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Sprachphilosophie (WiSe 2013/14) Joachim Theisen In diesem Skript finden Sie ein paar Fragen und ein paar Antworten. Ich habe die wichtigs- ten im Seminar besprochenen Textabschnitte zusammengestellt und kurz erläutert. Bitte lernen Sie das nicht auswendig, sondern versuchen Sie, es zu verstehen. Informieren Sie sich auch im Internet über die Autoren, die hier besprochen werden. Die Prüfung findet am Freitag, 11. April, zwischen 14 und 16 Uhr in Raum 430 statt.

Sprachphilosophie (WiSe 2013/14)...ist, über mehreres prädiziert zu werden.“ (Peri hermeneias 17 a39) In der Gnoseologie trenn-te er scharf zwischen der sinnlichen Erkenntnis der

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Sprachphilosophie (WiSe 2013/14) Joachim Theisen

In diesem Skript finden Sie ein paar Fragen und ein paar Antworten. Ich habe die wichtigs-

ten im Seminar besprochenen Textabschnitte zusammengestellt und kurz erläutert. Bitte

lernen Sie das nicht auswendig, sondern versuchen Sie, es zu verstehen.

Informieren Sie sich auch im Internet über die Autoren, die hier besprochen werden.

Die Prüfung findet am Freitag, 11. April, zwischen 14 und 16 Uhr in Raum 430 statt.

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 2

1) Warum hat die Philosophie im Laufe ihrer Geschichte seit der Antike immer mehr

Themen verloren? Warum konzentriert sie sich schließlich auf die Sprache (linguistic

turn)?

2) Welche Möglichkeiten gibt es, das Verhältnis zwischen Welt, Vernunft/Denken und

Sprache zu denken?

3) Zeichnen und erläutern Sie das semiotische Dreieck nach Aristoteles .

4) In Platons Kratylos-Dialog geht es um die Richtigkeit der Namen. Sind sie durch Ver-

abredung und Übereinkunft oder durch Gesetz und Gewohnheit richtig? Kann jeder den

Dingen Namen geben, wie er will, weil (nach Protagoras) der Mensch das Maß aller Dinge

ist?

Im folgenden Abschnitt geht es um einen Zirkelschluss: Die richtigen Namen kommen von

der Erkenntnis der Dinge, doch woher kannte der Namengeber die Dinge, wenn er ihren

Namen noch nicht kannte?

Sokrates: So gib denn an: Bildeten die ersten Gesetzgeber die Stammwörter mit Erkenntnis der Dinge, denen, sie sie beilegten, oder in Unkenntnis derselben? Kratylos: Ich denke doch, Sokrates, mit Erkenntnis. Sokrates: Denn gewiß nicht, mein lieber Kratylos, in Unkenntnis. Kratylos: Ich denke nicht. Sokrates: Laß uns denn wieder zu jenem Punkt zurückkehren, von dem aus wir hierher ge-langten! Denn eben in der vorhergehenden Erörterung hast du, wenn du dich erinnerst, be-hauptet, der Namenbildner bilde notwendig die Namen für die Dinge, indem er sie kenne. Scheint dir das noch so, oder nicht? Kratylos: Noch immer. Sokrates: Behauptest du auch, daß der Bildner der Stammwörter sie kenne? Kratylos: Jawohl. Sokrates: Aus welchen Worten hatte er denn die Dinge kennen gelernt und erforscht, wenn die Stammwörter noch nicht da waren, während wir doch behaupten, man könne die Dinge unmöglich anders kennen lernen und erforschen als dadurch, daß man die Worte lerne oder selbst ihr Wesen ausfindig mache? Kratylos: Da hast du wohl recht, lieber Sokrates. Sokrates: In welcher Weise sollen sie also mit Erkenntnis die Worte gebildet haben oder Ge-setzgeber sein, ehe auch nur irgend ein Wort vorhanden war und sie eines kennen konnten, wenn es doch nicht möglich ist, die Dinge anders kennen zu lernen als aus den Worten? Kratylos: Ich denke, die richtigste Erklärung darüber sei, o Sokrates, eine übermenschliche Macht sei es gewesen, die den Dingen die ersten Namen gab, so daß sie notwendig richtig sein müssen.

Im Anschluss wird die Gegenposition vertreten: Nicht die Namen geben Aufschluss über

die Dinge, sondern die Namen benennen Dinge an sich, d.h. nur das Allgemeine, weil al-

les Konkrete veränderlich ist (dahinter steht Platons Ideenlehre). Sokrates versucht das

am Begriff der Erkenntnis zu zeigen, aber so ganz ans Ziel kommt er auch nicht:

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 3

Sokrates: Nicht einmal die Möglichkeit der Erkenntnis darf man annehmen, Kratylos, wenn alle Dinge sich verändern und nichts Bestand hat. Denn wenn eben dieser Begriff, die Er-kenntnis, sich darin nicht verändert, daß sie Erkenntnis ist, so würde die Erkenntnis immer Bestand haben und sein. Wenn aber auch selbst der Begriff der Erkenntnis sich verändert, so würde er zugleich in einen anderen Begriff als den der Erkenntnis sich verwandeln und wäre nicht mehr Erkenntnis. Wenn er sich aber gar immer verwandelt, so würde es nie eine Erkenntnis geben. Und aus diesem Grunde wäre weder ein Subjekt noch ein Objekt der Er-kenntnis möglich. Wenn aber ein Subjekt der Erkenntnis existiert und ein Objekt, ferner das Schöne, das Gute und jede Art des Seienden existiert, so sind diese Begriffe offenbar nicht, wie wir jetzt behaupten, dem Strome und der Bewegung irgend ähnlich. Ob sich das aller-dings eigentlich auf diese Weise verhält oder auf jene, wie die Anhänger des Herakleitos und viele andere behaupten, das mag nicht leicht sein zu ergründen; doch sollte auch ein Mensch, der Anspruch auf Vernunft macht, nicht sich selbst und die Pflege seiner Seele den Worten überlassen und im Vertrauen auf sie und die Wortbildner fest glauben, er wüßte was Rechtes, und über sich und das Seiende das Verdammungsurteil aussprechen, es gebe nichts Gesundes an keinem Ding, sondern alles laufe aus wie Tongeschirr, und glauben, die Dinge seien gerade in demselben Zustande wie die an Katarrh und Flüssen leidenden Men-schen, und alle Dinge seien vom Fluß und Katarrh ergriffen. Vielleicht, mein Kratylos, verhält es sich wirklich so, vielleicht aber auch nicht. Daher mußt du tapfer und wacker nachdenken und nicht leicht ein Urteil annehmen – denn du bist noch jung und hast Jugendfrische –, sondern mußt forschen und, wenn du etwas findest, das Resultat auch mir mitteilen.

5) Im Universalienstreit geht es um die grundsätzliche Frage, welcher Status Begriffen

zukommt: Sind Allgemeinbegriffe (Universalien) real (das ist die Meinung der Realisten),

oder sind sie nur Hilfsmittel der Sprache, damit man überhaupt über etwas sprechen kann;

sind sie also nur Namen, lat. nomina (das ist die Meinung der Nominalisten)? Platon ist

eindeutig Realist, Aristoteles verabschiedet sich von dieser Position, vertritt aber auch kei-

nen reinen Nominalismus.

Aristoteles war im Unterschied zu Platon darum bemüht, die Strukturen der objektiven Reali-tät, der Erkenntnis und der Sprache aus dem inneren Zusammenhang des jeweiligen genau umrissenen Seinsbereiches zu erklären. Für ihn ist überall die „Natur“ der Dinge der ent-scheidende Erklärungsgrund ihres konkreten Verhaltens, ihres Wesens und der allgemeinen Strukturen, die ihnen zugrunde liegen. Er lehnte die Ideenlehre ab und hob gleichzeitig die Bedeutung der tatsächlichen Existenz des Allgemeinen in der Form der Mittelbegriffe im Syl-logismus hervor: „Gäbe es kein Allgemeines, so würde kein Mittieres sein und folglich auch kein Beweis.“ (Zweite Analytik 77 a7) Eine Standarddefinition des Allgemeinen unter logisch-sprachlichem Aspekt lautet bei Aristoteles: „das Allgemeine aber ist dasjenige, was geeignet ist, über mehreres prädiziert zu werden.“ (Peri hermeneias 17 a39) In der Gnoseologie trenn-te er scharf zwischen der sinnlichen Erkenntnis der singulären Dinge und der wissenschaftli-chen nicht-sinnlichen Erkenntnis des Allgemeinen. Für den Erkenntnisprozeß nennt er zwei charakteristische Hauptwege: zum einen den Weg der Abstraktion des Allgemeinen aus dem sinnlichen Einzelnen, zum anderen den Weg des Fortschreitens vom undifferenzierten All-gemeinen zum konkreten Einzelnen.

Für Aristoteles sind also beide Richtungen wichtig, von unten nach oben und von oben

nach unten. Die beiden Erkenntniswege sind für ihn notwendig, weil sinnliche Erkenntnis

es immer nur mit Individuen zu tun haben kann: mit dem einzelnen Menschen, dem ein-

zelnen Stuhl, dem einzelnen Baum. Gäbe es nur sinnliche Erkenntnis, könnte man nicht

einmal (sinnvoll) sprechen; die drei gerade genannten Beispiele sähen dann nämlich so

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 4

aus: mit Klaus, mit Barbara, mit Paul. Damit kann man aber nichts anfangen, wissen-

schaftlich schon gar nicht. Eine Klassifizierung muss also sein, allerdings ist sie nicht nur

Voraussetzung der Erkenntnis, sondern auch das Ziel der Erkenntnis. Um es – etwas ver-

einfacht – anhand von Bildern zu sagen: Man muss konkrete Fahrräder kennen, um das

Symbol eines Fahrrads als Symbol eines Fahrrads zu erkennen.

6) Isidor von Sevilla erklärt Welt programmatisch sprachlich. In der ersten und für lange

Zeit umfangreichsten Enzyklopädie des Mittelalters geht er von der (lateinischen) Spra-

che aus, die für ihn ganz durchsichtig ist auf die Welt. Indem Isidor Wörter etymologisch

(von το ἔτυµον = Wahrheit) erklärt, vertritt er eine Position, für die es selbstverständlich ist,

dass Wörter die Wahrheit sagen; man muss sie nur finden.

Die Wissenschaft (disciplina) hat ihren Namen vom Lernen (discere) erhalten1, weshalb sie auch Wissen (scientia) genannt werden kann. Denn das Wissen (scire) ist nach dem Lernen benannt, weil niemand von uns etwas weiß, außer wenn er lernt. Anders gesagt, das Wissen heißt so, weil es ganz und gar gelernt wird. 2 Kenntnis (ars) aber wird genannt, was in den Vorschriften und den Regeln einer Kunst besteht. Andere sagen, diese Bezeichnung sei von den Griechen, von αρετή bezogen, das heißt von der Tüchtigkeit (virtus), welche jene Wissen nennen. 3 Zwischen der Kenntnis und der Wissenschaft, so haben Plato (Gorgias 448c, 463b-c; Ion 536c; Politeia IV,438c, V475e, VII,522c) und Aristoteles (Metaphysik 981b; Ni-komachische Ethik VI,1139b14-1141b8; er unterscheidet dabei τέχνη (ars, Kunst, Handwerk, Fertigkeit, Kunstgriff) und επιστἠµη (scientia, Wissen, Einsicht, Wissenschaft)) definiert, be-stehe folgender Unterschied: Die Kenntnis bestehe in dem, was man auch auf andere Weise [als durch Lernen] haben könne, die Wissenschaft aber befasse sich mit dem, was nicht an-ders [als durch Lernen] entstehen könne. Denn wenn etwas in vernünftiger Erörterung aus-einandergesetzt wird, so wird man darunter Wissenschaft verstehen. Wenn etwas glaubhaft und plausibel abgehandelt wird, wird es als Kenntnis bezeichnet werden.

Für Isidor ist die Schrift die Voraussetzung aller Kenntnisse und damit auch aller Wissen-

schaft:

III. VON DEN GRUNDLEGENDEN (COMMUNES) WISSENSCHAFTEN. Die Anfangsgründe der Grammatik stellen die allgemeinen Wissenschaften dar, welche die Elementarlehrer ver-folgen. Deren Fertigkeit ist gleichsam das Säuglingsalter der Grammatik, weswegen Varro (Gram. 235) sie auch die Alphabetisierung (litteratio) nennt. Die Buchstaben sind aber die Symbole der Dinge, die Zeichen der Wörter, die alle Kraft besitzen, durch die uns die Worte der Abwesenden ohne Stimme mitgeteilt werden. [Sie führen die Worte nämlich durch die Augen, nicht durch die Ohren ein.] Der Gebrauch der Buchstaben ist um der Erinnerung an die Dinge willen erfunden worden. Damit sie nämlich nicht durch Vergesslichkeit entfliehen, werden sie an Buchstaben angebunden. Bei einer so großen Vielfalt der Dinge kann nämlich weder alles durch Hören gelernt werden, noch [alles] in Erinnerung behalten werden. Die be-sagten Buchstaben aber sind gleichsam Lesewege (legiterae), weil sie den Lesenden den Weg bereithalten bzw. weil sie beim Lesen wieder begangen werden.

Schrift spielt in der (Sprach-)Philosophie immer wieder eine Rolle: Sokrates lehnt sie (laut

Platon) ab, da sie kein Gespräch ermöglicht; das Buch gebe immer nur dasselbe wieder,

und der Autor könne sich nicht gegen ein falsches Verständnis zur Wehr setzen. Als Kon-

1 Tatsächlich gehört disciplina (Lehre) zu discipulus (Schüler, Lernender), dieses Wort geht zurück auf *discipio

(geistig) auffassen, während sich discere (lernen) aus *di-dk-sko (lehren, unterrichten) entwickelt hat.

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 5

sequenz aus dieser Erkenntnis muss schriftliche Sprache anders als mündliche gebraucht

werden: Im Mündlichen kann das Gemeinte ausgehandelt werden, im Schriftlichen muss

alles eindeutig sein, da es keine Missverständnisse geben darf. Das heißt vor allem zwei-

erlei: 1) Begriffe müssen exakt definiert werden (Isidor tut dies eben dadurch, dass er sie

etymologisch erklärt). 2) Sprache braucht eine Grammatik; Grammatik ist unabdingbare

Grundlage allen vernünftigen Redens, denn eine Rede ist nur dann „vollständig, wenn sie

Sinn, Stimme und Zeichen besitzt“:

V. VON DER GRAMMATIK. Die Grammatik ist die Kenntnis des richtigen Redens, der Ur-sprung und die Grundlage der freien Künste. Von allen Disziplinen ist diese nach den allge-meinen Wissenschaften erfunden worden, damit diejenigen, die die Schrift schon gelernt hat-ten, durch sie die richtige Weise zu sprechen wüssten. Die Grammatik hat ihren Namen von den Buchstaben her erhalten. Γράµµατα nennen die Griechen nämlich die Buchstaben. Als Kenntnis (ars) wird sie aber bezeichnet, weil sie aus Vorschriften und Regeln einer Kunst besteht. Andere sagen jedoch, [die Bezeichnung ars für die Grammatik] sei von den Grie-chen von dem Begriff αρετἠ, d.h. von der Tüchtigkeit (virtus), hergeleitet, welche sie Wissen nennen. Oratio (Rede) heißt gleichsam oris ratio (die überlegte Tätigkeit des Mundes), denn reden (orare) heißt sprechen (loqui) oder sagen (dicere). Die Rede ist aber ein Geflecht (contextus) von Wörtern mit einem Sinn. Ein Wortgeflecht ohne Sinn ist aber keine Rede, weil es nicht die überlegte Tätigkeit des Mundes ist. Die Rede aber ist vollständig, wenn sie Sinn, Stimme und Zeichen besitzt.

7) Nikolaus von Kues geht in seiner späten Schrift Compendium davon aus, dass

menschliche Erkenntnis grundsätzlich beschränkt ist. Dafür gibt es zwei Gründe, die letzt-

lich auf Aristoteles zurückgehen (siehe oben):

1. Das Eine kann nicht Vieles (das Einzelne nicht mehrfach) sein. Erkenntnis jedoch richtet sich nicht auf die Einzigartigkeit eines Seienden, sondern auf das, was vielen gemeinsam ist. Ist das wahre Sein Eines und einzigartig, dann kann es nicht als solches erkannt werden, son-dern nur in der Weise, wie es in vielem ist.

2. Das Sein geht dem Erkennen prinzipiell voran; denn eine Sache existiert, bevor sie erkannt wird. Das Sein als Bedingung alles Erkennens kann selbst nicht erkannt werden. Folglich ist die Weise des Seins (modus essendi) nicht mit den Weisen des Erkennens (modi cogno-scendi) zur Deckung zu bringen. Das gilt für die sinnliche Erkenntnis (sensus) ebenso wie für die Vorstellungskraft (imaginatio) und den Verstand (intellectus).

Unsere Erkenntnis reicht daher niemals an die Welt heran, sondern bezeichnet nur Welt;

es besteht ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen Welt und Erkenntnis und damit auch

zwischen Welt und Sprache. Von da aus entwickelt Nikolaus seine Theorie der Zeichen.

Damit der Mensch Mensch sein und ein gutes Leben führen kann, ist er darauf angewie-

sen, Welt zu erkennen, nicht nur rudimentär wie die Tiere, sondern möglichst differenziert.

Ein Tier muss Essbares von Nicht-Essbarem unterscheiden, um nicht zu verhungern; für

den Menschen genügt eine solche rein binäre Unterscheidung nicht. Das Wissen wächst

und wächst und muss weitergegeben werden, da kein Mensch in der Lage ist, alles selbst

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 6

zu erkennen. Daher muss es Sprache geben und auch Schrift, und damit stellt sich auch

die Frage, wie Sprache, genauer: wie der Verweischarakter der Wörter funktioniert.

Nikolaus unterscheidet natürliche Zeichen und gesetzte, das sind willkürliche Zeichen; für

diese letzten gilt:

„[...] da alle Zeichen, durch die eine Kenntnis weitergegeben werden soll, dem Lehrer und dem Schüler bekannt sein müssen, muß sich der erste Teil der Wissenschaft (prima doctri-na) um die Kenntnis dieser Zeichen bemühen“ (XI3, 6/II, 688).

Für Nikolaus ist es selbstverständlich, dass die Sprache von Gott herrührt: Er hat sie

Adam, den er vollkommen geschaffen hat, gegeben, wie übrigens auch die Schrift.

Wie geht menschliche Erkenntnis mit der Welt um? Das „Selbstsein der Dinge“ kann er ja

nicht erkennen, doch er braucht die Erkenntnis (siehe oben). Die reine Wahrnehmung ist

an die Gegenwart des Wahrgenommenen gebunden: Ist das Fahrrad vorbeigefahren, se-

he ich es nicht mehr. Deshalb gibt es „das Erkenntnisbild bzw. Zeichen (species seu

signum) des Gegenstandes“. Das Fahrrad bleibt, auch wenn ich es nicht sehe, „in der in-

neren Vorstellungskraft (in interiori phantastica virtute)“. Die Wahrnehmung ist flüchtig

(ebenso wie [mündliche] Sprache), das Vorstellungsbild ist dauerhaft (ebenso wie Schrift).

Alle Wahrnehmung von Zeichen schreitet vom Allgemeinen zum Besonderen fort, wie in

folgendem Bild: Kommt uns eine sprechende Person näher, hören wir auf die Entfernung

zunächst nur Laute, dann artikulierte Laute, dann artikulierte Laute in einer bestimmten

Sprache, schließlich das ganz konkrete Einzelwort in einer bestimmten Sprache. Aus die-

ser Staffelung wird auch klar, warum wir für alle Dinge unterschiedliche Zeichen haben

und verwenden: allgemeine und konkrete (Lebewesen – Säugetier – Mensch – Kind –

Mädchen). Für individuelle Einzeldinge kann es jedoch keine Zeichen geben, da sie sich

nur durch Akzidentien („beiläufige Eigenschaften“) von allen anderen ihrer Art unterschei-

den. (Um bei dem Beispiel zu bleiben: Die „Mädchenheit“ ist bei allen Mädchen gleich, al-

lerdings unterscheiden sie sich durch Größe, Haarfarbe, Augenfarbe, Fingerabdrücke,

DNA, Eigenname, ...; diese Kriterien sind jedoch nicht der „Mädchenheit“ eigen, sondern

unterscheiden auch andere individuelle Einzeldinge: es gibt große und kleine Häuser,

Straßen, Bäume, ...; unterschiedliche Haar- und Augenfarbe bei allen Säugetieren; unter-

schiedliche Fingerabdrücke zumindest bei allen Menschen; unterschiedliche DNA bei allen

Lebewesen; unterschiedliche Eigennamen bei Menschen, Tieren, Autos, ...)

Die Zeichentheorie Nikolaus‘ hat selbstverständlich auch eine theologische Dimension, die

sich aus dem Beginn des Johannesevangeliums herleitet. „Im Anfang war das Wort, und

das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort.“ Deshalb kann man „ein Erkenntnisbild aller

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 7

Schöpfung gewinnen, wenn man die Bildung des stimmlichen Wortes (verbum vocale)

analysiert“.

1. Die Luft ist [...] Bedingung des Hörens, als sie selbst aber nicht hörbar. Das ist auf das Er-kenntnisbild (des Wortes für die Schöpfung) so anzuwenden: Alles, was wirklich sein soll (quod actu esse debet) - das Sinnliche und das Übersinnliche -, setzt etwas voraus, das we-der sinnlich noch geistig erfaßt werden kann. Als Voraussetzung alles konkreten (geformten) Seienden ist es selbst etwas Unbestimmtes, deshalb nicht erkennbar und nicht zu benennen. Dennoch hat die Tradition dieses Ungestaltete mit verschiedenen Namen belegt: hyle, Mate-rie, Chaos, Möglichkeit, Werdenkönnen (posse fieri), Zugrundeliegendes (subiectum).

2. Mag auch die Luft zur Erzeugung des Tones notwendig sein, der Ton gehört doch nicht zum Wesen (natura) der Luft. Er bedarf zwar einer materiellen Grundlage; aber damit entsteht noch kein bestimmter Ton. Wie die Luft nicht Grund (principium) für die Formgebung des Tons, so ist überhaupt die Materie nicht Grund für die Gestaltungen des Seins. Prinzip der Gestaltung ist der Formgeber (formator).

3. Das Wort der menschlichen Sprache unterscheidet sich dadurch von der stimmlichen Ver-lautbarung der Tiere, daß es vom Geist (mens) geformt wird. Der Zweck dieser Wortformung liegt einzig in der Offenbarung des Geistes. Das Wort ist also die zeichenhafte Darstellung (ostensio) des Geistes; und die Mannigfaltigkeit der Worte ist nichts anderes als die ver-schiedenartige Offenbarung des einen Geistes. - Die Darstellung im Wort ist aber nicht nur Offenbarung für andere, sondern Selbstoffenbarung im Sinne der Selbsterkenntnis des Geis-tes. Um das zu verdeutlichen, greift Nikolaus von Kues die Unterscheidung zwischen inne-rem und äußerem Wort auf: „Das Begreifen (conceptio) aber, durch das der Geist sich selbst begreift, ist das vom Geist gezeugte Wort (verbum a mente genitum), nämlich die Erkenntnis seiner selbst. Das stimmliche Wort (verbum vocale) aber ist die Offenbarung jenes geistigen Wortes“ (XI3, 16/11, 706). Und Cusanus fügt hinzu: „Alles aber, was gesprochen werden kann, ist nichts als Wort“ (ebd.). Das heißt: Alles, was der Geist offenbaren und erkennen kann, ist gebunden an zeichenhafte Darstellung. Der menschliche Geist ist Abbild des göttli-chen Geistes, und die beschriebene Genesis bietet in mehrfacher Hinsicht das höchste Er-kenntnisbild für die Genesis alles Seienden: - Wie der menschliche Geist sich in dem von ihm gezeugten Wort selbst erkennt, so er-

kennt sich der göttliche Geist in dem von ihm gezeugten ewigen Wort. - Wie die vielen gesprochenen Worte vielfältige Zeichen der Offenbarungen des einen

Geistes sind, so offenbart sich das unerschaffene Wort auf mannigfache zeichenhafte Weise in der Schöpfung.

- Wie alles Gesprochene nichts anderes ist als Wort, so ist alles Seiende Zeichen der Of-fenbarung des göttlichen Wortes.

- Wie das stimmliche Wort nur bestehen kann, wenn und solange der Geist es äußern will, so kann das Geschaffene nur sein, wenn und solange es der göttliche Schöpfer als For-mer aller Dinge will.

- Wie die körperlichen Voraussetzungen der Verlautbarungen auf den Zweck der Wortarti-kulation hingeordnet sind, so dienen alle Geschöpfe letztlich der Offenbarung des einen Wortes.

Mit diesen Analogien zwischen menschlichem Geist und Schöpfergott, zwischen Lautwort und ewigem Wort Gottes hat die Zeichenlehre des Nikolaus von Kues ihren höchsten Punkt, d.h. ihr Prinzip, erreicht.

8) Friedrich Nietzsche beginnt seinen Aufsatz „Über Wahrheit und Lüge im außermo-

ralischen Sinn“ sehr pessimistisch, was überhaupt seiner ganzen Philosophie entspricht:

Menschliche Erkenntnis ist innerhalb der Welt völlig unerheblich, sie ist rein menschliche

Einbildung, nicht anders, als auch die Mücke meint, sie sei das Zentrum der Welt. (Wegen

dieses Vergleichs siehe den „Monolog einer Milbe im siebenten Stock eines Edamerkä-

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 8

ses“ von Wekhrlin über die Milbe.) Was den Menschen aber tatsächlich auszeichnet, ist

seine „Verstellungskunst“:

hier ist die Täuschung, das Schmeicheln, Lügen und Trügen, das Hinter-dem-Rücken-Reden, das Repräsentieren, das im erborgten Glanze leben, das Maskiertsein, die verhül-lende Konvention, das Bühnenspiel vor anderen und vor sich selbst, kurz das fortwährende Herumflattern um die eine Flamme Eitelkeit so sehr die Regel und das Gesetz, daß fast nichts unbegreiflicher ist, als wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte. Sie sind tief eingetaucht in Illusionen und Traumbilder, ihr Au-ge gleitet nur auf der Oberfläche der Dinge herum und sieht »Formen«, ihre Empfindung führt nirgends in die Wahrheit, sondern begnügt sich, Reize zu empfangen und gleichsam ein tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge zu spielen.

Weil der Mensch in Gruppen zusammenleben muss, erfindet er Sprache, mit der er die

Dinge immer gleich benennen kann. Damit entsteht „zum ersten Male der Kontrast von

Wahrheit und Lüge“. Die Lüge hat aber in der Gesellschaft nichts verloren und muss be-

kämpft werden, nicht aber, weil man etwas gegen die Lüge selbst hätte, sondern weil man

sich vor den schlimmen Folgen der Lüge hüten muss, die das Funktionieren der Gesell-

schaft gefährden.

Wie steht es aber mit der Sprache? Mit Erkenntnis hat sie nichts zu tun, denn „die reine

folgenlose Erkenntnis“ interessiert den Menschen gar nicht. Ein Wort ist nichts anderes als

die „Abbildung eines Nervenreizes in Lauten“. Alles, was man etwa hinter den Nervenlau-

ten annimmt, ist reine Willkür, ebenso wie die Sprache willkürlich ist. Sie ist ein doppeltes

Metaphernsystem:

Das »Ding an sich« (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfaßlich und ganz und gar nicht erstrebenswert. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdruck die kühnsten Meta-phern zu Hilfe. Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wird nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. [...] Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wol-kenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.

Dem liegt ein ähnlicher Gedanke wie bei Nikolaus von Kues zugrunde: Die sinnliche

Wahrnehmung wird in ein (Vorstellungs-)Bild übertragen und dieses wiederum in einen

Laut – die Sprache. Während bei Nikolaus ein unüberbrückbarer Abgrund zwischen Welt

und Erkenntnis (und damit Sprache) besteht, der dem Menschen aber immerhin unvoll-

kommene Erkenntnis erlaubt, überspringt der Mensch bei Nietzsche diesen Abgrund, aber

nur mit Hilfe von Metaphern, die ihm das Wesen der Dinge eher entziehen als offenbaren.

Man kann das auch so formulieren: Menschliche Erkenntnis (und Sprache) springt zwar,

sie kommt aber nicht an; der Mensch aber bildet sich ein anzukommen.

Und das sieht dann so aus: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nichtgleichen.“

In der Natur gibt es aber weder Formen noch Begriffe noch Gattungen; das alles sind

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 9

menschliche Erfindungen. Innerhalb der Auseinandersetzung um die Universalien stünde

Nietzsche damit eindeutig auf der Seite der Nominalisten. Tatsächlich geht er aber noch

darüber hinaus, da er eine fundamentale Inkongruenz zwischen Erkenntnis und Sprache

einerseits und Welt andererseits annimmt.

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomor-phismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch ge-steigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man verges-sen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.

Dass wir nur in Begriffen denken können, ist selbstverständlich; damit verfehlen wir aber

notwendigerweise die Welt, wie sie „an sich“ ist. Der Mensch macht sich vielmehr mit alle

seinen Abstraktionen auf verschiedenen Stufen ein „Würfelspiel der Begriffe“ zurecht. Da-

rin heißt

»Wahrheit«, jeden Würfel so zu gebrauchen, wie er bezeichnet ist, genau seine Augen zu zählen, richtige Rubriken zu bilden und nie gegen die Kastenordnung und gegen die Reihen-folge der Rangklassen zu verstoßen.

Nochmal: Mit der Welt hat das nichts zu tun, denn das, was der Mensch Wahrheit nennt,

ist nur menschliche, „anthropomorphische“ Wahrheit; genau so gibt es auch eine mücki-

sche, bienische, delfinische Wahrheit, und keine von ihnen ist „wahr an sich“. Das Problem

des Menschen ist auch hier seine Überheblichkeit: Er nimmt die von ihm geschaffenen

Metaphern „als die Dinge selbst“.

„Jener Trieb der Metapherbildung“ ist der „Fundamentaltrieb“ des Menschen“ und gehört

damit unaufhebbar zum Menschsein. Doch es gibt zwei Auswege, dem „Begriffsgespinst“

zu entkommen: „im Mythus und überhaupt in der Kunst“. Nietzsche vergleicht beide mit

dem Traum, dessen Welt „bunt unregelmäßig, folgenlos unzusammenhängend, reizvoll

und ewig neu“ gestaltet wird. Die mythische Welt „der älteren Griechen“ ist „in der Tat dem

Traume ähnlicher als dem Tag des wissenschaftlich ernüchterten Denkers“.

Während der einfache Mensch ohne das „Gebälk und Bretterwerk der Begriffe“ nicht aus-

kommt, wirft der Künstler „die Metaphern durcheinander und verrückt die Grenzsteine der

Abstraktionen“. Er bildet nicht Welt ab, sondern schafft Welt. Er lässt sich nicht von Begrif-

fen leiten, sondern von Intuitionen:

Von diesen Intuitionen aus führt kein regelmäßiger Weg in das Land der gespenstischen Schemata, der Abstraktionen: für sie ist das Wort nicht gemacht, der Mensch verstummt, wenn er sie sieht, oder redet in lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügun-gen, um wenigstens durch das Zertrümmern und Verhöhnen der alten Begriffsschranken dem Eindrucke der mächtigen gegenwärtigen Intuition schöpferisch zu entsprechen.

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 10

Der intuitive Mensch, der sich über die Begriffe hinwegsetzt, erntet „eine fortwährend ein-

strömende Erhellung, Aufheiterung, Erlösung“.

Sprache hat bei Nietzsche also zwei ganz unterschiedliche Seiten: Einerseits ist sie unfä-

hig, Erkenntnis zu vermitteln, da sie aus lauter Metaphern besteht, die die Dinge selbst

nicht aussagen können. Andererseits kann man dieses Defizit schöpferisch, künstlerisch

nutzen. Diese zweite Möglichkeit steht allerdings nur wenigen Menschen offen, eben je-

nen, die den Metaphernbau erst mal durchschauen müssen, um dann frei damit spielen zu

können.

9) Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Welt und Sprache ist vor allem um die Wende

vom 19. zum 20. Jahrhundert auch aus einem anderen Grund zu einem künstlerischen

Problem geworden. Dabei geht es nicht so sehr um die Außenwelt, sondern um die In-

nenwelt. Schon Friedrich Schiller schrieb: „Jede Empfindung ist nur einmal in der Welt

vorhanden, in dem einzigen Menschen, der sie hat; Worte aber muss man von tausenden

gebrauchen, und darum passen sie auf keinen.“

Rainer Maria Rilke drückt dieses Unbehagen an der Unaussagbarkeit der Welt und des

Ich in zahlreichen seiner Gedichte aus. Zwei Beispiele:

„Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort“ handelt von der Distanz, die Sprache zu den

Dingen (zur Welt) schafft, eben indem sie sie klassifizierend „anrührt“. „Und dieses heißt

Hund und jenes heißt Haus“. Hier wird genau das als Problem benannt, was Sprache

ausmacht: Sie kann (siehe oben) nichts Einzelnes, Individuelles aussagen, sondern nur

Gattungen benennen. Das Individuelle bleibt damit sprachlich auf der Strecke. Zur Folge

hat das, dass „der Menschen Wort“ die Dinge getötet („Ihr rührt sie an: sie sind starr und

stumm. / Ihr bringt mir alle die Dinge um.“). Auch hier die Überzeugung: Wenn Welt aus-

gesagt wird, hat man sie nicht, und Rilkes Begründung: „Die Dinge singen“, und diese mu-

sikalische Dimension lässt sich nicht begrifflich fassen. Wer sich allein auf die Sprache

verlässt, lernt die lebendige Welt nicht kennen.

In „Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens“ geht es nicht um die Außenwelt und das je

individuelle Verhältnis zu ihr, sondern um die Innenwelt des einzelnen Menschen, zu der

niemand außer ihm selbst Zugang hat. Hier steht also nicht Sprache gegen eine Welt, die

über die Sinne wahrnehmbar ist, sondern um Sprache und Gefühl (wie schon bei Schiller),

und noch mehr, Sprache und Herz. Das Gedicht denkt vertikal: Unten ist die Sprache („die

letzte Ortschaft der Worte“), darüber die Gefühle, und ganz oben „Steingrund“, der aller-

dings fruchtbar ist, aus ihm „blüht wohl / einiges auf“. Das alles ist (die Sprache ist längst

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 11

überstiegen) „stumm“, und was da blüht, ist „ein unwissendes Kraut“: sich seiner selbst

nicht bewusst und ganz allgemein, unbestimmbar (mit „Kraut“ kann man im Deutschen so

gut wie alles Pflanzliche benennen), aber – wie schon im ersten Gedicht: „singend“. Dage-

gen in der nächsten Zeile: „der Wissende“, vielmehr „der zu wissen begann“. „ausgesetzt

auf den Bergen des Herzens“ gibt es zwar – anfangendes – Wissen, doch es ist sprachlos.

Die Natur hingegen ist frei und „gesichert“, der traditionell freie Vogel „kreist um der Gipfel

reine Verweigerung“: Dort oben – die Perspektive hat sich hier gegenüber dem Anfang

des Gedichts radikal geändert: Es wird nicht mehr nach oben gesehen, sondern nach un-

ten. Hier oben aber ist der Mensch „ungeborgen“. Selbstverständlich: Denn Geborgenheit

gibt es nur dort, wo andere auch sind, wo man sich in Gesellschaft befindet, auch in

sprachlicher! Mit seinem „Herz“ aber ist man allein.

Offenbar kann man nicht beides haben: Sowohl den richtigen Ausdruck für die intimsten

Gefühle als auch die Verständigung darüber. Wenn Sprache es nicht einmal fertig bringt,

den einen „Hund“ oder das eine „Haus“ vom anderen zu unterscheiden, wie soll sie dann

jemals eine ‚Sprache des Herzens‘ werden können? Beides schließt einander aus. Das Ich

steckt also in einem Dilemma: Mit meinen Gefühlen, meinem „Herzen“ bleibe ich unwei-

gerlich allein, doch sobald ich mich der Sprache bediene, muss ich verallgemeinern und

bin deshalb nicht mehr ich selbst. (Wie gut ist es da, dass zwischenmenschliche Kommu-

nikation nicht nur und nicht immer auf Sprache angewiesen ist: Gefühle können auch an-

ders ausgedrückt werden und werden in der Regel ja auch verstanden – aber das ist ein

anderes – lebensphilosophisches – Thema.)

10) Der sogenannte „Chandos-Brief“ von Hugo von Hofmannsthal ist eines der zentra-

len Zeugnisse der Sprachkrise im beginnenden 20. Jahrhundert. Er erschien im Jahr 1902,

ist aber fiktiv datiert ins Jahr 1603 und richtet sich – fiktiv – an Francis Bacon, mit dem die

Wissenschaftsgeschichte üblicherweise die moderne Naturwissenschaft beginnen lässt.

Um es auf den philosophischen Punkt zu bringen: Naturwissenschaft ist (spätestens) seit

dem Beginn des 17. Jahrhunderts nominalistisch, sie geht nicht von irgendetwas Allge-

meinem aus, sondern von der konkreten, genauen Beobachtung; sie schließt programma-

tisch aus, dass es irgendetwas Allgemeines vor allem Konkreten gibt.

Hofmannsthal beantwortet im „Chandos-Brief“ die Frage, was geschieht, wenn jemand

dem Konkreten ganz treu bleibt und sich der Verallgemeinerung verweigert. Dieser „je-

mand“ ist Künstler, der in seinem Brief auf früher geschriebene Werke hinweist. Damals

empfand er die ganze Welt als eine Einheit – schon hier, anlässlich dieses langen Satzes,

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 12

der gleich folgt, die Bemerkung, in welch kunstvoller Sprache hier Sprachlosigkeit beklagt

wird.

Das führt mich zu einem ganz kurzen und sehr holzschnittartigen Exkurs über eine (oben

schon kurz angesprochene) Frage: Wenn, wie bei Nietzsche, kein Zusammenhang be-

steht zwischen Welt und Sprache, wenn, wie bei Rilke sich Innenwelt nicht angemessen

aussagen lässt, warum verstehen wir uns dann trotzdem, sowohl, wenn wir über Welt

sprechen, als auch, wenn wir über uns sprechen? Im Wesentlichen gibt es drei Gründe:

1. Wir stehen alle diesseits des Abgrunds und verwenden alle dieselben Metaphern, deren

Gebrauch wir erlernt haben, um miteinander reden zu können.

2. Die Unaussagbarkeit des Ich ist keine exklusive Erfahrung: Ich kann zwar schlechter-

dings nicht wissen, wie sich dein (Liebes-)Schmerz anfühlt, aber ich kann mir vorstellen,

dass er sich so ähnlich, und ähnlich unaussagbar, anfühlt wie meiner, weil wir beide

Menschen sind.

3. Sprache ist nicht nur auf die Welt gerichtet, sondern auch kommunikativ auf den ande-

ren. Dabei ist sie stets Bestandteil komplexerer Kommunikation. Sie tritt nie rein auf:

Gesprochene Sprache hat immer eine Stimme mit spezifischer und unterschiedlicher

Lautstärke, Tonhöhe, Intonation, Modulation usw. Geschriebene Sprache gibt es nur in

individueller (Hand-)Schrift mit spezifischer Schriftart, -größe, Lesbarkeit usw. Außer-

dem ist Sprache Bestandteil komplexerer Handlungen. Dies wird in der Sprechakttheo-

rie bedacht. Sie stellt die Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Welt nicht

unter dem Gesichtspunkt der Wahrheit, sondern geht von der Erkenntnis aus, dass

Sprache, wie alle Handlungen, Welt (und Menschen) verändert.

Damit zurück zu Hofmannsthal und dem angekündigten langen Satz:

Um mich kurz zu fassen: Mir erschien damals in einer Art von andauernder Trunkenheit das ganze Dasein als eine große Einheit: geistige und körperliche Welt schien mir keinen Ge-gensatz zu bilden, ebensowenig höfisches und tierisches Wesen, Kunst und Unkunst, Ein-samkeit und Gesellschaft; in allem fühlte ich Natur, in den Verirrungen des Wahnsinns eben-sowohl wie in den äußersten Verfeinerungen eines spanischen Zeremoniells; in den Tölpel-haftigkeiten junger Bauern nicht minder als in den süßesten Allegorien; und in aller Natur fühlte ich mich selber; wenn ich auf meiner Jagdhütte die schäumende laue Milch in mich hineintrank, die ein struppiges Mensch einer schönen, sanftäugigen Kuh aus dem Euter in einen Holzeimer niedermolk, so war mir das nichts anderes, als wenn ich, in der dem Fens-ter eingebauten Bank meines studio sitzend, aus einem Folianten süße und schäumende Nahrung des Geistes in mich sog.

Die hier beschriebene Erfahrung ist eine zutiefst mystische Erfahrung: Was im christlichen

Mittelalter die unio, die Einheit, Vereinigung mit Gott war, ist hier die Einheit des Menschen

mit der Welt. Diese Einheit geht mit der Naturwissenschaft unweigerlich verloren. Der

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 13

Mensch ist nicht mehr eins mit der Natur/Welt, sondern tritt ihr gegenüber. Das wird auch

im folgenden Satz deutlich:

Es möchte dem, der solchen Gesinnungen zugänglich ist, als der wohlangelegte Plan einer göttlichen Vorsehung erscheinen, daß mein Geist aus einer so aufgeschwollenen Anmaßung in dieses Äußerste von Kleinmut und Kraftlosigkeit zusammen sinken mußte, welches nun die bleibende Verfassung meines Innern ist. Aber dergleichen religiöse Auffassungen haben keine Kraft über mich; sie gehören zu den Spinnennetzen, durch welche meine Gedanken hindurchschießen, hinaus ins Leere, während so viele ihrer Gefährten dort hängenbleiben und zu einer Ruhe kommen.

Die Gedanken gehen ins Leere, weil alles Geistige verschwunden ist, Chandos findet sich

in einer radikal materiellen Welt wieder. Was nicht naturwissenschaftlich zu analysieren

ist, hat sich verflüchtigt. Es kommt aber noch schlimmer, weil es ja immer noch das

sprachliche Problem gibt:

Aber, mein verehrter Freund, auch die irdischen Begriffe entziehen sich mir in der gleichen Weise. Wie soll ich es versuchen, Ihnen diese seltsamen geistigen Qualen zu schildern, dies Emporschnellen der Fruchtzweige über meinen ausgereckten Händen, dies Zurückweichen des murmelnden Wassers vor meinen dürstenden Lippen? Mein Fall ist, in Kürze, dieser: Es ist mir völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über ir-gend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen.

Der Hinweis auf Tantalos ist wichtig: Er hatte die Götter auf die Probe gestellt und wurde

dafür mit ewigen Qualen bestraft. Homer schildet sie in der Ilias: Er steht im Wasser inmit-

ten eines Gartens voller Obstbäume. Doch wenn er sich bückt, um zu trinken, weicht das

Wasser zurück und er erreicht es nicht. Wenn er die Hände emporstreckt, um Früchte zu

pflücken, kommt ein plötzlicher Sturm und hebt die Äste empor. So muss er für immer

dürsten, obwohl er im Wasser steht, und für immer hungern, obwohl die Früchte direkt

über ihm hängen. Chandos‘ Qualen setzen vor der Unaussagbarkeit an: Das Problem ist

hier nicht, dass die Wörter nicht zutreffen, sondern dass sie gar nicht erst gefunden wer-

den. Er steht nicht mit seiner Sprache hilflos der Welt gegenüber, sondern ist hilflos der

Sprache gegenüber. Diese Position ist die des Dichters, dessen Handwerkszeug, die

Sprache, fundamental zerstört ist. Zu den vier Möglichkeiten des Verhältnisses zwischen

Welt, Vernunft und Sprache (siehe oben) tritt eine neue hinzu: Hier ist nicht vom Ich als

Sprecher die Rede, sondern vom Ich als Philipp Lord Chandos: Das erste ist ein allgemei-

nes Modell (vereinfacht dargestellt: Ich – Sprache – Du), das zweite, was Hofmannsthal

meint, ist eine konkrete Realisierung dieses Modells: Chandos – Sprache – Du. Dement-

sprechend handelt es sich nicht um ein allgemeines Problem, das allgemeingültig gelöst

werden könnte, sondern um ein explizit individuelles Problem, das sich daraus ergibt, dass

Sprache allgemein ist, wer sie verwendet (und verwenden muss), ist jedoch immer nur ein

Einzelner. Indem man spricht, muss man sich der Diktatur der Demokratie unterwerfen, in

der es um Mehrheiten, Übereinkünfte, Verabredungen geht. Und wenn ich da nicht mitma-

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 14

chen will, weil ich ich bleiben will, weil ich mir meinen eigenen Wirklichkeitszugang bewah-

ren will? Dann muss ich aufhören zu sprechen oder – als Dichter – zu schreiben.

Fügt man diesen Gedanken in den obigen ein, dass der Mensch der Natur/Welt gegen-

übersteht, folgt als Konsequenz: Nicht der Mensch steht ihr gegenüber, sondern immer

nur ein Ich als Ich, ganz individuell, weshalb jedes Ich auch eine eigene Sprache bräuchte.

Die würde aber, logischerweise, kein anderes Ich verstehen, womit sie aber keine Sprache

wäre. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg, weshalb Chandos am Ende des Brie-

fes die Konsequenz ziehen muss, für immer zu schweigen.

Zunächst scheint es doch einen Ausweg zu geben: „die geistige Welt der Alten“. Doch

stellt sich selbstverständlich heraus, dass deren Sprache ebenfalls abgeschnitten ist. Sie

ist zwar nüchtern („Seneca und Cicero“), aber sie spielen nur miteinander, doch

das Tiefste, das Persönliche meines Denkens, blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumut wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.

Der hier schreibt, negiert nicht nur vollkommen die zusammenfassende Kraft der Sprache:

In der Welt existieren die Dinge zusammenhanglos nebeneinander, und eben das, Zu-

sammenhanglosigkeit, kann Sprache nicht abbilden. Stattdessen ordnet Sprache Welt, die

Welt selbst jedoch ist ungeordnet. Es gibt keinerlei Zusammenhang zwischen beiden –

das kennen wir schon. Hinzukommt aber, dass das Ich auch mit der Sprache selbst nicht

mehr zurechtkommt, weil sie entweder zum Ausdruck taugt (den aber niemand verstehen

würde) oder zur Kommunikation (die aber mit dem Ich nichts mehr zu tun hätte und sich

damit selbst aufheben würde).

11) Im „Hungerkünstler“ von Franz Kafka wird dieses Thema noch einmal radikalisiert:

Von Nietzsche und Hofmannsthal her verstanden ist die Kunst am Ende. „In den letzten

Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.“ Die spezifische

Weltsicht des Künstlers interessiert nicht mehr, und dennoch muss dieser Hungerkünstler

bei der Kunst bleiben.

»Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders«, sagte der Hungerkünstler. »Da sieh mal ei-ner«, sagte der Aufseher, »warum kannst du denn nicht anders?« »Weil ich«, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verloren ginge, »weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.« Das waren die letzten Worte, aber noch in seinen gebrochenen Augen war die feste, wenn auch nicht mehr stolze Über-zeugung, daß er weiterhungere.

Schon Nietzsche schrieb vom Künstler:

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 15

Freilich leidet er heftiger, wenn er leidet: ja er leidet auch öfter, weil er aus der Erfahrung nicht zu lernen versteht und immer wieder in dieselbe Grube fällt, in die er einmal gefallen. Im Leide ist er dann ebenso unvernünftig wie im Glück, er schreit laut und hat keinen Trost.

Wenn bei Kafka der Hungerkünstler im Käfig am Ende durch „einen jungen Panther“ er-

setzt wird, ist dies zugleich ein Abschied von jeder sprachphilosophischen Überlegung,

denn der „stumpfste Sinn“ ist nun maßgeblich, der Dümmste, der keinerlei Ahnung davon

hat, was Sprache eigentlich ist und welche Probleme sie in sich birgt. Es zählt nur das pu-

re Leben. Dem gegenüber ist der Mensch nur noch „Zuschauer“. Das ist die letzte Konse-

quenz aus Nietzsches Problem mit der Sprache: Der Anspruch, Welt sprachlich zu fassen,

wird einfach aufgegeben. Was hier zählt, ist nichts weiter als „die Freude am Leben“, wo-

für nichts so gut steht wie „dieses wilde Tier“.

12) Auch Paul Celan hat offenbar Nietzsche gelesen:

EIN DRÖHNEN: es ist die Wahrheit selbst unter die Menschen getreten, mitten ins Metapherngestöber.

Wahrheit ereignet sich jenseits der Sprache. Es muss hier auch noch einmal an das Bild

des Nikolaus von Kues von dem näherkommenden Sprecher erinnert werden: Celan rückt

die Wahrheit noch weiter weg, doch so nah sie auch kommt („unter die Menschen / getre-

ten“), sie bleibt undifferenziert, unerkennbar: „Ein Dröhnen“.

In seiner Bremer Dankesrede thematisiert Celan einen ganz anderen und doch schon ver-

trauten Aspekt von Sprache: Wie kann man sich eigentlich in einer Sprache aussagen, in

derselben Sprache aussagen, die von den schlimmsten Massenmördern der Geschichte

für ihre Zwecke zurechtgemacht wurde? Man muss zwangsläufig

hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurchgehen durch die tausend Finsternis-se todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah; aber sie ging durch dieses Geschehen. Ging hindurch und durfte wieder zutage treten, „an-gereichert“ von all dem.

Celan bedenkt hier vor allem, dass Sprache eine Geschichte hat. Es ist nicht, wie bei

Hofmannsthal, nur die Konventionalität von Sprache, die es dem Ich unmöglich macht,

sich selbst auszusagen, sondern diese Sprache hat eine historische Dimension, konkret:

Sie wurde nicht gebraucht für Kommunikation, sondern missbraucht, um eine Welt abzu-

bilden, in der es die eine „Herrenrasse“ und alle anderen Minderwertigen gab, usw. – Ich

muss das unglücklicherweise nicht ausführen. Man kann diese Sprache aber nicht einfach

auslöschen und durch eine neue ersetzen, sondern man muss mit und in ihr leben und –

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 16

gewissermaßen in vermintem Gelände – Wege finden, trotzdem sowohl zur Welt als auch

zum anderen zu finden. Schleichwege können das nur sein, Privatwege.

In dieser Sprache habe ich, in jenen Jahren und in den Jahren nachher, Gedichte zu schrei-ben versucht: um zu sprechen, um mich zu orientieren, um zu erkunden, wo ich mich befand und wohin es mit mir wollte, um mir Wirklichkeit zu entwerfen.

Im Anschluss betont Celan die dialogische Funktionsweise von Sprache; das Dialogische

haftet der Sprache an, auch in der Einsamkeit, in der man nur die Möglichkeit hat, „eine

Flaschenpost“ aufzugeben: Ich weiß nicht, ob sie auch ankommt, doch ich muss sie auf-

geben, da ohne Dialog Leben erst recht nicht möglich ist.

Das Gedicht kann, da es eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem - gewiß nicht immer hoffnungs-starken - Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herz-land vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu. Worauf? Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit.

Am Ende seiner Rede macht Celan noch eine entscheidende Wende:

Es sind die Bemühungen dessen, der, überflogen von Sternen, die Menschenwerk sind, der, zeltlos auch in diesem bisher ungeahnten Sinne und damit auf das unheimlichste im Freien, mit seinem Dasein zur Sprache geht, wirklichkeitswund und Wirklichkeit suchend.

Da sind sowohl Hofmannsthals Einsamkeit als auch Rilkes Ungeborgenheit wieder: Es

öffnet sich ein Zirkel, der nicht in der Welt, sondern in der Sprache sein Zentrum hat. Das

Ich ist der Wirklichkeit ausgeliefert, wird von ihr verwundet und muss sie doch suchen. Die

einzige Möglichkeit, sie zu finden, sich ihrer zu vergewissern, ist die Sprache. Dass das

auch funktioniert – der Glaube daran ist „nicht immer hoffnungsstark“.

Im Jahr 1970 hat Paul Celan, im Alter von 49 Jahren, Selbstmord begangen.

13) Die Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins braucht zwei Teile. In seinem „Tracta-

tus logico-philosophicus“ (TLP) meinte er „die Probleme im Wesentlichen endgültig ge-

löst zu haben“; gut ein Vierteljahrhundert später waren sie aber immer noch offen, und

auch die „Philosophischen Untersuchungen“ (PU), die erst nach seinem Tod erschienen,

bedeuten natürlich auch kein Ende der Diskussion über Sprache (auch wenn wir sie da-

nach beenden mussten).

In diesen beiden Büchern werden zwei ganz unterschiedliche „Projekte“ verfolgt: das „Ide-

alsprachenprojekt“ im ersten und das „Normalsprachenprojekt“ im zweiten.

Das „Idealsprachenprojekt“ hängt einem alten Traum nach, der mythologisch gesagt, hin-

ter die babylonische Sprachverwirrung zurückgreift. Im 11. Kapitel des ersten Buchs der

Bibel wird erzählt, dass die Menschen den Himmel erstürmen wollten, was Gott natürlich

nicht zulassen konnte. Er zerstörte den Turm, den sie bauten, verwirrte ihre Sprache, so

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 17

dass keiner mehr den anderen verstand, und jagte sie in alle Himmelsrichtungen davon.

Die Idealsprache ist tatsächlich eine Sprache, die jeder versteht, keine historisch gewach-

sene Sprache, in deren Entwicklung allerhand kommunikative Bedürfnisse eingeflossen

sind, sondern eine objektive Sprache, deren einzige Funktion es ist, Wahrheit aussagen

zu können. Eine solche Sprache gibt es schon: Es ist die Mathematik, deren Aufbau rein

logisch ist, von keinen subjektiven Problemen, Bedürfnissen, Horizonten beeinträchtigt.

Ganz einfach gesagt: „Was für schönes Wetter“ kann alles Mögliche heißen, je nachdem,

ob der Sprecher Sonnenschein, Regen, Kälte, Schnee, Sturm, Wechselhaftigkeit oder was

auch immer liebt. „2+2=4“ gilt hingegen immer und überall. Auf eine solche immer und

überall gültige Grundlage versucht der TLP die Sprache zu stellen. Das schlägt sich auch

auf die Form nieder: Fast der ganze TLP besteht aus (möglichst) einfachen Aussagesät-

zen. Denn:

Man könnte den ganzen Sinn des Buches etwa in die Worte fassen: Was sich überhaupt sa-gen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schwei-gen.

Der Gedankengang des TLP ist sehr klar strukturiert; die einzelnen Sätze sind hierar-

chisch durchnummeriert. Auch hier kann ich selbstverständlich nur die wichtigsten Gedan-

ken zusammenfassen.

In den Sätzen unter §1 wird geklärt, was überhaupt Welt ist: „alles, was der Fall ist“, „die

Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“. Damit stellt sich Wittgenstein von vornherein

außerhalb des Universalienstreits: Es geht ihm nicht um Allgemeines oder Besonderes

und nicht um das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem. Nicht die Dinge

stehen für ihn im Vordergrund, sondern die Tatsachen. Immanuel Kant hatte „Tatsache“ so

definiert:

gegenstände für begriffe, deren objective realität es sei durch reine vernunft oder durch er-fahrung ... bewiesen werden kann, sind thatsachen (z.b. die mathematischen eigenschaften der gröszen). (zit. nach DWB)

Mit der Feststellung, dass die Welt aus Tatsachen und nicht aus Dingen besteht, blendet

Wittgenstein die Problematik des Verhältnisses zwischen Vernunft und Welt aus. Ihn inte-

ressiert nicht ein „Ding an sich“, sondern es geht ihm ‚nur‘ um das Verhältnis der Sprache

zur vom Menschen wahrgenommenen Welt. Dinge sind einfach, den Tatsachen hingegen

ist immer schon eine menschliche Perspektive eingeschrieben. Ihn interessiert nicht die

Welt, die es außerhalb menschlicher Wahrnehmung gibt. Mit der Differenz zwischen Welt

und vom Menschen wahrgenommener Welt hatte sich Nietzsche auseinandergesetzt;

Wittgenstein hingegen fasst Welt immer schon als eine Welt des Menschen, für ihn ist es

selbstverständlich, dass es keine andere gibt. „Welt“ ist für den Menschen „Wirklichkeit“.

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 18

Wie ist diese Welt/Wirklichkeit organisiert?

1.21 Eines kann der Fall sein oder nicht der Fall sein und alles übrige gleich bleiben.

Das kennen wir – ähnlich – schon. Tatsachen hängen nicht miteinander zusammen, sie

sind nicht voneinander abhängig, sie sind auch nicht hierarchisch oder sonstwie geordnet,

sondern rein additiv vorhanden. Das war auch die Position Hofmannsthals im „Chandos-

brief“.

§2 handelt dann vom Verhältnis des Menschen zur Welt. Wie geht er mit ihr um? Wie kann

er mit ihr umgehen? „2.1 Wir machen uns Bilder der Tatsachen.“ Dieses Verhältnis des

Menschen zur Welt ist ebenfalls Bestandteil der Welt („2.141 Das Bild ist eine Tatsache.“),

und zugleich ist das Bild mit der „Wirklichkeit“ verknüpft „- es reicht bis zu ihr“ (2.1511).

Den Abgrund, der bei Nikolaus von Kues eine so große Rolle spielt, gibt es nicht mehr,

aus oben genannten Gründen: Welt ist immer vom Menschen wahrgenommene Welt.

Die Bilder werden in §3 zur Sprache:

3.2 Im Satze kann der Gedanke so ausgedrückt sein, dass den Gegenständen des Gedan-kens Elemente des Satzzeichens entsprechen. 3.201 Diese Elemente nenne ich »einfache Zeichen« und den Satz »vollständig analysiert«. 3.202 Die im Satze angewandten einfachen Zeichen heißen Namen. 3.203 Der Name bedeutet den Gegenstand. Der Gegenstand ist seine Bedeutung. (»A« ist dasselbe Zeichen wie »A«.)

Gedanken können umgesetzt werden in Sätze („Satzzeichen“); Gedanken bestehen aus

Gegenständen und Sätze aus einfachen Zeichen: Beide, die Gegenstände der Gedanken

und die einfachen Zeichen der Sätze, die Namen heißen, entsprechen einander: „Der Na-

me bedeutet den Gegenstand.“ – Damit habe ich Wittgenstein nur umformuliert. Was er

damit meint, dass der Satz damit „vollständig analysiert“ sei, ist Folgendes: Der Satz wird

mathematisch verstanden, es gibt, ebenso wie zum Beispiel in „1+2+3+4+5=15“ eindeuti-

ge Bedeutungen. Das liegt daran, dass der Satz eine „logische Form“ (2.18) hat. In dieser

logischen Form wird Wirklichkeit abgebildet.

Man kann sich leicht vorstellen, dass eine solche Abbildtheorie mit der Umgangssprache

kollidiert. Wir sprechen nicht ‚mathematisch korrekt‘, sondern es kommt uns nur darauf an,

dass wir verstanden werden, und dieses Verstehen und Verstandenwerden liegt weit vor

der vollständigen Analyse eines Satzes. Das bedeutet, dass unsere Sprache nicht geeig-

net ist, Wahrheit abzubilden. Dazu bräuchte man eine andere Sprache, die Idealsprache:

3.323 In der Umgangssprache kommt es ungemein häufig vor, dass dasselbe Wort auf ver-schiedene Art und Weise bezeichnet - also verschiedenen Symbolen angehört -, oder, dass zwei Wörter, die auf verschiedene Art und Weise bezeichnen, äußerlich in der gleichen Wei-se im Satz angewandt werden. So erscheint das Wort »ist« als Kopula, als Gleichheitszeichen und als Ausdruck der Exis-tenz; »existieren« als intransitives Zeitwort wie »gehen«; »identisch« als Eigenschaftswort; wir reden von Etwas, aber auch davon, dass etwas geschieht.

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 19

(Im Satze »Grün ist grün« - wo das erste Wort ein Personenname, das letzte ein Eigen-schaftswort ist - haben diese Worte nicht einfach verschiedene Bedeutung, sondern es sind verschiedene Symbole.) 3.324 So entstehen leicht die fundamentalsten Verwechselungen (deren die ganze Philoso-phie voll ist). 3.325 Um diesen Irrtümern zu entgehen, müssen wir eine Zeichensprache verwenden, wel-che sie ausschließt, indem sie nicht das gleiche Zeichen in verschiedenen Symbolen, und Zeichen, welche auf verschiedene Art bezeichnen, nicht äußerlich auf die gleiche Art ver-wenden. Eine Zeichensprache also, die der logischen Grammatik - der logischen Syntax - gehorcht.

§4 rückt die Sprache in das Zentrum der Philosophie: „4.0031 Alle Philosophie ist

»Sprachkritik«.“ Das muss näher erläutert werden.

4.111 Die Philosophie ist keine der Naturwissenschaften. (Das Wort »Philosophie« muss etwas bedeuten, was über oder unter, aber nicht neben den Naturwissenschaften steht.) 4.112 Der Zweck der Philosophie ist die logische Klärung der Gedanken. Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. Ein philosophisches Werk besteht wesentlich aus Erläuterungen. Das Resultat der Philosophie sind nicht »philosophische Sätze«, sondern das Klarwerden von Sätzen. Die Philosophie soll die Gedanken, die sonst, gleichsam, trübe und verschwommen sind, klar machen und scharf abgrenzen. [...] 4.113 Die Philosophie begrenzt das bestreitbare Gebiet der Naturwissenschaft. 4.114 Sie soll das Denkbare abgrenzen und damit das Undenkbare. Sie soll das Undenkbare von innen durch das Denkbare begrenzen. 4.115 Sie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt. 4.116 Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles, was sich aussprechen lässt, lässt sich klar aussprechen.

Zur weiteren Erläuterung gehe ich noch einmal vom obigen Satz aus: „1+2+3+4+5=15“.

Dieser Satz ist Bestandteil der Mathematik. Er hat eine eindeutige Bedeutung. Der Satz ist

wahr (während der Satz „1+2+3+4+5=14“ falsch ist). Philosophie wird aber – bisher – nicht

in derart eindeutig wahren oder falschen Sätzen betrieben. Deshalb muss sie ihr Werk-

zeug, die Sprache, selbst reflektieren, um dahinter zu kommen, was ihre Sätze ‚eigentlich‘

bedeuten. Anders gesagt, und nach allem Bisherigen: Wenn Sprache Wahrheit aussagen

soll, der Wirklichkeit entsprechen soll, das heißt: ihre „Namen“ die Elemente der Gedan-

ken abbilden sollen, dann muss man sich selbstverständlich fragen, wie diese Aussage,

diese Entsprechung, dieses Abbild funktioniert. Das meint Wittgenstein, wenn er sagt,

dass das „Resultat der Philosophie [...] das Klarwerden von Sätzen“ sei. Der Philosoph

muss klar denken und alles klar Gedachte klar aussprechen (4.116). Die Philosophie ist

bei der Sprache angekommen, und solange sie sich der Sprache nicht klar geworden ist,

kann sie nichts anderes leisten. Denn:

5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.

Sprache ist der Maßstab der Welt, das heißt auch: Es gibt grundsätzlich keine Sprachlo-

sigkeit. Später heißt es:

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 20

6.5 Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aus-sprechen. Das Rätsel gibt es nicht. Wenn sich eine Frage überhaupt stellen lässt, so kann sie auch beantwortet werden. 6.51 Skeptizismus ist nicht unwiderleglich, sondern offenbar unsinnig, wenn er bezweifeln will, wo nicht gefragt werden kann. Denn Zweifel kann nur bestehen, wo eine Frage besteht; eine Frage nur, wo eine Antwort besteht, und diese nur, wo etwas gesagt werden kann.

Mit anderen Worten: Alle Welt ist aussagbar. Das muss so sein, weil Welt immer schon

Welt des Menschen ist (siehe oben), und begrenzt wird sie durch die Aussagbarkeit. Was

nicht aussagbar ist, ist nicht Bestandteil der Welt. Schon im Vorwort hieß es:

Das Buch will also dem Denken eine Grenze ziehen, oder vielmehr – nicht dem Denken, sondern dem Ausdruck der Gedanken: Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen, müß-ten wir beide Seiten dieser Grenze denken können (wir müßten also denken können, was sich nicht denken läßt). Die Grenze wird also nur in der Sprache gezogen werden können und was jenseits der Grenze liegt, wird einfach Unsinn sein.

Und dementsprechend lautet der letzte Satz:

7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.

14) Nach dem TLP, der ja alle Probleme löste, verschwand Wittgenstein aus der Philoso-

phie. Er verschenkte das Vermögen, das er von seinen Eltern geerbt hatte, wurde Dorf-

schullehrer und baute ein Haus für seine Schwester, bevor er elf Jahre nach dem Entste-

hen des TLP nach Cambridge zurückkehrte.

In den „Philosophischen Untersuchungen“ , die erst 1953, zwei Jahre nach Wittgen-

steins Tod erschienen, geht er ganz anders vor als im TLP. Diesmal ist er sich der Vorläu-

figkeit und Bruchstückhaftigkeit seiner „Bemerkungen“ bewusst. Er tritt in einen Dialog mit

dem Leser (oder mit sich selbst?). Die Gedanken werden nicht nur mitgeteilt, sondern

entwickelt; Philosophie wird hier tatsächlich als „Tätigkeit“ (4112) vorgeführt.

Auch im Zentrum der PU steht die Sprache, doch visiert Wittgenstein nicht mehr eine Ide-

alsprache an, sondern beschäftigt sich mit dem, was er im TLP „Umgangssprache“ nann-

te. Wurden dort wesentliche Irrtümer in der Philosophie dieser ‚unwissenschaftlichen‘

Sprachvariante zur Last gelegt (vgl. oben 3.323-3.325), so lässt er sich nun ganz auf die

Sprache ein, die wir nun mal gebrauchen („Normalsprachenprojekt“).

Wie groß diese Herausforderung ist, ergibt sich schon aus dem TLP:

4.002 Der Mensch besitzt die Fähigkeit Sprachen zu bauen, womit sich jeder Sinn ausdrü-cken lässt, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie und was jedes Wort bedeutet. - Wie man auch spricht, ohne zu wissen, wie die einzelnen Laute hervorgebracht werden. Die Umgangssprache ist ein Teil des menschlichen Organismus und nicht weniger kompli-ziert als dieser. Es ist menschenunmöglich, die Sprachlogik aus ihr unmittelbar zu entnehmen.

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 21

Die Sprache verkleidet den Gedanken. Und zwar so, dass man nach der äußeren Form des Kleides nicht auf die Form des bekleideten Gedankens schließen kann; weil die äußere Form des Kleides nach ganz anderen Zwecken gebildet ist als danach, die Form des Körpers er-kennen zu lassen. Die stillschweigenden Abmachungen zum Verständnis der Umgangssprache sind enorm kompliziert.

Die PU fangen ebenso harmlos wie programmatisch an, mit dem Spracherwerb. Wittgen-

stein zitiert dazu eine Stelle aus den „Confessiones“ („Bekenntnissen“) des Kirchenvaters

Augustinus, ungefähr aus dem Jahr 400. Wie lernt ein Kind die Zuordnung von Sprache

zur Welt? Augustinus beschreibt es so, dass die Eltern auf einen Gegenstand zeigen und

dabei ein Wort sagen. Das Kind lernt die Verknüpfung zwischen Wort und Gegenstand.

In diesen Worten erhalten wir, so scheint es mir, ein bestimmtes Bild von dem Wesen der menschlichen Sprache. Nämlich dieses: Die Wörter der Sprache benennen Gegenstände – Sätze sind Verbindungen von solchen Benennungen. – In diesem Bild von der Sprache fin-den wir die Wurzeln der Idee: Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht.

Augustinus spricht jedoch nur von Substantiven, die Gegenstände bezeichnen; über ande-

re Wortarten wie Adjektive, die Eigenschaften bezeichnen, oder Zahlwörter, spricht er

nicht.

Denke nun an diese Verwendung der Sprache: Ich schicke jemand einkaufen. Ich gebe ihm einen Zettel, auf diesem stehen die Zeichen: »fünf rote Äpfel«. Er trägt den Zettel zum Kauf-mann; der öffnet die Lade, auf welcher das Zeichen »Apfel« steht; dann sucht er in einer Ta-belle das Wort »rot« auf und findet ihm gegenüber ein Farbmuster; nun sagt er die Reihe der Grundzahlwörter – ich nehme an, er weiß sie auswendig – bis zum Worte »fünf« und bei je-dem Zahlwort nimmt er einen Apfel aus der Lade, der die Farbe des Musters hat. – So, und ähnlich, operiert man mit Worten. – »Wie weiß er aber, wo und wie er das Wort ›rot‹ nach-schlagen soll und was er mit dem Wort ›fünf‹ anzufangen hat?« – Nun, ich nehme an, er handelt, wie ich es beschrieben habe. Die Erklärungen haben irgendwo ein Ende. – Was ist aber die Bedeutung des Wortes »fünf«? – Von einer solchen war hier garnicht die Rede; nur davon, wie das Wort »fünf« gebraucht wird.

Der letzte Satz ist wichtig: Sprache entfaltet sich im Gebrauch, ein Umweg über eine vor-

gängig festgelegte Bedeutung ist gar nicht notwendig. Der ganze Absatz beschreibt Spra-

che im Gebrauch. Wörter sind Namensschilder, die an den Dingen kleben, und ebenso

kleben an den Farben Namensschilder (dazu später mehr). Zahlen hingegen sind ihrer

Natur nach abstrakt, können aber nur konkret wahrgenommen und angewandt werden:

Außerhalb der reinen Mathematik gibt es immer fünf Irgendetwas, 5 Finger, 5 Äpfel, 5

Länder usw.

Im Anschluss „baut“ (mit dem Wort aus TLP 4.002) Wittgenstein eine Sprache, die aus nur

vier Wörtern besteht: „»Würfel«, »Säule«, »Platte«, »Balken«. A ruft sie aus; – B bringt

den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. - Fasse dies als vollständige pri-

mitive Sprache auf.“ Mit dieser Sprache kann man allerhand machen, sie regelt die Kom-

munikation auf einer Baustelle und trägt dazu bei, dass der Bau gelingt. Allerdings ist un-

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 22

sere Sprache etwas komplizierter, denn sie muss nicht nur auf der Baustelle funktionieren.

Man kann die Funktionsweise dieser Sprache also nicht verallgemeinern.

Es ist, als erklärte jemand: »Spielen besteht darin, daß man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt...« – und wir ihm antworten: Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.

Was bedeutet der folgende Satz? αJetztβkγommβschonβhδerεζ. Wittgenstein vergleicht

Augustinus‘ Auffassung der Sprache mit einer Schrift, in der nicht nur Laute, sondern auch

Betonungen und Interpunktionszeichen mit Hilfe von Buchstaben notiert werden. Damit

würden aber die verschiedenen Ebenen der Notation verwischt. (Zur Erklärung des Sat-

zes: α=„, β=[Leerzeichen], γ=[Betonung], δ=[starke Betonung], ε=., ζ=“) Schrift funktioniert

aber nicht so, ebenso wenig wie Sprache so funktioniert, wie Augustinus das darstellt.

Solche primitiven Formen der Sprache verwendet das Kind, wenn es sprechen lernt. Das Lehren der Sprache ist hier kein Erklären, sondern ein Abrichten.

„Abrichten“ heißt „dressieren“: Pferde zum Beispiel werden für den Zirkus dressiert, abge-

richtet, damit sie auf ein ganz bestimmtes Signal hin etwas ganz Bestimmtes tun. So lernt

ein Kind die Bedeutung von Namen für Gegenstände. Man zeigt auf den Gegenstand und

sagt dabei ein Wort, und das Kind stellt die Verbindung her zwischen dem Gegenstand

und dem Wort. Aber so lernt man nicht die ganze Sprache, weil die Sprache nicht nur aus

Namen für Gegenstände besteht. Es gibt zum Beispiel auch Farbwörter. Das Erlernen von

Farbwörtern kann aber nicht durch Abrichtung erfolgen, sondern nur durch Erklärung. Der

Vater zeigt auf einen Gegenstand und sagt „rot“; das Kind muss nach Augustinus‘ Auffas-

sung der Sprache „rot“ als Namen des Gegenstands verstehen. Damit es versteht, dass

„rot“ nicht den Gegenstand bezeichnet, sondern dessen Farbe, muss man es ihm erklären,

z.B. so: „Ich meine nicht den Gegenstand, sondern die Farbe des Gegenstands.“ Voraus-

setzung einer Erklärung ist nicht-gegenständliches Wissen, konkret im vorangegangenen

Satz (um nur das Einfachste zu nennen): Was bedeutet „meinen“? Auf welcher Abstrakti-

onsstufe ist „Gegenstand“ anzuordnen? Was ist „Farbe“? All das (und vieles mehr) kann

nicht durch „Abrichten“ gelernt, sondern muss erklärt werden.

Wir können uns auch denken, daß der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in (2) eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele »Sprachspiele« nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden. Und man könnte die Vorgänge des Benennens der Steine und des Nachsprechens des vor-gesagten Wortes auch Sprachspiele nennen. Denke an manchen Gebrauch, der von Worten in Reigenspielen gemacht wird. Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das »Sprachspiel« nennen.

Um Wittgensteins Begriff „Sprachspiel“ zu verstehen, muss man sich klar machen, was ein

Spiel ist. Es folgt sehr spezifischen Regeln. Beim Schachspiel beispielsweise ist genau

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festgelegt, wie und wie weit welche Figur bewegt werden darf. Darüber hinaus z.B. ist ver-

einbart, dass jeder Spieler jedes Mal, wenn er spielen darf, nur genau eine Bewegung mit

einer Figur ausführen darf, dass er die Figur bewegen muss, die er als erste berührt hat,

usw. Genau so funktioniert Sprache: Sie ist von Regeln beherrscht, und wer diese Regeln

nicht befolgt, hat keine Chance, sich verständlich zu machen.

Die Regeln der Sprache besagen auch, dass ganz bestimmte Wörter etwas ganz Be-

stimmtes bedeuten:

Nun, man kann ja die Beschreibung des Gebrauchs des Wortes »Platte« dahin abkürzen, daß man sagt, dieses Wort bezeichne diesen Gegenstand. Das wird man tun, wenn es sich z.B. nurmehr darum handelt, das Mißverständnis zu beseitigen, das Wort »Platte« beziehe sich auf die Bausteinform, die wir tatsächlich »Würfel« nennen, – die Art und Weise dieses ›Bezugs‹ aber, d.h. der Gebrauch dieser Worte im übrigen, bekannt ist. Und ebenso kann man sagen, die Zeichen »a«, »b«, etc. bezeichnen Zahlen; wenn dies et-wa das Mißverständnis behebt, »a«, »b«, »c«, spielten in der Sprache die Rolle, die in Wirk-lichkeit »Würfel«, »Platte«, »Säule«, spielen. Und man kann auch sagen, »c« bezeichne die-se Zahl und nicht jene; wenn damit etwa erklärt wird, die Buchstaben seien in der Reihenfol-ge a, b, c, d, etc. zu verwenden und nicht in der: a, b, d, c.

Im Anschluss geht Wittgenstein auf die unterschiedlichen Wortarten ein:

11. Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. – So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.) Freilich, was uns verwirrt ist die Gleichförmigkeit ihrer Erscheinung, wenn die Wörter uns ge-sprochen, oder in der Schrift und im Druck entgegentreten. Denn ihre Verwendung steht nicht so deutlich vor uns. Besonders nicht, wenn wir philosophieren! 12. Wie wenn wir in den Führerstand einer Lokomotive schauen: da sind Handgriffe, die alle mehr oder weniger gleich aussehen. (Das ist begreiflich, denn sie sollen alle mit der Hand angefaßt werden.) Aber einer ist der Handgriff einer Kurbel, die kontinuierlich verstellt wer-den kann (sie reguliert die Öffnung eines Ventils); ein andrer ist der Handgriff eines Schal-ters, der nur zweierlei wirksame Stellungen hat, er ist entweder umgelegt, oder aufgestellt; ein dritter ist der Griff eines Bremshebels, je stärker man zieht, desto stärker wird gebremst; ein vierter, der Handgriff einer Pumpe, er wirkt nur, solange er hin und her bewegt wird.

Die unterschiedlichen Handgriffe in der Lokomotive sehen alle ähnlich aus, weil sie alle

Handgriffe sind, die mit der Hand bedient werden. Das heißt aber nicht, dass sie alle

gleich funktionieren – auf diesen Irrtum war Augustinus hereingefallen. Tatsächlich sind

sie aber ganz unterschiedlich zu bedienen, genau so wie die verschiedenen Wortarten je-

weils eine ganz unterschiedliche Funktion haben, und ähnlich wie mit den unterschiedli-

chen Figuren im Schachspiel unterschiedliche Bewegungen ausgeführt werden dürfen.

17. Wir werden sagen können: in der Sprache (8) haben wir verschiedene Wortarten. Denn die Funktion des Wortes »Platte« und des Wortes »Würfel« sind einander ähnlicher als die von »Platte« und von »d«. Wie wir aber die Worte nach Arten zusammenfassen, wird vom Zweck der Einteilung abhängen, – und von unserer Neigung. Denke an die verschiedenen Gesichtspunkte, nach denen man Werkzeuge in Werkzeugar-ten einteilen kann. Oder Schachfiguren in Figurenarten.

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 24

In §18 gibt Wittgenstein eine sehr fundamentale Beschreibung der komplizierten Um-

gangssprache.

18. Daß die Sprachen (2) und (8) nur aus Befehlen bestehen, laß dich nicht stören. Willst du sagen, sie seien darum nicht vollständig, so frage dich, ob unsere Sprache vollständig ist; – ob sie es war, ehe ihr der chemische Symbolismus und die Infinitesimalnotation einverleibt wurden; denn dies sind, sozusagen, Vorstädte unserer Sprache. (Und mit wieviel Häusern, oder Straßen, fängt eine Stadt an, Stadt zu sein?) Unsere Sprache kann man ansehen als eine alte Stadt: Ein Gewinkel von Gäßchen und Plätzen, alten und neuen Häusern, und Häusern mit Zubauten aus verschiedenen Zeiten; und dies umgeben von einer Menge neuer Vororte mit geraden und regelmäßigen Straßen und mit einförmigen Häusern. 19. Man kann sich leicht eine Sprache vorstellen, die nur aus Befehlen und Meldungen in der Schlacht besteht. – Oder eine Sprache, die nur aus Fragen besteht und einem Ausdruck der Bejahung und der Verneinung. Und unzählige Andere. – Und eine Sprache vorstellen heißt, sich eine Lebensform vorstellen.

Ein wesentliches Merkmal menschlicher Sprache ist, dass sie gewachsen ist und weiter-

wächst. Sie musste und muss jeweils nur dazu taugen, die kommunikativen Bedürfnisse

zu befriedigen, die aktuell befriedigt werden müssen. Die Sprache aus den vier Wörtern

(Würfel, Platte, Balken, Säule) funktioniert so lange perfekt, wie es auf der Baustelle keine

anderen Materialien gibt als Würfel, Platte, Balken, Säule und die Sprache nur dazu die-

nen muss, dass der A dem B Anweisungen darüber geben kann, was er aktuell braucht.

Müssen auch andere Materialien verbaut werden oder soll die Sprache auch außerhalb

der Baustelle verwendet werden, muss man sie erweitern.

In ihrer Mitte ist eine Sprache ziemlich verwinkelt, langsam gewachsen, mit vielen unre-

gelmäßigen Wortformen z.B., wie eine Altstadt nun mal ist. Wächst die Stadt, entstehen

Vororte, die dann geometrisch angelegt sind, und die Häuser sehen alle gleich aus. So

entstehen etwa im Deutschen Wortbildungsmuster, mit denen man bequem und stets auf

dieselbe Weise neue Wörter bilden kann: z.B. lassen sich ganz beliebig mit den Endsilben

„-keit, -heit, -ung“ Substantive bilden. Wie funktionsfähig eine Sprache ist, hat nichts mit ih-

rer Reichhaltigkeit zu tun. Eine Sprache kann aus nur vier Wörtern bestehen und doch

funktionieren. In dieser Sprache wäre es vollkommen sinnlos, sich das Wort „Erdbeerku-

chen“ auszudenken, das ein bestimmtes Gebäck mit Erdbeeren bedeutet, solange Erd-

beerkuchen auf der Baustelle nicht vorhanden ist und nicht zum Bauen von Häusern ge-

braucht wird.

§23 nimmt dann die Sprechakttheorie vorweg.

Das Wort »Sprachspiel« soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. Führe dir die Mannigfaltigkeit der Sprachspiele an diesen Beispielen, und anderen, vor Au-gen: Befehlen, und nach Befehlen handeln - Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen - Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) – [...]

Sprachphilosophie - Zusammenfassung - 25

John Langshaw Austin hielt 1955 in Harvard eine Vorlesung, deren Skript – nach seinem

Tod – 1962 unter dem Titel „How to Do Things with Words“ veröffentlicht wurde. In der

Sprache, so der Grundgedanke, kann man nicht nur etwas wahr oder falsch aussagen,

sondern mit Sprache macht man Dinge: Man stellt Fragen, gibt Befehle oder ein Verspre-

chen, ernennt jemanden zum Minister usw.

Am Ende unserer Lektüre der PU schließlich noch ein zentraler Gedanke, der das Ver-

hältnis zwischen Sprache und Welt ganz von der Sprache aus sieht:

43. Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes »Bedeutung« – wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung – dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache. Und die Bedeutung eines Namens erklärt man manchmal dadurch, daß man auf seinen Trä-ger zeigt.

Dies ist ein Standpunkt, der die gesamte Diskussion über das Verhältnis zwischen Welt,

Vernunft/Denken und Sprache aufhebt. Darin liegt aber auch der Zusammenhang zwi-

schen den PU und dem TLP: Welt ist überhaupt nur, insofern sie denkbar ist und aussag-

bar ist.

Das war’s, viel Spaß beim Lernen!