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S230 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 Der 26-jährige Pilot eines Segelflug- zeugs stürzte unmittelbar nach dem Start aus einer Höhe von 120 m in die Tiefe, davon ungefähr 40 m im freien Fall (Abb. 1 a). Die geschätzte Energie beim Aufprall betrug 40g. Der Patient war so- fort bewusstlos und gelangte nach der Erstversorgung am Unfallort bei stabi- len Vitalparametern mit dem Rettungs- hubschrauber in die Klinik. Nach klini- scher und radiologischer Diagnostik (Standardröntgen, CT) wurden folgende Diagnosen gestellt: 1. Schädel-Hirn-Trauma Grad 2 mit fronto- parietaler Kontusionsblutung links 2. Isthmusfraktur des Axis (Typ Effendi II) 3. stabile Keilkompressionsfrakturen des 12. Brustwirbel- und 1. Lendenwirbel- körpers 4. stumpfes Thoraxtrauma mit Lungen- kontusion beidseits 5. partielle Strecksehnendurchtrennung D3 links mit multiplen Rissquetsch- wunden 6. geschlossene Unterschenkelschaftfrak- tur links (B3 nach AO) 7. komplexes Fußtrauma links mit zweitgradig geschlossener distaler Fibulafraktur (Typ Weber B) drittgradig offener Talusluxations- trümmerfraktur (Typ Hawkins IV) drittgradig offener Kalkaneusfraktur mit Abscherung des Sustentaculum tali und Zerstörung der posterioren Gelenkfacette (4 Fragment/2 Gelenk/ Sanders IV) zweitgradig geschlossener Metatar- sale-V-Schaftfraktur Die Verletzungsschwere entsprach einem Polytrauma mit einem Injury-severity- Score (ISS) [1] von 34 bzw. einem Poly- traumaschlüssel [23] von 2. Die Verlet- zung des linken Fußes (Abb. 1 b) er- füllte die Kriterien eines komplexen Fußtraumas [24]. Bei 4 betroffenen Etagen (oberes Sprunggelenk, Talus, Kalkaneus, Metatarsale) und einem drittgradig offenen Weichteilschaden ergab sich ein Scorewert von 7. (Ein komplexes Fußtrauma ist bei ≥ 5 Punk- ten gegeben). Primärbehandlung Die dringende Notfallversorgung bestand in der sofortigen Anlage eines Halo- Fixateurs zur Retention der Axisfraktur, der chirurgischen Wundversorgung und der präliminaren Reinigung der durch massive Kontamination mit Erdwerk und Gras verunreinigten Wunde des lin- ken Fußes. Die Analyse des CT (Abb. 1 c) zeigte eine Trümmerfraktur des linken Talus mit Luxation in allen 3 Gelenken (tibiotalar, talokalkanear und talonavi- kular) entsprechend der von Canale u. Kelly [4] der Hawkins-Klassifikation [8] hinzugefügten Gruppe IV. Darüber hi- naus war es zu einem Verlust jeglicher Trauma Berufskrankh 2001 · 3 [Suppl 2]: S230–S235 © Springer-Verlag 2001 Frakturen des Fußes Stefan Rammelt 1 · René Grass 1 · Peter Brenner 2 · Hans Zwipp 1 1 Klinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus,Technische Universität Dresden 2 Plastische en Reconstructieve Heelkunde, Universitaire Ziekenhuizen Gasthuisberg, Leuven, Belgien Septische Talusnekrose nach drittgradig offener Talusfraktur im Rahmen eines komplexen Fußtraumas (floating talus) Dr. Stefan Rammelt Klinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Technische Universität Dresden, Fetscherstraße 74, 01307 Dresden (E-Mail: [email protected], Tel.: 0351-4583777, Fax: 0351-4584307) Zusammenfassung Anhand eines außergewöhnlichen Falls einer drittgradig offenen komplexen Fußverlet- zung mit Zerstörung des Talus und der an- grenzenden Gelenke (floating talus) bei ei- nem jungen Patienten werden die Möglich- keiten und die Grenzen der rekonstruktiven Fußchirurgie dargestellt und diskutiert.Trotz primärer Arthrodese und früher definitiver Weichteildeckung kam es aufgrund des ini- tialen Dislokations-, Zerstörungs- und Konta- minationsausmaßes 4 Monate nach der Ver- letzung zum Vollbild einer septischen Talus- nekrose. Durch eine tibiokalkaneare Kom- pressionsarthrodese mit Ilizarov-Ringfixa- teur konnte der Infekt beherrscht werden. 2 Jahre nach dem Unfall besteht ein belas- tungsstabiler, sensibler, durchbluteter und fast schmerzfreier Fuß, jedoch mit 5 cm Ver- kürzung. Der Verletzte ist im orthopädischen Schuhwerk mit Längenausgleich voll arbeits- fähig. Mit einer Restbeweglichkeit im partiell erhaltenen Chopart-Gelenk resultieren 69 von 95 möglichen Punkten nach dem Mary- land-Foot-Score, was einem guten bis befrie- digenden funktionellen Ergebnis entspricht. Schlüsselwörter Septische Talusnekrose · Offene Talusfraktur · Komplexes Fußtrauma

Septische Talusnekrose nach drittgradig offener Talusfraktur im Rahmen eines komplexen Fußtraumas (floating talus)

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Page 1: Septische Talusnekrose nach drittgradig offener Talusfraktur im Rahmen eines komplexen Fußtraumas (floating talus)

S230 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Der 26-jährige Pilot eines Segelflug-zeugs stürzte unmittelbar nach dem Startaus einer Höhe von 120 m in die Tiefe,davon ungefähr 40 m im freien Fall(Abb. 1 a). Die geschätzte Energie beimAufprall betrug 40g. Der Patient war so-fort bewusstlos und gelangte nach derErstversorgung am Unfallort bei stabi-len Vitalparametern mit dem Rettungs-hubschrauber in die Klinik. Nach klini-scher und radiologischer Diagnostik(Standardröntgen, CT) wurden folgendeDiagnosen gestellt:

1. Schädel-Hirn-Trauma Grad 2 mit fronto-parietaler Kontusionsblutung links

2. Isthmusfraktur des Axis (Typ Effendi II)

3. stabile Keilkompressionsfrakturen des12. Brustwirbel- und 1. Lendenwirbel-körpers

4. stumpfes Thoraxtrauma mit Lungen-kontusion beidseits

5. partielle StrecksehnendurchtrennungD3 links mit multiplen Rissquetsch-wunden

6. geschlossene Unterschenkelschaftfrak-tur links (B3 nach AO)

7. komplexes Fußtrauma links mit– zweitgradig geschlossener distaler

Fibulafraktur (Typ Weber B)– drittgradig offener Talusluxations-

trümmerfraktur (Typ Hawkins IV)– drittgradig offener Kalkaneusfraktur

mit Abscherung des Sustentaculum tali und Zerstörung der posteriorenGelenkfacette (4 Fragment/2 Gelenk/Sanders IV)

– zweitgradig geschlossener Metatar-sale-V-Schaftfraktur

Die Verletzungsschwere entsprach einemPolytrauma mit einem Injury-severity-Score (ISS) [1] von 34 bzw. einem Poly-traumaschlüssel [23] von 2. Die Verlet-zung des linken Fußes (Abb. 1 b) er-füllte die Kriterien eines komplexenFußtraumas [24]. Bei 4 betroffenenEtagen (oberes Sprunggelenk, Talus,Kalkaneus, Metatarsale) und einemdrittgradig offenen Weichteilschadenergab sich ein Scorewert von 7. (Einkomplexes Fußtrauma ist bei ≥ 5 Punk-ten gegeben).

Primärbehandlung

Die dringende Notfallversorgung bestandin der sofortigen Anlage eines Halo-Fixateurs zur Retention der Axisfraktur,der chirurgischen Wundversorgung undder präliminaren Reinigung der durchmassive Kontamination mit Erdwerkund Gras verunreinigten Wunde des lin-ken Fußes. Die Analyse des CT (Abb. 1 c)zeigte eine Trümmerfraktur des linkenTalus mit Luxation in allen 3 Gelenken(tibiotalar, talokalkanear und talonavi-kular) entsprechend der von Canale u.Kelly [4] der Hawkins-Klassifikation [8]hinzugefügten Gruppe IV. Darüber hi-naus war es zu einem Verlust jeglicher

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S230–S235 © Springer-Verlag 2001 Frakturen des Fußes

Stefan Rammelt1 · René Grass1 · Peter Brenner2 · Hans Zwipp1

1Klinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Universitätsklinikum Carl Gustav Carus,Technische Universität Dresden2Plastische en Reconstructieve Heelkunde, Universitaire Ziekenhuizen Gasthuisberg, Leuven, Belgien

Septische Talusnekrose nach drittgradig offener Talusfraktur im Rahmen eines komplexen Fußtraumas (floating talus)

Dr. Stefan RammeltKlinik und Poliklinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie,Universitätsklinikum Carl Gustav Carus,Technische Universität Dresden,Fetscherstraße 74, 01307 Dresden(E-Mail: [email protected],Tel.: 0351-4583777, Fax: 0351-4584307)

Zusammenfassung

Anhand eines außergewöhnlichen Falls einerdrittgradig offenen komplexen Fußverlet-zung mit Zerstörung des Talus und der an-grenzenden Gelenke (floating talus) bei ei-nem jungen Patienten werden die Möglich-keiten und die Grenzen der rekonstruktivenFußchirurgie dargestellt und diskutiert.Trotzprimärer Arthrodese und früher definitiverWeichteildeckung kam es aufgrund des ini-tialen Dislokations-, Zerstörungs- und Konta-minationsausmaßes 4 Monate nach der Ver-letzung zum Vollbild einer septischen Talus-nekrose. Durch eine tibiokalkaneare Kom-pressionsarthrodese mit Ilizarov-Ringfixa-teur konnte der Infekt beherrscht werden.2 Jahre nach dem Unfall besteht ein belas-tungsstabiler, sensibler, durchbluteter undfast schmerzfreier Fuß, jedoch mit 5 cm Ver-kürzung. Der Verletzte ist im orthopädischenSchuhwerk mit Längenausgleich voll arbeits-fähig. Mit einer Restbeweglichkeit im partiellerhaltenen Chopart-Gelenk resultieren 69von 95 möglichen Punkten nach dem Mary-land-Foot-Score, was einem guten bis befrie-digenden funktionellen Ergebnis entspricht.

Schlüsselwörter

Septische Talusnekrose · Offene Talusfraktur ·Komplexes Fußtrauma

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Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S231

Lagebeziehung zum Tibiotalar- und Sub-talargelenk aufgrund einer Luxations-fraktur im oberen Sprunggelenk sowieeiner Trümmerfraktur der posteriorenFacette des Kalkaneus mit Abscherungdes Sustentaculum tali im Sinn eines„floating talus“ gekommen. Nach Débri-dement aller avitalen Knochenfragmenteund Weichteile verblieb ein triangulärerDefekt mit 7 cm Kantenlänge (Abb. 1 d),welcher temporär mit Kunsthaut gedecktwurde. Die Stabilisierung der Frakturender unteren Extremität erfolgte durcheinen AO-Fixateur externe am Tibia-schaft sowie eine tibiometatarsale Trans-fixation des linken Fußes.

Nach intensivmedizinischer Stabili-sierung der Vitalfunktionen wurde imIntervall von 24 h im Rahmen eines ge-planten Second-look-Eingriffs aufgrunddes Ausmaßes der Gelenkzerstörung dieprimäre Double-Arthrodese (tibiotalarund subtalar) unter Erhalt des Chopart-Gelenks durchgeführt (Abb. 1 e). Inner-halb weiterer 120 h erfolgten eine Third-look-Operation mit erneutem Débride-ment und die frühe plastische Deckungmit einem freien, mikrovaskulär anasto-mosierten A.-radialis-Lappen.

Verlauf

Der weitere Verlauf war kompliziert durcheine Lobärpneumonie (Staphylococcusaureus) aufgrund der erlittenen Lungen-kontusion mit prolongierter Beatmungs-therapie (29 Tage), einem protrahiertenKoma aufgrund der frontoparietalenEinblutung sowie durch eine inkomplet-te Tetraparese aufgrund der Axisfraktur.Insgesamt verblieb der Patient für 5 Wo-chen auf der chirurgischen Intensivsta-tion, von wo aus er direkt zur Frühreha-bilitation (Phase B) in eine entsprechen-de Klinik verlegt wurde.

Der Rehabilitationsverlauf gestalte-te sich zunächst unauffällig. Die neuro-logischen Ausfälle bildeten sich nahezuvollständig zurück. Der Halo-Fixateurwurde nach 12 Wochen entfernt. Nach 3 1/2 Monaten wurde der Patient jedochmit einer Fistelung am dorsokaudalenRand des Lappens am rechten Fuß er-neut vorgestellt. Im Rahmen der opera-tiven Revision zeigte sich, dass die Fistelihren Ursprung in einem nekrotischenKnochenfragment des Taluskorpus hat-te. Der Knochensequester sowie die ein-gebrachten Arthrodesen- und Kleinfrag-mentschrauben wurden entfernt, nach

ausgiebigem Débridement wurde eineGentamicin-PMMA-Kette eingelegt.Nacherneutem Débridement verblieb ein aus-gedehnter Defekt, sodass eine Rearthro-dese unter Zuhilfenahme zweier korti-kospongiöser Späne vom Beckenkammdurchgeführt wurde (Abb. 2 a). An-schließend wurde in gleicher Sitzungder spannungsfreie Weichteilverschlussdurch eine Lappenanhebung und -ad-vancement erreicht (Abb. 2 b).

Nach 14 Tagen kam es zum erneu-ten Auftreten eines Infekts. Es erfolgteein radikales Débridement mit Entfer-nung des Osteosynthesematerials, derKnochenblöcke sowie der verbliebenennekrotischen Anteile des Talus mit an-schließender tibiometatarsaler Transfi-xation. Als Platzhalter wurden wiede-rum Gentamicin-PMMA-Ketten einge-legt (Abb. 3 a). Nach klinischer Infekt-sanierung erfolgte 3 Wochen darauf dietibiokalkaneare Kompressionsarthro-dese mittels Ilizarov-Fixateursystem(Abb. 3 b).Darunter kam es zu einer völ-ligen Beruhigung der Weichteilsituationund soliden knöchernen Konsolidie-rung der Arthrodese. Der Patient konnteden linken Fuß voll belasten. Der Fixa-teur wurde nach insgesamt 12 Wochenabgenommen.

Nachuntersuchung

2 Jahre nach dem Unfall erschien der Pa-tient zu einer klinischen, radiologischenund pedobarographischen Nachunter-suchung. Klinisch imponierten reizloseNarbenverhältnisse sowie ein vollstän-dig eingeheilter Lappen. Bei korrekterAchsenausrichtung des Vor- und Rück-fußes resultierten infolge der Talektomieund des mehrfachen Débridements so-wohl eine Beinverkürzung von 5 cm alsauch eine geringgradige Verkürzung desFußes in der Längsachse (Abb. 4 a).Auf-grund der Beinverkürzung und Verstei-fung des Rückfußes ist das Gangbildhinkend. Der Verletzte ist als Sozialar-beiter mit orthopädischem Schuhwerkvollzeitlich arbeitsfähig und im Alltagschmerzfrei. Die zuvor empfohlene Ver-längerungsosteotomie mit einer Kallus-distraktion im Ilizarov-Fixateur wurdevom Patienten aufgrund der geringenBeschwerden abgelehnt.

In der dynamischen Pedobarogra-phie (EMED-SF System, Novel Inc. Mün-chen, Minneapolis) zeigte sich eine ver-mehrte Belastung der Fußaußenkante

S. Rammelt · R. Grass · P. Brenner · H. Zwipp

Septic necrosis after third-degreeopen talus fracture in conjunctionwith complex trauma of the foot(floating talus)

Abstract

An unusual case of complex foot trauma in-volving a third-degree open comminutionfracture of the talus, the lateral malleolus,and the calcaneus (“floating talus”) in a 26-year-old polytraumatized patient is report-ed. Despite immediate debridement, primaryarthrodesis and early soft tissue closure witha free flap the patient developed septicnecrosis of the talus 4 months after the in-jury because of the initial extensive contami-nation, comminution and dislocation of thefracture.The infection finally resolved aftertibiocalcanear compression arthrodesis andexternal transfixation with an Ilizarov ring.Two years after the injury the blood flow inthe patient’s foot is normal, and the foot isstable, sensate, plantigrade and almost pain-free, albeit with a 5 cm limb-length discrep-ancy.The functional result is judged as goodto fair, the residual motion in the partiallypreserved Chopart joint giving a MarylandFoot Score of 69/95.The possibilities andlimitations of reconstructive foot surgeryafter complex foot trauma in a polytrauma-tized patient are discussed.

Keywords

Septic talus necrosis · Open talus fracture ·Complex foot trauma

Trauma Berufskrankh2001 · 3 [Suppl 2]: S230–S235 © Springer-Verlag 2001

Page 3: Septische Talusnekrose nach drittgradig offener Talusfraktur im Rahmen eines komplexen Fußtraumas (floating talus)

im Vergleich zur Gegenseite bei Erhaltdes Fußlängsgewölbes und physiologi-scher Lastabwicklung über die Großze-he bei geschwungener „gait line“ (Linieder maximalen Druckpunkte,Abb. 4 b).Der Grund dafür liegt in einer Restbe-weglichkeit von etwa 20° im Mittelfuß.Das radiologische Korrelat findet sichim Erhalt des Kalkaneokuboidgelenks,welches – wenngleich schwer arthrotischverändert – die Länge der lateralen Fuß-säule sowie den Erhalt des Fußlängsge-wölbes gewährleistet. Zudem hat sichmedial zwischen Tibiakante und Os na-viculare ein Neogelenk gebildet, welchesebenfalls für die Restbeweglichkeit ver-antwortlich sein dürfte (Abb. 4 c). In der

dorsoplantaren Aufnahme resultierteaufgrund der erhaltenen Säulenstatik ei-ne regelrechte Achsenausrichtung desVorfußes bei jedoch vermehrter Supina-tion mit entsprechender Betonung derFußaußenkante (Abb. 4 d).

Insgesamt besteht ein gutes bis be-friedigendes funktionelles Ergebnis mit69 von 95 möglichen Punkten mit demMaryland-Foot-Score [15]. Der Scorewurde für die Einschätzung des Resul-tats nach einer Arthrodese des Rück-fußes dahingehend modifiziert, dass die5 Punkte für die Beweglichkeit der Fuß-gelenke nicht vergeben wurden, woraussich ein maximaler Punktwert von 95statt 100 ergibt.

Diskussion

Offene Frakturen des Fußes gehören auf-grund der prekären Weichteildeckungnach wie vor zu den Problemfrakturen[3, 14]. Für offene Frakturen des Pilons,des Talus und des Kalkaneus wurden ho-he Komplikationsraten und in der Mehr-heit unbefriedigende funktionelle Er-gebnisse berichtet [16, 21]. Insbesonderebeim Vorliegen eines komplexen Fuß-traumas im Rahmen einer Polytrauma-tisierung werden höchste Ansprüche an das Versorgungsmanagement gestellt[24], die jedoch wegen der Priorität derVersorgung lebensbedrohlicher Verlet-zungen oft nicht erfüllt werden können.

S232 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Frakturen des Fußes

Abb. 1 a–e � Unfall und Erstversorgung. Vorderansicht des abgestürzten Segelflugzeugs. Links vorndie Fußraste, die der Verletzte bis zum Aufprall gedrückt hielt (a). In der seitlichen Übersichtsaufnah-me (b) imponieren Frakturen des linken Unterschenkels, des oberen Sprunggelenks, des Talus, desKalkaneus und des Os metatarsale V. Das gesamte Verletzungsausmaß wird erst im CT (c) deutlich,hier zeigt sich neben einer Luxationstrümmerfraktur des Talus (Hawkins IV) der Verlust der Lagebe-ziehung insbesondere zum Kalkaneus aufgrund einer Trümmerzone der posterioren Gelenkfacetteund Fraktur des Sustentaculum tali. Die gleichzeitige Fraktur des Außenknöchels vervollständigt dasBild eines „floating talus“. Nach ausgiebigem Débridement der kontaminierten Wundhöhle verbliebein triangulärer Defekt über der Fußaußenkante (d). Aufgrund des vorliegenden Zerstörungsaus-maßes wurde eine postprimäre Double-Arthrodese durchgeführt (e)

a

c d e

b

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Therapierichtlinien

Die Entscheidung zum primären Erhal-tungsversuch oder zur Amputation beimkomplexen Fußtrauma wird nicht un-wesentlich von der Schwere der Begleit-verletzungen mitbestimmt [25]. Tscherne[22] empfahl den Erhaltungsversuch beieinem PTS von 1–2 sowie eine primäreAmputation bei einem PTS von 3 und 4.Absolute Priorität hat dabei das Prinzip„life before limb“. Bei einem PTS von 2,wie im vorliegenden Fall, ist ein indivi-dueller Therapieentscheid von weite-ren Begleitfaktoren abhängig. Entschei-dungshilfen geben Schemen wie derMangled-extremity-severity-Score (MESS)[10] sowie der um nervale Verletzungenerweiterte NISSSA-Score [13]. Letztlichsind in allen Scoresystemen prinzipielleGrundsätze erkennbar:

∑ Der Verlust großer Anteile der belaste-ten Planta pedis ist mit gleichartigemGewebe nicht ersetzbar und wiegtschwerer als Defekte am Dorsum pedis.

∑ Gefäßverletzungen von Hauptstrom-bahnen gefährden die Vitalität distalerFußabschnitte und erschweren dieWiederherstellbarkeit der Fußfunktion.

∑ Der Verlust der protektiven Fußsohlen-sensibilität aufgrund einer traumati-schen N.-tibialis-Läsion birgt ein erhöh-tes Potenzial weichteilbedingter Spät-komplikationen.

∑ Schwere Zertrümmerungen des knö-chernen Fußgerüsts und Gelenkzerstö-

Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S233

Abb. 2 a, b � Infektverlauf. Nach Fistelrevision, Débridement avitaler Knochenanteileund temporärer PMMA-Ketteneinlage erfolgte die Rearthrodese unter Zuhilfenahmezweier kortikospongiöser Späne (a). Der spannungsfreie Weichteilverschluss wurdedurch ein Lappenadvancement erreicht (b)

a b

Abb. 3 a, b � Definitive Infekt-sanierung. Nach vollständiger

Entfernung von Osteosynthese-material und Knochenspänen

erfolgte die temporäre PMMA-Ketteneinlage (a). Nach Abklin-

gen der Infektsymptomatikwurde die Kompressionsarthro-

dese mittels Ilizarov-Ringfixa-teur durchgeführt (b)

a b

Abb. 4 a–d � 2-Jahres-Ergebnis. In der klinischen Untersuchung (a) reizlos eingeheil-ter Lappen, regelrechte Achsenausrichtung, jedoch bei Verkürzung des Fußes. ImPedobarogramm (b) vermehrte Belastung der Fußaußenkante bei geschwungenerGanglinie und Abrollen über den Großzeh. Regelrechte Achsenausrichtung auch inder seitlichen (c) und dorsoplantaren (d) Belastungsaufnahme. Beachte: wiederher-gestellter Fußbogen. Bei erhaltenem Kalkaneokuboidgelenk hat sich ein Neogelenkzwischen Tibiakante und Navikulare gebildet, welches eine gewisse Restbeweglich-keit gewährleistet

a db

c

Page 5: Septische Talusnekrose nach drittgradig offener Talusfraktur im Rahmen eines komplexen Fußtraumas (floating talus)

rungen, die eine primäre Arthrodesenotwendig machen, führen potenziellzu einem rigideren Fuß mit erhöhtem,unphysiologischem Druck auf die ohne-hin kompromittierten Weichteile.

Der traumatische Verlust des Talus oderseiner Gelenkflächen mit einer notwen-digen pantalaren Arthrodese führt selbstbei problemloser Knochen- und Wund-heilung zu einem rigiden Fuß mit er-heblichen Funktionsbeeinträchtigungen[7, 17]. Im vorliegenden Fall waren die A. dorsalis pedis und die A. tibialis pos-terior intakt, eine traumatische Läsiondes N. tibialis posterior wurde intraope-rativ nicht gesehen, sodass bei dem in-tubierten und analgosedierten Patientenvon einer erhaltenen Fußsohlensensibi-lität ausgegangen werden konnte. Letzt-lich wurde trotz der schweren Zerstö-rung des Talus und der angrenzendenGelenkflächen aufgrund des Alters undAktivitätsgrads des Patienten sowie derraschen Stabilisierung der Vitalfunktio-nen beim Second-look-Eingriff (nach 24 h) zugunsten eines fußerhaltendenVorgehens entschieden:

Bei drittgradig offener Hawkins-IV-Fraktur mit gleichzeitiger Fraktur desMalleolus lateralis sowie einer Trümmer-fraktur des Sustentaculum tali und derposterioren Gelenkfacette des Kalka-neus war ein Gelenk erhaltendes Vorge-hen unmöglich.Durch die z. T. schwerenFrakturen der benachbarten Knochenbestand eine extrem instabile Situationmit dem Verlust jeglicher Lagebezie-hung des Talus zum oberen und unterenSprunggelenk, sodass die Einführungdes Begriffs „floating talus“ sinnvoll er-scheint. Aufgrund dieses Verletzungs-musters wurde eine postprimäre Dou-ble-Arthrodese (tibiotalokalkanear) mit2 Spongiosazugschrauben als minima-ler Eingriff durchgeführt.

Ein frühzeitiger Weichteilverschlussist anerkanntermaßen die wichtigsteVoraussetzung für die Infektvermeidung[2, 3, 5, 6]. Zudem sind Knochen, Ge-lenkknorpel und Sehnen selbst bei pri-märer Vitalität gefährdet, wenn sie nichtausreichend von Gewebe gedeckt sind.Ein aus der Handchirurgie bekannterTherapieansatz zur Verbesserung derfunktionellen Resultate nach offenenFußverletzungen ist das Konzept derfrühen Lappendeckung im Rahmen derUrgence differée [9]. Im eigenen Vorge-hen wurden nach notfallmäßigem (in-

nerhalb 24 h) und frühem Lappentrans-fer (innerhalb 48–120 h) mit primär-sta-biler Osteosynthese in einer prospekti-ven Serie bei 10 von 12 Patienten mitkomplexem Fußtrauma gute bis sehrgute funktionelle Ergebnisse (Maryland-Foot-Score) gesehen [3]. Aus diesemGrund wurde auch im vorliegenden Falleine frühe definitive Lappendeckungangestrebt.

Komplikationsraten

In klinischen Serien wird als Ursache fürdie Infektentstehung nach der Osteo-synthese von Talusfrakturen in erster Li-nie der primäre Weichteilschaden ver-antwortlich gemacht. Die Rate tiefer In-fekte liegt zwischen 5 und 7% [4, 11]. Ineiner größeren Sammelstudie wurde inimmerhin 3% der Fälle die Entwicklungeiner Osteomyelitis beobachtet [18]. Ob-wohl der Entstehungsmechanismus deravaskulären Nekrose (AVN) noch nichtausreichend geklärt ist, gilt doch dieUnterbrechung der Blutversorgung amTalushals, zu der es im Rahmen dislo-zierter Fakturen kommen kann, und so-mit der Dislokationsgrad als bislang ein-zig anerkannter prognostischer Faktor[20]. Jüngere Untersuchungen haben ge-zeigt, dass die ursprünglich fast schick-salhafte Nekroserate von 80–100% nachHawkins-III- und -IV-Verletzungendurch die Versorgung innerhalb von 6 hnach dem Ereignis erheblich gesenktwerden kann [12, 19, 24], womit der Ver-sorgungszeitraum als weiterer prognos-tischer Faktor hinzutritt.

Im vorliegenden Fall konnte trotzaggressivem Débridement, einer post-primären Arthrodese und der frühenLappendeckung (innerhalb 120 h) einInfektverlauf nicht verhindert werden.Als Ursache ist retrospektiv die Kombi-nation aus einer Hawkins-IV-Frakturmit einer drittgradig offenen, durch Grasund Erdwerk kontaminierten Wundemit schwerem Weichteilschaden auf 4Etagen anzunehmen. Zusammen mitden knöchernen Begleitverletzungen er-gibt dies ein von der Schwere her extremseltenes Verletzungsmuster, wie es unse-res Wissens als „floating talus“ mit er-folgreichem Extremitätenerhalt in derLiteratur bislang noch nicht beschriebenwurde. Die Gefahr der Entwicklung ei-ner totalen Talusnekrose war überdurch-schnittlich hoch. Die postprimäre Ar-throdese sollte die Revaskularisierung

des Talus anregen, konnte die nachfol-gende Talusnekrose jedoch nicht ver-hindern, welche ihrerseits begünstigendauf die Infektentstehung wirkte. Es re-sultierte ein protrahierter Behandlungs-verlauf mit insgesamt 11 operativen Ein-griffen und einem letztlich zufriedenstellendem Ergebnis.

Sollte sich der Patient für eine Ver-längerungsosteotomie entscheiden, wä-re eine Verbesserung des Gesamtresul-tats zukünftig noch möglich, da derHauptteil der verbleibenden Einschrän-kungen auf die Beinverkürzung zurück-zuführen ist.Das vorliegende Resultat istmit einem plantigraden, sensiblen, gutdurchbluteten und subjektiv nahezuschmerzfreiem Fuß im Vergleich zu ei-ner primären Amputation sicherlich alsvorteilhaft einzustufen. Das aggressive,primär fußerhaltende Vorgehen hat beidem jungen polytraumatisierten Patien-ten zu keiner Beeinträchtigung des inten-sivmedizinischen Heilverlaufs geführt.

Resümee

Der vorliegende Fall demonstriert dieMöglichkeiten der rekonstruktiven Chi-rurgie nach schwersten Fußverletzun-gen, zeigt jedoch auch, dass trotz desEinsatzes aller heute geforderten Maß-nahmen, wie aggressives Débridement,Second- bzw. Third-look-Operationen,postprimärer Arthrodese zur Verbesse-rung der Talusrevaskularisierung undfrüher freier Lappendeckung eine septi-sche Talusnekrose nicht sicher verhin-dert werden kann. Möglicherweise hättejedoch ohne das Ziehen sämtlicher „chi-rurgischer Register“ die beschriebeneVerletzung zu einer Unterschenkelam-putation geführt.

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S234 Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001

Frakturen des Fußes

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Trauma und Berufskrankheit · Supplement 2 · 2001 S235

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