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Ethik Med (2000) 12:223–226 Editorial Siamesische Zwillinge – Trennen oder nicht? Gisela Bockenheimer-Lucius Im August und September hat Großbritannien ein Problem bewegt, das in Deutschland vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit ausgelöst hat, obgleich es – wäre der Fall hier bei uns aufgetaucht – ganz sicherlich mit der gleichen Emo- tionalität, Heftigkeit und Kontroverse diskutiert worden wäre wie im Jahre 1993 die Frage von Schwangerschaft und Hirntod angesichts des „Erlanger Babies“. Zum Hintergrund: Ein katholisches Ehepaar aus Golo/Malta mit ausdrück- lich tiefer religiöser Überzeugung suchte wegen der Diagnose siamesischer Zwillinge kurz vor der Geburt der Kinder eine Klinik in London auf, um dort rasch kompetente Hilfe für die Versorgung der Kinder zu finden. Am 8. August wurden zwei ab dem Magen miteinander verwachsene Mädchen geboren, die aufgrund einer gemeinsamen Aorta nur durch die Herz- und Lungenfunktion des einen Kindes versorgt werden. Die behandelnden Ärzte sahen die dringliche In- dikation für eine Trennungsoperation gegeben, ohne die ein längeres Überleben beider Mädchen ausgeschlossen sei. Die Trennung wäre jedoch unvermeidbar mit dem Tod des schwächeren Kindes, ohne eigene Herz- und Lungenleistung, verbunden. Die Weigerung der Eltern, das Leben eines Kindes zu opfern zugun- sten des Überlebens des anderen, führte von Seiten des Krankenhauses zur An- rufung des Gerichts, das die Notwendigkeit der Operation erklärte. Die Eltern riefen daraufhin das Berufungsgericht an. Der Entscheidungsprozess fiel für die involvierten Richter sehr viel komplizierter und dramatischer aus als zunächst erwartet. Das britische Berufungsgericht wies am 22. September den Einspruch der Eltern zurück und ordnete die chirurgische Trennung der Kinder gegen den erklärten Willen der Eltern an. Medizinische Anmerkungen: In den gleichen Tagen, in denen in Großbritan- nien unter heftigsten Debatten in der Öffentlichkeit die Trennung der beiden Mädchen Jodie und Mary (falsche Namen zur Aufrechterhaltung der Anonymi- tät der Kinder) diskutiert wurde, ging unter ähnlichen Voraussetzungen (es musste ebenfalls ein Kind geopfert werden zugunsten des anderen) eine ebenso heftig umstrittene Trennungsoperation in Italien ohne Erfolg zu Ende, beide Kinder starben, während eine Trennungsoperation mit Lebenschancen für beide Kinder in Ohio erfolgreich war. Diese Gleichzeitigkeit der Ereigneisse in ver- schiedenen Ländern ist ein deutliches Indiz dafür, dass derartige Fälle zwar Dr. med. G. Bockenheimer-Lucius Senckenbergisches Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsklinikum, Theodor-Stern- Kai 7, 60590 Frankfurt am Main, Deutschland © Springer-Verlag 2000

Siamesische Zwillinge - Trennen oder nicht?

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Page 1: Siamesische Zwillinge - Trennen oder nicht?

Ethik Med (2000) 12:223–226

Editorial

Siamesische Zwillinge – Trennen oder nicht?Gisela Bockenheimer-Lucius

Im August und September hat Großbritannien ein Problem bewegt, das inDeutschland vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit ausgelöst hat, obgleich es– wäre der Fall hier bei uns aufgetaucht – ganz sicherlich mit der gleichen Emo-tionalität, Heftigkeit und Kontroverse diskutiert worden wäre wie im Jahre 1993die Frage von Schwangerschaft und Hirntod angesichts des „Erlanger Babies“.

Zum Hintergrund: Ein katholisches Ehepaar aus Golo/Malta mit ausdrück-lich tiefer religiöser Überzeugung suchte wegen der Diagnose siamesischerZwillinge kurz vor der Geburt der Kinder eine Klinik in London auf, um dortrasch kompetente Hilfe für die Versorgung der Kinder zu finden. Am 8. Augustwurden zwei ab dem Magen miteinander verwachsene Mädchen geboren, dieaufgrund einer gemeinsamen Aorta nur durch die Herz- und Lungenfunktion deseinen Kindes versorgt werden. Die behandelnden Ärzte sahen die dringliche In-dikation für eine Trennungsoperation gegeben, ohne die ein längeres Überlebenbeider Mädchen ausgeschlossen sei. Die Trennung wäre jedoch unvermeidbarmit dem Tod des schwächeren Kindes, ohne eigene Herz- und Lungenleistung,verbunden. Die Weigerung der Eltern, das Leben eines Kindes zu opfern zugun-sten des Überlebens des anderen, führte von Seiten des Krankenhauses zur An-rufung des Gerichts, das die Notwendigkeit der Operation erklärte. Die Elternriefen daraufhin das Berufungsgericht an. Der Entscheidungsprozess fiel für dieinvolvierten Richter sehr viel komplizierter und dramatischer aus als zunächsterwartet. Das britische Berufungsgericht wies am 22. September den Einspruchder Eltern zurück und ordnete die chirurgische Trennung der Kinder gegen denerklärten Willen der Eltern an.

Medizinische Anmerkungen: In den gleichen Tagen, in denen in Großbritan-nien unter heftigsten Debatten in der Öffentlichkeit die Trennung der beidenMädchen Jodie und Mary (falsche Namen zur Aufrechterhaltung der Anonymi-tät der Kinder) diskutiert wurde, ging unter ähnlichen Voraussetzungen (esmusste ebenfalls ein Kind geopfert werden zugunsten des anderen) eine ebensoheftig umstrittene Trennungsoperation in Italien ohne Erfolg zu Ende, beideKinder starben, während eine Trennungsoperation mit Lebenschancen für beideKinder in Ohio erfolgreich war. Diese Gleichzeitigkeit der Ereigneisse in ver-schiedenen Ländern ist ein deutliches Indiz dafür, dass derartige Fälle zwar

Dr. med. G. Bockenheimer-LuciusSenckenbergisches Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsklinikum, Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt am Main, Deutschland

© Springer-Verlag 2000

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nicht häufig, jedoch auch nicht ohne medizinische wie ethische Relevanz sind.Selbstverständlich hängt der Erfolg der Operation entscheidend von Ausmaßund Art des klinischen Befundes ab. Siamesische Zwillinge werden in den mei-sten Fällen tot geboren oder sterben in den ersten Stunden (ca. 70%). Nach rechtunterschiedlichen Angaben kommt bei etwa 50.000–100.000 Geburten ein der-art geschädigtes eineiiges Zwillingspaar zur Welt. Anders als dies in der Ver-gangenheit in der Volksmeinung vorherrschte, handelt es sich nicht um zusam-mengewachsene Kinder, sondern um das Produkt einer unvollständigen Teilungzu einem sehr frühen Zeitpunkt der embryonalen Entwicklung.

Normative Probleme bei der Trennung siamesischer Zwillinge: Die operativeTrennung sog „siamesischer Zwillinge“1 kann durchaus im Interesse beider Kin-der sein, was erfolgreiche Operationen – nicht zuletzt bei immer besserer medi-zinischer Technik – belegen. Ethische Probleme möglicher operativ hervorgeru-fener Verstümmelungen und Behinderungen, auch in Abwägung gegenüber demLeben ohne Trennung (allerdings auch mit Behinderungen) bedürfen einer de-taillierten Analyse, können aber hier nur angedeutet werden. Die Gewichtungenvon Lebensqualitäten stellen ein außerordentlich gravierendes Problem dar. Wiedramatisch auch das erzwungene Zusammenleben sein kann, zeigt die Lebens-geschichte der Brüder Chang und Eng Bunker eindrucksvoll.

An dieser Stelle sollen im Blick auf den aktuellen und noch nicht abge-schlossenen Fall der Schwestern Jodie und Mary die wesentlichen ethischenProbleme einer operativen Trennung der Zwillinge unter Opferung des einen derbeiden Kinder zusammengefasst werden. Dabei stehen vor allem zwei Fragenim Mittelpunkt: Darf das Leben eines Kindes geopfert werden zugunsten desanderen, und wer darf über diese Frage entscheiden?

Zu den Ausgangsbedingungen gehört die bereits lebensbedrohliche Situationder Mädchen, da Jodie, die über das funktionierende Herz-/Lungensystem ver-fügt, die Doppelbelastung durch die Versorgung ihrer Schwester Mary über län-gere Zeit nicht wird bewältigen können. Die Überlebensprognose ist daher fürbeide Kinder nach Aussage der Ärzte infaust. Aus medizinischer Sicht geht manvon 3 bis höchstens 6 Monaten Überlebenschancen aus. Es stellt sich also nichtdie Frage, ob unter derzeit stabilen Überlebensbedingungen nach einer Tren-nung aufgrund anatomischer Fehlbildungen nur ein Kind überleben kann unddie Tötung des zweiten überhaupt zu rechtfertigen wäre. Sondern bei aussichts-loser Überlebensfähigkeit für Mary und akuter Lebensbedrohung für die nichtgetrennten Kinder muss entschieden werden, ob eine Trennung zugunsten desprinzipiell überlebensfähigen Mädchens Jodie die mit der Operation verbundeneTötung von Mary gerechtfertigt werden kann.

Die betroffenen Eltern haben sich ausdrücklich dafür ausgesprochen, dasunvermeidbare Sterben ihrer Kinder als Gottes Wille und naturgegeben schick-salhaft hinzunehmen. Damit haben sie eine persönlich verantwortete, ihrem reli-giös begründeten Wertsystem entsprechende Entscheidung getroffen. Da für Jodie ein Überleben jedoch denkbar ist und damit ihren Interessen entspräche,fällt die Entscheidung für oder gegen eine Operation auf der Basis klinischerBefunde und Indikationen auch in die Verantwortung der behandelnden Ärzte.Im Falle von Neugeborenen, deren mutmaßlicher Wille in keiner Weise erkenn-bar sein kann bzw. nicht existiert, sind die behandelnden Ärzte ebenso Garanten

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1 Der engl. Sprachgebrauch benutzt den Begriff “conjoined twins”; die Bezeichnung „siame-sische Zwillinge“ leitet sich von dem Geschwisterpaar Chang und Eng ab (geb. 1811 in Siam)

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des Kindeswohls wie die Eltern. Die Eltern können als Sorgeberechtigte ihr Ent-scheidungsrecht verlieren, wenn im Sinne des Kindeswohls berechtigte Zweifelauftauchen. Die Ärzte sind aufgrund ihrer eigenen Garantenpflicht dazu ver-pflichtet, bei einer Verweigerung der Hilfeleistung durch die Eltern ein Gerichtanzurufen, was in Manchester durch das Klinikum geschah.

Können aufgrund der körperlichen Bedingungen zwar nicht beide, aber je-des der Kinder alleine überleben, so darf in ethischer Hinsicht (und dies giltauch für die rechtliche Seite) keines der Kinder geopfert werden. Hier gilt glei-chermaßen das Tötungsverbot bzw. das Recht eines jeden Menschen auf Leben.Ebenso ist die Erwartung der persönlichen Aufopferung des einen zugunsten desanderen weder rechtfertigbar, noch gar im Sinne einer Sozialpflicht erlaubt (ge-rade darauf wurde in den Diskussionen um die Organspende immer wieder hin-gewiesen).

Im vorliegenden Falle besteht für Mary keine Überlebensfähigkeit, und sieist zugleich eine akute Bedrohung für das Leben ihrer Schwester Jodie. Den-noch muss auch für sie ein Lebensinteresse anerkannt werden, das der Trennungwiderspräche. Auf der Basis dieser Prämisse wurden beide Kinder vor dem Be-rufungsgericht durch einen Anwalt vertreten. Die richterliche Zurückweisungdes elterlichen Einspruchs stützt sich auf die Tatsache, dass nicht etwa das Le-ben eines gesünderen Kindes mit einem höheren Wert bedacht werde, sonderneine Trennungoperation nach Ansicht der Richter zwar eine bewusste Tötungs-absicht (und nicht etwa ein unvermeidbares Geschehenlassen) durch die Ärztegegenüber Mary bedeute, dies jedoch nicht unrechtmäßig und ohne strafrechtli-che Relevanz sei, da ihr Leben im Gegensatz zu Jodies in keiner Weise zu rettensei. Nur in Abwägung des keinesfalls zu rettenden Lebens von Mary gegenüberdem rettbaren von Jodie erscheint die Tötung als das „geringere Übel“. Das Ge-richt betont jedoch, dass seine Einschätzung einen speziellen Fall betrifft, dernicht etwa die Opferung eines – beispielsweise auch geistig – geschädigtenLebens zugunsten des gesünderen rechtfertige. Das Urteil könne daher keines-falls im Sinne eines Präzedenzfalles für die gerechtfertigte Opferung einesMenschenlebens zugunsten eiens anderen in die britische Rechtsgeschichteeingehen.

In der öffentlichen Debatte spielt die Frage nach dem Entscheidungsrechteine wesentlich größere Rolle. Steht den Eltern die Letztentscheidung zu, da siedas überlebende Kind über die Tragödie seines Überlebens aufklären und auchdie physischen wie psychischen Belastungen für ihr Kind wie für sich selbst be-wältigen müssen? Dürfen ihre religiösen Überzeugungen überhaupt in Frage ge-stellt werden? Dürfen Fremde in derart fundamentalen Fragen über die Zukunftder eigenen Kinder bestimmen? Müssen die Ärzte entscheiden, da sie nach be-rechtigten fachlichen Kriterien, weniger emotional und professionell urteilen?Darf man in einem derartigen Fall in die Natur eingreifen, da beide Kindermenschliche Lebewesen mit Recht auf Leben sind? Ist Mary tatsächlich ein le-bensfähiges Wesen? Schließlich taucht in den Argumentationen der Öffentlich-keit auch die Frage nach den Kosten auf. Ist es gerecht, dass im britischen Ge-sundheitswesen Schwerstkranke auf Operationswartelisten stehen, andererseitsdurch eine Operation mit fraglichem Ausgang enorme Kosten entstehen?

Noch wurde die Operation nicht durchgeführt. Das Abwarten gewährt demabhängigen Überleben von Mary Zeit, verschlechtert allerdings die operativenChancen für Jodie. Da die Eltern der Kinder – entgegen ihrer ursprünglichenAbsicht – auf das Urteil einer weiteren gerichtlichen Berufungsinstanz verzich-

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ten, sollte die geplante Operation schnellstmöglich durchgeführt werden2. Unab-hängig von der Frage des Ausgangs dieses Falles (aus medizinischer Sicht wer-den die operativen Chancen auch für Jodie recht kontrovers beurteilt) sollten dieethischen Probleme auch in Deutschland angegangen werden, bevor ein akuterFall Eltern, Ärzte, Richter und die Öffentlichkeit vor gleiche Aporien stellt, wiees in Großbritannien geschehen ist.

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2 Die Operation, bei der Mary starb, wurde inzwischen durchgeführt