18
RobdeWijk* Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas https://doi.org/10.1515/sirius-2018-0002 Kurzfassung:DieneuerussischeMilitärdoktrinvon2010, das immer selbstbewusstere Auftreten Russlands und schließlich die Annexion der Krim haben dazu geführt, dass in Europa wieder über Konzepte der Abschreckung von Aggressionen diskutiert wird. In diesem Beitrag wird aufgezeigt, dass den aktuellen sicherheitspolitischen He- rausforderungen allein unter Rückgriff auf alte Abschre- ckungskonzepte aus der Zeit des Kalten Krieges nicht be- gegnetwerdenkann.DieBedrohungenerforderneineneu formulierte Abschreckung, mit der nicht nur der Bestand der baltischen Staaten oder die Unversehrtheit der trans- atlantischen Datenübertragung gesichert werden kann. Europa muss sich auch der russischen Absichten, über Falschinformationen Chaos zu stiften, erwehren sowie sichderFragestellen,wiedieeigeneEnergiesicherheitzu schützen ist. Festzustellen ist, dass NATO und EU die Si- cherheit des Westens nur gemeinsam gewährleisten können. Schlüsselwörter: Abschreckung, Russland, Militärdokt- rin, Rolle von Kernwaffen, hybride Kriegführung Abstract: The new Russian military doctrine from 2010, the growing international assertiveness of Russia, and eventuallytheannexationoftheCrimeaPeninsulain2014 haveforcedtheWesttorethinkdeterrencestrategiesvisa vis Russia. Consequently, the old Cold War concept of deterrence was dusted off and the debate picked up from where it had ended in 1990. This article summarizes the end of the Cold War thinking on deterring aggression against NATO-Europe. It explains why the present Wes- tern theoretical foundation of deterrence, which still fo- cusesonstrongconventionalforcesbackedupbynuclear weapons, no longer suffices, and argues that the new Russian concept of strategic deterrence requires a com- pleteoverhauloftheWesternapproach.Itisnotonlythe security of the Baltic member states of NATO or of trans- atlantic cables that matter, Europe has to cope with de- sinformation and destabilization campaigns and has to rethink its energy securit< strategy. Only together can NATOandEUmasterthesechallenges. Keywords: deterrence, Russia, military doctrine, role of nuclear weapons, hybrid warfare 1 Einleitung WährenddesKaltenKriegeskonntemanBücherregalemit StudienüberdieAbschreckungunddieEinbeziehungvon Nuklearwaffen in konventionelle militärische Auseinan- dersetzungen füllen. Aber nach dessen Ende kam der theoretische Abschreckungsdiskurs praktisch zum Erlie- gen. Da Abschreckung nie versagt hatte, waren die Dis- kussionen theoretische Übungen geblieben, und glückli- cherweise hatte es keine Gelegenheit gegeben, die (nuk- learen)EinsatzdoktrineneinemPraxistestzuunterziehen. Der relative Niedergang des Westens und das immer selbstbewusstere Auftreten Russlands im vergangenen Jahrzehnt haben aber dazu geführt, dass heute erneut über Konzepte der Abschreckung von Aggressionen in Europa diskutiert wird. Es war vor allem die neue russi- sche Militärdoktrin von 2010, die das Konzept der strate- gischenAbschreckungwiederzumLebenerweckthat.Sie lieferte die wesentlichen Impulse für die neue Debatte über den Nutzen von Nuklearwaffen und über Konflikt- deeskalation. Zunächst wurden alte Abschreckungskonzepte aus den Zeiten des Kalten Krieges aus der Schublade geholt und die Debatte dort wieder aufgenommen, wo sie 1990 endete. Dieser Artikel folgt der Debatte und geht auf den Stand der Diskussion über die Abschreckung von An- griffen gegen NATO-Europa am Ende des Kalten Krieges zurück.ErsetztsichkritischmitderFrageauseinander,ob die gegenwärtige theoretische Grundlage der westlichen Abschreckungsdebatte, die sich noch immer auf durch Atomwaffen unterstützte starke konventionelle Streit- kräfte konzentriert, ausreichend ist, um mit den derzeiti- genHerausforderungenfertigzuwerden.DasFazitlautet, dass das neue russische Konzept strategischer Abschre- ckung eine vollständige Überarbeitung der westlichen Strategie erfordert. * Kontaktperson: Rob de Wijk: Direktor des The Hague Centre for Strategic Studies (HCSS) und Professor für Internationale Beziehungen und Sicherheit am Institute of Security and Global Affairs (ISGA) der Universität Leiden, E-Mail: [email protected] SIRIUS 2018; 2(1): 3–20 Unauthenticated Download Date | 8/29/19 2:33 AM

Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

  • Upload
    lengoc

  • View
    215

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

Rob de Wijk*

Die Rolle von Abschreckung im neuenstrategischen Umfeld Europashttps://doi.org/10.1515/sirius-2018-0002

Kurzfassung: Die neue russische Militärdoktrin von 2010,das immer selbstbewusstere Auftreten Russlands undschließlich die Annexion der Krim haben dazu geführt,dass in Europa wieder über Konzepte der Abschreckungvon Aggressionen diskutiert wird. In diesem Beitrag wirdaufgezeigt, dass den aktuellen sicherheitspolitischen He-rausforderungen allein unter Rückgriff auf alte Abschre-ckungskonzepte aus der Zeit des Kalten Krieges nicht be-gegnet werden kann. Die Bedrohungen erfordern eine neuformulierte Abschreckung, mit der nicht nur der Bestandder baltischen Staaten oder die Unversehrtheit der trans-atlantischen Datenübertragung gesichert werden kann.Europa muss sich auch der russischen Absichten, überFalschinformationen Chaos zu stiften, erwehren sowiesich der Frage stellen, wie die eigene Energiesicherheit zuschützen ist. Festzustellen ist, dass NATO und EU die Si-cherheit des Westens nur gemeinsam gewährleistenkönnen.

Schlüsselwörter: Abschreckung, Russland, Militärdokt-rin, Rolle von Kernwaffen, hybride Kriegführung

Abstract: The new Russian military doctrine from 2010,the growing international assertiveness of Russia, andeventually the annexation of the Crimea Peninsula in 2014have forced the West to rethink deterrence strategies vis avis Russia. Consequently, the old Cold War concept ofdeterrence was dusted off and the debate picked up fromwhere it had ended in 1990. This article summarizes theend of the Cold War thinking on deterring aggressionagainst NATO-Europe. It explains why the present Wes-tern theoretical foundation of deterrence, which still fo-cuses on strong conventional forces backed up by nuclearweapons, no longer suffices, and argues that the newRussian concept of strategic deterrence requires a com-plete overhaul of the Western approach. It is not only thesecurity of the Baltic member states of NATO or of trans-atlantic cables that matter, Europe has to cope with de-sinformation and destabilization campaigns and has to

rethink its energy securit< strategy. Only together canNATO and EU master these challenges.

Keywords: deterrence, Russia, military doctrine, role ofnuclear weapons, hybrid warfare

1 EinleitungWährend des Kalten Krieges konntemanBücherregalemitStudien über die Abschreckung und die Einbeziehung vonNuklearwaffen in konventionelle militärische Auseinan-dersetzungen füllen. Aber nach dessen Ende kam dertheoretische Abschreckungsdiskurs praktisch zum Erlie-gen. Da Abschreckung nie versagt hatte, waren die Dis-kussionen theoretische Übungen geblieben, und glückli-cherweise hatte es keine Gelegenheit gegeben, die (nuk-learen) Einsatzdoktrinen einem Praxistest zu unterziehen.Der relative Niedergang des Westens und das immerselbstbewusstere Auftreten Russlands im vergangenenJahrzehnt haben aber dazu geführt, dass heute erneutüber Konzepte der Abschreckung von Aggressionen inEuropa diskutiert wird. Es war vor allem die neue russi-sche Militärdoktrin von 2010, die das Konzept der strate-gischen Abschreckung wieder zum Leben erweckt hat. Sielieferte die wesentlichen Impulse für die neue Debatteüber den Nutzen von Nuklearwaffen und über Konflikt-deeskalation.

Zunächst wurden alte Abschreckungskonzepte ausden Zeiten des Kalten Krieges aus der Schublade geholtund die Debatte dort wieder aufgenommen, wo sie 1990endete. Dieser Artikel folgt der Debatte und geht auf denStand der Diskussion über die Abschreckung von An-griffen gegen NATO-Europa am Ende des Kalten Kriegeszurück. Er setzt sich kritischmit der Frage auseinander, obdie gegenwärtige theoretische Grundlage der westlichenAbschreckungsdebatte, die sich noch immer auf durchAtomwaffen unterstützte starke konventionelle Streit-kräfte konzentriert, ausreichend ist, um mit den derzeiti-gen Herausforderungen fertig zu werden. Das Fazit lautet,dass das neue russische Konzept strategischer Abschre-ckung eine vollständige Überarbeitung der westlichenStrategie erfordert.

* Kontaktperson: Rob de Wijk: Direktor des The Hague Centre forStrategic Studies (HCSS) und Professor für InternationaleBeziehungen und Sicherheit am Institute of Security and GlobalAffairs (ISGA) der Universität Leiden, E-Mail: [email protected]

SIRIUS 2018; 2(1): 3–20

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 2: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

2 Abschreckung während desKalten Krieges

Traditionell ist militärische Stärke der Eckpfeiler jederAbschreckungsstrategie. Eine schlagkräftige und glaub-würdige militärische Streitmacht und der politischeWille,sie einzusetzen, sollen abschreckend wirken. Da Atom-waffen verheerende Schäden anrichten, wird davon aus-gegangen, dass diese Waffen das ultimative Abschre-ckungsmittel sind. Aus diesem Grund umfasst Abschre-ckung auch das Bestreben, einen Akteur zu bestrafen,wenn er einen Angriffskrieg unternimmt.

Während des Kalten Krieges entstanden zwei kon-kurrierende Denkschulen über die Rolle von Kernwaffen.Vertreter der einen Schule sprachen sich dafür aus, aufallen Ebenen für den Einsatz von Atomwaffen vorbereitetzu sein, um zu verhindern, dass ein Gegner annehmenkönnte, mithilfe einer Aggression seien Ziele zu erreichen.Die andere Schule befürwortete den Einsatz von Atom-waffen, um den Gegner für eine bestimmte Handlung zubestrafen. Die erstgenannte Schule konzentrierte sich aufdas Führen eines Atomkriegs, während letztere dendemonstrativen Einsatz von Atomwaffen in den Vorder-grund rückte.1 Dahinter stand der konzeptionelle Unter-schied zwischen Abschreckung durch Vereitelung mili-tärischer Vorteile (deterrence by denial) und Abschre-ckung durch Bestrafung (deterrence by punishment). Es istzu vermuten, dass der Unterschied zwischen Abschre-ckung durch Vereitelung und Abschreckung durch Be-strafung nicht nur die Debatte während des Kalten Kriegesstrukturierte, sondern wahrscheinlich auch die neue De-batte beherrschen wird. Europäische Abschreckungs-konzepte, in denen weiterhin die USA die zentrale Rollespielen, basieren nach wie vor auf Grundsätzen, die ihrenUrsprung hauptsächlich in der Strategie der Flexible Re-sponse haben. Diese wurde 1967 in dem Dokument MC 14/3, das vom NATO-Militärausschuss gebilligt wurde, kodi-fiziert. Es ist daher nützlich, sich die Entwicklung der da-maligen Abschreckungskonzepte, die immer differen-zierter und komplexer wurden, erneut vor Augen zu füh-ren. In dem Dokument MC 14/3 werden drei Typenmilitärischer Reaktionen genannt, die der NATO offen-standen:1. Die „direkte Verteidigung“ zielt darauf ab, den Angriff

auf der Ebene abzuwehren, auf welcher der Feind denKampf führt [...]; erfolgreiche direkte Verteidigung

wehrt den Angriff entweder ab oder erlegt dem An-greifer die Bürde der Eskalation auf. [...] Das Konzeptder direkten Verteidigung schließt den Einsatz vonNuklearwaffen ein, deren Einsatz muss aber ge-nehmigt werden.

2. Eine „vorbedachte Eskalation“ zielt darauf ab, denAngriff abzuwehren, indem sie den Umfang und dieIntensität der Kampfhandlungen wohlüberlegt er-höht, aber soweit wie möglich unter Kontrolle hält,um dem Aggressor Kosten und Risiken aufzuerlegen,die in keinem Verhältnis zu seinen Zielen stehen [...]Je nach der Ebene, auf welcher die Aggression be-ginnt, können unter den folgenden Beispielen Eska-lationsschritte ausgewählt werden [...]:a) Die Erweiterung oder Intensivierung nichtnu-

klearer Kampfmaßnahmen,möglicherweise durchEröffnung einer weiteren Front oder durch Ein-leitung von Kampfhandlungen auf See als Reak-tion auf eine Aggression niedriger Intensität;

b) der Einsatz von Waffen zur Abwehr oder Be-kämpfung nuklearer Einsatzmittel der gegneri-schen Seite;

c) der demonstrative Einsatz von Nuklearwaffen;d) selektive Atomschläge gegen Ziele, die der Abrie-

gelung des Gefechtsfeldes dienen;e) selektive Atomschläge gegen andere geeignete

militärische Ziele.

Eine allgemeine nukleare Erwiderung zieht, je nach Be-darf, massive Nuklearschläge gegen das gesamte nukleareBedrohungspotenzial, andere militärische Ziele und ur-ban-industrielle Ziele in Erwägung […]. Es ist sowohl dasultimative Abschreckungsmittel als auch, wenn es einge-setzt wird, die äußerste militärische Erwiderung.2

MC 14/3 löste die Vorläuferstrategie der MassivenVergeltung der 1950er-Jahre ab. In jener Zeit hielt man denWarschauer Pakt auf dem Gebiet der konventionellenStreitkräfte für überlegen.3 Die westliche Unterlegenheitsollte durch nukleare Überlegenheit ausgeglichen wer-den. Aber in den 1960er-Jahren schwand die nukleareÜberlegenheit der USA, sodass demWesten nur noch eineOption blieb: der Einsatz seines gesamten nuklearen Ar-senals als Reaktion auf einen konventionellen Angriff. Daeine massive Vergeltung einem Selbstmord nahekam, so-

1 Vertreter der ersten Schule waren lange Zeit Osgood (1958) undKissinger (1974), während die andere Schule durch Brodie (1959,1973) vertreten war.

2 NATO: Overall Strategic Concept for the Defense of the North At-lantic Organization Area (MC I4/3), 22 Dezember 1967, Abschnitt 17,Quelle: https://www.nato.int/docu/stratdoc/eng/a680116a.pdf.3 Vgl. für die Geschichte der Abschreckungstheorie Wijk 2014, 151–155.

4 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 3: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlordie Strategie massiv an Glaubwürdigkeit.

Kritiker der Strategie bemängelten, dass sich diese zusehr auf Nuklearwaffen konzentriere und nur die Alter-native vorhalte, entweder einen konventionell geführtenKrieg zu verlieren oder die nukleare Vernichtung zu ris-kieren. Politischen Entscheidungsträgern dürfe man nichtnur diese zwei Optionen offerieren: Selbstmord oder Ka-pitulation. Die Grundidee war, durch den kontrolliertenund begrenzten Einsatz von Atomwaffen lasse sichGlaubwürdigkeit zurückerlangen.

Folglich suchten während des Kalten Krieges Poli-tiker, Verantwortliche für nukleare Planung und Ingeni-eure nach Mitteln und Wegen, um Kernwaffen „einsatz-fähiger“ zu machen. MC 14/3 basierte auf der Idee, dassdie technologische Überlegenheit des Westens den kon-trollierten und begrenzten Einsatz von Nuklearwaffen er-möglichen würde. Die neue Strategie sollte somit das Di-lemma von „Selbstmord oder Kapitulation“ lösen. Darausergaben sich Leitlinien für nationale Verteidigungsplanerund für die Entwicklung nationaler „Gefechtsdoktrinen“,die Nuklearwaffen in die konventionelle Kriegführungeinbezogen. Dieses Vorhaben traf allerdings auf erheb-liche Probleme. Politiker, Wissenschaftler und Militär-planer in den Vereinigten Staaten gingen davon aus, dasstaktische nukleare Waffen in die konventionelle Krieg-führung integriert werden könnten. Aber in Europa wurdedagegengehalten, dass taktische Nuklearwaffen aufgrundihrer zerstörerischen Wirkung (und der damit verbun-denen Kollateralschäden) keine begrenzte Wirkungentfalten könnten (im Vergleich zu konventionellenStreitkräften).

Die große Frage blieb: Wie sollte man Nuklearwaffenzur Abschreckung eines sowjetischen Angriffs auf West-europa einsetzen? US-Strategen betonten, wie wichtig esfür die Abschreckung sei, dass der anderen Seite die Ver-eitelung ihrer militärischen Ziele deutlich gemacht werde.Mithilfe traditioneller Methoden der Verteidigungspla-nung wurden daher Nuklearwaffen in die konventionelleGefechtsführung integriert. Taktische Nuklearwaffen gal-ten als eine extreme Form von Feuerkraft, mit der zudemdie taktischen Vorteile des Warschauer Paktes ausge-glichen werden konnten. Gleichzeitig wurden aber auchdie gravierenden Unsicherheiten, die mit dem Einsatz vonNuklearwaffen verbunden waren, ausdrücklich aner-kannt. So herrschte in den Vereinigten Staaten die Auf-fassung vor, Nuklearwaffen sollten nicht eingesetzt wer-den, bevor konventionelle Verteidigungsmittel massiv aufdie Probe gestellt wordenwaren und sich als unzulänglicherwiesen hätten.

In Europa hingegen befürworteten Politiker, Wissen-schaftler und Militärplaner eher eine Strategie der Ab-schreckung, die auf der Drohung mit Bestrafung beruhte.Sie favorisierten den frühzeitigen Rückgriff auf taktischeNuklearwaffen, die aber lediglich in einer begrenzten undgleichwohl demonstrativen Weise eingesetzt werdensollten – nicht als normale Kampfkraftverstärker. Aus-gangspunkt war die Annahme, der frühe Ersteinsatz ver-stärke den Abschreckungseffekt, weil er dem Gegner miteiner nuklearen Eskalation drohe. Letzteres war jedochgenau das, was die US-amerikanischen Nuklearplanervermeiden wollten. Die NATO-Strategie der Flexible Re-sponse blieb daher so zweideutig, dass sie in dem einenwie dem anderen Sinne interpretiert werden konnte.

Die Strategie der Flexible Response erforderte einbreites Arsenal von Nuklearwaffen. Am Ende des KaltenKriegeswaren die USA imBesitz strategischer Atomwaffenund verschiedener Trägersysteme: Interkontinentalrake-ten (ICBMs), U-Boot-gestützte ballistische Raketen (SLBM)und ungelenkte Bomben, die im Ernstfall von strategi-schen Bombern abgeworfen werden konnten. Diese Waf-fen galten als letztes Mittel und wären von den USA aus-schließlich für einen allgemeinen nuklearen Gegenschlageingesetzt worden. Sie stellten die stärkste Sicherheits-garantie für NATO-Verbündete in Europa dar. Wichtigerwaren aber die nicht-strategischen Kernwaffen. Als einZeichen transatlantischer Solidarität und der Bereitschaft,ihren Anteil an den Lasten zu tragen, ließen europäischeNATO-Verbündete die USA nukleare Gefechtsfeldwaffenauf ihren Territorien stationieren. Dazu gehörten nukleareLandminen und frei fallende Bomben, die im Ernstfall vontaktischen Kampfflugzeugen abgeworfen werden sowienuklear bestückte Kurzstreckenraketen und nukleare Ar-tilleriegranaten. Um die Nachschubwege zur See (SLOCs)der NATO zu sichern, hätten nukleare Wasserbomben zurBekämpfung von Unterseebooten eingesetzt werdenkönnen.

In den 1980er-Jahren wurde als Reaktion auf die Sta-tionierung russischer nuklearer Mittelstreckenraketen wieder SS-20 die Dislozierung einer neuen Generation ballis-tischer Raketen undMarschflugkörper zur Schließung derLücke zwischen nuklearen Gefechtsfeldwaffen und stra-tegischen Interkontinentalraketen erwogen. Die Statio-nierung dieser Waffen führte zu erhitzten Debatten, aberaufgrund des Vertrags über nukleare Mittelstrecken-systeme (INF-Vertrag) von 1987 wurden die Raketen nievoll einsatzfähig. Mit demEnde des Kalten Krieges und derVereinbarung weiterer Rüstungskontrollabkommen wur-de die Zahl strategischer und taktischer Kernwaffen undihrer Trägersysteme außerordentlich schnell reduziert. InEuropa führten einseitige, aber reziproke Schritte dazu,

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 5

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 4: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

dass 80 Prozent aller taktischen Nuklearwaffen – mitAusnahme der ungelenkten Bomben – beseitigt wurden.Nach erfolgreichen Verhandlungen über den Abbau stra-tegischer Nuklearwaffen verringerten sowohl die USA alsauch die Sowjetunion und deren Nachfolgestaat Russlanddie Anzahl ihrer strategischen Nuklearwaffen in erheb-lichem Umfang.

In den 1990er-Jahren kam das strategische Denkenüber Abschreckung praktisch zum Stillstand. Dies spie-gelte sich im Strategischen Konzept der NATO von 1999wider4, in demausdrücklich die „verstärkte politische undmilitärische Partnerschaft mit anderen Staaten ein-schließlich Russland“ begrüßt wurde. Doch aufgrund vondessen Instabilität und der Unsicherheiten bezüglich sei-ner weiteren Entwicklung sowie im Zusammenhang mitBefürchtungen, dass Terroristen und Schurkenstaaten indenBesitz vonAtomwaffen aus den früheren sowjetischenArsenalen gelangen könnten, betonte die Strategie auch,dass „die Präsenz konventioneller und nuklearer Streit-kräfte der Vereinigten Staaten in Europa […] lebenswichtigfür die Sicherheit Europas [bleibt], die untrennbar mit derSicherheit Nordamerikas verbunden ist.“5 Außerdemstellte sie fest: „Nukleare Streitkräfte werden weiterhineine wesentliche Rolle spielen, indem sie dafür sorgen,dass ein Angreifer im Ungewissen darüber bleibt, wie dieBündnispartner auf einen militärischen Angriff reagierenwerden“. Sie machte deutlich, „dass ein Angriff jeglicherArt keine vernünftige Option ist.“6 Gleichzeitig gelangtedie NATO zu dem Schluss, dass die „Umstände, unter de-nen ein Einsatz von Nuklearwaffen in Betracht zu ziehenwäre“, in äußerste Ferne gerückt seien.7 Die in DokumentMC 14/3 niedergelegte Position aufgreifend, heißt es indem Strategiepapier: „Um den Frieden zu wahren undeinen Krieg und auch jegliche Form von Zwang zu ver-hindern, wird das Bündnis für die vorhersehbare Zukunfteine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konven-tioneller Streitkräfte beibehalten, die in Europa stationiertsind und auf dem gebotenen Stand gehalten werden, wodies erforderlich ist, wenngleich auf dem geringst-möglichen ausreichenden Niveau.“ Des Weiteren wird indem Dokument betont, dass „die konventionellen Streit-kräfte des Bündnisses allein“ eine glaubwürdige Ab-schreckung nicht gewährleisten könnten. „Einzig Nukle-

arwaffen machen die Risiken jeglicher Aggression un-kalkulierbar und unannehmbar. Sie sind daher nach wievor von entscheidender Bedeutung für die Wahrung desFriedens.“8 Politische Leitlinien für den tatsächlichenEinsatz taktischer Nuklearwaffen und die Einbeziehungdieser Waffen in die konventionelle Gefechtsführungwurden nicht erwähnt. Tatsächlich gab es diese Leitliniennicht. Während der 1990er-Jahre war das wichtigste An-liegen vielmehr die Sicherung des Kernwaffenarsenals derehemaligen Sowjetunion.

3 Abschreckung in den 2000er-Jahren

Während der 2000er-Jahre verlagerte sich der Schwer-punkt der Abschreckung von Russland auf sogenannteSchurkenstaaten und Terrororganisationen. Nach denTerroranschlägen vom 11. September 2001 erklärte US-Präsident George W. Bush am 20. September des gleichenJahres bei einer Rede im Kongress dem Terrorismus denKrieg. In der Rede zur Lage der Nation am 29. Januar 2002wurde ein grundlegender Politikwechsel angekündigt. MitBezug auf Nordkorea, Iran und Irak erklärte Bush, dass„Staaten wie diese eine Achse des Bösen bilden, die durchihre Aufrüstung den Weltfrieden bedrohen. Durch ihrStreben nach Massenvernichtungswaffen stellen dieseRegime eine schwerwiegende und wachsende Gefahr dar.Sie könnten diese Waffen an Terroristen weitergeben unddiesen dadurch die Mittel verschaffen, die ihrem Hassentsprechen. Sie könnten unsere Verbündeten angreifenoder versuchen, die Vereinigten Staaten zu erpressen. Inall diesen Fällen wäre der Preis der Gleichgültigkeit kata-strophal.“9 Aus diesem Grund zeigte der Präsident ein er-neutes Interesse an Raketenabwehrsystemen. Als erstenSchritt zogen sich die USA aus dem 1972 gemeinsam mitder UdSSR unterzeichneten ABM-Vertrag zur Begrenzungder Raketenabwehrsysteme zurück. Außerdem setzte derPräsident das Thema taktische Nuklearwaffen wieder aufdie Agenda, allerdings nurmit Blick auf nuklear bestückteFlugkörper, die in der Lage sein sollten, auch tief ver-bunkerte Einrichtungen und Tunnelkomplexe zu be-kämpfen, gegen die konventionelle Mittel wenig effizientwären.

4 NATO: The Alliance’s Strategic Concept, gebilligt von den Staats-und Regierungschefs, die an dem Gipfeltreffen des Nordatlantikratsam 24. April 1999 in Washington D.C. teilgenommen haben, https://www.nato.int/docu/pr/1999/p99–065 d.htm.5 Ibid, Paragraph 42.6 Ibid, Paragraph 62.7 Ibid, Paragraph 64.

8 Ibid, Paragraph 46.9 G.WBush: The President’s State of the UnionAddress,WashingtonD.C., 29 Januar 2002, https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2002/01/20020129–11.html.

6 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 5: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die am31. Dezember 2001 dem Kongress vorgelegte Nuclear Pos-ture Review (NPR) – US-Nuklearstrategie – unter den Al-liierten große Besorgnis hervorrief, weil sie ausdrücklicheine Fähigkeit zur wirkungsvollen Bekämpfung „ge-härteter und tief eingegrabener Ziele“ verlangte.10 Mitanderen Worten, Nuklearwaffen sollten gegen Ziele ein-gesetzt werden, die nicht-nuklearen Angriffen stand-halten konnten, wie tiefe unterirdische Bunker oder Bio-waffenanlagen. Dies war eine Reaktion darauf, dass sichAl-Qaida-Kämpfer in Tunneln versteckten, die mit kon-ventionellen Mitteln nicht zerstört werden konnten.

Die NPR erklärte ausdrücklich, aufgrund von Fort-schritten bei Verteidigungstechnologien könnten nicht-nukleare und nukleare US-Fähigkeiten mit aktiven undpassiven Verteidigungsmaßnahmen verknüpft werden,um die Abschreckung zu stärken und den Schutz vor An-griffen zu verbessern, die Handlungsfreiheit der USA zuschützen und die Glaubwürdigkeit ihrer Zusagen im Rah-men der Allianz zu stärken. „Aktive Verteidigung“ bezogsich auf Raketenabwehr, während „passive Verteidigung“unter anderem die Härtung von Bunkern meinte.

In Bezug auf Europa behaupteten die USA in der NPR,sie würden „die Praktiken des Kalten Krieges bezüglichder Planung des Einsatzes strategischer Streitkräfte hinter[sich] lassen.“ Da Russland keine Bedrohung mehr dar-stelle, würden die „USA ihre Streitkräfte nicht länger soplanen, dislozieren oder logistisch unterstützen, als stell-te Russland lediglich eine kleinere Version der Bedrohungdar, die von der ehemaligen Sowjetunion ausging.“

Folglich standen bei der Planung nicht länger Bedro-hungen, sondern Fähigkeiten im Vordergrund. Dazu hießes in der NPR: „Mit Hilfe der adaptiven Planung werden inzeitkritischen Situationen zügig Verteidigungspläne er-stellt […] indem einzelne Waffen-/Ziel-Kombinationenidentifiziert werden, die in Krisen ausgeführt werdenkönnten.“11 Dies versprach ein sehr hohes Maß an Flexi-bilität. Mit Blick auf Einsatzstrategien war die NPR keinWendepunkt: „Das aus nicht-nuklearen Systemen undNuklearwaffen bestehende Angriffselement der NeuenTriade kann bei der Planung und Durchführung militä-rischer Operationenmit dem Ziel, Gegner entscheidend zuschlagen, eine größere Flexibilität ermöglichen. Nicht-nukleare Angriffsfähigkeiten können besonders nützlichsein, um Kollateralschäden und eine Konflikteskalationzu begrenzen.“

Das Hauptaugenmerk galt im Wesentlichen dem Ter-rorismus und den Schurkenstaaten. Die NPR war Teil ei-nes größeren Strategiewechsels, den der Präsident in sei-ner Rede anlässlich der Absolventenfeier an der US-Mili-tärakademieWest Point am 1. Juni 2002 ankündigte. Busherklärte, die USA müssten „Terrorzellen in 60 oder mehrLändern enttarnen“ und „den Kampf zum Feind tragen,seine Pläne vereiteln und den gefährlichsten Bedrohun-gen entgegentreten, bevor sie konkrete Gestalt an-nehmen.“ Dabei müssten die Vereinigten Staaten dieGrundlagen des strategischen Denkens selbst verändern:„Während des größten Teils des letzten Jahrhundertsstützte sich die Verteidigung Amerikas auf Abschre-ckungs- und Eindämmungsdoktrinen aus der Zeit desKalten Krieges [….] Abschreckung – die Androhungmassiver Vergeltung gegen Staaten – bleibt wirkungslosgegenüber schemenhaften Terroristen, die weder eineNation noch Bürger verteidigen wollen. Eindämmung istnicht möglich, wenn unberechenbare Diktatoren, die überMassenvernichtungswaffen verfügen, diese Waffen mitHilfe von Raketen zum Einsatz bringen oder sie insgeheiman Terroristen weitergeben können [….] [U]nsere Sicher-heit erfordert es, dass alle Amerikaner vorausschauendund entschlossen sind, bereit zu einem Präemptivschlag,wenn dieser notwendig ist, um unsere Freiheit und unserLeben zu verteidigen.“12

Dementsprechend wurde eine neue, unilaterale Stra-tegie der „defensiven Intervention“ beziehungsweise„vorausschauenden Selbstverteidigung“ angekündigt. Daterroristische Organisationen nicht abgeschreckt werdenkonnten, konzentrierte sich die neue Strategie auf Staa-ten, die angeblich den Terrorismus unterstützten. US-Vi-zepräsident Dick Cheney stellte dies am 26. August 2002bei einer Ansprache vor Kriegsveteranen klar. Er be-hauptete, ein Präemptivschlag gegen den Irak sei not-wendig, „weil es außer Zweifel steht, dass Saddam Hus-sein mittlerweile über Massenvernichtungswaffen ver-fügt. Es steht außer Zweifel, dass er sie anhäuft, um siegegen unsere Freunde, gegen unsere Alliierten und gegenuns einzusetzen. Und es steht außer Zweifel, dass seineaggressiven regionalen Ambitionen ihn in zukünftigeKonfrontationen mit seinen Nachbarn führen werden.“Den ehemaligen Außenminister Henry Kissinger zitie-rend, behauptete Cheney, dies mache „präventives Han-deln zu einer zwingendenNotwendigkeit.“ Zudem „würdeuns ein atomar bewaffneter Saddam Hussein unsere Ar-

10 Die folgenden Auszüge sind den der Presse zugespielten Aus-schnitten der Nuclear Posture Review 2001 entnommen. https://web.stanford.edu/class/polisci211z/2.6/NPR2001leaked.pdf.11 Ibid, 46–47.

12 G.W. Bush: Remarks by the President at 2002 Graduation Exerciseof the United States Military Academy West Point, New York,Washington DC, 1. Juni 2002, https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2002/06/20020601–3.html.

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 7

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 6: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

beit erschweren.“13 Dennoch erkannten die neuen Strate-gien an, dass Terroristen und Schurkenstaaten nicht al-lein durch Nuklearwaffen abgeschreckt werden könnten.Dazu bedürfe es eines breiteren Spektrums von Fähigkei-ten.

Der Strategiewechsel wurde in der im Sommer 2002veröffentlichten National Security Strategy (NSS) festge-schrieben.14 Präsident Bush verabschiedete sich offiziellvon den traditionellen Abschreckungs- und Eindäm-mungsdoktrinen und ersetzte sie durch neue Doktrinender Präemption und präventiver Interventionen: „Wirmüssen bereit sein, Schurkenstaaten und ihren terroristi-schen Schützlingen Einhalt zu gebieten, bevor sie in derLage sind, den Vereinigten Staaten und unseren Ver-bündeten und Freunden mit Massenvernichtungswaffenzu drohen oder diese gegen sie einzusetzen. Unsere Ant-wort muss sich gestärkte Allianzen und neu begründetePartnerschaften in vollem Umfang zunutze machen.“Doch „wenngleich die Vereinigten Staaten fortwährenddanach streben, die Unterstützung der internationalenGemeinschaft zu gewinnen, werden wir nicht zögern, ge-gebenenfalls allein zu handeln, um unser Recht aufSelbstverteidigung durch ein präemptives Vorgehen ge-gen derartige Terroristen auszuüben, um sie davon abzu-halten, unserer Bevölkerung und unserem Land zu scha-den.“ Man kann diese Strategie als „unilateral, wennnötig“ und „multilateral, wenn möglich“ beschreiben. Siewar eindeutig eine Manifestation der unipolaren Welt-ordnung, die sich nach dem Zusammenbruch der Sowjet-union herausbildete.

Zusammengefasst basierte die Abschreckung in den2000er-Jahren auf einem breiten Spektrum von offensivenund defensiven sowie konventionellen und nuklearenFähigkeiten ebenso wie auf flexibler beziehungsweiseadaptiver Planung. Die NPR deutete darauf hin, dassadaptive Planung nach wie vor Nuklearwaffen in einkonventionelles Kriegsszenario integrieren kann, aberspezifische Einsatzrichtlinien und ein konzeptionellerBezugsrahmen für ihre Anwendung wie etwa MC 14/3fehlten.

4 Abschreckung in den 2010er-Jahren

Auch in der Nuclear Posture Review (NPR) von PräsidentBarack Obama aus dem Jahr 2010 fehlten nukleare Ein-satzrichtlinien. Schurkenstaaten, die Weitergabe vonMassenvernichtungswaffen (Proliferation) und Terroris-mus wurden ebenfalls mit möglichen nuklearen Bedro-hungen in Verbindung gebracht: „Es ist unabdingbar,dass wir unsere nuklearen Handlungsoptionen und un-sere Nuklearstrategie besser auf unsere höchsten Priori-täten abstimmen – die Verhinderung von Nuklearterro-rismus und nuklearer Weiterverbreitung.“15 In dieser NPRspiegelte sich die Überzeugung wider, Raketenabwehrwürde bei der Abschreckung eine wichtige Rolle spielen:„Durch Aufrechterhaltung einer glaubwürdigen nukle-aren Abschreckung und Stärkung regionaler Sicherheits-architekturen mit Raketenabwehrsystemen und anderenkonventionellen militärischen Fähigkeiten können wirunsere nicht über Kernwaffen verfügenden Verbündetenund Partner weltweit bezüglich unserer Sicherheits-garantien beruhigen und bestätigen, dass sie keine eige-nen Kernwaffenfähigkeiten benötigen.“

Die NPR bekräftigte unter anderem, dass die Verein-igten Staaten „die Fähigkeit zur Vorne-Dislozierung vonUS-Kernwaffen auf taktischen Kampfbombern undschweren Bombern beibehalten und durch umfassendeModernisierung die Lebensdauer der B-61-Bombe ver-längern und gleichzeitig die Bedienungssicherheit unddie Einsatzsteuerung verbessern wollen“ und dass dieObama-Administration „Beratungen mit Alliierten undPartnern fortsetzen und gegebenenfalls ausweiten will,um eine Antwort auf die Frage zu finden, wie sich dieGlaubwürdigkeit und Wirksamkeit der erweiterten US-Abschreckung sicherstellen lässt.“16

Aufgrund der veränderten Sicherheitslage in Europadiskutierte der US-Kongress dann zum ersten Mal seit fastzwanzig Jahren über taktische Nuklearwaffen; dabeiwurde auf das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischenden US-amerikanischen und russischen Kernwaffen hin-gewiesen und es wurde erwähnt, dass sich Russland inzunehmendem Maße auf diese Waffen verlasse, um dieSchwäche seiner konventionellen Streitkräfte zu kom-

13 D. Cheney: Remarks by the Vice President to the Veterans of Fo-reign Wars I03rd National Convention, Washington DC, 26. August2002, https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/news/releases/2002/08/20020826.html.14 Text in https://georgewbush-whitehouse.archives.gov/nsc/nss/2002/.

15 The President of the United States of America: Nuclear PostureReview Report, Washington, April 2010. https://www.defense.gov/Portals/1/features/defenseReviews/NPR/2010_Nuclear_Posture_Review_Report.pdf.16 Ibid.

8 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 7: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

pensieren.17 Tatsächlich ließen der Krieg gegen Georgienund die Kriege in Tschetschenien Schwächen der russi-schen Streitkräfte erkennbar werden. Dies führte zu rus-sischen Initiativen, um den desaströsen Zustand derStreitkräfte durch Modernisierung und die Aufwertungdes nuklearen Arsenals zu überwinden.

Zweifellos war der August 2008 ein Wendepunkt:Damals führte Russland Krieg gegen Georgien, nachdemes sich mehrfach von diesem provoziert gefühlt und dieNATO auf ihrem Gipfel in Bukarest im April 2008 zugesagthatte, Georgien und die Ukraine als Mitglieder aufzu-nehmen, wenn sie genau festgelegte Kriterien erfüllten.Der EU, die während des Kriegs als Friedensvermittlerinfungierte, gelang es, einenWaffenstillstand zwischen denKonfliktparteien auszuhandeln. Nach demKrieg fordertenim Jahr 2010 die Teilnehmer des NATO-Gipfels von Lissa-bon Russland auf, „seine Verpflichtungen gegenüber Ge-orgien zu erfüllen, wie sie am 12. August und 8. Septem-ber 2008 von der Europäischen Union vermittelt wur-den.“18 Nach dem Krieg entsandte die EU Überwachungs-und Erkundungsmissionen nach Georgien, und zusam-menmit den Vereinten Nationen und der Organisation fürSicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) richtetesie dort Friedensgespräche aus. Als Reaktion auf dieneuen sicherheitspolitischenHerausforderungen erteiltendie Staats- und Regierungschefs „dem Rat den Auftrag,weiterhin die Gesamtstrategie der NATO zur Abschre-ckung und zur Verteidigung gegen das gesamte Spektrumvon Bedrohungen der Allianz zu überprüfen und dabeidas sich wandelnde internationale Sicherheitsumfeld zuberücksichtigen.“ Diese Überprüfung sollte von allenVerbündeten auf der Basis der Grundsätze durchgeführtwerden, auf die sie sich im Strategischen Konzept ver-ständigt hatten, unter Berücksichtigung von Massenver-nichtungsmitteln und der Weiterverbreitung ballistischerRaketen.

Das in Lissabon verabschiedete neue StrategischeKonzept „Aktives Engagement, moderne Verteidigung“blieb jedoch vage und umfasste allgemeine Beobach-tungen wie die, dass die konventionelle Bedrohung nichtignoriert werden könne und dass Abschreckung ein we-

sentliches Element der „Gesamtstrategie“ bleibe, die auf„einer geeigneten Kombination von nuklearen und kon-ventionellen Fähigkeiten“ basieren müsse.19 Die neueStrategie erwähnte nicht die russische Nuklearbe-drohung, benannte jedoch die Weiterverbreitung ballisti-scher Raketen und Kernwaffen, Terrorismus, Cyberan-griffe und fundamentale Umweltprobleme als neue undaufkommende Bedrohungen.

Der darauf aufbauende Deterrence and Defense Pos-ture Review (DDPR) der NATO wurde erst im Jahr 2012veröffentlicht.20Diese Bestandsaufnahme bestätigte, dassNuklearwaffen „neben konventionellen Streitkräften undRaketenabwehr-Kapazitäten eine Schlüsselkomponenteder umfassenden NATO-Fähigkeiten zur AbschreckungundVerteidigung“ seien. Die DDPR sagte aber kaumetwasüber die Einsatzoptionen von Kernwaffen aus. Es hießdort lediglich: „Die Alliierten haben sich verpflichtet, dieRessourcen bereitzustellen, die benötigt werden, um si-cherzustellen, dass die umfassende Abschreckungs- undVerteidigungsstrategie der NATO glaubwürdig, flexibel,robust und anpassungsfähig bleibt, und das zukunfts-weisende Paket von Verteidigungsfähigkeiten zu im-plementieren.“

Fasst man die Zeit nach dem Ende des Kalten Kriegeszusammen, so blieben frei fallende Flugzeugbomben vomTyp B-61 die einzige taktische Kernwaffe, über die die USAund ihre europäischen Verbündeten verfügten. Diese Fä-higkeit wird ergänzt durch US-amerikanische strategischeStreitkräfte sowie durch britische und französische Kern-waffen, bei denen U-Boot-gestützte ballistische Raketenund atomwaffenfähige Flugzeuge als Trägersystemedienten. Aufgrund der weitgehend unipolaren Welt-ordnung, die sich nach dem Ende des Kalten Kriegesetablierte, und angesichts der weitgehend optimistischenEinschätzung der Sicherheitslage in Europa galten tradi-tionelle Abschreckungskonzepte als überholt. Nach demZusammenbruch der Sowjetunion konzentrierte sich dienukleare Debatte vielmehr auf die Sicherheit ehemalssowjetischer Kernwaffen. Während des ersten Jahrzehntsdes neuen Jahrhunderts lag der Fokus auf Nuklearterro-rismus und Schurkenstaaten. An dessen Ende löste aberdie veränderte Sicherheitslage eine neue, eher tradi-

17 William J. Perry, Chairman and James R. Schlesinger, Vice Chair-man: Americaʼs Strategic Posture, The Final Report of the Congres-sional Commission on the Strategic Posture of the United States,Washington, DC, April 2009, 12–13, 21. http://www.usip.org/files/America’s_Strategic_Posture_Auth_Ed.pdf.18 NATO: Gipfelerklärung von Lissabon, herausgegeben von denStaats- und Regierungschefs, die am Gipfeltreffen des Nordatlantik-rats am 20. November 2010 in Lissabon teilnahmen, http://www.nato.diplo.de/Vertretung/nato/de/06/Gipfelerklaerungen/NATO__Gipfel__Lisboa__1911__Seite.html.

19 NATO: Aktives Engagement, moderne Verteidigung. Strategi-sches Konzept für die Verteidigung und Sicherheit der Mitgliederder Nordatlantikvertrags-Organisation, von den Staats- und Regie-rungschefs in Lissabon verabschiedet, http://www.nato.diplo.de/contentblob/2978550/Daten/1854725/strat_Konzept_Lisboa_DLD.pdf.20 NATO: Deterrence and Defence Posture Review, Brüssel, 20. Mai2012, https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_87597.htm.

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 9

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 8: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

tionelle Debatte innerhalb der NATO aus. Zum ersten Malseit fast zwanzig Jahren wurde Abschreckung erneut imZusammenhang mit einer wieder aufkommenden russi-schen Bedrohung diskutiert. Was die Planungen füreventuelle Kernwaffeneinsätze betraf, so wurden nur De-tails über US-amerikanische Pläne zu deren Einsatz gegengehärtete unterirdische Ziele bekannt. Weiterhin bliebenKonzepte für die Einsatzplanung von strategischen Kern-waffen bestehen, die bei eskalierenden Konflikten zumEinsatz kommen könnten. Außerdem erhielt die Rake-tenabwehr (Ballistic Missile Defense – BMD) einen höhe-ren Stellenwert.

5 Die russische MilitärdoktrinNoch 1990 gab es in der russischen Militärdoktrin nichts,was der US-Nukleardoktrin entsprochen hätte. Offiziellgalt eine Doktrin des Nicht-Ersteinsatzes von Kernwaffen.Dies bedeutete jedoch nicht, dass die Sowjetunion diesenicht in ihre operativen Planungen einbezog. Im Gegen-teil: Eine Reihe von Analysen der Kriegsplanungen desWarschauer Paktes kam zu dem Ergebnis, dass die Sow-jetunion taktische Kernwaffen von Anbeginn an im Rah-men ihrer Militäroperationen im großem Umfang einge-setzt hätte.21 Auch sowjetische Analysen hatten schon dieNützlichkeit von Kernwaffen sowohl für Überraschungs-als auch für Präemptivschläge betont. Im Jahr 1993 er-klärte Russland, dass es sich nicht länger an den Verzichtauf den Ersteinsatz, den die Sowjetunion zugesicherthatte, gebunden fühle – für viele war das ein Beleg für dieSchwäche des russischen Militärs nach dem Zusammen-bruch der Sowjetunion. Russische Theoretiker zeigtensich auch schockiert über die Überlegenheit der US-ame-rikanischen Luftstreitkräfte, insbesondere deren Präzi-sionsluftschläge während des Golfkriegs von 1991.

Im Jahr 1999 gelangte Russland zu der Überzeugung,dass die NATO durch „völkerrechtswidrige“ Interventio-nen wie den Kosovo-Krieg gewillt sei, auch seinen Inte-ressen zu schaden. Dies unterstrich Befürchtungen be-züglich der Erweiterung der NATO und der EuropäischenUnion um ehemalige Mitgliedstaaten des WarschauerPakts sowie neue Diskussionen über Raketenabwehr-systeme. Tatsächlich herrschte unter der russischen Eliteder Eindruck vor, der Westen habe die Schwächen desLandes nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion aus-genutzt.22 Mit zunehmender Schwäche seiner konven-

tionellen Fähigkeiten wurde Russland immer verwund-barer. Nuklearwaffen galten jetzt als Verteidigungs-waffen, die nicht für einen präemptiven Angriff eingesetztwürden. Dementsprechend sah sich die Russische Fö-deration veranlasst, sich zunehmend auf nukleare Ab-schreckung zu stützen. Die Perzeption einer Schwäche desMilitärs und Befürchtungen, die eigene Abschreckungs-fähigkeit werde durch NATO-Raketenabwehr bedroht,übten einen großen Einfluss auf die Debatte unter russi-schen Analytikern aus.

In der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre beschleunigtedie Tatsache, dassman sich nicht auf neue Zählregeln undVerifikationsmechanismen für den Vertrag zur Reduzie-rung Strategischer Offensivwaffen verständigen konnte,die Debatte auf beiden Seiten. Aufgrund der sich aus rus-sischer Sicht verschlechternden Sicherheitslage war esdaher nicht erstaunlich, dass die Rhetorik und das Auf-treten des Landes im Jahr 2008 immer aggressiver wur-den. Im Jahr 2009 brachte der Leiter des Sicherheitsrates,Nikolai Patruschev, die Möglichkeit präemptiver Nu-klearschläge ins Gespräch.23 Außerdem begannen russi-sche Militäranalytiker ihr Augenmerk (erneut) auf denkombinierten Einsatz nuklearer und konventionellerWaffen zu richten.

In der daraus resultierenden Militärdoktrin, die 2010veröffentlicht wurde, spiegelten sich diese Besorgnissebezüglich der Sicherheitslage wider, und das Papier deu-tete ein selbstbewussteres Vorgehen an. Die Doktrin be-nennt ausdrücklich die Gefahren für Russland. Dazu ge-hörten unter anderem „der Wunsch, die Schlagkraft derNATO zu erhöhen […,] und Bestrebungen, die militärischeInfrastruktur der NATO-Mitgliedstaaten näher an dieGrenzen der Russischen Föderation heranzuführen“.Außerdem erwähnt das Papier „die Entwicklung undStationierung von strategischen Raktenabwehrsystemen,die die globale Stabilität untergraben und das etablierteKräftegleichgewicht auf dem Gebiet der Atomraketenverletzen.“24 Diese Kritik wird in der Nationalen Sicher-heitsstrategie von 2015 weiter differenziert.25 Nukleare

21 Vgl. Nielsen 1998, Lunak 2001, Wenzke 2010, Mizokami 2016.22 Für mehr Details siehe Wijk 2015, 119–129.

23 Vgl. David Nowak, Report: Russia to allow Pre-emptive Nukes,Associated Press, 14. Oktober 2009.24 Text der Militärdoktrin der Russischen Föderation, genehmigtdurch Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation vom 5. Feb-ruar 2010; englische Übersetzung ist zu finden unter http://carnegieendowment.org/files/2010russia_military_doctrine.pdf.25 Russische Nationale Sicherheitsstrategie, Dezember 2015. DasOriginal ist zu finden unter http://static.kremlin.ru/media/events/files/ru/l8iXkR8XLAtxeilX7JK3XXy6Y0AsHD5v.pdf; die englischeÜbersetzung findet sich unter http://www.ieee.es/Galerias/fichero/OtrasPublicaciones/Internacional/2016/Russian-National-Security-Strategy-31Dec2015.pdf.

10 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 9: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

Präemptivschläge werden allerdings in beiden Doku-menten nicht erwähnt.

Die neue Doktrin von 2010 äußert sich aber aus-drücklich zum Einsatz von Nuklearwaffen: „[Sie] bleibenein wichtiger Faktor, um den Ausbruch nuklearer mili-tärischer Konflikte und militärischer Konflikte, die mitkonventionellen Angriffsmitteln ausgetragen werden, zuverhüten.“ Anders als die US-amerikanische Doktrin siehtsie allerdings im Fall eines konventionellen Großangriffsnicht den Einsatz von Nuklearwaffen vor. Gleichzeitig er-klärt die Doktrin, dass die „Verhütung eines nuklearenmilitärischen Konflikts und ebenso jedes anderen mili-tärischen Konflikts die Hauptaufgabe der Russischen Fö-deration ist.“ Zudem können im Fall einer drohendenNiederlage bei einem konventionellen Angriff Nuklear-waffen eingesetzt werden. Dies wurde in der Ende 2014veröffentlichten, leicht revidierten Fassung der russi-schen Militärdoktrin noch einmal ausdrücklich bekräf-tigt.26

Obgleich in der Militärdoktrin von 2010 davon keineRede ist, sieht es so aus, als ob die russischen Militär-experten fest davon überzeugt sind, dass der begrenzteEinsatz von Nuklearwaffen zu einer Deeskalation vonKonflikten führen würde.27 Darin spiegelt sich in gewisserWeise nicht nur das Konzept der vorbedachten Eskalation,wie es in Dokument MC 14/4 niedergelegt worden war,sondern auch die Betonung der Abschreckung durch Be-strafung. Da Russland jedoch, anders als die NATO, nichtzwischen taktischen und strategischen Waffen unter-scheidet, könnten Interkontinentalraketen auch für einemaßgeschneiderte nukleare Erwiderung eingesetzt wer-den. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Aus-wirkungen eines Atomschlags so verheerend wären, dasssie den Gegner von einer Eskalation oder einer Fort-führung der Aggression abhielten.

Im Anschluss an die russische Annexion der Halb-insel Krim stellte Präsident Vladimir Putin klar, dassNuklearwaffen ein wesentliches Element der russischenAbschreckung seien. Am 14. August 2014 erklärte er:„Unabhängig von der Lage in ihren Ländern oder ihrerAußenpolitik sollten unsere Partner nie vergessen, dassman sich nicht mit Russland anlegt. Ich möchte Sie daranerinnern, dass Russland eine der größten Atommächte ist.Dies sind nicht bloß Worte, dies ist eine Realität; außer-dem stärken wir unsere nuklearen Abschreckungsstreit-kräfte.“28 Da die Erwähnung von Nuklearwaffen und ihrmöglicher Einsatz während des Kalten Krieges in der

Sowjetunion ein Tabu war, stellte diese Aussage einenBruch mit der Vergangenheit dar. Tatsächlich erklärte derdamalige US-Verteidigungsminister Ashton Carter da-raufhin, es sei unnötig, dies zu sagen, da alle ganz genauwüssten, dass Russland eine Nuklearmacht sei.29 NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte, es gebe keinenGrund für nukleares Säbelrasseln.30

Der russische Wissenschaftler Alexey Arbatov hinge-gen behauptete, die Aussage Putins habe viele russischeExperten davon überzeugt, dass „die regierungsamtlicheMilitärdoktrin um Ideen des ‚selektiven Einsatzes‘ vonNuklearwaffen ergänzt werden müsse, der ‚der Demons-tration der Entschlossenheit‘ oder der Deeskalation vonKonflikten dienen würde.“31 Zwar bestünden große Un-terschiede zwischen dem sowjetischen beziehungsweiserussischen strategischen Denken auf der einen Seite unddem der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten aufder anderen Seite, aber tatsächlich spiegelten sich in derneuen russischen Doktrin Diskussionen wider, die in den1960er-Jahren in der NATO stattgefunden hätten und de-ren Produkt MC 14/3 gewesen sei. Anders als die NATO-Diskussion in den 1960er-Jahren – die eng auf einen eu-ropäischen Kriegsschauplatz gerichtet war – muss mandie russische Debatte vor dem Hintergrund eines sehrallgemein gehaltenen Verständnisses von „konventio-neller Unterlegenheit“ und einer etwas künstlichen Vor-stellung von „Einkreisung“ betrachten: An der GrenzeRusslands findet keine Konzentration ausländischerTruppenverbände statt, wie dies während des KaltenKrieges an der Grenze des Ostblocks in Deutschland derFall war.

6 Strategische AbschreckungDieÜberlegungen zumEinsatz vonNuklearwaffen stelltenaber nicht das wirklich innovative Element der russischenMilitärdorktrin und der Nationalen Sicherheitsstrategiedar. Viel wichtiger ist, dass in beiden Dokumenten einbreiter angelegtes Konzept der Abschreckung bezie-hungsweise der strategischen Abschreckung zum Vor-schein kommt. Kristin Ven Bruusgaard drückte es folgen-dermaßen aus: „Zweifel an der nuklearen Abschreckung

26 Englische Fassung unter https://rusemb.org.uk/press/20129.27 Bruusgaard 2016, 12.28 Zitiert bei Arbatov 2017, 33.

29 Brennan, Margaret: Carter Laments Putinʼs ‘Loose Rhetoricʼ onNukes, CBS News, 22. Juni 2015, http://www.cbsnews.com/news/ash-carter-russia-vladimir-putin-loose-rhetoric-nuclear-missiles-nato/.30 Vgl. Nato Chief Says Russian Nuclear Threats Are ‘Deeply Troub-ling and Dangerousʼ, The Guardian, 28. Mai 2015.31 Arbatov 2017, 33.

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 11

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 10: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

haben den Anstoß zur Entwicklung eines umfassenderenKonzeptes gegeben, welches darauf abzielt, Russlandmehr als nur taktische Nuklearoptionen an die Hand zugeben.“32 Dieser Ansatz ziele darauf ab, eine Lösung fürdie Bedrohung durch das zu finden, was Russen als„nicht-militärische Kriegführung“ bezeichnen. Dazuzählten Sanktionen und andere Bedrohungen der wirt-schaftlichen Basis Russlands, Cyber- und Desinforma-tionskampagnen ausländischer Mächte und die „Farben-Revolutionen“, die in Ländern wie der Ukraine und Geor-gien zum Sturz von Regierungen geführt hätten und dieauch in Russland versucht worden seien.

Folglich umfasse das Abschreckungskonzept jetztauch nicht-nukleare und nicht-militärische Optionen. Diezunehmende Betonung politischer, diplomatischer,rechtlicher, wirtschaftlicher, ökologischer, informatio-neller, militärischer, technischer und sonstiger Instru-mente zum Schutz russischer Interessen deuteten daraufhin, dass sich ein neues Konzept der strategischen Ab-schreckung entwickele. Die Doktrin erwähne, dass eineder Hauptaufgaben der Russischen Föderation bei derAbschreckung und der Verhütung militärischer Konfliktedarin bestehe, „mögliche militärische Gefahren und mili-tärische Bedrohungen mit Hilfe politischer, diplomati-scher und sonstiger nicht-militärischer Mittel zu neutrali-sieren.“

Die im Vergleich zu derjenigen des Jahres 2010 nurleicht veränderte russische Nationale Sicherheitsstrategievon Dezember 2015 geht tatsächlich ausführlicher auf„strategische Abschreckung“ ein und definiert das Kon-zept als „aufeinander abgestimmte politische, militär-ische, militärtechnologische, diplomatische, wirtschaft-liche, informationelle und sonstige Maßnahmen, diekonzipiert und implementiert werden, um strategischeAbschreckung sicherzustellen und bewaffnete Konfliktezu verhüten. Diese Maßnahmen sollen die Anwendungmilitärischer Gewalt gegen Russland verhindern und sei-ne Souveränität und territoriale Integrität schützen. Stra-tegische Abschreckung und die Prävention bewaffneterKonflikte werden dadurch erreicht, dass man die Fähig-keit zu nuklearer Abschreckung auf ausreichendem Ni-veau aufrechterhält und die Streitkräfte der RussischenFöderation, sonstige Truppen und militärische Verbändesowie Truppenkörper auf dem erforderlichen Stand derGefechtsbereitschaft hält.“ Das neue Konzept der strate-gischen Abschreckung umfasst somit offensive und de-fensive, militärische und nicht-militärische Abschre-ckungsinstrumente und ist praktisch ein umfassendesKonzept der Anwendung von Zwangsmitteln in unter-

schiedlichen Domänen (cross-domain coercion). Sämt-liche Machtinstrumente sollen dabei in einem Konzeptzusammengeführt werden. Dieses Konzept der strategi-schen Abschreckung soll die Handlungsoptionen derrussischen Staatsführung beträchtlich erweitern.

Es spiegelt das zentralistische und autokratische Ge-präge des politischen Systems Russlands in einem dop-pelten Sinne wider: Erstens kommt darin zum Ausdruck,dass das Land von einer autokratischen und teilweisekleptokratischen Elite regiert wird, die in zunehmendemMaße darauf angewiesen ist, internationale Spannungenund Konflikte mit demokratisch regierten Staaten zu för-dern, um auf diese Weise ihre Legitimation im Innern zubewahren. Zweitens wird deutlich, dass die Staatsführungdavon ausgeht, dass eine autoritäre Staatsform eine Formder effektiven militärischen und politischen Führung undder gesellschaftlichen Geschlossenheit ermöglicht, die esin Demokratien nicht gibt.

Dieses Konzept der strategischen Abschreckung ver-bindet somit militärische (und nukleare) Abschreckungmit der Anwendung von nichtmilitärischen Zwangs-mitteln. Was die militärischen Mittel betrifft, so bestehtdie Hauptaufgabe der Streitkräfte darin, „die strategischeAbschreckung einschließlich der Prävention militärischerKonflikte sicherzustellen.“33 Neben militärischer Machtrücken aber andere wichtige Faktoren in den Mittelpunkt,die es Russland erlauben, die internationale Politik zubeeinflussen, wie etwa ökonomische, rechtliche, techno-logische und informationstechnologische Fähigkeiten.Diese sollen nicht nur in Kriegszeiten zum Einsatz kom-men, sondern auch in Perioden des Friedens. Damit wer-den nahezu alle Bereiche der internationalen Beziehun-gen zu einem Spielfeld für die Verfolgung geopolitischerInteressen unter den Bedingungen strategischer Konkur-renz. Dies verunmöglicht wiederum diplomatische Be-mühungen zur Beilegung von Konflikten oder die Lösunginternationaler Streitfragen auf der Grundlage der Nor-men des Völkerrechts. Aus westlicher Sicht bedeutet dasneue russische Konzept der strategischen Abschreckungdie Ansage von „hybrider Kriegführung“. Viele sehen da-rin für Friedens- wie für Kriegszeiten eine große Be-drohung.

Neben traditionellen Methoden der Diplomatie ist indiesem Zusammenhang auch das Konzept der „SoftPower“ zu einem wesentlichen Bestandteil der Bemü-hungen Russlands geworden, außenpolitische Ziel-setzungen zu erreichen. Russische Soft Power zielt auf dieVerunsicherung der Zivilgesellschaften des Westens ab

32 Bruusgaard 2016 10.33 Militärdoktrin der Russischen Föderation, 25. Dezember 2014,a. a. O.

12 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 11: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

und soll durch verschiedene Methoden und Technologienwirksam werden, einschließlich (Des-)Information undEinwirkung auf die Kommunikation. Dieses Konzeptwurde als Ergänzung zu Methoden der Diplomatie in die„Konzeption der Außenpolitik der Russischen Födera-tion“ von 2013 aufgenommen. Es reflektiert russischeVorstellungen über ein „kontrolliertes Chaos“. PräsidentPutin benutzte diesen Ausdruck erstmals im Jahr 2012, alser behauptete, derWestenwende vielfältigeMethoden zurDestabilisierung Russlands an.34 „Kontrolliertes Chaos“beschreibt die Natur moderner Zwangsausübung als einfortgesetztes Bestreben, den Gegner in Friedenszeitendurch Subversion und mit wirtschaftlichen Mitteln zu de-stabilisieren, und als Kombination regulärer und irregu-lärer Kriegführung in Kriegszeiten und zwar durch regu-läre Streitkräfte im Verbund mit Rebellen, kriminellenBanden, Terroristen und Geheimoperationen mit Spezial-einheiten und „Speznaz“ (Spezialkräften, die dem russi-schen Militärgeheimdienst unterstellt sind).

Die neue russische Doktrin zu strategischer Ab-schreckung, Soft Power und kontrolliertemChaoswirft dieFrage auf, wie die NATO und ihre Mitgliedstaaten ange-messen darauf reagieren sollen. Mittelfristig bedarf esmilitärischer und vor allem nicht-militärischer Fähigkei-ten, die darauf abzielen, die Anwendung sowohl von mi-litärischen und nicht-militärischen Zwangsmitteln alsauch von Destabilisierungsbemühungen Russlands in ei-ner Vielzahl von Domänen abzuwehren.

7 Kann der Westen derstrategischen Abschreckungentgegentreten?

Es gibt deutliche Anhaltspunkte dafür, dass die NATO derhier beschriebenen Anwendung unterschiedlicher Kon-fliktmittel in verschiedenen Domänen und der russischenstrategischen Abschreckung nicht gewachsen ist. Dierussische Strategie kann als Kriegführung auf der Basisfünf verschiedener Methoden beschrieben werden: De-stabilisierung, Desinformation, strategische Täuschung,Zerrüttung und Zerstörung.35 Darauf angemessen zu rea-gieren verlangt den Einsatz breitgefächerter Zwangsmittelin unterschiedlichen Domänen und ein militärstrate-gisches Denken, das der NATO derzeit noch fremd ist.Abschreckung im Westen gilt in erster Linie als eine Mili-

tärstrategie zur Konfliktprävention und zur Eskalations-kontrolle, wenn Konflikte ausbrechen. Für westlicheMilitärtheoretiker geht es bei der Abschreckung um sym-metrische Reaktionen während Krisen und um Krieg-führung in einem klar definierten Operationsgebiet. Diewestliche Abschreckungstheorie ignoriert weitgehend dienicht-militärischen und asymmetrischen Aspekte vonMacht.

Eine angemessene Reaktion auf die russische Strate-gie zu finden wird auch angesichts der Rhetorik von Prä-sident Donald Trump erschwert, die Zweifel an der US-amerikanischen Bündnissolidarität und folglich an dererweiterten Abschreckung geweckt hat. Vor und währendseiner ersten Wochen im Amt sagte Trump, die NATO seiobsolet, aber während seines ersten Zusammentreffensmit Staats- und Regierungschefs anderer NATO-Staaten inBrüssel beteuerte er, diese sei nicht länger obsolet.36 Da-rin spiegelt sich Trumps unbeständige und widersprüch-liche Einstellung zur NATO wider, die zu einer dauer-haften Belastung der transatlantischen Beziehungen zuwerden scheint. 37

Aber auch die Solidarität der Europäer untereinanderhat abgenommen. Im Hinblick auf die Aufnahme vonFlüchtlingen und die Zuwanderung allgemein fehlt es anSolidarität. Da die nördlichen EU-Mitgliedstaaten densüdlichen Mitgliedstaaten zudem unzureichenden wirt-schaftlichen Reformwillen vorwerfen, mangelt es auch anZusammenhalt in wirtschaftlichen und sozialpolitischenFragen. Was die Sicherheitspolitik anlangt, fehlt es anSolidarität zwischen westlichen und östlichen EU- undNATO-Mitgliedstaaten. Im Fall einer russischen Aggres-sion gegen die baltischen Staaten könnten Zweifel an derBündnistreue aufkommen, insbesondere, wenn bei einerAggression nicht zweifelsfrei ein Bündnisfall nach Arti-kel 5 des NATO-Vertrags vorliegt. Dies könnte dann derFall sein, wenn Russland grenzüberschreitende Ope-rationen zum Schutz russischer Minderheiten in den bal-tischen Staaten durchführt. Eine solche Aggression wirdzweifellos Hand in Hand gehen mit der Verbreitung vonFake News und Propaganda, die darauf abzielen, die So-lidarität innerhalb der Allianz zu untergraben.

Diese Überlegungen werfen wichtige Fragen in Bezugauf die Effektivität der Abschreckung auf und zwar sowohlfür Situationen, die eindeutig unter Artikel 5 des Nord-atlantik-Vertrages fallen, als auch für solche, die keineBeistandsverpflichtungen nach Artikel 5 auslösen. DieSchlüsselfrage ist:Wovor soll abgeschreckt werden? Diese

34 Persson 2017, 7.35 Vgl. Allen/Breedlove/Lindley-French/Zambellas 2017, 11.

36 Johnson, Jenna: Trump on NATO: ‘I said it was obsolete. Itʼs nolonger obsolete.ʼWashington Post 12. April 2017.37 Vgl. auch den Beitrag von Uwe Nerlich in diesem Heft.

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 13

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 12: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

Frage kann nur auf der Basis gewisser Szenarien be-antwortet werden.

Ein erstes derartiges Szenario wäre ein begrenztermilitärischer Angriff zur Besetzung der baltischen Staa-ten. Dies ist zwar eine relativ unwahrscheinliche Mög-lichkeit, die Militärplanermüssen diese jedoch in Betrachtziehen. Die Reaktion der NATO erfordert eine klassische,direkte Abschreckung mit starken konventionellenStreitkräften, unterstützt auch durch Nuklearwaffen.

Ein zweites Szenario sind arrangierte Unruhen in denbaltischen Staaten oder in einem der sogenannten ein-gefrorenen Konflikte als Teil eines Plans, eine neutralePufferzone zwischen Russland und dem Westen zu er-richten. Da dieses Szenario nicht unbedingt Artikel 5 desNordatlantk-Vertrags auslöst, erfordert es eine völlig an-dere Abschreckungsstrategie.

Das Gleiche gilt für das dritte Szenario: Subversion,die auf die Schwächung der transatlantischen und euro-päischen Solidarität abzielt. Dieses Szenario könnte denersten beiden Szenarien vorangehen.

Ein viertes Szenario ist ein russischer Angriff auftransatlantische Unterseekabel. Da durch diese Kabel 97Prozent des globalen Datenverkehrs übertragen – undFinanztransaktionen im Volumen von 10 Billionen Dollarpro Tag abgewickelt – werden, könnten deratige Angriffeverheerende Folgen für die Volkswirtschaften der NATO-Mitgliedstaaten haben. Aus diesem Grund hat der bri-tische Generalstabschef, Air Chief Marshall Sir StewardPeach, gefordert, die NATO solle dem Schutz der Tele-kommunikationskabel oberste Priorität einräumen.38 Jenach dem Ausmaß der wirtschaftlichen Schäden könnteder Angriff auf Unterseekabel einen Bündnisfall nach Ar-tikel 5 auslösen und letztlich eine sehr starke Reaktionerforderlich werden lassen.

Es muss aber auch gefragt werden, wie glaubwürdigdie NATO-Streitkräfte sind, wenn Solidarität nicht dasProblem ist, Subversion wirkungslos bleibt und die NATOauch bereit ist, Gewalt anzuwenden. Bei der Ab-schreckung von Angriffen gegen die baltischen Staatensteht die NATO derzeit vor vier großen Herausforde-rungen: Einsatzbereitschaft, (schnelle) Verlegbarkeit, Zu-gang und Fehldislozierung (maldeployment):

Einsatzbereitschaft. Eine Reihe militärischer Plan-spiele, die die RAND Corporation zwischen Sommer 2014und Frühjahr 2015 durchführte, kam zu dem Ergebnis,dass die NATO die baltischen Staaten nicht würde erfolg-reich verteidigen können: Beim Einsatz eines breitenSpektrums erfahrener militärischer und nicht-militä-

rischer Teilnehmer, die die Rolle beider Seiten spielten,brauchten die russischen Streitkräfte höchstens 60 Stun-den, um die Außenbezirke der estnischen und lettischenHauptstädte Tallinn und Riga zu erreichen.39 Bei eineranderen Studie kam heraus, dass nur Großbritannien,Frankreich und Deutschland jeweils eine schwere Brigadeverlegen und logistisch versorgen könnten, wenn auchunterschiedlich schnell.40Großbritannien und Frankreichkönnten einen Gefechtsverband verbundener Waffen in-nerhalb weniger Wochen verlegen und logistisch unter-stützen. Für die Verlegung einer Brigade bräuchte Frank-reich einige Wochen, während die Briten und die Deut-schen womöglich länger als einen Monat bräuchten. Einepositive Entwicklung ist die Entscheidung der NATO aufdem Gipfel von Wales 2014, eine Einsatzgruppe mit sehrhoher Einsatzbereitschaft (Very High Readiness Joint TaskForce – VJTF) in die NATO-Response Force-Struktur zuintegrieren. Gleichzeitig wurde die Truppenstärke der NRFauf 40.000 Mann erhöht; dadurch verfügt die NATO überflexible Truppeneinheiten, die sich aus Luft-, Land- undSeestreitkräften sowie Spezialkräften zusammensetzen.Dennoch bleibt die Zahl der Truppen mit hoher Einsatz-bereitschaft begrenzt. Die Stärkung der baltischen Staatenwirft zudem Fragen bezüglich der Stabilität in Krisen-situationen auf. Wenn man beispielsweise mit der Ent-sendung von Verstärkung in die baltischen Staaten war-tet, bis eine Krise eskaliert, wird dies wahrscheinlichPräventiv- oder Präemptivangriffe durch Russland aus-lösen und folglich die Krisenstabilität schwächen und dienukleare Schwelle absenken.

Verlegbarkeit von Truppen innerhalb Europas. In Kri-senzeiten werden die Mitgliedstaaten wahrscheinlichsämtliche Hindernisse wie Grenzkontrollen und Infra-strukturprobleme beseitigen, um Truppen schnell in diebaltischen Staaten entsenden zu können. Aber die Be-seitigung von Hindernissen sollte nicht während der Kri-seneskalation erfolgen, denn dieses kann die Krisen-stabilität schwächen. Folglich benötigt die NATO einenmilitärischen Schengen-Raum, der die Bewegungsfreiheitvon Truppen in Europa schon jetzt erlaubt, um sicherzu-stellen, dass Einheiten und Ausrüstung zur richtigen Zeitam richtigen Ort eintreffen. Militärische Mobilität wird imRahmen des neuen EU-Programms der „Ständigen Struk-turierten Zusammenarbeit“ (PESCO) behandelt.

Zugang zu Konflikträumen. Dies ist die dritte Heraus-forderung. Ein militärischer Schengen-Raum ist nutzlos,wenn die NATO keinen sicheren Zugang zu den baltischenStaaten hat. Dieser Zugang wird heute durch russische

38 Russia a “risk” to undersea cables, defence chief warns, BBC,15. Dezember 2017, http://www.bbc.com/news/uk-42362500.

39 Shlapak/Johnson 2016.40 Shurkin 2016.

14 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 13: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

Anti-Acess/Area Denial (A2/AD)-Fähigkeiten ernsthaftherausgefordert. Diese können die NATO-Reaktionen so-wohl in Artikel-5-Situationen behindern als auch in sol-chen Lagen, die nicht unter diesen Artikel fallen. Die rus-sischen A2/AD-Fähigkeiten bestehen heute aus einerbreiten Palette offensiver und defensiver militärischerFähigkeiten (vor allem auch elektronischer Kriegfüh-rung), die gegen Land-, See- und Luftstreitkräfte der NATOeingesetzt werden können, darunter die „Sperrzonen“,„Bastionen“ oder „Ausschlusszonen“ um die HalbinselKola, die Region Kaliningrad, die Krim und auch West-syrien. Effektive A2/AD-Fähigkeiten hindern die NATOheute daran, Streitkräfte in die skandinavischen Gewässerund die baltischen Staaten zu verlegen und verwehren derNATO die Luftüberlegenheit.41 Folglich können sowohldie klassische Abschreckung als auch die kollektive Ver-teidigung nur gestärkt werden, wenn die NATO be-schließt, ihre Streitkräfte zu modernisieren, um der A2/AD-Herausforderung entgegenzutreten.

Fehldislozierung von Truppen (maldeployment). Diesist die vierte Herausforderung. Während des Kalten Krie-ges verschlechterte „Fehldislozierung“ das konventionel-le Kräftegleichgewicht zwischen NATO und WarschauerPakt. Die militärische Überlegenheit der Sowjetunionkonnte jedoch durch die bessere Qualität der konven-tionellen Streitkräfte des Westens und die bessere nukle-are Flexibilität ausgeglichen werden. Leider ist die Fehl-dislozierung heute eine dringendere Herausforderung alswährend des Kalten Krieges. Damals hatte die NATO einegestaffelte Verteidigung entlang der innerdeutschenGrenze und eine Nuklearstrategie der vorbedachten Es-kalation. Aber die „Korrelation der Kräfte“ im Baltikum istsehr ungünstig. Die VJTF besteht aus einer multinationa-len Brigade (ungefähr 5.000 Soldaten) mit bis zu fünfManöverbataillonen. Die VJTF und andere vorne-dislo-zierte Truppen sind gemeinsam mit den Streitkräften derbaltischen Staaten in keiner Weise den im russischen Mi-litärbezirk West stationierten Streitkräften gewachsen.Der Militärbezirk West wurde im September 2010 einge-richtet und umfasst den Militärdistrikt Moskau und St.Petersburg, die Nord- und die Baltische Flotte sowie das1. Kommando „Luftstreitkräfte und Luftverteidigung“. ImMilitärbezirk West sind etwa 400.000 Soldaten statio-niert, davon 65.000 einschließlich Panzern und Ge-schützen in unmittelbarer Nähe zu den baltischen Staa-ten. Da diese der russischen Bedrohung nicht gewachsenwären, sind die dort stationierten Kräfte „Stolperdrähte“für den Fall, dass russische Truppen beginnen, NATO-

Territorium anzugreifen. Doch diese Stolperdrähte sindnicht besonders glaubwürdig. Da es unwahrscheinlich ist,dass ausreichende Verstärkungen rechtzeitig eintreffen,bieten schnelle Verstärkungen keine glaubwürdige Ab-schreckung. Diese stellen nicht einmal ein Instrument fürdie Krisenbewältigung dar, wenn die NATO keine Lösungfür die Probleme der Einsatzbereitschaft und des Zugangsfindet.

Um Russland abzuschrecken, hat die NATO theore-tisch drei Optionen:– Konventionelle Abschreckung. Diese ist die bevorzugte

Option der NATO. Dabei geht es um Abschreckungdurch Vereitelung (deterrence by denial), aber es istschwer vorzustellen, wie diese Form der Abschre-ckung glaubwürdig sein soll, wenn für die Verteidi-gung der baltischen Staaten keine Truppen in aus-reichender Zahl zur Verfügung stehen. Für eineglaubwürdige Abschreckung durch Vereitelungmüssten europäische NATO-Mitgliedstaaten die vieroben erwähnten Herausforderungen angehen. Zudemsollten die USA eine zusätzliche Division nach Polenverlegen. In der Zukunft könnten Prompt Global Stri-kes durch konventionell bewaffnete Interkontinen-talraketen (ICBM) für zusätzliche Flexibilität sorgen.Das Gleiche gilt für konventionell bewaffnete ballis-tische Raketen und in Europa stationierte Marsch-flugkörper.

– Nukleare Reaktion. Wenn die konventionelle Ab-schreckung nicht glaubwürdig ist, sinkt die nukleareSchwelle. Zudem senkt die durch A2/AD gegebeneVerwundbarkeit europäischer und US-amerikani-scher Flugzeuge, die sowohl für konventionelle wiefür atomare Zwecke einsetzbar sind, möglicherweisedie Schwelle für eine strategische nukleare Reaktion.Da dies für die USA eine eher problematische Aussichtsein dürfte, ist mit einem erneuten Interesse an nuk-learen und konventionellen Mittelstreckenraketen inEuropa zu rechnen. Ein weiterer Auslöser einer sol-chen Debatte könnte die Stationierung konventionellwie nuklear einsetzbarer Raketen in Kaliningrad unddie Entwicklung eines neuen, nuklearfähigen russi-schen Marschflugkörpers sein, der möglicherweisegegen den INF-Vertrag verstößt.

– Asymmetrische Abschreckung. Im Fall einer Aggres-sion gegen die baltischen Staaten könnte die NATOdarauf verzichten, dort gegen Russland zu kämpfen,aber sie könnte asymmetrisch mit allen ihr zur Ver-fügung stehenden Machtinstrumenten reagieren. Da-zu könnte auch Abschreckung durch Bestrafung ge-hören, also begrenzte Nuklearschläge, um Russlanddazu zu bewegen, die Feindseligkeiten einzustellen.41 Einen guten Überblick zur Problematik vermitteln Fruhlin/Las-

conjarias 2016.

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 15

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 14: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

8 Ein neues AbschreckungskonzeptUnter den derzeitigen Bedingungen haben die VereinigtenStaaten und ihre europäischen Verbündeten keine andereWahl, als ihre traditionelle Abschreckungsdoktrin abzu-legen und ein neues Konzept zu entwickeln, eines, das aufAsymmetrie und der Anwendung breitgefächerter, dispa-rater Instrumente und Zwangsmittel in unterschiedlichenDomänen basiert und das sowohl in Situationen, die unterArtikel 5 des Nordatlantikvertrages fallen, wirksam seinkann als auch für solche, für die dieser Artikel noch nichtin Anspruch genommenwerden kann. Dies erfordert, dassdas Konzept der „Zwangsausübung“ klar definiert undverstanden wird. Unter „Zwangsausübung“ sollte derwohlüberlegte und gezielte Einsatz – beziehungsweisedessen Androhung – von Machtinstrumenten verstandenwerden, deren Ziel es ist, die politisch-strategischen Ent-scheidungen eines eindeutig als Herausforderer identifi-zierbaren Akteurs zu manipulieren oder zu beein-flussen.42 Bei dem Akteur kann es sich um einen Staat,aber auch um einen nichtstaatlichen Akteur handeln.Dazu bedarf es einer engen Kooperation zwischen derNATO und der Europäischen Union (EU).

Um ihre Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeitzu verbessern, müssen die nationalen Regierungen sowiedie NATO und die EU ihre gesellschaftliche undmaterielleResilienz verbessern. In einer EU-Studie wird Resilienzdefiniert als „die Fähigkeit, Stress standzuhalten und sichvon Schocks oder Krisen zu erholen.“ Dazu sei es erfor-derlich, „kritische Infrastrukturnetze (zum Beispiel Ener-gie, Transport, Raumfahrt) zu stärken, das Gesundheits-wesen und die Nahrungsmittelsicherheit zu schützen, dieCybersicherheit zu verbessern, Radikalisierung und ge-waltbereiten Extremismus zu bekämpfen, die strategischeKommunikation zu stärken, wichtige Verteidigungs-fähigkeiten zu entwickeln und Beziehungen zu Drittlän-dern zu verbessern.“43 Die Stärkung der Resilienz erfor-dert eine enge Kooperation zwischen dem öffentlichenund dem privaten Sektor, was am deutlichsten beimSchutz der Cyberinfrastruktur erkennbar wird. Um Re-silienz zu stärken, müssen Journalisten und Experten sichdarum bemühen, Desinformation zu enthüllen. Techno-logieunternehmen wie Twitter und Facebook sollten FakeNews und von Bots erzeugte Inhalte entfernen und poli-tische Werbung verbieten.

Die Verringerung der Abhängigkeit von russischenÖl-und Gasimporten wäre eine andere einschneidende Maß-

nahme, um die Widerstandskraft zu verbessern. Die EUimportiert mehr als die Hälfte ihres Energieverbrauchs ausRussland und viele Mitgliedstaaten sind noch in hohemMaße von diesen Importen abhängig. Importverringe-rungen oder -stops stellen ein mächtiges Zwangsinstru-ment dar. Die Europäische Kommission hat dies nach derrussischen Annexion der Krim im März 2014 in ihrer an-schließend veröffentlichten Energiesicherheitsstrategieausdrücklich anerkannt. Diese Strategie forderte Stress-tests zur Überprüfung der Energiesicherheit, bei denenunterschiedlich starke Rückgänge bei russischen Erdgas-einfuhren simuliert werden sollten. Auf der Grundlage derStrategie und von Auswertungen des Stresstests schlugdie EU Maßnahmen zur Verringerung der Energie-abhängigkeit von Russland vor, so die Diversifizierung derLieferländer, den Ausbau der erneuerbaren Energien unddie Erhöhung der Energieeffizienz.44

Was offensive Maßnahmen betrifft, sollte das neueAbschreckungskonzept darlegen, wie politisch-strategi-sche Entscheidungen Russlands durch ein breites Spekt-rum vonMachtinstrumenten – unter anderempolitischen,diplomatischen, militärischen, wirtschaftlichen, recht-lichen und informationellen – gezielt beeinflusst werdenkönnen. Diese Strategie müsste das Gegenstück der NATOund der EU zum russischen Konzept der strategischenAbschreckung und der umfassenden Anwendung unter-schiedlicher Zwangsmittel in verschiedenen Bereichenwerden. Insbesondere muss das Konzept darlegen, wieNATO und EU auf Bedrohungen in unterschiedlichen Do-mänen, insbesondere auch gegen hybride Bedrohungen,reagieren wollen.

Bei der asymmetrischen Abschreckung geht es nichtnur um militärische Reaktionen, sondern auch um dieflexible und selektive Anwendung anderer Macht-instrumente. Im Fall einer russischen Aggression gegeneinzelne NATO-Staaten, die Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages auslösen würde, wäre es unter Bedingungenvon Fehldislozierung, mangelnder Einsatzbereitschaftund unzureichenden Truppenverlegungsfähigkeiten derNATO unter Umständen angebracht, mit einem asym-metrischen Angriff auf ein hochwertiges Ziel zu reagieren.So könnte zum Beispiel eine militärische Intervention inden baltischen Staaten mit Angriffen auf russische Mili-tärbasen auf der Krim mit Abstandswaffen beantwortetwerden. Zusätzlich könnten NATO und EU zu verheer-enden Wirtschaftssanktionen sowie zu Cyberangriffenund anderen Formen der elektronischen Kriegführung

42 Wijk 2014, 17.43 Pawlak 2017.

44 Communication from the Commission to the European Parlia-ment and the Council: European Energy Security Strategy, Brüssel,SWD(2014) 330 final, 28. Mai 2014

16 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 15: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

übergehen, die auf die Zerstörung der Kommando-, Füh-rungs-, Kommunikations-, Nachrichtengewinnungs-,Überwachungs- und Aufklärungsfähigkeiten (C4ISR) desGegners zielen. Unter extremen Umständen könnte einederartige Aggression auch mit dem demonstrativen Ein-satz von Nuklearwaffen beantwortet werden. Ein ver-heerender russischer Angriff auf Unterseekabel könnteeine ähnliche asymmetrische Reaktion auslösen.

In Situationen, die nicht oder noch nicht unter Arti-kel 5 des Nordatlantikvertrages fallen, ist die Anzahl derOptionen größer. Russlands Wirtschaft ist in vielfacherWeise verwundbar. Ein Angriff auf die Infrastruktur oderdie Netzwerk-Verbundsysteme beziehungsweise derenBlockade würde der russischen Volkswirtschaft schadenoder diese sogar zerstören. Derartige Aktionen haben dasPotenzial, das strategische Kalkül der russischen Staats-führung zu verändern. Jegliche Zwangsausübung erfor-dert den abgestimmten Einsatz von Instrumenten, um diefreie Bewegung von Kräften, Gütern, Daten sowie wirt-schaftlichen und Finanztransaktionen in Russland zublockieren. Dies könnte je nach dem Grad der Heraus-forderungen den Einsatz von Gewalt, Sanktionen, Boy-kotten, Cyberattacken, das Verbot ausländischer Direkt-investitionen und der Geschäftstätigkeit ausländischerStaatsunternehmen bedeuten, könnte aber auch die Stö-rung von Finanznetzwerken, die Vereitelung von Im-porten und Exporten von Rohstoffen und Energie, dieBlockade physischer Verkehrsverbindungen, die Ein-schränkung der Bewegungsfreiheit von Personen und In-formationsoperationen umfassen.

In der Praxis bedeutet asymmetrische Abschreckungüber unterschiedliche Domänen, dass Wirtschafts-sanktionen mit Cyberangriffen vergolten werden können,Fake News und Propaganda können mit gezielten Cyber-angriffen und der Blockade des Internets beantwortetwerden und politische Einmischung kann mit gezieltenSanktionen beantwortet werden. Dazu bedarf es jedocheines Ausmaßes an strategischem Denken, das in derwestlichen Staatengemeinschaft derzeit nicht vorhandenist.

9 PräzedenzfälleAllerdings gibt es in jüngster Vergangenheit Präzedenz-fälle für asymmetrische Abschreckung, auf die man auf-bauen könnte. So verabschiedete das Europäische Parla-ment am 17. April 2014 im Anschluss an die Annexion derKrim eine nicht-bindende Resolution, die sich gegen dieErdgas-Pipeline South Stream aussprach und alternativeGas-Bezugsquellen für die EU empfahl. Anschließend

nutzte die Europäische Kommission die Rechtsvor-schriften des Dritten Energiepakets der EU, um die South-Stream-Pipeline von Gazprom infrage zu stellen. DieseSammlung von Rechtsnormen, die im September 2009 inKraft trat, hat das Ziel, die europäischen Gas- und Strom-märkte zu öffnen. Vor allem wurde darin festgelegt, dassLieferanten von Erdgas nicht auch gleichzeitig Besitzervon Pipelines sein dürfen. Die geplante Pipeline sollte– unter Umgehung der Ukraine – Bulgarien, Österreich,Kroatien, Ungarn, Italien, Serbien und Slowenien mitrussischem Gas versorgen. Tatsächlich wirkten sich dieEU-Rechtsnormen auf das Projekt South-Stream-Pipelineaus, an der die russische Gazprom einen Anteil von50 Prozent hielt. EU-Offizielle wiesen Gazprom darauf hin,dass es auch anderen Gasproduzenten die Nutzung derSouth-Stream-Pipeline erlaubenmüsse. Obwohl Russlanddagegen eine Klage bei der Welthandelsorganisation ein-reichte, blieb Präsident Putin nichts anderes übrig, als dasganze Projekt aufzugeben. Er gab den westlichen Sank-tionen und denWettbewerbsregeln der EU die Schuld undgestand somit ein, dass die Sanktionen wirken.

Als Reaktion auf die Annexion der Krim, anschlie-ßende Truppenkonzentrationen und Befürchtungen,Russland könnte in der Ukraine intervenieren, um einenKorridor zu schaffen, wurde sowohl in der EU als auch inden USA über die Frage diskutiert, ob man Russland denZugang zum Finanzkommunikationsdienst SWIFT ver-wehren könnte. Dies hätte möglicherweise die russischeVolkswirtschaft ruiniert. Damals wussten nur wenigePersonen von der Drohung, Russland aus dem SWIFT-Netzwerk auszuschließen.45Nur in der Ukraine kursiertenGerüchte, die größte russische Bank auf der Krim sei un-terrichtet worden, dass ihre Verbindung zum SWIFT-Netzwerk am 31. August 2014 beendet würde. In einer of-fiziellen Stellungnahme am 6. Oktober 2014 räumteSWIFT ein, dass es „und seine Anspruchsgruppen Auf-forderungen erhielten, Institute und ganze Länder ausseinem Netzwerk auszuschließen – zuletzt Israel undRussland.“ SWIFT erklärte, man bedauere den Druck so-wie die damit verbundenen Spekulationen in den Medien,„die beide den systemischen Charakter der Dienste, dieSWIFT seinen Kunden weltweit bereitstellt, zu schwächendrohen“. SWIFT selbst „ist nicht befugt, Sanktionsbe-schlüsse zu fassen [….] Der Beschluss, Sanktionen gegen

45 LoGiurato, Brett: The UK Has A Plan To Cut Off Russian Busi-nesses From The Rest Of The World, Bussiness Insider, 29 August2015 http://www.businessinsider.com/russian-sanctions-swift-banking-ban-ukraine-putin-2014–8?international=true&r=US&IR=T,siehe auch Papoza,Kenneth: Russia To Retaliate If Bank’s GivenSWIFT Kick, Forbes-Magazine vom 27 January 2017.

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 17

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 16: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

Länder oder einzelne Institutionen zu verhängen, liegt beiden zuständigen staatlichen Behörden und entsprech-enden Gesetzgebern. Als in der EU ansässige Organisationhält SWIFT alle geltenden europäischen Rechtsvor-schriften ein“.46

Es lässt sich schwer beurteilen, ob Zwangsmaßnah-men Russland tatsächlich von weiteren Aktionen in derUkraine abhielten. Aber beide Fälle machen klar, dass dieEU zur Anwendung von Zwangsmitteln und zu asymmet-rischen Erwiderungen in der Lage ist. Selbstverständlichist es für Demokratien außerordentlich schwierig, hybri-den Bedrohungen kollektiv und in einer abgestimmtenWeise entgegenzutreten. Demokratische Kontroll-mechanismen, verkrustete Bürokratien und nationalePrioritäten verhindern die Entwicklung und Umsetzungeines westlichen Pendants zum russischen Konzept derstrategischen Abschreckung. Die diesbezüglichenSchwierigkeiten zeigten sich schon in Afghanistan und imIrak. Konzepte wie der zivil-militärische Ansatz und dieVernetzung von Militär, Diplomatie und Entwicklungs-hilfe erforderten einen Grad an einheitlicher Führung, deraufgrund vielfältiger Hindernisse und Vorbehalte nichterreicht werden konnte.

10 Kooperation zwischen EU undNATO

Die Beauftragung von NATO oder EU mit der Entwicklungangemessenerer Abschreckungskonzepte gegen eine rus-sische Bedrohung, die auf unterschiedlichen Domänenvorgeht, ist ebenfalls sehr schwierig. Sowohl die NATO alsauch die EU sind Organisationen, deren Mitglieder sou-veräne Staaten sind, die auf dem Gebiet der Sicherheits-und Verteidigungspolitik nur widerwillig Hoheitsrechteabgeben. Derzeit haben weder die NATO noch die EU eineangemessene Antwort auf die russische Herausforderung.Da unter den derzeit herrschenden Bedingungen der Un-terschied zwischen Krieg und Frieden verwischt, ent-stehen zusätzliche Herausforderungen, weil einzelneFormen von Angriffen nicht unbedingt eine Situation un-ter Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages darstellen müs-sen, die eine kollektive Verteidigung auslösen würde.

Strategische Abschreckung oder hybride Bedrohun-gen zwingen aber sowohl die EU als auch die NATO zueiner engeren Kooperation, insbesondere wenn es umHerausforderungen und Bedrohungen geht, die nicht un-

ter Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages fallen. Die NATOist ein Militärbündnis, das sich auf die Abschreckungdurch Hard Power (militärische Ressourcen) einschließ-lich offensive Cyberoperationen konzentriert, währenddie EU hauptsächlich mit Soft Power, Regeln und wirt-schaftlichen Instrumenten abschreckend wirken kann.Beide Organisationen sind aber durchaus als kom-plementär zu begreifen und zusammen hervorragend fürdie Anwendung von Zwangsmitteln in unterschiedlichenDomänen zum Zwecke der Abschreckung geeignet. Mitt-lerweile haben beide Organisationen diese Chance er-kannt und einige nützliche Initiativen ergriffen, unteranderem:– Eine gemeinsame Strategie gegen hybride Bedrohun-

gen: Im Juli 2016 haben die EU und die NATO amRande des Warschauer NATO-Gipfels eine gemein-same Erklärung zur Abwehr hybrider und Cyber-bedrohungen verabschiedet.47 Anschließend ergrif-fen beide Organisationen Maßnahmen, die eine bes-sere Koordinierung, gemeinsame Lageerfassung,strategische Kommunikation, Krisenreaktion und Re-silienz sicherstellen sollen. Interessanterweise hatFinnland 2017 das European Centre of Excellence forCountering Hybrid Threats gegründet. Finnland, dasnicht der NATO angehört, lud sowohl EU- als auchNATO-Mitgliedstaaten ein, eine Grundsatzvereinba-rung zu unterzeichnen.

– Initiativen zur Abwehr von Subversion: Sowohl dieEuropean External Action Service East StratCom TaskForce (Strategisches Kommunikationsteam Ost) derEU als auch dasNATOStratComCentre of Excellence inLettland spielen eine wichtige Rolle bei der Bekämp-fung von Propaganda und Fake News. Um Fake Newsund Desinformation entgegenzutreten, müssen EUund NATO ein gemeinsames Narrativ und eine ge-meinsame strategische Kommunikation entwickeln.Diese sollten ergänzt werden durch ähnliche Initiati-ven auf nationaler Ebene.

– Initiativen zur Cybersicherheit: Im Jahr 2013 verab-schiedete die EU ihre Cybersicherheitsstrategie mitdem Titel „An Open, Safe and Secure Cyberspace“. ImJuli 2016 erkannten die NATO-Verbündeten den Cy-berraum als ein Einsatzgebiet an, in dem sich dieNATO kollektiv und effektiv verteidigen muss. ImFebruar 2016 unterzeichnete die NATO ein Techni-sches Übereinkommen zur Cyberabwehr mit der EU,

46 SWIFT statement of October 6, 2016. https://www.swift.com/news-events/press-releases/swift-sanctions-statement.

47 Joint declaration by the President of the European Council, thePresident of the European Commission, and the Secretary Generalof the North Atlantic Treaty Organization, Warschau, 8. Juli 2016,https://www.nato.int/cps/de/natohq/official_texts_133163.htm.

18 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 17: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

das beide dazu verpflichtet, den Informationsaus-tausch und die gegenseitige Unterstützung bei derVerhütung, Schadensbegrenzung und Überwindungvon Cyberangriffen zu verbessern. Im Juli 2016 sagtendie NATO-Mitglieder mit dem Cyber Defense Pledgezu, ihre Cyberabwehr zu stärken.

Insbesondere die Krisenstabilität sollte in der anstehen-den strategischen Debatte über Abschreckung eine be-deutende Rolle spielen. Erstens sollte sie mit Blick auf diebaltischen Staaten diskutiert werden, wobei es um dieStärkung dieser Staaten gegen unterschiedliche Bedro-hungen und um die Ausweitung von Militärmanövern derNATO gehen muss. Zweitens erfordert Krisenstabilität,dass man den während des Kalten Krieges von den Mit-gliedstaaten der Organisation für Sicherheit und Zusam-menarbeit in Europa (OSZE) entwickelten Mechanismuszur Krisenbewältigung reaktiviert. Dazu gehören insbe-sondere nichtmilitärische vertrauensbildende und si-cherheitsbildende Maßnahmen, Rüstungskontrolle, früh-zeitiges Handeln und frühe Krisenreaktion sowie Mecha-nismen zur friedlichen Konfliktbeilegung und zurFrühwarnung bei Sicherheitsproblemen. Drittens erfor-dert Krisenstabilität Kenntnisse über Abschreckung undden Einsatz von Zwangsmitteln in unterschiedlichen Do-mänen. Leider gilt auch heute, dass den meisten Ent-scheidungsträgern ein grundlegendes Verständnis derNatur von Krisen und Kriseneskalation fehlt. Eine effek-tive Krisenbewältigung erfordert Investitionen in Krisen-informationssysteme, die Entwicklung von Maßen zur Ef-fektivirung vonKriseninterventionen und eineDoktrin derasymmetrischen Abschreckung in unterschiedlichen Do-mänen, die auf Zwangsausübung und kontrollierter Es-kalation aufbaut.48

11 SchlussDas westliche Abschreckungsdenken wurzelt noch immerim Kalten Krieg. Aber das russische Konzept der strategi-schen Abschreckung und der hybriden Kriegführung er-fordert eine grundlegende Revision des Abschreckungs-konzepts der NATO, welches auf dem mehr oder mindersymmetrischen Einsatz konventioneller Streitkräfte be-ruht, die von Nuklearwaffen als der ultimativen Sicher-heitsgarantie unterstützt werden. Das russische Konzeptder strategischen Abschreckung umfasst eine Vielzahlvon Domänen und kann zu Bedrohungen führen, die

oberhalb oder unterhalb der Schwelle von Artikel 5 desNordatlantikvertrages liegen. Es zielt auf Konfliktvor-beugung und die Erhaltung der Eskalationskontrolle inKonflikten, die mit militärischen und nicht-militärischenMitteln ausgetragen werden. Interessanterweise liefertdas russische Abschreckungskonzept zahlreiche An-haltspunkte für eine Antwort der NATO, die sich auf ähn-liche Ideen der Ausübung politischen, wirtschaftlichen,diplomatischen und militärischen Zwangs unter Nutzungmilitärischer und nicht-militärischer Machtinstrumentestützen muss. Da die Verteidigung der baltischen Staatenmit militärischen Mitteln unmöglich ist, sollte das neueKonzept auf dem Grundsatz der asymmetrischen Ab-schreckung aufbauen. Jedes neues Abschreckungskon-zept desWestensmuss sowohlmilitärische als auch nicht-militärische Mittel umfassen. Seine Entwicklung stellt diederzeit wichtigste Herausforderung dar, die die gegen-wärtig politisch Verantwortlichen in NATO und EU baldannehmen sollten.

LiteraturAllen, John/ Breedlove, Philip M./ Lindley-French, Julian/ Zambellas,

George (2017): Future War NATO? From Hybrid War to Hyper Warvia Cyber War. Bratislava; GlobSec (NATO Initiative), https://www.globsec.org/wp-content/uploads/2017/10/GNAI-Future-War-NATO-JLF-et-al.pdf.

Arbatov, Alexey (2017): Understanding the US-Russian NuclearSchism, Survival, 59 (2) 33–46.

Brodie, Bernard (1959): Strategy in the Missile Age. Princeton;Princeton University Press.

Brodie, Bernard (1973): War and Politics. London: Collier.Bruusgaard, Kristin Ven (2016): Russian Strategic Deterrence,

Survival, 58 (4) 7–26.Fruhling, Stephan/Lasconjarias, Guillaume (2016): NATO, A2/AD and

the Kaliningrad Challenge, Survival, 58 (2) 95–116.Kissinger, Henry A. (1974): Kernwaffen und auswärtige Politik.

München; Oldenbourg.Lunak, Petr (2001): Planning for Nuclear War. The Czechoslovak War

Plan of 1964. Cold War International History Project Bulletin,(Zürich: ETHZ) 12–13, 289–298.

Mizokami, Kyle (2016): Revealed: How the Warsaw Pact Planned toWin World War Three in Europe. The National Interest, http://nationalinterest.org/feature/revealed-how-the-warsaw-pact-planned-win-world-war-three-16822 ;

Nielsen, Harald (1998): Die DDR und die Kernwaffen. Die nukleareRolle der Nationalen Volksarmee im Warschauer Pakt. Baden-Baden; Nomos Verlagsgesellschaft.

Osgood, Robert E. (1958): Limited War. The Challenge in AmericanStrategy. Chicago; University of Chicago Press.

Pawlak, Patryk (2017): Countering Hybrid Threats: EU-NATOCooperation. Brüssel; European Parliamentary ResearchService, http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/BRIE/2017/599315/EPRS_BRI(2017)599315_EN.pdf

48 Vgl. Sweijs/Usanov/Rutten 2016, 55–62.

Die Rolle von Abschreckung im neuen strategischen Umfeld Europas 19

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM

Page 18: Rob de Wijk Die Rolle von Abschreckung im neuen ... · bald die andere Seite ebenfalls Kernwaffen besaß, verlor die Strategie massiv an Glaubwürdigkeit. Kritiker der Strategie bemängelten,

Persson, Gudrun (2017): The War of the Future. Rom; NATO DefenseCollege.

Shlapak, David A./ Johnson, Michael W. (2016): ReinforcingDeterrence on NATOʼs Eastern Flank: Wargaming the Defense ofthe Baltics. Santa Monica: Rand Corporation.

Shurkin, Michael (2016): The Abilities of the British, French, andGerman Armies to Generate and Sustain Armored Brigades inthe Baltics. Santa Monica: Rand Corporation.

Sweijs, Tim/ Usanov, Artur/ Rutten, Rik (2016): Back to the Brink:Escalation and Interstate Crises. Den Haag: HCSS StratMon.

Wenzke, Rüdiger (Hrsg.) (2010): Die Streitkräfte der DDR und Polensin der Operationsplanung des Warschauer Paktes, Potsdam;Militärgeschichtliches Forschungsamt.

Wijk, Rob de (2014): The Art of Military Coercion. Amsterdam;Amsterdam University Press.

Wijk, Rob de (2015): Power Politics: How China and Russia Reshapethe World. Amsterdam; Amsterdam University Press.

Woolf, Amy F. (2017): Nonstrategic Nuclear Weapons. Washington,D.C.; Congressional Research Service.

20 Rob de Wijk

UnauthenticatedDownload Date | 8/29/19 2:33 AM