntnis zur Lehre werden, findet sie Verbindung zu dem aktuellen Geschehen, das so gespürt wird, daß weitreichende Folgen schon jetzt ausgesagt werden können – so versteht Rosenstock-Huessy den Ton Prophezeie -, und schließlich darf zum stiftenden Samenkorn werden, was in solcher Weise Frucht geworden ist. 5 Ich führe das so ausführlich an, um sagen zu können, warum die Schrift Walter Zimmermanns keinen der Töne trifft, die aus Zweifel, Kritik, Protest und Ausharren hervorgegangen sind. Sie tritt in dem Ton Zweifle auf. Der ist subjektiv, nimmt keine Rücksicht, hat seine Berechtigung darin, daß eine gequälte Seele, der ein Teil ihrer Orientierung zerbrochen ist, in unaufhörlichem Stöhnen und Seufzen jedenfalls Ausdruck sucht: Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide (Goethe, Tasso, zwischen dem 30. März 1780 und dem 31. Juli 1789 entstanden, gedruckt 1790). Walter Zimmermann macht sich zur Kritik auf, indem er sich im Zweifel in die Rolle des Rechercheurs kleidet. Aber schon darin ist er nicht beharrlich genug. Die Untersuchung geht viel zu rasch, die gezogenen Schlüsse reichen nicht tief, bleiben in vieldeutiger Schwebe. Der Musikwissenschaftler Albrecht Riethmüller aus Berlin (geboren 1947) nimmt die Schrift in das Editionsprogramm auf und läßt ihr durch die Akademie der Wissenschaften und der Literatur den Charakter öffentlichen Protests verleihen, indem sie fünf Jahre nach der Entstehung gedruckt wird. Immerhin fühle ich mich ja auch heute, sieben Jahre später, aufgerufen, dazu eine Entgegnung zu schreiben. Aber ein solcher Prozeß von Zweifle zu Kritisiere zu Protestiere zu Harre setzt voraus, daß der, der ihn erlebt, der Verwandlung durch diese Schritte auch glaubt. Und das traurige Ergebnis der Schrift Tonart ohne Ethos von Walter

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Zimmermann ist, daß er die Kritik so flüchtig unternimmt, daß er den Zweifel nicht loswird. Und daß der Leser nichts als den Zweifel teilen soll. IV 1 Bei der Wiedergabe der Bibliographie, die Marius Schneider in dem Artikel zu seiner Person im MGG aufgelistet hat, habe ich vier Werke hervorgehoben: Die Geschichte der Mehrstimmigkeit 1934/1936 (440 S.) , El Origen musical de los animales simbolos en la mitologia y la escultura antiguas 1946 (472 S.), Singende Steine 1955 (92 S. + Bildteil), Kosmogonie in Vorbereitung. Aber das letzte Werk, Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit, ist nicht erschienen! Und deshalb ist Marius Schneider als Gestalt der Geschichte des Menschengeschlechts noch nicht sichtbar! 2 Die Vorläufigkeit seines Sichtbargewordenseins ist die Achillesferse, die Walter Zimmermann trifft – und gerade er hatte sich angeschickt, zu der Erfüllung der Entfaltung, die Marius Schneiders Einsichten haben können, entscheidend beizutragen: das ganze Manuskript der Kosmogonie ist ihm von Frau Schneider anvertraut worden, weil er Interesse bekundete und sich anheischig machte, die Veröffentlichung zu fördern. Die vier ersten Töne des Geistes wurden da zur Bewährung aufgerufen: hält Dein Name dem stand, hast Du genug Weite und Breite durch Lesen und Wiederlesen, dienst Du an dieser Stelle wirklich, bist Du bereit, Deine Seele von der empfangenen Begeisterung her singen zu lassen? Und da spreche ich es aus: Walter Zimmermann gehört zu den Nachkriegsjahrgängen, bei denen die Jugendzeit der Eltern in der Nazi-Zeit lag, die daher an den ersten vier Tönen des Geistes: Heiße, Lies, Diene, Singe so geschwächt waren, daß der Zweifel – der als fünfter Ton unvermeidlich die eigene Jugend heimsucht – alles von den Eltern Überlieferte in Frage stellt und nicht zu dem sechsten Ton gründliche Kritik vordringen kann. Es ist ein Jammer.

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3 Marius Schneider aber darf auf Vollendung hoffen – die Kosmogonie ist ja da und harrt auf ihr Erscheinen. Und solange treten die drei ersten hervorgehobenen Werke für seinen Namen ganz ein. 4 Angesichts des Dargelegten, wäre es am besten, wenn diese Schrift, die sich bei genauem Lesen als Schmähschrift entpuppt und dem epochalen Lebenswerk von Marius Schneider in keiner Weise gerecht wird, entweder vom Autor oder vom Verantwortlichen für die Herausgabe dieser Reihe bei der Mainzer Akademie der Wissenschaften in aller Form zurückgenommen würde. Weil aber einmal Gedrucktes genau so wenig wie einmal Gesagtes ungeschehen gemacht werden kann, darf und muß in der Literaturangabe auf diese Rezension hingewiesen werden.“ Köln, 27. Juni 2010 Eckart Wilkens Zum Autor der Rezension: 1942 in Hannover geboren, 1943-1946 evakuiert in Imbshausen bei Northeim, 1946-1962 Jugend in Rendsburg in Holstein, Studium der Komposition bei Bernd Alois Zimmermann, des Klavierspiels bei Katalin Szabados, der Musikwissenschaft bei Marius Schneider, der Völkerkunde bei Helmut Petri, der Kunstwissenschaft bei Wolfgang Krönig, Promotion am 24.6.1967, von Mai 1968 bis Mai 2007 Fachbereichsleiter an der Volkshochschule Köln, mit eigenen Beiträgen öffentlich hervorgetreten zu dem Werk und Wirken Eugen Rosenstock-Huessys, Franz Rosenzweigs, Joseph Wittigs und Helmuth James von Moltkes sowie mit Klavierabenden mit verschiedenen Programmen alter und neuer Musik, auch eigener Kompositionen. Thema der Dissertation: Hushan Ghaffari und Naster Rastegar-nejad – zwei persische Santurspieler und ihre Musik, Studien zum Problem des Gestaltungsvermögens in der iranischen Musik, Regensburg 1967. Ein öffentlich gehaltender Nachruf auf Marius Schneider ist veröffentlicht in: Neuland Jahrbuch 1984-1985.