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BURKINA FASO Noma dank Sensibilisie- rung früher entdecken SENEGAL Kindsmisshandlungen vorbeugen N° 260 / Oktober 2018 BERICHT Die Widerstandskraft fördern JAB CH 1008 Prilly Post CH SA

SENEGAL BERICHT BURKINA FASO - Sentinelles...Justine, eine 50-jährige Frau, lebt mit ihrer fünfzehnköpfigen Familie in extremer Armut. Verheiratet mit einem Alkoholiker, erlitt

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BURKINA FASONoma dank Sensibilisie-rung früher entdecken

SENEGALKindsmisshandlungen vorbeugen

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BERICHT Die Widerstandskraft fördern

JABCH

1008 PrillyPost CH

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| KONGO

Eine Familie benötigt ein Dach In der Region Nyantende, am Stadtrand von Bukavu, hat das Sentinelles-Team eine neue Familie entdeckt, die völlig mittel-los und verlassen dasteht. Justine, eine 50-jährige Frau, lebt mit ihrer fünfzehnköpfigen Familie in extremer Armut. Verheiratet mit einem Alkoholiker, erlitt sie bis zu dessen Tod nur Gewalt. Zur gleichen Zeit wurden zwei ihrer Töchter schwanger und sind alleinerziehende Mütter geworden.

Darüber hinaus gibt es Konflikte mit Justines Schwiegereltern, die ihr nicht helfen. Mit Hilfe ihrer zwei grossen Töchter ver-sucht die Mutter mit einem kleinen Geschäft zu überleben, das aber bei weitem nicht genug abwirft, um ihre Grundbedürfnisse zu decken.

„Der Schock für mich ist, zu sehen, dass sich ihr Zuhause wegen Geldmangels verschlechtert und die Lebensbedingungen unhalt-bar werden. Die überall durchgebrochenen Wände halten nicht mehr. Während der Regenzeit ist das Haus überflutet und die Familie, die kein Bett hat, kann wegen des Schlamms, der in die Hütte eindringt, nachts nicht schlafen “, berichtet die neue Programmleiterin bei der Rückkehr von ihrem ersten Einsatz.

Das Ziel von Sentinelles ist, dieser Familie aus ihrem Elend zu helfen, diesen jungen Frauen ihr Leben zurückzugeben und eine Zukunft für ihre Kinder sicher zu stellen. Fortsetzung folgt in einer der nächsten Ausgaben.

MADAGASCAR, DIE VERGESSENEN DES FORTSCHRITTS

In Madagaskar leidet jedes zweite Kind unter fünf Jahren unter einer Wachstumsstörung, acht von zehn Jugendlichen arbeiten im informellen Sektor, das Land liegt an fünfter Stelle der Welt mit der höchsten Anzahl von Kindern, die nicht zur Schule gehen. Diese Liste könnte mit weiteren Indikatoren beliebig verlängert werden.

Das Wirtschaftswachstum von mehr als 4% seit 2016 kommt offensichtlich nicht allen zugute. Und als im selben Jahr der amtierende Präsident ausrief: «Beweisen Sie mir, dass die Madagassen verarmen», war die Empörung auf der Großen Insel gross. Zwei lange Jahre nach diesem zynischen Satz, und ohne die kleinste Veränderung für einen großen Teil der Bevölkerung, ist die Wut der Müdigkeit und Resigna-tion gewichen.

Wie könnte es anders sein, werden Sie zu mir sagen? Ist das dringendste nicht das Überleben?

Doch die Energie der Bauern, die nur Ihre Hände als Werk-zeug für Ihre Arbeit haben, die Kreativität und Erfindungs-gabe junger Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, der Mut unternehmerischer Frauen, ihre Stärke, rütteln an dieser Gewissheit. In einem Umfeld grassieren-der Armut verdienen all diese Männer und Frauen, die Hel-den des Alltags, unseren Respekt. Sie stehen immer wieder auf. Aber Sie, Herr Präsident, der ihre Bedürfnisse während Ihres gesamten Mandats nicht gesehen hat, werden wahr-scheinlich keine Augen haben, um weder ihren Willen noch ihre Würde zu sehen.

2 | SENTINELLES | Oktober 2018

Leitartikel

K U R Z G E S A G T

Marlyse Morard Geschäftsführerin

Sentinelles wurde 1980 von Edmond Kaiser frei von jeglicher Ideologie gegründet und setzt sich für die Rettung und Beglei-tung von unendlich verletzten Kindern und Erwachsenen ein.

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Bei einem Besuch von mehreren von uns betreuten Familien in der Gegend von Analavory, stiess unser Team bei einer Familie auf eine positive Überraschung. Es geht ihnen recht gut und ihre Anstrengungen haben, zusammen mit unserer Unterstützung, Früchte getragen.

Anicet, ein Junge, der beidseitig an Klumpfüssen und einer Lip-pen-Gaumenspalte gelitten hatte, war von seinen Eltern behan-delt worden, was aber wegen Geldmangels abgebrochen werden musste. Jemand, der unsere Arbeit kannte, hat uns auf sie auf-merksam gemacht. Das Kind war damals 2 ½ Monate alt und schwer unterernährt. Es ist bekannt, dass Kinder mit einer Lip-pen-Gaumenspalte sehr schlecht an der Brust der Mutter trin-ken können. Notfallmässig wurde die Ernährung von Anicet auf-gebaut, danach folgte die Behandlung seiner Füsse sowie eine strenge Gewichtskontrolle, damit er das ideale Gewicht für die Operation seiner Lippen-Gaumenspalte erreichen konnte.

Während dieser Zeit bemühten wir uns auch um die Verbesse-rung der wirtschaftlichen Situation der Familie. Mittels eines bescheidenen Mikro-Kredits (ca. 15 SFr.) konnte sein Vater einen kleinen Gemüseverkauf beginnen. Dieser lief so gut, dass die Familie sogar nach dem Abschluss unserer Betreuung im Jahr 2016 noch Ersparnisse machen konnte. Im Jahr 2017 konnten die Eltern einen eigenen Lebensmittelladen eröffnen, der zum Leben und für die Einschulung der Kinder genügt. Anicet ist jetzt ein gesunder kleiner Junge und hat den Übertritt ins zweite Schul-jahr geschafft.

| SUISSE / BURKINA FASO

Zurück in die HeimatBalkissa und Yérissieni, die beiden Mädchen aus Burkina Faso, die an Noma-Folgeer-krankungen litten und über die wir in unserer letzten Ausgabe berichtet haben, sind im Juni mit dem Flugzeug nach Hause zurückgekehrt. Mit einer Mischung verschiede-ner Emotionen haben wir uns von ihnen verabschiedet. Einerseits war da die Freude, zu sehen wie sie geheilt wurden und dass sie in ihre Familie und in ihr Land zurück-kehren können; anderseits aber auch die Traurigkeit, diese beiden liebenswerten Kin-der, zu denen im Laufe unserer Betreuung starke Bindungen entstanden sind, gehen lassen zu müssen. Wir haben sie der Begleiterin von „Aviation Sans Frontières“, einem langjährigen Partner von Sentinelles, anvertraut. Sie hat sich auf der ganzen Rückreise um sie gekümmert. Sie sind gut am Ziel angekommen, wo sie von ihren Familien und einem unserer Mitarbeiter empfangen wurden.Sie werden im Pflegezentrum von Sen-tinelles weiterhin betreut, damit die Fortsetzung ihrer Behandlung unter guten Bedin-gungen stattfinden kann. Wir wünschen ihnen nur das Beste für die Zukunft!

| ONLINE

Neue Videos

Entdecken Sie auf unserer Website www.sentinelles.org einige Filme, die wenige Minuten dauern, um auf spielerische und bildhafte Weise unsere Programme auf der ganzen Welt kennenzulernen. Sie wur-den vollständig von einem unserer Prak-tikanten, Marc Bavaud, konzipiert und realisiert. Der erste Film, der der Demo-kratischen Republik Kongo gewidmet ist, zeigt die Tätigkeiten von Sentinelles, um verlassenen Frauen und deren Kindern in extrem prekärer Lage, Unterstützung anzubieten. Sie werden darin sehen, wie unsere Mitarbeiter sie mit einer partizipati-ven und respektvollen Betreuung bis zum Erreichen ihrer Selbständigkeit begleiten.

| MADAGASKAR

Anicet| Waffenausfuhr

Stellungnahme von Sentinelles

Sehr geehrte Damen und Herren Mitglieder des Bundesrats,In einer Pressemitteilung vom 27 Dezember 1979 hatte Ed-mond Kaiser, Gründer von Terre des hommes und Sentinel-les - zur Rettung der verletzten Unschuld, sich mit folgen-den Worten gegen die Waffenausfuhr ausgesprochen: „Den Hungerstreik begann ich in der Absicht, das schweizer Volk auf unsere ständige Mittäterschaft – mittels unseres Geschäfts mit Waffenexporten – an dem Massaker Unschul-diger, die uns nichts angetan haben, aufmerksam zu ma-chen. Jeder Einzelne (Erwachsene und Kinder) ist gefragt, vehement und dringend, seinem Entsetzen, seiner Entrüs-tung und seiner Ablehnung Ausdruck zu geben, sich dabei persönlich und direkt an den obersten Verantwortungsträ-ger, den Bundesrat, zu wenden, und jenen dadurch mit den Wurzeln unserer Geschichte zu konfrontieren: Liebe der Menschlichkeit in Brüderlichkeit und Ehren“. Heute, in An-betracht ihrer furchtbaren Absicht zur Lockerung des Geset-zes der Waffenausfuhr, ist dieser Text, fast 40 Jahre später, erneut von grosser Aktualität. Wir ersuchen Sie, von dem Vorhaben abzusehen: noch mehr Unschuldige sähen sich dem vernichtendem Wahnsinn ausgesetzt; es stünde im Wi-derspruch zur humanitären Tradition unseres Landes, sei-ner Glaubwürdigkeit und seinem Engagement zu Gunsten des Friedens. Im Vertrauen auf Ihre Menschlichkeit, senden wir Ihnen unsere hochachtungsvollen Grüsse,

Im Namen für den Stiftungsrat von SentinellesChristiane Badel, Vorsitzende, Bruno Barthélemy, Mitglied

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4 | SENTINELLES | Oktober 2018

| SENEGAL

Sensibilisierung gegen KindsmissbrauchIn den Schulen von Mbour spielen die Schüler ein Theaterstück, um ihre Kameraden bezüg-lich Kindsmissbrauchs aufzuklären, der in gewissen Haushalten Senegals existiert.

ren die Aufführung und erzählen danach ihren Kameraden was sie gesehen haben.

EIN ANSPRECHENDES THEMAIm Senegal ist es schwierig, die Türen zu schliessen, die hier - wie wir es täglich erleben – offenbar dafür gemacht sind offen zu bleiben. Das Publikum, das normalerweise auf 150 Kinder beschränkt ist, überschreitet während der letzten Vorstellung 300 oder sogar 400 Leute. Viele neugierige kleine Kinder befin-den sich im Publikum. Angesichts dieser grossen Menschen-menge ist es überraschend leise bevor das Stück beginnt. Das Thema scheint die Leute sehr anzusprechen. Welch ein Erfolg! Die Aufführung wird mit einer alltäglichen Szene eröffnet: Eine Mutter befiehlt ihrer Tochter das Geschirr abzuwaschen. Sie schreit sie laut an und schlägt sie schließlich, weil sie denkt, dass ihre Tochter nicht schnell genug arbeitet. Missbrauch, ob physisch oder psychisch, wird in all seinen Formen dargestellt. Vergewaltigung, Beschneidung von Frauen, Ausbeutung, Schla-gen - all das wird in Alltagsszenen gezeigt, damit sich die Kinder im Dargestellten erkennen und auf sich selbst beziehen können.

Ein Vater, der beschließt seinen Sohn in eine Daara mit einem tyrannischen Marabut zu schicken; ein Mädchen, das im Namen der Tradition von ihrer Tante beschnitten werden soll; ein wei-teres Kind, das von seinem Onkel vergewaltigt und später von seiner Familie verstossen wird; Talibés, die gezwungen werden,

Regelmäßig kümmert sich Sentinelles um misshandelte Kin-der. Wir behandeln sie und organisieren ein soziales Begleit-programm, um die besten Lösungen für ihre Zukunft zu finden. Ein Kind, das geschlagen, vergewaltigt oder ausgebeutet wurde, muss gerettet werden. Vor allem aber sollte es gar nicht dazu kommen, dass ein Kind geschlagen, vergewaltigt oder ausgebeu-tet wird. Aus diesem Grund will Sentinelles nicht nur Opfern hel-fen, sondern engagiert sich mehr und mehr in der Prävention der schlechten Behandlung von jungen Menschen. Wir stellen fest, dass Missbrauch und Vernachlässigung in einigen senegalesi-schen Haushalten existieren. Diese Kinder haben nicht immer erkennbare Anzeichen von Missbrauch; trotzdem leiden sie im Kreis ihrer Familie, ohne dass wir das Geringste davon wissen.

Zum Thema der Verteidigung der Kinderrechte und Missbrauchs-prävention hat Sentinelles in fünf Schulen in Mbour ein Sensi-bilisierungsprojekt gestartet. Ein senegalesischer Theaterdirek-tor, Spezialist für Gruppensensibilisierung, wurde beauftragt ein vielversprechendes Projekt für Schulkinder in die Wege zu leiten.

Sobald der angesprochene Schulleiter das Projekt gutheisst, werden ein dutzend Treffen in der jeweiligen Schule organi-siert. Der Regisseur wählt unter den Schülern die Schauspie-ler für das Sensibilisierungsevent aus und bereitet sie darauf vor, ein kleines Theaterstück vor ihren Kameraden aufzuführen. Schlussendlich besuchen 150 Schüler zwischen 10 und 15 Jah-

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auf dem Markt zu betteln um ein paar Münzen zu erhalten: diese stark emotionalen Szenen des Stücks werden von den frischge-backenen Schauspielern auf geniale und engagierte Weise dar-geboten.

„Der Ort eines Kindes ist weder am Busbahnhof noch

auf dem Bettelmarkt“, „Eltern zu sein bedeutet für

seine Kinder verantwortlich zu sein“, „Beschneidung

kann schwerwiegende Folgen für die Gesundheit von

Mädchen haben“, das sind die Slogans, die in wolof und

französisch während des ganzen ersten Akts erklingen.

Während das Publikum wohl bereits im ersten Akt die Schwere der von den Erwachsenen begangenen Handlungen verstan-den hat, wird der zweite Teil des Stücks die Botschaft definitiv im Bewusstsein verankern. Mit Hilfe eines grossen Posters, auf dem eine Gerechtigkeitswaage abgebildet ist, wird die Bühne zum Gerichtssaal. Die Schauspieler tragen schwarze Roben und über-nehmen mit ernster Miene die Rollen von Richtern, Anwälten, Staatsanwälten... und Angeklagten. Ein Erwachsener nach dem anderen wird vor Gericht gestellt. Der Verteidiger und der Staats-anwalt halten jeweils ein Plädoyer, doch der letztere zeigt sich jedes Mal viel überzeugender und schwenkt drohend grosse Bilder der geschändeten Körper der missbrauchten Kinder. Zwei Monate Gefängnis für den schrecklichen Marabut. „Nur zwei Monate?“, ruft ein entsetzter junger Mann aus dem Publikum. Zehn Jahre Gefängnis für den Vergewaltigeronkel. „Ich hätte ihm zwanzig gegeben“, fügt ein etwas enttäuschtes junges Mädchen hinzu.

EIN ERSTER SCHRITT IN RICHTUNG HILFEDas Stück zielt darauf ab, Kinder auf den Missbrauch aufmerk-sam zu machen der sie betreffen könnte. Aber was sollen sie tun, wenn es passiert oder wenn sie einen Klassenkameraden ken-nen, der Missbrauch zum Opfer gefallen ist? Um diese Fragen zu beantworten, werden Persönlichkeiten aus der Gemeinde zu diesen Sensibilisierungsevents eingeladen um sich vorzustel-len. Anwesend sind Nachbarschaftsdelegierte, die Gemeinde-leiter und die „Baygénougokh“, die Verantwortliche für soziale Gesundheit und gute Praktiken in ihrem Bezirk. Sie alle unter-streichen, dass sie im Falle von Misshandlung und Schwierig-keiten in der Familie für die Kinder da sind.

Diese Sensibilisierungsevents sind sehr wichtig, um überholte Auffassungen über Bord zu werfen und den aktuellen Praktiken, die die Rechte des Kindes im Namen von Gewohnheiten oder Traditionen missachten, ein Ende zu setzen. Diese Events sind insofern nützlich, weil den Kindern, die sich in einer schwieri-gen Situation befinden, Lösungen durch wichtige Persönlichkei-ten der Gemeinde aufgezeigt werden. Die Schulen werden dann ein zweites Mal aufgesucht um sich bei den Lehrern zu erkundi-gen, ob sie einigen Kindern bereits helfen konnten. Wahrschein-lich kann Sentinelles durch diese Sensibilisierungsaktionen den Kindsmissbrauch nicht in allen Haushalten der Anwesenden stoppen. Doch wenn auch nur ein Kind Trost und Hilfe findet hat sich der Aufwand bereits gelohnt. Alles deutet darauf hin, dass andere Kinder das Sensibilisierungsevent verändert ver-lassen, die Botschaft verstanden haben und bereit sind, diese eines Tages auch an ihre zukünftigen Kinder weiterzugeben. ■

COUMBA WIRD ZU HARTER HAUSARBEIT GEZWUNGEN

Coumba Sene, eine Bauerntochter, ist das einzige Mädchen von acht Kindern. Sie wird im sehr jungen Alter bereits nach Dakar geschickt, um bei ihrer Tante zu leben. Dort wird sie regelmäßig misshandelt. Immer morgens bevor sie zur Schule gehen kann, muss sie Wasser holen und alle Hausarbeiten erledigen. Wenn sie zurückkommt muss sie für den ganzen Haushalt kochen. Coumba wird nicht nur von ihrer Tante geschlagen, wenn diese das Gefühl hat, die Hausarbeiten seien nicht gut genug ausgeführt worden; sie hat auch keine Zeit, ihre Hausaufgaben zu machen und die Unterlagen durch-zulesen. Ihre Nachbarn intervenieren mehrmals, um einen unglücklichen Ausgang der Gewalt der sie ständig ausgesetzt ist, zu vermeiden.

Coumba hat jedoch Spass am Lernen und ist eine brillante Schülerin. Die Schule ist ihr einziger Lichtblick. Als sie bemerkt, dass sich ihr Sehvermögen verschlechtert und sie nicht mehr von der Tafel lesen kann ohne näher hinzugehen, teilt sie dies niemandem mit – weder den Lehrern noch ihren Eltern - aus Angst, die Schule abbrechen zu müssen. Aber das ist genau was eintrifft ohne dass weder ihre Eltern noch ihre Lehrer informiert waren. Ihre Tante bringt sie zu einem Arzt, ignoriert aber die empfohlene Behandlung. Coumbas Gesund-heit verschlechtert sich stetig und die Tante nimmt sie aus der Schule. Dank eines Besuches ihres Onkels werden Coumbas Eltern über die Situation informiert und diese holen sie in ihr Dorf zurück. Es stellt sich heraus, dass Coumba an einem Gehirntumor leidet. Sie wird schließlich mit Unterstützung von Sentinelles operiert. Auch wenn ihr Leben jetzt nicht mehr in Gefahr ist, ermöglicht die späte Operation leider keine Rege-neration ihres Sehvermögens. Sentinelles unternimmt derzeit die notwendigen Schritte, damit sie in Senegals einziger Blin-denschule aufgenommen wird. So wird ihr.

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6 | SENTINELLES | Oktober 2018

In Burkina Faso sind Sensibilisierung und Prävention Noma betreffend wichtig, um das Auftreten neuer Fälle möglichst zu verhindern und den betroffenen Kindern zu helfen. Ein Sensibilisierungsprojekt in gros-sem Stil wurde kürzlich mit ebensolchem Erfolg im Osten des Landes durchgeführt.

| BURKINA FASO

Noma dank Sensibilisierung früher entdecken

In jedem Jahr durchquert unser aus dem Sozialarbeiter Moussa und dem Fahrer David bestehendes Tandem das Land, um in den verschiedenen medizinischen Ein-richtungen in Burkina Faso Informationen über Noma zu vermitteln. Sie schildern die Symptome der Krankheit, ihre Ent-wicklung, ihre Folgen und ihre Behand-lung. Sentinelles besucht alle zwei bis drei Jahre die Gesundheits- und Sozial-förderungszentren (CSPS) in den besuch-ten Regionen, um das Gesundheitsperso-nal, das regelmässig versetzt wird, auch zu informieren.

BEGEGNUNGEN MIT DER BEVÖLKERUNGDie Prävention hat sich auch auf die Bevölkerung von gefährdeten Regionen ausgedehnt. Ein von Sentinelles entwi-ckeltes und von der Noma-Hilfe Schweiz gefördertes Sensibilisierungsprojekt in grossem Stil hat von 2015 bis 2017 in 315 Dörfern im östlichen Burkina Faso Informationen verbreitet. Diese Region ist zusammen mit der Sahelzone dieje-nige, in der Sentinelles die meisten Fälle von Noma festgestellt hatte. Germain und Ludovic, die an diesem Projekt beteiligt waren, gingen jeden Morgen in die Dör-fer. Zu Anfang der Sitzungen in Schulen, Gesundheitszentren oder im Schatten eines Mangobaumes wird ein Film über Sinn und Zweck der Sensibilisierung

gezeigt, auf den ein direkter Austausch mit der Bevölkerung folgt.

Ziel der Diskussionen ist es, bestimmte populäre Überzeugungen in Frage zu stellen, die Noma einem Fluch oder Pech zuschreiben. Manche haben auch Angst vor einer Ansteckung, die allerdings nicht existiert. Germain und Ludovic informie-ren über die Warnzeichen der Krankheit – etwa eine simple Zahnfleischentzün-dung – damit die Eltern schon früher mit den Kindern zu einer Konsultation kom-men. Sie sprechen über Risikofaktoren und erteilen Ratschläge.

Stillen, Zahnreinigung mit einer

Zahnbürste oder einem Stöckchen

und Impfungen gegen Kinderkrank-

heiten helfen, die Risiken oder Fol-

gen dieses vernichtenden Übels zu

begrenzen.

Sie beruhigen schließlich Eltern, die mit Noma konfrontiert sind, indem sie erklä-ren, dass sie nicht alleine sind, dass die Krankheit behandelt werden kann und dass man die Folgeschäden, unter denen ihr Kind leidet, teilweise durch Operati-onen korrigieren kann. Ein sehr belieb-ter Wettbewerb schliesst die Sitzungen ab. Die beiden jungen Männer haben mit viel Engagement einen schwierigen und

beeindruckenden Job gemacht. Germain erzählte uns mit großer Rührung, dass er von der harten Realität so vieler Men-schen in diesen abgelegenen Dörfern im Busch von Burkina Faso überrascht war. Er stammt ursprünglich aus Ouagadou-gou, und ihm war nicht klar gewesen, an wieviel Armut und Unterernährung ein großer Teil der Bevölkerung in seinem Land leidet, und wie gross die Isolation und der Mangel an Informationen, Hygi-ene und Zugang zu elementarer Gesund-heitsversorgung sind.

DIE RADIOSENDER MACHEN MITDieses Sensibilisierungsprojekt in den Dörfern der östlichen Region war ein Erfolg. Die im Jahr 2017 durchgeführte Evaluierung zeigt, dass fast alle Dörfer besucht wurden und dabei eine Anzahl von fast 80,000 Menschen erreicht wurde. Die Analyse der CSPS-Register sechs Monate vor und nach den Sensibilisie-rungstreffen zeigte eine Zunahme früher Konsultationen für Zahnfleischentzün-dungen, was eines der wichtigsten Prä-ventionsziele ist.

Die Projektanalyse zeigte auch, wie wich-tig es ist, in der Region verankert zu sein, zum Beispiel über Gemeinschaftsrelais, um die Botschaften in den Dörfern nach-haltiger zu vermitteln. Zu diesem Zweck beteiligen sich Radiosender wie „Voix du Paysan“ an einem neuen Sensibilisie-rungsprojekt, das dieses Jahr in Zusam-menarbeit mit der „Chaîne de l›espoir“ begonnen hat. Unser Team wird alle CSPS der „Boucle de Mouhoun“ – die 6 Provin-zen im Westen des Landes umfasst – sen-sibilisieren, während die Radiosender die Sensibilisierung in den Dörfern dieser Region durch Debatten, die Verbreitung von Nachrichten und die Daten der Vor-stellungen des Forum-Theaters überneh-men. Eine wichtige Arbeit, die wir gerne in Zusammenarbeit mit anderen Organisa-tionen fortsetzen. Es gibt in diesem Land so viel an Vorbeugung zu tun! ■

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Marieta ist definitiv eine Überlebende. Vor allem dank ihres Lebenswillens, aber auch dank einer unglaublichen Solida-ritätskette, zu der ein Arzt des medizini-schen Zentrums in Zorgho gehört. Im Juli 2017 kontaktierte er uns, um ein fünfjäh-riges Mädchen, das an Noma im Akutsta-dium litt, in unser Pflegezentrum in Oua-gadougou zu überweisen. Soweit ist das das normale Vorgehen. Gesundheitsper-sonal und Ärzte bringen uns regelmäßig Kinder, die an dieser Krankheit leiden, da unser Pflegezentrum für die Behandlung von Noma-Fällen bekannt ist. Aber der Rest der Geschichte ist aussergewöhnlich und wird empörender und tragischer, als alles was man sich vorstellen kann.

Wie erklärt man den Leidensweg

der kleinen Marieta? Eine solches

Verlassenwerden ist schwer vor-

stellbar.

Marietas Vater ist gegen eine medizini-sche Versorgung und ihre Verlegung in die Notaufnahme in Ouagadougou. Wir kontaktieren die Sozialbehörde und ver-schiedene Vermittler, die vergeblich mit dem Vater sprechen. Eine Delegation unseres Teams begibt sich danach nach

Zorgho, um ihn davon zu überzeugen, uns seine Tochter anzuvertrauen. Ihre Mutter ist gestorben, und Marieta lebt bei ihrem Vater, der mehrere andere Frauen und Kinder im gleichen Familienhof hat. Im Laufe der Diskussion verstehen wir, dass der Vater sie nicht nur aus Nachläs-sigkeit nicht in ein Gesundheitszentrum gebracht hat, sondern dass er sie sterben lassen wollte!

Die Betreuerin der benachbarten Schule, die sich seit einiger Zeit Sorgen wegen Marietas Abwesenheit macht, wo sie doch jeden Tag im Schulhof spielen kam, entdeckte Marieta, die in einer Ecke des Familienhofs im Stich gelassen worden war. Ihr Vater ließ sie ohne Wasser oder Essen mit dem Tode ringen. Schlimmer noch, er erzählte uns, dass er bereits das Leichentuch und Schaufeln vorbereitet hatte, um sie zu begraben. Schließlich stimmt er zu, uns Marieta anzuvertrauen. Nemata, ihre 12-jährige Halbschwester, begleitet uns zum Pflegezentrum, um sich um sie zu kümmern. Später erfahren wir, dass Marieta seit Geburt HIV-positiv ist, aber nie eine antiretrovirale Therapie erhalten hat, die in Burkina Faso kosten-los ist. In den folgenden Wochen kommt Marieta durch Pflege und gute Ernäh-

rung schnell wieder zu Kräften. Der psy-chologische Schaden, der durch eine sol-che Situation von Verlassenheit entsteht, bleibt jedoch bestehen. Wenn wir sie wie so viele sorglose Kinder lachen und im Hof von Sentinelles spielen sehen, sind wir sehr glücklich darüber, dass wir bei Marieta diese unglaubliche Widerstands-fähigkeit feststellen dürfen und dass sie im richtigen Moment Schutzengel hatte, die es uns ermöglichten, sie zu treffen.

Im April 2018 konnte Marieta zur Familie ihrer Mutter zurückkehren, die sie liebe-voll willkommen hieß. Sie lebt seitdem mit ihrer grossen Schwester Nemata in der Hütte ihrer Großmutter, gut betreut von ihren Onkeln mütterlicherseits. Hervé und Marie-Lou, zwei Studierende der Ecole Romande d›Arts et Communi-cation, die für Sentinelles einen Doku-mentarfilm über Noma gedreht haben, begleiteten unser lokales Team während der Familienzusammenführung. Ihr sehr umfassender Film stellt die Problematik von Noma dar und zeigt ausführlich deren Verlauf. Marieta, die Noma-Überlebende, wurde so zur Heldin eines Dokumentar-films, der dazu beitragen kann, zu sensi-bilisieren und Situationen zu verhindern, denen andere ■

Marieta, eine Noma-Überlebende

Oktober 2018 | SENTINELLES | 7

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8 | SENTINELLES | Oktober 2018

Als ich – damals war ich gerade als Freiwillige für sechs Monate bei einer Organisation in Kalkutta – auf eine Anzeige von Senti-nelles, die mir meine Eltern zugestellt hatten, reagierte, dachte ich kaum, dass sich mein Leben dadurch so verändern würde. Das war 1996 und bis heute, wo die Stunde meiner Pensionie-rung schlägt, habe ich die Stiftung nicht verlassen.

Als mein Vertrag in Indien auslief und nachdem ich einen zwei-wöchigen Aufenthalt in Nepal verbrachte, um das dort von Sen-tinelles gestartete Programm für die Kinder in den Gefängnissen und die Strassenkinder kennenzulernen, bin ich an den Fuss des Himalayas zurückgekehrt, um dort eine der bedeutendsten Zei-ten meines Lebens zu verbringen. Diese zwei Jahre des freiwil-ligen Einsatzes waren meine Ausbildung, der Grundstein mei-nes Engagements und die Bestätigung meiner Motivation etwas für die Ärmsten zu tun, und mein Glück unter einem besseren Stern geboren worden zu sein, zu teilen. Dort, nahe der Berge, inmitten der Kinder und von nepalesischen Mitarbeitern beglei-tet, erlebte ich manchmal schwierige aber überwiegend schöne Momente.

Dann folgte die Rückkehr in die Schweiz, mit regelmässigen Einsätzen vor Ort; die Beziehungen zu Nepal wurden stärker und es entstanden neue, in Indien. 2007 wurde in der östlichen Region des Süd-Kivu in der Demokratischen Republik Kongo, die so stark unter mehreren Kriegen gelitten hat, das Programm von Sentinelles für Frauen und deren Kinder, die Opfer von

Meine 22 Jahre bei à Sentinelles

Gewalt wurden, gestartet. Und so hat mich ein zweiter Konti-nent adoptiert. Die DR Kongo ist eines der ärmsten Länder der Welt und während all dieser Jahre konnte ich keine Verbesse-rung der Infrastrukturen, Strassen oder der allgemeinen Situa-tion des Landes beobachten. Die Mehrheit der Kongolesen lebt in grosser Armut und die tragischen Lebensbedingungen, die von unzähligen Frauen erduldet werden müssen, sind unwürdig. Ihre Widerstandskraft gegenüber diesem unerträglichen Leid ist bewundernswert; sie legen einen bemerkenswerten Mut an den Tag.

Die bescheidenen Hilfe, die Sentinelles leisten kann, ist oft der einzige Hoffnungsschimmer in ihrem Leben in Elend und Ent-würdigung. Sie auf dem Weg zur Widerstandskraft fördern zu dürfen ist ein Privileg. Es bräuchte noch einige Wassertropfen mehr, damit diese kleinen verstreuten Tröpfchen einen Wandel in der allgemeinen Lage des Landes bewirken könnten, aber sie sind wichtig und unabdingbar für jene, denen sie zu Gute kom-men. Jeder Besuch bei den betreuten Familien und bei den Kin-dern, die sich endlich sattessen können und so stolz sind in die Schule zu gehen, lässt daran keine Zweifel.

Die schönen Hügel des Süd-Kivu auf der Suche des verletzten und erniedrigten Volks der Kongolesen zu durchstreifen lässt einen nicht unversehrt. Jetzt da ich mich zurückziehe, ist es das Bild dieser frohen und frechen Kinder und ihrer mutigen Mütter mit dem wiedergefundenen Lächeln, das ich behalten möchte. ■

Claudine Bonis berichtet von ihrem treuen Einsatz zur Rettung der geschändeten Unschuld.

Les Cerisiers, route de Cery CH -1008 Prilly / Lausanne (Suisse) Tel. +41 21 646 19 [email protected] www.sentinelles.org

Postscheck-Konto: Lausanne 10 - 4497- 9 Kantonalbank Waadt, 1001 Lausanne: BIC/SWIFT BCVLCH2LXXX Schweizer Franken Konto : IBAN CH12 0076 7000 S045 9154 0 Euro Konto : IBAN CH14 0076 7000 T511 2794 9

Auflage: 35.000 Exemplare (fr/de/eng)Abonnement: CHF 20.–/J (sechs Ausgaben) Verleger: SentinellesLayout: Mathias Regamey Druck: PCL Presses Centrales SA