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Rundbrief 2 99 ISSN 0940-8665 35. Jahrg./ Dezember 99, DM 7,5 Nachbarschaftsheime, Bürgerzentren, Soziale Arbeit, Gemeinwesenarbeit • Erfahrungen • Berichte • Stellungnahmen „Motorspielzeug 2000“ „Die Welt und ihre Sterne“

Rundbrief 2-1999

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Vorwort von Eva-Maria Antz, Guido Feldhausen, Peter Röger, Birgit Weber Lokale Agenda 21 in Hessen - Vertane Chance? von Christine Becker Welches Schweinderl hätten Sie gern? von Heinz Altena Übersicht über einige programmatische und konzeptionelle Aussagen zu öffentlichen Fördermaßnahmen zur Stadtteilentwicklung und zur Gemeinwesenarbeit bzw. stadtteilbezogenen sozialen Arbeit von Heinz Altena Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten? von Dieter Oelschlägel Nachbarschafts-, Selbsthilfe- und Familienzentren in Berlin - Arbeitsgrundsätze, Ausstattung, flächendeckende Versorgung und Neustrukturierung von Georg Zinner Aus den Einrichtungen Auf dem Weg zum Stadtteilverbund Wedding von Ruth Ditschkowski Aktivierende Befragung im Soldiner Kiez von Irene Beyer Das Fürst Donnersmarck-Haus von Thomas Golka Einblicke in fünf Jahre Nachbarschaftsarbeit in Marzahn von Sigmar Nowotsch Gesundheits- und soziale Dienste domino e.V. in Berlin-Siemensstadt

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Page 1: Rundbrief 2-1999

Rundbrief 299

ISSN 0940-866535. Jahrg./Dezember 99, DM 7,5

Nachbarschaftsheime, Bürgerzentren, Soziale Arbeit,

Gemeinwesenarbeit

• Erfahrungen• Berichte• Stellungnahmen

„Motorspielzeug 2000“

„Die Welt und ihre Sterne“

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Der RUNDBRIEF wird herausgegeben vom VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT E.V.

Slabystr. 11, 50735 Köln Tel 0221 / 760 69 59

Fax 0221 / 760 79 05E-mail: [email protected]

Kontaktbüro Berlin:Tucholsky Strasse 11

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Redaktion: Renate da Rin, Birgit WeberGestaltung: Both Grafik

Der RUNDBRIEF erscheint zweimal jährlichEinzelheft: DM 9,50 incl. Versandkosten

ISSN 0940-8665

Rundbrief 2/99 35. Jahrgang _______________ Dezember 1999

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwortvon Eva-Maria Antz, Guido Feldhausen, Peter Röger, Birgit Weber ________ S. 1

Lokale Agenda 21 in Hessen - Vertane Chancen?von Christine Becker______________________________________________________S. 2

Welches Schweinderl hätten Sie gern?von Heinz Altena_________________________________________________________S. 6

Übersicht über einige programmatische und konzeptionelle Aussagen zu öffentlichen Fördermaßnahmen zur Stadtteil-entwicklung und zur Gemeinwesenarbeit bzw. stadtteil-bezogenen sozialen Arbeitvon Heinz Altena_________________________________________________________S. 9

Was kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe leisten?von Dieter Oelschlägel _________________________________________________S. 16

Nachbarschafts-, Selbsthilfe- und Familienzentren in Berlin - Arbeitsgrundsätze, Ausstattung, flächendeckende Versorgung und Neustrukturierungvon Georg Zinner ______________________________________________________S. 23

AUS DEN EINRICHTUNGEN Auf dem Weg zum Stadtteilverbund Weddingvon Ruth Ditschkowski __________________________________________________S. 29

Aktivierende Befragung im Soldiner Kiezvon Irene Beyer ________________________________________________________S. 31

Das Fürst Donnersmarck-Hausvon Thomas Golka _____________________________________________________S. 33

Einblicke in fünf Jahre Nachbarschaftsarbeit in Marzahnvon Sigmar Nowotsch __________________________________________________S. 34

Gesundheits- und soziale Dienste domino e.V. in Berlin-Siemensstadtvon Volker Karstens/Wolfram Quack/Rainer Schünemann ______________S. 37

Unternehmungen mit Migrantinnen der 1. Generationvon Monika Wagner-Krämer ___________________________________________S. 39

Ein Ort der heimatlichen Gefühlevom Nachbarschaftsheim Schöneberg e.V.______________________________S. 41

MAGAZIN ____________________________________________________________S. 43

Exchangeable - interkulturelles Lernen von Marion Mohrlok

Mädchen-TV von Annette Gowin

Marx meets Madonna von Jens Clausen

War es wirklich so? von Brigitte Zander

REZENSIONEN_______________________________________________________S. 47

Ehrenamt und Bürgerengagement• Ehrenamt und Nutzermitwirkung• Goldene Regeln zur Arbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen

und Mitarbeitern• Anerkennung/Ehrung• Freiwilliges Engagement und die Anforderungen an eine fachlich-

rationelle Unterstützungsstrukturvon Georg Zinner ______________________________________________________S. 48

Das Ehrenamt zwischen Anspruch und Wirklichkeit - der Ehrenamtliche als Sparfaktor?von Jürgen Altmann ____________________________________________________S. 52

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2000Titelillustrationen:

oben:„Motorspielzeug 2000“Max, 8 Jahre Lieblingsfarbe: rotTraumberuf: DoktorHobby: Fahradfahren, schwimmenCool: Backstreet Boys

unten:Sandy, 6 Jahre „Die Welt und ihre Sterne“Lieblingsfarbe: rosaTraumberuf: ZahnärztinHobby: Ballett, MusikCool: Gepard

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 1

VORWORTRechtzeitig zur Jahrtausendwen-de erscheint der Rundbrief 2/99

Wenn Sie, liebe Leserinnen undLeser, jetzt einen Blick in das vergangene Jahrundert erwar-ten, müssen wir Sie leider enttäu-schen. Dieser Rundbrief ist eherein Spiegel der aktuellen Situ-ation.

Er verbindet theoretische Erläute-rungen mit konkreten Projekten.Er stellt Modelle vor, die bei derZuordnung und Strukturierunghelfen können, und berichtet vonErfolgen in der Praxis, die oft indem scheinbaren „Durcheinan-der“ von „Das Alte gilt nichtmehr und das Neue ist nochnicht“ die Motivation geben,trotzdem oder gerade deswegenweiter zu machen.

Zugegeben, so ganz hat uns der Jahrtausendwechsel nichtkalt gelassen:

Wir haben Kinder aus dem Hort in der Slabystraße 11, also direkt unter unserem Büro,gebeten Bilder zu dem Thema„Das Jahr 2000“ zu malen. Eine Auswahl dieser Bilder - mitAngaben zu den KünstlerInnen -

illustrieren diese letzte Ausgabeunseres Rundbriefs in diesemJahrtausend.

Besonders bedanken möchtenwir uns an dieser Stelle bei EvaBecker, die in den letzten Jahrenehrenamtlich wichtige Redaktions-arbeit für den Rundbrief geleistethat. Leider ist ihr dieses Engage-ment aus zeitlichen Gründennicht mehr möglich.

Nach wie vor freuen wir uns auf Ihre Meinung zu diesemRundbrief und Ihre Beiträge fürdie zukünftigen Rundbriefe.Nicht böse sind wir Ihnen, wennSie uns weiterempfehlen, im Gegenteil, es würde uns sehrfreuen und bestätigen.

Wir wünschen Ihnen noch erfolg-reiche, lustige und spannendeWochen in 1999 und natürlichalles Gute für 2000!

Eva-Maria AntzGuido Feldhausen

Peter Röger und Birgit Weber

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2 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Lokale Agenda 21 in Hessen –

Vertane Chancen?Verband für sozio-kulturelles Leben

1992 unterzeichneten mehr als 170

Staaten auf der Weltkonferenz für Umwel

und Entwicklung in Rio de Janeiro die

Agenda 21. Sie verpflichteten sich dami

dem Gedanken der „einen Welt“ und de

„nachhaltigen Entwicklung“. Die Kommunen

sind nach Kapitel 28 dieses Aktionsplans

dazu aufgefordert, eine „Lokale Agenda

zu entwerfen. Unter Beteiligung der Bürger

der Unternehmen, der Kirchen, der Gewerk

schaften, Verbände und anderer gesell

schaftlicher Gruppen sollen in einem Prozeß

„zukunftsfähige“ Ziele für die Stadt formu

liert werden, die der Vorgabe des Kapitels

28 der Agenda 21 entsprechen: „Von städ

tischem Handeln soll kein Schaden

für die EINE WELT ausgehen.

Über praktische Erfahrungen aus de

Planung und Umsetzung dieses Agenda

Prozesses berichtet Christine Becker

von Christine Becker

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ihre LA 21 erhalten. Welch ein willkomme-ner Segen für die leeren Stadtkassen.50.000 DM für ein Jahr festgelegt, ... dannkönnte man davon ja schon einen Teil derKanalisation erneuern oder endlich neueStühle für das Dorfgemeinschaftshaus an-schaffen etc.

Das Erwachen für diese Kommunen kamdann, als sich das RKW (Rationalisierungs-kuratorium der Deutschen Wirtschaft) inHessen zu Gesprächen mit den Bürgermei-stern und Umweltbeauftragten anmeldete.Das RKW ist von der Landesregierung mitder Verwaltung der Fördermittel beauftragt,soll die ordnungsgemäße Verwendung desGeldes sicherstellen und die LA 21-Prozesseevaluieren. In diesen Gesprächen erfuhrendie politisch Verantwortlichen und derenFachleute für Umweltfragen dann, daß dieFördergelder, also z.B. 50.000 DM, nur fürdie Honorare von externen Moderatorenund Begleitern von Arbeitsgruppen in derStadt, für Informationsmaterial und für einekonsequente Öffentlichkeitsarbeit zur Verfü-gung gestellt werden. Also doch kein Geldfür die städtischen Konten. Aber nun hatteman ja schon ganz euphorisch in der heimi-schen Presse vermelden lassen, daß manbei diesem neuen Prozeß an der Gestaltungder Zukunft unter Nachhaltigkeitsgesichts-punkten mitmacht. Man war also im Zug-zwang und es hieß jetzt das Beste darauszu machen. Es mußten Moderatoren ausge-sucht werden, denen man zutraute, das An-genehme mit dem Nützlichen zu verbinden.Mit anderen Worten: Warum nicht die Ge-legenheit nutzen und mit Hilfe der Modera-toren Beteiligungsmöglichkeiten optimieren,die man schon hat, die aber nicht ausrei-chend genutzt werden. Solche Beteiligungs-möglichkeiten gibt es vor allem bei der Aus-weisung und Planung von neuen Siedlungs-und Gewerbe- oder Industriegebieten, vonStraßen und von größeren Gebäudekom-plexen von öffentlichem Interesse (Einkaufs-zentren, Logistikzentren, Autohöfe).

Bei der Planung solcher Projekte bedie-nen sich alle Kommunen externer Planungs-büros, in denen i.d.R. Geographen, Ingeni-eure und Architekten Prognosen anstellenund nach gesetzlichen Vorlagen und über-geordneten Rahmenplänen Gutachtenschreiben und Zeichnungen und Pläne an-fertigen. Dieses Material dient dann denpolitischen Gremien als Entscheidungs-grundlage, muß aber auch öffentlich ausge-legt werden, damit die Bevölkerung (Betrof-fene, Anlieger, Nachbarn) Einsicht nehmen

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Investitionen in die Zukunft müssen nichtInvestitionen in Straßen, Gebäude oder hi-storische Marktplätze sein. Immaterielle In-vestitionen wie die Unterstützung und Quali-fizierung von Menschen und der Aufbauvon Kooperationen und Netzwerken sindsehr viel schwerer zu kalkulieren. Maßnah-men zur Förderung des Gemeinwohls, derAufbau und die Pflege von Gemeinschaften,Nachbarschaften, Bürgerinitiativen, die Un-terstützung von „Hilfe zur Selbsthilfe“ undneuen Formen der Mitgestaltung des öffent-lichen Lebens werden nicht ausreichend un-terstützt und publik gemacht.

Was hat das aber mit der Agenda 21zu tun? Eine Frage, deren Hintergrund hierbeleuchtet werden soll.

Ich habe als Moderatorin in zwei ländli-chen Städten gearbeitet, die ihren LokalenAgenda 21-Prozeß begonnen haben. Daich selbst Soziologin und Politikwissen-schaftlerin bin, mit meinem Büro aber auchWirtschaftsunternehmen und Wirtschaftsver-bände berate, hatte man mich für die Mo-deration und Begleitung von Arbeitsgrup-pen zu den Oberthemen „Soziales, Politik,Wirtschaft“ unter Vertrag genommen. DurchUmstände, die ich hier in dem Artikel be-schreibe und kommentiere, gibt es dieseGruppen mittlerweile nicht mehr oder siemußten sich andere Themen suchen. DieHintergründe sind so klar und genauso be-dauerlich, daß ich sie der kritischen undpraxiserfahrenen LeserInnenschaft des Rund-briefs des Verbandes für sozial-kulturelle Ar-beit bekannt machen möchte. Der Verbandfür sozial-kulturelle Arbeit und seine Mit-gliedsorganisationen leisten in vielen Städ-ten wichtige Arbeit zur Erfüllung der Agen-da 21-Ziele, womöglich ohne sich dessenso dezidiert bewußt zu sein.

Die Agenda 21 von Rio, verabschiedet1991 und als nationale Handlungsrichtlini-en auch für Deutschland akzeptiert, propa-giert die Behandlung von Problemen ausden Bereichen Soziales, Ökonomie undÖkologie - und zwar gleichberechtigt. Dieumfassende Umsetzung in der Bundesrepu-blik läßt allerdings noch immer auf sichwarten. In den Bundesländern geht man dieThematik ganz unterschiedlich an, in allenwird die Koordination der Agenda 21-Ar-beit aber durch die Umweltministerien gelei-stet. So ist Bayern ein Beispiel dafür, daßman bis hinunter auf die Ebene der Städteund Gemeinden sehr viel erreichen kann,

wenn der Orientierungsrahmen für die Pro-zesse und Projekte im wesentlichen vonoben herab vorgegeben und straff organi-siert ist. In Nordrhein-Westfalen hingegenbesteht die Unterstützung durch die Landes-regierung darin, daß sie den politischenWillen zur Agenda-Arbeit öffentlich macht,ansonsten in erster Linie auf die von untengewachsenen Strukturen baut, diese jedochganz gezielt fördert und vernetzt. Hier sollnun ausführlich über die Arbeit an derAgenda 21 berichtet werden, wie sie inHessen praktiziert wird.

Bis zur Landratswahl im Februar 1999wurde das Umweltministerium in Hessendurch Ministerinnen der Grünen geleitet.Mit dem Beginn des Haushaltsjahres1998/1999 waren die Mittel aus der inHessen damals - unter der rot-grünen Lan-desregierung - noch gegebenen Grundwas-serabgabe zur Finanzierung von Agenda21-Prozessen auf kommunaler Ebene zurVerfügung gestellt worden. Diese Prozessewerden als „Lokale Agenda 21“ bezeich-net, hier im Artikel abgekürzt mit LA 21.Die Verwendung der Gelder aus derGrundwasserabgabe zwang zu einer sehreinschränkenden Zweckbindung: Sie durf-ten nur für die Bearbeitung ökologischerFragen und zur Thematisierung von Fragenzur Ressourcenschonung verwendet wer-den. Schon da war abzusehen, daß die Ar-beit an rein sozialen Fragen, aber auch ander Förderung von Kulturprojekten ohneökologischen Bezug und an Projekten zurWirtschaftsförderung aus diesen Landesmit-teln nicht finanziert werden kann.

Die hessischen Kommunen haben sichaus unterschiedlichen Motiven zur Teilnah-me an diesem „hessischen Weg“ entschlos-sen. Allerdings gibt es auch einige Städteund Gemeinden in Hessen, die zwar dieCharta von Aalborg unterschrieben habenund die sich damit auch verpflichten, dieAgenda 21 von Rio anzuerkennen; auswohlerwogenen Gründen haben sie jedochauf die Finanzierung ihrer LA 21-Arbeitdurch die Landesregierung verzichtet.

Imagegewinn dürfte der Hauptgrund fürdie meisten Kommunen sein, ihren LA 21-Prozeß zu beginnen. Ein anderer Grundliegt aber sicher auch in einem Mißver-ständnis, das zunächst für die entsprechen-den Stadtverordnetenbeschlüsse sorgte, diezur Förderung notwendig waren: Es hieß,daß Städte mit ca. zehn- bis zwölftausendEinwohnern 50.000 DM Fördermittel für

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und ggf. Einspruch anmelden kann. Leiderwird dieses Instrument der Mitwirkung beider Stadtentwicklung nicht ausreichend ge-nutzt. Leider kommen viel zu viele Be-schwerden erst dann, wenn der erste Bag-ger schon die Erde auf- oder ein bestehen-des Gebäude niedergerissen hat. Dannmelden sich plötzlich um das Allgemein-wohl besorgte Bürgerinnen und Bürgerbeim Bürgermeister und beschweren sich.Der Mechanismus, der dann in Gangkommt, sieht ungefähr so aus: Bürger be-schwert sich beim Bürgermeister, der -ganz fürsorglicher und verständnisvollerVater - ruft seinen Bauamtsleiter, um der Sa-che auf den Grund zu gehen. Der Bauamts-leiter (selbst oft ein ehrenvoller Sohn derStadt) verweist auf die Gutachten und dierechtlich wasserdichte Planung des exter-nen Planungsbüros. Die werden ja extradafür bezahlt und können jetzt für dasGeld auch den schwarzen Peter zugewie-sen bekommen. Dann wird oft ein zumin-dest vorläufiger Baustopp erwirkt, Investo-ren werden ins Rampenlicht der öffentli-chen Diskussion gezogen, weitere Gutach-ten müssen geschrieben werden - das alleskostet Zeit und damit noch mehr Geld undes schädigt den Ruf der verantwortlichenPolitiker und der Verwaltung.

Rechtzeitige und ausführliche Auf-klärung und Beruhigung der Bevölkerungdurch die Planer der Planungsbüros als Mo-deratoren von LA 21-Arbeitsgruppen undaußerhalb von aktuellen Planungsverfahrenund Konflikten scheint also das Mittel derWahl. Mit viel gutem Willen kann man jaauch den Flächenverbrauch für Versiege-lung im Straßenbau und den Boom zumBau von Einfamilienhäusern unter die „Ver-änderung der Konsumgewohnheiten“ derAgenda 21 von Rio subsumieren.

Anscheinend hatte das RKW aber ver-säumt, den Bürgermeistern rechtzeitig undausreichend klar zu machen, daß Arbeits-gruppen, bei denen sich nach einer Anlauf-phase herausstellt, daß sie tatsächlich„nur“ an sozialen Fragen, an Fragen derSicherheit, der Jugendarbeit, des Miteinan-ders der Generationen arbeiten möchten,von der Stadt selbst oder durch Sponsorenund Spenden gefördert werden können.

Eine andere Arbeitsgruppe zu denOberbegriffen „Soziales und Politik“ hattesich als Schwerpunktthema den Aufbau ei-ner vertrauensvolleren Zusammenarbeit mitihrer Stadtverwaltung und mit ihren Kom-munalpolitikern ausgesucht. Die Gruppe

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setzte sich zusammen aus Männern undFrauen, die in der Kinderbetreuung, als Eh-renamtliche in Kultur- und Sozialvereinenund in Naturschutzgruppen immer wiederdie Erfahrung gemacht haben, daß all ihreprivaten Initiativen am Unwillen, aber auchan der Unfähigkeit eines Großteils der An-gestellten der Stadtverwaltung zur Koopera-tion und zur aktiven Mitgestaltung scheiter-ten. Den meisten Kommunalpolitikern be-scheinigte man das gleiche. Diese Themenbargen natürlich ungemein viel Konfliktstoff.Selbst fähige Politiker und nach modernenGesichtspunkten geschulte Verwaltungsleutehätten sicher vor großen Problemen gestan-den, diese Arbeitsgruppe als Herausforde-rung und als Chance zu verstehen und zurOptimierung ihrer Arbeit zu nutzen. Soaber hielten sich VertreterInnen der Politikso gut wie ganz aus den Gesprächen her-aus und die Mitarbeiter der Verwaltungensaßen, sofern sie sich zur Teilnahme bereiterklärten, natürlich zwischen den Stühlenund waren in dem Dilemma, sich gegen-über ihren Vorgesetzten ja doch noch loyalverhalten zu müssen. So kam es, daß eineGemeindepädagogin auf Grund ihrer kriti-schen Äußerungen hinsichtlich der Wahr-nehmung der Probleme von Jugendlichen inder Stadt vor den Personalrat geladen wur-de und eine Abmahnung bekam. AndereVerwaltungsmitarbeiter kamen zu den Tref-fen des Arbeitskreises mit der für alle wahr-nehmbaren Absicht, die Gespräche zu be-lauschen und dann in der Verwaltung darü-ber zu berichten, also die „Meckerer zuverpfeifen“.

Der gesamte Bereich der sozialen Arbeitwird in den ländlichen Kommunen in denwenigsten Fällen als „Chefsache“ betrach-tet. Weder in die gezielte Schulung und lau-fende Qualifizierung noch in den Aufbauvon Netzwerken oder auf die Teilnahme anArbeitskreisen („Runden Tischen“) wirdWert gelegt.

Als Fachleute für den Bereich Sozialeswurden für die LA 21-Arbeitsgruppen „So-ziales, Politik“ und zur Einbringung dieserThemen in die Stadtverwaltung und die zu-ständigen politischen Gremien die Gemein-depädagoginnen bzw. Jugendpflegerinnenbenannt. Diese Personen arbeiten in denkleineren ländlichen Kommunen häufig un-ter folgenden Bedingungen:

1. Sie übernehmen Querschnittsaufgaben,die zu einem Großteil im Bereich der

freiwilligen Leistungen der Kommunen lie-gen (Bsp.: Jugendzentren, Ferienspiele); da-her tut deren Klientel - Jugendliche, sozialschwache Familien, soziale Randgruppe -gut daran, das städtische Angebot mög-lichst kritiklos, aber dankbar anzunehmen.

2. Sie sitzen häufig zwischen mindestenszwei Stühlen: An welcher Gruppe sollensie sich orientieren? An der Verwaltungmit ihren strikten Vorgaben und Erwar-tungen an Arbeitszeit, Antrags- und For-mularwesen? Oder an ihrer eigentlichenKlientel: den sozial Schwachen, an denBedürfnissen und Wünschen von Kin-dern und Jugendlichen, an den Bedürf-nissen von Randgruppen? 1

3. Sie fühlen sich häufig vom Rest der Ver-waltung im Stich gelassen und empfin-den sich als EinzelkämpferInnen.

4. Sie haben z.T. einen ganz eigenen Ar-beits- und Kommunikationsstil ent-wickelt, der meist nicht in das Bild vonVerwaltung paßt, der sich jedoch an ih-rer Klientel orientiert bzw. durchausauch noch aus der Zeit der Ausbildungan der Universität oder Fachhochschulemitgebracht worden ist.

5. Sie sind häufig fachlich besser (akade-mischer) ausgebildet und inhaltlich moti-vierter als der Rest des Personals in derVerwaltung.

6. Auf Grund der häufig völlig unklaren Erwartungen hinsichtlich des Anforde-rungsprofils bzw. der Stellenbeschrei-bung und der Unmöglichkeit, völlig ge-gensätzlichen Zielgruppen und Erwar-tungen gerecht zu werden, gibt es eine

Man verliert

die meiste Zeit

damit,

daß man Zeit

gewinnen will.

John Steinbeck

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 5

6. überdurchschnittliche hohe Fluktuation,die eine kontinuierliche und vertrauens-volle Zusammenarbeit zwischen denverschiedenen Einrichtungen und Perso-nengruppen unmöglich macht.

7. Hieran wird das konzeptionelle und dasFührungsdefizit in vielen Verwaltungenherkömmlicher Art und bei politisch Ver-antwortlichen auf dieser Ebene deutlich.

8. Im Unterschied zu den Umweltbeauf-tragten/-beratern der Kommunen, die ja in Partnerschaft mit entsprechendenBürgermeistern zum schönen, heilen,harmonischen und gesunden Bild derStadt (der Pflege von romantischen My-then) und zum Image der Stadt beitra-gen können, kämpfen die Fachleute fürdas Soziale auf der anderen Seite: Siesind nämlich genau diejenigen, die sichum Menschen kümmern, die Opfer dersozialen und der ökonomischen Kriseder Städte (auch in den ländlichen Re-gionen) sind.

9. Die Probleme in der Arbeit dieser Sozi-alarbeiterInnen, JugendpflegerInnenetc. in den Kommunen lassen sich ver-gleichen mit denen der StreetworkerIn-nen. Auch für GemeindepädagogIn-nen, SozialarbeiterInnen etc. gilt: DieEntscheidungen zum Einsatz von Stre-etwork u.ä. fallen zumeist erst dann,„wenn die Probleme unübersehbar ge-worden sind bzw. die Öffentlichkeitdaran Anstoß nimmt. Nicht die Proble-me der Jugendlichen, sondern die Pro-bleme mit den Jugendlichen und dieBeruhigung der Öffentlichkeit stehendann im Vordergrund. ... Nicht seltenhat Streetwork reine Alibi-Funktion.“Ein großes Problem sind neben zu ho-hen auch falsche Erwartungen an dieStreetwork. „Ihre Aufgabe wird oftmalsin der Reduzierung der Probleme derÖffentlichkeit mit der nicht der Normentsprechenden Zielgruppe gesehen.Es wird erwartet, daß eine durch sub-kulturelle und verhaltensauffälligeGruppen ungestörte Innenstadt (beson-ders Fußgängerzonen und Geschäft-spassagen) von den Straßensozial-arbeiter/innen hergestellt wird. Die Sicherstellung von Ruhe und Ordnung,die Befriedung von Gewalttätigkeitenund die Anpassung an die Gesell-schaft werden als Aufgaben der Street-work definiert.“ - Ähnliches erwartetman wie gesagt in den kleineren Kom-

munen von den „ganz normalen“ Gemein-depädagogInnen bzw. JugendpflegerIn-nen.

Nachdem aus den genannten Gründendie Weiterarbeit der beiden von mir betreu-ten Arbeitsgruppen nicht weiter gefördertwerden konnte, fiel die eine Gruppe sofortauseinander, die andere hat sich dafür ent-schieden, stärker an ökologischen Themenzu arbeiten, mit einem Biologen als Mode-rator.

Um die aus Sicht aller Beteiligten nachwie vor bestehenden Probleme trotz allemweiter im Auge zu behalten, aber auch umdie strukturellen Defizite der gängigenAgenda 21-Arbeit auszugleichen, habe ichmich bereit erklärt, auf die Suche zu gehennach anderen Partnern für Kooperationenund Fördermitteln. Über die Stiftung Mitar-beit kam ich dabei auf die verschiedenenAktionen, Gruppen und Stiftungen, die Bür-gerengagement, Gemeinwesenarbeit undDemokratieentwicklung zum Ziel haben. Zu-sammen mit anderen Frauen und mit eini-gen überparteilichen Einrichtungen und pri-vaten Initiativen in unserer Region bereiteich derzeit zwei Projekte vor: Das ersteheißt „Netzwerk BürgerInnen-Projekte zurAgenda 21“ (NBP), es greift die Erfahrun-gen aus der bisherigen LA 21-Arbeit in denvon mir betreuten Kommunen und die Ver-besserungsvorschläge auf, geht jedoch überdie engen Stadtgrenzen hinaus und will in-terkommunale Kooperationen fördern. Daszweite Projekt heißt „Agentur Regionalent-wicklung“ und zielt auf die Förderung vonProjekten aus den Bereichen „sanfter Touris-mus“, Direktvermarktung, Förderung der öf-fentlichen Infrastruktur, Freizeitangeboteund Kultur. Mit Hilfe des gezielten Einsatzesvon Internet und anderen Telekommunikati-onstechniken sollen Konzepte umgesetztund laufende Aktivitäten koordiniert wer-den, es soll zu Verbesserung der Kooperati-on zwischen haupt- und ehrenamtlich Täti-gen beitragen und die Arbeit von Verbän-den und Interessengruppen unterstützen.Ganz besonders wichtig ist bei beiden Pro-jekten die Förderung von „Public-Private-Partnerships“ und das Überwinden vonGrenzen in Politik und Verwaltung in derRegion. So will ich darauf hinarbeiten, daßMaßnahmen zur Integration von Jugendli-chen aus anderen Kulturkreisen (Hausaufga-benhilfe, Hilfe bei der Suche nach Ausbil-dungsplätzen), aber auch die Förderungvon Kulturangeboten der städtischen Jugend-

zentren (freie Theatergruppe, Kunst-AG) zu-sammen mit Instituten der UniversitätGießen und mit Studierenden dort erarbei-tet und durchgeführt werden.

Hier in der Provinz, im ländlichen Raumin Hessen, macht man derzeit schon (odernoch) vor der Gegenwart die Augen zu.Die Bereitschaft und Fähigkeiten, die Zu-kunft der Städte und der Gemeinwesen-Strukturen aktiv zu gestalten, müssen drin-gend gefördert und unterstützt werden.Dazu bedarf es aber auch des Lernens anpositiven Beispielen. Ein guter Anfang wärees, in Zukunft gemeinsam mit erfolgreichen,praxiserprobten Projekten und Gruppen,die über den Verband sozial-kultureller Ar-beit in Verbindung miteinander stehen, denAustausch von Erfahrungen und Informatio-nen zu pflegen.

1 Die Probleme in der Arbeit dieser SozialarbeiterIn-nen, JugendpflegerInnen etc. in den Kommunen las-sen sich vergleichen mit denen der StreetworkerInnen.Vgl. dazu „Streetwork, Jugendarbeit zwischen allenStühlen?“, Dokumentation der „Ideenwerkstatt Street-work“ vom 3. und 4. Mai 1993 in Bonn, Hg. StiftungMitarbeit. Brennpunkt- Dokumentationen zu Selbsthilfeund Bürgerengagement Nr. 21, 2. Unveränderte Auf-lage, Bonn, 1994, hier: Praxisprobleme, S. 37 - 53.

Page 8: Rundbrief 2-1999

Den Bürgerinnen und Bürgern ist es

ziemlich egal, ob sie durch ein Stadtteil-

bzw. Quartiersmanagment oder eine

Gemeinwesen- bzw. stadtteilbezogene

soziale Arbeit beglückt werden. Für sie ist

es ziemlich egal, wie das „Schwein“

aussieht - Hauptsache es ist für sie was

Passendes drin!

6 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Einigen GemeinwesenarbeiterInnenscheint es jedoch noch lange nicht egal zusein, welche Namen die Konzepte haben.Wie ich dem letzten Rundbrief (Beitrag vonMiriam Ehbets) und dem Internet (diverseArtikel im MieterEcho) entnehmen konnte,wird das Thema „Quartiersmanagement“ inBerlin heftig debattiert. Das ist gut, doch esreicht nicht, mittels Wörterbuch das Quar-tiersmanagement zu diskreditieren und dieBerliner Gemeinwesenarbeit als bewährtund zukunftsorientiert in den Himmel zu lo-ben (vgl. Ehbets 1999, S. 35). Auch dieGemeinwesenarbeit kommt nicht umhin,sich eines QM (=Qualitätsmanagements) zubedienen - oder zumindest ihre Leistungs-fähigkeit zu dokumentieren.

Ach, wie war das einst so schön, als dieGWA (und ihr modernisierter Essener Able-ger, die stadtteilbezogene soziale Arbeit)eine Monopolstellung auf dem Gebiet dersozialräumlich- und ganzheitlich orientiertenArbeitsweisen hatte(n). Im sicheren Gefühl,

- den grundsätzlich einzig richtigen An-satz zu haben,

- von denen da oben nicht akzeptiert zuwerden,

- eine exotische Nischenexistenz zu ha-ben,

- Mißerfolge (wenn es überhaupt welchegab) den Umständen zuschreiben zukönnen,

Welches Schweinderlhätten Sie gern?

Sozialräumliche Konzepte haben Konjunktur

Stadtteil-manage-ment

Quartiermanage-ment

Stadtteil-büro

Gemeinwesen-arbeit

von Heinz Altena

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 7

haben es sich die ProtagonistInnen er-laubt, jahrelang über die wahre Methode(Theorie?) der GWA zu streiten. Die Szenefreute oder erboste sich über Streitge-spräche und -schriften zwischen Gelehrten,an GWA-Foren und Kongressen, an ab-weichlerischen Community Organizatorsusw. Sehr viele hatten den Knall nichtgehört oder wollten ihn nicht hören, der inden 90er Jahren doch viele soziale Institu-tionen und Professionen aufweckte.

Im KJHG (1990/91) werden der „Le-bensweltbezug“, die „Beteiligung“ und die„Hilfeplanung“ zum Gesetz. Der 8. Jugend-bericht von 1990 beschreibt die handlungs-leitenden Strukturprinzipien der Jugendhilfe-planung: Sozialraumorientierung statt quan-titativer Flächendeckung, Lebensweltorien-tierung statt Einrichtungsplanung, offensiveProzeßplanung statt statischer Festschrei-bung, Einmischung statt Abgrenzung,(fach-)politischer Diskurs statt Konfliktvermei-dung und Beteiligung statt Ausgrenzung(vgl. Kreft, D./Mielenz, J. 1996, S. 320).

Anspruch und Wirklichkeit klaffen zwarhäufig auseinander, aber immerhin!

Durch die Verwaltungsreformbemühun-gen der Kommunen in den 90er Jahren soll-te mehr Bürgernähe und ein effektiveres undeffizienteres Verwaltungshandeln erreichtwerden. In vielen Städten wurde im Rah-men der „neuen Steuerung“ der sozialeDienst nach sozialräumlichen Kriterien neuorganisiert. Aufschlußreiche Schilderungendieser Bemühungen finden sich in der aktuellen SOZIAL EXTRA 10/99. Natürlichbedeutet eine Regionalisierung sozialerDienste nicht automatisch auch eine andere Arbeitsweise, aber immerhin!

In Hamburg, Bremen und Nordrhein-Westfalen wurden seit Mitte der 90er Jahrestaatliche und stattliche Förderprogrammezur Stadtteilentwicklung ins Leben gerufen.Berlin und eine Gemeinschaftsinitiative desBundes und der Länder folgen 1998 bzw.1999. Mit den ressortübergreifenden undsozialräumlich orientierten Programmansät-zen wurden auch Stellen in Stadtteilbürosals StadtteilkoordinatorInnen oder Stadt-teilmanagerInnen geschaffen. Keine Stellenfür GemeinwesenarbeiterInnen? Aber im-merhin!

Mit den öffentlichen Programmen wurdeeinem alten Antrag der Gemeinwesenarbeitnach größerer finanzieller Unterstützung fürbenachteiligte Wohngebiete stattgegeben.

Ein schier nicht enden wollender Geldstromfließt seit geraumer Zeit in eine Reihe vonStadtteilen. Allein NRW förderte in den letz-ten sechs Jahren 26 „Stadtteile mit besonde-rem Erneuerungsbedarf“ in 22 Städten mitinsgesamt über 750 Millionen. Der Bundstellt jährlich 100 Millionen für sein Pro-gramm „Stadtteile mit besonderem Entwick-lungsbedarf - die soziale Stadt“ zur Verfü-gung. Die Europäische Union unterstützt mitihren Strukturfonds bestimmte benachteiligteGebiete mit weiteren Millionen Ecu. KeineMittel für die Gemeinwesenarbeit? Aber im-merhin!

Zugegeben: Gemeinwesenarbeit ist kei-ne kommunale Jugend- oder Sozialarbeit,keine Stadtplanung und keine Management-lehre. Aber einiges deutet darauf hin, daßvieles, was jetzt andere machen, sehr gutins Konzept der GWA passen würde. DieGWA diskutiert erst einmal über Begriffe.Aber immerhin!

Das Arbeitsprinzip Gemeinwe-senarbeit und die Förderpro-gramme des Bundes und derLänder zur Stadtteilentwicklungsind kompatibel!

Worauf stützt sich meine Behauptung,daß GWA und die staatlichen Programmemit ihrem Stadtteil-/Quartiersmanagementsehr viel miteinander zu tun haben? Ichkönnte es mir ganz einfach machen und sa-gen, schaut nach bei Hinte. Der Professormit der kecken Feder schrieb jüngst Folgen-des:

„Stadtteilmanagement wurde entwickeltin konsequenter Fortführung des „Arbeits-prinzips Gemeinwesenarbeit“ (Boulet u.a.1980), der auf dieser Grundlage ent-wickelten „stadtteilbezogenen sozialen Ar-beit“ (Hinte 1995) und der in derlei Projek-ten gewonnenen Erkenntnis, daß der engeBereich des Sozialen nur ein Teilsegmentganzheitlicher Stadtteilarbeit darstellt, sodaß die in den 70er Jahren entwickeltenTheorien und Prinzipien eine Fortentwick-lung zum „Stadtteilmanagement“ (Hinte1992) nahelegten. Heute gibt es nur nochwenige Versprengte, die, verfangen imGeiste der 70er Jahre, mit einem entspre-chend biederen methodischen Instrumenta-rium ihre notorische Erfolglosigkeit kultivie-ren, die grundsätzlich „die anderen“ zuverantworten haben (s. etwa ProjektgruppeGemeinwesenarbeit 1997).“ (Hinte 1998,S. 156)

Ich möchte mich allerdings nicht alleinauf einen Professor verlassen, zumal ihmvon anderer Seite nachgesagt wird, daß eraus Marketinggründen immer „trendy“ seinwill (vgl. Oelschlägel 1997, S. 37). Die Be-weisführung sollte schon etwas breiter ange-legt sein. Eine vergleichende empirische Un-tersuchung (heute bei derartigen Projektenauch Evaluation genannt) von Projekten dereinen oder anderen Provenienz kann ichnatürlich nicht bieten. Aber es gibt einigesSchriftliche von diesem Programm und je-nem Projekt, das uns in die Lage versetzt,Vergleiche anzustellen.

Also habe ich den Text der öffentlichenAusschreibung zum Quartiersmanagementin Berlin, einen Leitfaden zur Ausgestaltungder Gemeinschaftsinitiative „Soziale Stadt“und eine Broschüre des NRW-Ministeriumszum ressortübergreifenden Handlungspro-gramm „Stadtteile mit besonderem Erneue-rungsbedarf“ gesichtet und mit verschiede-nen Aussagen von Oelschlägel und Hintesowie mit der Selbstdarstellung des VereinsSO 36 verglichen.

Ein Vergleich der Ziele und Aufgabenund eine Überprüfung der wesentlichen me-thodischen und inhaltlichen Ansprüche soll-ten Auskunft darüber geben, wo es Überein-stimmungen, Ähnlichkeiten oder Differenzengibt. Soviel vorab: Es gibt sie, die Unter-schiede, aber weniger im Inhalt, mehr inder Form. Greifen wir mal ein paar Beispie-le heraus: Bekanntlich sind für die GWAder Raumbezug und die ganzheitliche Sicht-weise wesentliche Kriterien:

* „Mit seinen Analysen und Strategienbezieht sich das Arbeitsprinzip Ge-meinwesenarbeit auf ein „Gemeinwe-sen“, auf den Ort (und das ist zumeisteine sozialräumliche Einheit: Quartier,Institution etc.), wo die Menschen undihre Probleme aufzufinden sind. We-sentlich ist dabei die ganzheitliche Be-trachtungsweise. (Oelschlägel 1997,S. 37)

* „Sozialraumbezug setzt auf eine Viel-falt von Zugängen zu unterschiedli-chen Dimensionen des Stadtteils, aufeine möglichst ganzheitliche Sicht vonBürgern in ihren jeweiligen Lebensla-gen und bemüht sich um Lebensfeld-orientierung in allen Arbeitsvollzügendes institutionellen Alltags.“ (Hinte1994, S. 52)

Die Bundes- und Landesprogramme se-hen das genauso:

Page 10: Rundbrief 2-1999

* „Merkmale (des Leitprogrammes) sindder Gebietsbezug und die Förderungder Gesamtmaßnahme.“ (Bund, S. 12)

* „Handlungsschwerpunkte (...) sind(...) ein ganzheitlicher Ansatz zur Lö-sung der örtlichen Probleme anstelleisolierter und fachlich spezialisierterProblembetrachtungen. (NRW, S. 7)

* „Das Quartiersmanagement soll imQuartier präsent und für die Bewoh-ner erreichbar sein.“ (S. 2) und: „DasInstrument Quartiersmanagement sollprozeßhaft eine Integration und Ver-netzung aller Strategien und Aktivitä-ten befördern.“ (Berlin, S. 1)

Tauschen Sie einmal die Begriffe Ge-meinwesenarbeit/Gemeinwesen gegenQuartiersmanagement/Quartier und versu-chen Sie die Sätze neu zu lesen. MerkenSie den Unterschied? Ich nicht!

Kommen wir zu den Zielen von Ge-meinwesenkonzepten bzw. -projekten:

* „Ziel dieses Konzepts (des sozial-räumlichen Arbeitsansatzes, der Ver-fasser) ist die Verbesserung von Le-bensbedingungen, vornehmlich in be-nachteiligten Wohnquartieren. (Hinte1998, S. 156)

* „Als allgemeine Intention gemeinwe-senarbeiterischer Bemühungen kanndie Verbesserung defizitärer Struktu-ren im Gemeinwesen gelten.“ (Mohr-lok u.a. 1993, S. 198)

* „Zielsetzung des Stadtteil-Vereins SO36 war und ist es, mit den BürgerIn-nen zusammen unter dem Motto ‚Hilfezur Selbsthilfe‘ einen Beitrag zur Ver-besserung und zunehmend auch zumSchutz und Erhalt der Wohn- und Le-bensverhältnisse imAltstadtquartier ‚SO36‘ (...) zu leisten.“(Die Gemeinwesenar-beit (GWA) des Ver-eins SO 36, S. 1)

Zum Vergleich die Zieleder staatlichen Förderprogram-me:

* „Die Gemeinschafts-initiative ‚SozialeStadt‘ erhebt den An-spruch, Quartiersent-wicklungsprozesse inGang zu setzen, wel-che die sozialen Problem-gebiete zu selbständig lebens-fähigen Stadtteilen mit positiver

8 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Zukunftsperspektive machen sollen.“(Bund, S. 9)

* „Ziel des Quartiersmanagements ist,entsprechend der Komplexität von Pro-blemlagen in den Quartieren eine inte-grierte Entwicklung zu initiieren, dieeine nachhaltige soziale, wirtschaftli-che, städtebauliche und ökologischeEntwicklung im Verbund bewirkensoll.“ (Berlin, S. 1)

Auch hier sehe ich keine gravierendenWidersprüche. Und so lassen sich Stück fürStück gute Absichten und hehre Ziele kon-statieren. Alle wollen aktivieren, vernetzen,beteiligen und die Selbsthilfepotentiale stär-ken. Natürlich sind alle Ansätze ressortüber-greifend, partizipativ, prozeßhaft und nach-haltig. Die Handlungsfelder sind zahlreichund kooperiert wird mit allen.

Die Programme hören sich gut an. Diepraktische Umsetzung ist jedoch häufigschwierig. Erfolge und Mißerfolge müssendokumentiert und kommuniziert werden -und das mit der notwendigen Gelassenheitund Offenheit.

Die durchgängige Entwicklung zu einersozialräumlichen Sichtweise in unterschiedli-chen Politik- und Handlungsfeldern ist zu be-grüßen. Damit wird es möglich, den realenörtlichen Verhältnissen (Stärken undSchwächen) ein adäquates Handeln zurSeite zu stellen. Es wird zu einem besserenVerständnis der Akteure untereinanderführen und zu einem stärkeren Miteinander.Die Gemeinwesenarbeit muß sich dieserneuen Situation stellen, muß sich mit ihrenTalenten und Instrumenten einbringen. DieRolle des Zaungastes steht ihr nicht (zu).

Literatur:Behrendt, Thomas: „Von der Bürgerbeteiligung zur

Dienstleistungs-GWA“, Standort und Entwicklungstrendsin der GWA des Vereins SO 36, Berlin-Kreuzberg, in:Binne, Heike u.a. (Hrsg.): Gemeinwesenarbeit

Die Gemeinwesenarbeit (GWA) des Vereins SO 36- Kurzer Abriß zur Geschichte und Arbeit des Vereins,o.O, o.J.

Ehbets, Miriam: Quartiersmanagement. Gedankenzu einem neuen Wort, in: Verband für sozial-kulturelleArbeit, Rundbrief 1/99, S. 34ff

Hinte, Wolfgang: Stadtteilentwicklung durch Dia-logmanagement, in: Forum der Arbeit (Hrsg.): Nach derKohlezeit. Stadtteile im Wandel, Aachen 1994, S. 46ff

Hinte, Wolfgang: Zwischen Lebenswelt und Büro-kratie, in: Blätter der Wohlfahrtspflege 3/97, S. 41ff

Hinte, Wolfgang: Bewohner ermutigen, aktivieren,organisieren - Methoden und Strukturen für ein effektivesStadtteilmanagement, in: Monika Alisch (Hrsg.): Stadt-teilmanagement, Opladen 1998, S. 153ff

Kreft, D./Mielenz, J.: Jugendhilfeplanung, in: Kreft,D./Mielenz, J. (Hrsg.): Wörterbuch Soziale Arbeit, 4. Auflage, Weinheim/Basel 1996, S. 319ff

Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur und Sportdes Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mitbesonderem Erneuerungsbedarf. RessortübergreifendesHandlungsprogramm der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1998 (zitiert NRW)

Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschafts-initiative „Soziale Stadt“, in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff (zitiert Bund)

Mohrlok, M. u.a.: Let´s organize! Gemeinwesen-arbeit und Community Organization im Vergleich, AGSPAK M 113, München 1993

Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement =http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/entwicklung/quartier/right1.htm (zitiert Berlin)

Oelschlägel, Dieter: Der Auftrag ist die Gestaltungvon Lebensverhältnissen, in: Blätter der Wohlfahrtspflege3/97, S. 37ff

SOZIAL EXTRA 10/99, Schwerpunktthema: Allesim Fluß, Verwaltungsreformen in Jugend- und Sozialäm-tern - Eine Zwischenbilanz

Wir können und müssen voneinander lernen, damitdie Stadtteile Gewinner werden!

Gemeinwesen

Stadtteil

Wohngebiet

Quartier

Page 11: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 9

Übersicht über

einige programmatische und konzeptionelle Aussagen

zu öffentlichen Fördermaßnahmen

zur Stadtteilentwicklung und zur Gemeinwesenarbeit bzw. stadtteilbezogenen

sozialen Arbeit

von Heinz Altena

Page 12: Rundbrief 2-1999

10 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Bundesprogramm: Stadtteile mit besonderemEntwicklungsbedarf – die soziale Stadt

zitiert nach: Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschafts-initiative "Soziale Stadt", in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff

Landesprogramm NRW: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf

zitiert nach: Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur undSport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mitbesonderem Erneuerungsbedarf. Ressortübergreifendes Hand-lungsprogramm der Landesregierung Nordrhein-Westfalen,Düsseldorf 1998

„Die Gemeinschaftsinitiative ‚Soziale Stadt‘ erhebt denAnspruch, Quartiersentwicklungsprozesse in Gang zu setzen, wel-

che die sozialen Problemgebiete zu selbständig lebensfähigen Stadtteilenmit positiver Zukunftsperspektive machen sollen.“ (S. 9)

„Das Ziel des neuen Programmansatzes verknüpft eine nachhaltigeVerbesserung der Lebenssituation der betroffenen Menschen in benachteilig-ten Stadtquartieren durch eine aktive und integrativ wirkende Stadtentwick-lungspolitik mit einer Effizienzsteigerung öffentlicher Maßnahmen durchfrühzeitige Abstimmung und Bündelung öffentlicher und privater Finanzmittelauf Stadtteilebene.“ (S. 12)

„Zielsetzung:

Die Besonderheit des Landesprogrammes ist in einer problemorien-tierten Koordination und Integration der Fachinhalte zu sehen, die weit überden bisherigen Rahmen hinausgehen und die Grenzen des Ressortdenkensüberwinden. Auf diese Weise sollen in den benachteiligten Stadtteilen Kumu-lations- und Synergieeffekte freigesetzt werden, die bei einer sektoralenFörderung ausbleiben würden. Vor dem Hintergrund veränderter finanziellerRahmenbedingungen steht die Entwicklung ideenreicher, zielgenauer undhocheffizienter Maßnahmebündel sowie die intelligente Kombination vor-handener Investitions- und Förderhilfen im Mittelpunkt.“ (S. 6)

„Dazu zählen insbesondere die Politikfelder:

• Wohnungswesen und Wohnungsbauförderung

• Verkehr

• Arbeits- und Ausbildungsförderung

• Sicherheit

• Frauen

• Familien- und Jugendhilfe

• Wirtschaft

• Umwelt

• Kultur und Freizeit" (S. 12)

"Als Haupteinsatzbereiche sind zu nennen:

• Bürgermitwirkung, Stadtteilleben

• Lokale Wirtschaft, Arbeit und Beschäftigung

• Quartierszentren

• Soziale, kulturelle, bildungs- und freizeitbezogene Infrastruktur

• Wohnen

• Wohnumfeld und Ökologie“ (S. 14)

„Es geht um folgende Handlungsfelder:

• Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik

• Wirtschaftsförderung/Lokale Ökonomie

• Wohnungsbau

• Stadterneuerung

• Umwelt/Ökologie

• Soziale und kulturelle Infrastruktur/Stadtteilzentren

• Soziale Netze und kulturelle Aktivitäten

• Integration/Zusammenleben im Stadtteil

• Schule im Stadtteil

• Kinder und Jugendliche

• Stadtteilbezogene Gesundheitsförderung/Sport und Bewegung

• Kriminalprävention im Stadtteil

• Stadtteilmarketing/Image“ (S. 7)

„Wesentliche Kennzeichen des integrierten Handlungsprogrammessind ein ganzheitlicher Ansatz zur Lösung der örtlichen Probleme anstelleisolierter und fachlich spezialisierter Problembetrachtungen, die Beteiligungder Bewohnerinnen und Bewohner und die Vernetzung der Aktivitäten vorOrt sowie die Verknüpfung der politischen Handlungsebenen (Stadtteil, Be-zirk, Rat der Stadt, Landesregierung).“ (S. 7)

Ziele

Handlungs-felder

Politikfelder

Bereiche

Page 13: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 11

Soziale Stadtentwicklung "Quartiersmanagement"

zitiert nach: Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement =http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/ entwicklung/quar-tier/right1.htm

Gemeinwesenarbeit,stadtteilbezogene soziale Arbeit

zitiert aus verschiedenen Veröffentlichungen (s. Text)

„Ziel des Quartiersmanagements ist, entsprechend der Komplexitätvon Problemlagen in den Quartieren eine integrierte Entwicklung zu initiie-ren, die eine nachhaltige soziale, wirtschaftliche, städtebauliche und ökolo-gische Entwicklung im Verbund bewirken soll.“ (S. 1)

„Das Instrument Quartiersmanagement soll prozeßhaft eine Integra-tion und Vernetzung aller Strategien und Aktivitäten befördern. Zielist es, die Bewohner selbst zu Akteuren der Quartiersentwicklung zumachen, dabei ist es Aufgabe des Quartiersmanagements, die Ent-stehung von Projekten zu initiieren und zu fördern.“ (S. 1)

„Als Ziel gilt: GWA muß Beiträge zur tendenziellen Aufhebung undÜberwindung von Entfremdung leisten, also die Selbstbestimmung handeln-der Subjekte ermöglichen.“ (Oelschlägel 1992, S. 757)

„Ziel dieses Konzepts ist die Verbesserung von Lebensbedingungen,vornehmlich in benachteiligten Wohnquartieren, einerseits durch Aktivie-rung, Organisation und Training von Betroffenen (-Gruppen), andererseitsdurch Akquirierung, Bündelung und Management von Ressourcen innerhalbder Verwaltung – und bei anderen Institutionen zur Entwicklung spezifischer,auf die Bedürfnislagen der Wohnbevölkerung bezogener Projekte.“ (Hinte1998, S. 156)

„Als allgemeine Intention gemeinwesenarbeiterischer Bemühungenkann die Verbesserung defizitärer Strukturen im Gemeinwesen gelten.“(Mohrlok u.a. 1993, S. 198)

„Zielsetzung des Stadtteil-Vereins SO 36 war und ist es, mit den Bür-gerInnen zusammen unter dem Motto ‘Hilfe zu Selbsthilfe’ einen Beitrag zurVerbesserung und zunehmend auch zum Schutz und Erhalt der Wohn- undLebensverhältnisse im Altstadtquartier ‚SO 36’ (...) zu leisten. Diese Aufgabeerstreckt sich laut Satzung ‘auf die Vielfalt sozialer, kultureller, pädagogi-scher, räumlicher und wirtschaftlicher Strukturen“ (Selbstdarstellung desVereins SO 36, S. 1)

„Die wesentlichen, integrativ zu bearbeitenden Handlungsfelder sind:

• Arbeitsmarkt- und Strukturpolitik

• Wirtschaftsförderung und Stadtteilökonomie

• Wohnen, Wohnumfeld und Umwelt

• Soziale und kulturelle Infrastruktur

• Soziale Integration/Zusammenleben im Quartier

• Schule und Bildung

• Gesundheitsförderung“ (S. 1)

„Zu den Leistungen des Quartiersmanagements gehören folgende Bereiche:

A. Stadtteilkoordination

(...)

B. Organisation der Bewohneraktivierung

(...)

C. Projektinitiierung

(...)

D. Mitwirkung an der Erfolgskontrolle“ (S. 1f)

„Konkrete Aufgaben gemeinwesenbezogener sozialer und kulturellerArbeit sind dann u.a.

• Zurverfügungstellung nützlicher Dienstleistungen, Ressourcenarbeit

• Erweiterung der Handlungsfähigkeit durch Aktivierung zu gemein-samem Handeln

• Schaffung entsprechender Infrastrukturvoraussetzungen: nieder-schwellige Stadtteilläden, Stadtteilkonferenzen, Stadtteilmoderatoren

Zusammengefaßt heißt das strukturbezogene Stadtentwicklungs-arbeit in benachteiligten Stadtteilen – das ist mehr als Sozialarbeit, das bündelt Stadtentwicklung, Wirtschaftsförderung, Jugendhilfeplanung, Wohnungspolitik nach dem Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit.“ (Oelschlägel1997, S. 38)

Page 14: Rundbrief 2-1999

12 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

„... wird es zum zentralen Anliegen der Stadtteilentwick-lung, das eigenständige Stadtteilleben wieder aufzubauen, densozialen Verbund wieder herzustellen, alle vorhandenen örtli-chen Potentiale zu stärken und die Bewohner dazu zu motivie-ren, in Initiativen und Vereinen mitzuwirken und sich dauerhaftselbst zu organisieren.“ (S. 9)

„Unterstützung vieler Möglichkeiten, die Bürger durchSelbsthilfe an Maßnahmen der Stadtteilentwicklung zu beteili-gen.“ (S. 10)

„Den Gemeinden obliegt es, eine umfassende Bürgermitwirkungsicherzustellen.“ (S. 12)

„Typische Maßnahmen: (...)

• Bildung von Stadtteilbeiräten.“ (S. 10)

„Die Organisation von Beteiligung, Strategien, Maßnahmen und deren Umsetzung ist verbindendes Element und Voraussetzung für die Chance,privates Engagement zu fördern und einzubinden.“ (S. 8)

„Durch eine frühzeitige Beteiligung ist es möglich, Wünsche und Vor-stellungen aus dem Stadtteil miteinzubeziehen. Dies führt zu "maßgeschnei-derten" Lösungen mit erhöhter Akzeptanz bei den Betroffenen und leistet einen wichtigen Beitrag zum Abbau von Politikverdrossenheit.“ (S. 76)

„Die Erhaltung und Erneuerung benachteiligter Stadtteile soll‚Selbsterneuerung von unten’ sein.“ (S. 7)

„Ziel ist es, ein dichtes Netz nachbarschaftlicher Hilfen aufzubauen,in dessen Mittelpunkt die Selbsthilfe und Selbstverantwortung der Bürgerin-nen und Bürger steht.“ (S. 80)

„Merkmale (des Leitprogrammes) sind der Gebietsbezugund die Förderung der Gesamtmaßnahme.“ (S. 12)

„Handlungsschwerpunkte (...) sind (...) ein ganzheitlicher Ansatz zurLösung der örtlichen Probleme anstelle isolierter und fachlich spezialisierterProblembetrachtungen." (S. 7)

„Von Kommunen (...) erwartet die Landesregierung ‚innovativeHandlungskonzepte mit ganzheitlichen umfassenden Lösungsansätzen undStrategien!“ (S. 7)

„Das Programm zielt auf die Förderung von Projekten, die fachüber-greifend an den lokalen Problemen orientiert sind." (S. 7)

Bundesprogramm: Stadtteile mit besonderemEntwicklungsbedarf – die soziale Stadt

zitiert nach: Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschafts-initiative "Soziale Stadt", in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff

Landesprogramm NRW: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf

zitiert nach: Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur undSport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mitbesonderem Erneuerungsbedarf. Ressortübergreifendes Hand-lungsprogramm der Landesregierung Nordrhein-Westfalen,Düsseldorf 1998

Aktivierung

Hilfe zurSelbsthilfe

Selbstorga-nisation

Bürgerbetei-ligung

Partizipation

Merkmale,wie:

raumbezogen

ressort-übergreifend

integriert

ganzheitlich

prozeßhaft

nachhaltig

innovativ

„Schaffung selbsttragender Bewohnerorganisationenund stabiler nachbarschaftlicher sozialer Netze.“ (S. 9)

„Die Kooperation und Vernetzung aller Akteure vor Ort ist eine ent-scheidende Grundlage für eine integrierte und ganzheitliche Stadtteilerneue-rung.“ (S. 79)

Vernetzung

Koordination

Kooperation

Page 15: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 13

„Ziel ist es, die Bewohner selbst zu Akteuren der Quartiersentwick-lung zu machen, ...“ (S. 1)

„Erarbeitung einer geeigneten Form der Bewohneraktivierung.“ (S. 1)

„Entwicklung einer gebietsspezifischen angemessenen Organisati-onsform für die Trägerschaft der Bewohnerbeteiligung.“ (S. 1f)

„Unterstützung für Bewohnervertretungen, -aktivitäten und -initia-tiven“. (S. 2)

„Das Arbeitsprinzip Gemeinwesenarbeit sieht seinen zentralenAspekt in der Aktivierung der Menschen in ihrer Lebenswelt.“ (Oelschlägel1998, S. 159)

„Ein Kernstück der Tätigkeit von StadtteilmanagerInnen besteht da-rin, Menschen zu aktivieren.“ (Hinte 1998, S. 159)

„Dazu zählen insbesondere die Aktivierung und Organisierung vonBürgeraktivitäten, die Stärkung von Selbsthilfepotentialen...“ (Hinte 1994,S. 53)

„(...) Auch die umfassende Beteiligung der Betroffenen ist auf derEbene des Stadtteils am ehesten realisierbar. (Mielenz 1981, S. 59)“. (Oel-schlägel 1997, S. 40)

„Das Instrument Quartiersmanagement soll prozeßhaft eine Integra-tion und Vernetzung aller Strategien und Aktivitäten befördern.“ (S. 1)

„Ziel des Quartiersmanagements ist, entsprechend der Komplexitätvon Problemlagen in den Quartieren eine integrierte Entwicklung zu initiie-ren, die eine nachhaltige soziale, wirtschaftliche, städtebauliche und ökolo-gische Entwicklung im Verbund bewirken soll.“ (S. 1)

„Mit seinen Analysen und Strategien bezieht sich das ArbeitsprinzipGemeinwesenarbeit auf ein ‘Gemeinwesen’, auf den Ort (und das ist zumeisteine sozialräumliche Einheit: Quartier, Institution etc.), wo die Menschen und ihre Probleme aufzufinden sind. Wesentlich ist dabei die ganzheitliche Betrachtungsweise: Es geht um die Lebensverhältnisse, Lebensformen undLebenszusammenhänge der Menschen, auch so, wie diese selbst sie sehen(Lebensweltorientierung).“ (Oelschlägel 1997, S. 37)

„Sozialraumbezug setzt auf eine Vielfalt von Zugängen zu unter-schiedlichen Dimensionen des Stadtteils, auf eine möglichst ganzheitlicheSicht von Bürgern in ihren jeweiligen Lebenslagen und bemüht sich um Lebensfeldorientierung in allen Arbeitsvollzügen des institutionellen Alltags.“(Hinte 1994, S 52)

Soziale Stadtentwicklung "Quartiersmanagement"

zitiert nach: Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement =http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/ entwicklung/quar-tier/right1.htm

Gemeinwesenarbeit,stadtteilbezogene soziale Arbeit

zitiert aus verschiedenen Veröffentlichungen (s. Text)

„Vernetzen der unterschiedlichen Interessengruppen vor Ort unterder Zielstellung eines gemeinsam zu entwickelnden Quartierskonzeptes.“ (S. 1)

„Initiierung und Aufbau von projektbezogenen oder dauerhaftenKooperationen zwischen Institutionen, Initiativen, Unternehmen und ande-ren lokalen Akteuren/Experten.“ (S. 1)

„Der Verein selbst ist inzwischen zur wichtigen professionellen An-laufstelle (Vernetzung) im Stadtteil geworden..." (...)

„Der Verein nutzt methodisch wie fachlich alle Möglichkeiten der offenen Beratung, sowohl im Einzelfall wie auch zur Unterstützung und Kooperation mit Stadtteilgruppen und Gewerbetreibenden und arbeitet engmit der bezirklichen wie der Senats-Verwaltung zusammen.“ (Selbstdarstel-lung des Vereins SO 36, S. 1)

Page 16: Rundbrief 2-1999

14 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

„Verbesserung des Infrastrukturangebotes im Interessedes sozialen Ausgleichs.“ (S. 10)

„Typische Maßnahmen (Investition und Betrieb): Füralle: Bürgertreffpunkte, internationale Begegnungsstätten, Frei-zeithäuser, stadtteilkulturelle Projekte, Sporteinrichtungen, Gesundheitszentren, Aktionsprogramme insbesondere für Kinderund Jugendliche.“ (S. 10)

„Soziale und kulturelle Einrichtungen sind Orte der Öffentlichkeitund der Begegnung. Als Anlauf-, Informations- und Kommunikationsstellenhaben Begegnungsstätten, Schulen, Kinder-, Jugend- und Alteneinrichtungeneine besondere Bedeutung für die Stadtteilarbeit.“ (S. 57)

„Wachsende Armut, anhaltend hohe Arbeitslosigkeit und soziale Ver-einzelung erfordern neue, stärker an den örtlichen Problemen orientierteAngebote. Daher muß die vorhandene Infrastruktur qualitativ neu ausge-richtet werden; darüber hinaus sind zukünftig aber auch neue Einrichtungenerforderlich.“ (S. 57)

„Typische Maßnahmen:- Einrichtung von Stadtteilbüros ...“ (S. 10)

„Installation eines Stadtteilmanagments, das mit Prio-rität den Aufbau selbsttragender Bürgerorganisationen einleitensoll ...“ (S. 9)

„Die Städte und Gemeinden haben die Aufgabe – in derRegel durch externe Vergabe – ein leistungsfähiges Stadtteil-management sicherzustellen.“ (S. 12)

„Stadtteilbüros spielen im Erneuerungsprozeß eine entscheidendeRolle. Sie sind zentrale Anlauf- und Kontaktstelle für die Bewohner und Ak-teure vor Ort. Die Präsenz im Stadtteil (...) fördert die Zusammenarbeit mitden Menschen im Quartier.“ (S. 79)

„Die Moderation der Stadtteilbüros hat wesentlich dazu beigetragen,Konflikte abzubauen und gemeinsame Aktivitäten zu fördern.“ (S. 10)

Bundesprogramm: Stadtteile mit besonderemEntwicklungsbedarf – die soziale Stadt

zitiert nach: Leitfaden zur Ausgestaltung der Gemeinschafts-initiative "Soziale Stadt", in: VSOP Rundbrief 3/98 S. 8ff

Landesprogramm NRW: Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf

zitiert nach: Ministerium für Stadtentwicklung, Kultur undSport des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Stadtteile mitbesonderem Erneuerungsbedarf. Ressortübergreifendes Hand-lungsprogramm der Landesregierung Nordrhein-Westfalen,Düsseldorf 1998

Soziale Kulturarbeit

Bürgerzentren

Öffentliche Infrastruktur

Präsenz vorOrt

Stadtteilbüro

Stadtteil-management

Quartiers-management

Moderation

Page 17: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 15

„Die wesentlichen, integrativ zu bearbeitenden Handlungsfelder sind:

( ...)

• Soziale und kulturelle Infrastruktur

• Soziale Integration/ Zusammenleben im Quartier

• Schule und Bildung

• Gesundheitsförderung.“ (S. 1)

„Einrichtung bzw. Nutzung einer vorhandenen Kontaktstelle im Ge-biet, in der der/die Quartiersmanager/in für die Bewohner erreichbar undansprechbar ist.“ (S. 1)

„Das Quartiersmanagement soll im Quartier präsent und für die Be-wohner erreichbar sein.“ (S. 2)

„Moderation des Projektentwicklungsprozesses ...“ (S. 2)

„Gemeinwesenarbeit, stadtteilbezogene soziale Arbeit, Stadtteil-management – über diese Stationen hat sich in ca. 25 Jahren ein sozial-räumlicher Arbeitsansatz entwickelt ... “ (Hinte 1998, S. 156)

Soziale Stadtentwicklung "Quartiersmanagement"

zitiert nach: Öffentliche Ausschreibung Quartiersmanagement =http://www.sensut.berlin.de/SenSUT/ entwicklung/quar-tier/right1.htm

Gemeinwesenarbeit,stadtteilbezogene soziale Arbeit

zitiert aus verschiedenen Veröffentlichungen (s. Text)

Zweifeln ist

Suche, nicht

Ratlosigkeit.Hans A. Pestalozzi

Page 18: Rundbrief 2-1999

Unter der Fragestellung „Wen grenzt

Gesellschaft aus? Was kann Gemeinwe-

senarbeit zur Teilhabe leisten?“ fand am

16. und 17.10.1999 in Freiburg in der

Evangelischen Fachhochschule für Sozial-

wesen eine Fachtagung statt. Sie wurde

organisiert und durchgeführt von Mitarbei-

tern des Forums Weingarten 2000 e.V.

Dieter Oelschlägel referierte im Rahmen

dieser Tagung über die Herausforderung

an die städtische Politik, die eine Politik

der sozialen Integration sein muß,

und den Stellenwert der Ressource

Netzwerk und Partizipation.

16 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Die zentrale gesellschaftliche Herausfor-derung der Gegenwart ist die sozio-ökono-mische Polarisierung der Gesellschaft, ge-meint ist ein Auseinanderklaffen der Scherezwischen arm und reich, aber auch einewachsende Einkommens- und Arbeitsplatz-unsicherheit. Davon war im ersten Referatder Tagung die Rede.

„Von besonderer sozialpolitischer Be-deutung ist angesichts der aktuellen Pro-blemkumulation von Einkommensarmut undWohnungsnot die Tendenz zu einer sozial-räumlichen Ausgrenzung (einkommens-) ar-mer Personen und Haushalte aus ihren bis-herigen Lebensräumen und die Konzentrati-on von sog. Problemgruppen in ‘sozialenBrennpunkten’. Einher geht ein Strukturwan-del von städtischen Wohnbezirken, in des-sen Gefolge bisher normale Stadtteile durchZu- und Abwanderungsprozesse allmählichden Charakter von Brennpunkten psycho-sozialer Notlagen annehmen“1.

Besonders für die neuen Bundesländerliegt da noch ungeheurer sozialer Spreng-stoff. Wir beobachten mit großer Sorge dieEntwicklung in Großsiedlungen wie Leipzig-Grünau oder das Fritz-Heckert-Wohngebietin Chemnitz, in denen Segregationsprozes-se in einer Geschwindigkeit ablaufen, wiesie hierzulande unbekannt ist.

Gesteuert über den Mietpreis kommt eszu einer Segregation (Absonderung, Zu-

sammenballung) insbesondere sozialschwacher, also armer Familien und ethni-scher und subkultureller Minderheiten. DieArmutsbevölkerung befindet sich fast aus-schließlich unter den besonders segregier-ten Gruppen. Allerdings kommt hinzu, daßtypische Wohnstandortbedingungen (z.B.hohe Immissionsbelastung, Wohnungsqua-lität, Miethöhe, Nachbarschaft etc.) zu ge-bietstypischen Segregationsmustern von In-dividuen und Haushalten und damit zuquartierstypischen Formen des Zusammenlebens der Menschen führen. In Krisenzeitenkommt es zu einer Verschärfung kleinräumi-ger Disparitäten, die Tendenz der Heraus-bildung neuer Armutsghettos jenseits der„klassischen“ Segregation von Randgrup-pen ist zu beobachten.

Nach Krummacher lassen sich im we-sentlichen vier Typen sozialräumlicher Ar-mutskonzentration nachweisen:

- städtische Obdachlosenghettos, dievon überwiegend sozialhilfebedürftigenGroßfamilien bewohnt werden

- kleinräumige Neubaughettos, die sich durch hohe Sozialmieten, Wohnungs-leerstände, Vandalismus und hohe Jugend-arbeitslosigkeit auszeichnen. Sozialhilfe-empfänger, Asylbewerber und Aussiedlerbekommen hier oft Wohnungen zugewie-sen

- Altbaugebiete mit hoher Armutskonzentration, d.h. Arbeiterviertel mit traditionell

Was kann Gemeinwesenarbeit

zur Teilhabe leisten?

von Dieter Oelschläg

Page 19: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 17

niedrigem Einkommensniveau, mit hohe Sozialhilfeempfänger-, Arbeitslosen- undAusländeranteil, jedoch noch relativ stabil.Aus diesen Gebieten heraus entwickeln sich

- Altbaugebiete mit Verelendungscharak-ter, wo Empfänger von Sozialhilfe, Kleinst-renten und Arbeitslosenhilfe dominieren undschon äußerlich räumlich-bauliche Verfall-stendenzen sichtbar sind.

Es handelt sich schon nicht mehr nur umkleine Stadtteilbereiche, oft nur um Häuser-blocks und Straßenzüge, sondern es ist invielen Stadtgebieten schon eine Ausweitungzu ziemlich großräumigen Armutsstadtteilen(vornehm ausgedrückt: Stadtteilen mit be-sonderem Erneuerungsbedarf) zu beobach-ten2.

Hinzu kommen - von der GWA-Literaturnoch kaum beachtet - Konversionsgebiete,d.h. Wohnsiedlungen, die bis Anfang der90er Jahre von in Deutschland stationiertenSoldaten und deren Angehörigen bewohntwaren und jetzt anderer Nutzung (z.B.Wohnraum für Aussiedler) zugeführt wer-den3.

Wir sehen also, daß der Ort, an demsich die Spaltung der Gesellschaft zeigt(und es geht auch um sozio-demographi-sche und sozio-kulturelle/ethnische Spaltun-gen), an dem die Menschen diese erlebenund erleiden, der Stadtteil ist.

Das wiederum verweist darauf, daßstädtische Politik eine Politik der sozialenIntegration sein muß und nicht mehr nur,wie die ersten Jahrzehnte nach dem Zwei-ten Weltkrieg, Versorgungspolitik seinkann. Allerdings: Ein wesentlicher Zugangzur gesellschaftlichen Integration ist denStädten verwehrt, da sie nur sehr begrenztEinfluß auf den Arbeitsmarkt nehmen kön-nen. „Sie müssen sich deshalb solcheIntegrationsinstanzen schaffen oder vorhan-dene stärken, auf die sie selbst einen Ein-fluß haben oder nehmen wollen“4. Hier istin der letzten Zeit sowohl bei sozialenDiensten als auch bei Stadtplanern und -entwicklern, aber auch in der Kommunal-politik der soziale Raum, das Quartier ver-stärkt als Ort und Instanz sozialer Integrati-on ins Auge gefaßt worden. Dadurch wirdzunehmend das Zielgruppenkonzept sozia-ler Kommunalpolitik abgelöst.

Der Stadtteil, das Quartier wird zuneh-mend erkannt „als eine Ressource zur Lebensbewältigung“5 - vor allem für sozial

schwache Bevölkerungsgruppen - die analy-tisch weiter aufzuteilen ist in:

- Stadtteil als Chance der Existenzsiche-rung durch Arbeit

- Stadtteil als Ort des Wohnens- Stadtteil als Ort sozialen Austauschs- Stadtteil als Ort der Teilhabe an gesell-schaftlichen Einrichtungen.

Eine von der Landesregierung Nord-rhein-Westfalen eingesetzte Expertenkom-mission „Freizeitpolitik“ stellt in einem Gut-achten fest, daß eine Modernisierung staat-lichen Handelns zwangsläufig in Richtungquartiersbezogener Ansätze gehen muß.Förderungsprogramme des Landes für be-nachteiligte Stadtteile, das Bundespro-gramm „Soziale Stadt“ u.a. tragen dem be-reits Rechnung.

„Der Wohlfahrtstaat mit seinen mo-netären Transfers und dem Aufbau speziali-sierter Großorganisationen hat in der Ver-gangenheit für Rechtssicherheit und hoheStandards in der Leistungserfüllung gesorgt.Aber: Die neuen Aufgaben zur Verbesse-rung immaterieller und materieller individu-eller Problemlagen können durch hochspe-zialisierte Verwaltungen und Großinstitutio-nen und -verbände immer weniger gelöstwerden. Wichtiger werden bürgernahe,ortsangepaßte, flexible und integrierte Kon-zepte kleinteiliger Art.6 (Expertenkommissi-on 1994,10).

GemeinwesenarbeitEs wird deutlich, daß von diesem Ver-

ständnis her eine sozialarbeiterische/stadt-teilpolitische Integrationsstrategie nötig ist,die den sozialen Raum - also das Verhältnisder Menschen in und zu ihrem Stadtteil -berücksichtigt. Eine solche Strategie habenwir seit Mitte der 60er Jahre mit der Ge-meinwesenarbeit (GWA) oder auch derstadtteilbezogenen sozialen Arbeit, wie siein Essen von Wolfgang Hinte genannt wur-de. Obwohl wir inhaltlich nicht weit ausein-anderliegen, bevorzuge ich doch den Be-griff Gemeinwesenarbeit, weil er signali-siert, daß es nicht nur um soziale, sondernauch um kulturelle, ökologische, planerischeetc. Arbeit am Gemeinwesen und des Ge-meinwesens geht.

Eine Erörterung dessen, was Gemeinwe-senarbeit ist und tut, hieße Eulen nach Frei-burg tragen. Deshalb nur kurz zur Erinne-rung und als Voraussetzung für die weitereArgumentation:

Gemeinwesenarbeit ist eine Interventi-onsform sozialer Arbeit (und nicht nur die-ser), die sich nicht zuerst auf Individuenoder Familien richtet, sondern auf sozial-räumliche Einheiten; die sich nicht auf Ein-zelmenschen im Stadtteil richtet, sondernauf Bevölkerungskategorien: Eltern, Miete-rinnen, alleinerziehende Frauen, Bewohne-rinnen einer Straße, alte Menschen... undsie ist eine Strategie sozialer Einflußnahme,der es um kollektive Problemlösungsprozes-se geht, deren Subjekte die Betroffenenselbst sind.

Zentrale Kategorie der GWA - ich den-ke, der sozialen Arbeit schlechthin - istHandlungsfähigkeit. Um ihre Herausbil-dung, Sicherung und Erweiterung geht es in allen Dimensionen dieser Arbeit.

Das Quartier, das Gemeinwesen, dieLebenswelt sind dadurch gekennzeichnet,daß sie für die Entwicklung von Hand-lungsspielräumen und Handlungsfähigkeitsowohl Möglichkeiten als auch Behinde-rungen bereitstellen. Diese Möglichkeitenund Behinderungen, die der Stadtteil fürseine Bewohner „bereithält“, sind gebun-den an Ressourcen, die den Bewohnern inunterschiedlicher Weise zugänglich sind.Ressourcen werden hier verstanden als„private und öffentliche Güter ..., die dieLebenschancen von Personen zusätzlichzu ihrem Einkommen beeinflussen“7. Sol-che Ressourcen können Infrastrukturaus-stattungen, soziale Dienstleistungen, im-materielle Werte - wie z.B. der Ruf einesStadtteils - sein. Sie sind Gegenstand vonSozial- und Gemeinwesenarbeit, wenn esihr darum geht, Handlungsspielräume fürdie Menschen zu schaffen und zu erwei-tern.

Von besonderer Wichtigkeit ist dabeidie Ressource Netzwerk. „Hier wird emo-tionale Unterstützung geleistet, hier gewin-ne ich mein Selbstwertgefühl, hier bezieheich praktische Alltagshilfe. Für alle denkba-ren Probleme, von der Schwangerschaft biszum Verlust einer wichtigen Vertrauensper-son, von der Arbeitslosigkeit bis zu schwe-ren körperlichen Krankheiten, gibt es be-weiskräftige Befunde, daß Verfügbarkeitund Qualität von Hilfe und Unterstützungaus dem eigenen Beziehungsnetz entschei-dend dafür sind, wie wir mit einem solchenProblem zurechtkommen“8.

Allerdings: Viele Menschen haben esverlernt, soziale Netze zu knüpfen. Andere

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haben keine oder nur begrenzte Möglich-keiten dazu. Das gilt für den materiellenAspekt (Armut, Infrastrukturmängel) ebensowie für den sozialen Aspekt (Beispiel: al-leinerziehende Mütter), für den psychischen(Isolation) ebenso wie für den sprachlichenAspekt (Ausländer, schichtspezifischeSprachbarrieren).

Deshalb - und das ist nun wahrlich nichtneu - bedarf es der professionellen Hilfe.Ich sehe eine wesentliche Aufgabe sozialerBerufsarbeit darin, den Menschen Ressour-cen fürs Überleben oder für ein besseres Le-ben zur Verfügung zu stellen oder derenNutzung zu ermöglichen. Sozialarbeit istdemzufolge zu einem wesentlichen TeilNetzwerkarbeit.

Das heißt, für die Menschen im Ge-meinwesen dessen psychosoziale und so-ziokulturelle Ressourcen zu entdecken, zuerschließen und ggf. solche zur Verfü-gung zu stellen: Räume, wo sie an ihreneigenen Netzen stricken können, Nach-barn, Gleichgesinnte, Professionelle. DasGemeinwesen gewinnt eine neue Bedeu-tung: Es wird zum Netzwerk formellerund informeller Beziehungen. Seine Be-deutung für den Einzelnen besteht u.a.darin, daß und inwieweit in ihm Unter-stützung und Solidarität zu mobilisierenist. Hier spielt vor allem die lokale Öffent-lichkeit eine Rolle.

Diese Form des Unterstützungsnetz-werks ist jedoch nicht die einzige, weswe-gen Vernetzungsarbeit im Gemeinweseneine zentrale Bedeutung hat, und es wärekurzsichtig, sich darauf zu beschränken.Wir haben in der Gemeinwesenarbeit seitjeher als zentralen Begriff, als Weg und alsZiel „Aktivierung“ genannt. Damit war undist gemeint, daß der Bürger sich im lokalenZusammenhang für seine Interessen einsetztund sie ggf. auch durchsetzt, dabei seineLebensumstände positiv verändert - undsich selbst auch. Wir müssen aber - wieWolfgang Hinte in gewohnter Zuspitzungformuliert - mit „aktivierungsresistenten Be-troffenen9“ rechnen. Oder etwas moderaterformuliert: „Für eine direkte politische Betei-ligung am Geschehen in ihrer Kommune se-hen viele Bürger jedoch keine Anknüp-fungspunkte. Denn: Stadtverwaltungen wer-den in der Regel nur dann tätig, wennHandlungsbedarf besteht; die politischenParteien interessieren sich nur dann für dieAnliegen von Bürgern, wenn eine Wahl an-steht. Es fehlen kontinuierliche Kommunika-tionszusammenhänge und Foren der Erörte-

18 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

rung von gesellschaftlichen und kommunal-relevanten Fragen; eine öffentliche Beschäf-tigung mit politischen Themen als Hand-lungsprozeß findet nicht statt. Politik zeigtsich den Bürgern und Bürgerinnen im Grun-de nur noch als Handlungsvollzug der Ad-ministration.“10

Eine Vernetzungsstrategie im lokalenUmfeld könnte hier ein alternatives Poli-tikmodell bieten, „denn Netzwerke sindnicht hierarchisch strukturiert, ihre Mitglie-der sind nicht von Weisungen abhängigund agieren unbürokratisch. Natürlich stelltsich auch in solchen Gebilden das Problemvon Macht und Herrschaft. Dieses Problemmuß Gegenstand einer ständi-gen Reflexion sein. Selbstbe-obachtung und -aufklärungsind Wesensmerkmale die-ses Konzeptes“11. Deshalbmuß eine solche vernetzteQuartierspolitik, eine Akti-vierung der Menschen aufder Basis eines tragfähigenNetzes gelernt werden. Ge-meinwesenarbeiter wärenu.a. die Organisatoren undUnterstützer dieses Lern- undTeilhabeprozesses.

Ich grenze also im Folgenden mein The-ma „Was kann Gemeinwesenarbeit zurTeilhabe leisten?“ auf politische Partizipati-on ein. Damit greife ich Gedanken auf, dieich schon vor 5 Jahren (1994) in Freiburg -damals beim Caritasverband - referierthabe:

Politik - das sind die öffentlichen Prozes-se der Gestaltung unserer Lebensverhältnis-se. Darin steckt die Produktion von Entschei-dungen und deren Umsetzung. Hier ist einwichtiger Begriff der der Öffentlichkeit imGegensatz zum Privaten. Die Einzelhilfe,die Therapie, der Prozeß zwischen Beraterund Klient sind privat.

Wenn aber das Handeln zum kollekti-ven wird, wenn es um das Einwirken vonund auf Institutionen geht; wenn die Pro-bleme aus dem Privaten herausgehoben,zu öffentlichen, zu sozialen Problemenwerden, dann ist das Politik, politischesHandeln, Handeln, das Lebensverhältnissein einem sozialen Raum, einem Gemein-wesen verändert und gestaltet. Gemein-wesenarbeit, wie ich sie oben definierthabe, ist deshalb immer politisch. Ein zen-trales Qualitätsmerkmal von Gemeinwe-senarbeit ist, wieviel an politischer Partizi-

pation die Menschen im Gemeinwesen er-reicht haben.

Teilhabe = Partizipation (lat. pars - dasTeil; capere: nehmen, ergreifen)

Politische Partizipation beschreibt einVerhältnis zwischen Entscheidungsträgernund Entscheidungsbetroffenen. Das Bestre-ben der Entscheidungsbetroffenen geht da-hin, durch Partizipation mindestens zu Ent-scheidungsbeteiligten zu werden.

In der Kommune kennen wir unter-schiedliche Beteiligungsformen

Die Gemeinwesenarbeit hat traditioneller-weise auf die informelle Beteiligung gesetzt.Aktivierung hieß Bürgerinitiative, Demonstrati-on, Protestaktionen, Widerstand. Davon ist vie-les verlorengegangen. Die Rückbesinnung aufCommunity Organization greift das wiederauf. Es wird aber strategisch wichtig, ergän-zend - nicht als Ersatz! - auch auf der Klaviaturder anderen Beteiligungsformen zu spielen,wenn es um dauerhafte Partizipation, um blei-benden Einfluß und nicht nur um kurzfristige Er-folge gehen soll. Vor allem vorparlamentari-sche Beteiligungsformen wie Bürgeranhörun-gen, Stadtteilversammlungen, Bürgeranträgeund -begehren, Beiräte und Beauftragte, sindwesentliche Transmissionsriemen des Betroffe-neninteresses in die politischen Entscheidungs-gremien und in die Verwaltungen hinein.

Wichtig für unseren Zusammenhang istder Blick auf den Grad des Einflusses von Partizipation, den ich für ein wesentlichesQualitätsmerkmal von Gemeinwesenarbeithalte.

Matthias Bartscher unterscheidet im Zu-sammenhang kommunaler Kinderpolitik:

Unverbindliche Partizipation: Hier er-folgt eine Teilnahme am Entscheidungs-

Verwaltung/Rat

parlamentarische vorparlamentarische informelle Beteiligung Beteiligung Beteiligung

Bürger/Wähler/Einwohner12

Wahl entscheidungsbezogen org. InteressenParteienmitarbeit anhörungsbezogen indiv. Aktivitäten

zielgruppenorientiert öffentl. Meinung

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 19

prozeß durch Informationen, durch Bera-tungs- und Mitwirkungsrechte oder durchdemonstrative Proteste. Mitentscheidungwird zugestanden.

Verbindliche Partizipation: Hier kommtes zu einer „Einschränkung der Entschei-dungsvollmacht der Dirigierenden durch po-litische Mitbestimmung“. Mitentscheidungist verbindlich geregelt.

Selbstverwaltung: Hier werden Entschei-dungsbetroffene zu Entscheidungsträgern.Die bisherigen Entscheidungsträger sind ander Entscheidung nicht mehr beteiligt.13

Alle Ebenen haben ihre Berechtigung.Sie sind abhängig vom lokalen Kontext,von der ‘lokalen Richtigkeit’, also von politi-schen Machtverhältnissen oder vom Enga-gement und/oder den Fähigkeiten der Ent-scheidungsbeteiligten.

Differenzierter stellt dies die Stufenleiterder Partizipation nach Sherry Arnsteindar14. Sie ist schon in den 60er Jahren be-zogen auf kommunale Planungsprozesse inden USA entwickelt worden. An ihr könnenwir ablesen, wo in der Gemeinwesenarbeitunseres Quartiers sich welche Gruppe be-findet.

Bürgerkontrolle

Selbstverwaltung

delegierte Macht

Partnerschaft

Beschwichtigung

Anhörung/Beratung/Befragung

Anwaltschaft

Therapie

Manipulation15

Erläuterungen:Manipulation bedeutet hier, daß Ent-

scheidungsträger die Bürger in einer Ent-scheidung überreden, austricksen, damitdiese den geplanten Entscheidungen zustim-

men (z.B. der Nebel, der durch „Sach-zwangargumente“ erzeugt wird).

Therapie geht von der Unfähigkeit derBetroffenen zur eigenen Entscheidung ausund will diesen erst basale Entscheidungs-fähigkeiten vermitteln, z.B. Rhetorikkursoder Einführung in die Kommunalpolitikoder Selbstbehauptungstraining.

Anwaltschaft hat in der GWA und Sozi-alplanung immer eine Rolle gespielt. DerProfessionelle vertritt die Interessen der Be-troffenen gegenüber den Mächtigen. Ent-scheidend ist dabei, ob er von ihnen dazubeauftragt wird.

Anhörung/Beratung/Befragung sind Be-teiligungsformen, in der Betroffene ihre Posi-tionen zu anstehenden Fragen einbringenkönnen, ohne daß die Entscheidungsträgerdadurch gebunden würden.

Beschwichtigung meint, daß der Scheindes Einflusses der Betroffenen erhöht wird,ohne ihnen letztendlich zu folgen. Das istbei Runden Tischen und Stadtteilkonferen-zen oft der Fall, vor allem wenn Vertretervon Betroffenengruppen teilnehmen, ohneihrer Gruppe gegenüber rechenschafts-pflichtig zu sein.

Partnerschaft wird hier verstanden alsein geregeltes Verfahren, in dem Entschei-dungsrechte u.a. durch Satzungen, Ordnun-gen oder Verträge festgelegt sind (Jugend-parlamente, Beiräte, Ausschüsse, Stadtteil-konferenzen).

Delegierte Macht bedeutet, daß Betrof-fene über ein bestimmtes Projekt, Programmoder Teilproblem die volle Entscheidungs-macht erhalten (u.a. selbstverwaltete Berei-che in Einrichtungen, z.B. das Café im Bür-gerhaus).

Bürgerkontrolle/Selbstverwaltung stelltdie volle Entscheidungsmöglichkeit überProgramme, Strukturen, Finanzen, Vorge-hensweisen, Personalfragen etc. innerhalbeines definierten Raumes dar (Quartiersbud-get als Ansatz; selbstverwaltete Häuser).

Diese Arnsteinsche Stufenleiter kannklären helfen, auf welcher Ziel- oder Form-ebene sich praktische Partizipation befin-det, und kann helfen, eigene Strategien imQuartier genauer zu bestimmen, wobei sich

durchaus unterschiedliche Gruppen imStadtteil aufgrund unterschiedlicher Bedin-gungen auf unterschiedlichen Stufen der Lei-ter befinden können.

Nun wird sehr häufig beklagt - vgl.Wolfgang Hintes schöner Begriff der „Akti-vierungsresistenz“ -, daß sich auf allen Ebe-nen der Partizipation nur wenige Menschenbeteiligen. Diese Klage ist nicht neu. SchonPlaton und Aristoteles beklagten die Mitwir-kung der Bürger in der griechischen Polis.Die Klage zieht sich über Rousseau bis zumSlogan der „Politikverdrossenheit“ der Ge-genwart durch. Was hindert die Bürgerin-nen und Bürger, ihre Partizipationsmöglich-keiten wahrzunehmen?

Warum werden Menschen (nicht) aktiv?

Hier kommen Wissenschaftler unter-schiedlicher Disziplinen zu sehr ähnlichenAntworten. Ich beschränke mich heute aufdie Soziologie.

Hier hat sich ein Ansatz herausgebil-det, der „methodischer Individualismus“genannt wird. Grundannahme dieses An-satzes ist, daß man nach Eigenschaftenvon Personen fragen muß, um soziologischrelevante Konzepte aufstellen zu können.Ein solcher Ansatz begreift das Individuumals Entscheidungseinheit, für die - in ver-kürzter Darstellung - folgende Merkmalekonstitutiv sind:

„a) Individuen handeln in (eigen-)defi-nierten Situationen aufgrund der von ihnenerkannten Wahlmöglichkeiten. Damit istgleichzeitig hingewiesen auf die Bedeut-samkeit subjektiv wahrgenommener Situati-onselemente und Handlungsalternativen.

b) Die Wahlmöglichkeiten eines Indivi-duums (oder sein Handlungsspielraum) wer-den begrenzt durch Einschränkungen z.B.monetärer, rechtlich-normativer und sonsti-ger struktureller Art.

c) Hat ein Individuum die Wahl zwischenmehreren Handlungsalternativen, so entschei-det es sich für jene Alternative, von derenResultat es sich ausreichend große Vorteileentsprechend seiner Präferenz erwartet.“16

Also, wenn auch nach Binsenwahrheitklingend, aber in der Soziologie lange an-ders gesehen, ein Konzept vom aktiven Indi-viduum, das immer objektiv und subjektivbestimmte Wahlmöglichkeiten hat.

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Daraus ziehe ich praktische und strate-gische Konsequenzen:

Die erste betrifft die Zielsetzung.

Ich kann mich und andere nicht für allesund jedes motivieren. Der Mensch handeltim Grunde nur dann motiviert, wenn dasZiel seines Handelns seinen Interessen ent-spricht und er das auch erkennt.

Wenn Menschen aktiv werden, sich en-gagieren, nach Teilhabe drängen, dannbedeutet das für sie auch eine erhöhte Risi-ko- und Anstrengungsbereitschaft. Engage-ment gelingt dann nur in dem Maße, indem das Ziel nicht nur berechtigt, sondernauch realistisch und realisierbar angelegtist. So können unsere Ziele keine abstrak-ten Festlegungen („Man muß sich engagie-ren“) und auch keine moralischen Postulate(„Du mußt doch was für deinen Stadtteiltun“) sein, sondern sie müssen sich sowohlauf die Sachfragen als auch auf die betei-ligten Menschen ausrichten. Läßt man diezweite Hälfte dieser Aussage weg, kannsich der Erfolg leicht in sein Gegenteil ver-kehren.

Unsere Zielformulierungen müssen sichzuallererst an den Möglichkeiten der Betei-ligten ausrichten, müssen fragen nach de-ren objektiven, d.h. tatsächlich gegebenenLebensumständen und nach den subjektivvorhandenen Veränderungs- und Ein-flußmöglichkeiten. Wir müssen nach derPerspektive der Menschen fragen. Dasheißt auch, Ergebnisse des geplanten Han-delns, für das wir Menschen motivierenwollen, müssen antizipierbar für sie sein.Schlicht gesagt: Die Menschen müssen sichvorstellen können, was für sie ‘hinten her-aus kommt’. Im Zusammenhang der Ge-meinwesenarbeit sprechen wir auch vonder „lokalen Richtigkeit“ aktivierenderMaßnahmen.

Engagement/Partizipation bedarf Freiheiten

Wenn Menschen aktiv werden, dannbedeutet das oft widersprüchliche individu-elle Entwicklungen, Krisen, Spannungen imemotionalen, kognitiven und zwischen-menschlichen Bereich. Konflikte müssen be-arbeitet werden, ebenso Mißerfolge undEnttäuschungen. Das geht oft hin bis zurtotalen Handlungsunfähigkeit. Man fühltsich total blockiert.

Es muß also Freiräume geben, in denen

20 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

solche Prozesse durchgestanden werdenkönnen, wo man ehrlich damit umgehenkann. Solche Freiräume dienen auch dazu,sanktionsfrei Lösungsmöglichkeiten zu er-proben, produktive Umwege zu gehen, Al-ternativen zu testen, reden zu können, wieeinem der Schnabel gewachsen ist und sichnicht unbedingt an Gepflogenheiten einerRatssitzung oder irgendwelcher Geschäfts-ordnungen halten zu müssen.

Kosten und NutzenWenn man davon ausgehen kann, daß

keiner bewußt gegen seine Interessen han-delt, dann bedeutet das, er stellt jeweils sei-ne persönliche Kosten-Nutzen-Analyse auf.Er fragt: Was habe ich davon? Von morali-schen Appellen hat keiner was. Auch dieerwähnten soziologischen Erklärungsansät-ze sind sich darüber einig, „daß Personensich nur dann in kollektiven politischen Ak-tionen engagieren, wenn sie in einem Ver-gleich mit den zu erwartenden Kosten undNutzen denkbarer Handlungsalternativenzu dem Schluß kommen, daß ihnen dieseArt und Handlung ausreichenden Gewinnverspricht. Daraus folgt, daß sowohl politi-sche Aktivität als auch Inaktivität rationaleHandlungen ... darstellen können“17. Auchder Mensch, der sich nicht engagiert, hatzumindest aus seiner Sicht gute Gründe.

Dabei steht auf der Kostenseite die nichtselten aus Erfahrungen gewonnene Angstder Menschen vor Sanktionen und vorMißerfolgen, die Einschätzung, daß die Ak-tion so unmittelbar mit ihnen nichts zu tunhabe. Die Landesstudie 1997 zum bürgerli-chen Engagement in Baden-Württembergsieht als die größte Barriere für Engage-ment das Gefühl der Machtlosigkeit („Esbringt ja doch nichts!“). Auf der Nutzensei-te steht - oft ebenfalls durch Erfahrungen ge-stützt - der zu erwartende Erfolg, das Ge-fühl der Zugehörigkeit zu einer aktivenGruppe, die Anerkennung anderer, nichtselten bedeutungsvoller Menschen. Geradedas hat, so zeigen unsere Erfahrungen imEinklang mit vielen Untersuchungen, hoheBedeutung. Die Eurovol-Studie zum ehren-amtlichen Engagement spricht in diesem Zu-sammenhang von „persönlichen Rückgewin-nungspotentialen“ 18, dazu gehören nachden Aussagen der Befragten in zehn eu-ropäischen Ländern u.a. die Befriedigungüber sichtbare Ergebnisse - deshalb solltenwir dafür sorgen, daß Bürgerengagementauch Erfolg hat - die Begegnung mit ande-

ren Menschen, aber auch Kompetenz-erwerb in der Aktion. Ein wichtiger Aspektist hier auch, auf die emotionalen Kostenund den emotionalen Nutzen zu achten.Wie wohl fühle ich mich bei der Teilhabe,wo werde ich verletzt? Darauf achten wiroft zu wenig.

Dabei ist eine wichtige Voraussetzungfür Aktivierung ein gewisser Grad an Infor-miertheit über das öffentliche Leben derStadt oder des Stadtteils und den Ablaufpolitischer Prozesse, aber auch Informiert-heit über Entscheidungsmöglichkeiten und -rechte. Das wird von zahlreichen empiri-schen Untersuchungen gestützt.

Wichtiger Faktor der Kosten-Nutzen-Analyse und damit der Entscheidung, sichan Entscheidungsprozessen zu beteiligen,ist schließlich auch die Ein- und manchmalUnterschätzung der eigenen Kompetenz.

In Untersuchungen von Selbsthilfegrup-pen ist zutagegetreten, daß die Überzahlder Mitglieder von Selbsthilfegruppen des-halb mitmachen, weil sie einen Zuwachsvon Kompetenz erwarten, seien es nunKompetenzen der unmittelbaren Lebensbe-wältigung oder auch andere Fähigkeitenund Fertigkeiten. Dies belegen auch (nichtnur) unsere Erfahrungen in Gemeinwesen-projekten.

Auch die Zeitperspektive spielt eine Rol-le. Aktivierung, die Entscheidung für politi-sches Handeln, Sich-Beteiligen ist „in derRegel nicht eine einmalige Handlung, son-dern eine Sequenz aufeinander bezogenerHandlungen“19, d.h. es müssen immer wie-der neue Angebote gemacht werden; dasheißt Geduld, Gelassenheit und langerAtem.

Wir suchen

die Wahrheit,

finden wollen

wir sie aber

nur dort, wo sie

uns beliebt.

(Marie von Ebner-

Eschenbach)

Page 23: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 21

Zurück zur GemeinwesenarbeitDie Titelfrage des Referates lautet: Was

kann Gemeinwesenarbeit zur Teilhabe lei-sten?

Aufgrund der bisherigen Erörterungenmöchte ich diese Frage jetzt thesenartig be-antworten:

* Gemeinwesenarbeit als eine sozialräumli-che Strategie, die sich auf die Lebensweltder Menschen bezieht, kann genau dieProbleme aufgreifen, die für die Men-schen wichtig sind und sie dort lösen hel-fen, wo sie von den Menschen bewältigtwerden müssen. Dabei kümmert sichGWA prinzipiell um alle Probleme desStadtteils und nicht, wie oft Bürgerinitiati-ven, um ein einziges. Damit schafft sieKontinuität, auch wenn es bei dem einenoder anderen Problem Mißerfolge gibt.

* Gemeinwesenarbeit kann aufgrund ihrermethodischen Vielfalt als methodeninte-grative Strategie auch viele Möglichkeitenfür Teilhabe und partizipatives Handelnzur Verfügung stellen, von der aktivieren-den Befragung über „Community Orga-nization als ein Element zur Wiederbele-bung von Interessenorganisation“20 undzur Befähigung der Teilhabe bis hin zurwiderständigen Aktion.

* Gemeinwesenarbeit bietet insbesonderedurch offene, niedrigschwellige Räumeund Angebote und unter Verzicht auf denpädagogisch oder politisch erhobenenZeigefinger Gelegenheitsstrukturen undLogistik für Engagement und Partizipati-on. Dazu gehört auch das Beschaffen vie-ler notwendiger Informationen aus dempolitischen Raum, an die die Gemeinwe-senarbeiterInnen in der Regel leichter her-ankommen als die Betroffenen. Dazugehören auch gegenseitiges Mutmachensowie Training und Schulung.

* Es ist Aufgabe der Gemeinwesenarbeit,Einzelnen, Gruppen und dem Stadtteil beider Problemveröffentlichung zu helfen.Das Verhältnis Gesellschaft - Lebensweltist nicht allein dadurch zu bestimmen, wiedie Gesellschaft in die Lebenswelt hinein-agiert, sondern auch danach, wie dieProbleme der Lebenswelt in den gesell-schaftlichen, d.h. politischen Diskurs zubringen sind.

* Gemeinwesenarbeit knüpft Netze, die dieMenschen halten, stützen und unterstützen,wenn sie sich aktiv an Entscheidungspro-zessen beteiligen wollen. Hierzu gehörenauch die Netze der Professionellen imStadtteil selbst, die erreichte Positionenabsichern helfen. Das wäre aber ein wei-teres interessantes Thema.

* Gerade mit dieser Vernetzung (aber nichtnur) bietet GWA ein Politikmodell „von un-ten“, das nicht nur auf die Organisationvon Gegenmacht ausgerichtet ist, sondernauch die Politikformen in unseren Städtenauf die Weise durchdringt, daß die Bewoh-nerinnen und Bewohner der Stadtteile nichtnur mehr gehört werden, sondern auchmehr und dauerhaft Entscheidungen im undfür den Stadtteil treffen können. Dadurchwird ein Prinzip der Teilhabe durch GWAmöglich, das ich in einem Strategiepapierfür einen Stadtteil meiner Heimatstadt Dins-laken im Jugendhilfeausschuß formulierthabe und das mittlerweile auch Grundlagekommunalen Handelns geworden ist:

„Lösungen und Strategien für Lohberg müs-sen aus dem Stadtteil selbst erwachsen.

Die Wünsche und Vorstellungen der Men-schen im Stadtteil, ihre Ressourcen undAktivitätsbereitschaft, die Institutionen undGruppierungen, die im Stadtteil zuhausesind, müssen die Träger der Veränderungin Lohberg sein. Akzeptanz und Prioritä-ten von Maßnahmen muß von und mit ih-nen ausgehandelt werden.

Das heißt auch - und ich betone dies mitNachdruck - kein Zuschütten Lohbergs mitProgrammen und Maßnahmen vonaußen, mit denen Träger unterschiedli-cher Art sich selbst profilieren oder anFördermittel kommen wollen.

Der namhafte VerwaltungswissenschaftlerKlages hat auf einem Symposion zumThema ‘Glück’ empirisch gestützt folgen-den Sachverhalt vorgetragen:Wenn Politik mit dem Anspruch auftritt,das Glück des Bürgers zu befördern, istdessen Zufriedenheit besonders gering. Je mehr Bürgerinnen und Bürger selbstver-antwortlich tun können, desto höher istihre Zufriedenheit.“

Mit meinen Gedanken zur Frage, wasGWA zur Teilhabe der Menschen im Stadt-

teil leisten kann, nähere ich mich durchausPositionen an, die auf der einen Seite Moni-ka Alisch und auf der anderen Seite Wolf-gang Hinte21 unter dem Begriff „Stadtteil-management“ vorgetragen haben.

Was heißt nun Gemeinwesenarbeit alsStadtteilmanagement?

- Stadtteilarbeit und Stadtteilerneuerung be-darf - das ist unbestritten - der GWA alsStadtteilmanagement. „Mit dem Begriff‘Management’ soll gegen betriebswirt-schaftliche Managementverständnisse betont werden, daß der Aufbau von Kom-munikationsstrukturen im Quartier, der Prozeß der Bewohneraktivierung und dasBilden von Strukturen der Selbstorganisa-tion zunehmend wichtiger werden für dienachhaltige Entwicklung des Quartiers,während die Modernisierung der Wohn-häuser oder der Bau neuer Infrastruktur-einrichtungen eher in den Hintergrund treten“.22

- GWA als Stadtteilmanagement geht deut-lich über die rein betreuenden, fürsorgeri-schen Interventionen der sozialen Arbeitund die nützlichen Dienstleistungen derGemeinwesenarbeit im Stadtteil hinausund bewährt sich als multidimensionalestadtentwicklungspolitische Strategie zurErneuerung nicht nur benachteiligter Stadt-viertel.

- Ziel eines solchen Ansatzes sind langfristigBewohnerorganisationen, die eigenverant-wortlich über die Entwicklung ihres Stadt-teils entscheiden.

- GWA als Stadtteilmanagement hat als we-sentliche Aufgabe die Moderation und Unterstützung von Interessenkonflikten imStadtteil und die Entwicklung und Vernet-zung von Projekten. Sie schafft ein Klimalokaler Kooperation und Partizipation, dasimmer wieder neu gesichert werden muß.

Stadtteilmanagement - und das ist mirsehr wichtig - muß weder die Aufgabe derKommune noch die der Professionellensein. Idealerweise könnte es die Koproduk-tion von engagierten Bürgerinnen und Bür-gern und der Gemeinwesenarbeit durchProfessionelle sein. Sollte eine KommuneStadtteilmanagement beginnen, ist das jaallemal besser als bloße Maßnahmenpoli-tik. Die Aufgabe sollte aber langfristig auf

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aktive Bewohnerorganisa‚tionen überge-hen. Soweit ist aber meines Wissens nochkeine Kommune in der Bundesrepublik ge-kommen.

SchlußbemerkungGemeinwesenarbeit - so glaube ich -

kann wesentliche Beiträge zur gesellschaft-lichen Integration, zur Teilhabe der Men-schen leisten. Voraussetzung aber ist - undda setze ich mich in bewußten Gegensatzzu Wolfgang Hinte23, - sich der politischenBedeutung von Gemeinwesenarbeit undPartizipation bewußt zu bleiben.

Politisch heißt dabei jedoch nicht „vomherrschaftsfreien Dialog in einer Welt vollguter Menschen zu träumen, es wird richti-ger sein, eine realistische Theorie vonMacht und Herrschaft zu formulieren, diehilft, daß jeder nach seiner Möglichkeit ander Ausübung von Macht teilnehmenkann“24.

Gemeinwesenarbeit hat - wie andere In-terventionsformen sozialer und kulturellerArbeit auch - die Aufgabe, die RessourceSolidarität herzustellen, Netze zu knüpfen,Menschen zu unterstützen und zu stärken,wenn sie solidarisch in ihrer Lebenswelthandeln wollen.

Wenn wir von Individualisierung undEntsolidarisierung als einer Grundtatsacheder modernen Gesellschaft ausgehen25,dann ist es eine Aufgabe sozialer und kul-tureller Arbeit, „Bedingungen für Alltags-solidarität zu schaffen, die sich offensicht-lich in modernen Gesellschaften nicht ohneweiteres ergeben“26. Zu diesen Bedingun-gen gehört der Aufbau von lebensweltli-chen Unterstützungsnetzen, das Zurverfü-gungstellen von sanktionsfreien Räumen alsAnlaufstelle für Informationen, als Gelegen-heit für Austausch und Teilhabe, als Basisfür Aktivität und Aktion und schließlichauch das Bereitstellen von personellen Res-sourcen zur Teilhabe am gesellschaftlichenLeben.

Ich bin fest davon überzeugt, daß dasKonzept der Partizipation ohne die Sub-stanz politischer Grundideen eine hohleMuschel bleibt. Aber ich bin ebenso über-zeugt, daß auf der Basis der Leitidee Soli-darität Partizipation ein Qualitätsmerkmalpolitischer Gemeinwesenarbeit ist.

„Kollektives Handeln ist dann politisch,wenn es seinen Gebrauchswert gewinnt

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aus der Bildung von Gemeinwesen, wennes dem Schutz dieses Gemeinwesens dientund dessen Entwicklungsmöglichkeiten be-fördert. Ein Gemeinwesen darf nicht einzel-ne Bevölkerungsteile, einzelne Menschen,einzelne Realitätszusammenhänge, einzelneRechtsansprüche ausgrenzen; es ist soreich, wie es Zusammenhänge herzustellenvermag.“27

Fußnoten1 Walter Hanesch: Armut und Armutsberichterstattung

in Kommunen, in: Theorie und Praxis der sozialen Ar-beit 43/1992/1/20 - 26, hier: S. 25.

2 Michael Krummacher: Armut und kommunale Sozial-politik im Ruhrgebiet - das Beispiel Bochum, in: Breck-ner/Heinelt u.a.: Armut im Reichtum. Bochum 1989,231-273, hier: S. 245.

3 Hinweise dazu finden sich bei:Susan Grüner, Christiane Dahlmann: Gemeinwesen-orientierte Sozialarbeit in Stadtteilen und Wohngebie-ten. Eine empirische Untersuchung in Westfalen. Diplomarbeit KFH NW, Abteilung Paderborn, Pader-born 1997 und Franz Hamburger und Sascha We-ber: Wohnort als Chance? Migranten in der Stadtteil-und Gemeinwesenarbeit in Rheinland-Pfalz. Mainz1996.

4 Monika Alisch: Stadtteilmanagement - Zwischen politi-scher Strategie und Beruhigungsmittel, in: diess.(Hrsg.): Stadtteilmanagement - Voraussetzungen undChancen für die soziale Stadt. Opladen: Leske + Budrich: 1998, S. 8.

5 Ulfert Herlyn, Ulrich Lakemann, Barbara Lettko: Armutund Milieu. Benachteiligte Bewohner in großstädti-schen Quartieren. Basel u.a.: Birkhäuser: 1991(Stadtforschung aktuell 33), S. 21.

6 Expertenkommission „Freizeitpolitik“: Perspektiven fürden Lebensort Nordrhein-Westfalen (Entwurf). Düssel-dorf 1994. Unveröff. Man. S. 10.

7 Peter Franz: Stadtteilentwicklung von unten. Zur Dyna-mik und Beeinflußbarkeit ungeplanter Veränderungs-prozesse auf Stadtteilebene. Basel, Boston, Berlin:1989, S. 22 (Stadtforschung aktuell 21).

8 Heiner Keupp: Gemeindepsychologie: Alternativezum Psychokult? in: Neue Praxis 20/1990/2/168 -177; hier: S. 172.

9 Wolfgang Hinte: Management mit Charme. Schlüssel-qualifikationen in der Gemeinwesenarbeit, in: sozialextra 21/1996/11/9 - 11; hier: S. 9.

10 Heinz H. Meyer: Kommunale Entwicklung und Parti-zipation. Politik als kultureller Lernprozeß, in: Frie-drich Hagedorn (Hrsg.): Anders arbeiten in Bildungund Kultur: Kooperation und Vernetzung als sozialesKapital. Weinheim und Basel: Beltz 1994, S. 50(ZukunftsStudien 14).

11 ebda S. 52.12 nach Ulrich von Alemann: Vorparlamentarische Be-

teiligung in der kommunalen Demokratie, in: StiftungMitarbeit (Hrsg.): Bürgerbeteiligung und Demokratievor Ort. Bonn 1997, S. 9-31.

13 Matthias Bartscher: Partizipation von Kindern in derKommunalpolitik. Freiburg: Lambertus 1998, S. 24.

14 nach Benedikt Sturzenhecker: Qualitätsanfragen anJugendpartizipation, in: deutsche jugend46/1998/5/212f.

15 vom Verfasser dieses Artikels modifizierte Fassung.16 Peter Franz: a.a.O. S. 50.17 Peter Franz, a.a.O., S. 116.

18 Irmtraut Paulwitz, Gabriele Steffen, Ulrich Otto: Bür-gerschaftliches Engagement - internationale undstädtische Perspektiven, in: Siegfried Müller, HeidiReinl (Hrsg.): Soziale Arbeit in der Konkurrenzgeselschaft. Beiträge zur Neugestaltung des Sozialen.Neuwied u.a. 1997, S. 180.

19 Peter Franz a.a.O. S. 119.20 Tilo Klöck: Empowerment, in: Wolfgang Krebs

(Hrsg.): Methodische Ansätze in der Gemeinwesen-arbeit. Gelnhausen: Burckhardthaus 1996, S. 21.

21 vgl. Fußnoten 5, 10 und 22.22 Monika Alisch: Stadtteilmanagement - Zwischen poli-

tischer Strategie und Beruhigungsmittel, in: diess.(Hrsg.): Stadtteilmanagement. Voraussetzungen undChancen für die soziale Stadt. Opladen 1998, S. 12.

23 „...die alten Formeln ‘Parteilichkeit’ und ‘Solidarität’geben keine Antworten auf die Fragen derjenigen,die sich in den Pfaden des lokalen Politik-Dschungelsverlaufen haben, und das Gerede davon, daß dieGWA wieder politisch werden müsse, trägt auchnicht sonderlich zur Ausbildung von Handlungskom-petenz von Professionellen bei...“(Hinte 1994, 9).

24 Joseph Huber: Was aus den guten Vorsätzen geworden ist. Die Idee der Netzwerke. Ein kritischer Rück-blick auf verschiedene Projekte und der Versuch ei-nes Ausblicks, in: Frankfurter Rundschau vom8.2.1990, S.19.

25 vgl. Ulrich Beck: Die Risikogesellschaft, Frankfurt amMain: Suhrkamp 1986; Adalbert Evers, Helga No-votny: Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Ent-deckung der Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Frank-furt am Main: Suhrkamp 1987; Heiner Keupp: Ris-kante Chancen. Das Subjekt zwischen Psychokulturund Selbstorganisation. Heidelberg: Asanger 1988.

26 Karl Otto Hondrich, Claudia Koch-Arzberger: Soli-darität in der modernen Gesellschaft. Frankfurt amMain: Fischer 1992, S. 58.

27 Oskar Negt, Alexander Kluge: Maßverhältnisse desPolitischen. 15 Vorschläge zum Unterscheidungsver-mögen. Frankfurt am Main 1992, S. 15.

Page 25: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 23

handelnden Personen, die nutzbaren Räum-lichkeiten, die zur Zusammenarbeit zur Ver-fügung stehenden Partner sind jeweils ande-re. Diese Unterschiedlichkeit spricht für Qua-lität. Zentral gesteuerte und geplante Gleich-förmigkeit und Uniformität können nur aufKosten von Bürgerinteressen und deren so-zialen Bedürfnissen erreicht werden.

3. Grundprinzipien der Nachbar-schaftsarbeit

Bei aller Verschiedenheit sind aberGrundprinzipien zu erfüllen, die ein Nach-barschaftshaus erst zu einem Nachbar-schaftshaus machen. Zusammengefaßt diewichtigsten Grundprinzipien:

* alle Schichten und Gruppen der Bevöl-kerung werden angesprochen (Kinder,Jugendliche, Eltern, alte Menschen)

* kommunikationsfördernde, generati-onsübergreifende und integrierendeAngebote (z.B. für Ausländer, Behin-derte, Menschen in besonderen Lebens-situationen und mit zeitweiligen und/oder dauerhaften Problemen)

* mit den Stärken der einzelnen Perso-nen arbeiten und ihre kreativen Poten-tiale entwickeln

* Verknüpfung sozialer, kultureller undgesundheitsfördernder Aktivitäten

* Ermunterung und Förderung derSelbsthilfe und eigenverantwortlicherAktivitäten von Personen, Gruppenund Initiativen

* Ermunterung und Förderung des bür-gerschaftlichen Engagements (der eh-renamtlichen, bzw. freiwilligen Arbeit)

* individuelle Hilfeleistung durch Bera-tung und geeignete Unterstützungdurch eigene Dienstleistungsangeboteoder durch ihre Vermittlung

* Transparenz und Öffentlichkeit allerAngebote, attraktive und offensive Öf-fentlichkeitsarbeit

* attraktive Räumlichkeiten, die dasWohlbefinden fördern und vielfältigeAktivitäten ermöglichen

* Zusammenarbeit und Vernetzung mitanderen Institutionen mit dem Ziel op-timaler Ressourcennutzung

* Regionalität (überschaubares Einzugs-gebiet und Berücksichtigung gewach-sener Strukturen).

Letztlich verstehen sich Nachbarschafts-häuser als Brückenbauer, als Ermöglicher,als Aktivitätszentren und als professionelleDienstleister.

A. Arbeitsgrundsätze und Prinzipien

1. Nachbarschaftshäuser sinddas Ergebnis bürgerschaftlichenEngagements

Stadtteilzentren/Nachbarschaftshäuserentstehen aus bürgerschaftlichem Engage-ment und leben von bürgerschaftlichem En-gagement. Gesellschaftliche Grundprinzipi-en der Demokratie und der Subsidiarität,also allgemeine Bürgerrechte, gewährlei-sten ihnen Gestaltungsfreiheit bei derWahrnehmung ihrer Ziele, ihrer Aufgabenund deren Umsetzung.

2. Bürgermitwirkung und loka-les Umfeld erfordern Vielfalt

Daraus leiten sich auf der einen SeiteStrukturprinzipien für die Führung und Ver-antwortung von Nachbarschaftshäusernab, die die Mitwirkung und Mitgestaltungder Bürger/innen und Besucher/innen er-möglichen und andererseits die zwingendeRücksichtnahme staatlicher und kommunalerInstanzen gegenüber Entscheidungen desTrägers eines Nachbarschaftszentrums.

Aus den Gestaltungsprinzipien bürger-schaftlichen Engagements ergibt sich, daßNachbarschaftshäuser zwangsläufig unter-schiedlich aussehen: Ihre individuelle Entste-hungsgeschichte, ihr jeweiliges Umfeld, die

Nachbarschafts-, Selbsthilfe-

und Familienzentren in Berlin

Arbeitsgrundsätze, Ausstattung,flächendeckende Versorgung und Neustrukturierung

von Georg Zinner

Page 26: Rundbrief 2-1999

Daraus lassen sich verschiedene Typenvon Nachbarschaftshäusern ableiten:

Typ 1: StadtteilladenAusschließlich ehrenamtliche Mitarbei-

ter/innen

Typ 2: NachbarschaftstreffpunktHauptamtliche Mitarbeiter/innen, gestützt

und getragen von ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen mit mindestens nachbarschaftsorientier-ten, generationsübergreifenden Angeboten(Haus für Alle) und der Förderung von Initiati-ven und bürgerschaftlichem Engagement

Typ 3: Nachbarschaftshaus (bzw.nach der Vertragsbegrifflichkeit„Stadtteilzentrum“)

Hauptamtliche Mitarbeiter/innen, ge-stützt und getragen von ehrenamtlichen Mit-arbeiter/innen mit mindestens nachbar-schaftsorientierten, generationsübergreifen-den Angeboten (Haus für Alle) der Familien-bildungsarbeit und der Förderung von Selbst-hilfe und bürgerschaftlichem Engagement.

Dieser Typ könnte auch als „Regeltyp“bezeichnet werden.

Typ 4: Nachbarschaftshaus plus(Trägerschaften)

Z.B. für Kindertagesstätten, Jugendfrei-zeiteinrichtungen, Familienbildungsarbeit,

Betreuungsvereine, Regionale Beratungs-und Kontaktstellen für Selbsthilfe, Beschäfti-gung und Qualifizierungsprojekte, Integrati-on von Ausländern, Seniorenfreizeiteinrich-tungen, Sozialstationen u.a. mehr. Hinzukommt eine regionale „Ordnungs- und Struk-turierungsfunktion“, die in enger Zusammen-arbeit mit Bezirk, Senat, Wohlfahrtsverbän-den, Kirchengemeinden und örtlichen Verei-nen und Initiativen wahrzunehmen ist.

B. Die personelle, räumliche undsachliche Grundausstattung

Die erforderliche personelle und finanzi-elle Grundausstattung läßt sich grundsätz-lich aus den o.g. Typen ableiten, muß abertrotzdem nicht für jede Einrichtung identischsein. Während Typ 1 mit der Finanzierungvon Raumkosten, Öffentlichkeitsarbeit, Bürokosten und Aufwandsentschädigung zufrie-dengestellt werden kann, muß für alle anderen Typen eine Personalkostenfinanzierungerfolgen, bei der es sinnvollerweise eineMindestgrößenordnung gibt (schon um Ver-tretungssituationen gerecht zu werden undum dem zwangsläufig hohen Verwaltungs-aufwand gerecht zu werden).

Die Grundfinanzierung des Typs 3 (Regeltyp):

1. Personelle Grundausstattung:

4. Anerkennung durch den Ver-band nur bei Erfüllung derGrundprinzipien

Die Erfüllung dieser (und der eingangsgenannten) Grundprinzipien ist die Voraus-setzung dafür, als Nachbarschaftshaus („EinHaus für Alle“, „Offen für Alle“) vom Ver-band für sozial-kulturelle Arbeit anerkannt zuwerden. Der Verband muß ein offizielles An-erkennungsverfahren einführen und sozusa-gen die „Titel“ anerkennen und zu diesemZweck die Begrifflichkeiten rechtlich schüt-zen lassen (sofern dies rechtlich möglich ist).

5. Unterschiedliche „Typen“von Nachbarschaftshäusern

In der Praxis haben sich aus den genanntenGründen unterschiedliche Entwicklungen derNachbarschaftshäuser ergeben. Diese unter-schiedliche Entwicklung muß auch künftig mög-lich sein und unbedingt respektiert werden. Soist es zwar nur schwer vorstellbar, aber durch-aus möglich, daß es Nachbarschaftszentrengibt, die ausschließlich mit ehrenamtlichen Mit-arbeitern funktionieren, wahrscheinlicher aberist der Trend zu professionell geführten Nach-barschaftshäusern mit zahlreichen ehrenamtli-chen Mitarbeiter/innen und vielen selbständi-gen Gruppen sowie zusätzlichen sozialen, kul-turellen und gesundheitsfördernden Dienstlei-stungsangeboten, die über ihre eigenen Projekt-oder Leistungsfinanzierungen verfügen.

Nr. Funktion Aufgaben Stellen Kostenin DM

Anmerkung

1 Leitung Leitung, Außenvertre-tung, Aufbau neuer Pro-jekte

1 90.000 Nebenaufgabe möglich,z.B. Seniorenarbeit

2 Sozialarbeiter/-päda-gogin

Stadtteilarbeit, „Quar-tiersmanagement“,Öffentlichkeitsarbeit

1 75.000 Nebenaufgabe möglich,z.B. Kulturarbeit, Be-schäftigung u. Qualifi-zierung

3 Sozialarbeiter/-päda-gogin

Förderung der Selbsthilfeund des freiwilligen Enga-gements, Spendenwer-bung

1 75.000 Nebenaufgabe möglich,z.B. Aufbau von Kursan-geboten für Gesundheits-förderung

4 Pädagoge(in) Familienbildungsarbeit 1 75.000 Nebenaufgabe möglich,z.B. Aufbau u. Beglei-tung von Mütter-Kinder-Gruppen

5 Erzieher/in Kinder- und Jugendfrei-zeitangebote

1 65.000 Nebenaufgabe möglich:z. B. Jugendbildungs-arbeit

6 Verwaltungsmit-arbeiter/in

Personalverwaltung, Finanzverwaltung

1,50 90.000 enge Zusammenarbeitmit dem Leiter (Assistenz)

7 Reinigungskraft/Haus-handwerker

Reinigung, Reparaturar-beiten u.ä.

1 55.000

8 Kursleiter/innen, ehren-amtliche Mitarbeiter/innen

Honorare, Aufwandsent-schädigungen

25 60.000

SUMME 7,5 i585.000

24 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Page 27: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 25

Die personelle Grundausstattung ist vonden Aufgabenstellungen abgeleitet. Es istfachlich und arbeitsorganisatorisch zwin-gend, daß sich jeweils eine Person einerbestimmten Aufgabe fachlich hauptsächlichzuwendet.

2. Räumliche Grundausstattung

3. Sachliche GrundausstattungNach allen Erfahrungen liegt der Sach-

kostenbedarf etwa bei folgenden Größen-ordnungen:

4. Zusammenstellung der Kosten:

5. Eigenmittel:Es dürfte möglich sein, etwa 10 % die-

ser Kosten selbst zu erwirtschaften, alsorund 70 - 80.000 DM. Das sind Vereins-beiträge, Kursbeiträge, Spenden, Zuwen-dungen von Dritten und von Sponsoren.

6. Förderbedarf:Damit liegt der Förderbedarf bei einem

Nachbarschaftshaus vom Regeltyp 3 bei700.000 DM pro Jahr. Im Jahr 2000 ste-hen lt. Vertrag für die Förderung der Stadt-teilzentren 7.687.000 DM zur Verfügung.Das bedeutet, daß allenfalls 11 Nachbar-schaftshäuser vom „Regeltyp“ gefördertwerden könnten, vorausgesetzt, die Selbst-hilfekontaktstellen sind bereits integriert. Dadie finanzielle Förderung auf „Regeltypen“nicht kurzfristig ausgerichtet werden kann,besteht nur die Möglichkeit, für die einzel-nen Einrichtungen nach und nach die Vor-aussetzungen hierfür zu schaffen.

Nr. Funktion Anzahl Größe in qm pro Raum

Miete/NK proqm in DM

Kosten inDM/Jahr

1 Büros, Sprech-zimmer

5 20 25 30.000

2 Gruppenräume 5 20 – 40 25 45.000

3 Veranstaltungs-raum/Saal

1 120 25 36.000

SUMME: 11 370 111.000

Nr. Zweck monatliche Kosten in DM

jährliche Kosten in DM

1 Büro- und Ge-schäftsbedarf

2.000 24.000

2 Öffentlichkeits-arbeit

1.500 18.000

4 AbschreibungenWiederbeschaf-fung

1.500 18.000

5 Sonstiges 1.000 12.000

SUMME 6.000 72.000

1 Personalkosten 585.000 DM

2 Raumkosten 111.000 DM

3 Sachkosten 72.000 DM

SUMME: 768.000 DM

Page 28: Rundbrief 2-1999

C. Flächendeckende Versorgung

1. Die vorhandenen Mittel reichen nicht für eine flächen-deckende Versorgung

Eine flächendeckende Versorgung istmit den vorhandenen finanziellen Mittelnnicht möglich. Die realistischen Einzugs-größen von Nachbarschaftszentren dürftenin Berlin in der Größenordnung von 50 000 bis 80 000 Einwohnern liegen.Bei einer Einwohnerzahl von 3 500 000bedeutet dies, daß Berlin etwa 50 Nach-barschaftszentren benötigt. Dabei sind Unterschiede einzukalkulieren: Nur etwa jedes zweite bis dritte Nachbarschaftszen-trum benötigt einen speziellen Mitarbeiterfür Selbsthilfe. Nicht jedes Nachbarschafts-haus muß Familienbildungsarbeit anbieten.Viele Nachbarschaftszentren haben spezi-elle Einrichtungen für Kinder- und Jugend-arbeit, müssen deshalb nicht unbedingteine Erzieherstelle im Nachbarschaftshaushaben.

2. Der angenommene Finanz-bedarf der unterschiedlichen Typen:

Demnach könnte man mit einer Summevon rund DM 20 000 000 tatsächlich eineflächendeckende Versorgung mit Nachbar-schaftszentren („Stadtteilzentren“ in der Be-grifflichkeit des Vertrages) in Berlin bekom-men und dabei sowohl die historisch ge-wachsenen Nachbarschaftszentren aktuel-len Erfordernissen anpassen, ohne sie in ih-rer Substanz zu gefährden als auch neuereund noch zu schaffende Einrichtungen aus-reichend finanzieren. Bei 50 Nachbar-schaftszentren können regionale Strukturenund örtliche Gegebenheiten voll berücksich-tigt werden. Alle Zentren würden buchstäb-lich in der „Nachbarschaft“ liegen. In Ber-lin gibt es sehr viele Möglichkeiten, nicht

26 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

mehr genutzte oder zu wenig bzw. falschgenutzte Räumlichkeiten oder Einrichtungenfür diesen Zweck umzuwidmen.

3. Realisierungschancen für dieFinanzierung einer flächen-deckenden Versorgung

Dieser Finanzbedarf kann aufgebrachtwerden, wenn sich Senat, Bezirke undWohlfahrtsverbände (insbesondere der Pa-ritätische) zusammen mit den Fachverbän-den darauf einigen, dieses in den nächstenfünf Jahren ernsthaft zu erreichen. Die ver-schiedenen Senatsverwaltungen müssendazu veranlaßt werden, ihre Mittel auf die-ses Modell zu konzentrieren und damit auf-hören, fragwürdige Sondermodelle zu fi-nanzieren (Musterbeispiel: Quartiersmana-ger). Klar ist, daß dieses Ziel nur erreichbarist, wenn die notwendige Unterstützungdafür organisiert wird. Das bedeutet für alleBeteiligten harte Arbeit. Denkbar ist, daßzusätzliche Mittel der EU, des Bundes, vonStiftungen eingeworben werden, da es sichbundesweit durchaus um ein modellhaftesProgramm handelt.

4. Die Einbeziehung bezirklicherVersorgungsangebote durchÜbertragung in freie Träger-schaft

Die Chance der Finanzierung der o.g.Aufgabe wird noch größer, wenn bisherigeVersorgungsaufgaben der Bezirke in denNachbarschaftszentren gebündelt werden,ihnen also vor allem vorhandene Kinder-und Jugendfreizeiteinrichtungen, Senioren-freizeitstätten u.ä. übertragen werden undauch freie oder frei werdende Räumlichkei-ten der Bezirke zur kostenfreien Nutzungübertragen werden. Dies ermöglicht den Be-zirken Ersparnisse, verbessert im Normalfall

die Einrichtungen, führt zu Synergieeffektenund zur Kostensenkung z.B. bei den Mietenund machen die Finanzierung von Personal-stellen im Nachbarschaftsbereich überflüs-sig, können also zu erheblichen Kosten-senkungen im Senatsetat für Nachbar-schaftszentren führen.

5. Die Gewinnung von Koopera-tionspartnern

In der Strukturierungsphase sollten Ko-operationspartner gefunden werden, diedaran interessiert sind, diese innovative bürgerorientierte Form sozialer Arbeit zu eta-blieren und daher zu unterstützen. Partnerhierfür sind m.E. der Paritätische Wohl-fahrtsverband und einige Stiftungen, z.B.die Bosch-Stiftung, aber auch die BerlinerJugend- und Familienstiftung. Die Unterstüt-zung könnte auf zwei Ebenen erfolgen: per-sonelle und begleitende Hilfe in der Struktu-rierungsphase, finanzielle Hilfe, um Härtenbei der Umverteilung von Mitteln zu mil-dern.

D. Regionale Kontakt- und Beratungsstellen für Selbsthilfeund Nachbarschaftsarbeit

1. Zwei Modelle für die Ein-beziehung in die Nachbar-schaftshäuser

Während es zu wenige Nachbar-schaftszentren gibt, gibt es eher zu vie-le Selbsthilfekontaktstellen. Zur Zeitwerden knapp 20 Kontaktstellen fürSelbsthilfe mit 30 Personalstellen geför-dert. Denkbar sind im Prinzip zwei Modelle: Jedes Nachbarschaftszentrum er-hält 1 Personalstelle (und die Sachmit-tel), um auch die Aufgaben für Selbst-hilfe wahrzunehmen oder aber: Nurjene Nachbarschaftszentren, die auf-

grund ihrer Lage, ihrer räumlichen Mög-lichkeiten und möglicherweise ihres bisheri-gen Engagements in der Selbsthilfe ein be-sonderes Profil entwickeln können oder ent-wickelt haben, wird oder bleibt ein Nach-barschaftszentrum mit dem Zusatzprofil „Re-gionale Kontaktstelle für Selbsthilfe“. Danndürfte es ausreichend sein, wenn in Zukunftpro Bezirk eine Regionale Kontaktstelle fürSelbsthilfe existiert - diese müßte in Zusam-menarbeit mit den anderen Nachbarschaftszentren dafür sorgen, daß in diesen großenBezirken dezentrale Treffpunkte für Selbsthilfegruppen zur Verfügung stehen (wird z.B.vom Nachbarschaftsheim Schönebergschon praktiziert).

Typ Bezeichnung Anzahl Förderbedarfpro Typ/Jahr

Förderbedarf gesamt in DM

1 Stadtteilladen 3 50 000 150 000

2 Nachbarschafts-treffpunkt

20 400 000 8 000 000

3 Nachbarschafts-haus (Regeltyp)

15 700 000 10 500 000

4 Nachbarschafts-haus plus

12 700 000 840 000

SUMME Nachbarschafts-zentrum

50 im Durchschnitt~ 400.000

19 490 000

Page 29: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 27

Das zweite Modell wird von mir aus fol-genden Gründen bevorzugt:

Zahlreiche Selbsthilfekontaktstellen inBerlin sind in Wirklichkeit in erster LinieNachbarschaftstreffpunkte oder -zentren miteinem Schwerpunkt Selbsthilfe. Vor allem inden eher verkehrsungünstig oder in denAußenbezirken gelegenen Selbsthilfekon-taktstellen ist dies der Fall. Das ist wederden Trägern noch den Mitarbeiter/innenanzulasten - sie machen aus den vorhande-nen Mitteln das Beste. Anzulasten ist esaber einer problematischen Senatspolitik,die in bestimmten Fällen eben auf einenfreien Fördermitteltopf zugegriffen hat undin den letzten Jahren daraus keine ausrei-chenden Konsequenzen zog. Die Kontakt-stelle mit 10 Selbsthilfegruppen erhält diegleiche Förderung wie die Kontaktstelle mit80 Selbsthilfegruppen.

2. Selbsthilfetreffpunkte inNachbarschaftszentren umwid-men

Zahlreiche Selbsthilfekontaktstellen sindeigentlich Nachbarschaftszentren und müs-sen als solche auch offiziell finanziert wer-den.

Den Selbsthilfekontaktstellen, die eigent-lich Nachbarschaftstreffpunkte sind, mußdaraus kein Nachteil entstehen: Sie sollenihre finanziellen Mittel aus den Fördermit-teln für Nachbarschaftszentren erhalten.Das muß für Träger und Mitarbeiter/inneneine Erleichterung bedeuten, da sie sichnicht mehr „künstlich“ zur Selbsthilfekontakt-stelle erklären müßten.

E. Schlußbemerkungen

1. Neue Gemeinschaftsformenbrauchen neue Orte

Wir wissen, daß sich traditionelle Bin-dungen an Familie und andere Gemein-schaften gelockert oder ganz aufgelöst ha-ben und allgemeingültige Werte und Nor-men an Akzeptanz verloren haben, ohnedaß es dafür schon ausreichend neue Ori-entierungen gäbe. Hier sind Nachbar-schaftszentren das Angebot: Ihre Nähe zuden Bürgern, ihre Offenheit, ihre Akzep-tanz, ihre weltanschauliche Neutralität undvor allem das Angebot zur Mitwirkung undMitgestaltung sind sozusagen auf der Höhedes „Zeitgeistes“ - sie brauchen nicht ge-

plant zu werden, sie entwickeln sich vonselbst. Aber: Sie brauchen bestimmte Vor-aussetzungen, eine Infrastruktur, bestehendaus Personal und Räumen. Die institutionelleUnübersichtlichkeit und die Unübersichtlich-keit der Werte und Normen brauchen einenOrientierung anbietenden - nicht verordnen-den - Ort: Nachbarschaftshäuser.

2. Vom versorgenden zum akti-vierenden Sozialstaat

Natürlich gehören in Berlin noch mehrFördertöpfe auf den Prüfstand, bzw. mußständig überprüft werden, wo Mittel mehr indie präventive Arbeit der Nachbarschafts-häuser umgeleitet werden können. Ein sol-ches Vorhaben oder Programm müßte dieÜberschrift tragen: „Vom versorgenden zumaktivierenden Sozialstaat“. Gemeint ist da-mit, daß bei den Bürgern wieder mehr Be-wußtsein darüber entstehen muß, daß derStaat und seine Institutionen nicht für allesund jedes Ansprechpartner sein können unddaß es eine Fehleinschätzung war, zu glau-ben, daß bei einer ausreichenden Ausstat-tung mit finanziellen und personellen Mittelndie sozialstaatlichen, gesellschaftlichen undindividuellen Probleme lösbar wären. Heutemüssen wir darüber nachdenken, wie teureHeimerziehung oder stationäre Pflege durchfunktionierende ambulante Hilfen, Stärkungder Erziehungsfähigkeit (Familienbildung)und funktionierende Nachbarschaften ver-mieden, kostengünstiger gestaltet undgleichzeitig auch menschlicher werdenkann.

Wenn man bedenkt, welche enormenMillionenbeträge beispielsweise immernoch in Heimunterbringung von Kindernund Jugendlichen oder in wenig akzeptierteüberkommene Sozial- und Gesundheitsdien-ste fließen, so sind Nachbarschaftshäuserein äußerst kostengünstiges und wirksamesProgramm.

Anmerkung zu den gebrauchtenBegrifflichkeiten:

Die gebrauchten Begifflichkeiten Stadt-teilladen, Nachbarschaftstreffpunkt, Nach-barschaftshaus (Regeltyp) und Nachbar-schaftshaus plus sowie Nachbarschaftszen-trum wurden von mir während der Verfas-sung dieses Textes entwickelt. Der BegriffNachbarschaftszentrum wurde schließlichim Laufe des Schreibens zum Oberbegriffder vier verschiedenen, hier entwickeltenTypen. Der Begriff Stadtteilzentrum wird

von mir möglichst nicht benutzt, außerhalbvon Fachkreisen hat er sich nie einbürgernkönnen und wird wohl auch in Zukunft nichtangenommen. Ich schlage vor, die von mirhier entwickelte Begrifflichkeit in Zukunftallgemein zu gebrauchen, um die Verstän-digung zu erleichtern. Denkbar ist, daßauch andere Bezeichnungen gefunden wer-den - jedoch bin ich sehr für die Verwen-dung des Wortes „Nachbarschaft“, da derBegriff gut verständlich ist und positiv asso-ziiert wird.

Das Leben

ist kurz,

aber der Tag

ist lang.

Johann W. Goethe

Page 30: Rundbrief 2-1999

Aus denEinrichtungen

28 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Das Recht des

Stärkeren ist

das stärkste

Unrecht.

Marie von Ebner-Eschenbach

Page 31: Rundbrief 2-1999

Auf dem Weg zum Stadtteilverbund

WeddingFabrik Osloer Straße e.V.

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 29

Das StadtteilteamUm Struktur und Inhalte des Stadtteilzen-

trums Wedding zu entwickeln, haben wir -die Nachbarschaftsetage der Fabrik derOsloer Straße, Nachbarschaftshaus Prin-zenallee und RaBe - Raum und Beratung fürSelbsthilfe - uns Anfang des Jahres 1998zum wöchentlich tagenden Stadtteilteam zu-sammengeschlossen.

Im Februar organisierten wir zunächstein Treffen mit unseren Dachverbänden,dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit undSELKO, sowie VertreterInnen unserer Trä-ger. Im Mittelpunkt des Treffens stand dieKlärung der Interessen der Beteiligten unddie für uns möglichen Schritte, für die wirdie Unterstützung unserer Träger und Ver-bände einforderten.

ArbeitsschritteEin Ergebnis des Treffens im Februar

war die Idee, daß wir zur konkreten Ausge-staltung eines Konzepts Stadtteilzentrum fürden Wedding eine Zukunftswerkstatt plan-ten und veranstalteten.

Unsere wichtigsten in der Zukunftswerk-statt erarbeiteten Ergebnisse:

Das Netz als Zentrum:

Wir waren und sind der Überzeugung,daß ein Erhalt der im Wedding gewachse-nen und verwurzelten Einrichtungen undStandorte in verschiedenen Kiezen unbe-dingt wünschenswert ist. Ein zentraler Stand-ort im großen und schwierigen Bezirk Wed-ding wäre für die Aufgabe, soziale Brenn-punkte zu fördern und für die meisten Ziel-gruppen kontraproduktiv. Trotzdem standund steht auch für uns außer Frage, daß dieSynergieeffekte einer engen und verbindli-chen Zusammenarbeit der drei Einrichtun-gen bedeutend sind und im Zuge der immerenger werdenden Kooperation bedeutenderwerden. Aus dieser Ausgangslage ent-wickelten wir das Bild vom „Netz als Zen-trum“. Die Idee ist die einer Schaltstelle, derStadtteilverbund als Impulsgeber für stadt-teilbezogene Arbeit, für sozialpolitische Ak-zente in enger Kooperation mit anderen be-zirksrelevanten Kräften. Der synergetischeEffekt besteht in einem veränderten Blick-winkel den Belangen des Bezirkes gegenü-ber. Weg von der isolierten Arbeit in klei-nen Einheiten, hin zu einer weiteren Sicht-weise, was Selbsthilfe und Nachbarschafts-arbeit für den Bezirk bedeuten, hin zu mehrEffizienz und einer besseren Versorgung

der Bevölkerung durch größere Planungs-einheiten, die von kleinen, persönliche Iden-tifikation schaffenden Einrichtungen umge-setzt werden. Nach dem Grundsatz „Glo-bal denken, lokal handeln“. Durch dieseQualität wird der Stadtteilverbund mehr alsdie Summe seiner Einrichtungen.

Verbindliche Strukturen:

Somit erschien es uns entscheidend,zwischen den einzelnen Einrichtungen ver-läßliche Kommunikations- und Organisati-onsstrukturen aufzubauen. Kern dieserStruktur ist das Weddinger Stadtteilteam, indem wir alle Entscheidungen bezüglich Ent-wicklung und Umsetzung des Stadtteilver-bundes erarbeiten und treffen. Im Stadteil-team erarbeiteten wir einen Kooperations-vertrag, der, Ende des Jahres ‘98 unter-zeichnet, unsere Zusammenarbeit auf eineverbindliche Grundlage stellt.

Verteilung der Arbeitsschwerpunkte:

Wir haben die im Stadtteilzentren-Ver-trag festgestellten Arbeitsschwerpunkte ei-nes Stadtteilzentrums auf die drei beteilig-ten Einrichtungen aufgeteilt: So übernimmtRaBe nach wie vor die Selbsthilfe, das

Aus den Einrichtungen

von Ruth Ditschkowski

Page 32: Rundbrief 2-1999

Ehrenamt und die psychosoziale Beratung.Die Nachbarschaftsetage der Fabrik Oslo-er Straße steht für Familienarbeit mit allenFacetten von Kurs- und Beratungsangebo-ten für Eltern, Kinderveranstaltungen undSeniorenarbeit. Das NachbarschaftshausPrinzenallee hat seinen Schwerpunkt beson-ders im Bereich der Integration von Men-schen mit und ohne Behinderungen, Mi-grantInnen und der Kiezarbeit im Bereichder Soldiner Straße.

Über die anderen von unseren Trägernbetriebenen Projekte und unsere vielfältigenKontakte können wir auch alle anderenAufgaben des Leistungskatalogs bedienen.

Gemeinsam ist auch allen Einrichtungender Blick auf Möglichkeiten bürgerschaftli-chen Engagements und Aktivierung derFreiwilligenarbeit.

Bedarfsanalyse:

Im Sommer 1998 stellten wir uns ge-genseitig die Grundlagen und konkreteAusgestaltung unserer Arbeit vor, auch umsie kritisch, im Sinne von bedarfsgemäßund effektiv, zu diskutieren. Zudem habenwir unsere Erfahrungen mit stadtteilorien-tierter Arbeit im Wedding zusammengetra-gen, um als Stadtteilzentrum weitere kon-krete Schritte für die inhaltliche Arbeit zuentwickeln.

Der vom Nachbarschaftshaus Prinzenal-lee in der Soldiner Straße geplanten akti-vierenden Befragung setzte RaBe als Vorar-beit und parallel eine kleine Befragung imGesundbrunnenkiez voran. Die Ergebnissesind für die Bedarfsanalyse im Stadtteil be-reits verwendbar, obgleich erst die Befra-gung im nächsten Jahr näheren Aufschlußbringen wird. (Siehe auch Bericht „aktivie-rende Befragung“)

Zielvorgaben und Zeitschienen:

In der Zukunftswerkstatt haben wir uns fürdie Koordinierung der Öffentlichkeitsarbeit,die Ausarbeitung des Kooperationsvertrags,die Einbindung von KooperationspartnerIn-nen und die Abstimmung konkreter Arbeit imStadtteil Zeitschienen zur zügigen Abarbei-tung des dichten Arbeitspensums gegeben.

Im Juni 1998 präsentierten wir dieWerkstattergebnisse VertreterInnen des Ver-bandes für sozial-kulturelle Arbeit, SELKOund Frau Dr. Fuhrmann von der Senatsver-waltung für Gesundheit und Soziales.

Im November 1998 luden wir zu einemweiteren Abstimmungstreffen mit unserenVerbänden ein.

30 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Öffentlichkeitsarbeit

Gemeinsames Cover:

Um nach außen gemeinsam auftreten zukönnen, entwickelten wir im Mai 1998 eingemeinsames Werbecover, in das die Pro-gramme der drei Einrichtungen eingelegtwerden.

Dieses Konzept vermittelt sinnbildlichdie Verbundenheit bei gleichzeitiger Eigen-ständigkeit der beteiligten Projekte.

Das Team koordinierte seine Öffentlich-keitsarbeit und stimmte seine Verteiler ab.Damit ist der Werbeeffekt bei gleichem Auf-wand erheblich größer.

Präsentationsmaterial:

Aus der schriftlichen Auswertung der Zu-kunftswerkstatt entwickelten wir einiges anMaterial, das uns seither zur Präsentationder Idee „dezentrales Stadtteilzentrum“ die-nen kann. Z.B. eine Graphik zur Aufteilungder Arbeitsschwerpunkte und ein Schaubildzu unseren KooperationspartnerInnen.

1999 fanden Gespräche und Präsenta-tionen bei bezirklichen Entscheidungsträ-gern, in politischen und fachlichen Gremienund im Rahmen eines von uns eingerichte-ten Projektetreffens statt. Zu diesem Projekte-treffen sprachen wir alle Weddinger Ein-richtungen an, mit denen uns die (möglichstkontinuierliche und enge) Zusammenarbeitsinnvoll und hilfreich für die Stadtteilarbeiterscheint. Die Vorbereitungen dazu habenwir noch 1998 begonnen.

KooperationsvertragDer nach ausführlicher Diskussion im

Dezember verabschiedete Kooperationsver-trag versetzt uns in die Lage, ab 1999 dieArbeit als verbindlicher Verbund weiterzu-führen. Er ist ein erster Schritt und offen fürErgänzungen und Änderungen, die sich ausweiterer konzeptioneller Arbeit ergebenwerden.

EhrenamtDie Aktivierung der Weddinger Bürge-

rInnen zu Ehrenamt, bürgerschaftlichem En-gagement und sozialer/kultureller Freiwilli-genarbeit steht mit im Zentrum unseresSelbstverständnisses.

Aus diesem Grunde besuchten die Mit-arbeiterinnen im Dezember eine Fachta-gung zu diesem Thema. Wir beabsichtigen,gemeinsam mit dem Bezirk das Thema Ehrenamt in die bezirkliche Diskussion zu

bringen, etwa in Form einer Konferenz,Fachtagung o.ä.

Wichtig ist den Mitarbeiterinnen hier-bei, die besonderen Umstände des Wed-dings in Betracht zu ziehen und die Frage,in welcher Weise die verschiedenen Bevöl-kerungsgruppen für ehrenamtliche Tätigkei-ten zu interessieren und motivieren sind.

Ein Bericht des Stadtteilverbundes Wed-ding-Nachbarschaftsetage Fabrik OsloerStr. e.V., Nachbarschaftsladen Prinzenallee58 e.V. und RaBe - Raum und Beratung fürSelbsthilfe.

Sagte der

Angler zum

Wurm: Laß

uns angeln

gehen.Bert Brecht

Page 33: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 31

Der AusgangspunktUnser Haus - das Nachbarschaftshaus

Prinzenallee - liegt im Berliner Bezirk Wed-ding mitten in einem „sozialen Brennpunkt“,dem Soldiner Kiez. Hierher verschlägt esimmer mehr arme Menschen - wer es sichleisten kann, zieht weg. Die vielen unter-schiedlichen Kulturen leben weniger mit,sondern mehr nebeneinander und benen-nen dies auch teilweise als negativ und be-lastend. Die verschiedenen Bevölkerungs-gruppen haben immer weniger Kontakt mit-einander und wissen wenig voneinander,Isolation und Sprachlosigkeit kennzeichnenden Kiez. Auch verkommt der öffentlicheRaum zunehmend - Müll, Sperrmüll undHundekot sind hier die Stichworte. Den Be-wohnerInnen fehlt es an Sicherheitsgefühl.

In der öffentlichen und medialen Diskussi-on ist das Gebiet - besonders „Der Spiegel“und „Spiegel-TV“ haben sich hier hervorge-tan - bereits als „Ghetto“ und „Slum“ stigma-tisiert und in verzerrter Darstellung ein Bildvon massiver und alltäglich bedrohender Kri-minalität gezeichnet worden. Aber auch wis-senschaftliche Untersuchungen zur sozialenStadtentwicklung bescheinigten dem Gebieteine ‘problematische Entwicklung’.

Der Soldiner Kiez ist also vielfach pro-blembeladen und Initiativen sind dringendgefragt - und besondere Situationen erfor-dern außerordentliche Aktivitäten!

Aktivierende Befragung - wasist das und wie haben wir es ge-macht?

Die aktivierende BewohnerInnenbefra-gung dient nicht der Erhebung von Daten,sondern ist eine Methode zur Veränderung

der Situation im Kiez im Sinne von und mitden BewohnerInnen. Aktivierende Befra-gung dient nicht der Erfassung, sondern derMobilisierung der Wohnbevölkerung fürihre Interessen.

Wir entwickelten die Initiative zu dieserBefragung in unserer Nachbarschaft mit fol-genden Zielen:

• Die persönliche Sicht der BewohnerIn-nen auf ihren Kiez erfahren. Was be-werten sie positiv, wo sehen sie Proble-me und Möglichkeiten zur Veränderung.

• Die Selbsthilfekräfte der Kiezbewohne-rInnen mobilisieren und unterstützen,das Eigenengagement fördern und diePerspektive eröffnen, daß Schieflagengemeinsam mit anderen veränderbarsind. Die KiezbewohnerInnen zur Ent-wicklung und Mitgestaltung positiverVeränderungen für sich selbst und imnachbarschaftlichen Verbund gewinnen.

• Unser Haus den KiezbewohnerInnenals Anlaufstelle anbieten, unser Profilund unsere Angebote vermitteln, beson-ders auf unsere Möglichkeiten aufmerk-sam machen, Interessen der Bewohne-rInnen bündeln und unterstützend aufdie Verwirklichung hinwirken.

• Als kiezorientierte soziale Einrichtungwar (und ist) es unser Interesse, unserAngebot und unsere Arbeit mit unse-ren NachbarInnen abzustimmen undzu entwickeln.

Wir haben unsere Initiative in der „Len-kungsgruppe Soldiner Straße“, einer Ar-beitsgruppe der „Lokalen PartnerschaftWedding“, der wir angehören, vorgestelltund sind hier auf großes Interesse und An-gebote zur Unterstützung gestoßen. Ausdieser Runde bildeten wir einen Vorberei-

tungskreis (im Kreis vertreten waren nebendem Nachbarschaftshaus das KommunaleForum Wedding e.V., unser PartnerprojektRaBe - Raum und Beratung für Selbsthilfe -und engagierte und interessierte Einzelper-sonen und AnwohnerInnen).

Mit Beginn des QuartiersmanagementsSoldiner Straße konnten wir den Träger desQuartiersmanagements, L.I.S.T., für die finanzielle Unterstützung der Befragung ge-winnen. Das ermöglichte es uns, aus demVorbereitungskreis eine engagierte Kiezbe-wohnerin als Koordinatorin der Aktivieren-den Befragung zu benennen.

Mit ihrem großen Engagement und ihrerhervorragenden Arbeit gewannen wir für dieBefragung selbst zahlreiche ehrenamtlich En-gagierte aus der Nachbarschaft. Zur Vorbe-reitung der InterviewerInnen auf ihre Aufga-be veranstalteten wir eine Schulung, die vonMaria Lüttringhaus vom Essener Institut fürstadtteilbezogene soziale Arbeit und Bera-tung (ISAAB) sehr kompetent und zu unserergrößten Zufriedenheit angeleitet wurde.

Wir entwickelten einen Fragebogen alsLeitfaden für die InterviewerInnen mit dreiSchwerpunkten: Fragen zur Wohnzufrie-denheit, Fragen zur Kiezanbindung, Fragenzum Nachbarschaftshaus.

Nach massiver Öffentlichkeitsarbeit(Briefkastenaktion, Plakate in die Hausein-gänge, die Läden und auf der Straße, Pres-searbeit, nochmalige Präsentation unter re-ger Beteiligung der Bevölkerung in der Len-kungsgruppe Soldiner Straße) gingen wirim Juni und Juli in die „heiße Phase“. ZweiWochen waren wir täglich mit Infoständenim Gebiet, befragten im öffentlichen Raumund brachten uns immer wieder ins Ge-

Aktivierende Befragungim Soldiner Kiez –

eine Initiative zur Mobilisierung und Unterstützung des Engagements der BewohnerInnen in einem Berliner „besonders belasteten Gebiet“

Aus den Einrichtungen

von Irene Beyer

Page 34: Rundbrief 2-1999

spräch. In der gleichen Zeit gingen unsereInterviewerInnen „von Tür zu Tür“ und führ-ten mit den BewohnerInnen an oder viel-fach auch in ihren Wohnungen größtenteilssehr ausführliche Gespräche über den Kiezund Möglichkeiten der Veränderung. ImNachbarschaftshaus selbst haben wir natür-lich auch befragt.

Die Ergebnisse25 Personen hatten an den Infoständen

und den Haustürgesprächen insgesamt mit206 Personen Gespräche geführt, die etwazwischen einer halben und zwei Stundendauerten. In Anbetracht dessen, daß dieseGespräche ganz wesentlich durch ehren-amtlich Engagierte geführt wurden, einewie wir finden stattliche Zahl, die bereitsein Licht darauf wirft, daß die Initiative imKiez gut angenommen wurde.

Etwa ein Drittel der Befragten war nicht-deutscher Herkunft aus 17 verschiedenen Län-dern. Das heißt, daß die Aktion auch die nicht-deutsche Bevölkerung sehr gut erreicht hat,denn der Anteil von einem Drittel entsprichtgenau dem Anteil der Nichtdeutschen an derBevölkerung in unserem Kiez. Auch das, wiewir finden, ein sehr erfreuliches Ergebnis.

45 % aller Befragten wohnen gerne indiesem Kiez, angesichts der oben geschilder-ten Ausgangslage ein immerhin stattliches Er-gebnis. 32 % hingegen antworteten auf dieFrage nach ihrer Wohnzufriedenheit mit ei-nem entschiedenen Nein. Positiv vermerkt fürden Kiez wurde an erster Stelle das vieleGrün, gute Einkaufsmöglichkeiten und auchdie öffentlichen Einrichtungen wie Spielplät-ze, Kitas etc. Als störend benannt wurdeganz wesentlich Müll und Verwahrlosungdes Wohnumfeldes, das „Problem Hunde“ -zu viele Hunde, Hundekot, Angst vor aggres-siven Hunden, an vorderster Stelle jedoch dieZusammensetzung der Bevölkerung. Gemeintsind damit sowohl die vielen verschiedenenKulturen mit zu wenig Berührungspunkten zu-einander als auch zu viel Armut und zu vielAlkoholismus. Auch das Spektrum der Ein-schätzungen ging hier weit auseinander.Währende einige schlicht meinten, das Pro-blem sei ein Zuviel an AusländerInnen, fan-den wir in vielen Gesprächen mit deutschenund nichtdeutschen AnwohnerInnen auch dif-ferenziertere Blicke zu dieser Frage vor: Vielemeinten, die Mischung stimme eben nichtmehr bzw. das Türkische sei zu dominant,trotzdem seien auch die zu vielen unterschied-lichen Kulturen im Kiez ein Problem, da eskein Wissen und keine Berührungen all dieserKulturen miteinander gebe. Kulturelle Span-nungen seien ein Ergebnis davon.

32 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Auf die Frage, was im Wohngebiet fehlt,stehen Freizeitmöglichkeiten für Erwachsenean vorderster Stelle: günstige/erschwinglicheSportmöglichkeiten, Cafés bzw. Treffpunkte -auch Frauentreffpunkte und -angebote - undkulturelle Angebote. Ebenfalls vehement wur-den Angebote für Kinder und Jugendliche,und speziell für Mädchen, genannt.

Neben diesen Egebnissen können wir sa-gen, daß wir durch die vielen intensiven Ge-spräche selbst sehr viel über unseren Kiezund damit über unser Arbeitsfeld gelernt ha-ben und außerdem der große Aufwand, denuns das Projekt abverlangt hat, auch im Hin-blick auf unsere Öffentlichkeitsarbeit sehr ef-fektiv war: Wer uns in unserer Nachbarschaftjetzt nicht kennt, muß sich schon Mühe gege-ben haben, um uns nicht wahrzunehmen!

Große Bereitschaft zum Engage-ment - ein Auftrag an die Nach-barschaftsarbeit

Das für uns erstaunlichste und gleichzei-tig positivste Ergebnis der Befragung ist,daß mehr als die Hälfte der Befragten ‘si-cher’ oder ‘vielleicht’ auch selbst etwasdafür tun würde, den Kiez zu verbessern!

Wir verstehen diese uns gegenübergeäußerte große Bereitschaft, sich in denKiez einzubringen, als vordringlichen Auf-trag der BewohnerInnen an uns, diese Be-reitschaft jetzt weiter zu fördern und die Un-terstützung anzubieten, die das Engage-ment ermöglicht bzw. erleichtert. Das auchgerade deswegen, weil diejenigen, die„vielleicht“ selbst etwas tun wollten, sagten,es fehle ihnen im wesentlichen entweder anIdeen oder aber an Gleichgesinnten, mitdenen sie zusammen anfangen könnten.

Der andere wesentliche Auftrag aus derBefragung an uns ist, im Bereich Integrationvon Deutschen und Nichtdeutschen noch ve-hementer tätig zu werden, auch neue Ideenzu entwickeln und umzusetzen; vorrangigmuß dabei sein das sehen wir als klare Auf-gabe auch gerade in diesem sensiblen Be-reich die BewohnerInnen immer wieder zuaktiven Mitwirkung zu motivieren.

BürgerInnenversammlungWichtiger Bestandteil der Aktivierenden

Befragung ist, die Ergebnisse den Befragtenin einer BürgerInnenversammlung vorzustel-len und damit auch an sie ‘zurückzugeben’.Auch bei dieser Veranstaltung legten wirden Schwerpunkt auf die Perspektive derVeränderung, also darauf, daß die Ergeb-nisse kein Ende, sondern ein Anfang sind

und wir zusammen mit interessierten An-wohnerInnen damit weiterarbeiten wollen.Zugleich haben wir natürlich bereits vor derVersammlung auf einige Ergebnisse kurzfri-stig reagieren können und einige neue An-gebote, z.B zwei neue Deutschkurse mitFrauenfrühstück (in Kooperation mit unsererPartnereinrichtung Nachbarschaftsetage deFabrik Osloer Straße - siehe Artikel überden Stadtteilverbund Wedding) und Ange-bote im Bereich Sport vorgestellt.

Nachbarschaftsbörse PrinzenalleeUm die Aktivierung der BewohnerInnen

zu Eigenengagement und Eigenvertretung ihrer Interessen, der wir mit der Befragung ei-nen deutlichen Schub geben konnten, jetztweiter nachzugehen und nicht wieder ver-sanden zu lassen, haben wir direkt im An-schluß an die Befragung ein Folgeprojektgesetzt, den Aufbau einer Nachbarschafts-börse. Idee der Nachbarschaftsbörse ist, einniedrigschwelliges Projekt zu schaffen, umNachbarschaftshilfe, Kommunikation undbürgerschaftliches Engagement zu fördern.Angenommen werden neben klassischenAngeboten der Nachbarschaftshilfe (z.B.Blumengießen im Urlaub, kleine Reparatu-ren) gerade auch Angebote im Freizeitbe-reich (z.B. wer hat Lust, mit mir Schach zuspielen), aber auch bezüglich gemeinsamenEngagements (wer hat Lust, zusammen denFlohmarkt im Nachbarschaftshaus zu organisieren). Auch organisatorisch basiert dieBörse auf freiwilligem Engagement, mit Un-terstützung durch eine Hauptamtliche.

Praktisch hat die Börse mehrere Standbeine:1. In zwei Karteikästen, die im Büro of-

fen zugänglich sind, sammeln wir Angeboteund Nachfragen, thematisch sortiert.

2. In einem Börsenblatt erscheinen alleaktuellen Angebote - so erreichen wirgrößere Kreise.

3. „Börse live“ bietet jeden 1. Sonntagim Monat die Möglichkeit, sich direkt imHaus zu treffen und zu informieren, sich sei-nen Interessen entsprechend zusammenzu-finden (Alle InteressentInnen finden sich mitHilfe eines Buttons). Unser Nachbarschafts-café hat geöffnet, und wenn möglich, fin-den gleichzeitig noch andere Aktivitäten,wie z.B. Kinderkino statt.

4. Unser Kiezflohmarkt wird wiederbelebt,und findet gleichzeitig zu Börse live statt.

Wir sind sehr gespannt und freuen unsauf den - hoffentlich guten - Start dieses neuen Projekts!

Page 35: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 33

Das Fürst Donnersmarck-Haus

stellt sich vor

Aus den Einrichtungen

Am 03.09.1999 öffnete das Fürst Don-nersmarck-Haus seine Pforten für Sozialarbei-ter, um seine Rehabilitationsarbeit für Men-schen mit krankheits- oder unfallbedingtenHirnschäden vorzustellen. Nach den Aus-führungen des Verwaltungsleiters, ManfredRichter, zur Stiftung und zum Haus selbst er-läuterte der Leiter Therapie und Wohnen, LutzSchneider, den besonderen konzeptionellenAnsatz des Fürst Donnersmarck-Hauses: eineenge Verflechtung von pädagogischer Betreu-ung und gezielten therapeutischen Maßnah-men. Im Anschluß stellten die Heimleiter dieArbeit in den Wohngruppen der Heimberei-che dar. Danach berichteten die Therapeutenüber ihre Arbeit und demonstrierten sie bei ei-nem Rundgang durch das Haus.

Der Erfolg des Fürst Donnersmarck-Hau-ses spiegelt sich in eindrucksvollen Ergebnis-

sen wider. In den vergangenen zehn Jahrenkonnten von 332 Bewohnerinnen und Be-wohnern 219 in weitgehend selbständigereWohnformen, z.B. in eine eigene Woh-nung, in eine Wohngemeinschaft oder indie Familie entlassen werden. Denjenigen,die zeitlebens auf intensive Hilfe und Betreu-ung angewiesen sind, wird die Teilnahmeam Leben in der Gemeinschaft durch dieganzheitliche Förderung erleichtert.

Das Fürst Donnersmarck-Haus ist eineEinrichtung der Behindertenhilfe im Rahmender Eingliederungshilfe gemäß dem Bundes-sozialhilfegesetz. Das Haus erfüllt den ge-setzlichen Auftrag, Menschen mit Behinde-rung die Teilnahme am Leben in der Ge-meinschaft zu ermöglichen, auch wenn sievorübergehend oder auf Dauer auf Hilfe an-gewiesen sind.

Das Fürst Donnersmarck-Haus bietet dreiunterschiedliche Wohnangebote:

- Ein kleines Kinderheim mit 14 Plätzen:Hier wird neben therapeutischer undpädagogischer Förderung die Möglichkeitgeboten, individuell die günstigste Schul-form auszuwählen.

- Der Dauerwohnbereich: Er bietet 58Menschen mit Behinderung auf unbe-schränkte Zeit Sicherheit im Rahmen von be-treutem Wohnen in einem Umfeld, das ih-nen den Einsatz ihrer individuellen Fähig-keiten und Selbständigkeit ermöglicht.

- Die Wohngruppen: Hier werden 52Bewohnerinnen und Bewohner durch einebefristete intensive Rehabilitationsmaßnah-me begleitet, wobei das Bestreben im Vor-dergrund steht, mit Hilfe des Heimpersonalseine rasche Beendigung des Heimaufenthal-tes zu ermöglichen.

Weitere Informationen:Marlies BaumgartÖffentlichkeitsarbeit und Seelsorge im FürstDonnersmarck-HausTel.: 030-40606-246, E-Mail: [email protected]

Thomas GolkaÖffentlichkeitsarbeit der Fürst Donners-marck-StiftungTel.: 030-769700-27, E-Mail: [email protected]

Im Internet: http://www.fdst.de

Page 36: Rundbrief 2-1999

34 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Einblicke in fünf Jahre Nachbar-schaftshaus in Marzahn

In der Entwicklung der menschlichenGesellschaft spiegelt jede historische Peri-ode eine ihr wesensgemäße soziale Proble-matik wider. Das trifft auch für die Gemein-wesenarbeit zu.

In diesem Aufsatz wollen wir in Formvon Erlebtem und Entwickeltem aus fünfJahren versuchen, historische Zusammen-hänge in der Gemeinwesenarbeit des Kie-zes Berlin-Marzahn Nordwest am Beispielunseres Nachbarschaftshauses „Kiek in“ dar-zustellen.

Dort, wo Berlin im Nordosten aufhörtund Brandenburg nur noch wenige Meterentfernt ist, gab es einmal eine Kindertages-stätte, die 58. Kita von Marzahn-Nord, ge-baut im Stil der umliegenden Plattenbauten,wo die Nutzer zuhause sind. In der einenHälfte hat unser KIEK IN e.V. Berlin als Verein für Sozialberatung, Jugend- und

Familienbetreuung seinen Stammsitz einge-richtet, in der anderen arbeitet eine kommu-nale Behindertenfreizeitstätte. Dem erkann-ten Bedarf entsprechend haben engagierteBürger 1993 damit begonnen, das Hausweiteren Nutzern zugänglich zu machen.Die Kita ist in fünf Jahren zu einem sozial-kulturellen Zentrum, dem Nachbarschafts-

haus KIEK IN Marzahn/Nordost, herange-wachsen. Für den Verein ist sein Name Programm geworden.

Wie hat das alles angefangen?Am 22. April 1994 wurde durch den

damaligen Marzahner Bürgermeister,

„Kiek in“ e.V. Berlin

Verein für Sozialberatung,Jugend- und Familienbetreuung/ Nachbarschaftstreff

Aus den Einrichtungen

von Sigmar Nowotsch

März ’94, ein Monatvor Eröffnung desNBH „Kiek in“

Page 37: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 35

Andreas Röhl, das Haus eröffnet. Waswar hier alles los? Eine Bewegung inMarzahn Nord und West, fröhlichesMarkttreiben, viele Vereine unseres Be-zirks zu Besuch, Spender und Sponsoren,die Vereinsmitglieder, viele, viele Leuteaus dem Kiez, jung und alt! Dieser Taghatte es schon in sich an einem riesigenAusmaß an Vorbereitungen durch die„Gesellinnen und Gesellen der erstenStunde“, welche seit 1. Dezember 1993oben auf den kleinen Kita-Stühlen saßenund unter der Leitung der Kantschule-Absolventen vom Tauentzien Jürgen Star-ke und Wolfgang Semmler darüber brüte-ten, wie das nun mit dem Kieztreff, mitdem Nachbarschaftsheim werden soll. Alles wurde durchdiskutiert, so auch dasGraswurzel- und Regenbogenprinzip.Gründerstimmung machte sich breit, diegeprägt war von Offenheit, sozialem Engagement und unwahrscheinlicherHilfsbereitschaft. Es war sehr spannendund interessant, die ersten Bausteine zulegen und alles zu erforschen, wie dasnun funktioniert mit Nachbarschaftsarbeitin der neuen Gesellschaft, und was es imBezirk schon Ähnliches gibt.

Sehr geholfen hat uns der damaligeBezirksdezernent für Soziales, Dr. HaraldButtler. Natürlich waren die Vereinsobe-ren auch da, Marion und Marina, die unshalfen, alles bezirks- und arbeitsmarktpoli-tisch in die Reihe zu bekommen. Das muß-te ja sein; denn ohne Verein geht nichtsund das „Kiek in“ hatte es uns inzwischenauch angetan. Jeder wußte damit auf denersten Schlag, worauf es ankommt. Dieganze Truppe war auf der Walz, bei Dr.Grimm, in anderen Nachbarschaftshäu-sern, im Zentrum am Helene-Weigel-Platz,beim SPI und eigentlich überall, wo eswas gab mit der Bezeichnung Soziales,Gesundheit, Personal, Kinder, Jugendli-che, Eltern, Familien und Ausländer. Über-all Konsultationen, Gespräche und vielGucken und Zeigen lassen, dann Beratun-gen darüber, auch in den eigenen Woh-nungen.

Wir bemühten uns um Klientel imKiez Nordost und West, auch Jugendli-che mußten ran. Öffentlichkeitsarbeitstand auf dem Plan, keiner wußte so rich-tig wie. Aber nach Konstruktion unseresLogos, dem „Kiek in-Auge“ entstandendie ersten Faltblätter und Flyer und dieVerteilung ging los. Viele Neugierige

aus dem Kiez kamen und fragten, washier los sei, was ansteht, uns wurde auchHilfe angeboten. So gehörte Frau BrigitteLasch zu den ersten Ehrenamtlichen, dieuns geholfen haben, die alles vom Kiezkannten und uns über alles aus dem Kiezinformierten. Mit den Mieterbüros derWBG standen wir in Verbindung, dashat sich natürlich auch gelohnt in punktomaterielle Unterstützung und Hilfe durchdie Hausmeister. Von dort kam auch derTip mit den Jugendlichen, die wir beher-bergen könnten, weil sie keine andereMöglichkeit des Unterkommens hattenund im Kiez nur Schaden anrichteten an

den Anlagen, in den Hausfluren undFahrstühlen.

Eine Seniorengruppe wurde „eingefan-gen“, welche heute noch bei uns ist. Diesehat den Anfang auch noch imGedächtnis(training)und kann ein Lieddavon singen.

Schnell beka-men wir auch eineBeziehung zum so-zial-kulturellen Ver-band, so zu FrauGudrun Israel undzu Herrn FrankBörner. Sie brach-ten Literatur und viel Material mit zum Le-ben in Nachbarschaftsheimen in der Bun-desrepublik.

Das wurde durchgearbeitet und schonmachte ein Spruch schnell die Runde„Wer das Nachbarschaftshaus Mar-zahn/Nordost nicht kennt, der hat im Le-ben was verpennt“. So überheblich woll-ten wir aber nicht sein, wir wollten solidesoziale, sozialkulturelle und sozial-pädagogische Arbeit im Interesse unsererKlienten leisten. Ich glaube an dieser Stel-le sagen zu können, daß sich jeder von

den Ersten unwahrscheinliche Mühe gabund gut sein wollte. Viel Engagement undEinsatz an Freizeit zeigten unsere erstenCafé- und Kreativdamen, man könnte sa-gen, gesucht und gefunden. Was habensie alles gewerkelt, gefummelt, kreiert undgerackert, um schnell das zu schaffen,was sozusagen die Seele vom ganzenNachbarschaftsgeschäft war, nämlich un-ser Kontakt- und Begegnungscafé. DenNamen steuerten sie gleich bei, nämlich„Kanapeé“, genannt nach dem wuchtigenIkea-Möbelstück aus der Viererkombinati-on unserer Polstermöbel, die sich übrigensnoch heute gut machen.

So wurde das Haus am Rande der Stadtzu einem bekannten und beliebten Ort fürKommunikation, Begegnung und Beratung.In seinen Räumen ist Platz für zahlreiche so-zio-kulturelle Aktivitäten, für die Entfaltungvon Kreativität, für Selbsterfahrung. Profes-

sionelle Beratungs- undHilfsangebote werdenergänzt durch Selbsthil-feaktivitäten und Bür-gerinitiativen.

Es gibt zum Bei-spiel den selbstverwal-teten Jugendclub, zwei

Räume, in denen die Ju-gendlichen „nur so“ miteinander redenoder spielen können. Ein Raucherzimmer(für alle) ist mit altem S-Bahn-Inventar ausge-stattet. Es gibt eine gemütliche Bücherei, ei-nen Turnraum, einen Raum für Malen undTöpfern, ein Computer-Kabinett und nichtzuletzt das Kontaktcafé „Kanapeé“.

Wer die bunten Aushänge im Eingangsieht, ahnt die Vielfalt der Initiativen undAngebote: Kontaktcafé (montags bis frei-tags), Seniorencafé am Sonnabendnach-mittag, Spielrunden, Handarbeits- und Bastelrunden, Malgruppe und „Frauen-töpfern“, Tauschbörse, Internet-Surfen,

Arbeitseinsatzim Familien-garten

Fröhliches Treibenim April 94

Page 38: Rundbrief 2-1999

36 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Üben am Computer, Gedächtnistraining.

Dazu kommen Sozialberatung, mobileHilfen für sozial Schwache, Beratung aus-ländischer Mitbürger.

Der Verein verwirklicht über die ge-nannten Beratungs- und Freizeitangebote

hinaus auch ein umfangreiches sozial-pädagogisches Programm, in dem in Zu-sammenarbeit mit dem Jugendamt schwie-rige Kinder entsprechend dem Jugendhilfe-gesetz und fachlich qualifiziert betreut wer-den. Nicht weit vom eigentlichen Nach-barschaftshaus hat sich inzwischen in ei-nem ähnlichen Gebäude mit „ANLAUF“ein Zentrum für Kinder, Jugendliche undFamilien entwickelt, das die Angebote desVereins mit Jugendhilfemaßnahmen, Fami-lienarbeit und offenem Treff für Kinder er-gänzt. Außerdem werden ganz in derNähe zwei gemütliche Blockhäuser betreut- jeweils eines vorrangig für Kinder und ei-nes für Jugendliche.

Es entwickelten sich also viele interes-sante Formen und Möglichkeiten der Nach-barschafts- und Familienarbeit, welche imwesentlichen von unserer Klientel mitgestal-tet wurden. Vereinshöhepunkte sind immerwieder die Kiezfeste mit viel Stadt- und Be-zirksprominenz zu Gast, so mit der Senato-rin für Gesundheit und Soziales, den Bür-germeistern von Marzahn und Hellersdorf,den Dezernenten des Stadtbezirks.

Wir glauben, uns erinnern zu können,daß der Marzahner Bürgermeister bei allenHöhepunkten des Vereins und des Nach-barschaftshauses anwesend war. Anwe-send war - aber das war´s ja nicht nur ge-wesen, sondern uns mit Rat und Tat zur Sei-te stand. An dieser Stelle möchten wir unsbei ihm bedanken, er hat viel für uns getan,für die Überlebensfähigkeit und Existenzdieser Einrichtung, welche schon einigeMale vor dem Aus stand in dieser so eisi-gen und zugigen Zeit.

Eigentlich ist das ja immer noch so, daßwir am Tropf hängen, die Sicherheit gibt eshier noch nicht, aber andere, ähnliche Ein-richtungen in dieser Stadt haben bewiesen,daß sie über 50 Jahre existieren, sicherlichauch recht und schlecht, aber es ging, undfinanzielle Sicherheit seitens des Senats undder Bezirke war und ist dort gegeben.

Auch unser Verein könnte noch weitausumfangreicher wirksam werden. Doch vonden rund 50 Räumen, die ihm im Haus zurVerfügung stehen, sind nur 17 nutzbar. Fürden Umbau werden rund 1,5 Millionen Markgebraucht. Die aktiven Vereinsmitglieder undMitarbeiter bemühen sich auf verschiedenenStrecken, diese Mittel einzuwerben.

Auch werden vorhandene Potenzen undRessourcen mit anderen Trägern der Ju-gend- und Sozialarbeit in Marzahn ge-meinsam ausgeschöpft. Zusammenarbeit,Kooperation und Vernetzung gehören zurPraxis des Vereins und seiner Projekte, im-mer an den aktuellen Erfordernissen und Be-dürfnissen der Bewohner orientiert. Viel-leicht ergibt sich daraus für den StadtteilMarzahn einmal ein Verbund stadtteilorien-tierter Nachbarschafts-, Familien und Selbst-hilfearbeit.

Insgesamt kümmern sich im Verein rund70 Mitarbeiter um die jungen und älteren

Menschen, die die Möglichkeiten kreativerFreizeitgestaltung und die anderen Angebo-te gerne annehmen. Damit ist unser Vereinauch zu einem wichtigen Beschäftigungsträ-ger geworden.

Fünf Jahre Nachbarschaftsarbeit imKiez ist Erstrebtes und Angenommenes imKiez, das will man, das hütet man, das ver-teidigt man im Kiez Marzahn Nord undWest. Wir bedanken uns bei unseren Klien-ten, bei unseren Freunden und Gästen. Wirhaben sie verstanden, sie haben uns ver-standen - ist das nicht ein Band, was fest zu-sammenhält, ich sage: unseretwegen auchüber 50 Jahre und länger? Der Plattenbauam Ende der Märkischen Allee, das letzteHaus von Berlin in Richtung Barnim, wird’saushalten, vor allem von der Sympathie un-serer Freunde und Gäste getragen.

Der Wissende

weiß, daß er

glauben muß.

Friedrich Dürrenmatt

Page 39: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 37

Mangelnde soziale und kulturelle Ange-bote waren 1982 der Auslöser, das Nach-barschaftsheim Siemensstadt (Siemensstadt istein Ortsteil des Berliner Stadtteils Spandau)durch einen Zusammenschluß engagierterBürger zu gründen.

Hierbei wurde der NachbarschaftsTREFF-PUNKT am Saatwinkler Damm zum Aus-gangspunkt von domino e.v. Von hier aus ent-wickelte sich in den vergangenen Jahren einvernetztes System unterschiedlicher leistungs-fähiger Einrichtungen in sozial-kulturellen,pädagogischen und gesundheitspflegerischenBereichen.

domino e.v. verfügt in Siemensstadt überkein gemeinsames Haus. Die verschiedenenArbeits- und Leistungsbereiche sind über dengesamten Stadtteil verteilt. So kann sich domi-no e.V. unter dem Stichwort der dezentralenKonzentration von sozialen Dienstleistungenin den Regionen Siemensstadt und Charlotten-burg-Nord sehr gut identifizieren.

In der konkreten sozialen Arbeit bedeu-tet dies, daß die einzelnen Einrichtungenvon domino e.v. ihre eigenen Arbeitsberei-che, mit ihren eigenen inhaltlichen Schwer-punkten, aber auch ihrer eigenen Finanzie-rung haben. Es ist jedoch wichtig, daß überden inhaltlichen Schwerpunkten ein verbin-dendes Ganzes steht. So arbeiten die ein-zelnen Bereiche in enger Vernetzung zu-sammen, was in gemeinsamen Besprechun-gen, Aktionen, Projekten und Veranstaltun-gen zum Ausdruck kommt.

Im Folgenden sollen die einzelnen Einrich-tungen/Arbeitsbereiche detaillierter vorge-stellt werden.

Die sozial-kulturelle Stadtteilarbeit

Wie schon beschrieben unterhält dominoe.v. in Siemensstadt mehrere sozial-kulturelle

Einrichtungen.Am Saatwinkler Damm - einem infrastruk-

turell benachteiligten Siemensstädter Wohn-gebiet - bietet der TREFFPUNKT einen Ortder Begegnungen für und zwischen Men-schen verschiedener Kulturen, mit Angebotenfür Erwachsene und Kinder. Ausgehend vonden Leitlinien, „gemeinwesenorientiert, gene-rationsübergreifend, soziokulturell und vernet-zend“ zu arbeiten, versuchen die Mitarbeiterpraktische Modelle zu entwickeln, in denensich bürgerschaftliches Engagement, ehren-amtliche Tätigkeit und professionelle Arbeitwirkungsvoll ergänzen.

Neben einer Vielzahl von Kursen undGruppenangeboten organisiert der Treffpunkt- z.T. in Kooperation mit anderen Institutionenund Trägern - soziale und kulturelle Veranstal-tungen. Dazu zählen u.a. eher kleinräumig an-gelegte Trödelmärkte, Kinder- und Mieterfeste,aber auch bezirksorientierte Großveranstaltun-gen wie z.B. die Siemensstädter Kunstbörse.

Ferner bieten die Mitarbeiter kostenloseBeratung bei Erziehungs-, Familien- und Part-nerschaftsproblemen und geben konkrete Hil-festellung bei der Orientierung im „Behör-dendschungel“, sei es bei Fragen zur Sozial-hilfe, zur Pflegeversicherung oder in Mietan-gelegenheiten.

Für Kinder im Grundschulalter werdenz.B. Spiel-, Bastel- und Handarbeitsgruppensowie Schularbeitshilfe angeboten. Außer-dem gibt es zeitlich begrenzte Projekte undFerienprogramme, deren Gestaltung die Kin-der mitbestimmen.

In den Sommermonaten bietet der Treff-punkt für Kinder offenes pädagogisch betreu-tes Spielen an.

Die Arbeit des TREFFPUNKTES bestehtalso zum einen aus familienorientierter Arbeitfür Erwachsene und Kinder, zum anderen instadtteilorientierten Aktivitäten.

Der TREFFPUNKT war zudem maßgeblichan der Gründung der Interessengemeinschaft

Siemensstadt beteiligt.Die IG Siemensstadt e.V. wurde 1997 als

Folge der Schließung eines großen Kaufhau-ses im Stadtteil gegründet. Zum damaligenZeitpunkt befürchteten viele SiemensstädterBewohner und Einrichtungen, daß der bereitsvorher mit Attraktionen und Anziehungspunk-ten nicht reichlich versehene Stadtteil weiteran Attraktivität verlieren würde und sich voneinem im Laufe der Zeit gewachsenen, durch-aus liebenswürdigen Wohnquartier zu einerreinen Schlafstatt rückentwickeln würde.

Es geschieht nicht allzu häufig, daß so un-terschiedliche gesellschaftliche Bereiche wieIndustrie (die Siemens AG), Wohnungswirt-schaft (Gemeinnützige Siedlungs- und Woh-nungsbaugesellschaft - GSW), sozial-kulturelleEinrichtung (Gesundheits- und soziale Dienstedomino e.v.) und engagierte Bewohner einesStadtteils sich mit dem ausdrücklichen Ziel zu-sammentun, die Wohn- und Lebensqualität inihrem Umfeld zu verbessern und dieses auchin die Tat umsetzen. Genau dieses ist aberauch gemeint, wenn wir von sozial-kulturellerStadtteilarbeit sprechen.

Gemeinsam mit der IG Siemensstadt wur-den und werden zahlreiche sozial-kulturelleVeranstaltungen durchgeführt. Besonders ge-nannt werden soll in diesem Zusammenhangdas Nutzungskonzept für ein leerstehendesHertie-Kaufhaus und die Ausstellung „Kultur-Stadt-Hertie“ sowie das „Erste KulturpolitischeForum“.

Das SchülerhausIn Kooperation mit anderen Trägern be-

treibt domino e.v. in Siemensstadt dasSchülerhaus an der Heinrich-Hertz-Oberschu-le sowie das ehemals kommunale Jugendfrei-zeitheim Jungfernheide. Zu den Kooperations-modellen ist zu bemerken, daß diese Einrich-tungen aus Initiativen des Nachbarschaftshei-mes Siemensstadt hervorgegangen sind und

Gesundheits-und soziale Dienste

domino e.V. in Berlin-Siemensstadt

Aus den Einrichtungen

von Volker Karstens, Wolfgang Quack, Rainer Schünemann

Page 40: Rundbrief 2-1999

aus inhaltlich-stadtteilorientierten Überlegungenzwar einen eigenen Vereinsstatus haben, je-doch von domino e.v. geschäftsführend ver-waltet werden.

Schule ist mehr als ein Ort des Lernens.Dies hat die Heinrich-Hertz-Oberschule inSiemensstadt bewiesen, indem sie vor über13 Jahren zusätzlich das Schülerhaus bauenließ. Hier entstand ein eigenständiger Frei-zeitbereich als Nachmittagsangebot.

Die ca. 200 Schüler aus fast 20 Ländernwerden sozialpädagogisch betreut und erhal-ten ein Freizeitangebot; auch Lehrer sind alsAnsprechpartner vertreten.

Das Schülerhaus ist außerdem Veranstal-tungsort für Feiern, Elterntreffen, Gruppenver-anstaltungen. Zeitweilig werden auch Ferien-programme angeboten und in Zusammenar-beit mit Lehrern Kurzreisen unternommen.

Das JugendfreizeitheimSeit Anfang 1991 betreiben wir mit

dem Verein zur Förderung von Kinder- und Jugendarbeit in Siemensstadt e.V. zusammendas Jugendfreizeitheim Jungfernheide. Ne-ben der primären Zielgruppe wird das Ju-gendfreizeitheim auch von vielen anderenGruppen aus dem Stadtteil genutzt.

Das ursprünglich eher hauptsächlich kon-ventionelle Angebot des JugendfreizeitheimesJungfernheide (Freizeit, Kultur, Musik undPädagogik) hat sich in den letzten Jahrengrundlegend gewandelt. Es setzt heute be-wußt neue Schwerpunkte, die den spezifi-schen Interessen von Jugendlichen in einemfür sie wichtigen Bereich - der Berufsfindung -ebenso Rechnung tragen, wie sie von gesell-schaftlicher Bedeutung sind.

Seit 1997 veranstalten domino e.v. unddas Jugendfreizeitheim die Berufsfindungs-börse Spandau, die inzwischen über die be-zirklichen Grenzen hinaus bekannt und eta-bliert ist. Es hat sich in den vergangenen Jah-ren immer deutlicher gezeigt, daß sich ander Schnittstelle zwischen Schule und Berufein Informationsvakuum aufgebaut hat. DieseDefizite machen für viele Jugendliche einenÜbergang von der Schule zum Beruf ohneallzugroße Reibungsverluste nur schwer mög-lich.

Deshalb hat schon im Oktober 1998eine Veranstaltungsreihe begonnen, die inunregelmäßigen Abständen im Jugendfrei-zeitheim Jungfernheide stattfindet und als de-ren Abschluß die jährlich stattfindende Be-rufsfindungsbörse im Sommer eines jedenJahres steht.

Ziel dieser Berufsfindungsreihe ist es, einNetz von Informationen sowie Ansprech- undInformationspartnern zu entwickeln, das es

38 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Jugendlichen und anderen Beteiligten ermög-licht, einen umfassenden Überblick zu gewin-nen, oder aber sich auch nur zu einzelnenThemenaspekten zu informieren.

Einen solchen Schwerpunkt in der Arbeitdes Jugendfreizeitheimes Jungfernheide zusetzen bedeutet natürlich nicht, daß die obenangesprochenen anderen Angebote vernach-lässigt werden.

Ein zentraler Bereich des Jugendfreizeit-heims ist nach wie vor das Jugendcafé. Eswird eigenverantwortlich - mit Unterstützungpädagogischer Fachkräfte - von ehrenamtlichtätigen Schülern der benachbarten Schulengeleitet und organisiert.

Die kulturpädagogischen Angebote desJugendfreizeitheims sind genauso vielfältigwie die Interessensgebiete der Jugendlichen.Diese können hier ihre Kreativität, Gruppen-fähigkeit und Auseinandersetzungsbereit-schaft entdecken und erproben. Da es sichfast immer um längerfristige, prozeßorientier-te Angebote handelt, kann sich hier eingroßes Potential sozialer und kreativer Fähig-keiten entwickeln.

So wurde z.B. von Jugendlichen ein Musi-cal in der Verbindung von Theater und bild-nerischem Gestalten inszeniert.

Jugendlichen, die „nur“ Musik machenwollen, bietet das Jugendfreizeitheim einenkomplett eingerichteten Bandraum an. Es be-steht ebenfalls die Möglichkeit, am laufendenGitarren-, Baß- und Schlagzeugunterricht so-wie an regelmäßigen Musik-Workshops teil-zunehmen.

Die SozialstationIm gesundheitspflegerischen Bereich hat

domino e.v. in Siemensstadt eine kompetenteund leistungsstarke Sozialstation etabliert,welche qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mit-arbeiter beschäftigt.

Die Sozialstation bietet Unterstützung imKrankheitsfall, bei der Bewältigung des Haus-haltes sowie Leistungen im Rahmen der Pflege-versicherung. Zu den Angeboten der Sozial-station gehört auch eine kostenlose Beratung.

In allen sozialrechtlichen Fragen - insbe-sondere zur Pflegeversicherung, zum Pflege-geld, zu Schwerbehinderung und Telebusbe-rechtigung, zur Hilfe zur Pflege nach demBDSHG etc. - steht kompetente Beratung zurVerfügung.

Der SelbsthilfetreffpunktSeit 1987 gehört der domino-Selbsthilfe-

treffpunkt zum festen Bestandteil der sozialenAngebote in Siemensstadt. Der Selbsthilfetreff-

punkt stellt Selbsthilfegruppen Räume zur Ver-fügung. Er berät und unterstützt Gruppen beiorganisatorischen und gruppendynamischenProblemen. Außerdem bietet er Veranstaltun-gen zu sozialen oder gesundheitsrelevantenThemen, organisiert regelmäßig Kurse undWochenendseminare und hilft auch in per-sönlicher Beratung.

Der MobilitätshilfsdienstDer Mobilitätsdienst von domino e.v. bie-

tet Menschen, die aufgrund von Behinderungoder Altersbeschwerden ihre Wohnung nichtmehr verlassen können, durch ausgebildeteMitarbeiter die Möglichkeit der Wegbeglei-tung. Durch diesen Dienst haben viele Sie-mensstädter die Chance, am gesellschaftli-chen Leben in Berlin teilzunehmen.

AusblickDie Nutzer sozialer Dienste werden ko-

sten- und leistungsbewußter; gleichzeitig wer-den die Restriktionen staatlicher Förderungs-politik schärfer. Damit werden die Rolle undder Stellenwert der freien Wohlfahrtspflegeals drittem Sozialpartner tendenziell geringer.

Ein großer Teil der Klienten sozialer Dien-ste hat sich zum Kunden gewandelt. Er siehtsich - stärker als früher - als Verbraucher, derzwischen verschiedenen Angeboten wählenkann - und die Leistungsanbieter wählen wirddie seine Bedürfnisse optimal erfüllen. DieseAnbieter müssen nicht unbedingt in den Rei-hen der Wohlfahrtsverbände zu finden sein.

Die zunehmende Diskussion um das The-ma Sozialmarketing, die vor Jahren noch vonden freigemeinnützigen Einrichtungen vehe-ment abgelehnt wurde, spiegelt diese Ent-wicklung wider.

Immer mehr setzt sich die Erkenntnisdurch, daß es nicht nur notwendig ist, sichbei hohem Qualitätsniveau von anderen zuunterscheiden, sondern auch, diese Unter-scheidung nach innen und außen deutlichsichtbar zu machen.

Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eineauch marktwirtschaftliche Ausrichtung vielerAktivitäten, die in Teilbereichen die Koopera-tion mit privaten Anbietern nicht ausschließt.

Tendenziell in die gleiche Richtung gehenintensive Überlegungen darüber, mit welcherQualität und nach welchen meßbaren Kriteri-en künftig soziale Leistungen und Dienste er-bracht werden sollen und können.

Nicht der Klient bisheriger Definition, son-dern der Kunde wird künftig die Denk- undHandlungsrichtung sozialer Einrichtungen de-finieren.

Page 41: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 39

In vielen Gesprächen und Beratungen,

die wir im Kotti e.V. mit türkischen Migran-

tinnen der ersten Generation führten, kristal-

lisierte sich immer mehr der Wunsch der

Frauen nach mehr sozialen und kulturellen

Angeboten heraus. Dieser Wunsch sollte in

Erfüllung gehen! In Zusammenarbeit mit un-

serer GZA-Mitarbeiterin, die in den 60er

Jahren als Gastarbeiterin nach Berlin ge-

kommen war, im Frauenwohnheim in der

Stresemannstraße gelebt hatte und mehrere

Jahre als Fabrikarbeiterin tätig gewesen

war, wurde eine Gruppe aufgebaut, die

von Anfang an großen Anklang fand.

Die ersten Einladungen gingen an ehe-malige Mitbewohnerinnen und Mitarbeite-rinnen, sie wurden von den Frauen mitgroßer Begeisterung aufgenommen. Einigehatten den Kontakt verloren und sich seitJahren nicht mehr gesehen. Anfangs trafensich fünf bis sechs Frauen regelmäßig, umalte Bekannte zu treffen, über gemeinsameZeiten, Erfahrungen und über die verstriche-ne Zeit zu sprechen.

Es entwickelte sich ein regelmäßigesTreffen an jedem Mittwoch im Familiengar-ten. Die Gruppe erweiterte sich durch die

regelmäßigen Besucherinnen des Familien-gartens und durch Mundpropaganda.

„Die lustigen Witwen“, so nannten sichdie Frauen am Anfang, weckten das Interes-se anderer Einrichtungen, Journalisten undStudenten der FU, die in regelmäßigen Ab-ständen zu den Mittwochsrunden kommen,um mit den Frauen über ihre Migrations-geschichte zu sprechen.

In der Arbeit mit den Frauen wurde noch-mals deutlich, daß das Bild der türkischenGroßfamilie schon lange nicht mehr stimmt:

„Unternehmungen mit Migrantinnen

der 1. Generation“Mit dem Club 2. Frühling durch Berlin

Nachbarschafts- und Gemeinwesenverein am Kottbusser Tor e.V.

Aus den Einrichtungen

von Monika Wagner-Krämer

Page 42: Rundbrief 2-1999

Der größte Teil der Frauen lebt bereitsseit mehreren Jahren alleine, entweder nachder Scheidung oder nach dem Tod des Part-ners. Der Kontakt zu den Kindern ist eherunbeständig. Bei einigen leben die Kindernicht mehr in Berlin, oder sie haben „keineZeit für ihre Mütter“. Aber auch Generati-onskonflikte spielen eine große Rolle beiden Kontakten. Die Trennung der Familietreibt viele in Isolation und Vereinsamung.Angebote für ältere Migrantinnen ermögli-chen den Frauen, dieser Situation zu ent-gehen.

Das Alter der Frauen liegt im Durch-schnitt bei 45 - 55 Jahren. Das Alter der Mi-grantinnen liegt weit unter dem Alter derdeutschen Seniorinnen, was gemeinsameAktivitäten neben den sprachlichen Verstän-digungsschwierigkeiten zusätzlich erschwert.

Überbelastung durch schwere körperlicheArbeiten und die psycho-sozialen Umständeführten bei vielen zu gesundheitlichen Beein-trächtigungen und zu frühem Altern. Die mei-sten sind seit Jahren in ärztlicher Behand-lung. Nur wenige beziehen eine geringfügi-ge Frührente mit ausgleichender Sozialhilfe.Der überwiegende Teil lebt von Sozialhilfeund/oder Arbeitslosengeld.

Das Treffen am Mittwochnachmittag istfür viele Frauen die einzige Möglichkeit,die sie wahrnehmen (können), um aus ihrerIsolation herauszutreten, mit Gleichaltrigenzusammenzukommen, neue Kontakte zuknüpfen, Erfahrungen auszutauschen, sichzu informieren und Lebensfreude zu erfahren.

Um den Frauen Möglichkeiten der Frei-zeitgestaltung aufzuzeigen und kulturelle

40 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Angebote in der Muttersprache nahezubrin-gen, wurde 1997 und 1998 gemeinsammit den Frauen je nach ihren Interessen undWünschen ein Aktivitäten-Programm erstellt.Kino, Theater, Kabarettbesuche, Ausflügeins Grüne, Besuche von Ausstellungen wa-ren am beliebtesten. An den Aktivitätennahmen im Durchschnitt 30 Frauen teil. Fürviele war es der erste Kino-, Theater- oderKabarettbesuch.

Zum Bedauern aller mußten wir unsereUnternehmungslust leider wegen der gerin-gen finanziellen Möglichkeiten der Frauenund des Vereins stark einschränken.

Diese Einschränkung machte die Frauenerfinderisch, so daß der Mittwochnachmit-tag im Familiengarten zum Anlaß genom-men wurde, um alte Traditionen wieder insLeben zu rufen. Zu diesen Anlässen wurdendie Töchter und die Enkelkinder mitge-bracht, um ihnen die alten Traditionen undSpiele aus der Kindheit, mit denen sie auf-gewachsen waren, zu vermitteln. Jeder An-laß wurde genutzt, um zu singen und zutanzen. Da keine Musikinstrumente vorhan-den waren, wurden Löffel, Topfdeckel undPlastikschüsseln in rhythmische Musikinstru-mente umfunktioniert.

Als der Zuwendungsantrag des Kottie.V. vom Seniorenamt bewilligt wurde, wardie Freude bei den Frauen groß. Der Traumvon richtigen rhythmischen Instrumenten soll-te sich erfüllen. Eine Wunschliste von Unter-nehmungen wurde erstellt und der Name„Die lustigen Witwen“ wurde umgewandeltin „Club 2. Frühling“. Die Musikinstrumentewurden z.T. aus der Türkei besorgt und eswurde gemeinsam ein Unternehmungspro-gramm von April bis Juni erstellt. Nun konn-te sie nichts mehr aufhalten. Da die Frauenungern auf den Mittwochnachmittag verzich-ten wollten, wurden die Aktivitäten an ande-ren Tagen unternommen. Der Mittwochnach-

mittag verwandelte sich zu einem Tanz- undGesangsnachmittag mit rhythmischen Instru-menten. Die Lautstärke weckte die Neugierder Nachbarn, der Kinder aus der Kita unddem Hort des Kotti, die sich im selben Hofbefinden. Besonders die Hortkinder sindmittlerweile regelmäßige „Zaungäste“.

Das Aktivitäten-Programm „Mit demClub 2. Frühling durch Berlin“ machte sichin kurzer Zeit einen Namen. Journalistenaus Hürriyet, Radio Multi Kulti, SFB veröf-fentlichten die Termine und Berichte überdie Aktionen, was einen sehr großen An-drang mit sich brachte. Viele Frauen ausanderen Bezirken, jüngere Frauen und Familien zeigten großes Interesse. Da wiraber bereits eine Stammgruppe von über30 Frauen haben, mußten wir die meistenInteressentinnen enttäuschen.

Auch andere Vereine aus anderen Bezir-ken, die mit älteren Migrantinnen arbeiten,zeigten großes Interesse an den verschiede-nen Terminen und hätten gerne mit ihrenGruppen die Angebote wahrgenommen.

Die Aktivitäten wurden abwechslungs-reich gestaltet. Leider mußten einige aus-fallen, weil wir vorher nicht bedacht hat-

ten, daß die Frauensich nicht trauen, zuspäter Stunde allei-ne nach Hause zugehen. In einzelnenFällen wurden beiUnternehmungen,die bis in den spä-ten Abend dauer-ten, die Frauen vonden Betreuerinnennach Hause beglei-tet. Aus organisato-rischen und zeitli-

chen Gründen war dies jedoch keine lang-fristige Lösung.

Durch die Aktivitäten haben viele Frau-en zum ersten Mal Möglichkeiten der Frei-zeitgestaltung kennengelernt. Mittlerweilenehmen sie vereinzelt in kleinen Gruppenauch die Angebote des Seniorenamtes undanderer Freizeitstätten wahr und gestaltenihr Leben aktiv mit anderen zusammen.

Im Herbst ist die Veröffentlichung einerReihe Migrantinnen-Autobiographien unterdem Titel „Wir waren die Ersten ...“ im Rahmen einer Ausstellung im Familiengartendes Kotti e.V. geplant.

Page 43: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 41

Der Treffpunkt im Al Nadi hat sich inden letzten Jahren zur zentralen Anlauf- undBeratungsstelle für arabische Frauen in Ber-lin entwickelt. Im Mittelpunkt der Arbeit ste-hen Bildung und Beratung. Den hohen Zu-lauf erklären sich die Mitarbeiterinnen vonAl Nadi nicht nur mit der inzwischen20jährigen Erfahrung und dem guten Ruf,den sie sich in dieser Zeit innerhalb derarabischen Gesellschaft in der Stadt erwor-ben haben. Ein wichtiger Grund, der vonden Frauen immer wieder genannt wird, ist,daß durch das gemischte, deutsch-arabi-sche Mitarbeiterinnen-Team sehr unter-schiedliche Bedürfnisse gleichzeitig befrie-digt werden können.

Al Nadi ist für die Frauen sowohl einOrt der heimatlichen Gefühle, der ein ge-meinschaftliches Ausleben der eigenen kul-turellen Identität erlaubt, als auch ein Ortder kompetenten tätigen Unterstützung imalltäglichen Überlebenskampf in einemfremden Land. Auch diese Doppelfunktionist es, die erklärt, weshalb Frauen Anfahrts-wege von bis zu zwei Stunden in Kauf neh-men, um einen Kurs zu besuchen oder eineBeratung in Anspruch zu nehmen.

Al Nadi ist jedoch nicht nur Treffpunktund Beratungsstelle für arabische Frauen,sondern inzwischen oft auch Informations-stelle für interessierte Personen aller Art wieStudentinnen, Touristen, Künstler und zuneh-mend auch für Journalisten.

Die Herkunftsländer der Besucherinnen

umfassen den gesamten arabischenSprachraum; es kommen Palästinenserinnenund Kurdinnen aus dem Libanon, Frauenaus Jordanien, Syrien, dem Irak, aus Ägyp-ten, Marokko und Tunesien. 1998 kamenvermehrt neu eingereiste junge palästinensi-sche Frauen aus den Flüchtlingslagern im Li-banon mit ihren Müttern oder anderen Fa-milienangehörigen zu Al Nadi, die die Ber-liner Duldungsregelung für Palästinenser inAnspruch nahmen. Sie waren alle auf sog.illegalen Wegen eingereist, mit Hilfe vonSchlepperorganisationen, die dafür mehre-re tausend Dollar pro Person kassierten.

Immer öfter kommen auch arabischeMänner in die Beratung: Dies war schonfrüher ab und zu der Fall, wenn es z.B. umSozialhilfeangelegenheiten der ganzen Fa-milie ging und die Frau krank war oder auseinem anderen Grund nicht kommen konn-te. Im Jahr 1998 aber wurden mehrereMale arabische Männer von anderen Stel-len zu Al Nadi in die Beratung geschickt.

Die Gruppe der Nutzerinnen des AlNadi ist nach wie vor sehr heterogen. DasKursangebot ist zwar aus finanziellen Grün-den nicht mehr so breit gefächert wie dieJahre zuvor. Der Treffpunkt wird aber trotz-dem nach wie vor von der Analphabetin biszur Akademikerin genutzt, mit erfreulich we-nig sozialer Abgrenzung untereinander.Auch der tagtägliche, immer freundlicheund offene Umgang von Frauen verschiede-ner Nationalitäten miteinander ist bei dendoch teilweise erheblichen Spannungen in-

nerhalb der arabischen Welt, auch der Ber-lins, nicht selbstverständlich. So begreifendie Frauen Al Nadi als neutralen Ort, derallen offensteht und an dem jede willkom-men ist, die diesen Grundsatz respektiert.Das Selbsthilfepotential ist groß und wirddurch die Atmosphäre im Treffpunkt begün-stigt. So gibt es viel gegenseitige Hilfe ohnedas Zutun von Al Nadi, unabhängig davon,ob sich die Frauen vorher kannten odernicht. Oft wird erst hinterher bekannt, wenneine die andere z.B. zum Sozialamt beglei-tet hat, weil sie noch nicht gut genugDeutsch spricht, oder wenn eine der ande-ren einen Tip über eine freie Wohnung ge-geben hat. Al Nadi fördert und unterstütztdiese gegenseitige Hilfe, nicht zuletzt be-deutet sie auch Arbeitserleichterung. Wichti-ger aber ist, daß sich die Frauen dadurchgegenseitig ermutigen, so weit wie möglichin ihrem Leben hier aktiv zu werden, undaus dem passiven Status des „betreutenAusländers“ heraustreten.

Die Nutzerinnen des Treffpunktslassen sich aufenthaltsrechtlichin drei verschiedene Gruppeneinteilen:

1. Eingebürgerte aufgrund langjähri-gen Aufenthalts. Diese kommen hauptsäch-lich, um Kontakte zu pflegen, an Aktivitätenteilzunehmen und oft auch, um endlich rich-tig lesen und schreiben zu lernen. DieseFrauen waren meist nie in der Schule, auchin ihrem Heimatland nicht, sie sind jetzt alt,

Ein Ort der heimatlichen Gefühle

AL NADI

Aus den Einrichtungen

Page 44: Rundbrief 2-1999

die Kinder sind groß, sie haben jetzt genü-gend Zeit dafür.

2. Nachgezogene Ehefrauen mit befri-steter und unbefristeter Aufenthaltserlaub-nis. Diese kommen vor allem, um die deut-sche Sprache zu erlernen und sich dadurchin ihrer neuen Lebenssituation besser zu-rechtzufinden. Ein weiterer wichtigerGrund ist die Möglichkeit des Kontakte-knüpfens zu anderen Frauen in der glei-chen Situation.

3. Asylbewerberinnen mit Aufenthalts-gestattung und ehemalige Asylbewerberin-nen mit Duldung oder Aufenthaltsbefugnis.Diese kommen, um die deutsche Sprachezu erlernen und ganz allgemein, um Hilfezur Verbesserung ihrer Lage zu erhalten.

Aufgrund der Sparmaßnahmen durchden Senat hat sich die Stellensituation imAl Nadi in den letzten Jahren dramatischverschlechtert. Inzwischen wird nur nocheine volle Stelle über die Ausländerbeauf-tragte, Barbara John, finanziert, die sichzwei Mitarbeiterinnen teilen. Der Arbeits-und Zeitdruck, der auf den Mitarbeiterin-nen lastet, hat dadurch erheblich zuge-nommen und es läßt sich nicht vermeiden,daß er inzwischen des öfteren an die Frau-en weitergegeben wird. Die für eine solcheArbeit immens wichtige Atmosphäre imTreffpunkt leidet darunter, daß die Mitar-beiterinnen öfter ungeduldig sind und keineZeit mehr für längere Gespräche haben.Viele Frauen, die früher öfter einmal zu Be-such gekommen sind, kommen inzwischennicht mehr vorbei, weil die Mitarbeiterin-nen meistens mit „wichtigeren“ Dingen be-schäftigt sind und zum „Quatschen“ oft kei-ne Zeit mehr haben. Auf lange Sicht wirdsich das aller Erfahrung nach rächen, weilbesagtes „Quatschen“ immer auch aufklä-rerischen und präventiven Charakter hatte.Wie immer werden die Folgekosten höhersein als das, was kurzfristig eingespartwurde.

Die Säulen der Arbeit des AlNadi sind Bildung und Beratung:So gab es im Jahr 1998 insgesamt 15 Kurs-angebote, davon waren 6 Sprachkurse. Im einzelnen waren dies:

- Deutsch-Anfänger für in lateinischerSchrift Alphabetisierte 4 Std./Wo.

- Deutsch-Fortgeschrittene • 4 Std./Wo.

- Alphabetisierung I • 4 Std./Wo.

- Alphabetisierung II • 5 Std./Wo.

- Arabisch für Kinder Anfänger undFortgeschrittene • 4 Std./Wo.

42 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

- Nähkurs • 3 Std./Wo.

- Seidenmalerei • 3 Std./Wo.

- Gymnastik • 2 Std./Wo.

- Gesprächskreis „Schwangerschaft undGeburt“ 1. Sem. • 2 Std./Wo.

- Gesprächskreis: „Wie kann ich mitmeinem Sohn/Tochter über Sexualitätsprechen?“ 2. Sem. • 2 Std./Wo.

Die Beratungsarbeit bildet inzwischenden Hauptschwerpunkt der Arbeit im AlNadi: Beratung findet zwar offiziell nurDienstag und Donnerstag statt, faktischaber gibt es so viele Beratungsfälle, daßdiese an den beiden Beratungstagen garnicht abgearbeitet werden können. DieKonsequenz aus dieser Tatsache und ausdem Abbau der Personalstunden war, daßAl Nadi versucht, die Frauen verstärkt anandere Beratungsstellen zu vermitteln, so-weit dies möglich war.

Sozialhilferechtliche Beratung: Im Juni 1997 hatte sich die soziale Lage

eines Teils der Klientel durch die bis dahin2. Verschärfung des 1993 eingeführtenAsylbewerberleistungsgesetzes erheblichverschlechtert. Ein sehr großer, im Vergleichzu vorher massiv erweiterter Personenkreiserhält seitdem grundsätzlich nur noch um20 Prozent gekürzte Sozialhilfe und diesemeist in Form von Kostenübernahmeschei-nen, die inzwischen nicht mehr in soge-nannten Warenmagazinen, sondern in be-stimmten Einzelhandelsgeschäften eingelöstwerden können.

Die dritte und bisher letzte Verschärfungdes Asylbewerberleistungsgesetzes ist imSommer 1998, in der letzten Sitzung vorder Sommerpause vom Bundestag beschlos-sen worden, gegen die Stellungnahmen al-ler Wohlfahrtsverbände, diverser Organisa-tionen und Einzelpersönlichkeiten. Selbstder deutsche Städtetag lehnte in einer Ex-pertenanhörung vor dem Bundestag den ha-stig zusammengeschusterten Gesetzesent-wurf wegen mangelnder Umsetzbarkeit ab.Trotzdem wurde das Gesetz verabschiedetund so entstand im August 1998 in Zusam-menarbeit mit der Ausländerbehörde einRundschreiben der Senatsverwaltung fürGesundheit und Soziales, das seitdem So-zialämtern und Beratungsstellen Rätsel auf-gibt. Hauptziel der neuesten Verschärfungist es, Menschen durch angedrohten bzw.durchgeführten Sozialhilfeentzug zur Rück-kehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen.

Menschen, die angeblich zur Verhinde-

rung ihrer Abschiebung ihre Identität ver-schleiern oder an einer Paßbeschaffungnicht mitwirken, soll die Sozialhilfe entzo-gen werden. Laut Absprache der Senatsver-waltung mit der Ausländerbehörde soll nunein Stempel „Erwerbstätigkeit nicht gestat-tet“ in den Aufenthaltspapieren der Betroffe-nen den Sachbearbeitern in den Sozialäm-tern signalisieren, daß es sich hier um sol-che handelt. Auch der handschriftliche Ein-trag der Ausländerbehörde „Identität unge-klärt“ führt zu einer Androhung des Sozial-hilfeentzugs.

Nun haben aber gerade die Palästinen-ser aus dem Libanon oft keinen Paß, dasich, wie auch die Ausländerbehörde weiß,der Libanon aus politischen Gründen seitJahren weigert, für die Palästinenser Pässeauszustellen oder zu verlängern. So habenviele Palästinenser nur ihre palästinensi-schen Ausweise und die Karte der UN-WRA, des UN-Flüchtlingshilfswerks für Palä-stinaflüchtlinge. Diese Papiere werden mitdem Argument der leichten Fälschbarkeitvon der Ausländerbehörde nicht als Iden-titätsnachweise anerkannt und so habenauch diese Menschen oft in ihren Duldun-gen den Eintrag „Identität ungeklärt“. Zu al-lem Überfluß haben wir den Eindruck, daßdie Sachbearbeiter in der Ausländerbehör-de Stempel- und Eintragsvergabe recht will-kürlich handhaben, so daß bei gleichenVoraussetzungen manche einen Stempeloder Eintrag haben und manche keinen.Auch haben wir den Eindruck, daß mancheSachbearbeiter „Identität ungeklärt“ mit„Staatsangehörigkeit ungeklärt“ verwech-seln, was seit Jahren die offizielle Bezeich-nung für Palästinaflüchtlinge ist.

Ein grundsätzliches Problem in der aus-länderrechtlichen Beratung ist, daß zur Ver-besserung des Aufenthaltsstatus eine Grundvoraussetzung ist, seinen Lebensunterhaltselbst, d.h. ohne Inanspruchnahme von So-zialhilfe finanzieren zu können. Dies ist fürAlleinstehende und Paare noch möglich,bei Familien mit mehreren Kindern schonfast unmöglich, wenn man bedenkt, daßdie Jobs, in denen das Klientel arbeitenkann, üblicherweise niedrig qualifiziert undschlecht bezahlt sind.

Hinzu kommt eine besondere Hürde,vor der die Menschen stehen, die eine Auf-enthaltsbefugnis besitzen. Dies sind vor al-lem Palästinenser aus dem Libanon, die vorJahren durch eine Änderung des Ausländer-gesetzes von einer Aufenthaltserlaubnis ineine Aufenthaltsbefugnis zurückgestuft wor-den waren. Eine Änderung des Kindergeld-gesetzes schließlich bewirkte, daß diese

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Ich freue mich, Ihnen in diesem Rundbrief exchange able vorstellen zu dürfen.

Mit exchangeable will ich die vielfälti-gen Lernmöglichkeiten, die die USA unddort speziell die Stadt Seattle im sozial-und gesellschaftspolitischen Bereich bietet,nutzbar machen für interessierte Gruppen,Organisationen und Institutionen ausDeutschland, die in diesem interkulturellenKontext lernen wollen.

(Corporate) Volunteering, Fundraising,Community Organizing, Kampagnenar-beit, Community Foundations (Bürgerstiftun-gen) sind Bereiche sozialer Innovation inden USA, die eine breite Lernpalette bie-ten. Auch die Wurzeln der Nachbar-schafts- und sozial-kulturellen Arbeit liegenin den USA. Jane Adams gründete 1898dort eines der ersten Settlementhäuser inChicago.

Ich berate Sie als MultiplikatorInnengerne, wenn Sie eine Studienfahrt in dieUSA planen und erarbeite Ihnen ein indi-viduelles Studienfahrtdesign incl. attrakti-ven Zusatzangeboten wie z.B. eine Wo-chenendtour zu den heißen Quellen imOlympic Nationalpark oder einen Besuchim Boeing-Flugmuseum.

„Das Hinaustreten aus vertrauten Zu-sammenhängen und Lernerfahrungen inanderen Ländern sind wesentliche Teilemeiner Biografie. Diese Aus-Zeiten warenin meinem Leben wesentliche, prägendeund lehrreiche Momente. Sie waren derAusgangspunkt für Veränderungen undEnergiequelle für innovative Schritte.“

M. Mohrlok

Kontakt:Marion MohrlokChristahof 1579114 FreiburgTel.: 0761/ 441349ab Dezember 1999: Büro in Seattle.

Die nächste Mitglieder-versammlung

des Bundesverbandes für sozial-kulturelle Arbeit e.V.findet am Freitag, dem 12. Mai 2000 statt. Gastgeberin ist die Ufa-Fabrik in Berlin.

Menschen kein Kindergeld mehr bekamen,da es ab diesem Zeitpunkt nur noch Kinder-geld bei einer Aufenthaltserlaubnis gibt.

Nach dem Ausländergesetz kann ihnennun, wenn sie acht Jahre lang im Besitz ei-ner Befugnis waren und unabhängig vonSozialhilfe sind, eine Aufenthaltserlaubniserteilt werden. Ohne Kindergeld jedoch ha-ben sie so gut wie keine Chance, die mo-natliche Summe zu erreichen, die von derAusländerbehörde für eine solche Aufent-haltsverfestigung verlangt wird. Hätten siejedoch die Aufenthaltserlaubnis, könntensie mit Hilfe des Kindergeldes unabhängigvon Sozialhilfe werden.

So leben diese Familien hier jahrelangohne reale Chance auf eine Verbesserungihrer Lage. Noch viel schlimmer ist die Si-tuation derjenigen, die seit Jahren im Asyl-verfahren sind oder mit Duldungen leben,die alle drei oder sechs Monate verlängertwerden.

Die Lage der palästinensischen de-facto-Flüchtlinge hat sich im Grunde seitvielen Jahren nicht verändert: Eine Chanceauf Anerkennung im Asylverfahren (als in-dividuell politisch Verfolgte) haben sienicht, zurück in den Libanon können sienicht (der Libanon nimmt sie nicht zurück),einen gesicherten Aufenthalt hier kriegensie nicht.

Die Hoffnungen deutscher und speziellder Berliner Politiker auf ein Rücknahme-abkommen mit dem Libanon haben sich alsunrealistisch herausgestellt: Der Libanonhat kein Interesse daran, sein fragiles inne-res Gleichgewicht zu zerstören. Die PLOals politischer Vertreter der Palästinenserwiederum hat kein Interesse daran, sich fürein Bleiberecht der in Deutschland Leben-den einzusetzen, da die Flüchtlingsfrageals politisches Druckmittel in den Friedens-verhandlungen mit Israel benutzt wird. DiePalästinenser sind nach wie vor hauptsäch-lich politische Manövriermasse in dergroßen Politik und deutsche Interessen indiesem Zusammenhang eher nebensäch-lich.

Eine neue Altfallregelung, wie sie imKoalitionsvertrag der neuen Regierung vor-gesehen ist, müßte deshalb die Gruppe derPalästinenser aus dem Libanon ausdrück-lich miteinbeziehen, und zwar ohne die Be-dingung des fehlenden Sozialhilfebezugs,weil sonst wieder niemand darunter fallenwird, so geschehen bei der letzten Altfallre-gelung.

Exchangeable – interkulturelles Lernen

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Ein medienpädagogisches Projekt desMädchenbüros des NachbarschaftsheimFrankfurt a.M. - Bockenheim e.V.

in Zusammenarbeit mit dem OffenenKanal Offenbach/Frankfurt.

Die Ideezu einem Mädchen-TV entstand im

Mädchenbüro des NachbarschaftsheimsBockenheim, das seit 1997 mädchenspezi-fische Kurs- und Gruppenangebote einge-richtet hat.

Die Realisation eines medienpädagogi-schen Projekts wie das Mädchen-TV wurdedurch den Wunsch der Mädchen möglich,eine Sendung zu produzieren, in der ihreInteressen, Probleme und Wünsche themati-siert werden.

Mit interessenbezogenen Themen wieMusik, Alltagsleben von anderen Kulturen,Partnerschaft und Kunst können sichMädchen identifizieren.

Die Veröffentlichung der eigenen Sen-debeiträge im Offenen Kanal Offenbach/Frankfurt eröffnet Mädchen die Möglich-keit, ihre Lebenswelt aus ihrer Sicht dar-und der Öffentlichkeit vorzustellen.

Warum Mädchen-TV ?Die Medieninhalte und auch die Nut-

zung verschiedener Medien zeigen ge-schlechtsspezifische Unterschiede:

So neigen männliche Jugendliche dazu,Medien exzessiver zu nutzen. Sie zeigeneine Vorliebe für gewalttätige Filmgenres,Filminhalte und -szenen und identifizierensich mit starken Helden. Hingegen habenMädchen einen geringeren Bedarf an die-sen Bildern, bevorzugen Filme, die emotio-nal befriedigend enden und identifizierensich mit männlichen Helden, die in Beschüt-zerrollen oder als Traummänner agieren.Diese Filme erzeugen das typische Frauen-bild mit den Attributen "schwach, unterwür-fig, hilflos."

Daraus läßt sich schließen, daß die Me-dien keine zeitgemäßen und geschlechts-spezifischen Themen und Identifikations-möglichkeiten für Mädchen und junge Frau-en bieten.

44 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Mädchen brauchen und benötigen eineeigene Sendung mit geschlechtsspezifischenund identitätsstiftenden Themen, in der siesich austauschen und interessenbezogeneThemen darstellen können:

Ein Mädchen-TV, von Mädchen fürMädchen!

ProjektverlaufDas Projekt Mädchen-TV startete mit der

Produktion eines Spielfilms.Für diese Produktion formierte sich eine

Gruppe von acht Mädchen im Alter von 13-15 Jahren. Die Mädchen wählten alsThema ihres Films "Freundschaft, Liebe undKlamottenprobleme". Die Mädchen sindverantwortlich für die Gestaltung des Dreh-buchs, die Besetzung der Schauspieler, dieBestimmung der Drehorte, des Schnitts undder Nachvertonung. Dieser Film soll die Pre-miere des Mädchen-TV sein, der nach Fer-tigstellung im Offenen Kanal Offenbach/Frankfurt zu sehen sein wird.

Der Spielfilm wird zudem am Videowett-bewerb 2000 von Stadt und Kreis Offen-bach teilnehmen. Weitere Aktionen mit demMädchen-TV sind in Planung.

Die StrukturDie Struktur des Mädchen-TV gliedert

sich in zwei Bereiche:• Umsetzung und Veröffentlichung von

mädchengerechten Themen desMädchen-TV im Offenen Kanal

• Auseinandersetzung mit dem MediumTV

Der Bereich der Umsetzung und Veröf-fentlichung von mädchengerechten Themenim Mädchen-TV beinhaltet die Produktionvon Sendebeiträgen in Form von Kurz-filmen, Reportagen, Interviews, Videoclipsund einer Live-Sendung.

Die Umsetzung der Produktion beinhal-tet die Recherche von Themen, den Um-gang mit Kamera, Licht, Ton, Schnitt, Nach-vertonung, Vorbereitung für Live-Sendun-gen, Drehbücher, Entwurf von Fragebögenetc.

Wie geht es weiter ?Das Mädchen-TV wird ein langfristiges

Projektangebot für Mädchen sein. Die Fra-ge, die sich für das Projekt im Laufe derUmsetzungsphase gestellt hat, ist: Wie las-sen sich die laufenden Kosten desMädchen-TV finanzieren?

Hierzu sind wir auf private Sponsorenangewiesen, damit das Projekt und alleweiteren Ideen auf festen Füßen stehenkönnen. Annette Gowin

Weitere Informationen zum Mädchen-TVerhalten Sie über:

Nachbarschaftsheim Frankfurt a.M. -Bockenheim e.V.MädchenbüroRohmerplatz 1560486 Frankfurt a.M.Tel.: 069 - 77 40 40Fax. 069 - 70 52 62Email: [email protected]

Mädchen-TVNachbarschaftsverein Bockenheim e.V.

Kinder, die

man nicht

liebt, werden

Erwachsene,

die nicht

lieben.Pearl S. Buck

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VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 45

Unter diesem Motto haben sich 17Schüler und Schülerinnen der Bettina-von-Arnim-Schule und sieben Senioren und Senio-rinnen des Theaters der Erfahrungen zu ei-nem gemeinsamen Theaterprojekt zusammen-getan. Für die Schüler war dieses Projekt Teilihres Kurses „Darstellendes Spiel“, den sie inder 12. und 13. Klasse gewählt haben. Bei-de Gruppen haben sich bewußt für diese Be-gegnung der Generationen entschieden.

Passen jung und alt zusammen?Natürlich stoßen zwei verschiedene Wel-

ten aufeinander: hier Schule, Noten, Abitur,Jobben, Frust und Lust; dort jede Menge Le-benserfahrung, Zeit, endlich Dinge zu tun, dieeinem wichtig sind, und trotz Rente keineZeit, Zeit zu vergeuden. So könnte man dieseBegegnung beschreiben. Beim Improvisierenund der Lust, Theater zu spielen, unterschei-den sich die Generationen kaum voneinan-der. Schwieriger war es, sich zu einigen,Meinungen gelten zu lassen, Konflikte auszu-tragen, mit Siebzehn beherzt der Sicherheitaus sechzig Jahren Erfahrung entgegenzutre-ten. Oder sich als Älterer noch einmal in eineGruppe kritischer Jugendlicher zu begeben.

Mit welcher Motivation?Für die einen war es Unterricht. Es gab

Punkte (Noten) für ihre Leistung. Für die ande-ren war es ein Experiment. Motivation für bei-de Gruppen war das Theater: Ideen einbrin-gen, Kritik üben, mitdenken, weiterentwickeln,zusammenarbeiten. So vielfältig die Heraus-forderungen des Theaters sind, um so schwie-riger lassen sie sich in Noten ausdrücken.Aber „Darstellendes Spiel“ ist kein Fach, dasman wegen der Noten wählt, denn es erfordertumfassenden Einsatz. Die Älteren motiviertder Ernst der Auseinandersetzung. Sie wollenvorankommen. Sie bekommen keine Noten,aber sie schätzen das Engagement derSchüler. Doch Schule bleibt Schule: Zusätzli-che Termine müssen mit Klausuren und Leh-rern koordiniert werden. Andere Fächer sindauch wichtig, immerhin geht es ums Abitur!

Gemeinsamkeiten findenDie Thematik für ein Theaterstück war

schnell gefunden: Sylvester 2000, der An-

laß für Rückblicke in die Geschich-te und futuristische Aussichten. Dieletzten Kriegstage 1945: Die Älte-ren haben es erlebt, die Jüngerenkennen es nur aus Erzählungen ih-rer Großeltern. Berlin in den „gol-denen Zwanzigern“: Diesmal be-steht Chancengleichheit, denn die-se Zeit müssen sich beide Grup-pen erarbeiten. Wie wird das Le-ben im Jahr 2050 aussehen? Hiersind die Schüler gefordert, zu er-

volkstümelnden „Hunderprozenti-gen“. Aus einer Clique Jugendli-cher ergibt sich die Zukunftsvision:Wie werde ich im Jahre 2050 mitsechzig leben? Auf dem Jupiter,glücklich den Katastrophen derErde entronnen? Prinzip ist dabei,daß in den Rückblicken die Jünge-ren in die Rollen der Älterenschlüpfen. Tik-tak-Oma wird in denZwanzigern von einer Schüleringespielt, so jung, wie sie damals

Marx meets Madonna

finden, wie ihre Zukunft aussehen wird. DieArbeit am Stück ist keine Einbahnstraße:Nicht die Älteren haben den Jungen etwaszu sagen oder umgekehrt: Beide Gruppensind gleichermaßen gefordert, jeweils Erfah-rung und Kreativität einzubringen.

Zum StückDramaturgischer Ausgangspunkt ist die

Sylvesterfete 2000 unter dem Brandenbur-ger Tor. Die achtzehnjährige Enkelin hat ihrer hunderjährigen Tik-tak-Oma denWunsch erfüllt, zur Sylvesterfeier zum Bran-denburger Tor zu fahren. Mit ihrer Erinne-rung beginnt eine Zeitreise in die zwanzi-ger Jahre, in eine Charlston-Bar, in der ihreSchwester für fünf Mark den Abend sang,ein Abend zwischen ausgelassenem Ver-gnügen und dem sich ankündigendem poli-tischen Unheil. Ein weiterer Rückblick ba-siert auf dem vermeintlichen Wiedertreffenzweier Jugendfreundinnen, die sich 1945kurz vor dem Zusammenbruch aus den Augen verloren. Der Rückblick ist ein Spie-gel einer sich auflösenden Gesellschaft.Eine Kellergemeinschaft aus einfachen Zivi-listen, Deserteuren, Plünderern und einer

war. Und umgekehrt verkörpern die Älte-ren die Rollen der Jungen in der Zukunft.

Wir waren die Aufführungen?Höchste Anspannung herrschte bei al-

len vor den Aufführungen von „Vorwärts!Wir müssen zurück“, so der schlußendlichgefundene Titel des Stücks. Wie wird esankommen bei jung und alt? Dann Über-raschung und Erleichterung, denn dasStück findet bei allen Generationen An-klang, ganz abgesehen von Freunden, Eltern, Kollegen, Kindern und Enkeln.

Was man mitnimmt:Einblicke in andere Lebenserfahrun-

gen; Sympathien für interessante Men-schen, die einem nahegekommen sind;natürlich den gemeinsamen Erfolg und vie-le Erfahrungen mehr, die man nicht ge-macht hätte, wäre man unter seinesglei-chen geblieben. So begegnet man der an-deren Generation - außerhalb der Familie- offen, herzlich und mit geschärftem Blick.

Jens Clausen, Theater der Erfahrungen

Page 48: Rundbrief 2-1999

MMAG

AZIN

MAG

AZIN

„War es wirklich so?“ ... so heißt einkleines Buch, das der Gesprächskreis Le-bensbilanz im Nachbarschaftshaus Wies-baden e.V. im August diesen Jahres her-ausgegeben hat.

Diese Frage stellen sich Frauen, diezum ersten Mal vor sieben Jahren zusam-mentrafen, um sich erzählend an ihr Lebenzurückzuerinnern.

Ein Zufallskreis? Nun, so unterschied-lich die Frauen auch waren - vom Jahr-gang 1942 - sie alle waren bereit, denBlick zurück zu wagen und sich in aller Offenheit zu erinnern. Eine Erzählwerk-statt, keine Schreibwerkstatt, aber den-noch gab es einige Frauen, die ihreSchreibleidenschaft ausleben konnten unddie für die monatlichen Sitzungen zu denjeweiligen Themen Erinnerungstexte mit-brachten. Bald schon wuchs die Vertrauen-satmosphäre und wir ließen das Tonband

46 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

mitlaufen, um die Erzählungen nicht wiederzu verlieren. Es kam der Wunsch auf, dieTexte in einem kleinen Band zu veröffentli-chen.

Nun liegen sie also vor, die Erinnerun-gen an Kindheit, Großeltern, Nationalsozia-lismus, 1945, Nachkriegsjahre, Mütter undTöchter, Liebe, Heimat, Glauben, Sterbenund Tod in diesem kleinen Band „War eswirklich so?“, und trotz der Fragwürdigkeitdes Erinnerns sagen sie „Ja, so war es füruns.“

Warum ich davon erzähle? Hier könnteich aufhören, aber jetzt erst wird’s span-nend. Denn dieses kleine Bändchen hatteviele Folgen. Wie oft erschienen in letzterZeit nach Presseberichten Leute bei mir imBüro, um das Buch zu kaufen, wie viele Ge-spräche über erlebte Geschichten gab esda. Der Mut zur Offenheit der Erzählerin-nen ermutigte auch andere etwas zu er-zählen, was bisher für sie eher tabu war.

Zwei Erzählcafés gab’s bisher mit voll-em Saal, und den Vorschlag aus dem Publi-kum, die Zeitzeuginnen in Schulen lesen zulassen (das Schulamt ist daran interessiert),die Fachhochschule bat um eine Lesung, die Presse druckte an zehn Tagen Texte aus

dem Buch, Radio Rheinwelle lud die Auto-rinnen zu einer Sendung ein, in der Interviewsund Lesungen sich abwechselten ... es gehtalso weiter. Briefe erreichen uns, Anrufe ...und so entstand der Entschluß, unser Buchzur Dachverbandstagung in Berlin mitzu-nehmen. Die erste Auflage ist vergriffen,aber ein Nachdruck wird rechtzeitig fertig.

Weshalb ich das alles erzähle? Um Mutzu machen, Mut für weitere Gesprächskreisemit biographischer Arbeit.

Brigitte Zande

Erhältlich ist das Buch über das Nach-barschaftshaus Wiesbaden e.V.

Brigitte ZanderRathausstr. 10 65203 Wiesbaden10,-DM + zzgl. 1,50 DM Porto

War es wirklich so?

Page 49: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 47

Herbert Effinger (Hg.)

Soziale Arbeit und Gemeinschaft

Im Rahmen einer sozialarbeitswissen-

schaftlichen Fragestellung mit dem Titel

„Soziale Arbeit und Gemeinschaft“ wurde

an der Evangelischen Hochschule für So-

ziale Arbeit Dresden eine Ringlesung

durchgeführt. Die Leitfrage aller Beiträge

dieser Veranstaltung und des daraus ent-

standenen Buches lautet: Unter welchen Be-

dingungen können sich heute Gemeinschaf-

ten bilden, die gleichermaßen Individualität

(Besonderheit), Individuation (Selbstentfal-

tung) und Autonomie (Selbständigkeit) wie

gesellschaftliche Verantwortung in Gemein-

schaft (Solidarität) ermöglichen, vorausset-

zen und fördern? Den Autorinnen und Au-

toren ging es in erster Linie darum, solche

Problemstellungen aufzugreifen, die für das

professionelle Setting oder die institutionel-

le Einbindung Sozialer Arbeit und ihrer

Träger in das bundesrepublikanische

Wohlfahrtssystem relevant sind. Der Band

umfaßt sowohl theoretische Grundsatz-

beiträge über die Gemeinschaftsorientie-

rung Sozialer Arbeit , wie z.B. über die Vi-

rulenz und Ambivalenz des Gemeinschafts-

begriffes, als auch sehr differenzierte

Beiträge aus der Praxis der Gemeinschafts-

arbeit wie z.B. über eine Selbsthilfegruppe

der Anonymen Alkoholiker.

Lambertus Verlag. Freiburg im Breisgau.

1999.

Winfried Noack

GemeinwesenarbeitEin Lehr- und Arbeitsbuch

Einerseits wird Gemeinwesenarbeit in

der sozialarbeiterischen Welt und auch in

Ämtern und Behörden - wenn auch nicht im-

mer gebührend - geschätzt und hat sich als

Begriff in diesem Arbeitsfeld etabliert. Unter

allen Formen der Sozialarbeit ist sie am

stärksten mit dem Ganzen der Gesellschaft

verflochten und von ihr mitbestimmt. Ande-

rerseits jedoch ist Gemeinwesenarbeit im-

mer noch in weitestem Sinne begrifflich un-

klar und unsicher, da sie unterschiedliche

Traditionen und Konzepte einschließt.

Noack gibt hier zunächst einen Überblick

über die Entstehung und Rezeption der

Gemeinwesenarbeit, um dann ihre Grund-

formen, Arbeitsweisen und Wirkungsmög-

lichkeiten nachzuweisen. Er zeigt auf, wie

sich ein soziales Netzwerk ausweitet zur

Gemeinwesenarbeit und entwickelt schließ-

lich Arbeitsfelder, denen er für die Zukunft

eine wichtige Bedeutung in unserer Gesell-

schaft zuschreibt.

Lambertus Verlag. Freiburg im Breisgau.

1999.Reze

nsio

nen

Verzeihen

ist keine

Narrheit,

nur ein Narr

kann nicht

verzeihen.

Chinesisches Sprichwort

Page 50: Rundbrief 2-1999

48 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Ehrenamtliche/freiwillige

Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen

Ein LeitfadenNachbarschaftsheim Schöneberg e.V.

von Georg Zinner

Georg Zinner behandelt in seinem Bei-

trag drei wichtige Punkte zum Thema Ehren

amt:

1. Die Definition der ehrenamtlichen Arbei

in unserer Gesellschaft und ihre Voraus-

setzungen,

2. die Regeln für einen adäquaten, wert-

schätzenden Umgang mit ehrenamtli-

chen Mitarbeitern und

3. die Anforderungen an eine fachlich-

rationale Unterstützungsstruktur für das

freiwillige Engagement.

Grundsätzliche Überlegungen zu diesen

drei Punkten und die „Goldenen Regeln“

zur Arbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterin-

nen und Mitarbeitern wurden im hier vorge-

stellten Leitfaden des Nachbarschaftsheimes

Schöneberg e.V. zusammengefaßt.

Page 51: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 49

Ehrenamt undNutzermit-wirkung

Bei der Auseinandersetzung mit demThema Besucher-/Nutzermitwirkung imNachbarschaftsheim Schöneberg habenwir festgestellt, daß es ein Unterschied ist,ob jemand mitwirkt, der bereits Angeboteder Einrichtung wahrnimmt oder ob jemandsozusagen von außen an uns herantritt mitdem Wunsch mitzuwirken bzw. eine Auf-gabe zu übernehmen.

Der Begriff Ehrenamt ist häufig negativbesetzt, deshalb gibt es seit einiger Zeit Be-strebungen, einen neuen Begriff einzu-führen, z.B.: „Volunteers“ oder einfach nurFreiwillige. Wir haben uns weiterhin fürden Begriff Ehrenamt entschieden, da sichviele Ehrenamtliche selbst so bezeichnen.

Goldene Regeln zurArbeit mitehrenamt-lichen Mitarbeite-rinnen undMitarbeitern

Nutzermitwirkung

Arbeitsbereichbezogen:vom Garten umgraben bis zum inhaltlichenMitgestalten in Gremien

unterschiedliche Aufgaben

Kurs- und Gruppenteilnehmerinnen eher von „außen“ kommend

Die hauptamtlichen Mitarbeiter wecken Motivation und halten diese wach.Sie machen Strukturen transparent.Siehe „Goldene Regeln“

siehe „Goldene Regeln“

Die Nutzer können einerseits Mitgestal-tungs- und Entscheidungsmöglichkeitenwahrnehmen.Andererseits bedeutet die Nutzermitwirkungauch, dem hauptamtlichen Mitarbeiter ei-nen Gefallen zu tun. Ebenso existiert die Notwendigkeit, daßNutzer bestimmte Aufgaben übernehmenmüssen, sonst können bestimmte Angebotenicht stattfinden.

Helfen wollenFähigkeiten und Erfahrungen anderen Personen zur Verfügung stellen wollen

Ziele:Eigenverantwortlichkeitdie Erfahrung machen können, daß durchaktive Teilhabe mitgestaltet und mitentschie-den werden kann.Basisdemokratie leben

Ziel:bürgerschaftliches Engagement zu ermögli-chen

unentgeltlich unentgeltlich

Ehrenamtliche/freiwillige Mitarbeiter

Die Übergänge zwischen diesen beiden Definitionen sind fließend.

Zielsetzung

KENNENLERNPHASE

Praktische Umsetzung

Dient dem Aufbau von Kontakten und Be-ziehungen und zum Kennenlernen der Per-son.

Bei dem ersten Anruf eines interessiertenMenschen muß sich unbedingt Zeit für dasGespräch genommen werden.Regel: Die Interessierte ruft nur einmal an.

Einladung zum Erstgespräch. Der Termin ist verbindlich.

Das Ziel ist nicht, eine Idee zu verkaufen,sondern herauszubekommen, wer ist dieserMensch und was möchte er.Der Anlaß muß klar sein, z.B. „Ich möchteSie näher kennenlernen!“

Zeit einplanen.Angenehme und ungestörte Atmosphäreschaffen.Der Interessent muß das Gefühl haben,während des Gesprächs wichtiger als allesandere zu sein.

ERSTGESPRÄCH

Page 52: Rundbrief 2-1999

Anerken-nung/Ehrung

• zur Beratung neuer ehrenamtlicher Mit-arbeiter muß ausreichend Zeit zur Ver-fügung stehen

• geeignete Räumlichkeiten für ungestörteBeratungsgespräche müssen eingerich-tet werden

• Etat für kleine Aufmerksamkeiten alsAnerkennung

• Sicherstellung von Aufwandsentschädi-gungen

• Möglichkeiten für Austausch, Fortbil-dung, Supervision

• evtl. Einsatz eines Koordinators/Beauf-tragten (z.B. Organisation bereichs-übergreifender Fortbildungsangebote,Unterstützung und Förderung des Um-setzens der Goldenen Regeln, Organi-sation der Ehrung z.B. an einem Tagdes Ehrenamtes)

• evtl. jährlichen Tag des Ehrenamtes einrichten

• Vorstellung ehrenamtlicher Mitarbeiterim Jahresbericht oder Programmheft.

FreiwilligesEngagementund die An-forderungenan eine fach-lich-rationaleUnterstüt-zungsstruktur

1. Freiwilliges Engagement findet in un-serer Gesellschaft in vielen Formen statt: alsehrenamtliche Mitarbeit, als bürgerschaftli-ches Engagement, in der Politik, der Kultur,im Sport, in der Gemeinde, in der Nachbar-schaft, in Wohlfahrtsorganisationen, in Bür-

50 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Zielsetzung

GESPRÄCHSINHALT

Praktische Umsetzung

Kein psychologisch-therapeutisches Ge-spräch, kein Interview, kein Gespräch unterFreunden, bereit sein, selbst etwas aus dereigenen Geschichte zu erzählen.Es geht um Aufbau von gegenseitigem Re-spekt und nicht um Freundschaft.

Motivation.Zeitbudget des Bewerbers erfragen (realisti-sches Maß).Realistische Informationen über den Aufga-benbereich gebenoder herausfinden, wo die Interessen lie-gen.Das Unterstützungsangebot glaubhaft ver-mitteln.Am Ende des ersten Gesprächs ist ein ver-bindlicher Termin auszumachen, an demder Interessierte erfährt, ob er für die Arbeitals ehrenamtlicher Mitarbeiter in Fragekommt.

Hier geht es mehr darum, die Kompetenzendes Interessenten herauszufinden. Willer/sie eine neue Aufgabe entwickeln oderbesteht Interesse an einer klar definiertenAufgabe der Institution.

Wenn ein Interessent abgelehnt wird, müs-sen die Gründe von dem hauptamtlichenMitarbeiter deutlich benannt werden. Um-gekehrt ist eine Begründung nicht notwen-dig. Wenn der Interessent angenommen wird,sollten jetzt die Aufgabe genau definiert undverbindliche Absprachen getroffen werden.

ZWEITGESPRÄCH

Die Realisierung hat bessere Chancen,wenn das Thema auf Eigeninteresse beruht,es einen Bedarf gibt,das Zeitbudget eingehalten wird,die Verbindlichkeiten klar sind und von beiden Seiten eingehalten werden,die Institution transparent ist.

Einarbeitung durch Gespräch oder Einführungsseminar,regelmäßige Fortbildung oderGruppenbesprechungen,Hospitationen,Einzelberatung.

REALISIERUNGSPHASE

Es geht um die Wahrung der Motivationder ehrenamtlichen Mitarbeiter.Entwicklung von Mitbestimmungsrechten.Wahrung des Respektes.Erkenntnis, daß die Zusammenarbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeitern eine Bereiche-rung der Arbeit darstellt.Anerkennung und Wertschätzung nicht ver-gessen.Die Tätigkeit ist veränderbar.Weiterentwicklung soll ermöglicht werden.

Der Ehrenamtliche hat ein Recht auf Bera-tung und Information. Dies hat Vorrang voranderen Tätigkeiten.

Blumen o.a. kleine Geschenke.Geburtstage nicht vergessen.Tag des Ehrenamtes mit offizieller Ehrung,Anerkennung z.B. mit Urkunde o.ä.

STABILISIERUNGSPHASE

Goldene Regeln zur Arbeit mit ehrenamtlichen Mitarbeiterinnenund Mitarbeitern

Page 53: Rundbrief 2-1999

VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299 51

gerinitiativen, in lokalen und in überregiona-len, ja weltweit vernetzten Organisationen.

2. Freiwilliges Engagement hat verschie-dene Motive und Ziele: Helfen, Verändern,Bewegen, Gestalten, Aktiv-Sein, Anerken-nung finden, Gemeinschaft erleben.

3. Freiwilliges Engagement hat eigene,durch professionelle Arbeit nicht ersetzbareQualitäten, am ehesten bekannt aus derSelbsthilfe. Aber auch in anderen Bereichensind vergleichbare Effekte erkennbar. Dienicht bezahlte Arbeit, das freiwillige Enga-gement fördert womöglich die Lebensqua-lität einer Gesellschaft genauso wie die be-zahlte Arbeit.

4. Freiwilliges Engagement vertraut aufdie Fähigkeit der Menschen, ihr Lebensum-feld zu gestalten und entscheidend zu prä-gen. Freiwilliges Engagement wirkt innova-tiv und integrativ und ist für eine demokrati-sche Kultur unverzichtbar: Die sich freiwilligEngagierenden sind Stützen der Gesell-schaft; sie sind nicht die Untertanen, son-dern die (mündigen) Staatsbürger.

5. Freiwilliges Engagement kontrolliertund korrigiert (reguliert) einen überbürokra-tischen, überregulierten und überprofessio-nellen Wohlfahrtsstaat und hat speziell inder Bundesrepublik Deutschland die Aufga-be, den Gedanken der Selbstverantwortungund Selbstorganisation zu befördern, da unser Staat noch immer mit zu vielen Erwar-tungshaltungen konfrontiert ist (siehe dazudie aktuelle Kommunitarismus-Diskussion).

6. Freiwilliges Engagement braucht För-derung, verträgt aber keine Domestizie-rung. Es gibt mehr freiwilliges Engagementin unserer Gesellschaft als bekannt ist undgeglaubt wird. Große Teile dieses Engage-ments entziehen sich der institutionellen Er-fassung und Regulierung und das ist gut so.Der erkennbare Versuch, dieses Engage-ment als „Sparbüchse“ nutzbar zu machenund Freiwillige als billige Arbeitskräfte zunutzen, wird aber scheitern, weil Motivationund Differenziertheit des Engagements diesnicht zulassen. Dem steht nicht entgegen,daß begrenzte „Dienstzeiten“, wie im Zivil-dienst, im Freiwilligen Sozialen Jahr jetztund auch in Zukunft akzeptiert werden, vorallem, weil sie sinnvolle Erfahrungen für dieweitere Lebensperspektive vermitteln.

7. Freiwilliges Engagement unterliegtnicht mehr der Verfügbarkeit von Organisa-

tionen, was diese häufig mit „rückgängi-gem ehrenamtlichen Engagement“ verwech-seln. Freiwilliges Engagement im Sinne vonMitwirken und Mitgestalten erfordert part-nerschaftliche und offene Strukturen.

8. Freiwilliges Engagement braucht Of-fenheit, Nähe, Partnerschaft, Identifikation,muß also viele Möglichkeiten des Engage-ments, ob selbstorganisiert oder professio-nell gesteuert, vorfinden.

Nicht Eindimensionalität oder ideologi-sche Vorstellungen motivieren, sondern Viel-falt und Förderung der Eigeninitiative.

9. Freiwilliges Engagement braucht nichtimmer, aber immer mehr professionellesWohlwollen, Unterstützung und Begleitung.Dies erfordert regionale, örtliche, bürgerna-he, allgemein akzeptierte Strukturen. Vorhan-dene Institutionen müssen sich für freiwilligesEngagement (nicht nur verbal) öffnen und fürdie Bürger transparent werden, sowohl dieeinzelnen Einrichtungen als auch die sie tra-genden und entscheidenden Strukturen.

Wo vorhandene Strukturen nicht ausrei-chen, müssen gegebenenfalls neue Struktu-ren zur Förderung freiwilligen Engagementsgeschaffen werden: in der Regel durch Ver-bundsysteme, die Ressourcen bündeln unddie notwendige Transparenz herstellen. Die-se neuen Strukturen können auch „virtuell“sein, d.h. sie müssen nicht unbedingt institu-tionalisiert werden, aber sie müssen den ört-lichen und regionalen Bedingungen entspre-chen. Nicht oder nur bedingt geeignet sind„Arbeitsämter für ehrenamtliche Mitarbei-ter“, die kopflastig und basisfern arbeitenund die bestehenden Strukturen nicht verän-dern, sondern als Alibis in die Landschaftgestellt werden (in allbekannter Eintrachtvon Politikersatz und legitimatorischer Be-gleitforschung).

10. Freiwilliges Engagement brauchtprofessionelle Unterstützer für Beratung,fachliche Begleitung und Schulung.

Ansprechpartner und aktive Werber fürfreiwilliges Engagement braucht jede Institu-tion im sozialen Bereich. Diese Ansprech-partner müssen für ihre Aufgaben vorberei-tet und ausgebildet werden:

- Sie müssen aktiv ansprechen können,- sie müssen Freiwillige beraten, unter-stützen, Enttäuschungen auffangen,

- sie müssen den Erfahrungsaustausch derFreiwilligen organisieren und fördern,

- sie müssen Fortbildungen anbieten undbereithalten sowie Freiwillige qualifi-zieren,

- sie müssen Institutionen und professio-nelle Mitarbeiter für freiwilliges Engagement öffnen.

11. Freiwilliges Engagement gedeihtauf Dauer nur dort, wo Institutionen für einhohes Maß an Eigeninitiative und Engage-ment offen sind und die Bereitschaft besteht,Freiwillige unkompliziert in Mitwirkungs-und Verantwortungsstrukturen einzubinden.

12. Freiwilliges Engagement bedarf derAnerkennung. Die wichtigste Form der An-erkennung ist es, freiwilliges Engagementnicht mehr als „5. Rad am Wagen“ anzuse-hen, sondern es als konstitutiv für eine offe-ne, demokratisch organisierte und vom Ge-staltungswirken der Bürger getragene Ge-sellschaft anzuerkennen. Selbstverantwor-tung und Selbstorganisation leben von derFreiwilligkeit. Sie zu fördern ist eine gesell-schaftspolitische Aufgabe.

13. Freiwilliges Engagement ist kein Er-satzarbeitsplatz für Arbeitslose - alle Versu-che, Strukturen zu entwickeln, die „sinnvol-le“ Beschäftigung (oder Beschäftigungsthe-rapie) für Arbeitslose an Stelle von Arbeits-plätzen schaffen sollen, diskreditieren inWirklichkeit freiwilliges Engagement. Dasheißt nicht, daß nicht auch Arbeitslosenmehr Chancen für freiwilliges Engagementgeboten werden sollten. Aber Arbeitslosig-keit wird nicht durch Schaffung zusätzlicher„Freiwilligenarbeitsplätze“ bekämpft.

14. Freiwilliges Engagement brauchtÖffentlichkeit, seine Vielfalt auch die Bünde-lung, und seine gesellschaftliche Bedeutungerfordert finanzielle Förderung.

Es muß darüber nachgedacht werden,Stiftungen bürgerschaftlichen Engagementszu gründen, die Selbsthilfe, Nachbar-schaftshilfen, Erfahrungswissen, soziales En-gagement in jeder Form begleiten und för-dern, vor allem aber die strukturellen Vor-aussetzungen verbessern, z.B. durch dieSchaffung von Bürgerhäusern, Stadtteilzen-tren, Nachbarschaftsinitiativen.

Je mehr Aufgaben auf die freie Wohl-fahrtspflege zukommen, desto eher benöti-gen wir das innovative Potential freiwilligenEngagements!

Wohlfahrtsverbände müssen daher infreiwilliges Engagement investieren: in Öf-fentlichkeitsarbeit und in die Ausbildungund Qualifizierung geeigneter Mitarbeiter.

Page 54: Rundbrief 2-1999

Das Ehrenamt zwischen Anspruch

und Wirklichkeit - der Ehrenamtliche

als Sparfaktor?Eine polemische Betrachtung

von Jürgen Altmann

Die gegenwärtige Gesellschaft postu-

liert unüberhörbar und unübersehbar ihre

Wertvorstellungen:

Die Anhäufung und geschickte Vermeh-

rung von Geld und materiellen Werten.

Kann dies nicht durch verzinsliche Anlagen

oder durch den Erwerb von Immobilien

geschehen, dann sollen wenigstens

„Schnäppchenangebote“ und Rabattkäufe

das „Sparen durch überlegtes Ausgeben“

suggerieren. Dazu müssen nichtvorhandene

Bedürfnisse geweckt werden, deren

Befriedigung dann über die „Zugehörig-

keit“ zu einer imaginären Gruppe „modern

orientierter“ Menschen entscheidet.

Natürlich fördert eine so gesteuerte

Konsumption die Vereinzelung der

Konsumenten; ja selbst die mit Hilfe neuer

Medien betriebene Kommunikation setzt

Individualisierung voraus, ehe mit dem Te-

lefon oder im Internet kommuniziert wird.

Alles aber hat seinen Wert - ablesbar am

Preis; Wertvorstellungen sind mithin in

erster Linie Preisvorstellungen, das Wort

„unentgeltlich“ kommt da nicht vor.

52 VERBAND FÜR SOZIAL-KULTURELLE ARBEIT Rundbrief 299

Diogenes soll gesagt haben, als er inBegleitung über den Markt von Athenschritt: „Oh, wie vielfältig sind die Dinge,derer ich nicht bedarf.“ Er konnte sichdas erlauben - wie man weiß, wohnte erzeitweilig in einer Tonne, seine Wertvor-stellungen als antiker griechischer Philo-soph waren mithin andere, sie waren inseiner Gedankenwelt zu finden. Was hät-te die heutige Gesellschaft jemandem wieihm zu bieten, jemandem also, der sei-nen Gewinn im Verzicht sieht, der seinenLebenssinn nicht im materiellen Wohl-stand findet, der wohltuende und nützli-che Ausweichmöglichkeiten sucht? Ge-nau: das Ehrenamt!

Und wo wäre dies - neben anderem -besser anzusiedeln als auf dem sozial-kulturellen Gebiet und folgerichtig imNachbarschaftshaus? Hier finden sichmannigfaltige Möglichkeiten. Unter-schiedlich nach Alter, Geschlecht, sozia-ler Herkunft, Bildung, Fähigkeiten undNeigungen kann sich jeder in ein - auchdurch sein Mittun - funktionierendesGanzes einbringen. Er wird dafür nichtbezahlt; sein „Lohn“ ist vielmehr dasTreffen Gleichgesinnter, das schöne Ge-fühl zu helfen, Fertigkeiten zu vermittelnund selbst zu erlernen, Ersatz für fehlen-de Familie, für den Mangel an Freunden,an sozialen Kontakten zu finden; kurz:nützlich, geachtet und anerkannt zu seinist für den Ehrenamtlichen Grund genug,

gemeinnützig zu arbeiten. Diese in unse-rer Zeit selten gewordene menschlicheEigenschaft wurde rasch von gesell-schaftlichen und politischen Gremien er-kannt und zunehmend instrumentalisiert.Listig wurden und werden Grundsätze,Verträge, Bedingungen, zu erfüllendeVoraussetzungen für Anerkennung undFörderung formuliert, die das Ehrenamtnötig machen. Helfend, erklärend undbewertend dienen dazu Begriffe wie Demokratie, Subsidiarität, Bürgerenga-gement.

Auch die finanzielle (seltener: dieideelle) Förderung von ausgewählten Pro-jekten und der Weiterbildung Ehrenamtli-cher steht dem zur Seite. Wieso auch soll-te hier der institutionalisierte Zwang zumSparen und der Wille, viel Leistung fürmöglichst wenig Geld zu bekommen, ver-leugnet werden? Hier nämlich läßt er sicham leichtesten durchsetzen.

Zudem enthält der Begriff „Ehrenamt“gleich zwei Komponenten, die anziehendsind: das „Amt“ (im deutschen seit jehermit „Solidarität“, „Anerkennung“ und „Be-fugnis“ assoziiert) und die „Ehre“ (imgroßen und ganzen ebenfalls positiv be-setzt). Die Franzosen benennen jene, die„ehrenamtlich“ arbeiten, bénévoles, die„Wohlwollenden“, die aus Neigung wil-lentlich mittun.

Page 55: Rundbrief 2-1999

Die Wirklichkeit (aus meiner Sicht) -und nur die im Rabenhaus, dem Köpe-nicker Nachbarschaftshaus, kann stellver-tretend für zu beobachtende Tatbeständeherangezogen werden - ist gekennzeich-net durch den weitestgehend unverzicht-baren Einsatz ehrenamtlicher Mitarbeiter.War das Rabenhaus bereits von Beginnan als „Sparmodell“ konzipiert, so wurdees im Verlauf der Jahre durch die Kürzunghauptamtlicher Stellen (es sind jetzt an-derthalb statt der ursprünglich zwei, abereigentlich benötigten drei) noch „ver-schlankt“. Aus der Not wurde eine Tu-gend und diese Tugend wiederum notwen-dig für den Fortbestand der Einrichtung.Natürlich fühlen sich ehrenamtliche Mitar-beiter motiviert angesichts des umfangrei-chen ehrenamtlichen Einsatzes der Haupt-amtlichen, die „neben“ ihrer immensenTätigkeit beispielsweise noch die (zumTeil von ihnen selbst bezahlte!) Betreuungvon Feriencamps übernehmen. Einzigartigdürfte auch der Umzug des Rabenhausesvon der Borgmannstraße in die Puchan-straße sein: Mit notwendiger Renovierungund zweckmäßiger Einrichtung geschahdies fast ausschließlich durch den Arbeits-einsatz, durch Material- und Geldspendenvon Vereinsmitgliedern und ehrenamtli-chen Mitarbeitern. Mit Recht ist das Ra-benhaus stolz auf das Engagement seinerEhrenamtlichen und auf die durch sie unddie Hauptamtlichen ehrenamtlich erarbei-teten Ergebnisse. Und so ist längst einsubjektives Wollen (ein „Wohlwollen“ wie- wir erinnern uns - die Franzosen es be-zeichnen) der Ehrenamtlichen zu einer ob-jektiven Notwendigkeit geworden. Aucheine mentale „Wohlfühlsituation“, die sichim Verlauf der Zusammenarbeit einstellenmag, kann die inzwischen eingetreteneRealität nicht widerlegen: Ein anfängli-ches „Möchten“ wird zum „Müssen“, umden Gang des Ganzen aufrechtzuerhal-ten, um Verstimmungen und Enttäuschun-gen zu vermeiden.

Person und Persönlichkeit des Ehren-amtlichen prägen Aktivitäten und Angebo-te - in jedweder Hinsicht; individuelle Viel-falt und subjektive Grenzen markierenfolglich Projekte und Kurse. Das betrafden deutsch-französischen Austausch (derohne die ehrenamtliche Begleitung durcheinen ehemals hauptamtlichen Mitarbeiternicht weiterzuführen gewesen wäre) eben-so wie es Medienwerkstatt und Compu-terangebote, künstlerisches Gestalten oderMal- und Zeichenkurse betrifft.

Aus all den genannten Gründen undÜberlegungen (und der noch zahlreichenungenannten) setzt sich immerhin - wie ichkürzlich im Wahlprogramm einer großenLinkspartei las - diese „für eine gesell-schaftliche Aufwertung des Ehrenamtes“ein. Dabei „distanziert sie sich deutlichvon Auffassungen von Teilen der in Berlinregierenden Parteien, die das Ehrenamtals Alternative zum Rückzug des Staatesaus seinen Pflichtaufgaben mißbrauchenwollen“. Und weiter heißt es: „Das freiwil-lige, unbezahlte und gemeinnützige eh-renamtliche Engagement der Bürgerinnenund Bürger kann bezahlte Arbeit nicht er-setzen.“ Darüber darf zumindest nachge-dacht werden. Und dies auch unter demAspekt, daß ehrenamtliche Mitarbeiternormalerweise die ständige Möglichkeitzum Rückzug aus ihrer unbezahlten Arbeithaben (sollten), die Lebensfähigkeitlangjähriger Projekte dagegen von ihrerPlanbarkeit und also der uneingeschränk-ten Verfügbarkeit bezahlter Mitarbeiterabhängt.

Der Verfasser dieses Beitrages arbeitetübrigens selbst seit längerer Zeit ehren-amtlich; er entzieht sich damit dem Ver-dacht, mit einem gewaltsam herbeigeführ-ten Mißton das Hohelied vom Ehrenamttrüben zu wollen. Es soll lediglich dazuangeregt werden, Text und Noten diesesLiedes genau zu prüfen, ehe man sich ent-schließt, laut mitzusingen.

Was nützen

die besten

Worte, wenn

sie über die

Wirklichkeit

hinweg-

täuschen?

Kurt Tucholsky

Page 56: Rundbrief 2-1999

Der RUNDBRIEF erscheint mit finanzieller Unterstützung der „Glücksspirale”