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Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 Schwerpunkt Dauert das Verfahren der Invalidenversicherung zu lange? Vorsorge Probleme beim Wechsel zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit Sozialpolitik Sans-Papiers: Leben ohne Bewilligung in der Schweiz

Soziale Sicherheit · 2020. 2. 22. · Redaktionskommission Adelaide Bigovic-Balzardi, Jürg Blatter, Susanna Bühler, Pascal Coullery, Géraldine Luisier Ruran-girwa, Stefan Müller,

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  • Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    SchwerpunktDauert das Verfahren der Invalidenversicherung zu lange?

    VorsorgeProbleme beim Wechsel zu einer selbständigen Erwerbstätigkeit

    Sozialpolitik Sans-Papiers: Leben ohne Bewilligung in der Schweiz

  • Inhaltsverzeichnis Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Editorial 313

    Chronik Oktober/November 2003 314

    Rundschau 316

    SchwerpunktDauert das Verfahren der Invalidenversicherungzu lange? 317

    Die Dauer des Verfahrens in der Invalidenversicherung (Véronique Merckx und Maria Rosa Ventrice, BSV) 318

    Zwei typische Situationen (Alain Porchet und Claude Matossi,IV-Stelle Waadt) 323

    Die Dauer des IV-Verfahrens erschwert die Eingliederung behinderter Menschen erheblich (Georges Pestalozzi, DOK) 325

    Schwächen des Verfahrensrechts (Markus Gamper, IV-Stelle Bern) 330

    Leistungsziele und Benchmarking – neue Führungsinstru-mente im Bereich Verfahrensdauer (Adelaide Bigovic, BSV) 332

    Notwendige Weichenstellungen in der IV (Erwin Murer und Basile Cardinaux, Universität Freiburg) 337

    inhaltInhalt CHSS 6/2003 November/Dezember

    VorsorgeDie 11. AHV-Revision ist unter Dach (GF AHI-Vorsorge, BSV) 340

    Das Parlament verabschiedet die 1. BVG-Revision (Beatrix Schönholzer Diot, BSV) 342

    Sich selbständig machen: der Preis und die Risiken (Robert Wirz, BSV) 345

    GesundheitAktuelle Fragen der Krankenversicherung (Referat von Bundespräsident Couchepin) 352

    Interkantonale Patientenwanderungen im Spitalbereich (Daniel Zahnd, BSV) 355

    SozialpolitikOhne Papiere, aber nicht rechtlos (Denise Efionayi-Mäder,Christin Achermann) 359

    Neugestaltung des Finanzausgleichs und der AufgabenteilungBund/Kantone (Michel Valterio, BSV) 363

    Änderungen bei den Sozialversicherungen ab dem 1. Januar 2004 (René A. Meier, BSV) 365

    ParlamentParlamentarische Vorstösse 369

    Gesetzgebung: Hängige Vorlagen des Bundesrates 375

    Daten und FaktenAgenda (Tagungen, Seminare, Lehrgänge) 376

    Literatur und Links 377

    Sozialversicherungsstatistik 378

    Wichtige Masszahlen im Bereich der beruflichen Vorsorge 380

    Inhaltsverzeichnis des CHSS-Jahrgangs 2003 382

    Besuchen Sie uns

    unter

    www.bsv.admin

    .ch

  • BezugsquelleBestellnummerSprachen, Preis

    Leben ohne Bewilligung in der Schweiz. Auswirkungen auf den sozialen Schutz. Reihe BBL1Beiträge zur Sozialen Sicherheit, Nr. 24/03 318.010.24/03

    Fr. 22.80

    6,05 % Beiträge vom massgebenden Lohn bis Fr. 8900.–. Unverbindliche Hilfstabelle. BBL1Gültig ab 1. Januar 2004 318.112.1 dfi

    Fr. 2.90

    Tabellen zur Ermittlung der IV-Taggelder. Gültig ab 1. Januar 2004 BBL1318.116.1 dfFr. 1.75

    Rententabellen 2004. Gültig ab 1. Januar 2004 BBL1318.117.041 dfFr. ?

    Schweizerische Sozialversicherungsstatistik 2003 BBL1318.122.03, d/f

    AHV-Statistik 2003 BBL1318.123.03, d/fFr. 9.70

    Monatliche Vollrenten. Skala 44. Gültig ab 1. Januar 2004 BBL1318.117.1 df

    Umrechnung von Nettolöhnen in Bruttolöhne. Gültig ab 1. Januar 2004 BBL1318.115 dfFr. 1.10

    Merkblatt «Informationen zur 4. Revision des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung d/f/i2(IVG). Inkrafttreten am 1. Januar 2004»

    Merkblatt «Beiträge an die Arbeitslosenversicherung». Stand am 1. Januar 2004 2.08, d/f/i2

    Merkblatt «Beitragspflicht auf Kurzarbeits- und Schlechtwetterentschädigungen». 2.11, d/f/i2Stand am 1. Januar 2004

    Merkblatt «Hinterlassenenrenten der AHV». Stand am 1. Januar 2004 3.03, d/f/i2

    Merkblatt «Flexibles Rentenalter». Stand am 1. Januar 2004 3.04, d/f/i2

    Merkblatt «Ergänzungsleistungen zur AHV und IV». Stand am 1. Januar 2004 5.01, d/f/i2

    1 BBL, Vertrieb Publikationen, 3003 Bern; Fax 031 325 50 58, e-mail [email protected]; Internet: www.bbl.admin.ch/bundespublikationen

    2 Zu beziehen bei den AHV-Ausgleichskassen und IV-Stellen; die Merkblätter und Broschüren sind im Internet unter www.ahv.ch zugänglich.

    Neue Publikationen zur Sozialversicherung

  • Herausgeber Bundesamt für Sozialversicherung

    Redaktion René A. Meier, Redaktor BRE-Mail: [email protected] 031 322 91 43Die Meinung BSV-externer Autorenmuss nicht mit derjenigen der Redaktion bzw. des Amtes übereinstimmen.

    Redaktionskommission Adelaide Bigovic-Balzardi, JürgBlatter, Susanna Bühler, PascalCoullery, Géraldine Luisier Ruran-girwa, Stefan Müller, Pierre-YvesPerrin

    Abonnemente Bundesamt für Sozialversicherungund Auskünfte (BSV), Effingerstrasse 20, 3003 Bern

    Telefon 031 322 90 11Telefax 031 322 78 41www.bsv.admin.ch

    Übersetzungen in Zusammenarbeit mit demSprachdienst des BSV

    Copyright Nachdruck von Beiträgen mit Zu-stimmung der Redaktion erwünscht

    Auflage Deutsche Ausgabe 6500Französische Ausgabe 2500

    Abonnementspreise Jahresabonnement (6 Ausgaben): Inland Fr. 53.– inkl. MWST, Ausland Fr. 58.–, Einzelheft Fr. 9.–

    Vertrieb BBL/Vertrieb Publikationen, 3003 Bern

    Satz, Gestaltung Cavelti AG, Druck und Media und Druck Wilerstrasse 73, 9201 Gossau SG

    ISSN 1420-2670

    Impressum

    «Soziale Sicherheit» (CHSS)

    erscheint seit 1993 sechsmal jährlich. Jede Ausgabe ist einem Schwerpunktthema gewidmet.Die Themen seit dem Jahr 2001:

    Nr. 1/01 Was kostet die Durchführung der Sozialversicherung?Nr. 2/01 Tarifbildung im schweizerischen GesundheitswesenNr. 3/01 Die Situation der Working Poor im Sozialstaat SchweizNr. 4/01 Neuordnung des Ausgleichs der FamilienlastenNr. 5/01 Die älteren Menschen – eine Generation mit ZukunftNr. 6/01 Kosten uns die Medikamente zu viel?

    Nr. 1/02 Sechs Jahre KVG – Synthese der WirkungsanalyseNr. 2/02 Auswirkungen der bilateralen Abkommen mit der Europäischen Union

    auf die schweizerische SozialversicherungNr. 3/02 Städte und SozialpolitikNr. 4/02 Optimierung der interinstitutionellen Zusammenarbeit zwischen IV, ALV und SozialhilfeNr. 5/02 Das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vor der Einführung Nr. 6/02 Entscheidungsgrundlagen für die Weiterentwicklung der Sozialversicherungen

    Nr. 1/03 Die Situation behinderter Menschen in der Schweiz im EU-Jahr der BehindertenNr. 2/03 Kein Schwerpunkt (Interview mit dem abtretenden BSV-Direktor Otto Piller)Nr. 3/03 Die längerfristige Zukunft der Altersvorsorge beginnt heuteNr. 4/03 Armut – auch in der Schweiz eine RealitätNr. 5/03 Freizügigkeitsabkommen mit der Europäischen Union – erste ZwischenbilanzNr. 6/03 Dauert das Verfahren der Invalidenversicherung zu lange?

    Die Schwerpunkte sowie weitere Rubriken sind seit Heft 3/1999 im Internet unter www.bsv.admin.ch/publikat/uebers/d/index.htm zugänglich. Sämtliche Hefte sind heute noch erhältlich (die vergriffene Nummer 1/93 als Foto-kopie). Normalpreis des Einzelhefts Fr. 9.–. Sonderpreis für Hefte 1993 bis 2002 Fr. 5.–. Preis des Jahresabonne-ments Fr. 53.– (inkl. MWST).

    Bestellungen anBundesamt für Sozialversicherung, CHSS, 3003 Bern, Telefon 031 322 90 11, Telefax 031 322 78 41E-Mail: [email protected]

  • editorial

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 313

    Editorial

    Als Sozialversicherung ist die IV ganz besonders auf-gerufen, den täglichen Vollzug laufend zu optimierenund gleichzeitig die Transparenz über das Verfahren füralle Beteiligten zu erhöhen. Diese Gratwanderung istnicht einfach! Die Problematik der Verfahrensdauer istjedoch nicht losgelöst vom politischen Auftrag der IV zusehen, und dieser lautet:• Die IV soll das Risiko von Invalidität abdecken – aber

    ob Invalidität vorliegt, muss objektiv abgeklärt sein.• Die IV soll die objektiv festgestellte Invalidität prio-

    ritär durch Eingliederung abdecken, und nur wenn dieVoraussetzungen dafür nicht gegeben sind, soll sie eine Rente sprechen.Die Rahmenbedingungen für die Erfüllung dieses po-

    litischen Auftrages sind aber manchmal spannungsgela-den. Begibt sich die heutige Medizin nicht vorschnell aufden Weg, soziale und gesellschaftliche Probleme zu me-dikalisieren? Welche Rolle soll die behandelnde Ärztinbei der Feststellung von Arbeitsunfähigkeit einnehmen?Welche Interessen verfolgen Anwälte? Welche Verant-wortung wollen und können Arbeitgebende bei der Ein-gliederung von Menschen in schwierigen Lebenssituatio-nen übernehmen? Welche Haltung nehmen die einzelnenVersicherten gegenüber dem Sozialstaat und den eigenenPflichten ein?

    Die 5. IV-Revision, die sich in Vorbereitung befindet,soll einen Baustein bilden für die erneute Klärung derRolle der IV in unserer Gesellschaft. Diese Klärung soll-te auch einen Beitrag zur Verkürzung der Verfahrens-dauer leisten können.

    Die Invalidenversicherung im Spannungsfeldgegensätzlicher Interessen

    Die aktuelle öffentliche Debatte weiss vieles über die IVzu berichten: Die IV sei eine Rentenversicherung, die zuleichtfertig Renten zuspreche. Oder: Die IV-Stelle kläreimmer noch ab, obwohl doch schon alles klar sei und eine Leistungszusprache erfolgen könne. Weiter: Die IV-Stellen seien schlecht organisiert und hätten zu wenigPersonal. Oder: Die IV sei überreguliert und produzierelange Verfahren…

    Wie immer bei solchen Allgemeinplätzen sind diesenicht einfach falsch, sondern sie geben eine einseitigeSicht wieder. Die vorliegende CHSS-Nummer erhebtden Anspruch, die Verfahrensdauer in der IV aus ver-schiedenen Blickwinkeln zu beleuchten. Die Leserschaftwird dabei wohl auch auf manche Überraschung stossen.Ich denke da z.B. an den seit einiger Zeit geltenden Min-deststandard, dass ein Entscheid bei 75 % der Gesucheinnerhalb eines Jahres gefällt sein muss – ein deutlichhöherer Standard wäre sinnwidrig, da ja in vielen Fällenvorgängig Berufsberatung oder externe Abklärungen ge-macht werden sollen, um möglichst eine Eingliederungzu erreichen. Ich denke an den hohen Einfluss des Da-tenschutzes und der Verrechtlichung unserer Gesell-schaft auf die Länge des Verfahrens. Auch die Tatsache,dass die Verfahrensdauer in den IV-Stellen bei gleicherAnzahl von Eingängen und Ressourcen unterschiedlichist, wird wohl einige überraschen. Und last but not leastgibt es grosse Unterschiede in der Wahrnehmung überden Beginn der Verfahrensdauer: Fängt diese mit demersten Zeugnis des Hausarztes zur Arbeitsunfähigkeitoder mit der Anmeldung bei der IV an? Und wann hörtin der Wahrnehmung das Verfahren auf: beim Entscheidder IV-Stelle oder beim Entscheid des Bundesgerichtsüber den Entscheid der IV-Stelle?

    Beatrice BreitenmoserChefin des Geschäftsfeldes IVim BSV

  • 314 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    ne, Santésuisse, Spitex, Verband derHeime und Institutionen der Schweiz,Berufsverband der Krankenschwe-stern und Krankenpfleger, H+ DieSpitäler der Schweiz und die Schweiz.Vereinigung der Privatkliniken) zueinem umfangreichen Hearing ein.Diese äusserten sich zu den Fragen,ob aus ihrer Sicht in der laufendenKVG-Revision eine Änderung derPflegefinanzierung sinnvoll ist und obdie Gleichbehandlung von privatenund öffentlichen Institutionen ineiner Übergangsregelung festgehal-ten werden soll. Nach eingehenderDiskussion beantragt die Kommis-sion einstimmig, die Regelung derPflegefinanzierung nicht mehr in derlaufenden Revision zu ändern. Dage-gen beauftragt sie den Bundesrat miteiner Motion, dem Parlament bereitsim Jahre 2004 eine Botschaft zur Neu-ordnung der Finanzierung der Kran-kenpflege zu unterbreiten. Ausser-dem hält sie als Übergangsregelungfest, dass die vom Bundesrat per1.1.2003 festgesetzten Tarife pro Sun-de und pro Tag belassen werden müs-sen, bis die neue Regelung in Krafttritt. Die Differenzbereinigung zurKVG-Revision findet in der Winter-session 2003 statt.

    Separater IV-FondsAn ihrer Sitzung vom 21. Oktober

    hat die SGK des Ständerates imWeiteren den Entwurf einer Motionzur langfristigen Sicherung desAHV/IV-Fonds bereinigt. Verlangtwird insbesondere eine Trennungdes IV- vom AHV-Fonds. Damitwird die IV-Rechnung transparentgemacht und eine Grundlage gelegt,die heutige Verschuldung der Invali-denversicherung zulasten des Aus-gleichsfonds der AHV zu beseitigen.

    Steuerpaket 2001Das Steuerpaket 2001 wird nicht

    nur durch elf Kantone (CHSS 5/2003S. 253), sondern auch durch ein

    Volksreferendum bekämpft. Wiedie Bundeskanzlei am 24. Oktobermitteilte (BBl 2003, 7269), sind zudiesem Zweck 57 658 gültige Unter-schriften eingereicht worden.

    Für die Gleichstellung vonFrau und Mann

    Die Kommission für Rechtsfragendes Nationalrates, die am 3./4. No-vember unter dem Vorsitz von AnitaThanei (SP, ZH) tagte, lädt denBundesrat ein, ein Gleichstellungs-konzept zu schaffen. Sie hat Kennt-nis genommen vom ersten und zwei-ten Bericht der Schweiz über dieUmsetzung des Übereinkommenszur Beseitigung jeder Form von Dis-kriminierung der Frau, vom Akti-onsplan der Schweiz über dieGleichstellung von Frau und Mannsowie vom Bericht des Bundesratesvom November 2002 über die Um-setzung dieses Aktionsplanes durchdie Bundesbehörden. Die Kommis-sion ist der Meinung, dass zurzeitzwar viele punktuelle Massnahmendurchgeführt werden, die Gleich-stellung von Frau und Mann aber –vor allem im Arbeitsleben – nochnicht realisiert ist. Ihrer Auffassungnach fehlt es an einem Gesamtkon-zept. Sie hat deshalb mit 11 zu 1 Stimme bei 4 Enthaltungen ein Postulat angenommen, das den Bun-desrat einlädt, im Rahmen des Le-gislaturprogramms 2003–2007 einKonzept zur Erreichung des Gleich-stellungsziels zu schaffen.

    Goldreserven undNationalbankgewinne

    Die Kommission für Wirtschaftund Abgaben des Nationalrates(WAK) befasste sich am 4. Novem-ber mit der Vorlage des Bundesrateszur Verwendung der überschüssigenGoldreserven sowie der Volksinitia-tive «Nationalbankgewinne für dieAHV» (CHSS 5/2003 S. 251). DerEntwurf sieht vor, dass der Erlös aus

    chronik

    Sanierung derPensionskassen

    Die Sozialkommissionen (SGK)der beiden eidgenössischen Rätesind oppositionslos auf die Vorschlä-ge des Bundesrates zur Sanierungvon Pensionskassen mit ungenügen-der Deckung (CHSS 5/2003 S. 279)eingetreten. Die SGK des Ständera-tes tagte am 21. Oktober und am17. November, jene des Nationalra-tes am 30. Oktober. Ursprünglichwar vorgesehen, die Vorlage in derWintersession von beiden Räten be-handeln zu lassen. Weil sich die La-ge etwas beruhigt hat, kann sich derNationalrat als Zweitrat nun aberZeit bis zur Märzsession lassen.

    Damit sich Pensionskassen mitgravierender Unterdeckung wiederins Gleichgewicht bringen können,will ihnen der Bundesrat eine Reihebefristeter Massnahmen ermögli-chen. Vorgesehen sind zusätzlicheBeiträge von Arbeitgebern und Ar-beitnehmern, eine Verzinsung derAltersguthaben unter dem gesetz-lichen Minimum und ein Abzug auflaufenden Renten.

    In beiden Kommissionen war derSanierungsbeitrag der Rentner um-stritten. Ein solcher Beitrag recht-fertigt sich nach Meinung der SGKdes Ständerates nur als letzte Mass-nahme und nur auf jenem Teil desRentenanspruchs, der in den letztenzehn vorausgehenden Jahren gebil-det worden ist.

    2. KVG-Revision für dieSchlussrunde bereit

    Die SGK des Ständerates hat am20./21. Oktober die beiden letztennoch offenen Punkte der KVG-Revi-sion bereinigt. In der Herbstsession2003 hatte der Ständerat die Vorlagean die Kommission zurückgewiesen,um die Frage der Pflegefinanzierungund die Übergangsregelung für dieSpitalfinanzierung (Antrag Spoerry)zu überarbeiten. In der Folge lud dieSGK die betroffenen Kreise (Kanto-

    Chronik Oktober/November 2003

  • Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 315

    Chronik Oktober/November 2003

    dem Goldverkauf einem Fonds über-tragen wird, aus dem lediglich die Er-träge ausgeschüttet werden. Davonwürden zwei Drittel den Kantonenund ein Drittel dem Bund zukom-men. Bei einem Zinssatz von 2,5 %stünden jährlich rund 450–500 Mio.Franken für die Ausschüttung zurVerfügung. Nach dreissig Jahrenwürde der Fonds aufgelöst, sofernVolk und Stände nichts anderes beschliessen. Das Fondsvermögenwürde zu zwei Dritteln an die Kanto-ne und zu einem Drittel an den Bundfallen. Die Volksinitiative «Natio-nalbankgewinne für die AHV» hatnicht die überschüssigen Goldreser-ven, sondern die künftigen undperiodisch anfallenden Erträge derSNB zum Gegenstand. Die Initiativeschlägt vor, den in Art. 99 Abs. 4 derBundesverfassung festgehaltenenVerteilschlüssel (ein Drittel Bund,zwei Drittel Kantone) zu ändern undden Reingewinn der Nationalbankkünftig an den AHV-Fonds auszu-schütten. Vorbehalten wäre ein An-teil der Kantone von jährlich 1 Mil-liarde Franken.

    Die WAK hat zu diesen beiden inderselben Botschaft enthaltenenVorlagen eine Reihe von Anhörun-gen durchgeführt. Die Diskussioneninnerhalb der WAK im Rahmen derEintretensdebatte haben gezeigt, wiezahlreich die Meinungen und Vor-schläge zur Verwendung der Goldre-serven sind. Da das Geschäft erst fürdie Frühjahrssession 2004 vorgese-hen ist, zieht die WAK es vor, die vie-len Vorschläge vertieft zu prüfen unddie Behandlung dieser wichtigen

    Frage der Kommission in ihrer neuenZusammensetzung für die kommen-de Legislatur zu ermöglichen.

    Entlastungsprogramm 2003:eine Differenz bleibt

    Die Spezialkommission des Stän-derates für das Entlastungspro-gramm 2003, die am 7. Novembertagte, hat sich nur in einem der zweistrittigen sozialpolitischen Punktedem Nationalrat angeschlossen. Sieist ebenfalls bereit, auf eine Ausset-zung des AHV-Mischindexes zu ver-zichten, hält aber an der Kürzungder Beiträge an die familienergän-zende Kinderbetreuung fest (CHSS5/2003 S. 252).

    Behindertengleichstellungs-gesetz tritt in Kraft

    Der Bundesrat hat am 19. Novem-ber die Ausführungsbestimmungenzum Behindertengleichstellungsge-setz verabschiedet. Die Verordnungüber die Beseitigung von Benachtei-ligungen der Menschen mit Behin-derungen (BehiV) sowie die Ver-ordnung über die behindertenge-rechte Gestaltung des öffentlichenVerkehrs (VböV) treten gleichzei-tig mit dem Behindertengleichstel-lungsgesetz (BehiG) auf den 1. Janu-ar 2004 in Kraft.

    Die BehiV konkretisiert und defi-niert verschiedene zentrale Begriffewie Bau und Erneuerung, öffentlichzugängliche Bauten und Anlagen,

    Diskriminierung, beschwerde- undklageberechtigte Organisationenusw. Sie umschreibt weiter den Auf-gabenbereich des neuen Büros fürdie Gleichstellung von Menschenmit Behinderungen.

    Die VböV enthält Finanzierungs-modalitäten: Bei Massnahmen füreinen behindertengerechten öffent-lichen Verkehr, die nicht im Rah-men der ordentlichen Planung reali-siert werden können, hat das Par-lament einen Zahlungsrahmen von300 Mio. Franken für eine Frist von20 Jahren verabschiedet. Es sollennur die kostengünstigsten Massnah-men zur Erreichung der gesetzlichenZiele finanziert werden. Mehr unterwww.ofj.admin.ch, News.

    Referendum gegen 11. AHV-Revision steht

    In einer koordinierten Aktion hatder Schweizerische Gewerkschafts-bund (SGB) zwischen dem 20. und22. November an 200 Standorten Unterschriften für das Referendumgegen die 11. AHV-Revision gesam-melt. Nach Mitteilung des SGB kamin den 48 Stunden die Rekordzahlvon 81 800 Unterschriften zustande.Da nebst dem SGB weitere Organi-sationen (SPS, Travail Suisse, GrünePartei) zur Sammlung beitrugen, sol-len gesamthaft rund 120 000 Unter-schriften vorliegen. Für ein Referen-dum sind 50 000 Unterschriftennötig. Damit steht praktisch fest, dassam 16. Mai 2004 über die 11. AHV-Revision abgestimmt werden kann.

  • rundschauRundschau

    316 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Krankenkassenwechsel2003/2004

    Die Prämienerhöhungen derKrankenkassen veranlassen vieleVersicherte zum Handeln. Seitdemdie neuen Prämien vorliegen, sindbeim Internetvergleichsdienst com-paris.ch bis Ende Oktober rund zweiMillionen Prämienvergleiche durch-geführt worden. Wie die Analysevon rund 200 000 über comparis.chan die Kassen gestellten Offertan-fragen zeigt, müssen vor allem klei-ne Krankenkassen, deren Prämienstark aufschlagen, mit einer Abwan-derung der Versicherten rechnen.Grosse Kassen können auf einetreue Kundschaft zählen.

    Die Auswertung von rund 200 000Offertanfragen ergab einige interes-sante Aufschlüsse: Ab einer Prämien-erhöhung von 10 % nimmt gemässcomparis.ch die Neigung der Versi-cherten zum Kassenwechsel deutlichzu. Bei den Versicherten mit einerPrämienerhöhung von unter 10 %liegt die Zahl der Offertanfragen beirund einem Prozent des jeweiligenVersichertenbestandes. Bei Versi-cherten mit einer Prämienerhöhungvon 10 bis 15 % liegt dieser Wert bei3 % und bei den Versicherten mitPrämienerhöhungen von 20 bis 25 %gar bei 11 %. Bei den besonders be-troffenen Versicherten, welche miteiner 40 % höheren Prämie 2004konfrontiert sind, steigt er fast aufdie Hälfte (45 %). Erwachsene mithoher Franchise sind besonderswechselfreudig. Die Anzahl der Offertanfragen liegt bei rund 15 %,bezogen auf alle Versicherten mit1500-er Franchise, während bei denübrigen Franchisenstufen die An-teile zwischen 1,7 und 3,7 % liegen.

    Die alternativen Versicherungs-modelle (HMO- und Hausarztmo-delle) erfreuen sich ebenfalls stei-gender Beliebtheit. Die Offertanfra-gen für Alternativ-Modelle liegen ineinigen Regionen bereits gleichaufmit denjenigen für das traditionelleGrundversicherungsmodell.Quelle: www.presseportal.ch.

    Mehr Nachhaltigkeit in derAltersvorsorge

    Am 4. Sustainability Forum vom15. Oktober haben an der Univer-sität Zürich Vorsorgeexperten ausdem In- und Ausland Wege zu einemnachhaltigen Rentensystem gezeigt.Die Experten waren sich weitgehenddarin einig, dass die langfristige Si-cherung der Renten aus mehrerenGründen gefährdet sei. Sie begrün-den dies mit folgenden Tatsachen:• Bevölkerungsentwicklung: Das

    Verhältnis Rentner/Erwerbstätigeverschlechtert sich in den näch-sten dreissig Jahren massiv.

    • Unsichere Kapitalerträge: Das Ka-pitaldeckungsverfahren birgt be-trächtliche Unsicherheiten. DieKapitalerträge machen heute biszu 80 % des Alterskapitals aus.Die Höhe des kapitalmarktge-deckten Alterskapitals ist miteinem hohen Risiko verbunden,da die Kapitalerträge auch übereinen langen Zeitraum höchst un-gewiss sind.

    • Kurzsichtige Vermögensverwal-tung: Pensionskassenvermögenwerden immer öfter nach kurzfris-tigen Kriterien verwaltet, Börsen-indizes sind die Messlatte, die eszu schlagen gilt. Bei einer kurz-fristigen Anlagesicht machen dieAnleger die Schwankungen desMarktes mit. Die Fondsmanagertreiben mehr Handel, um in vola-tilen Märkten eine kurzfristig gutePerformance zu erzielen. Dadurchsteigen die Transaktionskosten.

    • Gesetzliche Rahmenbedingungen:Die starke Reglementierung vor-ab im Bereich der beruflichenVorsorge erschwert die notwen-dige Flexibilität, um zukünftigenHerausforderungen gerecht zuwerden. In Frage gestellt wirdauch die Festlegung des Mindest-zinsatzes durch den Bundesrat,kann doch die Regierung die Er-tragskraft des Marktes kaum be-einflussen.Die Pensionskassenexperten schla-

    gen Lösungen vor, die teilweise auf

    Erfahrungen in den Niederlandenund Grossbritannien basieren:• Langfristige Investments und Port-

    foliodiversifikation: Pensionskas-sen sollten zumindest einen Teilihrer Vermögen langfristig inves-tieren, meint Peter Moon von derdrittgrössten britischen Pensions-kasse USS. Üblicherweise wird diePerformance der Fondsmanageraufgrund der Entwicklung der Indizes vierteljährlich, jährlichoder alle drei Jahre gemessen. AlsMassstab für die Performance soll-te ein Zeitrahmen von zehn oder gar zwanzig Jahren genommenwerden. Der Druck auf kurzfris-tige Erfolge nimmt ab, die Trans-aktionskosten sinken. Pierre Mira-baud, Vorsitzender der Schwei-zerischen Bankiervereinigung,spricht sich für ein gemischtes, diversifiziertes Portfolio mit Ak-tien, Obligationen und Immobi-lien aus.

    • Governance: Die Pensionskassenbenötigen mehr Transparenz undbessere Governance im Sinne klarer Verantwortlichkeiten. Diesträgt zur Wertsteigerung der Anla-gen bei und erhöht die Reputation.In verschiedenen Ländern wurdez.B. die Offenlegungspflicht fürPensionskassen erfolgreich einge-führt. Gleichzeitig sollen institutio-nelle Anleger im Rahmen länger-fristiger Anlagestrategien mehrEinfluss auf die Firmenpolitik undihr Umweltverhalten ausüben, in-dem sie ihr Stimmrecht aktiv wahr-nehmen.

    • Rahmenbedingungen: MehrereExperten haben umfassende Lö-sungsansätze genannt, die unbe-liebt seien, aber ebenfalls zurSicherung der Pensionskassenbeitragen können: z.B. Senkungder Rentenhöhe, Erhöhung derBeiträge, Senkung der Kosten undErhöhung des Rentenalters. DiePolitik soll marktgerechte, ver-trauenswürdige und nachhaltigeRahmenbedingungen schaffen.

    Weitere Informationen unter www.sustainability-zurich.org.

  • schwerpunkt

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 317

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    Dauert das Verfahren der Invalidenversicherungzu lange?

    «Die IV behindert die Behinderten» – mit solchen und ähnlichen Schlagzeilen beklagen auflagen-starke Publikationen immer wieder den Umstand, dass es ab Anmeldung bei der Invalidenver-sicherung Jahre dauern kann, bis einer betroffenen Person Leistungen zugesprochen werden. Diefolgenden Beiträge zeigen, weshalb das Abklärungsverfahren sachbedingt meist zeitraubend ist.Sie legen auch dar, was zur Beschleunigung des Verfahrens bereits getan wird und wo weitereOptimierungen eingeleitet oder noch anzustreben sind.

  • schwerpunktSchwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    318 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Die Dauer des Verfahrens in derInvalidenversicherung

    Statistische Erhebungen zeigen, dass 80 % der Leis-tungsgesuche bei der IV innert vernünftiger Fristenabgewickelt werden. Schwierigere Fälle beansprucheneine längere Bearbeitungszeit und einzelne sehrkomplexe Fälle können manchmal über Jahre hinwegnicht abgeschlossen werden. Massnahmen zurBeschleunigung auch solcher Fälle sind im Rahmen der 4. IV-Revision bereits eingeleitet, weitere werdenmit der in Vorbereitung stehenden 5. IV-Revisionangestrebt.

    1. Durchschnittliche Verfahrensdauer

    Die kantonalen IV-Stellen haben im Jahr 2002 durchschnittlich 79,5 % der erstmaligen Anmeldungeninnerhalb eines Jahres bzw. von 360 Kalendertagen er-ledigt (Abbildung 1). In 6,1% der Fälle wurden die erstmaligen Anmeldungen nach mehr als zwei Jahrenerledigt (Abbildung 2).

    Unterschiedliche Bearbeitungszeiten innerhalb dereinzelnen kantonalen IV-Stellen sind deutlich zu erken-nen. Während die im Vergleich schnellste IV-Stelle94,2 % der eingegangenen Erstanmeldungen innerhalbeines Jahres und 0,9 % nach mehr als zwei Jahren erle-digte, sind es bei der langsamsten IV-Stelle 61,3 % derErstanmeldungen, die im ersten Jahr und 19,3 %, dienach mehr als zwei Jahren erledigt wurden.

    In den nachfolgenden Kapiteln wird die Bearbei-tungsdauer bei den Leistungsarten «Rente» und «beruf-liche Massnahmen» anhand von Prozessanalysen, dieim Auftrag des BSV direkt bei IV-Stellen1 durchgeführt

    Véronique Merckx und Maria Rosa VentriceGeschäftsfeld Invalidenversicherung, BSV

    Erledigung von erstmaligen Anmeldungen innerhalb 1von 360 Kalendertagen

    Der schwarze Balken (KT) stellt den kantonalen Durchschnitt im Jahr 2002 von 79,5 %erledigten Erstanmeldungen innerhalb von 360 Kalendertagen dar (ohne IV-Stelle fürVersicherte im Ausland).

    1 Siehe unter anderem:Münger Hans-Peter, 1997, Überprüfung des Verfahrens zur Ausrich-tung von individuellen Leistungen der IV. Schlussbericht, STG-Coopers& Lybrand Consulting.Birchler Urs, Egger Marcel und Véronique Merckx, 2000, Konzept einer anreizkompatiblen Finanzierung der IV-Stellen. Schlussbericht,Ernst & Young.

    94,2%

    61,3%

    0%

    25%

    50%

    75%

    100%

    1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 KT 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

    %

    79,5 %

    Erledigung von erstmaligen Anmeldungen nach mehr 2als 720 Kalendertagen

    Der schwarze Balken (KT) markiert den kantonalen Durchschnitt im Jahr 2002 von6,1% erledigten Erstanmeldungen nach mehr als 720 Kalendertagen (ohne IV-Stellefür Versicherte im Ausland).

    19,3 %

    0,9 %0 %

    5 %

    10 %

    %

    15 %

    20 %

    25 %

    1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 KT 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

    6,1%

  • wurden, näher erläutert. Dabei wurden die Durchlauf-zeiten vom Eingang einer Anmeldung bis hin zum Be-schluss (Zusprache oder Ablehnung einer Rente bzw.einer beruflichen Massnahme) gemessen. Die Tabellen4 und 5 stellen die Aktivitäten in den IV-Stellen imRahmen der Anspruchsabklärungen vereinfacht dar.

    2. Die Prozessschritte bis zur Verfügung einer beruflichen Massnahme oder einer Rente

    Vereinfacht lassen sich die Prozesse in den IV-Stellenvon der Anmeldung bis zur Verfügung einer berufli-chen Massnahme oder Rente wie folgt darstellen (s.a.Abbildung 3):

    2.1. Anmeldung/Prüfung der versicherungsmässigenVoraussetzungen

    Die Aktivitäten der IV-Stellen beinhalten bei erstma-ligen Anmeldungen von Versicherten insbesondere dieEröffnung des Dossiers sowie die Abklärung der Erfül-lung der versicherungsmässigen Voraussetzungen.

    2.2. Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen (am Beispiel der beruflichen Massnahmen)

    Die Abklärung des Anspruchs auf berufliche Mass-nahmen wird grundsätzlich durch die IV-Stelle vorge-nommen. Sie erfordert aber das Einholen von verschie-denen Informationen und Berichten bei internen oderexternen Abklärungsstellen, welche die Entscheid-grundlagen für den Anspruch darstellen. Folgende Stel-len werden bzw. können bei Bedarf beigezogen werden:

    Prozessschritte in der IV-Stelle 3

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 319

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    Anmeldung

    Anspruch aufberufliche Massnahmen

    • Abklärungen IV-Stelle• Arztbericht• Arbeitgeberbericht• …

    Anspruch aufIV-Rente

    • Abklärungen IV-Stelle• Arztbericht• Arbeitgeberbericht• …

    Verfügung beruflicheMassnahmen

    Durchführung beruflicheMassnahmen

    BeschlussIV-Rente

    Durchschnittliche Dauer der einzelnen Aktivitäten 4entlang der Prozesskette im Falle von «Beruflichen Massnahmen» und «IV-Renten»

    Minimalwert Mittelwert Maximalwert(in Tagen) (in Tagen) (in Tagen)

    1. Anmeldung/Prüfung der versicherungsmässigen Voraussetzungen

    Eingang Anmeldung/Eingangsprü-fung/Dossier eröffnen 2 6 8

    2. Anspruch auf Eingliederungs-massnahmen

    2.1 Abklärung Eingliederungs-massnahmen

    Bestimmen der nötigen Abklärungen 5 8 10Arztbericht einholen 30 42 60Arbeitgeberbericht einholen 30 34 40Zusatzauskunft von Versicherten 21 21 21

    Interne Abklärungen:Abklärungen an Ort und Stelle 35 73 90

    Externe Abklärungen:1

    BEFAS (inkl. Wartezeiten) 100 126 180MEDAS (inkl. Wartezeiten) 210 309 450

    2.2 Verfügung Eingliederungsmass-nahmen

    Entscheid/Verfügung/Versand 10 13 19Bei Abweisungen (inkl.Vorbescheidverfahren) 21 29 33

    3. Anspruch IV-Rente3.1 Abklärung Anspruch auf IV-Rente(analog Abklärungen für Eingliederungs-massnahmen)Zusätzlich:Entscheid / Mitteilung Rentenzusprache 10 13 19Rentenberechnung 60 90 135

    3.2 BeschlussVerfügung 1 6 10Vorbescheids- und Anhörungsverfahren bei Abweisungen 33 24 35

    Aufgrund der Angaben der vier befragten IV-Stellen entspricht der«Minimalwert» (kürzeste durchschnittliche Dauer) bzw. «Maximal-wert» (längste durchschnittliche Dauer) dem jeweiligen Durch-schnittswert für die einzelnen Aktivitäten. Demnach schwankenzum Beispiel die Angaben der IV-Stellen für das Einholen des Ar-beitgeberberichtes zwischen 30 und 40 Tagen.

    Hinweis: Die Erhebungen basieren noch auf dem Verfahren vor In-Kraft-Treten des ATSG.

    1 BEFAS = Berufliche Abklärungsstellen der IVMEDAS = Medizinische Abklärungsstellen der IV

  • • Arzt: Der Arzt der versicherten Per-son erstellt ein Gutachten / einenBericht über den Gesundheits-schaden des Versicherten unddessen Auswirkungen auf dieArbeitsfähigkeit.

    • Arbeitgeber: Der Arbeitgeber beantworteteinen Fragebogen über die Ar-beitsverhältnisse.

    • Versicherte Person: Bei Bedarf können weitere In-formationen bei der versichertenPerson eingeholt werden.

    • IV-Stellen intern: Bei Bedarf können interne Ab-klärungsstellen weitere Abklä-rungen (medizinischer und / oderberuflicher Art) durchführen.

    • MEDAS/BEFAS: Bei Bedarf können die IV-Stellenzusätzlich auf die Expertisen wei-terer Abklärungsstellen zurück-

    greifen. Unter anderem stehenfür komplexe berufliche Abklä-rungen die BEFAS und für kom-plexe medizinische Abklärungendie MEDAS zur Verfügung.

    • Weitere Stellen: Z.B. Sozialdienste. Reichen die von den verschiedenen Stellen gelieferten

    Informationen für eine Fallbeurteilung aus, wird überdie berufliche Massnahme entschieden bzw. verfügt.

    2.3. Anspruch auf IV-RenteBei der Abklärung des Anspruchs auf eine IV-Rente

    sind analog den beruflichen Massnahmen die nötigenUnterlagen (insbesondere Arzt- und Arbeitgeberbe-richte) einzuholen. Zusätzliche Abklärungen medizini-scher bzw. beruflicher Art werden auch hier bei Bedarfdurchgeführt. Bei den Hausfrauen, Selbständigerwer-benden und Teilerwerbstätigen erfolgen zusätzlicheAbklärungen an Ort und Stelle. Wenn die Informatio-nen für einen Entscheid ausreichend sind, wird die In-validität bzw. der Invaliditätsgrad des Versicherten be-messen. Entsprechend diesem Invaliditätsgrad wird dieRentenhöhe berechnet. Im Falle einer ganzen Rentewird die Rente verfügt und zur Zahlung weitergeleitet.In Fällen einer halben oder einer Viertelsrente sowieeiner Rentenabweisung wird der versicherten Personder geplante Entscheid mitgeteilt (Vorbescheid) und eserfolgt noch eine Anhörung der versicherten Personvor der definitiven Rentenverfügung bzw. -Abweisung.

    2.4. Durchschnittliche BearbeitungsdauerIm Rahmen der Studie Münger (1997) haben sich vier

    IV-Stellen zur durchschnittlichen Bearbeitungsdauer inBezug auf die unter den Ziffern 2.1 bis 2.3. beschriebe-nen Tätigkeiten geäussert. Ihre Aussagen werden in derTabelle 5 vereinfacht dargestellt, wobei einerseits dievon den IV-Stellen am kürzesten genannte durch-schnittliche Bearbeitungsdauer (optimistische Ein-schätzung) bzw. die längste angegebene durchschnitt-liche Dauer (pessimistische Einschätzung) dargestelltwird.

    Die gesamte Verfahrensdauer, die mit dem Eintref-fen einer Anmeldung in der IV-Stelle bis zur Beschluss-fassung andauert, kann stark variieren. Insbesondereder Abklärungsprozess mit dem Einholen von verschie-denen Gutachten kann je nach Fall ausserordentlichzeitaufwändig ausfallen.

    3. Gründe für die Verfahrensdauer

    Eine der Hauptursachen für die lange Verfahrens-dauer liegt in der Komplexität der Abklärung eines IV-Falles. Die IV-Stellen führen eine gründliche Prüfungder Anspruchsbedingungen durch und oft müssen Gut-

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    320 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Szenarien für die durchschnittliche Verfahrensdauer 5beginnend von der Anmeldung bis zur Verfügung einer «beruflichen Massnahme» bzw. einer «IV-Rente»

    Minimalwert Mittelwert Maximalwert(in Tagen) (in Tagen) (in Tagen)

    Zusprache von beruflichen MassnahmenBerufliche Massnahme mit minima-len Abklärungen (nur Arzt- und Arbeitgeberbericht) 85 102 127Berufliche Massnahme mit Befra-gung Versicherte / Abklärung an Ort und Stelle 183 196 207Berufliche Massnahme mit BEFAS 205 228 276

    Abweisung von beruflichen Massnahmen+ Vorbescheidsverfahren + 21 + 29 + 33

    RentenzuspracheIV-Rente mit minimalen Abklärungen (nur Arzt- und Arbeitgeberbericht) 166 198 226IV-Rente mit Befragung Versicherte / Abklärung an Ort und Stelle 273 292 335IV-Rente mit BEFAS 281 324 346IV-Rente mit MEDAS 406 507 674

    Rentenabweisung+ Vorbescheidsverfahren + 33 + 34 + 34

    Lesebeispiel: Die Angaben der IV-Stellen in Bezug auf das Szenario«Zusprache einer beruflichen Massnahme mit BEFAS-Abklärung»variieren zwischen 205 und 276 Tagen.

    Hinweis: Die Erhebungen basieren noch auf dem Verfahren vor In-Kraft-Treten des ATSG.

  • achten von internen und/oder externen Stellen einge-holt werden. Die Anzahl der Schnittstellen, die für dieBeurteilung eines Falles miteinbezogen werden, kannbeachtlich sein.

    Nebst der erwähnten Komplexität bei einer Fallab-klärung können auch Schwachstellen im Vollzug dasVerfahren verlangsamen. Als Beispiele können ge-nannt werden:• Bei den Anmeldungen, die unvollständig sind, müs-

    sen die nötigen Informationen und Berichte nach-verlangt werden. Oft werden die Termine für dasnachträgliche Einholen der Informationen von Versi-cherten, Ärzten, Arbeitgebern usw. nicht eingehaltenund das Verfahren somit zusätzlich verlangsamt.

    • Es können Engpässe sowohl bei den IV-Stellenund/oder bei externen Abklärungsstellen wie bei denMEDAS und BEFAS zu einer Verlangsamungführen.Per Ende 2002 waren gesamtschweizerisch 54 050

    erstmalige IV-Anmeldungen pendent. Die Liegeortsta-tistik zeigt, dass etwa 45 % der erstmaligen Anmeldun-gen bei den IV-Stellen zur Bearbeitung lagen; der grös-sere Anteil ist jedoch auf externe Stellen verteilt (Ab-bildung 6).

    4. Zur Beschleunigung des Vollzugs eingeleitete Massnahmen

    Im Rahmen der 4. IV-Revision, die am 1. Januar 2004in Kraft tritt, sind unter anderem folgende Verbesse-rungsmassnahmen eingeleitet worden:• Die Einrichtung regionaler ärztlicher Dienste

    (RAD). Diese dienen als Kompetenzzentren der IV-Stellen für die medizinischen Abklärungen bei derAnspruchsbeurteilung der Leistungssuchenden undlösen die heutigen IV-Stellen-Ärzte ab. Bis Anfang2005 sollen die RAD in der ganzen Schweiz aktivsein.

    • Informationspolitik: Neu sieht das IVG vor, eine aktivere Informationspolitik gegenüber der Öffent-lichkeit bzw. gegenüber gezielten Gruppen wie Ärz-te, Versicherte, Arbeitgeber usw. zu betreiben. Inden Jahren 2004 bis 2006 wird sich die Informations-politik insbesondere auf die behandelnden Ärztekonzentrieren. Aufgrund des besseren Informations-standes der am Vollzug beteiligten Gruppen wird eine höhere Qualität der Leistungserbringung unddamit ein Beitrag zur Beschleunigung des Vollzugsangestrebt.

    • Interinstitutionelle Zusammenarbeit: Durch koordi-nierte Bemühungen aller im Eingliederungsprozessbeteiligten Institutionen (Sozialhilfestellen, Berufs-beratungsstellen, IV-Stellen, Regionale Arbeitsver-mittlungsstellen [RAV] und Logistikstellen arbeits-marktlicher Massnahmen [LAM]) sollen zeitlicheVerzögerungen im Schnittstellenbereich zwischenden beteiligten Vollzugsstellen vermieden, kunden-freundliche und administrativ schlanke Abläufe ge-fördert, die möglichst rasche und dauerhafte Wieder-eingliederung in den ersten Arbeitsmarkt unterstütztund die Ausgliederung einzelner Individuen undGruppen aus dem Erwerbs- und Gesellschaftslebenverhindert werden.

    • Eine kontinuierliche Verbesserung der Auswertun-gen über die Geschäftstätigkeit der IV-Stellen trägtzu einer höheren Transparenz bei. Die IV-Stellenkönnen sich in den wichtigsten Aufgabenbereichen inBezug auf Quantität und Qualität der Leistungen un-tereinander vergleichen. Ein entsprechendes Bench-marking bietet den Anreiz, sich stetig zu verbessern.Auf Anfang 2004 wird eine erste Auswertung derDurchlaufzeiten je Leistungsart und IV-Stelle mög-lich sein.

    Véronique Merckx, dipl. écon. et fin., lic. sc. pol, und Maria RosaVentrice, Betriebswirtschafterin HF, dipl. Controllerin SIB, Mitar-beiterinnen im Bereich Grundlagen, Geschäftsfeld Invalidenver-sicherung, BSV; E-Mails: [email protected],[email protected]

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 321

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    «Liegeorte» 6

    Ärzte

    MEDAS

    Spezialstellen

    Versicherte

    IV-Stellen

    Arbeitgeber

    Übrige

    22%

    3 %

    6 %

    7 %45 %

    3 %

    14 %

  • schwerpunktSchwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    322 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Die Invalidenversicherung (IV) in Kürze Ziel und Zweck

    Hauptziel der Invalidenversicherung (IV) ist es, die ökonomischen Folgen eines Gesundheitsschadens mit geeig-neten Eingliederungsmassnahmen zu verhindern, zu vermindern oder zu beheben und die verbleibenden ökonomi-schen Folgen im Rahmen einer angemessenen Deckung des Existenzbedarfs mit einer Rente auszugleichen.

    Der InvaliditätsbegriffInvalidität ist ein wirtschaftlicher Begriff. Die IV-relevante Behinderung muss auf ein Geburtsgebrechen, eine

    Krankheit oder einen Unfall zurückgehen. Der Gesundheitsschaden muss eine länger dauernde oder eine bleiben-de ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit nach sich ziehen. Die Versicherung erbringt Leistungen, wenn zwischendem Gesundheitsschaden und der teilweisen oder ganzen Erwerbsunfähigkeit ein ursächlicher Zusammenhang be-steht (Kausalität).

    Versicherte PersonenDie IV ist Teil der ersten Säule der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge und somit eine Volksversiche-

    rung. Eingeführt wurde sie im Jahre 1960. Die Invalidenversicherung versichert alle in der Schweiz wohnhaftenund/oder erwerbstätigen Personen.

    LeistungenIndividuelle Leistungen

    Die individuellen Leistungen der Invalidenversicherung können in drei Gruppen mit unterschiedlichen, zum Teilsich ergänzenden Aufgaben aufgeteilt werden.

    1. EingliederungsmassnahmenDamit behinderte Personen erwerbstätig oder in ihrem bisherigen Aufgabenbereich tätig werden oder bleiben

    können, werden sie von der IV mit verschiedenen Eingliederungsmassnahmen unterstützt (z.B. medizinische Mass-nahmen, berufliche Massnahmen, schulische Massnahmen, Hilfsmittel).

    2. RentenKann die versicherte Person trotz Eingliederungsmassnahmen nicht oder nur teilweise erwerbstätig sein, so rich-

    tet die IV eine Rente aus. Je nach Invaliditätsgrad, der aufgrund der noch verbleibenden Resterwerbsfähigkeit be-rechnet wird, erhält die versicherte Person eine Teilrente oder eine ganze Rente. Dabei muss die Erwerbseinbussemindestens 40 % betragen. Ausschlaggebend bei der Berechnung der Rente ist, wie lange die behinderte Personversichert und wie hoch ihr durchschnittliches Einkommen war.

    3. Entschädigung bei HilflosigkeitKann die versicherte Person den alltägliche Lebensverrichtungen nicht oder nur eingeschränkt nachkommen, so

    richtet die IV eine Hilflosenentschädigung aus.

    Kollektive LeistungenDie kollektiven Leistungen der Invalidenversicherung bestehen vor allem aus Beiträgen an Bau und Betrieb von

    Wohnheimen und Werkstätten für invalide Personen sowie aus Beiträgen an private Organisationen der Behinder-tenhilfe.

    Dezentraler VollzugEntscheide über IV-Renten werden in den Kantonen getroffen. Die Kantone, die mit 12,5 % an der Deckung der

    Ausgaben beteiligt sind, bestimmen, wie sie die IV-Stelle konkret organisieren, welches Personal sie anstellen undwie sie dieses ausbilden. Die kantonale IV-Stelle hat die Aufgabe, aufgrund der gesetzlichen Vorgaben, der Weisun-gen des Bundes und der Rechtsprechung die Angaben zu prüfen oder Abklärungen zu veranlassen und Entscheidezu treffen.

    Der Bund als AufsichtsbehördeDer Bund bzw. das BSV erlässt im Rahmen des Gesetzes und der Rechtsprechung Weisungen, welche bei einem

    Entscheid zu beachten sind. Das BSV entscheidet auch über den Umfang der Durchführungskosten der IV-Stellenund sorgt für das Angebot an fachlicher Ausbildung. Es prüft des Weiteren, ob die IV-Stellen die fachlichen Wei-sungen einhalten.

  • schwerpunkt

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 323

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    Zwei typische SituationenVerfahrensdauer in der IV

    Im Nachfolgenden wird anhand von zwei typischenSituationen aufgezeigt, welche Probleme durchlangwierige Verfahren bei der Abklärung einesLeistungsbegehrens entstehen können. Das ersteBeispiel betrifft einen Rentenfall, das zweite einMehrfachgesuch (medizinische Massnahme,Hilfsmittel, Sonderschulung und erstmalige beruflicheAusbildung).

    Die beiden Beispiele sollen die Realität der täglichenArbeit in einer IV-Stelle aufzeigen. Es handelt sich da-bei keineswegs um eine journalistische Aufbauschung,sondern um eine repräsentative Darstellung der Tätig-keiten, Vorgehen und Anforderungen, die für eine se-riöse Abklärung eines Falles nötig sind. Eine genauePrüfung der medizinischen, wirtschaftlichen und beruf-lichen Aspekte setzt eine umfassende Untersuchungdurch verschiedene Fachleute der IV-Stellen voraus.Daneben zieht die Invalidenversicherung auch zahlrei-che externe Spezialisten bei. Da diese externen Partner,insbesondere die medizinischen Gutachter, häufigüberlastet sind, zieht sich die Bearbeitungsfrist in dieLänge, ohne dass wir darauf Einfluss nehmen können.

    Beispiel A: Rentengesuch

    Im Januar 2000 reicht eine über 50-jährige Person ein IV-Rentengesuch ein. Die Versicherte, die als Sek-

    retärin arbeitete, leidet an Sehstörungen (grüner undgrauer Star). Sie ist der Ansicht, dass sie aufgrund die-ser Augenprobleme nicht mehr in der Lage ist, ihrenBeruf auszuüben.

    In einer ersten Phase der Abklärung muss die IV-Stelle die erforderlichen medizinischen Auskünfte so-wie alle relevanten Informationen über die bisherigeberufliche Tätigkeit der Versicherten einholen.

    Einige Wochen später gehen die ersten ärztlichenAuskünfte bei der IV-Stelle ein. Diese sind nach An-sicht des ärztlichen Dienstes der IV ungenügend; dieEinholung der zur Beurteilung des Falls erforderlichenZusatzinformationen nimmt viel Zeit in Anspruch.Ähnlich langwierig verläuft die berufliche Abklärung.Der Arbeitgeber, für den Frau X 20 Jahre lang gearbei-tet hat, ist gestorben. Durch seinen Tod im Jahr 1998hat die Versicherte damals ihre Stelle verloren. Erstnach mehreren Schreiben erhält die IV-Stelle die nöti-gen Angaben über die Berufstätigkeit von Frau X (Artder Beschäftigung, Lohn, Versicherungsleistungenusw.).

    Nach etwa 6 Monaten liegen sämtliche zur Beurtei-lung des Falls erforderlichen Informationen vor.

    Nach dieser ersten Abklärungsphase wird das Dos-sier an den ärztlichen Dienst der IV-Stelle weitergelei-tet, der den Fall wegen Überlastung erst fünf Monatespäter prüfen kann. Er kommt zum Schluss, dass die Er-werbsfähigkeit durch die Sehstörungen in diesem Fallnicht beeinträchtigt wird, wie es auch die 20-jährige Ar-beitstätigkeit der Versicherten beweise. Zudem wurdeseit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, die nicht ausmedizinischen Gründen erfolgte, keine Verschlechte-rung des Gesundheitszustandes festgestellt.

    Demzufolge werden – 12 Monate nach Rentenanmel-dung – Leistungen an die Versicherte mit Verfügungabgewiesen.

    Frau X reicht beim kantonalen VersicherungsgerichtBeschwerde ein, die 9 Monate später abgelehnt wird.Seit der Leistungsanmeldung von Frau X bei der IV-Stelle sind inzwischen 21 Monate vergangen.

    Die Versicherte leitet beim Eidgenössischen Versi-cherungsgericht ein Verfahren ein. Dieses entscheidet10 Monate später, die Angelegenheit an die IV-Stellezurückzuweisen. Die IV-Stelle soll das Dossier vervoll-ständigen, insbesondere soll sie abklären, welche Er-werbstätigkeiten die Gesuchstellerin unter Berücksich-tigung der krankheitsbedingten Einschränkungen nochausüben kann. Weiter soll die IV-Stelle die möglichenErwerbseinkünfte beurteilen. Zur Beantwortung dieser

    Alain Porchet und Claude MatossiIV-Stelle des Kantons Waadt

  • Fragen ist eine neue medizinische Abklärung nötig, dieweitere 6 Monate in Anspruch nimmt.

    Seit der Einreichung des Leistungsbegehrens sindmittlerweile 37 Monate vergangen.

    Aufgrund des Entscheids des Eidgenössischen Versi-cherungsgerichts prüft der Eingliederungsdienst derIV-Stelle die Situation eingehend und bestätigt 2 Mona-te später, dass die Versicherte weiterhin überwiegenderwerbsfähig ist und deshalb keinen Anspruch auf eineIV-Rente hat.

    Die Verfügung wird noch im selben Monat erlassen.Alles in allem sind bis zur definitiven Leistungsverwei-gerung 39 Monate vergangen.

    Beispiel B: Gesuch um medizinischeMassnahmen, Hilfsmittel, Sonderschulung understmalige berufliche Ausbildung

    Ein 15-jähriges Mädchen ausländischer Herkunftkommt zusammen mit seinen Eltern in die Schweiz. Esleidet an Muskelschwund und ist auf den Rollstuhl an-gewiesen.

    Nach einem einjährigen Aufenthalt und auf Anrateneiner Organisation der privaten Invalidenhilfe wird einIV-Gesuch für vier verschiedene Leistungen einge-reicht: medizinische Massnahmen, Hilfsmittel (insbe-sondere ein neuer Rollstuhl), Sonderschulung und erst-malige berufliche Ausbildung.

    Die IV-Stelle nimmt die Prüfung des Gesuchs nachdem üblichen Verfahren auf. In dieser besonderen Si-tuation muss zunächst die Rechtsstellung der Betroffe-nen abgeklärt werden, um festzustellen, ob die versi-cherungsmässigen Voraussetzungen erfüllt sind. Da-nach werden vollständige medizinische Informationeneingeholt, was bei Personen aus dem Ausland oft mitSchwierigkeiten verbunden ist. Zur Bestimmung dergenauen Umstände, die zur Invalidität geführt haben,ist ein ärztliches Gutachten erforderlich.

    Nach 10 Monaten sind die Abklärungen abgeschlos-sen und das Dossier wird dem ärztlichen Dienst und da-nach dem Rechtsdienst der IV-Stelle unterbreitet, derfür jede der beantragten Leistungen die folgende Fragebeantworten muss:

    «Hat sich die Versicherte unmittelbar bevor die be-antragte Leistung objektiv angezeigt war, ununterbro-chen während mindestens eines vollen Jahres in derSchweiz aufgehalten?»

    Im Gegensatz zu bestimmten Leistungen, deren An-spruch relativ rasch geprüft werden kann, ist die Über-prüfung des Anspruchs auf Sonderschulung sehr zeitin-tensiv. Es muss abgeklärt werden, ob die Sonderschu-lungsmassnahmen im Rahmen der fortschreitendenKrankheit der Betroffenen bereits weniger als ein Jahrnach ihrer Einreise in die Schweiz angezeigt waren.

    Nach Prüfung durch den ärztlichen Dienst und denRechtsdienst wird der Leistungsanspruch für die Son-derschulungsmassnahmen verweigert; die erstmaligeberufliche Ausbildung und die Berufsberatung werdenhingegen gewährt. Dieser Entscheid fällt 16 Monatenach Eingang des Leistungsbegehrens.

    Einige Wochen später empfängt ein Psychologe undBerufsberater des Eingliederungsdienstes der IV-Stelledie Betroffene. Sie erscheint in Begleitung ihrer Eltern,einer Übersetzerin (die Eltern verstehen kein Franzö-sisch) und eines Vertreters der privaten Invalidenhilfe.Nach diesem ersten Gespräch schlägt der Berater derIV-Stelle eine Reihe von Tests vor, mit deren Hilfe dieFähigkeiten, die Interessen und die Einschränkungendes jungen Mädchens ermittelt werden sollen. Die Er-gebnisse zeigen ein gutes Denkvermögen, ein Interessefür den kaufmännischen Bereich, jedoch auch grosseLücken in der französischen Sprache und eine krank-heitsbedingte Langsamkeit bei der Ausführung von Ar-beiten. Inzwischen sind 20 Monate seit Einreichung desLeistungsbegehrens vergangen. Auf der Grundlage derAbklärungen werden einerseits Französischkurse vor-geschlagen (diese werden nicht von der IV übernom-men, da sie nicht mit den gesundheitlichen Problemenin Zusammenhang stehen; die Organisation der priva-ten Invalidenhilfe sucht demzufolge nach einer Finan-zierung), andererseits wird in einer IV-Ausbildungs-stätte eine berufliche Abklärung organisiert. Diese Ab-klärung wird sechs Monate später, nachdem dasMädchen das erforderliche Französischniveau erreichthat, durchgeführt (26 Monate nach der Einreichung desGesuchs). Die Kosten für diese Massnahme (Kurse, Be-treuung, Unterkunft, in Übereinstimmung mit der obengenannten Verfügung) werden vollumfänglich von derIV übernommen. Nach Beendigung der beruflichenAbklärung wird in der Ausbildungsstätte in Anwesen-heit aller betroffenen Parteien Bilanz gezogen. Trotz ih-rer guten intellektuellen Fähigkeiten kann sie den An-forderungen der Arbeitswelt aufgrund der allzu grossenkörperlichen Behinderungen nicht genügen. Folglichkommt nur eine Arbeit in einer geschützten Werkstätte(im Bürobereich) in Frage. Bis zu diesem Zeitpunktsind 29 Monate vergangen.

    Der Berater der IV-Stelle hat die heikle und wichtigeAufgabe, der Betroffenen und ihrer Familie die Lage zuerklären und eine angemessene Beschäftigung zu orga-nisieren.

    Die Prüfung des Rentenanspruchs erfolgt, nachdemalle benötigten Informationen vorliegen. Nach 34 Mo-naten wird eine Verfügung erlassen.

    Es ist noch zu erwähnen, dass die IV-Stelle währenddes Verfahrens den Anspruch auf eine Hilflosenent-schädigung geprüft hat, obwohl diese nicht im Leis-tungsgesuch genannt wurde. Bei der Prüfung des Dos-siers hat sich gezeigt, dass dieser Anspruch begründet ist.

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    324 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

  • schwerpunkt

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 325

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    Die Dauer des IV-Verfahrens erschwert dieEingliederung behinderter Menschen erheblich

    Die IV steht heute im Kreuzfeuer der Kritik. Je nachOptik bzw. politischem Standort ist die Wahrnehmungallerdings ganz unterschiedlich: Die einen stossen sichdaran, dass sich die Beurteilungspraxis in den letztenJahren verschärft hat, die anderen erachten dieKostenexplosion als untragbar und verlangen nachentsprechenden Massnahmen. Einigkeit bestehtjedoch wohl darin, dass die durchschnittliche Dauerdes heutigen Verfahrens weder im Interesse derVersicherung noch der Versicherten liegt. Im Folgen-den soll aus der Sicht der betroffenen Menschen miteiner Invalidität die Situation aufgezeigt und dieFolgen analysiert werden. Anschliessend sollen einigeGedanken über mögliche Ansätze zu einer Verbes-serung der Situation skizziert werden.

    Ein Beispiel aus der Praxis

    Herr D ist 53-jährig und hat bisher in verschiedenenBetrieben als Maler-Gipser gearbeitet. RheumatischeBeschwerden degenerativer Art im Bereich von Schul-ter und Rücken belasten ihn seit einigen Jahren und be-einträchtigen die Arbeitsleistung in zunehmendemMass. Ein neuer Beschwerdeschub veranlasst den Arztvon Herrn D schliesslich, ihn arbeitsunfähig zu er-klären. Nach drei Monaten kommt es zu einem Arbeits-versuch, der allerdings nach wenigen Wochen wiederscheitert: Herr D wird erneut arbeitsunfähig geschrie-ben, er bezieht nun ein Krankentaggeld aus der Kollek-tivversicherung seines Arbeitgebers.

    Nachdem weder die vom Hausarzt angeordnete Phy-siotherapie noch eine medikamentöse Schmerztherapiezu einer wesentlichen Verbesserung der Situation ge-führt haben, empfiehlt der Arzt seinem Patienten, sichbei der IV für eine Umschulung anzumelden. Herr Dtut dies ohne Verzug (es sind mittlerweile zehn Monateseit Beginn der Arbeitsunfähigkeit verstrichen). DieIV-Stelle prüft als Erstes die Versicherungsvorausset-zungen und holt danach beim behandelnden Arzt undbeim Arbeitgeber je einen Bericht ein. Der Arzt hältfest, dass Herr D in seinem Beruf als Maler-Gipser wei-terhin 100 % arbeitsunfähig ist, dass aber eine leichtereTätigkeit mit gewissen Einschränkungen in einem an-derem Beruf denkbar wäre (evtl. nur teilzeitlich), wes-halb eine Umschulung zu prüfen sei. Die IV-Stelle ent-schliesst sich darauf, ein Gutachten bei der Univer-sitätsklinik in Auftrag zu geben.

    Die langen Wartezeiten in der Universitätsklinikführen dazu, dass das Gutachten mit Verspätung abge-

    Kommentar

    Die vom Arzt festgestellte Erwerbsunfähigkeit unddie Invalidität im Sinne der IV sind zwei verschiedeneDinge, die wir versucht haben anhand der beiden Bei-spiele aufzuzeigen. Der Umstand, dass die IV zuerstden kausalen Zusammenhang zwischen dem Gesund-heitsschaden und ihren wirtschaftlichen Auswirkungenfeststellen muss, erklärt die Komplexität und Langwie-rigkeit des Verfahrens.

    Wir hoffen, dass wir mit diesen zwei Beispielen ver-ständlich gemacht haben, dass eine IV-Stelle nicht in-nert einem oder zwei Monaten gewissenhaft über ein

    Leistungsbegehren entscheiden kann (ausser in einigenAusnahmefällen). Dennoch sind die IV-Organe stetsdarum bemüht, die Abklärungsverfahren durch ver-schiedene interne Massnahmen zu beschleunigen; dieexternen Abläufe können wir leider kaum beeinflussen.

    Alain Porchet, Direktor der IV-Stelle des Kanton Waadt, Vevey,E-Mail: [email protected]; Claude Matossi, Psychologeund Berufsberater, IV-Stelle Waadt,E-Mail: [email protected]

    Georges PestalozziDOK

  • liefert wird. Es bestätigt weitgehend die Einschätzungdes Hausarztes; die Arbeitsfähigkeit in einer leidensan-gepassten Tätigkeit schätzt es auf 80 % ein. Gleichzeitighält es aber fest, dass beim Versicherten in der Zwi-schenzeit eine erhebliche depressive Entwicklung vor-liegt. Die IV-Stelle ordnet nun (20 Monate nach Beginnder Arbeitsunfähigkeit) ein zusätzliches psychiatrischesGutachten an. Dieses wird nach weiteren vier Monatenabgeliefert und bestätigt das Vorliegen einer mittel-schweren depressiven Entwicklung. Eine 50 %-Tätig-keit sei dem Versicherten aber weiterhin in einer leich-ten Tätigkeit zumutbar.

    Nun weist die IV-Stelle den Versicherten an ihre be-rufliche Abteilung mit dem Auftrag um Unterstützungbei der Arbeitssuche und Klärung allfälliger weitererberuflicher Massnahmen. Herrn D ist mittlerweile dasArbeitsverhältnis gekündigt worden, er hat seinen Tag-geldanspruch ausgeschöpft und er hat sich mangels Ein-kommen an die Gemeinde zwecks Unterstützung imRahmen der Sozialhilfe wenden müssen; die finanzielleSituation belastet mittlerweile auch seine Ehe. DieBemühungen um Arbeitsvermittlung erweisen sich beidiesem mehrfach beeinträchtigten Mann in Anbe-tracht des bestehenden Arbeitsmarktes als aussichtslos,eine Umschulung erachtet der Berufsfachmann eben-falls als nicht erfolgversprechend. 31 Monate nach Be-ginn der Arbeitsunfähigkeit stellt die IV-Stelle schliess-lich fest, dass kein Anspruch auf weitere beruflicheMassnahmen bestehe; der Invaliditätsgrad wird auf58 % berechnet und die Ausgleichskasse angewiesen,rückwirkend eine halbe Rente zu gewähren. Nach wei-teren vier Monaten erhält Herr D die entsprechendeVerfügung. Er wird nun ergänzend einen Antrag fürErgänzungsleistungen stellen: Frühestens wenn dieserentschieden ist, wird Herr D nicht mehr von der Sozial-hilfe abhängig sein.

    Das geschilderte Beispiel ist keineswegs ausserge-wöhnlich. In vielen Fällen ziehen sich die Abklärungenüber eine weit längere Dauer hin und werden Renten-verfügungen erst nach vier, fünf oder gar sechs Jahrengefällt, vorab wenn sich die medizinische Situation lau-fend verändert oder wenn aufgrund von Einsprachenergänzende Abklärungen angeordnet werden müssen.

    Auswirkungen

    Es ist unter Fachleuten unbestritten, dass eine Per-son, welche mehr als zwölf Monate nicht mehr im Be-rufsleben gestanden hat, weit schwieriger wieder in denArbeitsprozess einzugliedern ist als eine Person, diebloss während drei oder sechs Monaten von der Arbeitferngeblieben ist. Diese Wirkung dürfte sich bei Men-schen in fortgeschrittenem Alter verstärken. Wenn Be-rufsberatung und Arbeitsvermittlung wie im beschrie-

    benen Beispiel erst nach 24 Monaten einsetzen, so sinddie Chancen einer erfolgreichen Eingliederung im All-gemeinen nur noch gering: Der Glauben an die eigenenMöglichkeiten, sich auch in einem berufsfremden Ar-beitssektor sinnvoll einbringen zu können, die innereAntriebskraft und Motivation, welche für eine erfolg-reiche Eingliederung von entscheidender Bedeutungsind, sowie Flexibilität und Anpassungsfähigkeit leidenunter einer längeren Abwesenheit vom Arbeitsprozessganz erheblich. Es kommt eine Wechselwirkung hinzu:Wer für sich als Folge längerer Arbeitsunfähigkeit kei-ne Perspektiven mehr sieht, entwickelt häufig depres-sive Symptome, welche die Möglichkeiten zusätzlicheinschränken.

    Die Tatsache, dass sich Menschen mit einer gesund-heitlichen Beeinträchtigung in der Regel häufig zu spätfür Massnahmen der IV anmelden, und die oft über-mässig lange Dauer des Verfahrens in der IV beein-trächtigen somit nicht nur die beruflichen Eingliede-rungschancen der Betroffenen, sie schaden letztlich derIV als Versicherung; denn wer nicht mehr in den beruf-lichen Prozess zurückgeführt werden kann, wird erfah-rungsgemäss früher oder später eine ganze Invaliden-rente beziehen und damit die Versicherung kostenmäs-sig weit mehr belasten.

    Die lange Verfahrensdauer führt aber auch dazu,dass selbst jene Versicherten, die an sich über ein vollesKrankentaggeld verfügen (es sind dies in unserem Sys-tem ohne entsprechendes Obligatorium lange nicht alle!), in zunehmenden Mass riskieren, sozialhilfe-abhängig zu werden. Der vermeintliche Versicherungs-schutz gegen Invalidität erweist sich somit für etlicheBetroffene – zumindest vorübergehend – als keiner:Wer über viele Jahre Beiträge an die Versicherung ge-zahlt hat und nun feststellen muss, dass er im Versiche-rungsfall ohne Mittel dasteht, reagiert verständlicher-weise mit Verbitterung. Den Gang zur Sozialhilfe emp-finden viele Betroffene als zutiefst entwürdigend. Dieprivaten Organisationen der Behindertenhilfe versu-chen zwar im einen oder anderen Fall mit Beiträgen

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    326 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Wenn Berufsberatung und Arbeitsver-mittlung erst nach 24 Monaten einset-zen, so sind die Chancen einer erfolg-reichen Eingliederung im Allgemeinennur noch gering.

  • oder Vorschüssen diesen Schritt zu verhindern, sindaber kaum noch in der Lage, der zunehmenden Zahlvon entsprechenden Gesuchen gerecht zu werden. Dassinvalid gewordene Menschen während einer gewissenPhase des Abklärungsverfahrens sozialhilfeabhängigwerden, wird heute schon beinahe schicksalhaft alsselbstverständlich und unvermeidlich angenommen:Dieser «Nebeneffekt» dürfte allerdings kaum im Sinnedes Gesetzgebers sein.

    Was sind nun aber die genauen Ursachen für diebeschriebenen Missstände und welche Massnahmenkönnten zu einer Verbesserung beitragen? Ich erlaubemir in der Folge einzelne ausgewählte Punkte aufzu-greifen, im Bewusstsein, dass die Thematik komplexist und eine Vielzahl von Faktoren, die nur bedingt zu beeinflussen sind, zum heutigen Zustand geführthaben.

    Anmeldung: Welches ist der richtigeZeitpunkt?

    Werden Menschen mit einer länger dauernden ge-sundheitlichen Beeinträchtigung konfrontiert, so stelltsich ihnen die Frage, wann sie sich bei der IV zum Leis-tungsbezug anmelden sollen. Wenn berufliche Mass-nahmen in Anbetracht der Schwere der Behinderungoder des fortgeschrittenen Alters zum vornherein alsaussichtslos erscheinen und einzig eine Rente in Be-tracht fällt, so wird in der Praxis geraten, die Anmel-dung kurz vor Ablauf des Wartejahres einzureichen.Wenn demgegenüber berufliche Massnahmen zumin-dest möglich erscheinen (was doch überwiegend derFall ist), so müsste die Anmeldung unbedingt früher er-folgen.

    Die Wahl des richtigen Zeitpunktes ist allerdingsnicht einfach: Sozialberatungsstellen berichten immerwieder, dass sie ihre Klienten zu einer Anmeldung ge-drängt haben, die IV-Stelle dann aber das Gesuch als«frühzeitig» abgewiesen hat (mit dem Vermerk, die ver-sicherte Person könne sich nach Ablauf des Wartejah-res wieder melden); manchmal wird das Gesuch auchsistiert. Mit einer solchen Praxis wird eine rechtzeitigeEingliederung erschwert. Auch wenn wir ein gewissesVerständnis dafür aufbringen können, dass bei labilengesundheitlichen Entwicklungen nach vier bis fünf Mo-naten oftmals noch keine Sicherheit besteht, dass sichspäter eine eigentliche Invalidität entwickeln wird, somüssten derartige Anmeldungen nach dem Grundsatz«im Zweifel für die Eingliederung» entgegengenom-men und behandelt werden; dies umso mehr als in derersten Phase der Gesuchsbehandlung noch keine Geld-leistungen, sondern primär Berufsberatung und Ar-beitsvermittlung, d.h. persönliche Dienstleistungen, zurDiskussion stehen.

    Die frühzeitige Anmeldung macht also nur dannSinn, wenn die IV-Stellen solche Gesuche entgegen-nehmen und materiell behandeln. Ist dies sichergestellt,so stellt sich im Weiteren die Frage, wie die Betroffenendazu gebracht werden können, sich rechtzeitig anzu-melden. Etliche von ihnen hoffen (allzu) lange, einesTages wieder in ihren Beruf zurückkehren zu können;solange sie noch darauf fixiert sind, verdrängen sie denGedanken an eine berufliche Neuorientierung. Hierkommt in erster Linie der behandelnden Ärzteschaft eine wichtige Funktion zu: Sie muss mit einer realisti-schen Information ihre Patienten und Patientinnen aufdie Notwendigkeit rechtzeitiger beruflicher Massnah-men und die Notwendigkeit einer frühzeitigen Anmel-dung bei der IV hinweisen. Im Rahmen des vorgesehe-nen Projekts für eine verbesserte Ärzteinformationsollte dieser Punkt ein zentrales Element bilden.

    Auch die Arbeitgeber (und teilweise die Kollektiv-Taggeldversicherungen) müssen mittels Informations-kampagnen dazu gebracht werden, die Versicherten imHinblick auf eine frühzeitige berufliche Eingliederungzu einer rechtzeitigen IV-Anmeldung zu motivieren.Sie werden sich immer dann von der Notwendigkeiteines solchen Schrittes überzeugen lassen, wenn sie sel-ber z.B. aufgrund von positiven Erfahrungen davonüberzeugt sind, dass die IV-Stellen bzw. ihre Berufs-fachleute einen wirkungsvollen Beitrag an die Einglie-derung behinderter Menschen leisten können. Dieswiederum bedingt den langfristigen Aufbau von Ver-trauensbeziehungen in jedem Kanton.

    Medizinische Abklärung:Wie kann sie beschleunigt werden?

    Wie im einleitenden Beispiel aufgezeigt worden ist,sind primär die medizinischen Abklärungen für die aus-serordentlich lange Dauer des IV-Verfahrens verant-wortlich. Solange in dieser Hinsicht keine Beschleuni-gung erreicht werden kann, wird das Malaise für die be-troffenen Versicherten anhalten. Das BSV setzt dies-bezüglich grosse Hoffnungen auf die neuen regionalenärztlichen Dienste, welche eine raschere Beurteilungder medizinischen Situation gewährleisten und die Not-wendigkeit der Einholung externer ärztlicher Gutach-ten verringern sollen.

    Ob dieses Ziel erreicht werden kann, bleibt abzuwar-ten. Voraussetzung dafür ist, dass die regionalen ärztli-chen Dienste bei Aufnahme ihrer Tätigkeit mit genü-gend qualifiziertem medizinischem Personal dotiertsind, dass sich bei diesen neuen Stellen kein neuer Ak-tenstau (mit entsprechenden neuen Verzögerungen)bildet, dass die Dienste überzeugende Einschätzungenabzuliefern vermögen, welche auf eine gewisse Akzep-tanz bei den Versicherten und ihren behandelnden Ärz-

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 327

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

  • ten stossen und dass sie ihre Aufgabe nicht primär dar-in erblicken, möglichst viele Versichertenbegehren ab-zuwehren. Nur dann wird es gelingen, die Notwendig-keit externer Gutachtenaufträge zu verringern.

    Dies erscheint uns dringend nötig. Aus der Sicht vonBetroffenen ist es schlicht inakzeptabel, wenn ihnenbeispielsweise mitgeteilt wird, es sei ein MEDAS-Gut-achten angeordnet worden, sie dann aber kein Aufge-bot erhalten und bei Nachfrage den Bescheid erhalten,

    die Wartezeit betrage momentan zwei Jahre. Parallelzum Aufbau der regionalen ärztlichen Dienste müsstesich die Verwaltung deshalb unbedingt darum bemü-hen, die Zahl der polydisziplinären Gutachterstellenweiter zu erhöhen oder vermehrt private Gutachter zuberücksichtigen. Ein Gutachten sollte im Prinzip innertdrei Monaten nach Erteilung des Auftrags vorliegen.

    Dass heute derart viele strittige Fälle einer Begutach-tung zugeführt werden müssen, ist unseres Erachtensnicht primär das Ergebnis vermehrter Anwaltstätigkeit,sondern liegt in erster Linie darin begründet, dass dieEinschätzungen der behandelnden Ärzte und jene derIV-Ärzte über die zentrale Frage, was einer gesundheit-lich beeinträchtigten Person alles zugemutet werdenkann oder nicht, immer mehr auseinanderdriften. Esmag sein, dass das Projekt einer umfassenden Ärztein-formation diese Kluft wieder etwas zu schliessen ver-mag, sicher ist dies allerdings keineswegs. Solange diemedizinischen Einschätzungen weiter in diesem Aus-mass auseinandergehen, werden regelmässig Experti-sen einzuholen sein, weshalb die diesbezüglichen Kapa-zitäten sichergestellt werden müssen.

    Vorziehen der beruflichen Abklärung?

    Vor der 3. IVG-Revision hatte sich in verschiedenenKantonen die Praxis eingebürgert, dass die Versicher-ten direkt mit den Berufsberatern der damaligen IV-Regionalstellen Kontakt aufnehmen und auf unbüro-kratische Art und Weise berufliche Beratung und Hilfebeanspruchen konnten. Mit der neuen Organisation istdas Verfahren formeller geworden: Erst wenn eine An-

    meldung eingereicht worden ist, die versicherungsmäs-sigen Voraussetzungen geprüft worden sind und auf-grund einer einlässlichen medizinischen Abklärung dieinvaliditätsmässigen Voraussetzungen als erwiesen gel-ten, können berufliche Massnahmen wie Berufsbera-tung und Hilfe bei der Arbeitsvermittlung verfügt wer-den; dann aber ist es, wie bereits dargelegt, für eine wir-kungsvolle berufliche Eingliederung häufig schon zuspät.

    Es muss unseres Erachtens deshalb ernsthaft in Er-wägung gezogen werden, ob nicht wieder ein direktererZugang zur Berufsberatung aufgebaut werden könnte;etwa in dem Sinne, dass in Fällen, in denen mit einer ge-wissen Wahrscheinlichkeit berufliche Abklärungen undHilfestellungen notwendig werden, die Dienste der IV-Berufsfachleute unmittelbar nach der Anmeldung undparallel zu den medizinischen Abklärungen in An-spruch genommen werden dürfen, solange die IV nichtmit eigentlichen Geld- und Sachleistungen belastetwird; d.h. die Berufsfachleute könnten persönlich Hilfe-leistungen gewähren, die Situation mit dem Arbeitge-ber erörtern, Massnahmen diskutieren, beraten undvermitteln, jedoch weder Abklärungsaufenthalte an-ordnen noch Umschulungen bewilligen. Damit liessesich eine erhebliche Beschleunigung der Abläufe errei-chen. Dass dadurch im einen oder anderen Fall beruf-liche Massnahmen gewährt werden könnten, bei denensich im Rahmen der weiteren Abklärungen ergibt, dass gar keine relevante Invalidität vorliegt, müsste zuGunsten einer raschen Eingliederung in Kauf genom-men werden.

    Personelle Kapazitäten genügend?

    Wenn ein Dossier heute bei einer IV-Stelle selber(und nicht im Rahmen externer Abklärungen) liegenbleibt, so hat dies nach unserer Einschätzung in den we-nigsten Fällen mit ungenügender Organisation oder garmit «trölerischem» Verhalten zu tun, sondern vielmehrmit der Tatsache, dass die personellen Ressourcen derIV-Stellen für die Behandlung der steigenden Anzahlvon Gesuchen (allzu) knapp bemessen sind. Dies giltvor allem für den Bereich der Berufsberatung und derArbeitsvermittlung: Es gibt immer wieder Versicherte,die sich an die Beratungsdienste der Behindertenorga-nisationen wenden und geltend machen, sie hätten erstnach einer relativ langen Wartezeit einen Termin beimIV-Berufsberater erhalten, dieser habe dann überlastetgewirkt und sich nicht ernsthaft mit ihrem Anliegen be-fassen können. Solche Erfahrungen sind nicht selten.Wohl vermag im einen oder anderen Fall hartnäckigesNachfragen den Gang der Dinge wieder zu beschleuni-gen, doch bleiben die fehlenden Kapazitäten trotz allemspürbar.

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    328 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Dass heute derart viele Gutachten er-stellt werden, liegt vorab darin begrün-det, dass die Einschätzungen der be-handelnden Ärzte und der IV-Ärzte im-mer mehr auseinanderdriften.

  • Nachdem das Parlament im Rahmen der 4. IVG-Re-vision erfreulicherweise das Pflichtenheft der IV-Stel-len im Bereich der Arbeitsvermittlung erweitert hat,bleibt jetzt zu hoffen, dass die nötigen personellen Res-sourcen für eine aktive Vermittlungstätigkeit bereitge-stellt werden können und sich in diesem Sektor nichtein neuer Pendenzenstau bildet, der das Verfahren wie-derum verlängert. Sollten sich derartige Tendenzen ab-zeichnen, so müsste rasch Gegensteuer gegeben wer-den.

    Koordination: WeiteresVerzögerungspotenzial?

    Wie bereits dargelegt, dauert das Verfahren in der IVbereits heute im Allgemeinen viel zu lange. Nun drohenim Zusammenhang mit der durch das ATSG und diezugehörigen Ausführungsnormen verlangten besserenKoordination unter den Sozialversicherern weitereVerzögerungen: Wenn die IV-Stelle eine Rente verfügt,so hat sie ihren Entscheid neu der zuständigen Einrich-tung der beruflichen Vorsorge zuzustellen, soweit dieVerfügung deren Leistungspflicht zu beeinflussen ver-

    mag. Selbst wenn eine versicherte Person mit dem Ent-scheid der IV-Stelle nach jahrelangen Abklärungen ein-verstanden ist, bedeutet dies also noch nicht zwingenddas Ende des Verfahrens; denn die Pensionskasse kannnun ihrerseits, wenn sie mit der Einschätzung der IV-Stelle nicht einig geht, Einsprache erheben und weitereAbklärungen verlangen.

    Bisher sind die Beratungsstellen der Behindertenor-ganisationen glücklicherweise noch nicht allzu häufigmit solchen Einsprachen konfrontiert worden. Esscheint, dass die Einrichtungen der beruflichen Vorsor-ge die Entscheide der IV-Stellen im Allgemeinen alsvertretbar akzeptieren. Ob dies auch so bleibt, ist je-doch keineswegs gewiss. Je nach Entwicklung wirdernsthaft darüber diskutiert werden müssen, ob die(grundsätzlich begrüssenswerte) Koordination zwi-schen den Sozialversicherern wirklich eine zusätzlicheVerlängerung des Verfahrens und damit zusätzlicheBittgänge behinderter Menschen bei der öffentlichenoder privaten Fürsorge rechtfertigt.

    Georges Pestalozzi-Seger, Stv. Sekretär der Dachorganisationen-konferenz der privaten Behindertenhilfe (DOK), Rechtsdienst fürBehinderte, Bern; E-Mail [email protected]

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 329

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

  • schwerpunktSchwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    330 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Schwächen des Verfahrensrechts

    Durch die Einführung des Datenschutzgesetzes (DSG)und des Bundesgesetzes über den allgemeinen Teil desSozialversicherungsrechts (ATSG) ist das Verfahren inder IV erheblich aufwendiger geworden. Die IV-Stellenbenötigen entsprechend mehr Personal. Für Anwältehat sich das Betätigungsfeld erweitert.

    Ein Fallbeispiel

    Ermächtigung zur AuskunfterteilungHerr A.B. stellt vertreten durch eine Anwältin das

    Gesuch um Leistungen der IV. Damit die IV-Stelle dienotwendigen Abklärungen vornehmen kann, benötigtsie eine entsprechende Ermächtigung der versichertenPerson.

    Art. 28 Abs. 3 ATSG: Personen, die Versicherungsleistungen beanspru-chen, haben alle Personen und Stellen, namentlich Arbeitgeber, Ärztinnenund Ärzte, Versicherungen sowie Amtsstellen im Einzelfall zu ermächtigen,die Auskünfte zu erteilen, die für die Abklärung von Leistungsansprüchenerforderlich sind. Diese Personen und Stellen sind zur Auskunft verpflichtet.

    Diese Ermächtigung der IV-Stelle wird von der An-wältin verweigert. Sie verlangt, dass für jede einzelneAuskunft die Ermächtigung vorgängig einzuholen undsie über den Inhalt der geplanten Abklärung zu unter-richten sei. Eine pauschale Ermächtigung werde nichterteilt. Auf den daraufhin folgenden Nichteintretens-entscheid der IV-Stelle hin erhebt die Anwältin sowohlAufsichtsbeschwerde beim BSV wie auch Einsprachebei der IV-Stelle und nach deren Abweisung Beschwer-de beim Verwaltungsgericht.

    Allein die IV-Stelle Bern holt pro Jahr gegen 200 000Auskünfte ein. Müsste sie vorgängig jeder Anfrage einebegründete Ermächtigung einholen, würde dies den ur-

    sprünglichen Aufwand und die entsprechende Verfah-rensdauer mehr als verdoppeln.

    BegutachtungsauftragWegen sich widersprechenden Arztzeugnissen aus

    verschiedenen Spezialgebieten wird eine fachübergrei-fende Begutachtung in einer MEDAS (medizinischeAbklärungsstelle) notwendig.

    Art. 44 ATSG: Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachver-halts ein Gutachten einer oder eines unabhängigen Sachverständigen ein-holen, so gibt er der Partei deren oder dessen Namen bekannt. Diese kannden Gutachter aus triftigen Gründen ablehnen und kann Gegenvorschlägemachen.

    Die Anwältin verlangt die Namen der Ärzte, welcheden Versicherten untersuchen werden. Da diese imVornherein noch nicht feststehen, wird ihr die Liste al-ler in jenem Zeitpunkt in Frage kommenden Ärzte zu-gestellt. Erst nach Abweisung der nicht stichhaltigenEinwände kann das Gutachten in Auftrag gegeben wer-den.

    Art. 51 ATSG: Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die nicht un-ter Artikel 49 Absatz 1 fallen, können in einem formlosen Verfahren be-handelt werden. Die betroffene Person kann den Erlass einer Verfügungverlangen.

    Die IV-Stelle erteilt der Begutachtungsstelle formlosden Auftrag zur Begutachtung. Die Anwältin verlangtden Erlass einer anfechtbaren Verfügung. Nach derenErlass erhebt sie Beschwerde beim Versicherungsge-richt mit der Begründung, die medizinische Situationsei bereits ausreichend abgeklärt.

    Recht zur Einsprache und AkteneinsichtVor diesem Hintergrund hatte das Eidgenössische

    Versicherungsgericht in seinem Entscheid vom 19. No-vember 1999 (AHI-Praxis 2000/320), also vor Inkraft-treten des ATSG, das einfache und rasche Verfahren inder IV gestützt, indem es diese Interventionen nur imRahmen des Anhörungsverfahrens zuliess: Währenddes Abklärungsverfahrens besteht kein Anhörungs-recht der Versicherten. Erst im Rahmen des An-hörungsverfahrens können sämtliche Anträge und Ein-wendungen bezüglich der Erledigung vorgebracht wer-den. Zwar können die Versicherten auch anlässlich derEinholung von Gutachten ihre Einwendungen gegendie Begutachtung anbringen, aber die IV-Stellen sindnicht verpflichtet darauf einzutreten (Erw. 3b und c).Für Anordnungen, die bei der Abklärung der Verhält-nisse getroffen werden, haben die IV-Stellen keine Ver-fügung zu erlassen (Änderung der Rechtsprechung).

    Markus GamperIV-Stelle Bern

  • Art. 47 ATSG: Sofern überwiegende Privatinteressen gewahrt bleiben,steht Akteneinsicht zu:

    a. der versicherten Person für die sie betreffenden Akten.Art. 8 Abs. 2 DSG: Der Inhaber einer Datensammlung muss ihr (der be-

    troffenen Person) mitteilen:a. alle über sie in der Datensammlung vorhandenen Daten;• den Zweck und gegebenenfalls die Rechtsgrundlagen des Bearbei-

    tens…

    Der betroffenen Person steht damit nicht nur die ver-fahrensrechtliche Akteneinsicht zu, sondern auch dasRecht auf Auskunft nach der Datenschutzgesetzge-bung. Dieses kann grundsätzlich jederzeit, unabhängigvon einem Verwaltungsverfahren und ohne einen Inte-ressennachweis geltend gemacht werden.

    Im Laufe des Abklärungsverfahrens verlangt die An-wältin einige Male Akteneinsicht, bzw. nach jedem Ab-klärungsschritt eine Kopie der eingetroffenen, aberauch der intern erstellten, noch nicht konsolidiertenund verabschiedeten Unterlagen. Auf die entsprechen-de Weigerung der IV-Stelle hin reicht sie Beschwerdeein.

    Es ist nicht erstaunlich, dass bei derartigen Verfah-rensabläufen die Gefahr von Verfahrensfehlern undVerzögerungen bei der IV-Stelle besonders hoch ist.Deshalb arbeiten die involvierten Mitarbeitenden be-sonders vorsichtig und klären sehr genau ab.

    Art. 56 Abs. 2 ATSG: Beschwerde kann auch erhoben werden, wenn derVersicherungsträger entgegen dem Begehren der betroffenen Person keineVerfügung oder keinen Einspracheentscheid erlässt.

    Die Anwältin legt Beschwerde beim kantonalen Ver-sicherungsgericht wegen Rechtsverzögerung bzw. -ver-weigerung ein.

    Die IV-Stelle weist das Gesuch um IV-Leistungen ab.Die Anwältin erhebt schriftlich Einsprache.

    Art. 10 ATSV Abs. 4: Bei einer mündlich erhobenen Einsprache hält derVersicherer die Einsprache in einem Protokoll fest; die Person,welche die Ein-sprache führt, oder ihr Rechtsbeistand muss das Protokoll unterzeichnen.

    Die Anwältin verlangt, dass sie die Einsprache münd-lich ergänzen kann. Ein Mitarbeiter der IV-Stelle er-stellt handschriftlich das entsprechende Protokoll. DieAnwältin verweigert ihre Unterschrift unter dieses zusetzen, weil sie die Schrift nicht gut lesen könne undverlangt die Zustellung eines maschinengeschriebenenProtokolls.

    Anwälte als reine Parteivertreter

    Dieses nicht ganz frei erfundene Beispiel zeigt auf,dass es möglich ist, mit konsequenter Ausschöpfung derrechtlichen Möglichkeiten einen Entscheid der IV-Stel-le derart zu verzögern, dass eine Eingliederung er-schwert, wenn nicht gar verunmöglicht wird und sichdadurch die Rentenfrage in den Vordergrund drängenlässt. Auch verlieren die materiellen Abklärungen we-gen der formellen Streitereien an Gewicht und die Ob-

    jektivität in der Beurteilung des Falles kann darunterleiden. Sei es, dass die stark belasteten Mitarbeitendendie Kraft verlieren, den geraden Weg zu gehen undletztlich geben, was verlangt wird, oder sich in den Fallverbeissen. Allerdings gehen spezialisierte Anwältenicht immer, aber immer häufiger derart vor. Es ist da-bei von der Interessenlage her zu bedenken, dass derEntscheid der IV-Stelle auf den obligatorischen Teilder beruflichen Vorsorge durchschlägt und es für eineallfällige Privatversicherung schwer hält, anders zu ent-scheiden.

    Weiter ist festzustellen, dass im Kanton Bern derRechtsvertreter sich bisher als «Fürsprecher» imwahrsten Sinne des Wortes verstand, also als «Dienerder Rechtspflege». Die Vorstellung, ein Anwalt müssedarum besorgt sein, dass seinem Klienten im Sinne desentsprechenden Gesetzes Recht und Billigkeit wider-fahre, wird immer mehr zugunsten jenes Verständnissesunserer Rechtsordnung aufgegeben, dass der Klientwisse, was er wolle und es nun am Anwalt sei, dem Kli-enten dies zu verschaffen, ohne dabei auf Sinn undZweck des Gesetzes Rücksicht zu nehmen. Der Anwaltwird also zum reinen Parteivertreter, der alles Mögliche– und Unmögliche – behauptet, dies mit grossem takti-schem Geschick vorbringt und sich dadurch erhofft, denAnforderungen seines Klienten zu genügen. Die Ver-waltung wird nicht mehr als Partner auf dem Weg zueiner korrekten Rechtsanwendung gesehen, sondernals Gegner, den man auszutricksen versucht. Ob einAnwalt, damit «der Achtung und der Vertrauenswür-digkeit gerecht» wird, die sein Beruf voraussetzt, ist zubezweifeln. Der Parteivertreter müsste, bei entspre-chenden Forderungen seines Klienten, ein Mandat ent-weder gar nicht annehmen oder niederlegen, um sichgesetzes- und standeskonform zu verhalten. Dies istaufgrund der verschärften Konkurrenzsituation un-wahrscheinlich, auch weil ihm kaum je ein gesetzes-oder zumindest standeswidriges Verhalten nachgewie-sen werden kann.

    Vom Anhörungs- zum Einspracheverfahren

    Mit Artikel 42 ATSG wurde das bisher in der IVpraktizierte Anhörungsverfahren grundsätzlich durchdas Einspracheverfahren abgelöst.

    Mit dem Anhörungsverfahren, welches den Versi-cherten die Möglichkeit bot, sich zu einer sie nicht be-friedigenden Verfügung vor deren Erlass gegenüberder Verwaltung völlig formlos zu äussern, konntenseinerzeit die Beschwerdefälle halbiert werden. Eswar ein sehr bürgernahes Verfahren, welches häufigden direkten persönlichen Kontakt zwischen Ver-sicherten und den zuständigen Mitarbeitenden mitsich brachte.

    Soziale Sicherheit CHSS 6/2003 331

    Schwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

  • schwerpunktSchwerpunkt Dauert das Verfahren der IV zu lange?

    332 Soziale Sicherheit CHSS 6/2003

    Leistungsziele und Benchmarking – neue Füh-rungsinstrumente im Bereich Verfahrensdauer

    Das BSV schaut den langen Verfahrensdauern in derBeurteilung von IV-Gesuchen nicht tatenlos zu.Arbeitsgruppen, bestehend aus Vertretern und Vertre-terinnen der IV-Stellen und des BSV sowie Informa-tikern, entwickelten in intensiver ZusammenarbeitLeistungsziele und ein Benchmarking. Beide Instru-mente unterstützen Management und Aufsicht in ihrerschwierigen Aufgabe und sollen zu einer optimalenRessourcenbewirtschaftung und damit zur Verkürzungder Verfahrensdauer beitragen.

    Leistungsziele als FührungsinstrumentEine interdisziplinäre Arbeitsgruppe (BSV, IV-Stel-

    len) erarbeitete 1999 eine erste Generation von Leis-tungszielen für die IV-Stellen. Später sollten diese zu-sammen mit einem Pauschalbudget die Basis einesLeistungsvertrages zwischen IV-Stellen und BSV bil-den. Dazu müssen die Verfahren in den IV-Stellenmehr oder weniger standardisiert sein. Deshalb wurdenim Jahr 2001 in verschiedenen Teilprojekten1 Diskus-sionen um weitere (qualitative) Leistungsziele geführt.Diese sollten quantifizierbar, EDV-mässig erfassbarund ihre Erfüllung steuerbar sein sowie keine falschenAnreize2 bieten. In diesem Zusammenhang wurde un-ter anderem auch die Koppelung eines Bonus- odereines Bonus-Malus-Systems an die geplanten Leis-tungsverträge diskutiert. Im Verlauf der Arbeiten wur-de jedoch beschlossen, Vorgaben zu Verfahren und IV-Stellen-interner Organisation nicht als Leistungszielezu formulieren, sondern mit diesem Instrument einzigVorgaben betreffend Verfahrensdauer zu regeln. Als

    Das mit dem ATSG der Einheitlichkeit willen einge-führte Einspracheverfahren hat diese Vorteile nichtmehr. Das Verfahren wird auf die streng juristischeEbene gehoben, entfernt die Verwaltung vom Bürger,ist sehr viel aufwendiger, macht die Anstellung von Ju-risten unumgänglich. Sehr erschwerend tritt dazu, dassin BGE 116 V 248 E. 1a das EVG entschieden hat, dassfür die Beurteilung des Falles die Verhältnisse im Zeit-punkt des Einspracheentscheides und nicht jener derVerfügung massgebend sind. Es hat sich nämlich he-rausgestellt, dass sich die in der Literatur erwähnte Er-ledigungsfrist von zwei Monaten bei vielen Einsprachenschon nur wegen des Vernehmlassungsverfahrens ge-genüber den andern Sozialversicherungen nicht einhal-ten lässt. Es liegt auf der Hand, dass sich die Situationzwischen Verfügung und Einspracheentscheid deshalboft verändern kann und diesfalls die ganzen Abklärun-gen von vorne beginnen müssen.

    Hier wurde bewusst ein negativistisches Bild der neu-en Verfahrensregeln aufgezeichnet. Ein solches scheintumgekehrt bei den massgebenden Behörden leiderauch von den Mitarbeitenden in der Verwaltung zuherrschen, ansonsten diese Normen kaum eingeführtworden wären. Ein anderes Bild könnten allerdings diebisher laufend befragten gegen 1000 Versicherten haben, welche zu 92 % mit der Arbeit bzw. der Dienst-leistung (entscheidunabhängig) der IV-Stelle Bern zu-frieden oder sehr zufrieden waren.

    Die 8 % zum Teil sehr Unzufriedenen bemängeltenalle und zu Recht die viel zu lange Dauer des Verfah-rens und dessen Undurchsichtigkeit.

    Markus Gamper, lic. rer. pol., Direktor IV-Stelle Bern;E-Mail: [email protected]

    Adelaide Bigovic BalzardiGeschäftsfeld Invalidenversicherung,BSV

    1 Überprüfung der bestehenden Leistungsziele, Abklärungen an Ort undStelle, berufliche Massnahmen, EDV-mässige Umsetzung.

    2 Ein falscher Anreiz wäre beispielsweise, wenn ein Leistungsziel so for-muliert wäre, dass «leichte Fälle» schnell bearbeitet würden, «komple-xere Fälle» jedoch «unbemerkt» und ohne Folgen liegen bleiben könn-ten und theoretisch nie abgeschlossen würden.

  • Folge dieses Beschlusses konnten die auf den quanti-tativen Aspekt reduzierten Leistungsziele nicht miteinem Bonus- oder Bonus-Malus-System gekoppeltwerden, ohne den Qualitätsaspekt «materielle Richtig-keit der Entscheide» sehr zu gefährden. Die zweite Ge-neration der Leistungsziele3 für die IV-Stellen erhöhtnun die dringend geforderte Transparenz im Ab-klärungsverfahren und erlaubt eine detaillierte Analysedes Verbesserungspotenzials. Die neuen Leistungszieleerweisen sich als angemessenes und zeitgemässesFührungs- und Managementinstrument.

    Voraussetzungen für aussagekräftige und kohärenteAuswertungen

    Die geforderte EDV-mässige Erfassung und Auswer-tung der Daten verlangt eine einheitliche Programmie-rung für die 26 kantonalen IV-Stellen plus der IV-Stel-le für Versicherte im Ausland. Zu diesem Zweck wur-den die verschiedenen bestehenden informatisiertenLösungen der IV-Stellen in drei Informatikpools über-geführt, die sich ihrerseits aus den Bedürfnissen derAusgleichskassen entwickelt hatten. Angesichts derKomplexität des Gegens