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ÖFFENTLICHES RECHT RA 2001, HEFT 8 -445- Öffentliches Recht Standort: VerwR BT Problem: Sondernutzungserlaubnis für Wahlplakate VG GIEßEN, BESCHLUSS VOM 27.02.2001 8 G 335/01 (NVWZ-RR 2001, 418) Problemdarstellung: Das VG Gießen spricht im vorliegenden, im Eilverfahren nach § 123 I VwGO ergangenen Beschluss einer politi- schen Partei einen Anspruch gegen die Gemeinde auf Zuweisung ausreichender Flächen für die Anbringung von Wahlwerbung zu. Den entsprechenden Anspruch leitet es aus § 16 HessStrG ab; Wahlwerbung durch das Plakatieren von Lichtmasten, Schildern u.ä. sei straßen- rechtlich als Sondernutzung einzustufen. Der danach bestehende Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entschei- dung über die Erteilung einer entsprechenden Sondernut- zungserlaubnis reduziere sich in Wahlkampfzeiten jedoch auf einen Vornahmeanspruch. Dessen Umfang sei nach der sogen. “abgestuften Chancengleichheit” i.S.d. § 5 I PartG zu bestimmen. Eine Selbstbindung anderer Partei- en durch kollektiven Verzicht auf das Plakatieren von Masten, Schildern u.ä. könne hieran nichts ändern, da eine solche Vereinbarung allenfalls die Unterzeichner binden, nicht aber zu Lasten Dritter wirken könne. Abschließend macht das Gericht Ausführungen zur Zu- lässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache im Rahmen des § 123 I VwGO, welche es mit Blick auf Art. 19 IV GG grds. für möglich hält, jedoch strengen Vorausset- zungen unterwirft. Prüfungsrelevanz: Die Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungs- erlaubnis steht nach den Straßen- und Wegegesetzen der Länder grds. im Ermessen der Behörde. Wird im Wege der Verpflichtungsklage gleichwohl der Erlass einer Son- dernutzungserlaubnis begehrt, kann wegen fehlender Spruchreife (§ 113 V VwGO) allenfalls ein sogen. “Be- scheidungsurteil” ergehen, mit dem die Behörde zur Neu- bescheidung des Kl. verpflichtet wird, wenn sie seinen Antrag ermessensfehlerhaft abgelehnt hat. Ein “Vornah- meurteil” kommt nur bei Ermessensreduzierung auf Er- teilung in Betracht, weil dann mangels verbleibenden Ermessensspielraums das Gericht auch bei Verpflichtung der Behörde nicht unzulässigerweise (vgl. § 114 VwGO) in selbigen eingreift, die Sache also spruchreif i.S.d. § 113 V VwGO ist. Der Examenskandidat sollte sich für den vorliegenden Fall einprägen, dass zugunsten politi- scher Parteien wegen Art. 28, 21 GG jedenfalls in der “heißen” Wahlkampfphase eine solche Ermessensredu- zierung bzgl. der Gestattung von Wahlwerbung zu beja- hen ist. Grenze des Anspruchs sind (nur) sicherheits- und ordnungsrechtliche Aspekte (z.B. darf das Plakatieren von Masten usw. die Sicherheit des Verkehrs nicht ge- fährden) und die abgestufte Chancengleichheit aus § 5 I PartG. Im vorläufigen Rechtsschutz wäre, wenn in der Hauptsa- che lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Ent- scheidung besteht, diese wegen der Eile jedoch nicht mehr rechtzeitig durchgeführt werden kann, die Frage zu klären, ob das Gericht nicht nur die Hauptsache vorweg- nehmen, sondern sogar mehr als in der Hauptsache (näm- lich Vornahme) zusprechen kann. Unter Hinweis auf Art. 19 IV GG wird selbst dies im Einzelfall für zulässig gehalten, wenn der ASt. ansonsten rechtsschutzlos ge- stellt würde (sehr str.; bejahend Schoch/Schmidt- Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rz. 158; Günther, NVwZ 1986, 697, 702; a.A. die wohl h.M., vgl. BVerwGE 63, 110, 112; OVG Münster, NWVBl 1995, 140, 141; VGH München, NVwZ-RR 1991, 441, 442). Vertiefungshinweise: Zur Zulässigkeit von Wahlwerbung: BVerwGE 47, 280; VGH Mannheim, VBlBW 1987, 310; VG Gelsen- kirchen, NWVBl 1999, 106, 107; vgl. auch BVerfG, RA 2001, 428 zum Konflikt von Wahlwerbung und postmor- talem Persönlichkeitsrecht Zur Vorwegnahme der Hauptsache bei § 123 I VwGO: BVerwGE 63, 111; VGH München, NVwZ-RR 1993, 356; Adolf, JA 1990, 30 Zum Verhältnis der Plakatierung der Parteien unter- einander: VG Düsseldorf, NVwZ-RR 1992, 729. Kursprogramm: Examenskurs: “Der Krampf mit dem Wahlkampf” Leitsätze: 1. Das Recht zum Aufstellen von Wahlplakaten als Ausprägung des Anspruchs, wirksame Wahlwerbung betreiben zu können, erfordert es, einer kandidieren- den politischen Partei einen Aufstellort pro 100 Ein- wohner zur Verfügung zu stellen. 2. Eine Vereinbarung zur Selbstbeschränkung hin-

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ÖFFENTLICHES RECHT RA 2001, HEFT 8

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Öffentliches Recht

Standort: VerwR BT Problem: Sondernutzungserlaubnis für Wahlplakate

VG GIEßEN, BESCHLUSS VOM 27.02.2001

8 G 335/01 (NVWZ-RR 2001, 418)

Problemdarstellung:Das VG Gießen spricht im vorliegenden, im Eilverfahrennach § 123 I VwGO ergangenen Beschluss einer politi-schen Partei einen Anspruch gegen die Gemeinde aufZuweisung ausreichender Flächen für die Anbringungvon Wahlwerbung zu. Den entsprechenden Anspruchleitet es aus § 16 HessStrG ab; Wahlwerbung durch dasPlakatieren von Lichtmasten, Schildern u.ä. sei straßen-rechtlich als Sondernutzung einzustufen. Der danachbestehende Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entschei-dung über die Erteilung einer entsprechenden Sondernut-zungserlaubnis reduziere sich in Wahlkampfzeiten jedochauf einen Vornahmeanspruch. Dessen Umfang sei nachder sogen. “abgestuften Chancengleichheit” i.S.d. § 5 IPartG zu bestimmen. Eine Selbstbindung anderer Partei-en durch kollektiven Verzicht auf das Plakatieren vonMasten, Schildern u.ä. könne hieran nichts ändern, daeine solche Vereinbarung allenfalls die Unterzeichnerbinden, nicht aber zu Lasten Dritter wirken könne.Abschließend macht das Gericht Ausführungen zur Zu-lässigkeit der Vorwegnahme der Hauptsache im Rahmendes § 123 I VwGO, welche es mit Blick auf Art. 19 IVGG grds. für möglich hält, jedoch strengen Vorausset-zungen unterwirft.

Prüfungsrelevanz:Die Erteilung einer straßenrechtlichen Sondernutzungs-erlaubnis steht nach den Straßen- und Wegegesetzen derLänder grds. im Ermessen der Behörde. Wird im Wegeder Verpflichtungsklage gleichwohl der Erlass einer Son-dernutzungserlaubnis begehrt, kann wegen fehlenderSpruchreife (§ 113 V VwGO) allenfalls ein sogen. “Be-scheidungsurteil” ergehen, mit dem die Behörde zur Neu-bescheidung des Kl. verpflichtet wird, wenn sie seinenAntrag ermessensfehlerhaft abgelehnt hat. Ein “Vornah-meurteil” kommt nur bei Ermessensreduzierung auf Er-teilung in Betracht, weil dann mangels verbleibendenErmessensspielraums das Gericht auch bei Verpflichtungder Behörde nicht unzulässigerweise (vgl. § 114 VwGO)in selbigen eingreift, die Sache also spruchreif i.S.d. §113 V VwGO ist. Der Examenskandidat sollte sich fürden vorliegenden Fall einprägen, dass zugunsten politi-

scher Parteien wegen Art. 28, 21 GG jedenfalls in der“heißen” Wahlkampfphase eine solche Ermessensredu-zierung bzgl. der Gestattung von Wahlwerbung zu beja-hen ist. Grenze des Anspruchs sind (nur) sicherheits- undordnungsrechtliche Aspekte (z.B. darf das Plakatierenvon Masten usw. die Sicherheit des Verkehrs nicht ge-fährden) und die abgestufte Chancengleichheit aus § 5 IPartG.Im vorläufigen Rechtsschutz wäre, wenn in der Hauptsa-che lediglich ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Ent-scheidung besteht, diese wegen der Eile jedoch nichtmehr rechtzeitig durchgeführt werden kann, die Frage zuklären, ob das Gericht nicht nur die Hauptsache vorweg-nehmen, sondern sogar mehr als in der Hauptsache (näm-lich Vornahme) zusprechen kann. Unter Hinweis auf Art.19 IV GG wird selbst dies im Einzelfall für zulässiggehalten, wenn der ASt. ansonsten rechtsschutzlos ge-stellt würde (sehr str.; bejahend Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 123 Rz. 158; Günther,NVwZ 1986, 697, 702; a.A. die wohl h.M., vgl.BVerwGE 63, 110, 112; OVG Münster, NWVBl 1995,140, 141; VGH München, NVwZ-RR 1991, 441, 442).

Vertiefungshinweise:ì Zur Zulässigkeit von Wahlwerbung: BVerwGE 47,280; VGH Mannheim, VBlBW 1987, 310; VG Gelsen-kirchen, NWVBl 1999, 106, 107; vgl. auch BVerfG, RA2001, 428 zum Konflikt von Wahlwerbung und postmor-talem Persönlichkeitsrechtì Zur Vorwegnahme der Hauptsache bei § 123 IVwGO: BVerwGE 63, 111; VGH München, NVwZ-RR1993, 356; Adolf, JA 1990, 30ì Zum Verhältnis der Plakatierung der Parteien unter-einander: VG Düsseldorf, NVwZ-RR 1992, 729.

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Der Krampf mit dem Wahlkampf”

Leitsätze:1. Das Recht zum Aufstellen von Wahlplakaten alsAusprägung des Anspruchs, wirksame Wahlwerbungbetreiben zu können, erfordert es, einer kandidieren-den politischen Partei einen Aufstellort pro 100 Ein-wohner zur Verfügung zu stellen.2. Eine Vereinbarung zur Selbstbeschränkung hin-

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ÖFFENTLICHES RECHTRA 2001, HEFT 8

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sichtlich des Plakatierens zu Wahlwerbezwecken, diedie übrigen politischen Parteien und Gruppierungenunterzeichnet haben, bindet nicht die Partei, die diesesAbkommen nicht unterzeichnet hat.

Sachverhalt: Die Ast. ist eine Wählergruppe und tritt erstmals zu einerWahl an, nachdem sie von der Ag. für die am 18. 3.2001 stattfindende Wahl zur Gemeindevertretung zu-gelassen wurde. Mit Schreiben vom 18. 12. 2000 bat dieAst. die Ag., geeignete öffentliche Plätze zur Aufstellungvon Aushangkästen zu benennen. Zusätzlich begehrte siedie Bereitstellung entsprechender Klebeflächen und dieGenehmigung für das Aufstellen bzw. Aufhängen vonWahlwerbetafeln für die bevorstehende Kommunalwahl.Unter dem 26. 1. 2001 erteilte die Ag. der Ast. eine"Sondernutzungserlaubnis" zur Plakatierung im Gebietder Ag., und zwar ausschließlich an den dafür vorgesehe-nen Stellen. Eine Auflistung der Standorte dieser Tafelnwar dem Bescheid als Anlage beigefügt. Das Anbringenvon Wahlplakaten an anderen Stellen, wie z. B. Licht-masten, wurde der Ast. untersagt. Diese äußerte die An-sicht, sie sehe es als massive Wahlbehinderung und Be-nachteiligung an, dass ihr von der Ag. auf Grund desgestellten Antrags ohne Nennung einer gesetzlichenGrundlage Wahlwerbung ausschließlich an den dafürvorgesehenen Stellen, nämlich an den benannten Wahl-plakattafeln, erlaubt worden sei. Sie suchte um einst-weiligen gerichtlichen Rechtsschutz nach. Der Antraghatte teilweise Erfolg.

Aus den Gründen: Der Antrag ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Um-fang begründet. Gem. § 123 I VwGO kann das Gerichtauf Antrag, auch schon vor Klageerhebung, eine einst-weilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstandtreffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Ver-änderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichungeines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlicherschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sindauch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezugauf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn dieseRegelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen,um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohendeGewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötigerscheint. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setztdemgemäß das Bestehen eines Anordnungsgrundes alsauch eines Anordnungsanspruchs voraus.

I. AnordnungsanspruchDie Ast. hat glaubhaft gemacht, dass sie einen Anspruchauf die Erteilung einer Sondernutzungserlaubnis für dasAufstellen von 69 Wahlwerbetafeln im Gebiet der Ag.hat und jene ihr entsprechend geeignete Plätze benennenmuss [...].

1. AnspruchsgrundlageDer Ast. steht ein Anspruch auf die Erteilung einerSondernutzungserläubnis gem. § 16 I Hessisches Straßen-gesetz (HessStrG) in dem im Tenor dargestellten Umfangzu. Nach dieser Vorschrift bedarf der Gebrauch der öf-fentlichen Straßen über den Gemeingebrauch hinaus(Sondernutzung) der Erlaubnis der Straßenbaubehörde.

2. Voraussetzung: Wahlwerbung als SondernutzungBeim ortsfesten Aufstellen oder Aufhängen von Wahl-werbeplakaten im öffentlichen Straßenraum, etwa anLichtmasten oder Verkehrszeichen, handelt es sich, wo-von im Übrigen auch die Bet. zutreffend ausgehen, umeine erlaubnispflichtige Sondernutzung in diesem Sinne(Grothe, in: Kodall/Krämer, StraßenR, 6. Aufl. 1991, S.718).

3. Rechtsfolge: ErmessenDer Magistrat der Ag., der als Straßenbaubehörde gem.§ 16 I 1 i. V. mit §§ 46 V, 43 HessStrG für die Erteilungeiner Sondernutzung in Bezug auf Gemeindestraßen zu-ständig ist, befindet über deren Erteilung grundsätzlichnach pflichtgemäßem Ermessen.

a. Ermessensreduzierung in WahlkampfzeitenIn Wahlkampfzeiten, worunter jedenfalls die letztensechs Wochen vor dem festgesetzten Wahltermin zu ver-stehen sind, besteht jedoch ein Anspruch im Wege einerErmessensreduzierung auf Null der zur Wahl zugelasse-nen Parteien und Wählergruppen auf Ermöglichung an-gemessener Wahlsichtwerbung im Straßenraum durchBewilligung der erforderlichen Sondernutzungserlaub-nisse (vgl. VG Gelsenkirchen, NWVBl 1999, 106, 107).Dabei ist von folgenden Grundsätzen auszugehen: "Die Bedeutung von Wahlen für einen demokratischenStaat (vgl. Art. 28 I 2 und Art. 28 I GG) und die Bedeu-tung der Parteien für solche Wahlen, wie sie sich ausArt. 21 GG und §§ 1 ff. PartG ergibt, schränken dasbehördliche Ermessen bei der Entscheidung über dieErlaubnis zum Aufstellen von Wahlplakaten durch Par-teien in so erheblichem Umfang ein, dass jedenfalls fürden Regelfall - in noch zu erörternden Grenzen - ein An-spruch einer Partei auf Erlaubnis besteht. Die Sichtwer-bung für Wahlen gehört - ebenso nach der Rechtspre-chung des BVerfG die Wahlpropaganda im Rundfunk(vgl. BVerfGE 14, 121, 131) - heute zu den Mitteln imWahlkampf der politischen Parteien und ist zu einemwichtigen Bestandteil der Wahlvorbereitung in der De-mokratie geworden (BVerfGE 14, 121; 34, 160, 163gegenüber BVerfGE 7, 99, 107, wo noch dahingestelltgeblieben war, ob der Rundfunk verpflichtet sei, politi-schen Parteien Sendezeit für Wahlpropaganda einzuräu-men). Die Wahlsichtwerbung als gewissermaßenselbstverständliches Wahlkampfmittel darf daher durchgänzliche oder auch nur weitgehende Verweigerung vor-

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gesehener Erlaubnisse grundsätzlich nicht beschnittenwerden. Bundesrecht gibt demnach, da Parteienrecht invollem Umfang Bundesrecht darstellt und Landes- undKommunalwahlrecht in seinen verfassungsrechtlichenGrundzügen im Bundesrecht verankert ist (Art. 28 I 2GG), zumindest dem Grunde nach einen Anspruch aufGestattung der Wahlsichtwerbung durch Parteien(BVerwGE 47, 280, 283).

b. Umfang nach abgestufter ChancengleichheitDer angemessene Umfang der Werbung im Einzelfallbestimmt sich nach dem Grundsatz der so genanntenabgestuften Chancengleichheit, wie er in § 5 I PartGseinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat(BVerwGE 47, 280; VG Gelsenkirchen, NWVBl 1999,106, 107; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl.[2000], Art. 21 Rdnr. 16). Demzufolge ist der Grundsatzder Wettbewerbs- und Chancengleichheit der politischenParteien und Wählergruppen nicht streng formal zuhandhaben, sondern es ist zulässig und ggf. sogar not-wendig, die Parteien bei der Gewährung öffentlicherLeistungen, wie hier der Erteilung von Sondernutzungs-erlaubnissen für Wahlwerbezwecke, nach ihrer Bedeu-tung ungleich zu behandeln (BVerwGE 47, 280, 290).Für eine wirksame Wahlpropaganda in angemessenemUmfang führt dies jedenfalls bei kleinen Parteien dazu,ihnen eine überproportional bemessene Zahl von Plätzenfür die Aufstellung von Wahlwerbetafeln zuzuerkennen(BVerwGE 47, 280, 290). Von einer solchen wirksamenWahlwerbung - auch für kleine Gruppen - ist nach Auf-fassung der Kammer in der Regel dann auszugehen,wenn pro 100 Einwohner ein Aufstellort zur Verfügunggestellt wird. In dem Gebiet der Ag. sind (Stand: 31. 12.2000) 6885 Einwohner mit erstem Wohnsitz gemeldet,wie diese selbst mitteilte. Daraus errechnen sich 69 Stand-plätze [...].

c. Grenzen der Wahlwerbung

(1). Sicherheits- und OrdnungsrechtEs ist ferner weder vorgetragen noch ersichtlich, dass esbei dem entsprechend gebotenen Bemühen der Ag., dieangegebene Zahl von Standorten für Wahlwerbung imStraßenraum auszuweisen, zu straßen- oder straßenver-kehrsrechtlichen Problemen kommen könnte. Auch einVerstoß der beabsichtigten Werbung der Ast. gegen dieallgemeinen Gesetze, insbesondere die Strafgesetze, ist

nicht ersichtlich.

(2). Selbstbeschränkung der übrigen ParteienDer oben dargestellte Anspruch der Ast. auf Ermögli-chung entsprechender Plakatierung ist schließlich nichtdurch die Vereinbarung beschränkt, die die übrigen poli-tischen Parteien und Gruppierungen der Ag. geschlossenhaben. Nach dieser Übereinkunft werden Plakate zurbevorstehenden Kommunalwahl am 18. 3. 2001 nur anden von der Ag. zur Verfügung gestellten Plakatflächenaufgeklebt. Ein "wildes" Plakatieren soll hiernach verhin-dert werden. Diesem Abkommen kommt aber für die Ast.keine entsprechende Bindungswirkung zu, da sie dieseÜbereinkunft nicht unterzeichnet hat.

II. Vorwegnahme der Hauptsache als Grenze des ge-richtlichen AnordnungsermessensDem Erlass einer entsprechenden einstweiligen Anord-nung steht vorliegend der Gesichtspunkt der Vorwegnah-me der Hauptsache nicht entgegen.

1. Möglichkeit der Vorwegnahme im Lichte des Art. 19IV GGEine solche Vorwegnahme ist in Verfahren nach § 123VwGO nämlich ausnahmsweise zulässig, wenn nur aufdiese Weise effektiver Rechtsschutz gewährt werdenkann, was insbesondere bei einem Verfahren, in dem einepolitische Partei oder Wählergruppe unmittelbar voreiner Wahl die Verbesserung ihrer Werbemöglichkeitenbegehrt, wegen des drohenden Zeitablaufs regelmäßiganzunehmen ist (VG Gelsenkirchen, NW-VBl 1999, 106,107).

2. VoraussetzungenDer Antrag ist jedoch unbegründet, soweit es um dasBegehren der Ast. geht, ihr Plätze zuzuweisen, an denensie geeignete Aushangkästen anbringen kann. Insoweitbegehrt sie nämlich eine Vorwegnahme der Hauptsache,die nach den oben dargestellten Grundsätzen nicht legiti-miert werden kann. Effektiver Rechtsschutz kann derAst. im Hinblick auf eine wirksame Wahlwerbung nichtnur durch diese Maßnahme, für die im Übrigen auchbaurechtliche Erlaubnisse erforderlich sein dürften, ge-währt werden, sondern insbesondere durch die Erteilungder begehrten Sondernutzungserlaubnisse für die Auf-stellung von Wahlplakaten, wie dies oben erörtert wurde.

Standort: § 36 VwVfG Problem: Abgrenzung von Hinweis und Nebenbestimmung

BVERWG, URTEIL VOM 13.12.2000

6 C 5.00 (BAYVBL 2001, 474)Problemdarstellung:Der Kl. hatte eine Genehmigung zum Betrieb einer Pri-vatschule unter dem “Hinweis” erhalten, die Genehmi-

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ÖFFENTLICHES RECHTRA 2001, HEFT 8

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gung werde widerrufen, wenn er zur Erreichung dererforderlichen Mindestschülerzahl pro Klasse verschie-dene Jahrgänge zu einem Klassenverband zusammen-lege. Gegen diese Einschränkung wehrte sich der Klä-ger mit seiner Klage. Die vorliegende Revisionsent-scheidung des BVerwG zur Zulässigkeit derselben istaus zweierlei Gründen interessant:Zum einen stuft das BVerwG die Einschränkung alsrechtserhebliche Nebenbestimmung ein, obwohl sie vonder Behörde lediglich als “Hinweis” deklariert wordenwar, was fehlende Rechtsverblichkeit suggerierte. Zum anderen bestätigt es seine - neue - Rechtspre-chung, wonach nunmehr alle Nebenbestimmungen grds.mit der Anfechtungsklage angegriffen werden können(BVerwG, Urteil vom 22.11.2000, RA 2001, 249 mitausführl. Anm.). Zu der bereits im Urteil vom22.11.2000 vorbehaltenen Ausnahme, dass statt derAnfechtungsklage gegen die Nebenbestimmung docheine Verpflichtungsklage auf einen neuen Verwaltungs-akt ohne die fragliche Nebenbestimmung erhoben wer-den müsse, wenn eine Anfechtung der Nebenbestim-mung “offenkundig von vornherein ausscheide”, fügtdas BVerwG nun eine neue hinzu: Eine Verpflichtungs-klage auf Erlass eines Verwaltungsakts ohne die ein-schränkende Nebenbestimmung soll auch dann statthaftsein, wenn sie für den Kläger rechtsschutzintensiver sei.Einen solchen Fall bejaht das Gericht hier.

Prüfungsrelevanz:Bevor die Frage des Rechtsschutzes gegen vom Klägernicht gewollte Nebenbestimmungen erörtert wird, ist alsVorfrage zu klären, ob überhaupt eine Nebenbestim-mung vorliegt. Handelt es sich bei der Erklärung derBehörde nämlich nicht um eine rechtsverbindliche Re-gelung nach § 36 VwVfG, sondern nur um einen un-verbindlichen Hinweis, ist gerichtlicher Rechtsschutzi.d.R. weder möglich noch nötig. Das vorliegende Urteilist ein gutes Beispiel dafür, dass diese Abgrenzungnicht allein nach dem von der Behörde gewählten Wort-laut, sondern erst nach Auslegung des gesamten Be-scheids analog § 133 BGB vor dem objektiven Empfän-gerhorizont vorgenommen werden darf. Diese Ausle-gung kann durchaus - wie hier - ergeben, dass derWortlaut letztlich nicht maßgeblich ist (“falsa demon-stratio non nocet”). Gleichwohl ist Zurückhaltung gebo-ten: Jedenfalls dann, wenn die Behörde einen terminustechnicus bewusst gewählt hat, wird nur bei gravieren-den sonstigen Umständen eine dem Wortlaut zuwiderlaufende Auslegung möglich sein (vgl. BGH, RA 2001,320 zu “Bedingung” und “Auflage”).Hinsichtlich der statthaften Klageart gegen Nebenbe-stimmungen ist auf die Ausführungen in RA 2001, 249zu verweisen. Dabei ist zu beachten, dass das BVerwG

den hier vorliegenden Fall, in dem eine Verpflichtungs-klage statthaft war, ausdrücklich als Ausnahme be-zeichnet hat; die Tendenz in der Rspr. geht eindeutigdahin, gegen jede Form der Nebenbestimmung die An-fechtungsklage nach § 42 I, 1. Fall VwGO zuzulassen,wohl mit dem Ziel, dem Kläger über § 80 I VwGO auf-schiebende Wirkung zuzubilligen zu können (vgl. nurBVerwG, RA 2001, 249).

Vertiefungshinweise:ì Zum Rechtsschutz gegen Nebenbestimmungen:BVerwGE 60, 269, 274; BVerwG, RA 2001, 249 =NVwZ 2001, 429; Störmer, DVBl 1996, 81; Schmidt,NVwZ 1996, 1188ì Überblick zu Nebenbestimmungen: Brenner, JuS1996, 281ì Auslegung von Behördenerklärungen: BGH, RA2001, 320 = DVBl 2001, 809; BVerwG, NVwZ 1984,37; Kluth, NVwZ 1990, 610

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Rentnerführerschein”ì Examenskurs: “Hinterzimmer mit Auflage”

Leitsatz:Ein Verpflichtungsantrag mit dem Begehren, einenbegünstigenden Verwaltungsakt ohne den ihm bei-gefügten Widerrufsvorbehalt zu erlassen, ist zuläs-sig, wenn er dem Kläger einen im Vergleich zum An-fechtungsantrag weitergehenden Rechtsschutz ver-schafft.

Sachverhalt:Der Kläger betreibt nach der Pädagogik von MariaMontessori mit staatlicher Genehmigung seit demSchuljahr 1990/91 eine private Grundschule und seitdem Schuljahr 1994/95 eine private Teilhauptschule Imit den Jahrgangsstufen fünf und sechs. Mit Bescheidvom 21.2.1997 erteilte die Regierung von N. dem Klä-ger die Genehmigung zur Errichtung und zum Betriebeiner privaten Teilhauptschule II ab dem Schuljahr1997/98. Die Schule sollte ihren Betrieb zunächst miteiner Klasse der 7. Jahrgangsstufe aufnehmen, der inden jeweils folgenden Jahren die Jahrgangsstufen achtund neun folgen sollten. Nach Nr. 6 des Bescheideswurde die Genehmigung unter der Bedingung erteilt,dass bis zur Aufnahme des Schulbetriebes zum Schul-jahresbeginn 1997/98 in der 7. Jahrgangsstufe eineZahl von mindestens 20 Schülern erreicht werde, die abdem Schuljahr 1999/2000 auf 25 Schüler anzuhebensei. Der Bescheid enthielt ferner "Hinweise", deren Nr.7 lautete: "Sollten sich an der Teilhauptschule II künf-tig aus Schülermangel nur kombinierte Klassen bilden

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lassen, so wird die Genehmigung widerrufen".Der Kläger hat nach erfolglosem Widerspruch gegendie Bedingung Nr. 6 und den Hinweis Nr. 7 des Be-scheids vom 21.2.1997 Klage erhoben.Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten unter ent-sprechender Aufhebung der angefochtenen Bescheideverpflichtet, die Genehmigung ohne Nebenbestimmun-gen über die erforderliche Schülerzahl und den Wider-ruf der Genehmigung bei Jahrgangsmischung zu ertei-len. Auf die auf die Frage der Jahrgangsmischung be-schränkte Berufung des Beklagten hat der Verwaltungs-gerichtshof unter Abweisung der Klage im Übrigen denBeklagten verpflichtet, über den Antrag auf Genehmi-gung von Jahrgangsmischungen unter Beachtung derRechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden. DerKläger hat die vom Bundesverwaltungsgericht zugelas-sene Revision eingelegt.

Aus den Gründen:Zu Recht haben die Vorinstanzen die Verpflichtungs-klage (§ 42 Abs. 1 VwGO) als zulässige Klageart ange-sehen.

A. Auslegung des KlagebegehrensDas im Berufungsrechtszug noch streitige und vom Re-visionsgericht zu beurteilende Klagebegehren ist daraufgerichtet, die Ersatzschulgenehmigung ohne den Hin-weis Nr. 7 des Genehmigungsbescheides vom21.2.1997 zu erhalten.

B. “Hinweis” als NebenbestimmungHierbei handelt es sich nicht nur um einen deklaratori-schen Hinweis auf eine gesetzlich zugelassene Möglich-keit des Widerrufs, sondern um einen konstitutivenWiderrufsvorbehalt nach Art. 36 Abs. 2 Nr. 3BayVwVfG (vgl. dazu Henneke, in: Knack, VwVfG, 6.Aufl. 1998, § 36 RdNr. 5.2; Kopp/Ramsauer, VwVfG,7. Aufl. 2000, § 36 RdNr. 25; Janßen, in: Obermayer,VwVfG, 3. Aufl. 1999, § 36 RdNr. 18). Der Klägerdurfte und musste als Empfänger des Genehmigungs-bescheides bei vernünftiger Betrachtungsweise den Hin-weis Nr. 7 trotz des Umstandes, dass dieser sich nichtin demjenigen Abschnitt des Bescheides befand, der diesonstigen verbindlichen Regelungen enthielt, als bela-stende Nebenbestimmung ansehen. Denn die Behördehat sich im Hinweis Nr. 7 nicht etwa darauf be-schränkt, die Rücknahme der Genehmigung nach Art.48 Abs. 1 BayVwVfG oder ihren Widerruf nach Art.49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG generell für denFall anzukündigen, dass die Genehmigungsvorausset-

zungen wegfallen. Vielmehr hat sie dort eine spezifi-sche, den Bestand der Genehmigung berührende Aus-sage zur Frage der Jahrgangsmischung getroffen. DerKläger musste dem Hinweis Nr. 7 entnehmen, dass ihmjedes Vertrauen in den Fortbestand der Genehmigungfür den Fall genommen werden sollte, dass er sich zurBildung kombinierter Klassen entschloss. Die Regelungzielte demnach auf jene besondere Rechtsfolge ab, dieein konstitutiver Widerrufsvorbehalt gemäß Art. 36Abs. 2 Nr. 3 BayVwVfG mit Blick auf Art. 49 Abs. 2Satz 1 Nr. 1 BayVwVfG und Art. 49 Abs. 5 Satz 1B a y V w V f G h a t ( v g l . S t e l k e n s , i n : S t e l -kens/Bonk/Sachs, VwVfG, 5. Aufl. 1998, § 36 RdNr.22).

C. Kein Vorrang der AnfechtungsklageDer Kläger war nicht gehalten, statt des Ver-pflichtungsantrages einen Anfechtungsantrag zu stellen.Zwar wird in der Rechtsprechung des Bundesverwal-tungsgerichts gegen belastende Nebenbestimmungen dieAnfechtungsklage als gegeben angesehen, und zwar un-abhängig davon, ob es sich bei der streitigen Neben-bestimmung um eine Befristung, eine Bedingung odereinen Widerrufsvorbehalt handelt (BVerw-GE 60, 269,274 f.). Damit ist jedoch die Zulässigkeit einesVerpflichtungsantrages nicht ausgeschlossen, wenn die-ser einen im Vergleich zum Anfechtungsantrag weiter-gehenden Rechtsschutz verschafft (vgl. Janßen, a.a.O.,RdNr. 51). Ein solcher Fall liegt hier vor. Bei einer Beschränkung auf den Anfechtungsantragmüsste der Kläger besorgen, dass die isolierte Aufhe-bung des Widerrufsvorbehaltes keinen endgültigenRechtsfrieden in seinem Sinne stiftet. Nach seinemWortlaut bezieht sich der Hinweis Nr. 7 desGenehmigungsbescheides nur auf den Fall, dass kom-binierte Klassen "aus Schülermangel" gebildet werden.Damit ist die Zusammenlegung mehrerer Jahrgangs-klassen zwecks Erreichung der vorgeschriebenen Schü-lermindestzahl angesprochen. Demgegenüber will derKläger erreichen, dass die von ihm aus pädagogischenGründen angestrebte Praxis der Jahrgangsmischungkeinesfalls zum Anlass für einen Widerruf der Geneh-migung genommen wird. Dem trägt die gerichtlicheVerpflichtung der Behörde, die Genehmigung ohne denWiderrufsvorbehalt zu erteilen, besser Rechnung, weilihr damit generell untersagt ist, die Genehmigung alleinwegen jahrgangsübergreifenden Unterrichts zu widerru-fen. [...]

Standort: Versammlungsrecht Problem: Musikaufzug als Versammlung

VG HAMBURG, BESCHLUSS VOM 12.07.2001 16 VG 2524/2001 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

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Problemdarstellung:Das VG Hamburg verneint im vorliegenden Fall denVersammlungscharakter einer der “Love-Parade” inBerlin ähnlichen Veranstaltung, da diese nicht den füreine Versammlung im Sinne des Art. 8 GG bzw. desVersammlungsgesetzes nötigen Charakter einer kollek-tiven Meinungskundgabe aufweise. Das Gerichtschließt sich damit dem herrschenden, engeren Ver-sammlungsbegriff an, der gerade die Meinungsäuße-rung als prägendes Element einer Versammlung an-sieht, während eine Gegenansicht eine gemeinsame, in-nere Verbundenheit der Teilnehmer genügen lässt, ohneeine Kundgabe von Meinungen zu fordern (vgl. die Zi-tate in den Gründen sowie Maunz/Dürig, GG, Art. 8Rz. 50 ff.).Für den Veranstalter einer Veranstaltung ist deren Ein-ordnung als Versammlung deshalb von elementaremInteresse, weil ein nicht dem Versammlungsrecht unter-fallender Aufzug eine straßenrechtliche Sondernutzungdarstellt, die - im Gegensatz zur nur anzeigepflichtigenVersammlung - nach dem Straßen- und Wegerecht derLänder einer Genehmigung bedarf (vgl. nur § 18StrWG NW; § 16 HessStrG), welche i.d.R. nur erteiltwerden wird, wenn der Veranstalter sich verpflichtet,für die Kosten der Abfallbeseitigung, des Polizeiein-satzes usw. aufzukommen.

Prüfungsrelevanz:Das Versammlungsrecht ist durch den Konflikt zwi-schen BVerfG und OVG Münster über die - nach An-sicht des OVG von vornherein fehlende - Versamm-lungsfreiheit rechtsgerichteter Aufzüge und Demonstra-tionen in den Blickpunkt gerückt. Zentraler Streitpunktist die Frage, ob und wann die in § 15 I VersG erwähn-te “öffentliche Ordnung” allein als Verbotsgrund her-halten kann, bzw. ob dieses Merkmal nicht im Lichteder Verfassung teleologisch zu reduzieren oder zumin-dest sehr eng auszulegen ist. Nachdem in der RA überdiesen Problemkreis ausführlich berichtet worden ist(RA 2001, 256), sind bereits wieder neue Entscheidun-gen ergangen, in denen BVerfG und OVG Münster ihrewiderstreitenden Auffassungen bekräftigt haben(BVerfG, NJW 2001, 2069; NJW 2001, 2072; NJW2001, 2076 gegen OVG Münster, NJW 2001, 2111;NJW 2001, 2113; NJW 2001, 2114).Weitere interessante Entscheidungen zum Versamm-lungsrecht betreffen die Anwendbarkeit der ordnungs-rechtlichen Rechtsfigur des Zweckveranlassers auf dasVersammlungsrecht (BVerfG, RA 2001, 1ff. = DVBl2001, 62), die Zulässigkeit des Einkesselns von Ver-sammlungen (OVG Münster, RA 2001, 322 = DVBl2001, 839) sowie den Eingriff in die Versammlungs-freiheit durch Realakte (VG München, RA 2000, 287 =

NVwZ 2000, 461).

Vertiefungshinweise:ì Zum Versammlungsbegriff: OVG Weimar, DVBl.1988, 104; VG Braunschweig, NZV 2000, 142; ì Für die Einordnung von Musik-Tanz-Aufzügen alsVersammlung: VG Frankfurt, NJW 2001, 1741; Knie-sel, NJW 2000, 2857; dagegen Deger, NJW 1997, 923 Kursprogramm:ì Examenskurs: “Waffen-SS”ì Assessorkurs: “Fieser Verein”

Leitsätze (der Redaktion):Das Element der kollektiven Meinungskundgabe istVoraussetzung für das Vorliegen einer Versamm-lung i.S.d. Art. 8 I GG und des Versammlungsgeset-zes. Nicht ausreichend ist es, wenn die Meinungs-kundgabe nur vorgeschoben oder lediglich unterge-ordneter Nebenzweck ist. Sachverhalt: Mit Schreiben vom 22. Mai 2001 meldete die Antrag-stellerin bei der Antragsgegnerin für den 14. Juli 2001in Hamburg St.-Pauli eine nicht näher bezeichnete oderbenannte Demonstration an, zu der zwischen 3.000 und10.000 Teilnehmer erwartet würden. Die Veranstaltungsollte unter dem Motto stehen: "Für Frieden und gegendie Enteignung öffentlicher Räume in Berlin, eine De-monstration der Liebe auf St. Pauli". Insgesamt solltedie Veranstaltung, die von 3 – 5 Lautsprecherwagenbegleitet werden würde, von ca. 12 bis 21.30 Uhr dau-ern. Telefonisch äußerte die Antragsgegnerin daraufhingegenüber dem Veranstaltungsleiter auf dessen Anfragehin Zweifel an dem Versammlungscharakter der Ver-anstaltung.Mit Schreiben vom 25. Juni 2001 modifizierte die An-tragstellerin die Anmeldung der Veranstaltung. Sie er-klärte, es werde aufgrund der großen Resonanz mit10.000 bis 50.000 Teilnehmern gerechnet. Demon-striert werde gegen die Behinderung der Berliner Lo-ve-Parade am 14. Juli 2001 durch eine zuvor angemel-dete Gegenveranstaltung. Demonstriert werde des wei-teren für eine großzügige Auslegung des Versamm-lungsrechts für Musikparaden. Auf der geplanten Ver-anstaltung werde nicht nur Technomusik gespielt wer-den, es kämen auch Theatergruppen, Schauspieler undTänzer. Auf zahlreichen Bannern und Transparentenwürden die Positionen der Teilnehmer zum Ausdruckgebracht werden. Es gebe – anders als bei der Lo-ve-Parade - keinen kommerziellen Aspekt bei der Ver-anstaltung, keine Teilnahmegebühren und keine Werbe-wagen. Zwei bis drei Interessenten würden sich mit

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Zugmaschinen wie auf dem G-Move beteiligen, haupt-sächlich würden aber kleinere Fahrzeuge mit Lautspre-chern mitfahren. Die Route werde verkürzt, um dieVeranstaltung früher zu beenden. Das Motto laute nun-mehr: "Für Frieden und mehr Toleranz und gegen dieEnteignung öffentlicher Räume in Berlin, für den Erhaltdes Demonstrationsrechts für Musikparaden, gegen dieKommerzialisierung der Technomusik - eine Demon-stration der Liebe auf St. Pauli".Die Antragsgegnerin beantwortete diese Mitteilung mitSchreiben vom 28. Juni 2001, in dem sie erklärte, manhabe dem genannten Versammlungsleiter erklärt, dassMusikparaden wie diese keine versammlungsrechtlicheVeranstaltungen seien. Vielmehr handele es sich umeine Ersatzveranstaltung für die Love-Parade in Berlin.Angekündigte Unterlagen, die Nachweise für den De-monstrationscharakter hätten bringen sollen, habe dieBehörde nicht erhalten. Die Veranstaltung diene wie derGeneration-Move und der Schlager-Move im Wesentli-chen dem Erleben von Musik und anderen kulturellenDarbietungen. Es gehe nach dem Schwerpunkt der Ver-anstaltung nicht um eine gemeinsame Meinungskundga-be. Auch die auf der Homepage der Veranstalter ge-wählte Bezeichnung der Parade mit "syncron#01" be-stätige die Ansicht, dass es sich um eine Ersatz- oderParallelveranstaltung zur Love-Parade in Berlin hande-le. Im übrigen sei das benötigte Gelände bereits belegtmit den Aufbauarbeiten des Sommerdoms.Mit dem am 9. Juli 2001 bei Gericht eingegangenenEilantrag macht die Antragstellerin ihr Anliegen gel-tend, die geplante Veranstaltung durch die Behörde alsVersammlung behandeln zu lassen. Sie wiederholt diebereits angesprochenen Argumente und betont, dass dieFolgen für die Antragstellerin - die Veranstaltung müss-te entfallen - bei einer Ablehnung des Antrags schwererwiegen würden als für die Antragsgegnerin, wenn dieVeranstaltung gegebenenfalls in rechtswidriger Weiseals Versammlung durchgeführt werden würde. Gefah-ren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung seienvon Seiten der Antragsgegnerin nicht genannt worden.Die Antragstellerin erklärt weiter, an einer gebühren-pflichtigen Sondernutzungserlaubnis sei sie nicht inter-essiert, da sie der Auffassung sei, diese sei wegen desVeranstaltungscharakters nicht erforderlich und nichtfinanzierbar.

Aus den Günden:Der Antrag hat keinen Erfolg. Der nach § 123 Abs. 1VwGO zulässige Antrag ist nicht begründet.

A. AnordnungsanspruchEs fehlt am Anordnungsanspruch. Die Antragstellerinhat nicht gemäß § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920Abs. 2 ZPO glaubhaft gemacht, dass die geplante Ver-anstaltung "syncron#01" die Eigenschaften einer Ver-

sammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG und des § 1VersammlG besitzt mit der Folge, dass sie für die Ver-anstalter frei von Gebühren für Polizeikräfte, Absperr-maßnahmen, Müllbeseitigung etc. durchgeführt werdenkann.

I. Definition des VersammlungsbegriffsEine öffentliche Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs.1 GG und des Versammlungsgesetzes ist (im Unter-schied zu den in § 17 VersammlG genannten "sonstigenöffentlichen Veranstaltungen") dann gegeben, wenn eineMehrheit von Menschen unter Bezugnahme auf dendemokratischen Prozess der öffentlichen Meinungsbil-dung und Willensbildung zusammenkommt, um ge-meinsam Diskussionen zu führen und/oder eine Mei-nung kundzutun. Entscheidend ist der Zweck der Ver-anstaltung, bestimmte Angelegenheiten gemeinsam zuerörtern, zu beraten oder kundzugeben.

1. Meinungskundgabe als prägendes ElementArt. 8 Abs. 1 GG und das Versammlungsgesetz schüt-zen das ungehinderte Zusammenkommen mit anderenPersonen zum Zwecke der gemeinsamen Meinungsbil-dung und Meinungsäußerung (kollektive Aussage). DieVeranstaltung muss deshalb auf Meinungsbildungund/oder Meinungsäußerung in Gruppenform ausge-richtet sein. Nicht erfasst sind deshalb Zusammenkünf-te ohne prägenden Bezug zum politischen Prozess wieetwa kulturelle, wissenschaftliche, religiöse, sportlicheoder gewerbliche öffentliche Veranstaltungen (ebensoOVG Weimar, DVBl. 1988, 104 ff.; VGH Mannheim,Beschluss vom 27.5.1994, 1 S 1397/94; BayVGH, Be-schluss vom 13.5.1994, 21 CE 94.1563). Das Gerichtschließt sich insoweit der engeren Auslegung des Ver-sammlungsbegriffs an. Wie das Oberverwaltungsge-richt Berlin (Beschluss vom 6. Juli 2001, OVG 1 S11.01) ist das Gericht der Auffassung, dass die Ver-sammlungsfreiheit ebenso wie die Meinungsfreiheit zuden unentbehrlichen und grundlegenden Funktionsele-menten eines funktionierenden Gemeinwesens gehört.Sie ist als Freiheit der kollektiven Meinungskundgabezu verstehen (vgl. BVerfGE 69, 315, 344 f.). Aus die-ser Funktion der Versammlungsfreiheit im demokrati-schen Gemeinwesen als Mittel zur gemeinsamen kör-perlichen Sichtbarmachung von Überzeugungen undMeinungen folgt der hohe Rang des Grundrechts, demgegenüber Rechte anderer (z.B. von Anwohnern, Ver-kehrsteilnehmern oder Gewerbetreibenden) zurückzu-treten haben.

2. Wirtschaftliche, sportliche oder kulturelle Zweckegenügen nichtDieser hohe Stellenwert des Versammlungsgrundrechtsverbietet es zugleich, dessen Schutzumfang weiter aus-zudehnen als der Zweck der Schutzgewährung es er-

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fordert. Würde man auch die bloße Zurschaustellungeines durch Musik und Tanz ausgedrückten Lebens-gefühls ausreichen lassen, hätte dies zwangsläufig zurFolge, dass der hohe Rang der Versammlungsfreiheitim Bewusstsein der Rechtsgemeinschaft verloren ginge(ebenso für eine Musikparade OVG Berlin, a.a.O.; a.A.für eine "Nacht-Tanz-De-mo" VG Frankfurt, NJW2001, 1741 und Kniesel, NJW 2000, 2857, 2858, derdie bei Musikparaden stattfindende Inszenierung einesLebensgefühls als kollektive Meinungskundgabe ver-steht). Zugleich würden Musikparade eine ungerecht-fertigte Privilegierung gegenüber sonstigen Volksfestenerfahren, da diese mit den nicht unerheblichen öffentli-chen Abgaben belastet werden.

II. SubsumtionBei der von der Antragsgegnerin geplanten Veranstal-tung "syncron#01" steht nach Auffassung des Gerichtsnicht die kollektive Meinungskundgabe einer Vielzahlvon Menschen im Vordergrund, sondern die Musikpa-rade selbst als unterhaltendes Erlebnis.

1. Auch kulturelle Darbietungen können Meinungs-kundgabe sein Dabei verkennt das Gericht nicht, dass grundsätzlichsowohl in Musik-, als auch in Tanz- und Theaterdarbie-tungen eine Meinungsäußerung gesehen werden kann.

2. Untergeordneter, vorgeschobener Nebenzweck ge-nügt jedoch nichtHier jedoch gebieten die Eigenarten der Fallgestaltungeine andere Bewertung. Die Antragstellerin erwartet biszu 10.000 Teilnehmer, die auf der vorgesehenen Weg-strecke von einer Vielzahl von Aufzugswagen begleitetwerden, von denen aus Techno-Musik verschiedenerRichtungen gespielt werden soll. Die Teilnehmer, dieAnhänger dieser Musikrichtungen sind, begleiten dieAufzugswagen tanzend und feiernd. Dies vermitteltdem Zuschauer den Eindruck einer großen, sich bewe-genden Feier oder Tanzveranstaltung, bei der es demeinzelnen im Wesentlichen darum geht, sich zu vergnü-gen. Die Meinungsäußerung bzw. das sich änderndeMotto der Veranstaltung steht dabei nicht im Vorder-grund. Es geht den Veranstaltern und Teilnehmern nichtvorrangig darum, für ihr Recht, einen Party-Umzugdurchführen zu demonstrieren, sondern ebendiesen Auf-zug durchzuführen und als kollektive Meinungsäuße-rung zu deklarieren. Die Veranstalter erreichen dabeimit dem eingesetzten Mittel (Musik und Tanz auf derStraße) schon ihr eigentliches Ziel; die "Demonstration"wird zum Selbstzweck. Eine solche Veranstaltung, beider die vorgeblich richtige Lebensform nicht kundgetan,sondern unmittelbar verwirklicht wird, unterfällt nicht

der Versammlungsfreiheit (ebenso VG Berlin, Be-schluss vom 28. Juni 2001, VG 1 A 195/01). Anzei-chen dafür ist schon die Art der Veranstaltung mit Mu-sikwagen, Theatergruppen und anderen Schaustellernsowie einem Teewagen mit Getränkeausschank. Daranändert auch das Verteilen von Handzetteln an Zuschau-er oder das Mitführen von Bannern nichts, auch nicht,dass sich dieser Umzug von der Love-Parade in Berlindurch weniger kommerzielle Elemente abgrenzen will.Hier steht jedenfalls der Unterhaltungscharakter imVordergrund, der dem Versammlungsbegriff nicht ent-spricht.Zwar hat die Antragsgegnerin vorgetragen, die Paradefinde statt, um auf die Schwierigkeiten der Love-Paradein Berlin hinzuweisen. Wie dort wolle man für die öf-fentliche Zurschaustellung eines Lebensgefühls demon-strieren. Zugleich werde die Love-Parade jedoch wegenihrer fortschreitenden Kommerzialisierung kritisiert.Weitere gesellschaftspolitische Ziele wie der Verzichtauf Drogen sollten kundgetan werden.Schon die Vielzahl der Botschaften und ihr sich ändern-der Inhalt seit der ersten Anmeldung am 22. Mai 2001lassen Zweifel daran aufkommen, ob die Meinungs-äußerung und Meinungsbildung im Vordergrund ste-hen. Nach dem Gesamteindruck der geplanten Aktionenund der Werbung für die Veranstaltung insbesondereauf der Homepage und der oben beschriebenen Art desAufzugs stellen diese Motive nicht den Hauptzweckdar, sondern eher ein Nebenanliegen, das geäußert wird,um die kostenfreie Durchführung der Parade zu errei-chen, quasi mit "Feigenblatt-Charakter". Auf der"check in"-Seite des Veranstalters sowie auf der "state-ment"-Seite der Homepage werden zwar die vorgetrage-nen gesellschaftspolitischen Motive der Parade benannt.Andererseits werden beide Veranstaltungen – Paradeund Party - auf der Seite "banners&tools", die sich anTeilnehmer richtet und bei der um Werbung und Wei-terleitung gebeten wird, unter "partyplaner info" behan-delt. Für die anschließende Party kommentiert der Ver-anstalter: "abfeiern wie draußen". Auch wenn die Teil-nehmer der Parade die vorgegebenen "Ziele" der Ver-anstaltung einhellig unterstützen, ändert dies nichts da-ran, dass sie – ebenso wie die Zuschauer - die geplanteParade als Spaß-Veranstaltung verstehen werden.

II. AnordnungsgrundOb ein Anordnungsgrund besteht, d.h. ob Eilbedürftig-keit gegeben ist, wie der Verwaltungsgericht Hamburgim Beschluss vom 13. Juli 2000 (5 VG 2872/2000) unddas Hamburgische Oberverwaltungsgericht im Be-schluss vom selben Tag (4 Bs 209/00) zur geplanten"Blade Night" problematisiert haben, kann danach of-fenbleiben.

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Standort: Baurecht Problem: Gebot der Rücksichtnahme

BVERWG, URTEIL VOM 07.12.2000

4 C 3/00 (NVWZ 2001, 813)

Problemdarstellung:Das BVerwG hatte die Frage zu klären, in welchemVerhältnis § 15 I 2 BauNVO, nach dem Bauvorhabenunzulässig sind, wenn von ihnen unzumutbare Belästi-gungen oder Störungen ausgehen, zu landesrechtlichenVorschriften steht, die für bestimmte Vorhaben (hier:die Errichtung von Stellplätzen) eine entsprechende(hier: bzgl. der “unzumutbaren Belästigungen” in § 46 I2 NdsBauO sogar wörtlich identische) Regelung enthal-ten. Während das OVG Lüneburg als Vorinstanz dielandesrechtliche Regelung für spezieller gehalten unddemgemäß § 15 I 2 BauNVO bei der Beurteilung derRechtmäßigkeit der angegriffenen Baugenehmigung alssubsidiär nicht geprüft hatte, erteilt das BVerwG dieserRechtsansicht eine Absage. Diese wird u.a. mit der un-terschiedlichen Zielrichtung der landesrechtlichen Bau-ordnungen (Gefahrenabwehr) und der bundesrechtli-chen Bauvorschriften (Raumplanung und Bodenord-nung) begründet. Naheliegend wäre es auch gewesen,auf Art. 31 GG einzugehen.

Prüfungsrelevanz:Neben der Kenntnis des Verhältnisses von bundesrecht-lichem Bauplanungs- zu landesrechtlichem Bau-ordnungsrecht sollte die Entscheidung vor allem zumAnlass genommen werden, sich mit dem baurechtlichenRücksichtnahmegebot vertraut zu machen. Ob eineVorschrift Drittschutz verleiht, wird in aller Regelschon in der Klagebefugnis nach § 42 II VwGO, etwaim Rahmen des § 80a VwGO oder einer (Dritt-) An-fechtungsklage gegen eine Baugenehmigung) zu prüfensein. Kommt der Bearbeiter zu dem Ergebnis, dass diestreitentscheidende Norm den Dritten nicht schützt, darfdie Prüfung nicht beendet werden. Vielmehr ist zu über-legen, ob eine an sich nicht drittschützende Norm imEinzelfall nicht doch, über das baurechtliche “Gebotder Rücksichtnahme”, drittschützend sein kann. Einedrittschützende Wirkung kommt jeder Norm nach demGebot der Rücksichtnahme nämlich dann zu, wenn inqualifizierter und zugleich individualisierter Weise aufbesondere Rechtspositionen des Dritten Rücksicht zunehmen ist und wenn unabhängig von der besonderenrechtlichen Schutzwürdigkeit der Betroffenen ihr Be-troffensein wegen der gegebenen Umstände so hand-greiflich ist, dass dies die notwendige Qualifizierung,Individualisierung und Eingrenzung bewirkt (BVerwGE52, 131; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1990, 233). Injedem Fall ist aber zu beachten, dass das Gebot der

Rücksichtnahme kein selbständiger Grundsatz des öf-fentlichen Baurechts ist, sondern in bestimmten Vor-schriften enthalten ist und aus diesen abgeleitet werdenmuß. Es findet sich u.a. in dem hier einschlägigen § 15I 2 BauNVO, aus dem es auch entwickelt worden ist.Anerkannt sind ferner § 34 I, II BauGB über das „Ein-fügen“, § 31 II BauGB durch die „nachbarschaftlichenInteressen“ und § 35 III Nr. 3 BauGB über die “schäd-lichen Umwelteinwirkungen”.

Vertiefungshinweise:ì Zum Rücksichtnahmegebot bei der Stellplatzerrich-tung: OVG Münster, RA 1999, 242 = NWVBl 1999,141ì Zum Rücksichtnahmegebot beim Betrieb eines Kin-derspielplatzes: VG Karlsruhe, NVwZ-RR 2000, 144.ì Zum Rücksichtnahmegebot bei emittierenden An-lagen: BVerwG, RA 1999, 653 (Beschluss vom 28.7.1999, 4 B 38.99)

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Windkraft contra Nachbarschaft”ì Examenskurs: “Das Asylbewerberwohnheim”

Leitsätze:1. Bauordnungsrechtliche Vorschriften über die An-ordnung von Stellplätzen (hier: § 46 I 2 Nds BauO)können die Anwendung des § 15 I 2 BauNVO nichtspezialgesetzlich ausschließen.2. Der in § 15 I 2 BauNVO nach Maßgabe desRücksichtnahmegebots angelegte Drittschutz desNachbarn besteht grundsätzlich auch gegenüber An-lagen auf Grundstücken, die mit dem Grundstückdes Nachbarn durch eine landesrechtliche Vereini-gungsbaulast zusammengeschlossen sind.

Sachverhalt: Die Kl. zu 2 und 3 sind Eigentümer eines Reihenhau-ses, das mit seiner Nordseite an das Reihenhaus der imRevisionsverfahren nicht mehr beteiligten Kl. zu 1 an-grenzt. Beide Häuser wurden im Jahre 1980 als Einfa-milienhäuser mit Büroräumen genehmigt. Das geplantedritte Reihenhaus nördlich anschließend wurde zu-nächst nicht gebaut. Die drei Grundstücke bilden diewestliche Hälfte eines ursprünglich etwa 2000 qmgroßen Grundstücks. Auf der östlichen Hälfe steht dasWohnhaus des Beigel. zu 2; ihm gehört gegenwärtigauch die für das dritte Reihenhaus vorgesehene Fläche.Die Grundstücke werden von Süden her über einen demBeigel. zu 2 gehörenden Privatweg erschlossen. DieGrundstücke der Bet. sind im Jahre 1980 infolge einer

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Teilung des früheren Gesamtgrundstücks durch dieRechtsvorgänger der Bet. entstanden. Gebildet wurdendie drei Reihenhausgrundstücke sowie ein Grundstückfür einen Garagenhof und drei Garagengrundstücke imSüden auf der westlichen Seite und das Wohngrund-stück der Beigel. auf der Ostseite. Gleichzeitig bestellten die damaligen Eigentümer eineVereinigungsbaulast, nach der alle baulichen Anlagenauf den neu gebildeten Flurstücken so ausgeführt wer-den, als wären die Grundstücke ein Baugrundstück i. S.des § 4 I NdsBauO. Zugleich bestellten sie ein Wege-recht am östlichen Rand der Grundstücke der Kl., umdie Zufahrt zu dem dritten neu geschaffenen Grund-stück zu sichern. Die Grundstücke der Bet. liegen imGeltungsbereich des im Jahre 1972 aufgestellten und1976 geänderten Bebauungsplans "Gewerbegebiet Süd-west" der Bekl. Er setzt ein Gewerbegebiet fest, undzwar für den hier interessierenden Geländestreifen mitdem Zusatz "beschränkt gem. § 8 IV BauNVO auf Be-triebe und Anlagen, die nur im Mischgebiet, § 6 BauN-VO, zugelassen sind". In dem südlich anschließendenGelände stehen ausschließlich zu reinen Wohnzweckengenutzte Gebäude. Im Jahre 1992 erteilte die Bekl. demBeigel. zu 2 einen Bauvorbescheid für den "Neubaueines Wohnhauses" auf dem dritten Grundstück; dieBauvoranfrage ist auf die Genehmigung eines "zwei-geschossigen Reihenhauses" mit gewerblicher Nutzungund einer Wohnung gerichtet. Später erteilte sie demBeigel. zu 1 eine Baugenehmigung für ein "Wohn- undGeschäftshaus" mit etwa 200 qm Büroflächen und 100qm Wohnfläche. Genehmigt sind auch eine Garage undsechs Einstellplätze, die über die durch das Wegerechtgesicherte Zufahrt an den beiden Wohnhäusern der Kl.vorbei angefahren werden. Gegen beide Genehmigun-gen wenden sich die Kl. im ersten und im zweitenRechtszug erfolglos. Auch die vom BVerwG zugelasse-ne Revision hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen: Die Revision ist zulässig, jedoch unbegründet. DasBerufungsurteil verletzt zwar Bundesrecht; die Ent-scheidung stellt sich aber aus anderen Gründen als rich-tig dar (§ 144 IV VwGO) [...].

A. Keine Verletzung drittschützender Normen durchdie Genehmigung der Wohn- und BürogebäudeDas BerGer. legt im Einzelnen dar, dass Nachbarrechteder Kl. aus den Festsetzungen des Bebauungsplans"Gewerbegebiet Südwest" durch das genehmigte Wohn-und Bürogebäude der Beigel. nicht verletzt werden unddass das Gebäude selbst auch hinsichtlich seiner Artund Größe mit § 15 I BauNVO vereinbar ist. Es führtweiter aus, dass die Kl. den Zu- und Abgangsverkehrzu dem Gebäude der Beigel. über ihr Grundstück we-gen des durch Grunddienstbarkeit gesicherten Wege-

rechts dulden müssten; das Vorhaben sei durch das We-gerecht ausreichend erschlossen, so dass die Genehmi-gung nicht etwa dazu führe, dass die Kl. ein Notwege-recht der Beigel. hinnehmen müssten. Diese Ausführun-gen überzeugen; die Kl. haben sie im Revisionsverfah-ren hingenommen.

B. Verletzung drittschützender Normen durch die Ge-nehmigung der StellplätzeIm Mittelpunkt des Revisionsvortrags stehen die nebendem Wohn- und Bürogebäude zugelassenen sieben Stell-plätze. Die Kl. wenden sich gegen sie, weil sie befürch-ten, durch den Fahrzeugverkehr in den rückwärtigenWohnbereich hinein unzumutbar in ihrer Wohnruhe be-einträchtigt zu werden.

I. Ansicht der Vorinstanz

1. Kein Verstoß gegen § 46 NdsBauOInsoweit ergibt sich aus dem Berufungsurteil, dass nach§ 46 I 2 NdsBauO Einstellplätze so angeordnet undbeschaffen sein müssen, dass ihre Benutzung nicht zuunzumutbaren Belästigungen für die Nachbarschaftführt. Das BerGer. führt jedoch weiter aus, dass die Kl.im vorliegenden Verfahren Lage und Zahl der Einstell-plätze nicht mit Erfolg rügen könnten. Denn ihr Grund-stück sei mit dem Baugrundstück der Beigel. durch eineVereinigungsbaulast gem. §§ 4 I 2, 92 NdsBauO zueinem Baugrundstück i.S. der Niedersächsischen Bau-ordnung zusammengeschlossen. Das hindere die Gel-tendmachung von nachbarlichen Abwehransprüchenaus § 46 I 2 NdsBauO. Diese Ausführungen beruhenauf der Auslegung des irreversiblen niedersächsischenLandesrechts. An sie ist das RevGer. gem. §§ 137 I,173 VwGO, § 562 ZPO gebunden.

2. Kein Verstoß gegen § 15 I 2 BauNVODas BerGer. führt jedoch weiter aus, § 15 I BauNVOsei hinsichtlich der Einstellplätze nicht anzuwenden,weil § 46 I 2 NdsBauO spezialgesetzlich regele, an wel-cher Stelle des Baugrundstücks ggf. wie viele Einstell-plätze ohne Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnah-me angelegt werden dürfen.

II. Ansicht des BVerwGDie darin zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung,dass die Frage, ob von Stellplätzen einschließlich ihrerZufahrten unzumutbare Belästigungen oder Störungeni. S. des § 15 I 2 BauNVO ausgehen könnten, alleinnach § 46 I 2 NdsBauO zu beurteilen sei, ist mit Bun-desrecht nicht vereinbar.

1. Keine Verdrängung des § 15 I BauNVO durch Bau-ordnungsrecht

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a. Unterschiedliche ZweckrichtungenDie Annahme eines lex-specialis-Verhältnisses zwi-schen den Regelungen des § 46 I 2 NdsBauO und des §15 I BauNVO verbietet sich schon wegen ihrer Zugehö-rigkeit zu verschiedenen Rechtsgebieten mit unter-schiedlicher Zweckrichtung und unterschiedlicher Ge-setzgebungskompetenz (vgl. dazu BVerfGE 3, 407).Die landesrechtliche Vorschrift des § 46 NdsBauO ge-hört zum Bauordnungsrecht. Sie stellt aus baupolizeili-cher Sicht, insbesondere zur Gefahrenabwehr, Anforde-rungen an Garagen und andere Stellplätze. Dagegen ist§ 15 BauNVO eine bundesrechtliche Norm des Boden-rechts. Sie regelt aus städtebaulicher Sicht allgemeineVoraussetzungen für die Zulässigkeit baulicher undsonstiger Anlagen; der Akzent liegt hier auf der Verein-barkeit der baulichen Anlage mit dem jeweiligen Ge-bietscharakter. Soweit beide Vorschriften gebieten, dassvon Stellplätzen keine unzumutbaren Beeinträchtigun-gen für die Nachbarschaft ausgehen dürfen, stimmensie zwar im Ergebnis regelmäßig überein. In diesemSinne - aber auch nur im Hinblick auf das Ergebnis derPrüfung im konkreten Einzelfall, also aus tatsächlichenGründen - hat der Senat formuliert, dass für die An-wendung des Rücksichtnahmegebots aus § 15 I BauN-VO insoweit kein Raum sei, wie die durch dieses Gebotgeschützten Belange auch durch spezielle bauordnungs-rechtliche Vorschriften geschützt werden und das kon-krete Vorhaben deren Anforderungen genügt (BVerwG,NVwZ 1986, 468; BVerwGE 94, 151, 160). Spezialge-setzlich ausgeschlossen durch § 46 I 2 NdsBauO odereine andere bauordnungsrechtliche Vorschrift wird § 15I 2 BauNVO dagegen nicht.

b. Einheit der RechtsordnungDie Annahme, § 15 I 2 BauNVO werde durch landes-rechtliche Vorschriften verdrängt, wäre auch deshalbrechtsfehlerhaft, weil sie zu unterschiedlichem Bundes-recht in den einzelnen Bundesländern führen würde.Wenn nämlich die landesrechtlichen Vorschriften überStellplätze die Anwendung des § 15 I 2 BauNVOausschließen könnten, würde die Reichweite dieser bun-desrechtlichen Norm vom jeweiligen Inhalt der Bau-ordnungen der Bundesländer abhängen. Im Allgemeinenmögen sich zwar keine erheblichen Unterschiede zwi-schen den Stellplatzvorschriften der Länder feststellenlassen. Der vorliegende Fall verdeutlicht jedoch exem-plarisch, dass im Einzelfall sogar gravierende Unter-schiede möglich sind. Nach der Rechtsauffassung desfür die Auslegung der Niedersächsischen Bauordnungletztinstanzlich zuständigen BerGer. vermittelt nämlichdie niedersächsische Stellplatzvorschrift ausnahmswei-se dann keinen Drittschutz, wenn die betroffenen Grund-stücke durch eine Baulast nach niedersächsischemRecht miteinander verbunden sind. Würde § 15 I 2

BauNVO durch § 46 I 2 NdsBauO verdrängt, so würdebeim Vorliegen einer Vereinigungsbaulast auch derNachbarschutz aus § 15 I 2 BauNVO vollständig ent-fallen, obwohl der bauplanungsrechtliche Grundstücks-begriff durch landesrechtliche Baulasten nicht verändertwerden kann (BVerwGE 88, 24). Zumindest hinsicht-lich seiner drittschützenden Wirkung würde die bundes-rechtliche Vorschrift des § 15 BauNVO in den ver-schiedenen Bundesländern nach Maßgabe des Landes-rechts auch in tatsächlicher Hinsicht ganz unterschied-lich angewendet werden müssen. Eine solche Modifi-kation des Bundesrechts durch das Landesrecht ist un-zulässig (vgl. auch BVerwG, NVwZ 1989, 353).

2. Kein Verstoß gegen § 15 I 2 BauNVOIndem das BerGer. nicht geprüft hat, ob die Genehmi-gung für die sieben Stellplätze zum Vorhaben der Bei-gel. mit dem drittschützenden Rücksichtnahmegebot in§ 15 I 2 BauNVO vereinbar sind, hat es Bundesrechtverletzt. Gleichwohl ist seine Entscheidung nicht auf-zuheben, weil sie sich im Ergebnis aus anderen Grün-den als richtig erweist.

a. Kein Verzicht auf Drittschutz durch Übernahme derBaulast Dies folgt allerdings nicht schon daraus, dass die Kl. -bzw. ihre Rechtsvorgänger - durch die Übernahme derBaulast auf Abwehrrechte aus § 15 I BauNVO verzich-tet hätten, wie die Bekl. meint. Zwar verbietet es Bun-desrecht nicht, dass sich der Eigentümer durch dieÜbernahme einer Baulast hinsichtlich der bebauungs-rechtlich zulässigen Nutzung seines Grundstücks engerbindet, als ihn die Bauaufsichtsbehörde einseitig bindenkönnte (BVerwG, Buchholz 406.17 Nr. 24). Das Ber-Ger. hat aber nicht festgestellt, dass die Vereinigungs-baulast der Bet. auch einen Verzicht auf nachbarlicheAbwehrrechte des Bundesrechts enthält. Ob die Ver-einigungsbaulast auch ohne besondere Vereinbarung zueiner weitergehenden Beschränkung der Nachbarrechteführt, ist zunächst eine Frage des Landesrechts. Inso-weit ist das BerGer. jedoch keineswegs der Auffassung,dass der Nachbar durch die Einräumung einer Vereini-gungsbaulast seine Rechtsstellung als Nachbar i. S. desöffentlichen Baurechts insgesamt verliert (OVG Lüne-burg, NVwZ-RR 1998, 12); nach seiner Auffassungkann er sich nur nicht auf die Grenzabstandsvorschrif-ten sowie auf § 46 I 2 NdsBauO berufen.

b. Errichtung der Stellplätze jedoch nicht rücksichts-losDie vom BerGer. getroffenen Feststellungen ermögli-chen aber die Beurteilung, dass die streitigen Stellplätzemit § 15 I 2 BauNVO vereinbar sind [wird ausgeführt].

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ÖFFENTLICHES RECHTRA 2001, HEFT 8

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Standort: VerwR AT Problem: “Reformatio in peius” bei Fachaufsicht

VGH MANNHEIM, URTEIL VOM 19.01.2001

8 S 2121/00(VBLBW 2001, 313)

Problemdarstellung:Der VGH Mannheim hatte sich in der vorliegenden Ent-scheidung mit der Zulässigkeit eines verbösernden Wi-derspruchsbescheids (sogen. “reformatio in peius”) zubefassen. Zentrale Streitpunkte waren die Notwendig-keit einer vorherigen Anhörung durch die Wider-spruchsbehörde, § 71 VwGO, wenn sich die(Ausgangs-)behörde im Verwaltungsakt eine weitereSachprüfung vorbehalten hatte (vom VGH verneint),sowie das Problem der reformatio in peius, nämlich dieZuständigkeit der Widerspruchsbehörde. Das Gerichtvertritt die Auffassung, dass jedenfalls im Bereich dersogen. “Fachaufsicht”, wenn also ein unbeschränktesWeisungsrecht der Widerspruchs- gegenüber der Aus-gangsbehörde bestehe, an der Zuständigkeit nicht ge-zweifelt werden könne, da es keinen Unterschied ma-che, ob die Widerspruchsbehörde die Ausgangsbehördeim Wege der Fachaufsicht zur Verböserung gegenüberdem Bürger anweise oder sie diese selbst vornehme.Der VGH verteidigt diese Ansicht gegen die Bedenkender Vorinstanz, die in der Fachaufsichtskompetenz le-diglich eine interne, nicht jedoch eine externe Kompe-tenz gegenüber dem Bürger erblickt und für die Be-gründung einer solchen mit Blick auf den Gesetzesvor-behalt aus Art. 20 III GG eine explizite gesetzliche Zu-ständigkeitsregelung gefordert hatte. Prüfungsrelevanz:Wird vom Kläger allein der Widerspruchsbescheid -also nur die von in diesem enthaltene Verböserung -angefochten, ist bereits in der Statthaftigkeit der An-fechtungsklage darauf hinzuweisen, dass dies über § 79I Nr. 2, II VwGO grds. möglich ist.In der Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit werdenZuständigkeit und Verfahren, in letzterem insbes. dieAnhörung gem. § 71 VwGO zu erörtern sein (der VGHerörtert das Verfahren vor der Zuständigkeit; im Gut-achtenaufbau sollte die gewohnte, umgekehrte Reihen-folge eingehalten werden). Die Zuständigkeit ist unpro-blematisch, wenn Ausgangs- und Widerspruchsbehördeidentisch sind (Fälle des § 73 I Nr. 2, 3 VwGO) odereine ausdrückliche Zuständigkeit normiert ist (selten).In den übrigen Fäälen geht die h.M. aber auch davonaus, dass der Devolutiveffekt des Widerspruchs dieSachkompetenz von der Ausgangs- auf die Wider-spruchsbehörde überleitet. Handelt eine Bundesbehör-de, mögen hierfür bereits die Regelungen der §§ 68 ff.,

73 VwGO genügen, welche die Zulässigkeit einer refor-matio in peius wenn nicht begründen, so doch zumin-dest voraussetzen; handelt hingegen eine Landesbehör-de, genügen die Regelungen der VwGO schon wegender fehlenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes fürlandesrechtliche Zuständigkeiten nicht. Hier wird aufdie landesrechtliche Kompetenzverteilung abzustellensein, wie dies auch durch den VGH im vorliegendenUrteil geschehen ist, der die Befugnis zur reformatio inpeius aus der Fachaufsichtskompetenz (also dem unbe-schränkten Weisungsrecht) der Widerspruchsbehördeableitet.

Vertiefungshinweise:ì Zur Anhörung nach § 71 VwGO: BVerwG, RA2000, 72 = BayVBl 2000, 55ì Zur Zuständigkeit nach Landesrecht: BVerwGE 51,310, 313; 65, 313, 319; BVerwG, NVwZ-RR 1997, 26;NVwZ 1987, 215ì Zum materiellen Umfang der Verböserungsbefugnis:BayVGH, NJW 1982, 460ì Zur Zulässigkeit der reformatio in peius insgesamt:Schildheuer, NVwZ 1997, 637; Klindt, NWVBl 1996,452

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Doppeltes Unglück”

Leitsätze:1. Die höhere Wasserbehörde ist aufgrund des ihrgemäß § 25 Abs. 3 LVG zustehenden Weisungs-rechts befugt, in einem über die Höhe des Wasser-entnahmeentgelts geführten Widerspruchsverfahrenden angefochtenen Bescheid zum Nachteil desWiderspruchsführers zu ändern.2. Steht der angefochtene Bescheid unter dem Vor-behalt einer späteren Nachprüfung, kann die Wider-spruchsbehörde ohne Verstoß gegen § 71 VwGOvon einer vorherigen Anhörung des Widerspruchs-führers absehen.

Sachverhalt:Die Kl. des Ausgangsverfahrens hatte die ihr unter demVorbehalt einer späteren Nachprüfung erteilten Festset-zungsbescheide über die Höhe des von ihr zu zahlendenWasserentnahmeentgelts für die Jahre 1997(1.856.256,40 DM) und 1998 (1.665.348,65 DM) mitWiderspruch angegriffen, wobei sie den Widerspruchdas Jahr 1997 betreffend auf einen 711.310 DM über-steigenden Betrag beschränkte, da sie (nur) insoweit

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ÖFFENTLICHES RECHT RA 2001, HEFT 8

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eine Ermäßigung beanspruchte. Über die Widersprücheentschied die höhere Wasserbehörde, das Regierungs-präsidium K., per Widerspruchsbescheid vom11.9.1999. Darin setzte sie die Höhe der Wasserent-nahmeentgelte zu Lasten der Kl. jeweils auf neue, hö-here Beträge fest. Eine vorherige Anhörung der Kl. un-terblieb. Die gegen den Widerspruchsbescheid vom11.9.1999 erhobene Klage hatte vor dem VG KarlsruheErfolg; dessen Urteil hält jedoch einer berufungsrecht-lichen Überprüfung nicht stand.

Aus den Gründen:Das VG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben, soweitdas Regierungspräsidium K. in seinem Widerspruchs-bescheid vom 11.8.1999 für das Jahr 1997 ein Wasser-entnahmeentgelt von mehr als 1 856 256,40 DM undfür das Jahr 1998 ein Wasserentnahmeentgelt von mehrals 1 665 348,65 DM festgesetzt hat [...]. I. Formelle Rechtmäßigkeit des Widerspruchsbe-scheids

1. AnhörungDer Widerspruchsbescheid ist nicht bereits deshalbrechtswidrig, weil das Regierungspräsidium der Kläge-rin vor dessen Erlass keine Möglichkeit gegeben hat, zuder beabsichtigten Erhöhung des Wasserentnahmeent-gelts Stellung zu nehmen.

a. ErforderlichkeitNach § 71 VwGO soll zwar der Betroffene vor Erlassdes Abhilfe- oder des Widerspruchsbescheids gehörtwerden, wenn die Aufhebung oder Änderung des ange-fochtenen Verwaltungsakts erstmalig mit einer Be-schwer verbunden ist. Die Vorschrift begründet damit -abgesehen von atypischen Sachverhalten - die Pflicht,den Betroffenen vor Erlass des Widerspruchsbescheidesvon der beabsichtigten Verböserung zu unterrichten.Dies gilt nach der Neufassung des § 71 VwGO auchfür die aufgrund bekannter Tatsachen erfolgende recht-liche Neubewertung (BVerwG, NVwZ 1999, 1218,1219).

b. Entbehrlichkeit wegen NachprüfungsvorbehaltsIm vorliegenden Fall besteht jedoch die Besonderheit,dass die Ausgangsbescheide jeweils unter dem aus-drücklichen Vorbehalt einer Nachprüfung ergangen wa-ren und die Klägerin darauf aufmerksam gemacht wor-den war, dass die endgültige Entscheidung über die vonihr beanspruchte Ermäßigung erst zu einem späterenZeitpunkt getroffen werde. Sie musste deshalb auchohne einen besonderen Hinweis durch das Regierungs-präsidium mit einer Abänderung der Bescheide zu ihrenUngunsten rechnen, so dass von einer vorherigen Anhö-rung abgesehen werden konnte.

2. ZuständigkeitDas VG hat den Widerspruchsbescheid aufgehoben, so-weit das Regierungspräsidium das von der Klägerin zuzahlende Wasserentnahmeentgelt gegenüber den Aus-gangsbescheiden erhöht und die Bescheide damit zuUngunsten der Klägerin geändert hat, da ihm nach sei-ner Ansicht für ein solches Vorgehen die Zuständigkeitgefehlt habe. Dem vermag der Senat nicht zu folgen.

a. Zuständige WiderspruchsbehördeDie auf § 73 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bzw. - für das Jahr 1997- auf Abs. 1 S. 2 Nr. 2 VwGO beruhende Zuständigkeitdes Regierungspräsidiums zur Entscheidung über dievon der Klägerin eingelegten Widersprüche steht außerFrage.

b. Zuständigkeit zur Verböserung Zweifelhaft kann daher nur sein, ob mit dieser Zustän-digkeit die Befugnis verbunden ist, die angefochtenenBescheide auch zum Nachteil des Widerspruchsführerszu verändern. Entgegen der Ansicht des VG ist dieseFrage zu bejahen.

aa. Herleitung aus der FachaufsichtNach ständiger Rechtsprechung ergibt sich die Befug-nis der Widerspruchsbehörde, den angefochtenen Ver-waltungsakt zum Nachteil des Widerspruchsführers ab-zuändern ("reformatio in peius") nicht schon aus den §§68 ff., 73 VwGO, sondern richtet sich nach dem jeweilsanzuwendenden materiellen Bundes- oder Landesrechteinschließlich seiner Zuständigkeitsvorschriften (vgl.BVerwGE 51, 310, 313; 65, 313, 319). Im Anschlussan diese Rechtsprechung hat der VGH Bad.-Württ. ineinem Fall, in dem der Kläger zur Rückzahlung vonLeistungen nach dem BAföG verpflichtet worden war,die Zulässigkeit einer reformatio in peius im Wider-spruchsverfahren mit der Begründung bejaht, dass dasfür die Entscheidung über den Widerspruch zuständigeLandesamt für Ausbildungsförderung nach § 1 S. 2 desBAföG-AGBW die Fachaufsicht über die Ämter fürAusbildungsförderung ausübe und ihm daher gemäß §25 Abs. 3 LVG ein unbeschränktes Weisungsrecht zu-stehe. Unter diesen Umständen bedürfe es keines darü-ber hinausgehenden Selbsteintrittsrechts, um die Befug-nis der Widerspruchsbehörde zu begründen, die Rück-forderung zum Nachteil des Auszubildenden zu erhö-hen. Vielmehr dürfe die gemäß §§ 68, 73 VwGO mitder Sache befasste Widerspruchsbehörde sich diesenUmstand zunutze machen und statt einer bindendenWeisung an die Erstbehörde selbst der RechtslageRechnung tragen, indem sie nicht nur den Widerspruchzurückweise, sondern selbst die weitergehende Rück-nahme des zuvor ergangenen Bewilligungsbescheidsverfüge (Urteil vom 9.10.1989 - 7 S 571/89 - VGHE41, 76 L). In derselben Weise hat der VGH in einem

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ÖFFENTLICHES RECHTRA 2001, HEFT 8

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Fall argumentiert, in der es um die Verschärfung einerGewerbeuntersagung im Widerspruchsverfahren ging,und die Befugnis der Widerspruchsbehörde zu einemsolchen Vorgehen ebenfalls damit begründet, dass siezugleich die Fachaufsicht über die Ausgangsbehördeausübe (Beschluss vom 6.3.1996 - 14 S 2976/95 -).

(1). Kein gesondertes Selbsteintrittsrecht erforderlichDie vom Kläger in diesem Verfahren eingelegteNichtzulassungsbeschwerde wurde vom BVerwG mitder Begründung zurückgewiesen, dass eine derartigeArgumentation aus der Sicht des Bundesrechts nicht zubeanstanden sei. Insbesondere sei nichts dagegen ein-zuwenden, wenn das Landesrecht daran anknüpfe, dassdie Widerspruchsbehörde bereits mit der Angelegenheitbefasst sei, die Sache also nicht erst aufgrund einesSelbsteintritts an sich zu ziehen brauche. Eines Selbst-eintrittsrechts bedürfe es nicht, da die Zuständigkeit derWiderspruchsbehörde ihre Grundlage in den §§ 68, 73VwGO habe. Diese Vorschriften stellten diekompetenzrechtliche Grundlage zur Verfügung, wennLandesrecht die zur Entscheidung über den Wider-spruch zuständige Behörde auch zur Verböserung er-mächtige (BVerwG, NVwZ-RR 1997, 26).

(2). Selbstvornahme statt WeisungDer Senat sieht keinen Anlass, von dieser Rechtspre-chung abzuweichen. Soweit die zuständige Wider-spruchsbehörde zugleich Fachaufsichtsbehörde ist unddie Ausgangsbehörde deshalb dazu anweisen kann, denim Widerspruchsverfahren zur Überprüfung stehendenVerwaltungsakt auch zum Nachteil des Widerspruchs-führers zu ändern, ist nicht einzusehen, wieso ihr nichtdie Befugnis zustehen sollte, die für erforderlich gehal-tene Änderung der von der Ausgangsbehörde getroffe-nen Regelung selbst vorzunehmen, wenn die Angelegen-heit mit dem gegen den Verwaltungsakt eingelegten Wi-derspruch an sie herangetragen worden ist. Die Inter-essen des Widerspruchsführers werden davon nicht be-rührt, da es aus seiner Sicht keinen Unterschied machenkann, von welcher Behörde und in welchem Verfahrendie mit dem angefochtenen Verwaltungsakt getroffeneRegelung zu seinem Nachteil geändert wird. Da § 25Abs. 3 LVG dem Regierungspräsidium gegenüber derfür die Festsetzung des Wasserentnahmeentgelts zustän-digen und dabei seiner Fachaufsicht unterliegendenStadt K. ein unbeschränktes Weisungsrecht einräumt,war es demnach berechtigt, die angefochtenen Beschei-de durch Festsetzung eines höheren Entgelts auch zuUngunsten der Klägerin zu ändern.

(3). Kein Verstoß gegen den GesetzesvorbehaltDas VG wendet dagegen zu Unrecht ein, dass es imBereich der Eingriffsverwaltung, zu der die Erhebungdes Wasserentnahmeentgelts zu rechnen sei, für die Be-

gründung der Zuständigkeit einer Behörde einesRechtssatzes, d. h. eines Gesetzes oder einer aufgrundeiner gesetzlichen Ermächtigung erlassenen Rechtsver-ordnung bedürfe. Soweit es in Bezug hierauf einen Un-terschied zu dem von ihm zitierten Urteil des VGHBad.-Württ. v. 9.10.1989 sieht, lässt es außer Betracht,dass es in diesem Fall ebenfalls um einen Eingriffsaktging, nämlich - wie bereits erwähnt - um die Rückforde-rung von Leistungen nach dem BAföG. Allein der Um-stand, dass dieser Eingriffsakt im Bereich der Lei-stungsverwaltung ergangen ist, rechtfertigt es nicht, ineinem solchen Fall an die Befugnis der Widerspruchs-behörde zu einer reformatio in peius andere Maßstäbeanzulegen. Der Einwand ist unabhängig davon auchsachlich nicht begründet, da sich die vom VG vermisstegesetzliche Regelung der Zuständigkeit aus den §§ 68,73 VwGO ergibt, sofern man, wie dies der Senat fürrichtig hält, annimmt, dass das Landesrecht, indem esder Widerspruchsbehörde ein unbeschränktes Wei-sungsrecht gegenüber der Ausgangsbehörde einräumt,auch zu einer "Verböserung" des angefochtenen Ver-waltungsakts im Widerspruchsverfahren ermächtigt.

(4). Keine zwingende Unterscheidung zwischen Innen-und AußenverhältnisFür nicht überzeugend hält der Senat auch das Argu-ment, dass § 25 Abs. 3 LVG lediglich die übergeordne-te Behörde zum Erlass von Weisungen gegenüber derder Fachaufsicht unterworfenen Behörde ermächtigeund sich damit auf das Innenverhältnis der öffentlichenVerwaltung beschränke. Im Grundsatz ist das zwar si-cher richtig. Das schließt jedoch nicht aus, der Vor-schrift, soweit es um die Befugnis der Fachaufsichts-behörde zu einer reformatio in peius im Widerspruchs-verfahren geht, auch eine hierauf beschränkte Außen-wirkung beizulegen [...].

bb. Keine Beschränkung durch TeilwiderspruchDie Klägerin hält die im Widerspruchsbescheid vor-genommene Erhöhung des Wasserentnahmeentgelts un-abhängig von der Befugnis der Widerspruchsbehördezur reformatio in peius jedenfalls insoweit für rechts-widrig, als es um das Entgelt für das Jahr 1997 geht, dasich der gegen den Bescheid vom 8.5.1998 eingelegteWiderspruch nur gegen die Ablehnung einer über 50%hinausgehenden Ermäßigung gerichtet habe. Soweitihrem Antrag entsprochen worden sei, sei daher keinDevolutiveffekt eingetreten. Dem kann nicht gefolgtwerden.

(1). Grundsätzlich Beschränkung möglichDie Entscheidungsbefugnis der Widerspruchsbehördeist allerdings auf den durch den Widerspruch begrenz-ten Rahmen begrenzt. Die Widerspruchsbehörde darfdeshalb nicht einen Widerspruch zum Anlass nehmen,

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RA 2001, HEFT 8ZIVILRECHT

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weitere rechtlich selbstständige Regelungen zu treffen,die über den Inhalt des angefochtenen Verwaltungsaktshinausgehen (vgl. BayVGH, NJW 1982, 460). In denFällen, in denen ein Verwaltungsakt mehrere rechtlichselbstständige Entscheidungen enthält, gilt Ent-sprechendes. Beschränkt der Widerspruchsführer seinenWiderspruch auf einen Teil des Verwaltungsakts, istdie Widerspruchsbehörde nicht berechtigt, den nichtangefochtenen Teil zu verschärfen, da insoweit ihreEntscheidungszuständigkeit durch den Widerspruchnicht begründet worden ist.

(2). Hier jedoch keine selbstständige TeilregelungEin solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben. Zwar hatdie Klägerin gegen den Bescheid vom 8.5.1998 nur teil-weise Widerspruch eingelegt, nämlich insoweit, als das

Regierungspräsidium das für 1997 zu zahlende Was-serentnahmeentgelt auf mehr als 711.310 DM festge-setzt hatte. Daraus, dass die Klägerin ihre Zahlungs-pflicht in dieser Höhe anerkannt hat und der angefoch-tene Bescheid insoweit bestandskräftig geworden ist,ergeben sich für die Befugnis der Widerspruchsbehör-de, das zu zahlende Wasserentnahmeentgelt auf einengegenüber dem angefochtenen Bescheid höheren Betragfestzusetzen, keine Beschränkungen.

II. Materielle RechtmäßigkeitDie Heraufsetzung des von der Klägerin zu zahlendenEntgelts auf die im Widerspruchsbescheid genanntenBeträge ist auch in materiell-rechtlicher Hinsicht nichtzu beanstanden [wird ausgeführt].

Zivilrecht

Standort: Verbraucherrecht Problem: Formbedürftigkeit einer Vollmacht

BGH, URTEIL VOM 24.04.2001XI ZR 40/00 (NJW 2001, 1931)

Problemdarstellung:Mit dieser Entscheidung konnte der BGH die höchst-richterlich bislang noch nicht entschiedene Frage klä-ren, ob und inwieweit die Vorschriften des VerbrKrGbei der Erteilung von Vollmachten zum Abschluss vonVerbraucherkreditverträgen zu berücksichtigen sind. Imvorliegenden Fall war eine solche Vollmacht zwar nota-riell beurkundet, was gem. § 126 III BGB die Schrift-form ersetzt, aber ohne Angabe der Informationen gem.§ 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG.Der BGH verneint das Erfordernis nach diesen Min-destangaben bei der Vollmachtserteilung. Nach dem imVertretungsrecht herrschenden Repräsentationsprinzipist es erforderlich und ausreichend, dass der Stellver-treter vom Vertragsgegner die wesentlichen Informatio-nen über die einzelnen Vertragsbedingungen erhält unddaraufhin die Entscheidungen für den Vertretenen tref-fen kann. Des weiteren verweist der BGH auf seineRechtsprechung zu Vollmachtserteilung und HWiG, woebenfalls entscheidend ist, ob der Bevollmächtigte beiAbgabe seiner Willenserklärung in einer Haustürsituati-on sich befunden hat, während es grundsätzlich uner-heblich ist, ob die Vollmacht in einer solchen Situationerteilt worden ist. Schließlich gibt der BGH zu Beden-ken, dass eine Vollmachtserteilung bei Erfordernis derMindestangaben gem. § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG weitge-hend unmöglich wäre. Die jeweiligen Angaben müssten

schon gemacht werden können, bevor überhaupt derVertreter die Kreditvertrag mit dem Unternehmer aus-handelt und abschließt.

Prüfungsrelevanz:Im Verbraucherschutzrecht der jeweiligen Sondergeset-ze (VerbrKrG, HWiG, FernAbsG, etc.) wird stets nurdas konkrete Rechtsverhältnis zwischen Verbraucherund Unternehmer geregelt; die vielfältigen Möglichkei-ten zur Beteiligung von Dritten bleiben unerwähnt. In-folgedessen ist die korrekte Handhabung von Drittbetei-ligungen bei Verbraucherverträgen nur durch das Studi-um von Rechtsprechung und Literatur erlernbar. So istu.a. in Rechtsprechung und Literatur umstritten, inwie-weit § 4 I VerbrKrG bei Vollmachtserteilung zum Ab-schluss von Verbraucherkreditverträgen zu beachtenist. So wird die Auffassung vertreten, jede Kreditvoll-macht bedürfe der Schriftform gem. § 4 I 1 VerbrKrGund müsse die Angaben gem. § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrGenthalten. Dieser Ansicht folgt ein Teil der Rechtspre-chung und Lehre für die Fälle, in denen die Vollmachtunwiderruflich erteilt oder der Widerruf sanktionsbe-wehrt ist. Demgegenüber hält die von der obergericht-lichen Rechtsprechung und der Lehre überwiegend ver-tretene Auffassung die Mindestangaben gem. § 4 I 4Nr. 1 VerbrKrG in der Vollmachtsurkunde in jedemFall für entbehrlich und die Schriftform nur bei unwi-derruflich erteilten oder unter erschwerten Bedingungenwiderruflichen Vollmachten für erforderlich.

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Vertiefungshinweise:ì Für die Angaben nach § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG in derKreditvollmacht: LG Potsdam, WM 1998, 1235; Bü-low, VerbrKrG, 3. Aufl., § 4 Rdnr. 37; v. Westphalenu.a., VerbrKrG, 2. Aufl. [1996], § 4 Rdnr. 28ì Angaben nach § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG nur bei un-widerruflicher oder sanktionsbewährter Vollmacht:OLG München, NJW 1999, 1456; OLG Karlsruhe,WM 2000, 1996ì Keine Angaben nach § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG in derVollmacht notwendig: OLG Köln, WM 2000, 127,129; OLG Frankfurt a. M., OLGR 2000, 191; Bruch-ner, WM 1999, 825, 836

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Existenzgründung auf Raten”ì Examenskurs: “Drum prüfe wer für Papi bürgt”

Leitsatz:Eine Vollmacht, die zum Abschluss eines Verbrau-cherkreditvertrags erteilt wird, muss grundsätzlichnicht die Mindestangaben über die Kreditbedingun-gen (§ 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG) enthalten.

Sachverhalt:Die Parteien streiten in der Revisionsinstanz noch überdie Wirksamkeit einer Vollmacht zum Abschluss einesVerbraucherkreditvertrags und über die damit zusam-menhängende Pflicht der Kl., der bekl. Bank vertragli-che Darlehenszinsen zu zahlen. Dem liegt im Wesentli-chen folgender Sachverhalt zu Grunde: Die Kl. gabenam 21. 6. 1992 ein notariell beurkundetes Angebot aufAbschluss eines umfassenden Geschäftsbesorgungsver-trags mit der C-Steuerberatungsgesellschaft mbH (imFolgenden: C) ab. Dieses Angebot enthält unter ande-rem die Vollmacht, für die Kl. eine Eigentumswohnungin einem in O. zu errichtenden Studentenwohnheim zuerwerben, einen Gesellschaftsvertrag zum Zwecke derErrichtung des Bauvorhabens abzuschließen und dieerforderlichen Finanzierungsdarlehen aufzunehmen.Detaillierte Angaben über Inhalt und Modalitäten derabzuschließenden Darlehensverträge sind nicht enthal-ten. Die C nahm dieses Vertragsangebot an. Sie erwarbim Juli 1992 im Namen der Kl. die noch nicht fertiggestellte Eigentumswohnung und erklärte den Beitrittzu einer GbR "Studentenwohnheim", deren Zweck inder, Fertigstellung des Bauvorhabens lag. Ende Dezem-ber 1992 schloss s ie für d ie Kl . mi t derRechtsvorgängerin der bekl. Bank zwei Darlehensver-träge, und zwar über ein Annuitätendarlehen in Höhevon 39 371 DM mit einem anfänglichen effektiven Jah-reszins von 8,91% und über ein durch eine Kapitalle-bensversicherung zu tilgendes Festdarlehen von 126054DM mit einem anfänglichen effektiven Jahreszins von8,84%.Die Kl. haben in erster Linie Schadensersatzansprücheaus angeblichem Verschulden der Bekl. bei Vertrags-

schluss geltend gemacht und mit ihren Hauptanträgendie Rückzahlung geleisteten Zinsen sowie die Freistel-lung von sämtlichen Rückzahlungsverpflichtungen -Zug um Zug gegen Übertragung ihrer Miteigentums-anteile - verlangt. Hilfsweise begehren sie wegen an-geblicher Formunwirksamkeit der Kreditvollmacht dieFeststellung, dass die Bekl. die von ihnen geleistetenüber den gesetzlichen Zinssatz von 4% hinausgehendenDarlehenszinsen zu erstatten und der Kl. zu 2 künftiglediglich Zinsen in dieser Höhe zu entrichten habe. LGund OLG, dessen Urteil in WM 2000, 292 veröffent-licht ist, haben die Klage abgewiesen. Mit der Revisionverfolgten die Kl. ihre Ansprüche in vollem Umfangweiter. Die Revision wurde nur hinsichtlich der Hilfs-antrage angenommen. Die Revision hatte jedoch keinenErfolg.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat die Abweisung der Hilfsanträge imWesentlichen wie folgt begründet:Die Darlehensverträge selbst enthielten die vomVerbraucherkreditgesetz geforderten Mindestangabenund seien daher wirksam.Auch die der C erteilte Vollmacht zum Abschluss derDarlehensverträge sei formwirksam. Deshalb könne dieBekl. die vertraglich vereinbarten Zinsen verlangen, diesich nicht gem. § 6 II 2 VerbrKrG auf den gesetzlichenZinssatz ermäßigten. Zwar müsse der sich aus § 167 IIBGB ergebende Grundsatz der formfreien Erteilungvon Vollmachten im Hinblick auf § 4 I 1 VerbrKrGdahin eingeschränkt werden, dass Vollmachten zumAbschluss von Verbraucherkreditverträgen der Schrift-form bedürften. Dem sei aber durch die notarielle Beur-kundung der Vollmacht hinreichend Rechnung getra-gen. Weitere formelle Anforderungen seien nicht zubeachten. Insbesondere müsse die Kreditvollmacht nichtdie Mindestangaben gem. § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG ent-halten.

B. Bestätigung durch den BGHDiese Ausführungen halten einer revisionsrechtlichenÜberprüfung stand. Das BerGer. ist rechtsfehlerfrei zudem Ergebnis gelangt, dass die Darlehensverträge wirk-sam zu Stande gekommen sind und der Bekl. damit Zin-sen in der vertraglich vereinbarten Höhe zustehen.

I. Formeinhaltung bei den DarlehensverträgenDas BerGer. hat rechtsfehlerfrei festgestellt, dass dieschriftlich abgefassten Darlehensverträge formwirksamseien, weil sie die von § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG geforder-ten Mindestangaben enthielten. Das wird von der Revi-sion nicht beanstandet.

2. Formeinhaltung bei der VollmachtZu Recht hat das BerGer. die Wirksamkeit der Darle-hensverträge nicht daran scheitern lassen, dass die von

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den Kl. der C erteilte Vollmacht die Angaben gem. § 4 I4 Nr. 1 VerbrKrG nicht enthält.

a. Formbedürftigkeiten von Vollmachten nachVerbrKrG (gegenwärtiger Streitstand)Die höchstrichterlich bislang noch nicht entschiedeneFrage, ob und inwieweit die Vorschriften desVerbraucherkreditgesezes bei der Erteilung von Voll-machten zum Abschluss von Verbraucherkreditverträ-gen zu berücksichtigen sind, ist umstritten. So wird un-ter anderem die Auffassung vertreten, jede Kreditvoll-macht bedürfe der Schriftform gem. § 4 I 1 VerbrKrGund müsse die Angaben gem. § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrGenthalten (LG Potsdam, WM 1998, 1235; Bülow,VerbrKrG, 3. Aufl., § 4 Rdnr. 37; Derleder, NJW1993, 2401 [2404]; Frisch, VuR 1999, 432 [437]; v.Westphalen/Emmerich/v.Rottenburg, VerbrKrG, 2.Aufl. [1996], § 4 Rdnr. 28). Dieser Ansicht folgt einTeil der Rechtsprechung und Lehre jedenfalls für dieFälle, in denen die Vollmacht unwiderruflich erteiltoder der Widerruf sanktionsbewehrt ist. Es wird daraufverwiesen, dass im Anwendungsbereich des Verbrau-cherkreditgesetzes das Ziel eines funktionierenden Ver-braucherschutzes gegenüber dem dem Recht der Stell-vertretung zu Grunde liegenden Repräsentationsprinzipvorrangig sei (OLG München, NJW 1999, 1456 = WM1999, 1456 [1457 f.]; OLG Karlsruhe, WM 2000,1996, m. abl. Anm. Peters/Riechert, WuB 1 E 2. § 4VerbrKrG 6.00; vgl. auch Ulmer, in: MünchKomm, 3.Aufl., § 4 VerbrKrG Rdnrn. 17ff.).Demgegenüber hält die von der obergerichtlichenRechtsprechung und der Lehre überwiegend vertreteneAuffassung die Mindestangaben gem. § 4 I 4 Nr. 1VerbrKrG in der Vollmachtsurkunde in jedem Fall fürentbehrlich und die Schriftform nur bei unwiderruflicherteilten oder unter erschwerten Bedingungen wider-ruflichen Vollmachten für erforderlich (OLG Köln,NZM 2000, 924 = WM 2000, 127 [129 f.]; OLGFrankfurt a. M., OLGR 2000, 191; OLG Zweibrücken,OLGR 2000, 336; OLG Frankfurt a. M., WM 2001,353 [354 f.]; OLG Karlsruhe, WM 2001, 356 [358 f.];vgl. auch Bruchner, WM 1999, 825 [836f.];Horn/Balzer, WM 2000, 333 [342]; Peters, in: Schi-mansky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 2. Aufl., § 81Rdnr. 94e; Rösler, WuB I G 5.-9.99; Kessal-Wulf, in:Staudinger, BGB, 13. Bearb., § 4 VerbrKrG Rdnr. 16;Steinhauer, EWiR 1999, 277; Volmer, MittBayNot1999, 346 [349]).

b. Schriftform gem. § 4 I 1 VerbrKrGEs bedarf hier keiner Entscheidung, ob und unter wel-chen Voraussetzungen Vollmachten zum Abschluss vonVerbraucherkreditverträgen schriftlich erteilt werdenmüssen. Die hier zu beurteilende Vollmacht wurde no-tariell beurkundet. Diese Beurkundung ersetzt die

Schriftform (§ 126 III BGB).

c. Mindestangaben gem. § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG nichterforderlich bei VollmachtenIn der Frage, ob solche Vollmachten grundsätzlich auchdie Angaben gem. § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG enthaltenmüssen, schließt der Senat sich der überwiegend ver-tretenen Meinung an, die dies verneint.

aa. Vorrang des RepräsentationsprinzipsDem Verbraucherkreditgesetz ist nicht zu entnehmen,dass das dem Vertretungsrecht zu Grunde liegendeRepräsentationsprinzip entscheidend eingeschränktwerden müsse. Die nach § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG erfor-derlichen Mindestangaben sollen dem Darlehensnehmerein vollständiges Bild von den Bedingungen und Kostendes Darlehens verschaffen, damit er die Risiken über-blicken kann. Es ist kein Grund ersichtlich, warum esnicht genügen soll, wenn diese Informationen seinemStellvertreter bei Abschluss des Darlehensvertrags er-teilt werden. Es liegt im Wesen der Stellvertretung, dassder Stellvertreter vom Vertragsgegner die wesentlichenInformationen über die einzelnen Vertragsbedingungenerhält und auf dieser Grundlage die notwendigen Ent-scheidungen für den Geschäftsherrn treffen darf. DasRisiko, das mit der Bestellung eines Vertreters einher-geht, wird vom Verbraucherkreditgesetz nicht begrenzt.

bb. Vergleich mit entsprechender Problematik beimHWiGNach der Rechtsprechung des erkennenden Senats zumHaustürwiderrufsgesetz ist regelmäßig darauf abzustel-len, ob der Bevollmächtigte bei Abgabe der Willenser-klärung in einer Haustürsituation gehandelt hat, wäh-rend es grundsätzlich unerheblich ist, ob die Vollmachtin einer solchen Situation erteilt worden ist (vgl. Senat,NJW 2000, 2268 = LM H. 9/2000 § 166 BGB Nr. 41= WM 2000, 1250 [1251 f.], und NJW 2000, 2270 =LM H. 9/2000 § 166 BGB Nr. 40 = WM 2000, 1247[1249]). Entsprechend ist im Anwendungsbereich desVerbraucherkreditgesetzes bei der Frage, wer vom Kre-ditgeber zu informieren ist, die Repräsentantenstellungdes Vertreters entscheidend (OLG Köln NZM 2000,924 = WM 2000, 127 [130]; OLG Frankfurt a. M.,OLGR 2000, 191 [192]; OLG Frankfurt a. M., WM2001, 353 [355]; Bruchner, WM 1999, 825 [8371;Horn/Balzer, WM 2000, 333 [341]; Kessal-Wulf,EWiR 1999, 1025 [1026]; van Look, WuB I E 2. § 4V e r b r K r G 4 . 0 0 ; P e t e r s , i n : S c h i m a n s -ky/Bunte/Lwowski, BankR-Hdb., 2. Aufl., § 81 Rdnr.94 e; Rösler, VuR 2000, 191 [193]; Ulmer/Timman in:Festschrf. Rowedder, 1994, S. 503 [522f.]; a. A. OLGMünchen, WM 1999, 14.56 [1457]). Es reicht aus,dass die Mindestangaben bei Abgabe der Vertragserklä-rung durch den Bevollmächtigten vorliegen. Dessen

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Kenntnis ist dem Vertretenen nach §, 166 I BGB zu-zurechnen.

cc. Unmöglichkeit zur Einhaltung des Mindestanga-benerfordernisses bei VollmachtenEine rechtsgeschäftliche Stellvertretung bei Verbrau-cherkreditverträgen wäre weitgehend unmöglich, müss-ten die nach § 4 1 4 Nr. 1 VerbrKrG geforderten An-gaben bereits in die Vollmachtsurkunde aufgenommenwerden. Bevollmächtigt ein Verbraucher einen Ge-schäftsbesorger nicht mit dem Abschluss eines konkretbestimmten Darlehensvertrags, sondern mit dem Aus-handeln und Abschluss eines der Höhe nach begrenztenKreditvertrags zu marktüblichen Konditionen, so ist esihm bei Vollmachtserteilung noch nicht möglich, dieMindestangaben zu machen. Wollte man eine Pflichtzur Aufnahme dieser Angaben in die Vollmachtsurkun-de statuieren, so liefe das auf einen Ausschluss derStellvertretung im Bereich der Verbraucherkredite hin-aus. Den Vorschriften des Verbraucherkreditgesetzeskann nicht entnommen werden, dass die in seinen An-wendungsbereich fallenden Verträge nur höchstpersön-lich abgeschlossen werden könnten (vgl. OLG Frank-furt a. M., OLGR 2000, 191 [192]; Bruchner, WM1999, 825 [837f.]; Peters, in: Schimansky/Bunte/Lwowski, § 81 Rdnr. 94 e; ders., in: Festschr. f. Schi-mansky, S. 477 [495 f.]; Peters/Scharnewsky, WuB I E2. § 4 VerbrKrG 4.98; Rombach, MittBayNot 1999,380 [381]; Vortmann, WuB 1 G 5.-9.00; Balzer, EWiR2000, 49; Edelmann/Hertel, DStR 2000, 331 [338];Kessal-Wulf, EWiR 1999, 1025; Steinhauer, EWiR1999, 277).

dd. Adressat des Mindestangabenerfordernisses istnicht der VertreteneBei Beantwortung der Frage nach dem notwendigenInhalt der Vollmacht ist auch entscheidend zuberücksichtigen, dass Normadressat des § 4 I 4 Nr. 1VerbrKrG der Kreditgeber ist. Dieser hat dafür Sorgezu tragen, dass die vom Verbraucher zu unterzeichnen-

de Erklärung alle für die Wirksamkeit erforderlichenAngaben enthält. Kommt er dieser Verpflichtung nichtoder nur unzureichend nach, treffen ihn die von § 6 IIVerbrKrG angeordneten Sanktionen. Der Kreditgeberist aber an einer Vollmachtserteilung, die sich allein imVerhältnis zwischen Verbraucher als Vollmachtgeberund Bevollmächtigtem abspielt, regelmäßig nicht be-teiligt. Müsste schon die Kreditvollmacht die Mindest-angaben enthalten, hätte der Kreditgeber letztendlichfür Versäumnisse einzustehen, auf deren Vermeidung erim Normalfall keinen Einfluss hat (vgl. Peters, WM2000, 554 [560]).

ee. Keine anderweitige Bewertung infolge der Recht-sprechung zur BürgschaftsvertragsformDieser Auslegung von § 4 I 4 Nr. 1 VerbrKrG steht dieneuere Rechtsprechung des BGH zu § 766 S. 1 BGB(BGHZ 132,119 [122] = NJW 1996, 1467 = LM H.911996 § 765 BGB Nr. 107) nicht entgegen, nach dereine Blankounterschrift nicht durch eine auf Grundmündlicher Ermächtigung vorgenommene Ergänzungder Urkunde zu einer formwirksamen Bürgschaft wird.Diese Entscheidung betrifft nur die für das Bürgschafts-recht relevante Frage der Auslegung der Formvorschriftvon § 766 S. 1 BGB und präjudiziert nicht die Ausle-gung der Formvorschriften des Verbraucherkreditge-setzes. Die Schutzbedürftigkeit von Bürge und Ver-braucher ist unterschiedlich. § 766 S. 1 BGB bezweckt,dem Bürgen Inhalt und Umfang seiner Haftung deutlichvor Auge, zu führen, weil dessen Verpflichtung in allerRegel nur anderen, dem Gläubiger und dem Haupt-schuldner, zugute kommt (BGHZ 132, 119 [125] =NJW 1996,1467 = LM H. 9/1996 § 765 BGB Nr.107). Mit dem Abschluss eines Kreditvertrags geht einVerbraucher kein fremdnütziges Risiko ein. Die Pflicht-angaben der Kreditkonditionen sollen ihm lediglich vorAugen führen, worauf er sich einlässt und ihm den Ver-gleich mit den Konditionen anderer Kreditgeber ermög-lichen (vgl. Senat, NJW 2000, 3496 = LM H. 1/2001 §4 VerbrKrG Nr. 6).

Standort: Deliktsrecht Problem: Sorgfaltspflicht des Konzertveranstalters

BGH, URTEIL VOM 13.03.2001VI ZR 142/00 (NJW 2001, 2019)

Problemdarstellung:Die Kl. hatte nach Besuch eines Musikkonzerts einenHörsturz erlitten, nach dessen Abheilung ein therapiere-sistenter Tinnitus zurückgeblieben war. Vom bekl.Konzertveranstalter verlangte sie nunmehr Schadens-ersatz sowie Schmerzensgeld. Das BerGer. hat die Kla-ge zurückgewiesen, weil die Kl. nicht bewiesen habe,

dass der Bekl. eine ihm obliegende Verkehrssicherungs-pflicht verletzt habe. Die Revision vor dem BGH gegendiese Entscheidung war erfolgreich. Zunächst stellte der BGH fest, dass den bekl. Konzert-veranstalter die Pflicht trifft, Konzertbesucher vor Ge-hörschäden durch übermäßige Lautstärke der dargebo-tenen Musik zu schützen. Zur Auslegung und Feststel-lung von Verkehrssicherungspflichten kann dabei aufgesetzliche Regeln, Unfallverhütungsvorschriften undtechnische Regeln (z.B. DIN-Normen) zurückgegriffen

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werden; jedoch sind solche Regeln nicht abschließend,d.h. die jeweilige Verkehrssicherungspflicht kann imEinzelfall auch darüber hinaus gehen. Daher umfasstdie Verkehrssicherungspflicht eines Konzertveranstal-ters nicht nur das Treffen von Vorkehrungs- undSchutzmaßnahmen, wenn ein übermäßiger Schalldruckfestgestellt werden kann. Auch Maßnahmen, die geeig-net sind, eine gesundheitsgefährliche Lautstärke derMusik aufzuzeigen, können Gegenstand dieser Ver-kehrssicherungspflicht sein. Bei einem Verstoß desBekl. gegen diese ihm obliegende Messpflicht, kanndann im Einzelfall ein Beweis des ersten Anscheins her-geleitet werden, dass Schädigungen in örtlichem undzeitlichem Zusammenhang mit der Pflichtverletzungdadurch kausal verursacht worden sind.

Prüfungsrelevanz:Im Rahmen des Deliktsrechts, insb. bei § 823 I BGB,wird an die schuldhafte Verletzung von Verkehrssiche-rungspflichten eine Schadensersatzpflicht geknüpft.Nach dieser allgemeine Rechtspflicht (§ 242 BGB)muss jeder im Rechtsverkehr, der eine Gefahrenquelleschafft oder unterhält, selbstständig prüfen, ob und wel-che zumutbaren Sicherungsmaßnahmen zur Vermei-dung von Gefährdungen Dritter, die mit der Gefahren-quelle in Berührung kommen, notwendig sind. Unter-lässt der Verkehrssicherungspflichtige diese Vorkehrun-gen, so ist sein Unterlassen Anknüpfungspunkt für einedeliktische Haftung.

Vertiefungshinweise:ì Zur Verkehrssicherungspflicht bei Musikveranstal-tungen: OLG Zweibrücken, NJW-RR 2001, 595ì Zur Verkehrssicherungspflicht bei Gaststätten: OLGHamm, RA 2000, 680 = NJW 2000, 3144ì Zur Verkehrssicherungspflicht von Bierbrauereien:OLG Hamm, RA 2001, 328 = NJW 2001, 1654

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Der defekte Gaszug”

Leitsatz:Zur Sorgfaltspflicht eines Veranstalters von Mu-sikkonzerten gegenüber den Gefahren, die Konzert-besuchern durch Gehörschäden infolge übermäßigerLautstärke der dargebotenen Musik drohen.

Sachverhalt:Die Kl. hat nach einem vom Bekl. im Rahmen einesZelt-Musik-Festivals im Jahre 1997 veranstaltetenKonzert mit Punk-, Hardcore- und Grunge-Rockmusikeinen Hörsturz erlitten. Nach Rückbildung der Schwer-hörigkeit innerhalb von zwei Tagen sei bei ihr ein thera-

pieresistenter Tinnitus verblieben. Sie begehrt Ersatzihres hieraus entstandenen immateriellen Schadens inHöhe von mindestens 7000 DM nebst Zinsen, ihres ma-teriellen Schadens von 395 DM nebst Zinsen sowie dieFeststellung, dass der Bekl. ihr jeglichen materiellenund immateriellen Schaden zu ersetzen habe, den siedurch den am 10. 7. 1997 aufgetretenen Hörsturz erlit-ten habe, soweit nicht Ansprüche auf Sozialversiche-rungsträger übergegangen sind.Das LG hat die Klage abgewiesen; das OLG hat dieBerufung der Kl. zurückgewiesen. Die zugelassene Re-vision führte zur Aufhebung und Zurückweisung.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat zur Begründung seiner Entscheidung(JZ 2000, 789) im Wesentlichen ausgeführt, die Kl.habe nicht bewiesen, dass der Bekl. eine ihm obliegendeVerkehrssicherungspflicht verletzt habe.Zwar habe der Konzertveranstalter die Pflicht, Konzert-besucher vor Gehörschäden durch übermäßige Lautstär-ke der Musik zu schützen. Die Kl. habe jedoch den Be-weis nicht erbracht, dass bei dem von ihr besuchtenRockkonzert in der DIN 15 905 Teil 5 "Tontechnik inTheatern und Mehrzweckhallen" festgelegte Grenzwertedurch die Musikdarbietungen überschritten worden sei-en. Ein Anscheinsbeweis dafür, dass der Hörsturzdurch eine übermäßige Lautstärke der Musik ver-ursacht worden sei, bestehe nicht. Ein typischer Ge-schehensablauf sei nicht festzustellen, weil der Sachver-ständige Anhaltspunkte dafür gefunden habe, dass beider Kl. eine Überempfindlichkeit im linken Ohr schonvor dem Konzert vorgelegen habe. Ein Hörsturz könnezudem auch durch Pfiffe von Zuhörern hervorgerufenwerden. Allerdings habe der Bekl. während des Rock-konzerts nicht dauernd den Schallpegel nach dem Mess-verfahren der DIN 15 905 Teil 5 gemessen und dasMessergebnis auch nicht als Dokumentation aufbe-wahrt. Selbst wenn aber unterstellt werde, dass diesetechnische Norm einschlägig sei, greife zu Gunsten derKl. keine Beweislastumkehr ein. Die Norm verlangenicht, einzelne überlaute Geräusche, die einen Hörsturzauslösen könnten, zu vermeiden. Die Messungen undAuswertungen während der Musikdarbietung dientenzur Ermittlung des Beurteilungspegels über die ganzeZeit der Darbietung und erfaßten Spitzenlärmwertenicht.

B. Entscheidung des BGHDiese Erwägungen halten den Angriffen der Revisionnicht stand.

I. Bestehen einer Verkehrssicherungspflicht von Kon-zertveranstaltern zum Schutz vor übermäßiger Laut-

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stärkeIm Ansatzpunkt zutreffend geht das OLG von einerPflicht des Konzertveranstalters aus, Konzertbesuchervor Gehörschäden durch übermäßige Lautstärke derdargebotenen Musik. zu schützen (vgl. OLG Zwei-brücken, OLGR 2000,530; LG Trier , NJW1993,1474).

II. Beweiserhebung durch das BerGer. vorgenommenOhne Erfolg bleibt auch die Rüge der Revision, dasBerGer. halte eine Verletzung der Verkehrssicherungs-pflicht für nicht bewiesen, habe hierzu aber keinen Be-weis erhoben. Das BerGer. hat - wenn auch in knapperForm - dargelegt, die Verkehrssicherungspflicht desKonzertveranstalters erfordere Vorkehrungen zurVermeidung von Hörschäden der Konzertbesucher in-folge von übermäßiger Lautstärke der Musik. Dazu hates das Beweisergebnis aus dem ersten Rechtszug ver-wertet, aber nicht feststellen können, dass die dargebo-tene Musik die Grenzwerte überschritten habe.

III. Umfang der Verkehrssicherungspflicht des Kon-zertverantstalters: Pflicht zur Überprüfung der Kon-zertlautstärkeDas BerGer. verkennt jedoch den Umfang der demBekl. obliegenden Verkehrssicherungspflicht. Es willeine Verletzung dieser Pflicht offenbar erst dann anneh-men, wenn ein übermäßiger Schalldruck festgestelltwerden kann. Dem liegt ein zu enges Verständnis derVerkehrssicherungspflicht zu Grunde. Auch Maßnah-men, die geeignet sind, eine gesundheitsgefährliche Laut-stärke der Musik aufzuzeigen, können insbesondereBestandteil der notwendigen Vorkehrungen zum Schutzder Konzertbesucher vor Schädigungen und damit Ge-genstand der Verkehrssicherungspflicht des Veranstal-ters sein.

1. Rechtliche Herleitung einer solchen Überprüfungs-pflichtEntgegen der Ansicht der Revision kann der erkennendeSenat allerdings nicht unterstellen, der Bekl. habe seineVerkehrssicherungspflicht verletzt. Das ist zwar eineRechtsfrage, die an sich der Beurteilung des RevGer.unterliegt. Hierfür ist jedoch in Ermangelung tatsäch-licher Feststellungen revisionsrechtlich zu Gunsten derRevision zu unterstellen, dass die DIN 15 905 Teil 5auf ein Konzert in einem Zelt anwendbar ist. Der Um-fang der Verkehrssicherungspflicht wird freilich nichtallein durch DIN-Normen bestimmt. Wie jeder, der eineGefahrenquelle für andere eröffnet, hat auch der Ver-anstalter einer Musikdarbietung grundsätzlich selbst-ständig zu prüfen, ob und welche Sicherungsmaßnah-men zur Vermeidung von Schädigungen der Zuhörernotwendig sind; er hat die erforderlichen Maßnahmeneigenverantwortlich zu treffen, auch wenn gesetzliche

(vgl. Senat, NJW 1987, 372 = LM § 823 [Db] BGBNr. 22 = VersR 1987, 102 [103]) oder andere Anord-nungen, Unfallverhütungsvorschriften (vgl. Senat,VersR 1975, 812 [813]) oder technische Regeln wieDINNormen (vgl. BGHZ 103, 338 [342] = NJW 1988,2667 = LM § 823 [Dc] BGB Nr. 165) seine Sorgfalts-pflichten durch Bestimmungen über Sicherheitsmaßnah-men konkretisieren.Solche Bestimmungen enthalten im Allgemeinen keineabschließenden Verhaltensanforderungen gegenüber denSchutzgütern. Sie können aber regelmäßig zur Feststel-lung von Inha l t und Umfang bes tehenderVerkehrssicherungspflichten herangezogen werden. Dasgilt insbesondere auch für die auf freiwillige Beachtungausgerichteten Empfehlungen in DIN-Normen desDeutschen Instituts für Normung e. V. Diese spiegelnden Stand der für die betreffenden Kreise geltendenanerkannten Regeln der Technik wieder und sind somitzur Bestimmung des nach der Verkehrsauffassung zurSicherheit Gebotenen in besonderer Weise geeignet(vgl. BGHZ 103, 338 [342] = NJW 1988, 2667 = LM§ 823 [Dc] BGB Nr. 165; Senat, NJW 1997, 582 =LM § 823 [Dc] BGB Nr. 204 = VersR 1997, 249[250]).Davon ist auch im vorliegenden Fall auszugehen. DieDIN 15 905 Teil 5 betrifft nach ihrem Untertitel "Maß-nahmen zum Vermeiden einer Gehörgefährdung desPublikums durch hohe Schalldruckpegel bei Lautspre-cherwiedergabe". Sie beinhaltet nicht nur, wie das Ber-Ger. meint, eine Dokumentationspflicht. Ihre weiterenRegelungen könnten vielmehr - worauf die Revisionzutreffend hinweist - dahin zu verstehen. sein, dass dieMessung des Beurteilungspegels den Veranstalter in dieLage versetzen solle, die "zum Vermeiden einer Gehör-gefährdung entsprechenden Maßnahmen zu ergreifen”(Nr. 4.5 III der DIN 15 905 Teil 5). Diese DIN-Normkönnte sich damit als eine technische Regel erweisen,die eine (auch fortlaufende, vgl. Nrn. 2, 3) Messung desBeurteilungspegels vorsieht, um ein als gesundheitsge-fährdend angesehenes Überschreiten des Grenzwerts fürden Schalldruck (vgl. Nrn. 1 III, 3) möglichst zu ver-meiden (vgl. Nr. 4.5 III). Sie umfasste bei einem sol-chen Verständnis die Pflicht des Musikveranstalters,durch Lärmpegelmessungen in näher bezeichneter Wei-se sowie durch deren Aufzeichnung oder Anzeige einerechtzeitige Herabsetzung des Schalldruckpegels zuermöglichen und so das in seiner Macht Stehende zumSchutz der Konzertbesucher vor Gehörschäden durchÜberschreiten des Grenzwerts für den Beurteilungspe-gel wahrzunehmen. In diesem Fall wäre der Bekl. seinerVerkehrssicherungspflicht nicht nachgekommen, wenner nur gelegentliche Messungen mit einem Handmess-gerät statt in der von der technischen Regel vorgesehe-nen Weise hat durchfuhren lassen.

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2. Vorgaben für das BerGer.Das BerGer. wird deshalb mit sachverständiger Unter-stützung zu klären haben, welchem Zweck die in derDIN-Norm vorgesehene Messpflicht dient und ob siebei einem Konzert in einem Zelt - wie im vorliegendenFall - zu beachten war. Bevor diese Fragen nicht ge-klärt sind, kann nicht beantwortet werden, ob überhauptund gegebenenfalls welche Beweiserleichterungen derGeschädigten dann zugebilligt werden können, wenn dievorgeschriebenen Messungen fehlen und in unmittelba-rem Zusammenhang mit dem Konzertbesuch eine Ge-hörschädigung eingetreten ist. Käme hiernach ein Ver-stoß, des Bekl. gegen eine aus der DIN-Norm abzulei-tende Verkehrssicherungspflicht in Betracht, könnte einBeweis des ersten Anscheins dafür sprechen, dass Schä-digungen in örtlichem und zeitlichem Zusammenhangmit der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durchden Pflichtenverstoß verursacht sind. Dem bekl. Ver-anstalter bliebe die Erschütterung des Anscheinsbewei-

ses vorbehalten; er könnte insbesondere dartun, dass dieSchäden nicht auf die Verletzung der DIN-Norm zurück-zuführen sind (vgl. BGHZ 114, 273 [276] = NJW1991, 2021 = LM § 282 ZPO [Beweislast] Nr. 76).

C. Rechtsfolge für das angegriffene BerufungsurteilNach allem ist das angefochtene Urteil aufzuheben, da-mit das BerGer. die erforderlichen tatsächlichenFeststellungen treffen kann (§§ 564 I, 565 I ZPO).Sollten diese ergeben, dass die DIN 15 905 Teil 5 aufKonzerte in einem Zelt keine Anwendung findet, wirddas BerGer. mit sachverständiger Unterstützung zu prü-fen haben, ob und gegebenenfalls welche Schutzmaß-nahmen der Veranstalter zu treffen hatte, um die Kon-zertbesucher vor Schädigungen durch die dargeboteneMusik zu bewahren. Die Kl. hatte hierzu im Einzelnenvorgetragen und sich unter anderem auf Sachverständi-gengutachten berufen.

Standort: AGB-Prüfung Problem: Prüfungsumfang gem. § 8 AGBG

BGH, URTEIL VOM 09.05.2001IV ZR 138/99 (NJW 2001, 2012)

Problemdarstellung:In diesem Revisionsverfahren hatte der BGH die Fragezu erörtern, unter welchen Voraussetzungen Klauseln inAllgemeinen Geschäftsbedingungen, die (weitgehend)den Wortlaut eines Gesetzes nur wiedergeben, einerInhaltskontrolle gem. §§ 9 - 11 AGBG unterliegen. Imkonkreten Fall ging es um die Allgemeinen Versiche-rungsbedingungen für Lebensversicherungen mit Kapi-talzahlung und ihrem Verhältnis zu §§ 174 ff. VVG.Auch wenn Allgemeine Geschäftsbedingungen nur denGesetzeswortlaut wiedergeben und daher grundsätzlichgem. § 8 AGBG einer Inhaltskontrolle entzogen sind,erkennt der BGH zwei Ausnahmen an. Zum einen isteine Ausnahme dahingehend zu machen, dass die bloßeWiedergabe einer gesetzlichen Regelung in AllgemeinenVersicherungsbedingungen jedenfalls auf ihre Trans-parenz für den durchschnittlichen Vertragspartner hinzu überprüfen ist, sofern über die gesetzliche Regelunghinaus ein nicht zu übergehendes Bedürfnis des Ver-tragspartners nach Unterrichtung besteht. Zum anderensind Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedingungen,die den Wortlaut eines Gesetzes wiedergeben, das derErgänzung bedarf, gem. §§ 8 ff. AGBG kontrollierbar,soweit es um diese Ergänzung durch den Verwendergeht.

Prüfungsrelevanz:Nach § 8 AGBG sind Regelungen in Allgemeinen Ge-

schäftsbedingungen nur dann einer Inhaltskontrollenach den §§ 9-11 AGBG zu unterziehen, wenn sie vonRechtsvorschriften abweichen oder diese ergänzen. Da-nach sind Klauseln, die Rechtsvorschriften nur wieder-geben und in jeder Hinsicht mit ihnen übereinstimmen(sog. deklaratorische Klauseln) der Inhaltskontrolle ent-zogen. Bei solchen Klauseln verbietet sich eine Inhalt-skontrolle schon wegen der Bindung des Richters andas Gesetz; sie liefe auch leer, weil an die Stelle derunwirksamen Klausel gem. § 6 AGBG doch wieder dieinhaltsgleiche gesetzliche Bestimmung treten würde. Vertiefungshinweise:ì Zu § 8 AGBG: BGH, NJW 2001, 2014; OLG Stutt-gart, NVersZ 1999, 366; Präve, VersR 1999, 832;Brömmelmeyer, VuR 1999, 315ì Zum Transparenzgebot bei AGB: BGHZ 141, 137;Fricke, NVersZ 1999, 407; Schwintowski, VuR 2000,124

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Das gebrauchte Cabrio”

Leitsatz:Eine Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen,die den Wortlaut eines Gesetzes wiedergibt, das derErgänzung bedarf, unterliegt insoweit der Kontrollenach den §§ 9 bis 11 AGBG, als zu prüfen ist, obund wie der Verwendet das Gesetz ergänzt hat.

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Sachverhalt: Der Kl. ist ein gemeinnütziger Verbraucherschutzvereinauf dem Gebiet des Versicherungswesens. Die Bekl. isteine deutsche Lebensversicherungsaktiengesellschaft.Die Parteien streiten über die Wirksamkeit bestimmterKlauseln in den von der Bekl. verwandten AllgemeinenVersicherungsbedingungen für die Lebensversicherungmit Kapitalzahlung (ALB). Das LG hat die Klage invollem Umfang abgewiesen (VersR 1998, 1406). DasBerGer. hat der Klage teilweise stattgegeben (NVersZ1999, 366). Auf Grund der Revision des Kl. stehennoch folgende Klauseln zur Prüfung:§ 6. Wann können Sie die Versicherung beitragsfreistellen oder kundigen?(1) Umwandlung in eine beitragsfreie Versicherung. a)Zu beitragspflichtigen Versicherungen können Sie je-derzeit schriftlich verlangen, zum Schluss einer Versi-cherungsperiode von der Beitragszahlungspflicht befreitzu werden. In diesem Fall setzen wir die Versicherungs-summe nach den anerkannten Rege ln derVersicherungsmathematik herab. Der aus Ihrer Versi-cherung für die Bildung der beitragsfreien Versiche-rungssumme zur Verfügung stehende Betrag wird dabeium einen als angemessen angesehenen Abzug gekürzt(§ 174 VVG). Der Abzug beträgt bei Beitragsfreistel-lung bis zum Ende des dritten Versicherungsjahres 5%.Er sinkt mit jedem weiteren Jahr, in dem die Versiche-rung nicht beitragsfrei gestellt wird, um 0,2 %-Punkteund beträgt bei Beitragsfreistellung ab dem neunzehn-ten Versicherungsjahr 2 %.(2) Kündigung und Auszahlung des Rückkaufswerts. a) Sie können ihre Versicherung jederzeit zum Schlusseiner Versicherungsperiode schriftlich kündigen. NachKündigung erhalten Sie - soweit vorhanden - den Rück-kaufswert. Er wird nach den anerkannten Regeln derVersicherungsmathematik für den Schluss der laufen-den Versicherungsperiode als Zeitwert Ihrer Versiche-rung berechnet (§ 176 VVG).b) Ist die Versicherung zum Zeitpunkt der Kündigungbeitragspflichtig, so wird bei der Berechnung des Zeit-werts ein als angemessen angesehener Abzug vorge-nommen (§ 176 VVG). Der Abzug stimmt der Höhenach mit dem Abzug überein, der bei Umwandlung ineine beitragsfreie Versicherung zum selben Zeitpunktangesetzt würde (Nr. 1 lit. a).§ 17. Wie sind Sie an unseren Überschüssen beteiligt?(1) Überschussermittlung. Um zu jedem Zeitpunkt derVersicherungsdauer den vereinbarten Versicherungs-schutz zu gewährleisten, bilden wir Deckungsrückstel-lungen. Die zur Deckung dieser Rückstellungen erfor-derlichen Mittel werden rentabel angelegt.[...](2) Gewinnbeteiligung. a) Die Gewinnbeteiligung neh-men wir nach Grundsätzen vor, die im Einklang mit §81 c VAG stehen.[...]Der Kl. hat im Revisionsverfahren beantragt, der Bekl.

unter Ordnungsgeldandrohung zu untersagen, die obenerwähnten Klauseln bei Abschluss von Kapitallebens-versicherungen zu verwenden oder sich bei Abwicklungbereits abgeschlossener Kapitallebensversicherungsver-trägen auf sie zu berufen. Die Revision hatte im We-sentlichen Erfolg.

Aus den Gründen:

A. § 6 1 lit. a S. 1-3, II lit. a und II lit. b S. 1 ALB.

1. Ausführungen des BerGer.Das BerGer. hat ausgeführt, diese Teile der Klauselseien nicht zu beanstanden. Sie gäben wortgleich jeden-falls inhaltsgleich ohne Sinnentstellung oder Ergänzungden Regelungsgehalt wieder, der sich auch in den er-wähnten und einschlägigen Gesetzen wiederfinde. Zwarwürden damit auch die unbestimmten Rechtsbegriffeder gesetzlichen Fassung zu Allgemeinen Versiche-rungsbedingungen erhoben. Angesichts der Deckungs-gleichheit von Formularwerk und Gesetz sei dies jedochunschädlich. Auch fehlten die Angaben nach den §§ 10und 10a VAG. Doch selbst wenn man Angaben ver-bindlicher Summen für die Beitragsfreistellung undnicht garantierte Angaben über Rückkaufswerte erst imVersicherungsschein nicht genügen lassen wolle"so stel-le die bloße Wiedergabe der gesetzgeberischen Grund-norm im Ansatz nur einen Verstoß gegen aufsichts-rechtliche Gebote dar. Die Nichtbefolgung solcher In-formationspflichten mache die Allgemeinen Versiche-rungsbedingungen nicht unwirksam. Denn bei einerNichtregelung fehle überhaupt der Beurteilungsgegen-stand. Nicht Vorhandenes könne nicht für unwirksamerklärt werden.

2. Ausführungen der RevisionsparteienDie Revision bemängelt, diese Ausführungen des Ber-Ger. ließen unklar, ob eine Transparenzkontrolle wegenvermeintlicher Gesetzeskonformität überhaupt abge-lehnt werde. Klauseln in Allgemeinen Geschäftsbedin-gungen, die das Gesetz wörtlich oder sinngleich wieder-gäben, unterlägen der Transparenzkontrolle, ohne dassinsoweit § 8 AGBG einen Hinderungsgrund enthalte.Im Übrigen ist die Revision im Gegensatz zum BerGer.der Auffassung, dass die Klausel vom Gesetz abweiche.Sie schreibe Schriftlichkeit der Erklärung des Versiche-rungsnehmers vor und in der Klausel sei keine Redevon den Rechnungsgrundlagen der Prämienkalkulation,wie dies in § 174 II VVG erwähnt sei.Die Revisionserwiderung versteht die Ausführungendes BerGer. dahin, dass die vom Kl. beanstandeteKlausel kontrollfrei sei. Dies hält die Revisionserwide-rung auch für richtig, weil die Klausel nur das Gesetzwiedergebe.

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3. Entscheidung des BGH

a. Zulässigkeit einer Inhaltskontrolle der ALB gem. §8 AGBGDas BerGer. dürfte davon ausgegangen sein, dass dieKlausel in den eingangs erwähnten Teilen nach demAGB-Gesetz kontrolliert werden darf. Jedenfalls unter-liegt § 6 I lit. a S. 1-3, II lit. a und II lit. b S. 1 ALB derKontrolle nach den §§ 9-11 AGBG. Richtig ist der Hin-weis der Revision, dass diese Klauselteile das Gesetznicht genau dem Wortlaut nach wiederholen. Darinliegt aber nicht der Kern des Problems, weshalb es aufdie aufgezeigten Abweichungen hier nicht ankommtNach § 8 AGBG sind Regelungen in Allgemeinen Ge-schäftsbedingungen nur dann einer Inhaltskontrollenach den §§ 9-11 AGBG zu unterziehen, wenn sie vonRechtsvorschriften abweichen oder diese ergänzen. Da-nach sind Klauseln, die Rechtsvorschriften nur wieder-geben und in jeder Hinsicht mit ihnen übereinstimmen(sog. deklaratorische Klauseln) der Inhaltskontrolle ent-zogen. Bei solchen Klauseln verbietet sich eine Inhalt-skontrolle schon wegen der Bindung des Richters andas Gesetz; sie liefe auch leer, weil an die Stelle derunwirksamen Klausel gem. § 6 AGBG doch wieder dieinhaltsgleiche gesetzliche Bestimmung treten würde(BGHZ 91, 55 [57] = NJW 1984, 2161 = LM § 8AGBG Nr. 4 m. w. Nachw.). Allerdings ist fraglich, obdie bloße Wiedergabe einer gesetzlichen Regelung inAllgemeinen Versicherungsbedingungen in den Fällenjedenfalls auf ihre Transparenz für den durchschnitt-lichen Versicherungsnehmer hin zu prüfen ist, in denenüber die gesetzliche Regelung hinaus ein nicht zu über-gehendes Bedürfnis des Versicherungsnehmers nachweiterer Unterrichtung besteht (vgl. Brandner, in: Ul-mer/Brandner/Hensen, AGBG, 9.Aufl., § 8 Rdnr. 32a). Diese Frage ist im vorliegenden Fall zu bejahen.Die mit der Klausel wiedergegebenen Inhalte der §§176 III 1, 174 II VVG stellen nur einen Rahmen dar,innerhalb dessen sich die Berechnung halten muss. DasSystem zur Ermittlung der Rückkaufswerte ist zwardurch anerkannte Regeln der Versicherungsmathematikvorgegeben, enthält aber doch Spielräume, die durchgeschäftspolitische Entscheidungen des jeweiligen Un-ternehmens ausgefüllt werden (vgl. Reimer Schmidt, in:Prölss, VAG, 11. Aufl., § 10 a Rdnr. 24). Diese Ent-scheidungen haben auch bei Anwendung der anerkann-ten Regeln der Versicherungsmathematik bei der Be-rechnung des Rückkaufswerts unmittelbaren Einflussauf dessen Höhe, so dass unterschiedliche Rückkaufs-werte das Ergebnis sein können. Außerdem besagen die§§ 174 II, 176 III VVG nichts darüber, ob der Versi-cherer gehalten ist, die Höhe der Rückkaufswerte beiVertragsschluss mit dem Versicherungsnehmer zu ver-einbaren oder ob sich der Versicherer diese Leistung imFalle der Kündigung des Vertrags im Rahmen der aner-

kannten Regeln selbst zu bestimmen vorbehalten darf.Insofern bedarf die gesetzliche Regelung der Ergän-zung, der Ausfüllung durch den Versicherer. Der Kon-trolle, ob und wie der Versicherer die Ergänzung in sei-nen Allgemeinen Versicherungsbedingungen vorgenom-men hat, steht § 8 AGBG nicht entgegen. Mit einer sol-chen Kontrolle wird das Gesetz selbst keiner Überprü-fung unterzogen. Der Zweck des § 8 AGBG, zu verhin-dern, dass gesetzliche Regelungen durch die gericht-liche Kontrolle modifiziert werden (vgl. BT-DR7/3919, S. 22), bleibt unberührt. Die Bekl. hat aucherkannt, dass die gesetzliche Regelung der Ergänzungbedarf. Mit ihren Erklärungen in ihrem Versicherungs-schein unter der Überschrif t "BeitragsfreieVersicherungssumme und Rückkaufswert" und dernachfolgenden Tabelle ist sie bemüht, dem Versiche-rungsnehmer über die in §§ 174 II und 176 III VVGgegebene Anweisung zur Berechung des Zeitwerts nachden anerkannten Regeln der Versicherungsmathematikhinaus weitere und konkretere Informationen über denRückkaufswert zu geben.

b. Überprüfung der fraglichen ALB auf ihre Trans-parenzMit den Angaben allein im Versicherungsschein ist esder Bekl. nicht gelungen, der Forderung nach hinrei-chender Transparenz Allgemeiner Versicherungsbedin-gungen zu genügen. In dem Verstoß gegen das Trans-parenzgebot liegt eine unangemessene Benachteiligungdes Versicherungsnehmers i. S. von § 9 AGBG, so dass§ 6 I lit. a S. 1-3, II lit. a und II lit. b S. 1 ALB wegenunzureichender Ergänzung der gesetzlichen Vorschrif-ten unwirksam ist. Nach dem Transparenzgebot ist derVerwender Allgemeiner Versicherungsbedingungen ent-sprechend den Grundsätzen von Treu und Glauben ge-halten, Rechte und Pflichten seines Vertragspartnersmöglichst klar und durchschaubar darzustellen. Dabeikommt es nicht nur darauf an, dass die Klausel in ihrerFormulierung für den durchschnittlichen Versiche-rungsnehmer verständlich ist. Vielmehr gebieten Treuund Glauben auch, dass die Klausel die wirtschaftli-chen Nachteile und Belastungen so weit erkennen lässt,wie dies nach den Umständen gefordert werden kann(BGHZ 141, 137 [143] = NJW 1999, 2279 = NVersZ1999, 360 = LM H. 9/1999 § 8 AGBG Nr. 34 m. w.Nachw.). Diesen Anforderungen entspricht § 6 I lit. aS. 1-3, II lit. a und II lit. b S. 1 ALB nicht.

aa. Keine Vergleichsmöglichkeit des Versicherungs-kunden mangels TransparenzDie kapitalbildende Lebensversicherung steht zumin-dest teilweise im Wettbewerb mit Angeboten über ande-re Kapitalanlagen. Der potenzielle Kunde ist deshalbauf Informationen angewiesen, die ihm für seine Ent-scheidung bei Vertragsschluss einen Vergleich der un-

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terschiedlichen Angebote - auch von anderen Versiche-rungsunternehmen - erlauben. Diesem berechtigten In-formationsbedürfnis kommen die Allgemeinen Versi-cherungsbedingungen der Bekl. mit § 6 ALB nicht inausreichendem Maße nach.

bb. Keine Transparenz hinsichtlich der Ermittlung desZeitwerts / Rückkaufwertes Nach § 176 III VVG hat der Versicherer bei der Er-mittlung des Zeitwerts, der dem Rückkaufswert gleich-stellt, für den Fall der Kündigung anerkannte Regelnder Versicherungsmathematik zu Grunde zu legen.Auch wenn diese dem Versicherer einen Spielraum ge-währen, braucht er dem potenziellen Versicherungsneh-mer aber nicht im Einzelnen mitzuteilen, welche Metho-de er zur Ermittlung des Zeitwerts anwendet, wenn er -wie hier - das Ergebnis der Berechnung in Form einerTabelle der Rückkaufswerte darstellt. Dem am Ab-schluss eines Vertrags Interessierten wäre mit einer sol-chen Mitteilung auch nur in sehr begrenzter Weise ge-dient. Er selbst dürfte kaum in der Lage sein, aufGrund der Bekanntgabe einer Berechnungsmethode denRückkaufswert zu berechnen. Er müsste sich der HilfeDritter bedienen, ein Umstand der seinem Informations-bedürfnis bei Vertragsschluss nur entspricht. Sein In-teresse geht dahin, möglichst schnell und übersichtlichüber den Zeitwert unterrichtet zu werden, damit er prü-fen kann, ob diese Art des Vertrags seinem Interesseauch für den Fall entspricht, dass er vor dem vorgese-henen Vertragsende Prämienzahlungen vermindern, ein-stellen oder das eingezahlte Kapital wieder ausgezahlterhalten möchte, soweit es nicht für die Deckung derRisikolebensversicherung verwandt wurde. Eine klareÜbersicht über die Rückkaufswerte kommt auch demje-nigen entgegen, der das Angebot eines Versicherungs-unternehmens mit anderen oder mit Angeboten andererKapitalanlagen vergleichen möchte. Insbesondere hatder Versicherungsnehmer mit der Tabelle eine Entschei-dungshilfe, der bei Veränderung seiner, Verhältnissevor der Frage steht, ob er den Lebensversicherungsver-trag dennoch unverändert lassen oder ihn beitragsfreistellen oder den Rückkaufswert, soweit vorhanden, sichauszahlen lassen möchte. Der Nachteil, dass die anteili-ge Überschussbeteiligung wegen ihrer nicht zuprognostizierenden Höhe nicht garantiert werden kann,muss als unbehebbar in Kauf genommen werden.Die Tabelle der Bekl. ist aber nicht in vollem Umfanggeeignet, dem Versicherungsnehmer die wirtschaftli-chen Nachteile vor Augen zu führen, die er im Falleeiner Kündigung oder Beitragsfreistellung hinnehmenmuss. Wie sich aus § 15 ALB ergibt, belastet die Bekl.das Konto des Versicherungsnehmers sofort bei Ver-tragsschluss mit sämtlichen Abschlusskosten. Dazugehören auch die gegebenenfalls erheblichen Vermitt-lungsprovisionen. Die Bekl. erstattet diese Beträge im

Falle der Kündigung auch nicht anteilig der abgelaufe-nen Zeit. Dies hat zur Folge, dass der Versicherungs-nehmer bei einer Kündigung innerhalb der ersten zweiJahre überhaupt keine oder nur eine sehr geringe Lei-stung der Bekl. erhält. Das geht aus der Tabelle, dieBestandteil des Versicherungsscheins ist, nicht mit dererforderlichen Deutlichkeit hervor. Sie weist zu Beginnkeinen Rückkaufswert mit Null auf. Es reicht nicht aus,wenn der Versicherungsnehmer dies selber erst durcheinen Vergleich mit den in der Tabelle angeführten Da-ten der Laufzeit und dem Abschlussdatum ermittelnmuss. Dasselbe gilt für die beitragsfreie Versicherungs-summe, die ebenfalls in der Tabelle aufgeführt ist.Hinreichend transparent ist die Tabelle der Bekl. auchinsoweit nicht, als sie insgesamt nur sieben Werte beieiner Laufzeit von 30 Jahren aufführt. Der Zusatz: "DieWerte für die nicht genannten Jahre errechnen sich nachversicherungsmathematischen Grundsätzen. Sie erhöh-ten sich nicht linear" gibt dem Versicherungsnehmer imBedarfsfall keine ausreichende Kenntnis über seine An-sprüche. Der angestrebten Transparenz widerspricht eszudem, wenn auf die Tabelle in den Allgemeinen Versi-cherungsbedingungen nicht an der Stelle verwiesenwird, an der ein Versicherungsnehmer Informationenüber den Rückkaufswert und die beitragsfreie Versiche-rungssumme erwartet, wie hier bei § 6 ALB. Außerdemmuss schon an dieser Stelle der AllgemeinenVersicherungsbedingungen in den Grundsätzen auf diewirtschaftlichen Nachteile des Versicherungsnehmershingewiesen werden, die ihm dadurch entstehen, dassdie Bekl. seinem Konto sämtliche Abschlusskosten ein-schließlich der erheblichen Vermittlungsprovisionenschon bei Beginn der Vertragslaufzeit belastet.

B. § 6 I lit. a S. 4 und II lit. b S. 2. Mit diesen Klauselteilen füllt die Bekl. die gesetzlicheRegelung der §§ 174 IV und 176 IV VVG aus, wonachder Versicherer bei Umwandlung in eine prämienfreieVersicherung und bei Kündigung zu einem Abzug be-rechtigt ist, wenn dieser vereinbart und angemessen ist.Es handelt sich also nicht um die bloße Wiedergabeeiner gesetzlichen Regelung. Damit unterliegen dieseKlauselteile der Inhaltskontrolle nach dem AGB-Ge-setz.Das BerGer. hat diese Klauselteile als hinreichendtransparent angesehen und ausgeführt, der Kl. habeauch keine nachvollziehbaren Bedenken gegen die Höhedes Abzugs erhoben. Dem ist grundsätzlich beizutreten.Indessen haben diese Klauselteile ohne den übrigenWortlaut des § 6 ALB keinen Bestand. Ein durch-schnittlicher Versicherungsnehmer kann die Regelungüber den Abzug von einem Rückkaufswert oder einerbeitragsfreien Versicherungssumme nicht verstehen,wenn ihm die Regelung dieser Ausgangswerte selbstunverständlich ist. Deshalb erfasst die Unwirksamkeit

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des § 6 ALB im Übrigen auch die Teile der Abs. 1 lit. aS. 4 und 2 lit. b S. 2 ALB.

C. § 17 I 1, 2, II lit. a ALB. Das BerGer. sieht diese Klauselteile wegen der Sperr-wirkung des § 8 AGBG der gerichtlichen Kontrolle als

entzogen an. Ob dies richtig ist, mag dahinstehen. Dennjedenfalls benachteiligt § 17 ALB in diesen Teilen denVersicherungsnehmer nicht unangemessen, so dass esbei dem Ergebnis des BerGer., das die Verwendungdieser Klauselteile nicht untersagt hat, verbleibt.

Standort: ZPO Problem: Zueigenmachen fremder Tatsachenbehauptungen

BGH, URTEIL VOM 03.04.2001VI ZR 203/00 (NJW 2001, 2177)

Problemdarstellung:In diesem Revisionsverfahren musste der BGH die Fra-ge klären, welche Tatsachen von einer Partei im Pro-zess vorgetragen worden sind und daher vom Gerichtgem. § 286 ZPO zu würdigen waren. Der BGH stelltdabei fest, dass das BerGer. verfahrensfehlerhaft denihm zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt nichtausgeschöpft hat. Denn es hat den in der Rechtspre-chung anerkannten Grundsatz außer Acht gelassen,dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zuTage tretenden Umstände jedenfalls hilfsweise zu Eigenmacht, wenn sie ihre eigene Rechtsposition zu stützengeeignet sind.

Prüfungsrelevanz:Im Zivilprozessrecht herrscht der sog. Verhandlungs-grundsatz (Gegenstück zum Amtsermittlungsgrund-satz). Danach bestimmen die Parteien, welche Tatsa-chen sie dem Gericht im Rechtsstreit zur Entscheidungunterbreiten und welche Tatsachen beweisbedürftigsind. Das Gericht wird von sich aus nicht tätig, sondernkann nur über diejenigen Tatsachen und Beweismittelbefinden, die ihm durch die Parteien zukommen. Des-halb besteht für die Parteien die Verpflichtung, sichüber alle entscheidungsrelevanten Tatsachen wahrheits-gemäß zu äußern (§ 138 ZPO).

Vertiefungshinweis:ì Zur Beweiswürdigung bei hilfsweisem Zueigenma-chen: BGH, NVersZ 1998, 31

Kursprogramm:ì Assessorkurs: “Ein Hundeleben”

Leitsatz:Es entspricht einem allgemeinen Grundsatz, dasssich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zu Ta-ge tretenden Umstände jedenfalls hilfsweise zu Eigenmacht, soweit sie ihre Rechtsposition zu stützen ge-

eignet sind. Das Gericht hat auch diesen Vorrag derPartei bei der Beweiswürdigung zu berücksichtigen.

Sachverhalt: Der Kl. begehrt Schadensersatz wegen der Folgen einertätlichen Auseinandersetzung am 14. 2. 1993. AmAbend dieses Tages trafen die Parteien in dem Lokal"K" in B. zusammen. Nach einem Gerangel des Kl. mitdem gleichfalls anwesenden A kam es später zu Tätlich-keiten zwischen dem Kl. und anderen Personen, in de-ren Folge der Kl. am linken Auge schwer verletzt wor-den ist und dessen Sehfähigkeit weit gehend eingebüßthat. Er macht dafür neben der früheren Erstbekl., derZeugin L, den Bekl. verantwortlich.Das LG hat die Klage abgewiesen. Das KG hat dieBerufung des Kl. zurückgewiesen. Auf die Revision desKl. hat der erkennende Senat diese Entscheidung mitUrteil vom 23. 3. 1999 (NJW 1999, 2895 = LM H.1/2000 § 823 [Bej BGB Nr. 48 = VersR 1999, 1375)aufgehoben und die Sache an das BerGer. zurückver-wiesen. Dieses hat nach weiterer Beweisaufnahme er-neut die Berufung zurückgewiesen.Die Revision des Kl. hatte Erfolg und führte zur Auf-hebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.Das BerGer. hat ausgeführt, es könne sich auch nacherneuter Vernehmung des Zeugen W nicht hinreichendsicher überzeugen, dass die Verletzungen des Kl. durcheine Handlung des Bekl. herbeigeführt worden seien.Der Zeuge habe Faustschläge geschildert, aber einenSchlag mit einem Barhocker und Tritte gegen den amBoden liegenden Kl. - wie von diesem vorgetragen -nicht bestätigt. Auch nach der erneuten Beweisaufnah-me sei nicht hinreichend sicher auszuschließen, dass dieVerletzungen dem Kl. von einem Dritten zugefügt wor-den seien. Die Voraussetzungen des § 823 II BGB i. V.mit § 227 StGB a. F. habe der Kl. nicht bewiesen. EineSchlägerei i. S. dieser Strafbestimmung liege dann vor,wenn an einer Auseinandersetzung mehr als zwei Per-sonen mitgewirkt hätten. Das aber habe die Beweisauf-nahme nicht ergeben. Von einer Beteiligung des ZeugenA könne sich das Gericht so wenig überzeugen wie da-

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von, dass der Bekl. und L gegen den Kl. vorgegangenseien. Die Aussage des Zeugen W, sowohl der Bekl.wie auch L hätten mit Fäusten auf den Kl. eingeschla-gen, begegne Bedenken schon wegen des langen Zeit-raumes zwischen dem Vorfall und der Aussage. Ent-scheidend sei aber, dass der Kl. selbst eine Schlägereimit Fäusten nie behauptet habe. Auch die Aussage derZeugin B, dass "alle aufeinander" gewesen seien und"alle mit Queues aufeinander eingeschlagen" hätten,trage eine Entscheidung wegen der von ihr eingeräum-ten, durch einen Unfall im Oktober 1994 verursachtenGedächtnislücken nicht.

B. Entscheidung des BGHDas hält den Angriffen der Revision nicht stand.

I. Verstoß gegen § 286 ZPOMit Erfolg beanstandet die Revision einen Verstoß ge-gen § 286 ZPO.

1. Beweiswürdigung durch das BerGer.Das BerGer. meint nach Ergänzung der Beweisaufnah-me, die objektiven Voraussetzungen des § 227 a StGBa. F. seien nicht festzustellen, weil der hierfür erforder-liche Angriff von zwei Personen gegen den Kl. nichterwiesen sei. Dieser Beurteilung legt es zu Grunde,dass nach der Aussage des Zeugen W der Bekl. und Lmit Fäusten auf den Kl. eingeschlagen hätten. Es meintaber darauf könne eine dem Kl. günstige Entscheidungnicht gestützt werden, weil nicht einmal der Kl. selbsteine solche Schlägerei mit Fäusten vorgetragen habe.

2. Missachtung eines hilfweise Zu-Eigen-MachensDas BerGer. schöpft damit verfahrensfehlerhaft denihm zur Entscheidung unterbreiteten Sachverhalt nichtaus (§ 286 ZPO) und lässt außerdem den in der Recht-sprechung des BGH anerkannten Grundsatz außerAcht, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnah-me zu Tage tretenden Umstände jedenfalls hilfsweise zuEigen macht, soweit sie ihre Rechtsposition zu stützengeeignet sind (§ 286 ZPO; vgl. Senat, NJW 1991, 1541= LM § 823 [Aa] BGB Nr. 126 VersR 1991, 467[468]).Mit Recht macht die Revision geltend, dass der Kl.schon in der Berufungsbegründung das Ergebnis derBeweisaufnahme erster Instanz dahin gewürdigt habe,es sei zwischen ihm, dem Bekl. und L zu einer Schläge-rei gekommen, in deren Folge er die schweren Verlet-zungen davongetragen habe. Dabei hatte er sich aus-drücklich die Schilderung des Zeugen W zu eigen ge-macht, die Parteien - nämlich er selbst und die beidendamaligen Bekl. - hätten sich "gegenseitig aufs Maul"gehauen und dabei sei auch ein "Queue mit im Spiel"gewesen; nach der Erinnerung des Zeugen W seien nurdiese drei Personen in die Schlägerei verwickelt gewe-

sen, was auch den protokollierten Angaben entsprach.Diesen Vortrag des Kl. hätte das BerGer. mithin beiseiner Würdigung der Aussage des Zeugen W zu Grun-de legen müssen, der nämlich bei seiner wiederholtenVernehmung vor dem BerGer. bestätigt hat, dass dieParteien und L eine Auseinandersetzung gehabt hättenund eine richtige Keilerei stattgefunden habe, bei derdiese Personen "mittendrin" gewesen seien und zuge-hauen hätten. Entgegen der Auffassung des BerGer.stand also der Vortrag des Kl. nicht im Widerspruch zuder Schilderung des Zeugen W.Die Ausführungen des BerGer. lassen deutlich erken-nen, dass es die Aussage des Zeugen W vor allem des-halb nicht zu Gunsten des Kl. gewürdigt hat, weil esirrig davon ausging, dass der Kl. einen derartigen Her-gang nicht behauptet habe. Deshalb ist auch bei Berück-sichtigung der Bedenken wegen des Zeitablaufs nichtauszuschließen, dass das BerGer. bei zutreffendem Ver-ständnis des Klägervortrags die Zeugenaussage andersgewürdigt hätte, zumal sie inhaltlich im Wesentlichender Aussage der Zeugin B entsprach. Bei dieser Sach-lage wird das BerGer. die Zeugenaussagen erneut zuwürdigen haben.

II. Mitverschulden oder Schuldlosigkeit des Bekl. ander SchlägereiDas Urteil hat auch nicht aus anderen Gründen Bestand(§ 563 ZPO). Der Vortrag des Kl. war schlüssig undgeeignet, die objektiven Voraussetzungen einer Schläge-rei i. S. der § 823 II BGB i. V. mit § 227 StGB a. F. zubegründen. Insoweit wird auf die Ausführungen in demersten Urteil des Senats vom 23. 3. 1999 (NJW 1999,2895 = LM H. 1/2000 § 823 [Be] BGB Nr. 48 =VersR 1999, 1375) verwiesen.Dass der Bekl. in die Schlägerei ohne sein Verschuldenhineingezogen worden wäre (§ 227 StGB a. F.), istnicht festgestellt. Dies stünde - worauf der erkennendeSenat bereits hingewiesen hat - zur Beweislast desBekl. Solange derartige Feststellungen aber nicht ge-troffen werden, ist es - anders als das BerGer. zu mei-nen scheint - aus Rechtsgründen allenfalls im Rahmeneiner Abwägung der Mitverursachungsanteile (vgl. §254 I BGB) erheblich, wenn der Kl. zu Beginn der Aus-einandersetzungen aggressiv auf den Bekl. und L zuge-rannt sein sollte.Auch die Voraussetzungen für eine "reine Schutzwehr"(vgl. BGHSt 15, 369 [370f.] = NJW 1961, 839) seitensdes Bekl. hat das BerGer. nicht festgestellt. Der Kl.hatte dagegen vorgetragen, dass der Bekl. unmittelbaran der Auseinandersetzung beteiligt gewesen sei, undsich hierzu auf die Aussagen der Zeugen W und B be-zogen.

C. Ergebnis der RevisionEine abschließende Sachentscheidung (§ 565 III ZPO)

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RA 2001, HEFT 8ZIVILRECHT

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ist dem Senat mangels hinreichender Feststellungen desBerGer. nicht möglich. Das Berufungsurteil ist deshalbaufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung

und Entscheidung an das BerGer. zurückzuverweisen(§§ 564, 565 I 1 ZPO). Dabei macht der Senat von derMöglichkeit des § 565 I 2 ZPO Gebrauch.

Standort: Schenkung Problem: Rückgabe wegen Verarmung des Schenkers

BGH, URTEIL VOM 25.04.2001X ZR 229/99 (NJW 2001 2084)

Problemdarstellung:Mit dieser Entscheidung hat der BGH ein für die Praxisder Alten- und Krankenpflege wichtiges Urteil getrof-fen. Die Kl., Betreiberin eines Altenkrankenhauses, hat-te über Jahre hinweg den Vater der Bekl. gepflegt, ob-wohl dieser die finanziellen Mitteln für eine solcheKrankenpflege nicht aufbringen konnte. Den größtenTeil seines Vermögens hatte er nämlich zuvor seinerbekl. Tochter geschenkt. Nach dem Tod des Vaters tratder eingesetzte Nachlasspfleger den Rückgabeanspruchwegen Verarmung des Schenkers (§ 528 BGB) gegendie Tochter an die Kl. ab.Der BGH hatte in dieser Entscheidung zu klären, obund unter welchen Voraussetzungen der Rückzahlungs-anspruch aus § 528 BGB auch nach dem Tod desSchenkers geltend gemacht werden kann. Der BGH er-kennt in § 528 BGB keinen höchstpersönlichen An-spruch, so dass auch keine Beschränkung seiner Über-tragbarkeit abgeleitet werden kann. Jedoch ist die Frei-heit des Schenkers zu beachten, ob er den - unabhängigvon seinem Willen entstandenen - Rückforderungsan-spruch geltend machen will oder nicht. Ist der Schenkernicht in der Lage, sich mit einem geringeren, ohne In-anspruchnahme des Beschenkten mit den ihm verbliebe-nen Mitteln bestreitbaren Unterhalt zufrieden zu geben,weil er krank oder pflegebedürftig ist und auf die In-anspruchnahme der entgeltlichen Leistungen Dritter zuseiner Behandlung oder Pflege nicht verzichten kann, istseine Entscheidung über die Rückforderung des Ge-schenks vorgezeichnet. Indem er diese Leistungen inAnspruch nimmt, bringt er vielmehr konkludent zumAusdruck, dass er der Rückforderung des Geschenksfür seinen Lebensunterhalt bedarf.

Prüfungsrelevanz:Der BGH beschäftigt sich in diesem Fall mit Rechts-natur, Entstehung und Übertragbarkeit des Rückforde-rungsanspruchs des Schenkers wegen Verarmung. Da-bei macht er deutlich, dass es sich zwar nicht um einenhöchstpersönlichen, aber zweckgebundenen Anspruchhandelt. Die Rückforderung soll den Schenker in dieLage versetzen, seine Notlage zu kompensieren. Des-halb sind Gesichtspunkte der Zweckerreichung bzw.

des Zweckentfalls für die Übertragbarkeit des An-spruchs von entscheidender Bedeutung.

Vertiefungshinweise:ì Besprechung dieser Entscheidung: Neuner, LM H.9/2001 § 528 BGB Nr. 15ì Ausschluss der Bedürftigkeitseinrede gem. § 529 IIBGB: BGH, RA 2001, 339 = NJW 2001, 1207ì Rückübertragung der Schenkung: OLG Hamm,NJW-RR 2000, 1611; OLG Celle, NJW-RR 1999, 197

Leitsätze:Der Anspruch des Schenkers nach § 528 I 1 BGBauf Herausgabe des Geschenks erlischt nicht mitdessen Tod, sofern er bereits vom Schenker geltendgemacht oder abgetreten worden ist. Das Gleichegilt, wenn der Schenker durch die Inanspruchnahmeunterhaltssichernder Leistungen Dritter zu erkennengegeben hat, dass er ohne die Rückforderung desGeschenks nicht in der Lage war, seinen notwendi-gen Unterhalt Zu bestreiten.

Sachverhalt: Die Bekl. ist eine Tochter des am 30. 4. 1994 verstor-benen A, der vom 1. 12. 1992 bis zu seinem Tod imAltenkrankenhaus der Kl. gepflegt wurde. Da der Vaterder Bekl. zur Bezahlung der Pflege- und Unter-bringungskosten finanziell nicht in der Lage war, be-antragte er am 17. 6. 1992 die Übernahme der Heim-pflegekosten beim zuständigen Sozialhilfeträger. MitBescheid vom 5. 5. 1993 lehnte der Sozialhilfeträger esab, dem Vater der Bekl. Sozialhilfe zu gewähren, undberief sich hierbei unter anderem darauf, dass dieser1989 bzw. 1990 je 17 000 DM an seine beiden Töchterund weitere 6000 DM an eine Enkelin geschenkt habe.Ein gegen diese Entscheidung eingelegter Widerspruchblieb ohne Erfolg. Nach dem Tod des Vaters standennoch Pflege- und Unterbringungskosten in Höhe von 44720,32 DM offen. Nachdem alle bekannten gesetzli-chen Erben das Erbe ausgeschlagen hatten, wurde einNachlasspfleger für die unbekannten Erben bestellt, deram 2. 12. 1997 die Ansprüche des Nachlasses gegendie Bekl und ihre Schwester aus § 528 BGB in Höhevon je 17 000 DM an die Kl. abtrat.Das LG hat die Bekl. zur Zahlung von 17 000 DMnebst Zinsen verurteilt. Das OLG hat die hiergegen ge-

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richtete Berufung der Bekl. zurückgewiesen. Die Revi-sion hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

A. Entscheidung und Begründung des BerGer.

I. Vorliegen der Voraussetzungen zur Rückforderungdes Geschenkten gem. § 528 I BGBDas BerGer. hat angenommen, dass dem Vater derBekl. zu Lebzeiten ein Rückforderungsanspruch nach §528 I 1 BGB gegen die von ihm beschenkte Bekl. zu-gestanden habe. Der Bekl. seien 17.000 DM von ihremVater geschenkt worden. Da der Vater seit 1993 nichtmehr in der Lage gewesen sei, seinen Lebensunterhaltangemessen zu bestreiten, seien objektiv der Notbedarfund der Rückforderungsanspruch gem. § 528 I 1 BGBentstanden. Diese Ausführungen des BerGer. werdenvon der Revision nicht angegriffen und lassen keinenRechtsfehler erkennen.

II. Fortbestehen des Rückforderungsanspruchs nachdem Tod des SchenkersDas BerGer. ist der Ansicht, dass der Rückzahlungs-anspruch nach § 528 I 1 BGB auch nach dem Tode desSchenkers geltend gemacht werden könne, wenn er dazudiene, die vor dem Tod entstandenen Pflegekosten zudecken, der Sozialhilfeträger eine Kostenübernahme mitRücksicht auf die betreffende Schenkung abgelehnt ha-be und der Nachlass sonst keine Vermögenswerte auf-weise. Zur Begründung seiner Auffassung fährt dasBerGer. im Wesentlichen aus: § 528 I 1 BGB werde alsgrundsätzlich höchstpersönlicher Anspruch angesehen.Auf die Höchstpersönlichkeit könne sich der Beschenk-te gegenüber dem Nachlass jedoch nur berufen, wennder Erblasser bewusst seinen Unterhalt so einge-schränkt habe, dass er keine seine tatsächlichen Mittelübersteigende Hilfe Dritter in Anspruch habe nehmenmüssen. Anderenfalls müsse er dem Nachlass das Ge-schenk zum Ausgleich der Pflegekosten überlassen. Eskönne dann auch keine Rolle spielen, ob das Sozialamtnoch zu Lebzeiten die Übernahme der Kosten zugesagthabe oder nicht, da Altenkrankenhäuser, Heime undsonstige Pflegeanstalten ansonsten der Willkür des So-zialhilfeträgers ausgeliefert wären. Arbeiteten die Mit-arbeiter der Sozialbehörde schnell, könne der pflegendeDritte mit rechtzeitigem Ausgleich der Pflegekostenrechnen, ohne dass er die Last der Durchsetzung derAnsprüche gegen Beschenkte tragen müsse Gehe dieÜberprüfung der Ansprüche jedoch schleppend voran,bestünde für den in Vorleistung Getretenen bei Verster-ben des Pfleglings keinerlei Ersatzmöglichkeit. LeereKassen und die Schwierigkeiten bei der Realisierungvon Erstattungsansprüchen gegen Unterhaltspflichtigeund Beschenkte nötigten die Sozialhilfeträger offenbar

dazu, den Nachrang der Sozialhilfe stärker zu beachtenund nicht ohne weiteres in Vorlage zu treten. Diesesrigidere Vorgehen der Sozialhilfebehörde dürfe abernicht dazu führen, dass diejenigen Dritten, die tatsäch-lich die Pflegeleistungen erbrächten und denen § 90BSHG nicht zur Verfügung stehe, letztendlich leer aus-gingen, wenn sie nicht zu Lebzeiten des Pfleglings ihreAnsprüche durchgesetzt hätten. Altenkrankenhäuserwie die Kl. könnten nicht darauf verwiesen werden,dass es ihnen möglich wäre, den wirtschaftlichen Aus-fall dadurch zu verhindern, dass sie rechtzeitig aufGrund des Heimpflegevertrags Bezahlung verlangtenoder das Vertragsverhältnis notfalls beendeten, weshalbes dann keines postmortalen Rückgriffs auf den Be-schenkten mehr bedürfte. Dies zu fordern, hieße diesoziale Wirklichkeit zu verkennen. Häufig werde beiAufnahme auch beiderseits bekannt sein, dass eigenesEinkommen oder Vermögen nicht ausreiche. um dasvereinbarte Entgelt in voller Höhe zu entrichten DasHeim werde vom Staat dennoch sozialstaatlich in diePflicht genommen. Könne der Heimbewohner aus eige-nen Mitteln nicht zahlen, werde der Staat gegebenen-falls Sozialhilfe in Aussicht stellen, um dem Betroffe-nen "das Dach über dem Kopf” zu erhalten; es könnedem Heim aber nicht zugemutet werden, gegenüber demSozialhilfeträger mit einer unter Umständen rechtswid-rigen Entlassung zu drohen, damit alsbald Sozialhilfegewährt und eventuell Regressmöglichkeiten staatli-cherseits durchgesetzt würden.

B. Entscheidung des BGHDas hält der rechtlichen Nachprüfung im Ergebnisstand. Der Anspruch des Schenkers nach § 528 I 1BGB auf Herausgabe des Geschenks erlischt nicht mitdessen Tod, sofern er bereits vom Schenker geltend ge-macht oder abgetreten worden ist oder der Schenker -wie im Streitfall - durch die Inanspruchnahme unter-haltssichernder Leistungen Dritter zu erkennen gegebenhat, dass er ohne die Rückforderung des Geschenksnicht in der Lage war, seinen notwendigen Unterhalt zubestreiten.

I. Zum Zweck und Inhalt des Rückforderungs-anspruchs gem. § 528 BGBIndem er dem Schenker einen Anspruch auf Herausga-be des Geschenks nach den Vorschriften über die He-rausgabe, einer ungerechtfertigten Bereicherung gibt,stellt § 528 I 1 BGB einen Eingriff in den Bestand dervollzogenen Schenkung dar. Die entsprechende Ver-pflichtung zur Herausgabe mutet das Gesetz dem Be-schenkten jedoch ausschließlich zur Behebung einerNotlage des Schenkers zu. § 528 I 1 BGB soll denSchenker in die Lage versetzen, seinen Unterhalt selbstzu bestreiten sowie seine gesetzlichen Unterhaltspflich-ten gegenüber Verwandten und Ehegatten zu erfüllen

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(BGHZ 96, 380 [382] = NJW 1986,1606 = LM § 528BGB Nr. 3; BGHZ 127, 354 [357] = NJW 1995, 323= LM H. 4/1995 § 399 BGB Nr. 35). Damit soll zu-gleich eine Inanspruchnahme der Allgemeinheit für denNotbedarf des Schenkers verhindert werden (BGHZ137, 76 [82] = NJW 1998, 537 = LM H. 5/1998 § 528BGB Nr. 13). Bei dem Rückforderungsanspruch han-delt es sich demgemäß um einen zweckgebundenen An-spruch (vgl. dazu Jauernig/Vollkommer, BGB, 9. Aufl.,§§ 528 f. Rdnr. 2; Kollhosser, ZEV 1995, 391 [392];ders., in: MünchKomm, 3. Aufl., § 528 Rdnr. 8; Wül-lenkemper, JR 1988, 353 [357f.]; Zeranski, Der Rück-forderungsanspruch des verarmten Schenkers, S. 55ff.), weshalb den Gesichtspunkten der Zweckerreichungbzw. des Zweckfortfalls wesentliche Bedeutung bei derBeurteilung der Übertragbarkeit, der Pfändbarkeit undder Vererblichkeit des Anspruchs zukommt.Dagegen ist es nicht gerechtfertigt, wie das BerGer. zuRecht annimmt, aus einer Qualifikation des Anspruchsals eines höchstpersönlichen Folgerungen für denRechtsübergang auf Dritte zu ziehen (BGHZ 127, 354[357] = NJW. 1995, 323 = LM H. 4/1995 § 399 BGBNr. 35). Das Gesetz qualifiziert den Anspruch nicht alshöchstpersönlichen. Es können daher aus einer solchenQualifikation nicht Beschränkungen der Übertragbar-keit abgeleitet werden, deren Bestehen es überhaupt erstrechtfertigen könnte, den Anspruch als höchstpersönli-chen anzusehen (Kollhosser, ZEV 1995, 391 [392];Haarmann, FamRZ 1996, 522 [523]).

II. Entscheidungsfreiheit des Schenkers bei An-spruchserhebung zu beachtenDie Revision hebt jedoch zu Recht hervor, dass grund-sätzlich die Freiheit des Schenkers geschätzt ist, darü-ber zu entscheiden, ob er den Rückforderungsanspruchgeltend machen will oder nicht (BGHZ 127, 354 [356]= NJW 1995, 323 = LM H. 4/1995 § 399 BGB Nr.35), auch wenn die Entstehung des Anspruchs nichtvom Willen des Schenkers abhängt (BGHZ 137, 76[82] = NJW 1998, 537 = LM H. 5/1998 § 528 BGBNr. 13). Wie der Pflichtteilsanspruch und der Anspruchdes Ehegatten auf Ausgleich des Zugewinns ist derRückforderungsanspruch deshalb nach § 852 ZPO derPfändung nur unterworfen, wenn er durch Vertraganerkannt oder rechtshängig geworden ist. Hinsichtlichdes Pflichtteilsanspruchs hat der Gesetzgeber mit Rück-sicht aufdie familiäre Verbundenheit von Erblasser und Pflicht-teilsberechtigtem diesem allein die Entscheidung über-lassen wollen, ob der Anspruch gegen den Erben durch-gesetzt werden soll (vgl. Achilles/Gebhard/Spahn, Pro-tokolle V, S. 526 f.; Hahn/Mugdan, Die gesamten Ma-terialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 8, S. 159;BGHZ 123, 183 [186] = NJW 1993, 5 2876 = LM H.11/1993 § 852 ZPO Nr. 1); Gläubiger sollen diese Ent-

scheidung nicht an sich ziehen können (Motive zumBGB, Bd. V, S. 418). Ihnen ist es untersagt, auf dasden Pflichtteil ausmachende Vermögen, ohne den Wil-len des Berechtigten zuzugreifen, den Wert dieses Ver-mögens zu realisieren; dieses Entscheidungsrecht darfdeshalb auch durch die Anwendung der Gläubigeran-fechtungsvorschriften nicht unterlaufen werden (BGH,NJW 1997, 2384 = LM H. 10/1997 § 1 AnfG Nr. 7).Derselben Regelung hat der Gesetzgeber mit Rücksichtauf die (typischerweise bestehende) persönliche Bezie-hung zwischen Schenker und Beschenktem den An-spruch nach § 528 I BGB unterstellt (Hahn/Mugdan, S.159). Der Schenker kann, auch wenn objektiv die Vor-aussetzungen des § 534 BGB nicht vorliegen, eine sitt-liche Verpflichtung zu der schenkweisen Zuwendungempfunden haben oder er kann sich aus persönlicherVerbundenheit oder anderen Gründen gehindert sehen,den Beschenkten auf Rückgabe, des Geschenks in An-spruch zu nehmen. Der Rückforderungsanspruch ist mitRücksicht hierauf einer Pfändung entzogen; die Motivedes Schenkers unterliegen dabei keiner rechtlichenNachprüfung. Insoweit hängt der Eingriff in den Be-stand der vollzogenen Schenkung - sofern nicht die un-entgeltliche Zuwendung selbst von dem Gläubiger oderdem Insolvenzverwalter angefochten werden kann (§ 4 IAnfG, § 134 I Ins0) - grundsätzlich davon ab, ob sievon dem Schenker gewollt ist oder ob es nach seinemWillen bei dem erfüllten Schenkungsversprechen ver-bleiben soll.Für die Vererblichkeit des Anspruchs kommt es nichtnur darauf an, inwieweit sie mit seiner Zweckbindungvereinbar ist, sondern auch darauf, ob sie mit demSchutz in Einklang zu bringen ist, den das Gesetz derEntscheidungsfreiheit des Schenkers gewährt.

III. Voraussetzungen zur Vererblichkeit des Anspruchsgem. § 528 BGBDer Anspruch aus § 528 BGB kann deshalb dann nochnach dem Tod des Schenkers verfolgt werden, wenn ervor seinem Tod auf einen Träger der Sozialhilfe überge-leitet oder wirksam abgetreten worden ist (BGHZ 96,380 [383] = NJW 1986, 1606 = LM § 528 BGB Nr. 3;BGHZ 127, 354 [357] = NJW 1995, 323 = LM H.4/1995 § 399 BGB Nr. 35). Der Erbe kann den An-spruch aus § 528 BGB auch weiter verfolgen, wenn ernoch vom Schenker geltend gemacht worden und einDritter für den Unterhalt des Schenkers bis zu seinemTod in Vorlage getreten ist (BGHZ 123, 264 [267] =NJW 1994, 256 = LM H. 3/1994 § 528 BGB Nr. 7). Inallen diesen Fällen ist der Anspruch nicht erloschen,weil sein Zweck noch erreichbar ist und der Schenkerdurch die Abtretung oder durch die Geltendmachungseinen Willen bekundet hat, den Beschenkten auf He-rausgabe des Geschenks in Anspruch zu nehmen. Hatder Schenker sich hingegen, indem er sich mit weniger

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als dem angemessenen Unterhalt begnügt und den An-spruch weder selbst geltend gemacht noch abgetretenhat, gegen eine Inanspruchnahme des Beschenktenentschieden, hat es dabei grundsätzlich sein Bewenden(vgl. Erman/Seiler, BGB, 10. Aufl., § 528 Rdnr. 6;Leipold, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 1922 Rdnr. 18;Soergel/Mühl7Teichmann, BGB, 12. Aufl., § 528Rdnr. 8; Staudinger/Cremer, BGB, 13. Bearb. [1995],§ 528 Rdnr. 12; Zeranski, S. 126 ff.).

IV. Unbeachtlichkeit des Schenkerwillen bei gesetzli-chem Forderungsübergang auf den SozialhilfeträgerIn der Rechtsprechung des BGH ist ferner geklärt, dassin Fällen, in denen der Schenker Sozialhilfe in An-spruch genommen hat, der Anspruch aus § 528 BGBauch dann nicht mit dem Tod des Schenkers untergeht,wenn eine Geltendmachung oder Überleitung auf denSozialhilfeträger zu seinen Lebzeiten nicht erfolgt ist(BGH, NJW 1995, 2287 [2288] = LM H. 10/1995 §276 [Fb] BGB Nr. 75). Das ergibt sich allerdings be-reits daraus, dass der Forderungsübergang nach § 90 I4 BSHG nicht dadurch ausgeschlossen ist, dass der An-spruch nicht übertragen, verpfändet oder gepfändetwerden kann.Gegenüber dem Sozialhilfeträger ist demgemäß dieEntscheidungsfreiheit des Schenkers, ob er das Ge-schenk zurückfordern will oder nicht, ohnehin nicht ge-schützt. Der Schenker muss es hinnehmen, dass der So-zialhilfeträger den Beschenkten auch gegen seinen Wil-len in Anspruch nimmt. Solange dem Sozialhilfeträgerdieses Recht zusteht, kann der Anspruch auch durchden Tod des Schenkers nicht untergehen.

V Konkludenter Rückforderungwille des Schenkers beiInanspruchnahme von Hilfeleistungen durch Dritte Für private Dritte, die durch Sachleistungen oder finan-zielle Zuwendungen den Unterhalt des Schenkerssichergestellt haben, gilt diese Privilegierung freilichnicht. Der BGH hat jedoch in der vorgenannten Ent-scheidung bereits darauf hingewiesen, dass es nicht oh-ne Einfluss auf die Vererblichkeit des Anspruchs aus §528 BGB bleiben kann, wenn der Schenker sich geradenicht im Interesse des Beschenkten eingeschränkt undmit einem unangemessen geringen Unterhalt zufriedengegeben, sondern fremde Hilfe in Anspruch genommenhat (BGH, NJW 1995, 2287 [2288] = LM H. 10/1995§ 276 [Fb] BGB Nr. 75). Ist der Schenker, wie imStreitfall der Vater der Bekl., nicht in der Lage, sichmit einem geringeren, ohne Inanspruchnahme des Be-schenkten mit den ihm verbliebenen Mitteln bestreit-baren Unterhalt zufrieden zu geben, weil er krank oderpflegebedürftig ist und auf die Inanspruchnahme derinfolgedessen erforderlichen entgeltlichen LeistungenDritter zu seiner medizinischen Behandlung oder Pflegenicht verzichten kann, ist seine Entscheidung über die

Rückforderung des Geschenks vorgezeichnet. Es stehtdann nicht mehr in seinem Belieben, ob er auf das ihmnoch zur Verfügung stehende Mittel in Gestalt des An-spruch nach § 528 I BGB zurückgreift, das ihm dieEntgeltung dieser Leistungen ermöglicht. Indem er dieseLeistungen in Anspruch nimmt, bringt er vielmehr zumAusdruck, dass er der Rückforderung des Geschenksfür seinen Lebensunterhalt bedarf. Der Schenker ver-hielte sich widersprüchlich, wenn er einerseits die Lei-stungen Dritter zur Sicherstellung seines notwendigenUnterhalts entgegennähme, es andererseits aber ablehn-te, gegenüber dem Beschenkten den Anspruch geltendzu machen, den ihm das Gesetz gerade für den Fall ein-räumt, dass er außer Stande ist, diese Leistungen ander-weitig zu vergüten (vgl. Franzen, FamRZ 1997, 528[534]). Daher ist für die Vererblichkeit des Anspruchsnach § 528 BGB die Inanspruchnahme solcher Leistun-gen Dritter der Bekundung des Willens des Schenkerszur Geltendmachung des Rückforderungsanspruchsjedenfalls gleichzustellen.

VI. Vergleich mit Unterhaltsansprüchen des SchenkersDem entspricht es, dass Unterhaltsansprüche desSchenkers gegenüber dem Rückforderungsanspruchgegen den Beschenkten nachrangig sind (BGH, NJW1991, 1824 = LM H. 49/1991 § 528 BGB Nr. 5).Wenn bereits derjenige, der dem Schenker zum Unter-halt verpflichtet ist, es nicht hinnehmen muss, dass derSchenker davon absieht, das Geschenk zurück-zufordern, so muss dies erst recht für denjenigen gelten,der den Unterhalt des Schenkers sicherstellt, ohne ihmunterhaltspflichtig zu sein. Aus § 1615 I i. V. mit §1613 I BGB folgt zwar, dass Unterhaltsansprüche mitdem Tod des Bedürftigen untergehen, sofern der Ver-pflichtete mit ihnen nicht in Verzug war. Diese in § 528I 3 BGB angeführten Vorschriften sind jedoch nachständiger Rechtsprechung des BGH auf den Rückforde-rungsanspruch nach § 528 I 1 BGB nicht anwendbar(BGHZ 94, 141 [144] = NJW 1985, 2419 = LM § 528BGB Nr. 2; BGHZ 96, 380 [384] = NJW 1986, 1606= LM § 528 BGB Nr. 3). Entscheidend ist, dass der inVorlage tretende Dritte an Stelle des an sich verpflich-teten Beschenkten Leistungen an den Schenker, die des-sen Unterhaltssicherung dienten, erbracht hat, um dieNot des Schenkers abzuwenden. Nach dem Rechtsge-danken des § 843 IV BGB bringt die unterhaltssichern-de Leistung eines Dritten, die nach ihrer Zweckbestim-mung nur dem Schenker, nicht aber dem Beschenktenzugute kommen soll, den einmal entstandenen Rückfor-derungsanspruch aus § 528 I 1 BGB nicht zum Erlö-schen (BGHZ 123, 264 [267] = NJW 1994, 256 = LMH. 3/1994 § 528 BGB Nr. 7; Kollhosser, ZEV 1994,50 [51]; Haarmann, FamRZ 1996, 522 [525]). In Fäl-len, in denen der Schenker zur Behebung seiner Notlagenicht selbst auf den geschenkten Gegenstand zurück-

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gegriffen, sondern Hilfeleistungen Dritter empfangenhat, ist es nach der Zweckbestimmung des § 528 BGBgeboten, dass der Anspruch in Höhe der von dem Drit-ten an den Schenker erbrachten Leistungen den Tod desSchenkers auch ohne die in diesen Fällen typischerwei-se fehlende Leistungsaufforderung überdauert.

VI. Interessengerechte Gleichbehandlung von Sozial-hilfeträger und sonstigen PrivatenSchließlich erscheint es auch interessengerecht, die Fäl-le, in denen ein Privater den Unterhalt des Schenkerssicherstellt und diejenigen, in denen ein Sozialhilfeträ-ger dafür einsteht, in Bezug auf die Vererblichkeit desRückforderungsanspruchs nach § 528 I 1 BGB nichtunterschiedlich zu behandeln. In beiden Fällen hat derSchenker fremde Hilfe in Anspruch genommen, ohnesich im Interesse des Beschenkten einzuschränken bzw.ohne sich im Hinblick auf seine Pflegebedürftigkeit ent-sprechend einschränken zu können. Die Kl. hat freiwil-lig Leistungen zur Deckung des Notbedarfs des verarm-ten Vaters der Bekl. erbracht, wobei diese nicht derBekl. als Beschenkten, sondern nur dem Vater der Bekl.zugute kommen sollten. Ein solches freiwilliges Ein-treten eines Dritten zur Behebung einer Notlage liegt imöffentlichen Interesse und ist von der Rechtsordnunggewünscht, wie etwa in den gesetzlichen Regelungenzum Ausdruck kommt, die einen Rückgriff ermögli-chen, wenn Unterhaltspflichten erfüllt werden, obwohlprimär ein anderer den Unterhalt schuldet (§§ 1607 II2, 1608 S. 3, 1584 S. 3 BGB).Die Rüge der Revision, dass durch nichts belegt sei,dass die Kl., wie vom BerGer. angenommen, vom Staatsozialstaatlich in die Pflicht genommen werde oderworden sei, kann dem Rechtmittel nach alledem nichtzum Erfolg verhelfen. Hierauf kommt es nicht an.

VII. Kein entgegenstehendes schutzwürdiges Vertrau-en des BeschenktenDer Vererblichkeit des Rückforderungsanspruchs nach§ 528 I 1 BGB in dem vom Senat bejahten Umfangsteht schließlich auch nicht entgegen, dass sie mit dem

für den Beschenkten gebotenen Vertrauensschutz nichtzu vereinbaren wäre. Der Rückforderungsanspruch istzu Gunsten des Beschenkten unter Vertrauensschutzge-sichtspunkten mehrfach eingeschränkt. Der Beschenktebraucht dem Herausgabeverlangen nicht nachzukom-men, falls er das Geschenk für seinen eigenen angemes-senen Unterhalt oder zur Erfüllung seiner Unterhalts-pflichten benötigt (§ 529 II BGB), wenn er entreichertist (§ 528 I 1 i.V. mit § 818 III BGB), sowie wenn beiEintritt der Bedürftigkeit des Schenkers seit der Schen-kung zehn Jahre verstrichen sind (§ 529 I BGB). Eindarüber hinausgehendes Bedürfnis nach Vertrauens-schutz kann angesichts dieser Regelungen nicht aner-kannt werden (vgl. BGH, NJW 1995, 2287 [2288] =LM H. 10/1995 § 276 [Fb] BGB Nr. 75; Kollhosser,ZEV 1995, 391 [394]; Haarmann, FamRZ 1996, 522[523]).Das BerGer. hat deshalb zutreffend angenommen, dassder gem. § 528 I 1 BGB als Zahlungsanspruch des Va-ters entstandene Rückforderungsanspruch gegen dieBekl. nicht mit dem Tod des Vaters untergegangen ist,weshalb er vom Nachlasspfleger gem. § 398 BGBwirksam an die Kl. abgetreten werden konnte.

VII. Keine Entreicherung der BeschenktenNach den weiteren Ausführungen des BerGer. kannsich die Bekl. nicht auf eine Entreicherung gem. § 818III BGB berufen. Sie habe mit ihrer pauschalen Aufzäh-lung von Ausgaben - insbesondere hinsichtlich der Kos-ten von Reisen nach Tirol in Höhe geschätzter 16.000DM - nicht dargelegt, dass sie das Geschenk ersatzlosund ohne Ersparnis an anderer Stelle verbraucht habe.Ihr müssten außer den geschenkten 17.000 DM zumin-dest weitere 33. 000 DM zur Verfügung gestanden ha-ben, was ihrem Vortrag widerspreche, sie hätte sichSonderausgaben ohne das Geschenk nicht leisten kön-nen. Zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen im Übri-gen habe sie keine Ausführungen gemacht. Die Revisi-on greift dies nicht an; Rechtsfehler treten insoweitnicht hervor.

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Strafrecht

Standort: § 22 StGB Problem: Versuchsbeginn beim Trickdiebstahl

BGH, BESCHLUSS VOM 14.03.2001

3 STR 48/01 (NSTZ 2001, 415)

Problemdarstellung:Der Angekl. suchte die Geschäftsräume eines Juweliersin der Absicht auf, diesen unter Mitnahme vonSchmuck zum Verlassen des Geschäfts zu bewegen, umihm dann außerhalb der Geschäftsräume den Schmuckzu entwenden. Das LG ging davon aus, dass der An-gekl., nachdem er merkte, dass der Juwelier das Ge-schäft nicht verlassen wollte, nunmehr jede sich bieten-de Gelegenheit nutzen wollte, um den Diebstahl in denVerkaufsräumen auszuführen. Wegen der Aufmerk-samkeit des Juweliers kam es dazu jedoch nicht, so dassder Angekl. vom LG wegen versuchten Diebstahls be-straft wurde. Der BGH nimmt indessen an, dass wederder Tatentschluss des Angekl. hinreichend nachgewie-sen worden sei noch das erforderliche unmittelbare An-setzen zur Wegnahme vorliege. Der Angekl. habe keineHandlungen vorgenommen, die nach seinem Tatplan inungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandsver-wirk-lichung führen sollten, ohne dass es noch einerweiteren Entschlussfassung bedurft hätte.

Prüfungsrelevanz:Die Entscheidung bestätigt und präzisiert die Recht-sprechung des BGH zum Versuchsbeginn. Der BGHvertritt eine sog. “Kombinationsformel”, welche diefrüher vertretene subjektive Theorie mit verschiedenenin der Literatur entwickelten Ansätzen vereint. Dabeivariiert das Gericht den Argumentationsansatz je nachden Besonderheiten des Einzelfalles. Neben den Krite-rien der Zwischenaktstheorie und - insbesondere für diesog. Auflauerungsfälle - der Sphärentheorie, betont esin letzter Zeit aber verstärkt die Bedeutung des Gefähr-dungskriteriums für die Bestimmung der “Unmittelbar-keit” des Ansetzens bei allen Erscheinungsformen desVersuchs (vgl. zu den verschiedenen Ansätzen etwaBGH, NStZ 1998, 241 m. Anm. Otto, a.a.O.). In Fallgestaltungen, in denen der Täter die Deliktsbege-hung von einer objektiven Bedingung abhängig macht(sog. Tatentschluss auf bewusst unsicherer Tatsachen-grundlage), argumentiert der BGH regelmäßig in derWeise, dass er den Versuchsbeginn annimmt, wenn dieobjektive Bedingung - zumindest nach der Vorstellung

des Täters - eingetreten ist bzw. der Täter sich Einflussauf den Bedigungseintritt zuschreibt (vgl. dazu BGH,NStZ 1997, 83), da anderenfalls noch ein weiterer Wil-lensimpuls erforderlich sei, damit das Tun unmittelbarin die Tatbestandsverwirklichung einmündet (vgl.BGH, NStZ 1999, 395 = RA 1999, 448 m.w.N.).Im Bereich Versuch und Rücktritt hat der BGH aktuellzwei weitere beachtenswerte Entscheidungen getroffen.In einem Beschluss vom 29.3.2001 hatte sich der 3.Senat mit dem Problembereich “Versuch und Erfolgs-qualifikation” auseinanderzusetzen und entschieden,dass auch im Rahmen des § 251 StGB ein Versuch inForm der sog. versuchten Erfolgsqualifikation möglichist (NStZ 2001, 371 m. Bespr. Martin, JuS 2001, 821;vgl. zum Problem ferner BGHSt 21, 194; Kudlich, Jura1995, 644).In einer weiteren Entscheidung hat der 2. Senat ausge-sprochen, dass - entsprechend der vom BGH angenom-menen Möglichkeit eines “versuchten Regelbeispiels”(Anwendung des erhöhten Strafrahmens bei begonne-ner, aber nicht vollendeter Vewirklichung des Regelbei-spiels) - das Rücktrittsprivileg bewirkt, dass dann,wenn der Täter freiwillig von der Verwirklichung einesRegelbeispiels Abstand nimmt, der zunächst bestehende“Quasi-Vorsatz” nicht strafschärfend berücksichtigtwerden darf (Beschluss vom 23.6.2000, NStZ-RR2001, 199).

Vertiefungshinweise:ì Zum versuchten Trickdiebstahl: Roxin, JZ 1998,209; Gössel, JR 1998, 291

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Schmuckhändler”ì Examenskurs: “Kurzfälle zum Diebstahl”

Leitsätze (der Redaktion):Das Versuchsstadium erstreckt sich auf Handlun-gen, die in ungestörtem Fortgang unmittelbar zurTatbestandserfüllung führen sollen oder die in un-mittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusam-men-hang mit ihr stehen. Dies ist der Fall, wenn der Tä-ter subjektiv die Schwelle zum "jetzt geht es los"überschreitet und objektiv zur tatbestandsmäßigenAngriffshandlung ansetzt, so dass sein Tun ohne

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Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestandesübergeht.

Sachverhalt:Das LG hat den Angekl. wegen Diebstahls in 2 Fällenund versuchten Diebstahls zu einer Gesamtfreiheits-strafe von 5 Jahren verurteilt sowie einen Pkw Porsche993 und 113 000 DM Bargeld eingezogen. Seine Revi-sion hatte teilweise Erfolg.Nach den Feststellungen suchte der Angekl. den Juwe-lier S in dessen Geschäftsräumen auf, um diesem wert-vollen Schmuck und Uhren zu entwenden. Sein Planging in erster Linie dahin, den Juwelier dazu zu bewe-gen, die Geschäftsräume unter der Mitnahme vonSchmuck zu verlassen, um den Diebstahl dann außer-halb des Juweliergeschäfts ausführen zu können. Als ermerkte, dass der Juwelier seinem Vorschlag wenigSympathie entgegenbrachte, war der Angekl. fest ent-schlossen, jede sich bietende Gelegenheit und insbeson-dere jede Unachtsamkeit des Juweliers dazu auszunut-zen, Uhren und Schmuck bereits in den Verkaufsräu-men zu entwenden. Hierzu kam es auf Grund der Auf-merksamkeit des Juweliers jedoch nicht. Der Angekl.verließ daher die Geschäftsräume und wurde dabei vonder zuvor verständigten Polizei festgenommen.

Aus den Gründen: [...] Jedoch hält seine Verurteilung wegen versuchtenDiebstahls materiell-rechtlicher Überprüfung nichtstand.

I. Tatentschluss des Angekl.Es bestehen bereits Bedenken, ob sich das LG rechts-fehlerfrei von dem Entschluss des Angekl. überzeugthat, bei sich bietender Gelegenheit den Diebstahl bereitsin den Geschäftsräumen des Juweliers zu begehen, oderob es sich insoweit nicht lediglich um eine Vermutungohne hinreichende tatsächliche Grundlage im Beweis-ergebnis handelt. Denn das vom LG insoweit für dieÜberzeugungsbildung maßgeblich herangezogene Argu-ment, der in Trickdiebstählen erfahrene Angekl. habebei den vorangehenden Taten bewiesen, dass er pro-blemlos aus dem Stand heraus handeln kann und jeder-zeit in der Lage ist sich umzuorientieren, findet in denFeststellungen zu den weiteren abgeurteilten Taten kei-ne hinreichende Stütze.

II. Versuchsbeginn Dies bedarf indessen keiner abschließenden Entschei-dung. Auch auf Grundlage der vom LG zum Tatent-schluss des Angekl. gewonnenen Überzeugung belegendie bisherigen Feststellungen nicht, dass sich der An-gekl. des versuchten Diebstahls schuldig gemacht hätte.

1. Grundsätzliche Bestimmung des Versuchsbeginns

Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung vonder Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittel-bar ansetzt (§ 22 StGB). Dazu ist es nicht erforderlich,dass der Täter bereits ein Tatbestandsmerkmal verwirk-licht. Es genügt, dass er Handlungen vornimmt, dienach seinem Tatplan der Erfüllung eines Tatbestands-merkmals vorgelagert sind und unmittelbar in die tat-bestandliche Handlung einmünden. Das Versuchsstadi-um erstreckt sich deshalb auf Handlungen, die in un-gestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestandserfül-lung führen sollen oder die in unmittelbarem räumlichenund zeitlichen Zusammenhang mit ihr stehen. Dies istder Fall, wenn der Täter subjektiv die Schwelle zum"jetzt geht es los" überschreitet und objektiv zur tatbe-standsmäßigen Angriffshandlung ansetzt, so dass seinTun ohne Zwischenakte in die Erfüllung des Tatbestan-des übergeht (st. Rspr.; vgl. nur BGHSt 26, 201, 202ff.; 28, 162, 163; BGH NStZ 1993, 398; 1996, 38;1999, 395, 396).

2. Anwendung der Grundsätze auf den vorliegendenFallNach diesen Maßstäben ist nicht erkennbar, dass derAngekl., der den Diebstahl in erster Linie außerhalb derGeschäftsräume des Juweliers ausführen wollte, nachseiner Vorstellung von der Tat bereits unmittelbar zurVerwirklichung des Diebstahls innerhalb der Geschäfts-raume angesetzt hätte. Denn das LG hat keine Hand-lungen des Angekl. festgestellt, die nach seinem Tatplanin ungestörtem Fortgang unmittelbar zur Tatbestands-verwirklichung führen sollten, ohne dass es einer weite-ren Entschlussfassung bedurft hätte.Der Angekl. hatte noch nicht den unbedingten Ent-schluss gefasst, Schmuck und Uhren aus den Geschäfts-räumen des Juweliers zu entwenden. Vielmehr machteer die Tatausführung davon abhängig, dass sich eineentsprechende Gelegenheit bot. Was er sich hierunterim einzelnen vorstellte, teilt das Urteil zwar nicht mit.Ihm lässt sich aber entnehmen, dass der Angekl. aufden Eintritt einer Situation hoffte, in welcher ihm durchdas Verhalten des Juweliers der Zugriff auf geeigneteBeutestücke ermöglicht wurde. Der Beginn der Tataus-führung setzte damit nach dem Tatplan voraus, dasssich während des Aufenthalts des Angekl. in denGeschäftsräumen Umstände ergaben, die der Angeklag-te als günstig für die geplante Wegnahmehandlung be-urteilte. Dass eine derartige Situation entstand und derAngekl. subjektiv die Schwelle zum "jetzt geht es los"überschritten hätte, kann dem Urteil nicht entnommenwerden. Es ist nicht einmal festgestellt, dass der Juwe-lier dem Angekl. Schmuckstücke zur Ansicht vorgelegtund diesem damit überhaupt einen Zugriff ermöglichthätte. Danach können allein der Aufenthalt des Angekl.in den Geschäftsräumen und das Führen von Verkaufs-verhandlungen mit dem Juwelier noch nicht als unmit-

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telbares Ansetzen zum Diebstahl gewertet werden, dennsie sollten nicht unmittelbar in die Wegnahmehandlungmünden. Vielmehr bedurfte es hierfür noch eines weite-ren Willensentschlusses des Angekl. nach Eintritt einerihm für die Tatausführung geeignet erscheinenden Si-tuation (vgl. BGH NStZ 1993, 398; 1996, 38). Inso-weit unterscheidet sich vorliegender Sachverhalt von

der Fallgestaltung, die dem Urteil des 4. Strafsenatsvom 6. 10. 1977 (4 StR 404/77) zu Grunde lag. Dortwar der Täter bereits bei Betreten des Schmuck-geschäfts ohne innere Vorbehalte entschlossen, sichunter Vorspiegelung von Kaufinteresse Schmuck vorle-gen zu lassen und diesen sodann, zu entwenden [...].

Standort: § 315 b StGB Problem: Zwang eines Mitfahrers zur Weiterfahrt

BGH, BESCHLUSS VOM 01.03.2001

4 STR 31/01 (DAR 2001, 369)

Problemdarstellung:Der BGH hatte in der nachfolgenden Entscheidung ins-besondere über die Strafbarkeit eines Angekl. wegengefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr gem. §315 b I Nr. 3 StGB zu entscheiden. Der Angekl. wolltedas spätere Tatopfer, seine ehemalige Freundin, “not-falls mit Gewalt zu sich zurückholen”. Nachdem er siegewzungen hatte, in sein Auto zu steigen und sie durcheine Kindersicherung am Aussteigen zunächst gehinderthatte, trat das Opfer die Seitenscheibe ein, um zu ent-kommen. Obwohl das Opfer sich nur noch mit Kopfund Schulter im Innenraum befand, setzte der Täter dieFahrt fort. Als der Angekl. später das Fahrzeug anhielt,konnte das Opfer entkommen, woraufhin der Angekl.sie mit seinem Fahrzeug zielgerichtet anfuhr und erheb-lich verletzte.Der BGH hat lediglich für das letztgenannte Verhalteneine Strafbarkeit nach § 315 b I Nr. 3 StGB als begrün-det angesehen. Das Weiterfahren mit dem teilweiseaußerhalb des Wagens befindlichen Opfer sei zwar ge-fährlich, erfülle aber nicht die für die Verwirklichungdes § 315 b StGB erforderliche Voraussetzung einesverkehrsfremden Eingriffs, da der Angekl. sich mit demTatopfer lediglich zu einer anderen Stelle begeben, sichmithin dem Straßenverkehr entsprechend verhaltenwollte.

Prüfungsrelevanz:Innerhalb der sehr prüfungsrelevanten Straßenverkehrs-delikte (vgl. zur Übersicht Kopp, JA 1999, 943 ff.)stellt sich häufig die problematische Frage der Anwend-barkeit von § 315 b I StGB bei Verhaltensweisen imfließenden Verkehr. Damit der als abschließend zu ver-stehende Katalog des § 315 c I Nr. 2 StGB nicht unter-laufen wird, geht die ganz h.M. davon aus, dass § 315b StGB insoweit nur anwendbar ist, wenn der Täterobjektiv eine Einwirkung von einigem Gewicht vor-nimmt und sein Fahrzeug in subjektiv verkehrsfeindli-cher Absicht bewusst zweckentfremdet und es damit zu

einem Eingriff in den Straßenverkehr missbraucht (vgl.etwa OLG Hamm, NJW 2000, 2686 = RA 2000, 537;zur Anwendbarkeit bei äußerlich verkehrsgerechtemVerhalten BGH, NJW 1999, 3132 = RA 1999, 637;zum räumlichen Anwendungsbereich OLG Köln, VRS99, 363 = RA 2001, 91).Mit der vorliegenden Entscheidung bestätigt der BGH,dass eine Anwendbarkeit des § 315 b I StGB daherausscheiden muss, wenn der Täter zwar ein gefährli-ches Verhalten vornimmt, dies aber nicht in der Absichtgeschieht, das Fahrzeug den Zwecken des Straßenver-kehrs zuwider zu benutzen (vgl. für einen ähnlich lie-genden Fall des sog. “Auto-Surfens” OLG Düsseldorf,NStZ-RR 1997, 325).Indem der Angekl. sein Opfer gezwungen hat, übermehrere hundert Meter im Fahrzeug mitzufahren, hatsich der Angekl. auch wegen Freiheitsberaubung gem. §239 I StGB strafbar gemacht. In diesem Zusammen-hang ist auf eine weitere aktuelle Entscheidung zurFreiheitsberaubung hinzuweisen, in der der BGH aus-geführt hat, dass zum Einsperren kein unüberwindlichesHindernis erforderlich ist, sondern es genügt, dass dieBenutzung der zum regelmäßigen Ausgang bestimmtenVorrichtungen für den Zurückgehaltenen faktisch aus-geschlossen erscheint, weil eine unüberwindliche psy-chische Schranke besteht (BGH, Beschluss vom8.3.2001 - 1 StR 590/00; NStZ 2001, 420). In ähnli-cher Weise geht die Rechtsprechung im Übrigen davonaus, dass eine Drohung eine Freiheitsberaubung dar-stellen kann, wenn sie etwa wegen des Inaussichtstel-lens einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Lebeneine die Fortbewegung unzumutbar macht (vgl. BGH,NJW 1993, 1807).

Vertiefungshinweise:ì Zum Anwendungsbereich von § 315 b StGB: Gep-pert, Jura 1996, 639 ì Zur Freiheitsberaubung: Park/Schwarz, Jura 1995,295

Kursprogramm:ì Examenskurs: “Lenkhilfe mit Folgen”

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RA 2001, HEFT 8 STRAFRECHT

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Leitsatz (der Redaktion):Voraussetzung für die Verwirklichung des § 315 b INr. 3 StGB bei Gewalthandlungen gegen eine Mirt-fahrerin ist, dass das Fahrzeug zweckwidrig in ver-kehrsfeindlicher Einstellung eingesetzt, es also nichtseiner Zweckbestimmung entsprechend als Fortbe-wegungsmittel gebraucht, sondern zweckfremd alsMittel zur Gefährdung oder Verletzung eines Men-schen missbraucht wird.

Sachverhalt:Nach den Feststellungen wollte der Angekl. am TattageIna M., die sich endgültig von ihm getrennt hatte, "not-falls mit Gewalt, zu sich zurückholen". Hierzu wollte ersie auf die Rückbank seines Fahrzeugs locken unddurch die aktivierte Kindersicherung am Aussteigenhindern. Versuche des Angekl., Ina M. zum Einsteigenin seinen Pkw Mercedes zu bewegen, scheiterten. DerAngekl. packte Ina M. von hinten und stieß sie zumFahrzeug. Als Ina M. zu schreien begann und versuch-te, sich loszureißen, sprühte ihr der Angekl. Pfeffer-spray ins Gesicht, schob sie ins Auto, schloss die Türund fuhr los. Da sie wegen der Kindersicherung nichtaussteigen konnte, geriet Ina M. in Panik, und trat mitden Füßen die Seitenscheibe hinter dem Beifahrersitzheraus. Sie kletterte mit den Füßen voraus aus dem fah-renden Fahrzeug, "so dass sie ich nur noch mit demKopf und e inem Tei l des Oberkörpers imFahrzeuginnenraum befand". Der Angekl. hielt sie miteiner Hand an der Jacke und an den Haaren fest. "DieSchuhe von Ina M. streiften bereits am Boden, als derAngekl. die Fahrt fortsetzte und sein Fahrzeug nochbeschleunigte, weswegen Ina M. die Beine anzog". DerAngekl. forderte sie auf, wieder ins Fahrzeug hinein-zuklettern, drohte ihr, sie anderenfalls zu überfahren,und fuhr mit einer Geschwindigkeit von etwa 30 km/hüber mehrere 100 Meter weiter. In einer Sackgasse hielter sein Fahrzeug an, ließ Ina M. los. Diese fiel zu Bo-den, stand sofort auf und lief weg. "Da der Angekl. InaM. wieder in seine Gewalt bringen wollte, fuhr er rück-wärts auf sie zu, wobei er damit rechnete, sie mit demFahrzeug zu erfassen; eine mögliche Verletzung von ihrnahm er billigend in Kauf". Ina M. wurde vom Fahr-zeugheck seitlich an der rechten Hüfte angefahren undvom Fahrzeug weggeschleudert. Der Angekl. verfolgteIna M., die sofort aufgestanden war und auf dem Geh-weg stadteinwärts zu flüchten versuchte, mit dem Mer-cedes und fuhr schräg auf den Gehweg, um ihr denWeg abzuschneiden. Als ein Mann eingriff und Ina M.über einen Zaun auf ein Privatgrundstück hob, erkannteder Angekl., dass er nun "nichts mehr ausrichten konn-te", und fuhr davon. Aus den Gründen:

Die wegen eines gefährlichen Eingriffs in den Straßen-verkehr in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzungund mit Freiheitsberaubung verhängte Freiheitsstrafevon einem Jahr und drei Monaten hat keinen Bestand.Das LG hat bei der Bemessung dieser Einzelstrafe ei-nen zu großen Schuldumfang zugrundegelegt, weil esrechtsfehlerhaft von einer zweimaligen Verwirklichungdes Tatbestandes des gefährlichen Eingriffs in denStraßenverkehr gern. § 315 b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i. V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b StGB ausgegangen ist. I. Zur Verurteilung durch das LGDas LG hat in dem Verhalten des Angekl. rechtlich zu-treffend eine Freiheitsberaubung gem. § 239 Abs. 1StGB (vgl. BGH NStZ 1992, 33, 34) und, soweit erdas Tatopfer mit seinem Auto angefahren hat, eine mitbedingtem Vorsatz begangene gefährliche Körperverlet-zung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB gesehen. Da dasTatopfer nach dem Sprühen des Pfeffersprays "Schmer-zen in den Augen" hatte, ist auch insoweit - worauf dasLG allerdings nicht ausdrücklich abgestellt hat - derTatbestand des § 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt (vgl.BGH NStZ 1995, 339; Stree in Schönke/ SchröderStGB 25. Aufl. § 223 a Rdn. 6). Auch soweit das LGden Angekl. wegen eines zu den vorgenannten Deliktenin Tateinheit stehenden gefährlichen Eingriffs in denStraßenverkehr zur Ermöglichung einer anderen Straf-tat gem. § 315 b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i.V.m. § 315Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b StGB verurteilt hat, hält derSchuldspruch im Ergebnis rechtlicher Nachprüfungstand. II. Strafbarkeit des Angekl. wegen gefährlichen Ein-griffs in den Straßenverkehr, § 315 b I Nr. 3 StGBDurchgreifenden rechtlichen Bedenken begegnet jedochdie Annahme des LG, der Angekl. habe den Tatbestanddes § 315 b StGB zweifach verwirklicht.

1. Tatbestandverwirklichung durch das Anfahren derIna M.Nach den Feststellungen hat der Angekl. den Tat-bestand des § 315 b Abs. 1 Nr. 3, Abs. 3 i. V.m. § 315Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b StGB nur einmal, nämlich da-durch verwirklicht, dass er mit seinem Mercedes rück-wärts auf Ina M. zufuhr, um sie "wieder in seine Ge-walt" zu bringen, und dabei eine mögliche Verletzungdes Tatopfers billigend in Kauf nahm. Der Angekl. hatdamit sein Fahrzeug im Straßenverkehr zweckwidrigals gefährliches, gewichtig auf einen anderen Verkehrs-teilnehmer einwirkendes Nötigungsmittel missbraucht(vgl. BGHSt 28, 87, 89). Diese Beeinträchtigung derSicherheit des Straßenverkehrs durch einen ähnlichen,ebenso gefährlichen Eingriff i. S. d. § 315 b Abs. 1 Nr.3 StGB führte zur konkreten Gefährdung des Tatop-fers, das vom Fahrzeug erfasst wurde und unter ande-

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rem Prellungen am rechten Oberschenkel und der unte-ren Brustwirbelsäule erlitt. Dabei handelte der Angekl.in der Absicht, eine andere Straftat zu ermöglichen (§315 b Abs. 3 i. V.m. § 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. bStGB), denn er wollte das Tatopfer, nachdem es ihmentkommen war, erneut seiner Freiheit berauben. Derzweckwidrige Einsatz des Kfz war mithin Mittel, dieerneut beabsichtigte Freiheitsberaubung.(§ 239 Abs. 1StGB) zu ermöglichen.

2. Tatbestandsverwirklichung durch das vorherigeWeiterfahren mit Ina M. als MitfahrerinRechtsfehlerhaft ist dagegen die Annahme des LG, derAngekl. habe den Tatbestand des § 315 b Abs. 1 Nr. 3StGB auch dadurch verwirklicht, dass er zuvor übereine Strecke von mehreren 100 Metern mit einer Ge-schwindigkeit von etwa 30 km/h weitergefahren war,obwohl das Tatopfer "sich nur noch mit einer Schulterund dem Kopf im Fahrzeug befand, während die ande-ren Körperteile bereits aus dem Fahrzeug hingen".Zwar kann eine solche Gewaltanwendung gegen eineMitfahrerin, die das Fahrzeug verlassen möchte, alsanderer, ebenso gefährlicher Eingriff i. S. dieser Vor-

schrift aufzufassen sein. Voraussetzung ist jedoch, dassdas Fahrzeug dabei zweckwidrig in verkehrsfeindlicherEinstellung eingesetzt, es also nicht seiner Zweckbe-stimmung entsprechend als Fortbewegungsmittel ge-braucht, sondern zweckfremd als Mittel zur Gefähr-dung oder Verletzung eines Menschen missbraucht wird(vgl. BGHR StGB § 315 b Abs. 1 Nr. 3 Eingriff 2;Eingriff, erheblicher 4). Dies ist jedoch nach den Fest-stellungen nicht der Fall. Der Angekl. fuhr vielmehrallein deshalb weiter, um seinen ursprünglichen Tatplanzu verwirklichen, Ina M. "zu sich zurückzuholen". Zu-dem hielt er das Tatopfer während der gesamten Fahrts-trecke an der Jacke und an den Haaren fest und ließ eserst nach dem Anhalten in der Sackgasse los. Das Wei-terfahren erfolgte mithin nicht zweckfremd zur Gefähr-dung oder Verletzung eines anderen Verkehrsteilneh-mers, sondern zweckbestimmt, weil sich der Angekl.mit dem Tatopfer zu einer anderen Stelle begeben woll-te. Dies ist zwar ein gefährliches Verhalten im Straßen-verkehr, stellt aber noch keinen gefährlichen Eingriff inden Straßenverkehr dar (vgl. BGHR StGB § 315 bAbs. 1 Nr. 3 Eingriff 2, 4).

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URTEILE IN FALLSTRUKTURRA 2001, HEFT 8

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Urteile in Fallstruktur

Standort: Öffentliches Recht Problem: Hausrecht im Bundestag

VG BERLIN, URTEIL VOM 18.06.2001

VG 27 A 344.00 (BISHER UNVERÖFFENTLICHT)

Problemdarstellung:

Das VG Berlin hatte über die Rechtmäßigkeit zweierHausverbote zu entscheiden, die der Bundestagsprä-sident, gestützt auf sein Hausrecht, gegenüber zweiJournalisten ausgesprochen hatte. Ihr Fehlverhalten lagin der Anweisung zur bzw. Durchführung der ungeneh-migten Entnahme von “Wischproben” auf den Abge-ordnetentoiletten des Reichstages, die anschließend aufKokainspuren untersucht wurden. Das (positive) Er-gebnis wurde sodann in einer Fernsehsendung öffentlichgemacht. Das VG Berlin streift in seiner Entscheidungalle examensrelevanten Probleme des Hausrechts(Rechtsweg, Tatbestand, Rechtsfolge), wobei zwei Ge-sichtspunkte besonders bemerkenswert sind: Zum einensoll ein längerfristiges Hausverbot (hier: ein Jahr) nurzu präventiven Zwecken zulässig sein, also eine Wie-derholungsgefahr voraussetzen. Zum anderen soll auchdie bloße Anweisung zum hausrechtswidrigen Verhal-ten grds. tatbestandsmäßig sein, ohne dass es auf eineigenes Betreten des Gebäudes bzw. einen eigenen Ver-stoß gegen die Hausordnung ankomme. Das VG be-müht hier die ordnungsrechtliche Figur des “Zweckver-anlassers” zur (kurzen) Begründung seiner Ansicht.Allerdings hält die Kammer ein Hausverbot gegenüberdem Zweckveranlasser in der Rechtsfolge für ungeeig-net und damit unverhältnismäßig, um dessen Fehlver-halten (die Anstiftung) zu unterbinden. Diese Konstruk-tion ist allerdings inkonsequent. Das VG muss sich fra-gen lassen, in wieweit ein Verhalten tatbestandsmäßigim Sinne einer (allein präventiven Zwecken dienenden)Norm sein kann, deren Rechtsfolge von vornherein of-fensichtlich ungeeignet zu dessen Unterbindung ist.Überzeugender wäre es gewesen, entweder ein Haus-verbot auch gegenüber dem Zweckveranlasser als zu-mindest geeignetes Präventivmittel anzusehen (etwawegen der abschreckenden Wirkung), oder die Aufnah-me des Zweckveranlassers in den Kreis der potentiellenAdressaten eines Hausverbots insgesamt zu überdenken

(vgl. BVerwGE 35, 106, wonach ein Hausrecht nurgegenüber einem Adressaten bestehen soll, der die Ein-richtung im Rahmen ihrer Widmung benutzt). In einerExamensarbeit dürfte sich ein Kandidat, der die (ver-tretbare) Konstruktion des VG wählt, jedenfalls nichtmit dessen kurzer, wegen der aufgezeigten Bedenkenunzureichender Begründung zufrieden geben.

Prüfungsrelevanz:

Der Fall ist in eine verwaltungsgerichtliche Entschei-dung eingebettet, die neben der eigentlichen Haus-rechtsproblematik zahlreiche weitere Probleme (z.B.Entbehrlichkeit des Vorverfahrens, Heilung einer feh-lenden Anhörung, “erst-Recht-Schluss” auf die Zuläs-sigkeit milderer Mittel in der Rechtsfolge) aufwirft undschon aus diesem Grund einen hervorragenden Prü-fungsstoff abgibt. Hinzu kommt, dass das Hausrechthäufig entweder gar nicht gesetzlich normiert ist unddemzufolge erst hergeleitet werden muss (im Kommu-nalrecht etwa aus der Organisationshoheit des Bürger-meisters, vgl. Held/Becker, Kommentar zur GO NW, §62 Anm. 4.2.). Selbst wenn - wie hier - eine gesetzlicheRegelung besteht, wird diese i.d.R. keinen Tatbestandenthalten, so dass jedenfalls die Tatbestandsmerkmalezu entwickeln sind. Begreift man das Hausrecht als In-strument der Störungsbeseitigung, wird tatbestandlicheine Störung (I.), die nicht gerechtfertigt ist (II.) undvom Adressaten des Hausverbots ausgeht (III.) zu for-dern sein, wobei für Hausverbote, die von gewisserDauer sind, d.h. über das einmalige Entfernen hinaus-gehen, eine Wiederholungsgefahr (IV.) hinzukommenmuss.

Vertiefungshinweise:

ì Zum Rechtsweg gegen Hausverbote: VG Minden,RA 1999, 312 = NVwZ-RR 1999, 334; OVG Münster,NJW 1998, 1425; VGH Mannheim, NJW 1994, 2500

ì Zum Umfang des Hausrechts: BVerwGE 35, 106

Kursprogramm:

ì Examenskurs: “Der Zeitungsreporter”

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URTEILE IN FALLSTRUKTUR RA 2001, HEFT 8

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ì Examenskurs: “Die Friedenstaube im Rathausfens-ter”

Sachverhalt:Der Kläger zu 1) (M) ist Moderator des Fernsehmaga-zins “Akte 2000" (jetzt: “Akte 01") und zugleich Ge-schäftsführer der META-productions GmbH, welchedie Sendung für den Fernsehsender “Sat 1" produziert;der Kläger zu 2) (R) ist ein bei der META-productionsGmbH angestellter Redakteur. Vor dem Hintergrundder im Herbst 2000 geführten öffentlichen Diskussionum den Kokainkonsum des Fußballtrainers C. D. er-teilte M dem R auf einer Redaktionskonferenz den Auf-trag, in den nichtöffentlichen Toilettenräumen im Frak-tions- und Präsidialbereich des Reichstages sogen.“Wischproben” zu nehmen, um diese sodann von einemFachlabor auf Kokainspuren untersuchen zu lassen. DieErgebnisse - 22 der 28 von R genommenen Proben wa-ren positiv - sowie von R gefertigte Bild- und Filmauf-nahmen der Vornahme der “Wischproben” selbst, wur-den im Magazin “Akte 2000" am 31. Oktober 2000unter dem Motto “Kokain im Bundestag” gesendet.Der Bundestagspräsident sah im Verhalten des R undM - ungenehmigter Aufenthalt und ungenehmigtes An-fertigen von Bildmaterial in nicht öffentlich zugängli-chen Räumen des Reichstages bzw. Anstiftung dazu -einen gravierenden Verstoß gegen sein Hausrecht underteilte R und M daher am 21. November 2000, jeweilsdurch einen mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Be-scheid, ein einjähriges Hausverbot für die Liegenschaf-ten des Deutschen Bundestages.Hiergegen klagen R und M mit am 5. und 6. Dezember2001 erhobenen Klagen vor dem VG Berlin. Sie haltendie Bescheide schon deshalb für rechtswidrig, weil sievor deren Erlass nicht angehört worden seien. Im übri-gen lägen die Voraussetzungen eines Hausverbots nichtvor; jedenfalls sei dieses - auch wegen der Länge -unverhältnismäßig. Während des laufenden Verwaltungsprozesses über-sandte der Bundestagspräsident den Klägern nachträg-lich einen Anhörungsbogen, ließ sich jedoch auf diedarin von den Klägern dargelegten Ausführungen wederdem Gericht noch den Klägern gegenüber weiter ein.Haben die Klagen Erfolg?

[Anm.: Der Fall ist unter allen rechtlichen Gesichts-punkten gutachterlich zu erörtern. In der Hausord-nung des Deutschen Bundestages (BTHO, BGBl. I 98,2184) ist in § 5 Abs. 2 das Anfertigen von Filmauf-nahmen im Reichstag von der vorherigen Erteilung

einer Drehgenehmigung abhängig gemacht. In § 5Abs. 6 BTHO heißt es dann: "Wer den Bestimmungenvorstehender Absätze zuwider handelt [...], kann ausden Gebäuden des Deutschen Bundestages verwiesenwerden. In Fällen der Zuwiderhandlung kann der Prä-sident des Deutschen Bundestages ein Hausverbot ver-hängen"].

Lösung:Die Klagen haben Erfolg, wenn sie zulässig und be-gründet sind.

A. Zulässigkeit

I. Verwaltungsrechtsweg“Der Verwaltungsrechtsweg ist gemäß § 40 Abs. 1 S. 1VwGO eröffnet. Dabei kann offenbleiben, ob ein voneiner Behörde ausgesprochenes Hausverbot prinzipiellöffentlich-rechtlicher Natur ist oder nur dann, wenn dieRechtsbeziehungen der Beteiligten und damit das Haus-verbot durch öffentlich-rechtliche Vorschriften geprägtwerden (vgl. Maunz/Dürig-Klein, GG, Art. 40 Rz 140;Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht Band I, § 22Rz 51; Kopp/Schenke, VwGO, § 40 Rz 22). Denn dievom Beklagten ausgesprochenen Hausverbote sind -was schon die Rechtsmittelbelehrung zeigt - in Formvon Verwaltungsakten ergangen und schon deshalb demöffentlichen Recht zuzuordnen (BVerwG, NVwZ 1985,264; Kopp/Schenke, a.a.O., § 40 Rz 6).”

II. Statthafte Klageart, § 88 VwGODas Begehren der Kläger ist auf Aufhebung der sie be-lastenden Hausverbote gerichtet, welche in Form vonVerwaltungsakten ergangen sind (s.o.). Für die Auf-hebung von Verwaltungsakten ist die Anfechtungsklagegem. § 42 I, 1. Fall VwGO statthaft. III. Klagebefugnis, § 42 II VwGODie Kläger sind als Adressaten der belastenden Ver-waltungsakte möglicherweise in ihrer Presse- undRundfunkfreiheit aus Art. 5 I 2, zumindest jedoch inihrer allg. Handlungsfreiheit aus Art. 2 I GG verletzt.Mithin können sie eine Verletzung eigener subjektiv-öffentlicher Rechte geltend machen.

IV. Vorverfahren, § 68 I VwGOEin nach § 68 I 1 VwGO grds. erforderliches Vorver-fahren ist nicht durchgeführt worden. Indes bedurfte eseines solchen gem. § 68 I 2 Nr. 1 VwGO ausnahms-weise nicht, da das Hausverbot vom Präsidenten desDeutschen Bundestages und damit von einer obersten

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Bundesbehörde ausgesprochen worden ist.

V. Frist, § 74 I 2 VwGODie Klagen gegen die Verwaltungsakte vom 21. No-vember 2000 sind am 5. und 6 Dezember 2000 erhobenworden. Die Monatsfrist des § 74 I 2 VwGO ist somitgewahrt.

VI. Beklagter, § 78 I Nr. 1 VwGOGem. § 78 I Nr. 1, 1. Hs. VwGO ist richtige Beklagtedie Bundesrepublik Deutschland als Rechtsträger desBundestagspräsidenten. Mangels gegenteiliger Anhalts-punkte ist zu unterstellen, dass M und R dies beachtethaben.

Die Klagen sind mithin zulässig.

B. Subjektive KlagehäufungDie gemeinsame Verhandlung und Entscheidung derKlagen ist gem. §§ 64 VwGO, 59, 60 ZPO zulässig, dadie Verpflichtung der Kläger auf einem im wesentlichengleichartigen tatsächlichen Grunde - der Durchführungdes “Wischtests” bzw. dessen Anordnung - beruht.

C. BegründetheitDie Klagen sind begründet, soweit die angegriffenenVerwaltungsakte rechtswidrig sind und die Kläger inihren Rechten verletzen, § 113 I 1 VwGO.

I. Rechtswidrigkeit der Verwaltungsakte

1. ErmächtigungsgrundlageDie Hausverbote unterliegen wegen ihrer Grundrechts-relevanz (Art. 5 I 2 GG, s.o.) dem Gesetzesvorbehalt,bedürfen also einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundla-ge. Das VG sieht diese unmittelbar in Art. 40 II 1 GG:“Die Ermächtigung zum Erlass der angefochtenenHausverbote und der Hausordnung des Deutschen Bun-destages (BTHO) - in der die rechtlichen Anforderun-gen für den Erlass eines Hausverbotes festgehalten sind- folgt unmittelbar aus dem in Art. 40 Abs. 2 S. 1 GGverbürgten Hausrecht des Bundestagspräsidenten(Maunz/DürigKlein, GG, Art. 40 Rz 145, 146) [...].Dem kann - entgegen der Auffassung der Kläger - nichtentgegengehalten werden, dass der Erlass eines Haus-verbotes im Hinblick auf eine damit womöglich verbun-dene Einschränkung des ihnen als Journalisten zuste-henden Grundrechts der Pressefreiheit wegen Art. 5Abs. 2 GG, wonach Einschränkungen der Pressefreiheitnur auf der Grundlage von allgemeinen Gesetzen zuläs-sig sind, einer einfach-gesetzlichen Grundlage bedarf.

Zwar trifft es zu, daß die BTHO kein Gesetz ist, man-gels Ermächtigung zur Rechtsetzungsbefugnis für denParlamentspräsidenten nicht einmal als Rechtsnorm immateriellen Sinne, sondern lediglich als - die Ausgestal-tung des Hausrechts des Parlamentspräsidenten kon-kretisierende und damit ermessensbindende - Verwal-tungsvorschrift anzusehen ist (vgl. Maunz-Dürig-Klein,a.a.O., Art. 40 Rn 162). Auf die Rechtsnatur derBTHO ist jedoch nicht entscheidend abzustellen. Denndie durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG geschützte Pressefrei-heit erfährt ihre Einschränkungen nicht allein durch dieallgemeinen Gesetze, sondern darüber hinaus durch dieverfassungsimmanenten Schranken aus kollidierendemVerfassungsrecht. Die durch Art. 40 Abs. 2 S. 1 GGgeschützte Funktionsfähigkeit des Bundestages stellt einsolches, die Pressefreiheit unmittelbar einschränkendesVerfassungsgut dar. Einer weiteren Konkretisierungdurch ein einfaches Gesetz unter dem Gesichtspunktdes Vorbehalts des Gesetzes bedarf es dabei nicht. Zumeinen ist das Hausrecht in Art. 40 Abs. 2 S. 1 GG be-reits in der Verfassung hinreichend konkretisiert undsein Zweck, die Sicherung der Funktionsfähigkeit desParlaments, offensichtlich. Zum anderen enthält Art. 40Abs. 2 S. 1 GG gerade keinen Gesetzesvorbehalt, son-dern weist das Hausrecht als eigene, nicht vom Parla-ment abgeleitete, Zuständigkeit des Bundestagspräsiden-ten aus.”

2. Formelle Rechtmäßigkeit

a. ZuständigkeitArt. 40 II 1 GG weist die Zuständigkeit explizit demBundestagspräsidenten zu, welcher auch gehandelt hat.

b. VerfahrenDie Kläger sind jedoch vor Erlass der Verwaltungsaktenicht - wie von § 28 I 1 VwVfG gefordert - angehörtworden. Fraglich ist, ob bereits dieser Umstand zur(formellen) Rechtswidrigkeit der Hausverbote führt.Das VG bejaht dies i.E.:

aa. Keine Entbehrlichkeit“Soweit sich der Beklagte darauf beruft, dass eine so-fortige Entscheidung im öffentlichen Interesse gebotenund eine Anhörung deshalb gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 1VwVfG entbehrlich gewesen sei, greift [dieser Ein-wand] nicht durch. Im öffentlichen Interesse ist einesofortige Entscheidung vor allem dann notwendig, wenndurch die Anhörung das mit der Entscheidung verfolgteoder damit verbundene öffentliche Interesse ganz oderpartiell vereitelt zu werden droht. Die Notwendigkeit

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einer sofortigen Entscheidung ist dabei im Hinblick aufden Zweck der Regelung nicht nur im Sinne zeitlicherUnaufschiebbarkeit, sondern allgemein im Sinne einerEntscheidung ohne vorherige Anhörung der Betroffenenzu verstehen (Kopp/ Ramsauer, VwVfG, § 28 Rz 57,58). In zeitlicher Hinsicht ist hier im Hinblick darauf,dass die Anhörung an keine bestimmte Form gebundenist, nicht nachvollziehbar, weshalb eine Anhörung derKläger vor Erteilung der Hausverbote nicht möglichgewesen sein sollte. Denn zwischen der Ausstrahlungder Reportage "Koksen in Deutschland" im Rahmen desFernsehmagazins "Akte 2000" vom 31. Oktober 2000und dem Erlass der angefochtenen Hausverbote ist im-merhin ein Zeitraum von 3 Wochen vergangen. In sach-licher Hinsicht ist überhaupt nicht erkennbar, unterwelchem Gesichtspunkt die vorherige Durchführung derAnhörung geeignet gewesen wäre, die mit der Verhän-gung der Hausverbote verfolgten Ziele zu vereiteln. Aber selbst bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraus-setzungen des § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG für ein Abse-hen von der Anhörungspflicht wäre im Ergebnis eineandere Beurteilung nicht gerechtfertigt. Denn für denFall, dass eine Angelegenheit sofortiges Handeln not-wendig macht, gilt dies nicht etwa für die endgültigeEntscheidung, sondern nur für sofort erforderliche vor-läufige Regelungen, weiche vorbehaltlich einer späterenendgültigen Entscheidung getroffen werden können. Dieohne Anhörung der Beteiligten ergehenden Entschei-dungen sind deshalb auf die Fragen zu beschränken, diekeine Verzögerung dulden, endgültige Entscheidungeneinem "Nachverfahren" mit Anhörung der Betroffenenvorzubehalten (BVerwGE 68, 271). Die Erteilung einesHausverbotes für die Dauer von einem Jahr war des-halb unter keinem Gesichtspunkt ohne vorhergehendeAnhörung der Kläger rechtlich zulässig.”

bb. Keine Heilung“Der im Anhörungsmangel liegende Fehler ist auchnicht gemäß § 45 Abs. 2 VwVfG bis zum Abschlussdes verwaltungsgerichtlichen Verfahrens geheilt wor-den.”

(1). Durch das Anhörungsschreiben vom 30. Mai 2001“Die an eine Heilung zu stellenden Anforderungen wer-den entscheidend durch die Funktion der Anhörung be-stimmt. Diese besteht darin, den Beteiligten Gelegenheitzur Stellungnahme und die Möglichkeit zu geben, aufden Gang und das Ergebnis des Verfahrens dadurchEinfluss zu nehmen, dass die Behörde die Stellungnah-men bei ihrer Entscheidung ernsthaft in Erwägung ziehtund sich spätestens in ihrer Begründung damit ausein-

andersetzt (Kopp/Ramsauer, a.a.O., § 28 Rz 12). Da-nach kann die Anhörung ihren verfahrensrechtlichenZweck prinzipiell nur dann erfüllen, wenn sie vor Er-lass des Verwaltungsaktes erfolgt ist (Kopp/Ramsauer,a.a.O., § 45 Rz 23). Eine nachträgliche Heilung kannfolglich nur dann eintreten, wenn die Funktion der An-hörung für den Entscheidungsprozess der Behörde un-eingeschränkt erreicht werden kann. Das setzt voraus,dass die Ergebnisse der Anhörung vor der zur Entschei-dung in der Sache berufenen Behörde nicht nur zurKenntnis, sondern darüber hinaus zum Anlass genom-men werden, die Entscheidung selbst kritisch zuüberdenken. An einer solchen Bereitschaft zur selbst-kritischen Überprüfung der getroffenen Entscheidungauf Seiten des Beklagten bestehen indes durchgreifendeZweifel. Vor allem die kurze Zeitspanne zwischen demAnhörungsschreiben vom 30. Mai 2001, der - uneinge-schränktes Festhalten an der getroffenen Entscheidungsignalisierenden - Klageerwiderung vom 6. Juni 2001und dem Termin zur mündlichen Verhandlung am 18.Juni 2001 zeigt, das der Beklagte nicht wirklich die Ab-sicht besessen hat, seine Entscheidung ernstlich zu über-denken.”

(2). Durch die Möglichkeit zur Klage und Replik“Die den Klägern im Rahmen eines Verwaltungs-gerichtsprozesses offenstehende Möglichkeit, zu dengegen sie erlassenen Bescheiden im Rahmen der Kla-gebegründung Stellung zu nehmen und die auf eine sol-che Klagebegründung folgende und auf den Vortrag derKläger eingehende Klageerwiderung kann die Heilungeines Anhörungsmangels dagegen schon grundsätzlichnicht bewirken. Denn genügte ein solches Vorgehen,wäre es für Behörden realisierbar, vor Erlass eines be-lastenden Verwaltungsaktes grundsätzlich auf die An-hörung zu verzichten, ohne dass rechtliche Konsequen-zen zu befürchten wären.”

cc. Keine UnbeachtlichkeitDie fehlende Anhörung ist schließlich auch nicht gemäߧ 46 VwVfG unbeachtlich, denn bei Ermessensent-scheidungen - und um eine solche handelt es sich beider Entscheidung über die Erteilung eines Hausverbotesebenso wie bei der Entscheidung über die Dauer einesHausverbotes - kann nicht davon ausgegangen werden,dass die Verletzung des Anhörungsgebotes die Ent-scheidung der Sache offensichtlich nicht beeinflusst hat;der Ausnahmefall, daß sich das Ermessen auf eine ein-zige rechtsfehlerfreie Entscheidung reduziert hat, liegt -wie bei der Prüfung der materiellen Rechtsmäßigkeitder angefochtenen Bescheide sogleich darzustellen sein

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wird - hier nicht vor.”

Damit sind die Hausverbote formell rechtswidrig.

III. Materielle RechtmäßigkeitFraglich ist, ob selbige darüber hinaus auch materiellrechtswidrig sind. Dies wäre der Fall, wenn die tatbe-standlichen Voraussetzungen des Hausverbots nichtvorlägen oder der Erlassbehörde ein Ermessensfehler (§114 VwGO) unterlaufen wäre.

1. Tatbestand

a. Verletzung des Hausrechts“Das Hausrecht des Bundestagspräsidenten dient un-mittelbar der Aufrechterhaltung und Wahrung desHausfriedens als Grundlage für die Funktionsfähigkeitdes Deutschen Bundestages. Es hat demnach präventi-ven Charakter. Daraus ergeben sich Umfang undSchranken seiner Ausübung. Zur Aufrechterhaltung desHausfriedens darf danach nur eingeschritten werden,wenn eine Verletzung des Hausrechts eingetreten istoder droht.Der Kläger zu 2) hat vorsätzlich Filmaufnahmen imReichstagsgebäude gefertigt, ohne im Besitz der dafürerforderlichen Genehmigung zu sein. Der Kläger zu 1)hat zwar nicht selbst ungenehmigt "Geräte zur Auf-zeichnung von Bild und Ton" benutzt, das Verhaltendes Klägers zu 2) ist ihm aber ohne weiteres als ord-nungsrechtlich ebenfalls verantwortlicher Zweckver-anlasser zurechenbar, da er diesen in seiner Eigenschaftals Geschäftsführer der META-productions GmbH aus-drücklich zur ungenehmigten Anfertigung der Filmauf-nahmen angewiesen hat.”

b. Wiederholungsgefahr“Der Beklagte hat indes bei der Verhängung des Haus-verbotes gegenüber den Klägern verkannt, daß dieseMaßnahme keine Sanktion für begangene Ordnungsver-stöße darstellt, sondern ordnungsrechtlicher Natur ist,damit voraussetzt, daß von den Klägern eine hinrei-chend konkrete Wahrscheinlichkeit erneuter Verletzun-gen des Hausrechts des Beklagten ausgeht. Eine ein-malige Verletzung des Hausrechts rechtfertigt die Ertei-lung eines Hausverbotes nur dann, wenn die Gefahreiner weiteren Verletzung gegeben ist.”

aa. Kein repressives Hausverbot“Die Verhängung eines Hausverbotes als Strafe (Sank-tion) erlaubt das Hausrecht des Bundestagspräsidentendagegen nicht. Bestrafungen dürfen ohnehin nur auf der

Grundlage von Rechtsnormen erfolgen, aus denen sichArt und Strafrahmen der Strafe ergibt (Art. 103 Abs. 2GG, § 1 StGB). Die Hausordnung des Bundestageskann - wie bereits angesprochen - jedoch nicht alsRechtsnorm angesehen werden; sie enthält zudem nichtdie für Strafen notwendige zeitliche Bemessung desHausverbots. Davon abgesehen existieren mit § 123StGB und § 112 OWiG bereits Rechtsnormen, die eineSanktionierung von Verletzungen des Hausrechts desPräsidenten des Deutschen Bundestages erlauben.”

bb. Hausverbot nur präventiv“Das Hausverbot wäre deshalb nur unter ordnungs-rechtlichen Gesichtspunkten zur Abwehr konkreter Ge-fahren durch die Kläger zulässig gewesen. Indes warenschon zum Zeitpunkt des Erlasses der Hausverbote kei-ne Indizien dafür ersichtlich, dass die Kläger in Zukunfterneut ohne die erforderliche Genehmigung Filmauf-nahmen im Reichstag machen werden. Die Kläger ha-ben sich - was die Einhaltung der Hausordnung desDeutschen Bundestages betrifft - in der Vergangenheitunstreitig unauffällig verhalten; Anhaltspunkte dafür,dass von den Klägern in Zukunft weitere Gefahren fürdas Hausrecht des Präsidenten des Deutschen Bundes-tages ausgehen werden, ergeben sich auch aus dem hierhausrechtlich beanstandeten Verhalten - dem ungeneh-migten Filmen - nicht. Die Reportage "Koksen inDeutschland" und die damit verbundenen heimlichenFilmaufnahmen im Reichstag waren eine Reaktion aufdie "Kokainaffäre" um den Fußballtrainer ChristophDaum, welche die Frage nach der Verbreitung des Ko-kainkonsums in der Gesellschaft zeitweilig in den Mit-telpunkt der gesellschaftlichen Diskussion und des öf-fentlichen Interesses rückte. Die begangenen Haus-rechtsverletzungen waren mithin durch besonderegesellschaftliche Ereignisse motiviert, die sich in dieserForm nicht mit einiger Wahrscheinlichkeit wiederholenwerden und deshalb - in Ermangelung weiterer Indizien- für eine Prognose zukünftigen Verhaltens keine genü-gende Aussagekraft besitzen. Davon geht der Beklagteoffenbar selbst aus. Denn sonst wäre es nicht zu erklä-ren, dass er die sofortige Vollziehung der Hausverbotenicht angeordnet und den Klägern damit die Möglich-keit gewährt hat, die Wirkung der - befristeten - Haus-verbote durch Klageerhebung zu suspendieren, damitdie Durchsetzung seiner zeitlich begrenzten Maßnahmeim Hinblick auf den Zeitaufwand bis zu einer rechts-kräftigen Entscheidung letzter Instanz praktisch jederEffizienz zu berauben.”

Die ausgesprochenen Hausverbote sind folglich schon

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wegen fehlender Wiederholungsgefahr auch materiellrechtswidrig.

2. RechtsfolgeDas VG hält die Hausverbote darüber hinaus für un-verhältnismäßig und damit für ermessensfehlerhaft:“Die Rechtsfehlerhaftigkeit des Hausverbotes gegen dieKläger ergibt sich nach Auffassung der Kammer zudemdaraus, dass der Präsident des Deutschen Bundestagesdas ihm eingeräumte Ermessen fehlerhafte betätigt hat.”

a. Geeignetheit“Das gegen den Kläger zu 1) ausgesprochene Haus-verbot stellt schon kein geeignetes Mittel dar. Denn erwird dadurch nicht gehindert, das ihm vorgeworfeneVerhaltens - Anstiftung seiner Mitarbeiter zur Ferti-gung ungenehmigter Filmaufnahmen - weiterhin zupraktizieren.”

b. Erforderlichkeit“Der Beklagte hat verkannt, dass ihm, ohne dass dies inder Hausordnung einer besonderen Erwähnung bedurf-te, neben der Möglichkeit zur Erteilung eines Hausver-botes "erst Recht" Eingriffsmöglichkeiten mit geringe-rer Eingriffsqualität offen gestanden haben und hat sol-che deshalb nicht erwogen. [...] Als milderes Mittel wä-re z.B. das Verbot der Filmberichterstattung in Betrachtgekommen oder die Anordnung, dass die Kläger beimnächsten Besuch des Bundestages begleitet werden.”

c. Angemessenheit“Weiterhin fehlt es an einer nachvollziehbarenordnungsrechtlichen Begründung für die angeordnete

Dauer des Hausverbotes. Die vom Beklagten ins Feldgeführte Schwere der Hausrechtsverletzung ist für sichbetrachtet kein ordnungsrechtliches Kriterium, es seidenn, daraus ließen sich Rückschlüsse auf zukünftig zuerwartende Hausrechtsverletzungen ziehen, was abereine besondere - im Fall der Kläger nicht vorhandene -Begründung erfordert. Darüber hinaus ist eine "schwereVerletzung" der Hausordnung des Beklagten ohnehinnicht feststellbar. Das Gewicht eines Ordnungsver-stoßes hängt maßgeblich von dem Grad der Beeinträch-tigung des durch das Hausrechts geschützten Rechts-guts ab. Von einer erheblichen Beeinträchtigung derdurch das Hausrecht des Beklagten geschützten Funk-tionsfähigkeit des Parlaments kann aber beim Filmenleerer Toilettenräume nicht ausgegangen werden, sodass im Ergebnis ermessensfehlerfreie ordnungsrecht-liche Gesichtspunkte für die Anordnung eines Haus-verbotes für die Dauer eines Jahres nicht erkennbarsind. Weiterhin wäre vom Beklagten zumindest zu erwä-gen gewesen, ob die Verhängung eines umfassendenHausverbotes mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit(Art. 42 Abs.1 S. 2 GG) und dem damit verbundenenRecht von Besuchern, im Rahmen der vorhandenen Ka-pazitäten Zutritt zu den Räumlichkeiten zu erhalten, indenen das Plenum des Bundestages oder seine Aus-schüsse öffentlich verhandeln, vereinbar ist (vgl.Maunz/Dürig-Klein, GG, Art. 40 Rz 67).”

II. Rechtsverletzung der KlägerDie Kläger sind durch die rechtswidrigen Verwaltungs-akte in ihrem Grundrecht aus Art. 5 I 2 GG verletzt.Die Klagen sind somit zulässig und begründet. Sie ha-ben Erfolg.

Standort: Zivilrecht Problem: Umgehung des Streitschlichtungsverfahrens

AG ROSENHEIM, URTEIL VOM 11.04.2001

18 C 65/01 (NJW 2001, 2030)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Verfahren stritten zwei Grundstücks-nachbarn um die Beseitigung von überstehenden Zwei-gen einer Fichtenbepflanzung der gemeinsamen Grund-stücksgrenze. Per Mahnbescheid hatte der Kl. be-antragt, den bekl. Nachbarn und Eigentümer der Fich-tenhecke zur Zahlung eines Beseitigungsvorschusses zu

verpflichten. Aufgrund des Widerspruchs des Bekl.wurde diese Rechtsstreitigkeit ins streitige Klageverfah-ren übergeleitet (§ 696 I 1 ZPO).

Das zuständige Amtsgericht hat die Klage als unzuläs-sig abgewiesen, weil der nach § 15 a EGZPO i.V.m.dem bayerischen Schlichtungsgesetz erforderlicheaußergerichtliche Streitschlichtungsversuch nicht statt-gefunden hatte. Da es sich um nachbarschaftliche An-sprüche gem. § 910 BGB handelte, war der Rechtsstreitin vollem Umfang der obligatorischen Streitschlichtung

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unterworfen. Eine Ausnahme zum Erfordernis eineserfolglosen außergerichtlichen Güteversuchs gem. § 15a II Nr. 5 EGZPO durch das vorangegangene Mahn-bescheidsverfahren sah das Gericht als nicht erfüllt an.Um eine Umgehung dieser gesetzlichen außergericht-lichen Streitschlichtung durch Ausnutzen des Mahn-bescheidsverfahrens zu verhindern, ist aber nach Sinnund Zweck dieser Vorschrift erforderlich, dass dasMahnverfahren für eine solche Rechtsstreitigkeit über-haupt zulässig ist. Bei einem unzulässigen Mahn-bescheidsantrag muss daher das obligatorische Streit-schlichtungsverfahren trotzdem vor Klageerhebungdurchgeführt werden.

Prüfungsrelevanz:

Mit Gesetz vom 15.12.1999 hat der Bundesgesetzgeberdurch § 15 a EGZPO eine Öffnungsklausel für das zi-vilprozessuale Verfahren eingeführt, um die außerge-richtliche Streitschlichtung zu fördern. Gemäß § 15 aEGZPO erhalten die einzelnen Bundesländer die Mög-lichkeit, durch Landesgesetz zu bestimmen, dass beibestimmten Rechtsstreitigkeit die Erhebung der Klageerst dann zulässig ist, wenn zuvor vor einer Gütestelleeine außergerichtliche Streitschlichtung erfolglos ver-sucht worden ist. Auf diese Weise sollen die Gerichtvon Bagatellsachen (Streitwerte bis 1.500 DM, Nach-barschaftsstreitigkeiten, etc.) befreit werden. Nach § 15a II EGZPO sind aber in bestimmten Fallkonstellatio-nen Ausnahmen vom Erfordernis einer obligatorischenStreitschlichtung als Klagevoraussetzung zu machen(z.B. Familiensachen, Urkundsverfahren, Verfahren imBereich der Zwangsvollstreckung, vorangegangenenMahnbescheidsverfahren).

Von dieser Öffnungsklausel haben bereits verschiedeneBundesländer Gebrauch gemacht, u.a. Bayern mit Ge-setz vom 25.04.2000 und Nordrhein-Westfalen mit Ge-setz vom 09.05.2000.

Vertiefungshinweis:

ì Darstellung des Schlichtungsgesetzes des LandesNordrhein-Westfalen: Dieckmann, NJW 2000, 2802

Kursprogramm:

ì Assessorkurs: “Ein Hundeleben”

Leitsatz (der Redaktion):Die Ausnahme zum Erfordernis einer obligatori-schen Streitschlichtung gem. § 15 a II Nr. 5 EG-ZPO i.V.m. den jeweiligen Landesgesetzen (voran-gegangenes Mahnbescheidsverfahren) ist nur dann

erfüllt, wenn der Antrag auf Erlass des Mahn-bescheides überhaupt zulässig ist. Eine entsprechen-de Klage ist als unzulässig abzuweisen, weil die Pro-zessvoraussetzung der obligatorischen Streitschlich-tung nicht gewahrt ist.

Sachverhalt: Die Parteien sind Grundstücksnachbarn im Gemeinde-gebiet von E in Bayern. Mit einem Schreiben machteder Prozessbevollmächtigte des Kl. gegenüber demBekl. einen Anspruch zur Beseitigung überstehenderZweige einer Fichtenhecke und einer Fichtenbepflan-zung an der gemeinsamen Grundstücksgrenze der Par-teien geltend und setzte gleichzeitig eine Frist zur Besei-tigung. Da der zwischen den Parteien streitige Rück-schnitt der überwachsenden Zweige an der Grund-stücksgrenze nach Auffassung des Kl. nicht innerhalbder gesetzten Frist durchgeführt wurde, beantragte derKl. am 17. 11. 2000 den Erlass eines Mahnbescheidsgegen den Bekl. und machte einen Anspruch wegen“Vorschuss für Beseitigung überhängender Zweige"geltend. Gleichzeitig erklärte er im Mahnbescheidsan-trag, dass der Anspruch von einer Gegenleistung abhän-ge, diese aber erbracht sei. Die Mahnbescheide gegenden Bekl. wurden erlassen. Nach fristgemäßer Einle-gung des Widerspruchs durch den Bekl. leitete der Kl.ins streitige Verfahren über und begründete den geltendgemachten Anspruch. Er macht einen Kostenvorschussfür die Beseitigung der seiner Meinung nach überragen-den Zweige an der Grundstücksgrenze geltend, weil dieZweige durch die Nadeln und den Schatten, den dieZweige werfen, das landwirtschaftlich genutzte Grund-stück des Kl. beeinträchtigen würden. Ein Rückschnittder überhängenden Zweige wurde nach dem Sachvor-trag des Kl. bis zur mündlichen Verhandlung weder vondem Bekl. noch von ihm selbst durchgeführt.

Hat die Zahlungsklage Aussicht auf Erfolg?

Lösung:Für einen Erfolg der Zahlungsklage auf Vorschuss fürdie Beseitigung der überstehenden Fichtenzweige müss-te dieselbe zulässig und begründet sein.

A. Zulässigkeit der ZahlungsklageZunächst müsste die Zahlungsklage zulässig sein. Pro-blematisch könnte in diesem Fall sein, dass der Kl. nachder Natur des geltend gemachten Anspruchs vor Kla-geerhebung zwingend das nach § 15 a EGZPO i.V.m.Art. 1 Nr. 2 b BaySchlichtG obligatorische Schlich-tungsverfahren nicht durchgeführt hat.

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[Anm.: Im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung einerKlage ist stets nur auf die problematischen oder be-sonderen Voraussetzungen des jeweiligen Einzelfallseinzugehen. Eine Überprüfung sämtlicher Zulässig-keitsvoraussetzungen verbietet sich in Klausurenschon aus Zeitgründen.]

Nach § 15 a EGZPO können die einzelnen Bundeslän-der durch Landesgesetz bestimmen, ob vor Klageerhe-bung die Durchführung eines außergerichtlichen Güte-versuchs obligatorisch ist oder nicht. Der FreistaatBayern hat von dieser Öffnungsklausel mit dem Bay-SchlichtG Gebrauch gemacht. Fraglich ist, ob für denvorliegenden Fall diese Pflicht zum außergerichtlichenGüteversuch besteht.

I. Sachlicher AnwendungsbereichDafür müsste die vorliegende Rechtsstreitigkeit demsachlichen Anwendungsbereich von § 15 a EGZPOi.V.m. BaySchlichtG unterfallen. Das Gericht hat dazufolgendes festgestellt:“Der Kl. macht sachlich Ansprüche wegen überhängen-der Zweige nach § 910 S. 2 BGB geltend. Diese An-sprüche sind nach Art. 1 Nr. 2 b BaySchlichtG unab-hängig vom Streitwert der obligatorischen Schlichtungunterworfen. Der Landesgesetzgeber hat insoweit densachlichen Anwendungsbereich von § 15 a I EGZPO invollem Umfang übernommen.[...]. Da die nachbarrecht-lichen Ansprüche des § 910 BGB in vollem Umfangeder obligatorischen Schlichtung unterliegen, muss dieszwangsläufig auch dann gelten, wenn der Kl. einenhiermit korrespondierenden Beseitigungsanspruch nach§ 1004 I BGB geltend macht, wie dies im Schreibenvom 12. 7. 2000 an die Bekl. geschehen ist. Unabhän-gig von der Überlegung, dass das Gesetz keine An-spruchsgrundlage für eine "Vorschusszahlung" zurBeseitigung kennt, macht der Kl. inhaltlich einenBeseitigungsanspruch wegen überhängender Zweigenach §§ 1004 I, 910 S. 2 BGB geltend.“

II. zeitlicher AnwendungsbereichVor allem bei neu eingeführten Gesetzen ist zu über-prüfen, ob sie auch in zeitlicher Hinsicht auf den zuentscheidenden Fall Anwendung finden. Das Gerichtmeint dazu:“Das Bayerische Schlichtungsgesetz ist nach Art. 21BaySchlichtG am 1. 5. 2000 in Kraft getreten und fandnach Art. 22 I BaySchlichtG auf alle Klagen Anwen-dung, die 4 Monate nach In-Kraft-Treten des Gesetzes,mithin nach dem 1. 9. 2000, bei Gericht eingingen.” Der Rechtsstreit der Parteien begann mit dem Antrag

des Kl. auf Erlass eines Mahnbescheids am17.11.2000, so dass auch der zeitliche Anwendungs-bereich gegeben ist.

III. Kein Ausnahme vom Erfordernis eines außerge-richtlichen GüteversuchsVom Grundsatz des obligatorischen Streitschlichtungs-erfordernisses macht das Gesetz in § 15 a II Nr. 5EGZPO i.V.m. Art. 1 BaySchlichtG eine Ausnahme fürden Fall, dass dem Klageverfahren ein Mahnbescheids-verfahren gem. §§ 688 ff. ZPO vorausgeht. Der Bun-desgesetzgeber hat diese Ausnahme zugelassen, weilGläubigern von Zahlungsklagen nicht die Möglichkeitgenommen werden soll, gegen säumige Schuldnerschneller einen vollstreckbaren Titel zu erwirken. Zwarist im vorliegenden Fall durch den Kl. ein entsprechen-des Mahnbescheidsverfahren durchgeführt worden, je-doch stellt sich die Frage, ob damit diese Ausnahme-klausel von § 15 a II Nr. 5 EGZPO schon erfüllt ist, dadieses Mahnbescheidsverfahren möglicherweise vonAnfang an unzulässig war.

1. Unzulässigkeit des vorangegangenen Mahnbe-scheidsverfahrensDie Zulässigkeit eines Mahnbescheidsverfahrens be-stimmt sich nach § 688 I, II, III ZPO. Dazu führt dasGericht aus:“Unterstellt man den - bestrittenen - Sachvortrag desKl., hinsichtlich des Überwuchses an der Grundstücks-grenze als richtig, so hat er nach der überwiegendenMeinung in der Rechtsprechung entweder einen An-spruch auf Beseitigung der überhängenden Zweigedurch die Bekl. nach §§ 1004 I, 910 I BGB oder abereinen Anspruch auf Wertersatz nach §§ 812 I, 818 i.V.mit § 910 I 2 BGB, wenn er nach Fristsetzung zur Be-seitigung der überhängenden Zweige diese Arbeitenselbst ausführt oder ausfahren lässt (BGH, NJW 1986,2640). Im ersten Fall (Beseitigungsanspruch) ist einMahnverfahren nach § 688 I ZPO schon deshalb unzu-lässig, weil es sich nicht um einen Zahlungsanspruch,sondern um einen Anspruch auf Vornahme einer Hand-lung handelt, im zweiten Fall (Bereicherungsanspruch)setzt die Durchführung eines Mahnverfahrens nach §688 II 2 ZPO zwingend voraus, dass die Gegenleistungdurch den Kläger erbracht wurde, was vorliegend je-doch nicht der Fall war. Selbst wenn man dem Kl. dengeltend gemachten Anspruch auf Zahlung einer "Vor-schussleistung" für die Beseitigung der Zweige zuer-kennen sollte, wurde im Mahnbescheidsantrag vom 17.11. 2000 wahrheitswidrig angegeben, die Gegenleistungsei bereits erbracht. Der Klägervertreter, selbst als Gü-

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testelle nach dem Bayerischen Schlichtungsgesetz zu-gelassen, hat hierzu in der mündlichen Verhandlunglediglich angegeben, die Rubrik sei “versehentlich" an-gekreuzt worden. Da nach dem eigenen Vortrag des Kl.eine Beseitigung der überhängenden Zweige bis zurmündlichen Verhandlung weder von ihm noch von denBekl. durchgeführt wurde, war folglich der Antrag aufErlass eines Mahnbescheids nach § 688 ZPO von vorn-herein unzulässig. Dies konnte bei Erlass des Mahn-bescheide wegen der Behauptung, die Gegenleistung seier-bracht, auch nicht erkannt werden.” Folglich war dasgesamte Mahnbescheidsverfahren von vornherein un-zulässig.

2. Auswirkung auf die Ausnahmeklausel von § 15 a IINr. 5 EGZPONach dieser Feststellung stellt sich die rechtliche Über-legung an, ob ein unzulässiges Mahnbescheidsverfahrendie Ausnahmeklausel gem. § 15 a II Nr. 5 EGZPO er-füllen kann. Das Gericht verneint dies mit folgenderBegründung:“Auf einen Anspruch, der in einem unzulässigen Mahn-verfahren geltend gemacht worden ist, findet § 15 a IINr. 5 EGZPO jedoch keine Anwendung. Das Gesetzzur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegungvom 15. 12. 1999 soll neben einer Entlastung der Zivil-gerichte durch die Einführung eines obligatorischenaußergerichtlichen Schlichtungsverfahrens die konsen-suale Streitbeilegung im Interesse der Parteien fördern.Gerade in ihrem klassischen Anwendungsbereich dernachbarrechtlichen Streitigkeiten soll ein Güteversuchvor einer Schlichtungsstelle die Wiederherstellung desRechtsfriedens und des persönlichen Verhältnisses zwi-schen den Parteien fördern und gerichtlicheAuseinandersetzungen vermeiden. Ansprüche aus demNachbarrecht eignen sich nach den Vorstellungen desGesetzgebers besonders für die Durchführung eineraußergerichtlichen Schlichtung, weil ein Gerichtsver-fahren und insbesondere eine Entscheidung durch Urteildem persönlichen Verhältnis der Parteien nicht förder-lich ist, sondern bestehende Konflikte eher vertieft undweitere Streitigkeiten hervorruft. Auch wenn derProzessbevollmächtigte des Kl. in der mündlichen Ver-handlung erklärt hat, ein Güteversuch wäre auf Grunddes außergerichtlichen Verhaltens der Bekl. aussichts-los gewesen, so vermag doch das gesetzlich zwingendvorgeschriebene Schlichtungsverfahren nicht dadurchumgangen zu werden, dass eine rechtlich nicht geschul-dete Vorschussleistung verlangt und zudem im Mahn-bescheidsantrag wahrheitswidrig angegeben wird, eineGegenleistung sei bereits erbracht. Der Gesetzgeber hat

die Ausnahmevorschrift des § 15 a II EGZPO zwarobjektiv dahingehend formuliert, dass eine Schlichtungbei Durchführung des streitigen Verfahrens dann ent-fällt, wenn ein Anspruch im Mahnverfahren geltendgemacht worden ist. Aus Sinn und Zweck der viel kriti-sierten Vorschrift (vgl. Zöller, ZPO, 22. Aufl. [2001], §15 a EGZPO Rdnr. 13) muss jedoch geschlossen wer-den, dass ein Mahnbescheid i. S. des § 688 ZPO zulässi-gerweise beantragt worden ist. Der Bundesgesetzgeberhat deshalb das Mahnverfahren von der obligatorischenSchlichtung ausgenommen, weil Gläubigern von Zah-lungsklagen nicht die Möglichkeit genommen werdensollte, gegen säumige Schuldner schneller einen voll-streckbaren Titel zu. erwirken. Dass hierdurch auch -wie die Praxis zeigt - ein sprunghafter Anstieg derMahnverfahren deshalb zu verzeichnen ist, weil ver-sucht wird, eine an sich sinnvolle und nach dem gesetz-geberischen Leitbild auch gewollte Schlichtung zu um-gehen, hat der Gesetzgeber in Kauf genommen. DerAnwendungsbereich des § 15 a II Nr. 5 EGZPO mussjedoch dort seine Grenzen finden, wo mit falschen An-gaben im Mahnbescheidsantrag unzulässig ein Mahn-verfahren durchgeführt wird und anschließend insStreitverfahren übergeleitet wird, ohne die für den tat-sächlich in der Sache geltend gemachten Beseitigungs-anspruch nach §§ 1004, 910 BGB zwingend erforderli-che Schlichtung vor Klageerhebung durchzufahren. Umdem Gesetzeszweck des § 15 a I EGZPO zu entspre-chen, ist die Ausnahmeregelung des § 15 a II Nr. 5EGZPO folglich einschränkend dahingehend auszule-gen, dass nur ein i. S. des § 688 ZPO zulässiges Mahn-verfahren eine Schlichtung entbehrlich macht.”

IV. Rechtsfolgen bei unterlassenem Streitschlichtungs-versuchWird also ein unzulässiger Mahnbescheid beantragtund erlassen und das Verfahren nach dem Widerspruchin das streitige Verfahren übergeleitet, so ist die Klageals unzulässig abzuweisen, da die Prozessvorausset-zung der obligatorischen Schlichtung nicht erfüllt ist.

B. ZwischenergebnisDie Klage ist bereits unzulässig und kann daher schonnicht erfolgreich sein.

C. HilfsgutachtenIm Wege eines Hilfsgutachtens ist zur Begründetheitder Klage, also zu dem geltend gemachten Vorschuss-anspruch zur Zweigenbeseitigung Stellung zu nehmen.

I. §§ 1004 I, 910 I BGB

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Der Kl. könnte gegen den Bekl. wegen der überhängen-den Fichtenzweige einen Anspruch gem. §§ 1004 I, 910I BGB haben. Jedoch ist dieser Anspruch auf Beseiti-gung der überstehenden Zweige gerichtet; in diesemFall wird aber ein Kostenvorschuss für die Selbstvor-nahme geltend gemacht. Die Rechtsfolge von §§ 1004I, 910 I BGB passt daher nicht zum Anspruchsbegeh-ren.

II. §§ 812 I 1 2. Fall, 818 II BGBDer Kl. könnte aber gegen den Bekl.. einen Anspruchauf Ersatz der ersparten Aufwendungen im Wege derVerwendungskondiktion gem. §§ 812 I 1 2. Fall, 818 IIBGB verlangen. Dafür müsste der Bekl. zunächst “etwas” i.S.d. § 812 IBGB erlangt haben. Unter “etwas” versteht man jedenvermögenswerten Vorteil, u.a. die Ersparnis eigener

Aufwendungen (Palandt/Thomas, BGB, 60. Aufl., §812 Rz. 24). Der Bekl. hat aber noch gar nichts erspart,weil der Kl. noch gar nicht tätig geworden ist. Die Be-seitigungspflicht des Bekl. gem. §§ 1004 I, 910 I BGBbesteht nach wie vor. Im Voraus kann der Kl. diesenAnspruch aber nicht geltend machen.

III. ZwischenergebnisMangels einer Anspruchsgrundlage hat der Kl. gegenden Bekl. keinen Anspruch auf Zahlung eines Vor-schusses zur Beseitigung der überhängenden Zweige.

D. EndergebnisMangels Zulässigkeit und Begründetheit hat die erhobe-ne Zahlungsklage keine Aussicht auf Erfolg.

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Standort: § 244 I Nr. 2 StGB Problem: Voraussetzungen des Bandendiebstahls

BGH, BESCHLUSS VOM 22.03.2001

GSST 1/00 (NSTZ 2001, 421)

Problemdarstellung:

Mit der vorliegenden Entscheidung antwortet der GroßeSenat für Strafsachen auf den Vorlagebeschluss des 4.Strafsenats vom 26.10.2000 zu den Voraussetzungendes Bandendiebstahls. Der 4. Senat hatte nach Anfra-gen bei den anderen Strafsenaten dem Großen Senat dieRechtsfragen vorgelegt, ob der Begriff der Bande eineVerbindung von mehr als zwei Personen voraussetztund ob der Tatbestand des Bandendiebstahls das zeitli-che und örtliche Zusammenwirken von (mindestens)zwei Bandenmitgliedern erfordert. Der Große Senatbeantwortet die Vorlagefragen in Abkehr von der bishe-rigen Rechtsprechung dahingehend, dass der Begriff derBande den Zusammenschluss von mindestens drei Per-sonen voraussetzt und der Tatbestand des § 244 I Nr. 2StGB nicht erfordert, dass wenigstens zwei Bandenmit-glieder örtlich und zeitlich den Diebstahl zusammenbegehen, sondern vielmehr ausreichend ist, wenn einBandenmitglied als Täter und ein anderes Bandenmit-glied beim Diebstahl in irgendeiner Weise zusammen-wirken. Der Große Senat führt ferner aus, dass der Be-griff der Bande keinen “gefestigten Bandenwillen” er-fordere und eine Mitwirkung auch dann in Betrachtkomme, wenn die Wegnahmehandlung durch einen ban-denfremden Dritter verübt werde.

Prüfungsrelevanz:

Die Entscheidung besitzt überragende Prüfungs-relevanz, da der Große Senat in Abkehr von der bisheri-gen ständigen Rechtsprechung des BGH die Vorausset-zungen des Bandendiebstahls - und z.T. auch der übri-gen Bandendelikte - grundlegend neu gestaltet. Nach-dem sich erste Änderungen der Rechtsprechung im Hin-blick auf die Frage abzeichneten, ob auch das ortsab-wesende Bandenmitglied Täter des § 244 I Nr. 2 StGBsein kann, ist der Große Senat nicht nur der weiterrei-chenden Ansicht des 4. Senats gefolgt, sondern hat überdie Anfrage hinaus noch festgestellt, dass der Banden-begriff weder einen “gefestigten Bandenwillen” nochein “Tätigwerden im übergeordneten Bandeninteresse”voraussetzt (vgl. zur Entwicklung der RechtsprechungBGH, RA 2000, 296 ff. und 406 ff. sowie die umfang-reichen Nachweise im nachstehend wiedergegebenen

Beschluss).

Vertiefungshinweise:

ì Zu den Voraussetzungen des Bandendiebstahls:Schild, GA 1982, 55; Engländer, GA 2000, 578; Al-tenhain, ZStW 2001, 112

Kursprogramm:

ì Examenskurs: “Das eingespielte Team”

Leitsätze:1. Der Begriff der Bande setzt den Zusammenschlussvon mindestens drei Personen voraus, die sich mitdem Willen verbunden haben, künftig für eine ge-wisse Dauer mehrere selbstständige, im Einzelnennoch ungewisse Straftaten des im Gesetz genanntenDeliktstyps zu begehen. Ein "gefestigter Bandenwil-le" oder ein "Tätigwerden in einem übergeordnetenBandeninteresse" ist nicht erforderlich.2. Der Tatbestand des Bandendiebstahls setzt nichtvoraus, dass wenigstens zwei Bandenmitglieder ört-lich und zeitlich den Diebstahl zusammen begehen.Es reicht aus, wen ein Bandenmitglied als Täter undein anderes Bandenmitglied beim Diebstahl in ir-gendeiner Weise zusammenwirken. Die Wegnahme-handlung selbst kann auch durch einen bandenfrem-den Täter ausgeführt werden.

Sachverhalt: Die Angekl. kamen im Mai 1998 überein, gemeinsamgebrauchte Fahrzeuge zu entwenden. In Ausführungihres Vorhabens suchten sie von Anfang Juni bis zuihrer Festnahme Ende Juli 1998 mehrere Autohäuserauf. Sie nahmen im Freien abgestellte Fahrzeuge in Au-genschein und täuschten Kaufinteresse vor. Entspre-chend ihrem Tatplan lenkte einer der Angekl. die Auf-merksamkeit des Verkaufspersonals ab, während derandere die Situation nutzte, um unbemerkt einen derOriginalschlüssel des besichtigten Fahrzeugs gegen ei-nen mitgeführten, ähnlich aussehenden Schlüssel des-selben Fahrzeugtyps auszutauschen. Am jeweils folgen-den Wochenende wurden die teilweise mit einer elektro-nischen Wegfahrsperre ausgestatteten Fahrzeuge unterVerwendung der Originalschlüssel entwendet. Die StrKkonnte nicht feststellen, ob weitere Personen beteiligtwaren.

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Das LG hat die beiden Angekl. wegen Bandendiebs-tahls und schweren Bandendiebstahls jeweils in mehre-ren, teils nur zum Versuch gediehenen Fällen zu Ge-samtstrafen verurteilt. Gegen die Verurteilung wendensich beide Angekl. mit ihren Revisionen. Der für dieEntscheidung über die Rechtsmittel zuständige 4. Straf-senat des BGH hält die Sachrügen zum Schuldspruchfür begründet (zur Argumentation s. 4. Strafsenat,NStZ 2000, 474).Auf Anfrage des 4. Strafsenats, der sich an der beab-sichtigten Entscheidung durch die Rechtsprechung deranderen Strafsenate gehindert sieht, haben der 1. Straf-senat (NJW 2000, 2907) und der 2. Strafsenat (Beschl.v. 21. 6. 2000 - 2 ARs 76/00) mitgeteilt, dass sie anihrer Rechtsprechung sowohl zu der für eine Bandenotwendigen Mindestzahl der Bandenmitglieder wieauch zu den Mitwirkungsvoraussetzungen bei der Aus-führung des Diebstahls festhielten. Der 3. Strafsenat(NStZ 2001, 33) hat angeregt, den Großen Senat fürStrafsachen wegen grundsätzlicher Bedeutung der auf-geworfenen Rechtsfragen anzurufen. Der 5. Strafsenat(Beschl. v. 4. 4. 2000 - 5 ARs 20/00) hat mitgeteilt,dass er der beabsichtigten Entscheidung nicht entgegen-trete. Daraufhin hat der 4. Strafsenat - wegen beabsichtigterAbweichung und wegen grundsätzlicher Bedeutung -dem Großen Senat für Strafsachen gern. § 132 II undIV GVG mit Beschluss v. 26. 10. 2000 (NJW 2001,380 = NStZ 2001, 35) folgende Rechtsfragen zur Ent-scheidung vorgelegt: (1) Setzt der Begriff der Bandeeine Verbindung von mehr als zwei Personen voraus?(2) Erfordert der Tatbestand des Bandendiebstahls daszeitliche und örtliche Zusammenwirken von (minde-stens) zwei Bandenmitgliedern? Der Generalbundesanwalt hat dagegen beantragt zubeschließen: (1) Der Begriff der Bande setzt eine Ver-bindung von mehr als zwei Personen nicht voraus. (2)Der Tatbestand des Bandendiebstahls erfordert nicht,dass mindestens zwei Bandenmitglieder die Tat in örtli-chem und zeitlichem Zusammenwirken begehen.

Wie wird der Große Senat des BGH für Strafsachenentscheiden?

Lösung:

A. Zulässigkeit der Anrufung des Großen SenatsDie Anrufung des Großen Senats ist jedenfalls wegengrundsätzlicher Bedeutung der vorgelegten Rechtsfra-gen gem. § 132 IV GVG zulässig.

I. Grundsätzliche Bedeutung der vorgelegten Fragen-Den vorgelegten Fragen kommt grundsätzliche Bedeu-tung zu, weil von ihrer Beantwortung in einer Vielzahlzukünftiger Strafverfahren - nicht nur wegen Diebstahls- abhängen wird, ob eine Verurteilung wegen banden-mäßiger Begehung zu erfolgen hat. Im Anfrageverfah-ren sind die divergierenden Auffassungen der Strafsena-te zu diesen Rechtsfragen zutage getreten, so dass eineEntscheidung des Großen Senats für Strafsachen so-wohl zur Fortbildung des Rechts als auch zur Siche-rung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist.

II. Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechts-fragenBeide Rechtsfragen sind - wie es auch eine Vorlegungwegen grundsätzlicher Bedeutung voraussetzt (BGHSt33, 356 [359]; 39, 221 [226]; 42, 139 [144]) - für dieEntscheidung des vorlegenden Senats über die Revisio-nen der Angekl. erheblich. Der Erheblichkeit beiderFragen im Ausgangsverfahren steht nicht entgegen,dass es, je nach dem Ergebnis der Beantwortung dereinen Frage, auf die andere für die Entscheidung überdie Revisionen der Angekl. möglicherweise nicht mehrankommt. Erst bei einer Zusammenschau beider Fragenund ihrer aufeinander abgestimmten Beantwortungkann der Anwendungsbereich des § 244 I Nr. 2 StGBin sachgerechter Weise neu bestimmt werden.

B. Entscheidung der vorgelegten Rechtsfragen

I. Zum BandenbegriffDer Begriff der Bande setzt den Zusammenschluss vonmindestens drei Personen voraus, die sich mit dem Wil-len verbunden haben, künftig für eine gewisse Dauermehrere selbstständige, im einzelnen noch ungewisseStraftaten des im Gesetz genannten Deliktstyps zu be-gehen. Ein "gefestigter Bandenwille" oder ein "Tätigwer-den in einem übergeordneten Bandeninteresse" ist nichterforderlich.

1. Bisherige Rechtsprechung zum BandenbegriffDer Tatbestand des Bandendiebstahls (§ 244 I Nr. 2StGB) schreibt, wie die anderen Vorschriften desStrafgesetzbuchs und des Nebenstrafrechts, die an dasMerkmal der bandenmäßigen Begehung anknüpfen,keine Mindestzahl vor, ab der ein Zusammenschlussvon Personen zu kriminellem Tun als eine Bande an-zusehen ist. Nach der ständigen Rechtsprechung genüg-te für den Begriff der Bande eine auf einer ausdrück-lichen oder stillschweigenden Vereinbarung beruhendeVerbindung von mindestens zwei Personen, die sich mit

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dem ernsthaften Willen zusammengeschlossen haben,für eine gewisse Dauer in Zukunft mehrere selbstständi-ge, im Einzelnen noch unbestimmte Taten eines be-stimmten Deliktstyps zu begehen (BGHSt 23, 239; 38,26 [31]; BGH bei Dallinger, MDR 1973, 555; BGH,StV 1984, 245; NStZ 1986, 408); für eine Bande warweder eine gegenseitige Verpflichtung der Mitgliederzur Begehung solcher Delikte noch die Bildung einerfesten Organisation vorausgesetzt (BGHSt 31, 203[205]; 42, 255 [258]; BGH, GA 1974, 308,; BGH beiHoltz, MDR 1977,282).

2. Kritik der Literatur am Bandenbegriff der Recht-sprechungDer so umschriebene Bandenbegriff wird in weiten Tei-len des Schrifttums seit vielen Jahren abgelehnt (vgl.etwa Dreher, NJW 1970, 1802; Tröndle, GA 1973, 325[328]; Geilen, Jura 1979, 445 [446]; Schünemann, JA1980, 393 [395]; Schild, NStZ 1983, 69 [70]). Die Ein-wände verstärkten sich nach dem Inkrafttreten des Ge-setzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandelsund anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kri-minalität /OrgKG) v. 15. 7. 1992 (BGBl I, 1302), mitdem, ohne die Bande gesetzlich zu definieren, neueBandendelikte geschaffen (§§ 260 I Nr. 2, 260 a IStGB) und die Strafdrohung bereits vorhandener Ban-dendelikte unter bestimmten weiteren Voraussetzungenverschärft wurden (§ 244 a I StGB, 30 a I BtMG). DerAnnahme, der Zusammenschluss von zwei Personengenüge für eine Bande, wird von der überwiegendenMeinung in der Literatur hauptsächlich entgegengehal-ten, dass eine Willensbildung als gruppendynamischerProzess erst innerhalb einer größeren Gruppe entsteheund die Gefährlichkeit einer Bande erst bei mehr alszwei Mitgliedern unabhängig von Aus- oder Hinzutre-ten einzelner Mitglieder gegeben sei (so in jüngster ZeitErb, NStZ 1999, 187; Endriß, StV 1999, 445; Otto,StV 2000, 313; Engländer, JZ 2000, 630; Hohmann,NStZ 2000, 258; Ischmitz, NStZ 2000, 477). 3. Bisherige Reaktion der Rechtsprechung auf die Kri-tik aus der Literatur; “Erfordernis des Handelns mitgefestigtem Bandenwillen”Trotz der erheblichen Kritik am herkömmlichenBandenbegriff hat die Rechtsprechung bisher keinenAnlass gesehen, ihre Definition der Bande zu ändern;sie hat es auch nicht für gerechtfertigt gehalten, den vonBVerfG (NJW 1997, 1910 [1911]) gebilligten Begriffder Bande durch das Erfordernis organisatorischerStrukturen restriktiv auszulegen (BGH, StV 1997, 592[593]; BGHR BtMG § 30 a Bande 3). Da auch nach

Auffassung der Rechtsprechung die bandenmäßige Tat-begehung eine gegenüber der Mittäterschaft gesteigerte,über die aktuelle Tat tendenziell hinausreichende delik-tische Zusammenarbeit darstellt, hat sie - insbesonderebei Verbindung von zwei Personen - aber zusätzlichverlangt, dass die Täter eines Bandendelikts ein gemein-sames übergeordnetes Bandeninteresse verfolgt haben(BGHSt 42, 255 [259]; BGH, NStZ 1997, 90 [91];NStZ 1998, 255 m. Anm. Körner; BGHR BtMG § 30a Bande 8). Sie hat zur Abgrenzung der Bande von dermittäterschaftlichen Arbeitsteilung darauf abgestellt, obein über die jeweiligen Individualinteressen der Beteilig-ten hinausgehender gefestigter Bandenwille vorgelegenhat (BGH, NJW 1996, 2316 [2317]). Dazu hat sie Kri-terien zu entwickeln versucht, mit deren Hilfe der Be-griff der Bande inhaltlich näher umschrieben und kon-kreter gefasst werden sollte. Als Voraussetzung für dieAnnahme einer Bande bei Zwei-Personen-Verbindun-gen verlangten zuletzt alle Strafsenate des BGH einHandeln mit gefestigtem Bandenwillen, wobei ein sol-cher, auf gewisse Dauer angelegter und verbindlicherGesamtwille dann angenommen wurde, wenn die Täterein gemeinsames übergeordnetes Bandeninteresse ver-folgt hatten (BGH, NStZ 1996, 443; NStZ 2001, 32[33]; NJW 1998, 2913; StV 1998, 599).

4. Würdigung der bisherigen RechtsprechungDiese in jüngerer Zeit entfalteten Bemühungen derRechtsprechung um die Entwicklung sinnvoller undpraktikabler Kriterien, die vor allem bei Zwei-Personen-Verbindungen eine dem Einzelfall gerechtwerdende Abgrenzung von bandenmäßigen und anderenZusammenschlüssen erlauben sollen, haben zu neuenSchwierigkeiten bei der Auslegung geführt. Sie rückendie Bandentat in die Nähe des Organisationsdelikts derkriminellen Vereinigung des § 129 StGB, obwohl dieBandendelikte, auch nach den Entscheidungen, die vonder Notwendigkeit eines verbindlichen Gesamtwillensund der Verfolgung eines übergeordneten Bandeninter-esses ausgehen, keine Organisationsdelikte sind (vgl.BGHSt 42, 255 [258]; BGH, NStZ 1996, 339 [340];BGHR BtMG § 30 a Bande 9). Hinzu kommt, dass esbisher nicht gelungen ist, die materiell-rechtlichen Vor-aussetzungen eines "auf gewisse Dauer angelegten ge-festigten Bandenwillens" oder des "übergeordnetenBandeninteresses" konkret zu umschreiben und recht-liche Maßstäbe festzulegen, die es den Tatgerichtenohne weiteres ermöglichen, im Einzelfall unter Berück-sichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zuprüfen und zu entscheiden, ob ein Zusammenschlussvon zwei Personen eine Bande darstellt (vgl. Trönd-

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le/Fischer, StGB, 50. Aufl., § 244 Rdnr. 19 a; Fran-ke/Wienroeder, BtMG, 2. Aufl., § 30 Rdnr. 8).

5. Erfordernis einer Korrektur der RechtsprechungDie wenig befriedigenden Lösungsversuche der Recht-sprechung verlangen ein Überdenken der materiell-rechtlichen Voraussetzungen einer Bande. Dies gilt ver-stärkt deshalb, weil das ursprünglich homogene Bildweniger Bandendelikte - Bandendiebstahl, Bandenraubund bandenmäßiger Schmuggel -, die auf Grund ihrergeringen Anzahl in ihrem gemeinsamen Regelungsbe-reich, nämlich dem bandenmäßigen Zusammenschlussund der bandenmäßigen Tatbege-hung, überschaubarund in bezug auf die rechtlichen Voraussetzungen insich stimmig festzulegen waren, nicht mehr besteht. Diegenannten Bandendelikte sind mittlerweile durch eineVielzahl von verschiedenen Straftatbeständen ergänztworden, in denen die bandenmäßige Begehung entwederals tatbestandliches Qualifikationsmerkmal oder alsRegelbeispiel eines besonders schweren Falls aufge-führt wird. Hierdurch sind die ehemals aus der Mengeder Straftatbestände hervorgehobenen Bandendelikte zuDelikten der modernen Massenkriminalität abgewandeltworden (vgl. Hassemer, StV 1993, 664).

a) Zusammenschluss von mindestens drei Personen-Angesichts der fehlgeschlagenen Bemühungen derRechtsprechung, unter Beibehaltung der Verbindungvon zwei Personen als Mindestvoraussetzung für eineBande den Bandenbegriff durch zusätzliche Kriterieninhaltlich näher zu bestimmen, ist es sinnvoll und gebo-ten, für eine Bande den Zusammenschluss von minde-stens drei Personen zu kriminellem Tun vorauszuset-zen. Der Wortlaut des § 244 I Nr. 2 StGB und derWortlaut der übrigen Tatbestände der Bandendeliktelassen sowohl die Annahme einer aus zwei Personenbestehenden Bande als auch die Anhebung der Mindest-zahl der Bandenmitglieder auf drei Personen zu. DieseErhöhung der Mindestmitgliederzahl ist ein einfachesund erfolgversprechendes Mittel, um die Abgrenzungder wiederholten gemeinschaftlichen Tatbegehungdurch Personen, die nur Mittäter sind, von derjenigender bandenmäßigen Begehung zu vereinfachen. Sie er-leichtert die Abgrenzung vor allem auch in der prakti-schen Rechtsanwendung durch die Tatgerichte, daZwei-Personen-Zusammenschlüsse von vornhereinnicht mehr dem Bandenbegriff unterfallen. Die Anhe-bung der Mindestmitgliederzahl einer Bande von zweiauf drei dient damit der Rechtssicherheit und der ein-heitlichen Rechtsanwendung.

b) Keine weitergehende Einschränkungen des Banden-begriffs Zu einer weiteren Einschränkung des Bandenbegriffsbesteht kein Anlass. Insbesondere bieten dieEntstehungsgeschichte und die Gesetzesmaterialien desOrgKG und der nachfolgenden Reformgesetze keinenAnhalt dafür, dass der Gesetzgeber die Bande als einekriminelle Erscheinungsform mit einem Mindestmaßkonkreter Organisation oder festgelegter Strukturenverstanden hat und verstanden wissen wollte (vgl. BT-DR 12/989, S. 20 f. [25]). Er hat die Bande lediglichals mögliche Keimzelle der Organisierten Kriminalitätgesehen und als Anknüpfungsmerkmal für erhöhteStrafdrohungen gewählt, indem er die schon im Strafge-setzbuch vorhandenen Merkmale der "gewerbs-mäßigen" und "bandenmäßigen" Tatbegehung als be-sonders "organisationsverdächtig" aufgegriffen hat (vgl.Begr. zum Gesetzentwurf des Bundesrats v. 26. 4.1991 - BR-DR 219/91, S. 78). In diesem Zusammen-hang sollte der Begriff der Bande nicht (neu) definiertwerden. Es ist mit der früheren Rechtsprechung davonauszugehen, dass ein bandenmäßiger Zusammenschlussmehrerer Personen lediglich voraussetzt, dass diese sichmit dem Willen verbunden haben, künftig für eine ge-wisse Dauer mehrere selbstständige im einzelnen nochungewisse Straftaten der im Gesetz beschriebenen Artzu begehen. Die Bande unterscheidet sich danach vonder Mittäterschaft durch das Element der auf eine ge-wisse Dauer angelegten Verbindung mehrerer Personenzu zukünftiger gemeinsamer Deliktsbegehung. Von derkriminellen Vereinigung unterscheidet sich die Bandedadurch, dass sie keine Organisationsstruktur aufwei-sen muss und für sie kein verbindlicher Gesamtwilleihrer Mitglieder erforderlich ist, diese vielmehr in einerBande ihre eigenen Interessen an einer risikolosen undeffektiven Tatausführung und Beute- oder Gewinnerzie-lung verfolgen können.

6. Vereinbarkeit der Erhöhung der Mindestmitglieder-zahl mit dem Willen des GesetzgebersDer Änderung der Rechtsprechung zur Mindestzahl derBandenmitglieder steht nicht der Umstand entgegen,dass der Gesetzgeber bei den Änderungen des materiel-len Strafrechts den in der Rechtsprechung entwickeltenBandenbegriff zu Grunde gelegt hat. Zwar lässt sichaus den Gesetzesnovellierungen der letzten Jahrzehnteeine gesetzgeberische Bestätigung des von der Recht-sprechung definierten Bandenbegriffs ableiten (vgl.BGHSt 38, 26 [28]; Wessels/Hillenkamp, BT/2, 23.Aufl., Rdnr. 271; Sya, NJW 2001, 343 [344]). Hin-gegen ist eine gesetzliche Festlegung oder Umschrei-

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bung des Bandenbegriffs, etwa in § 11 StGB, unter-blieben, obwohl dem Gesetzgeber die seit mehr als 30Jahren kontrovers geführte Diskussion zum Banden-begriff nicht entgangen sein kann. Damit hat er es er-sichtlich weiter der Rechtsprechung überlassen, denBegriff der Bande inhaltlich zu bestimmen; er hat ihrdamit auch die Möglichkeit eingeräumt, Entwicklungenin der Rechtspraxis Rechnung zu tragen, wenn es zurGewährleistung der Rechtssicherheit oder der einheitli-chen Rechtsanwendung erforderlich ist.

7. Folgewirkungen der Änderungen der Rechtspre-chungDie Änderung der Rechtsprechung hat auch keine un-vertretbaren Folgewirkungen.

a) Auswirkungen auf das StrafmaßUnzuträglichkeiten i. S. einer unangemessenen mildenAhndung sind nicht zu befürchten. Für reisende Täter,die möglicherweise einer größeren Bande angehören,aber nur zu zweit die Taten ausführen und nur in die-sem Umfang überführt werden können, bietet der in derRegel anwendbare Strafrahmen des § 243 I StGB genü-gend Spielraum, um eine für die jeweilige Tat angemes-sene Strafe zu finden. Für die vom Gesetzgeber mitdem OrgKG auch beabsichtigte Vorverlagerung derStrafbarkeit über § 30 StGB stehen jedenfalls im Betäu-bungsmittelstrafrecht mit § 29 a I Nr. 2 BtMG und §30 I Nr. 4 BtMG "Auffangvorschriften" zur Verfü-gung, die ebenfalls Verbrechenstatbestände enthaltenund sowohl eine angemessene Bestrafung der bloßenMittäterschaft als auch eine Erfassung der Verabredungüber § 30 StGB ermöglichen. Die Einschränkung einerVorverlagerung der Strafbarkeit über § 30 StGB (i. V.mit § 244 a StGB oder § 260 a StGB) im Bereich vonBandendiebstahl und -hehlerei dürfte von geringer prak-tischer Relevanz sein und fällt gegenüber der durch dasErfordernis von mindestens drei Bandenmitgliedern ge-wonnenen Rechtssicherheit und -klarheit nicht entschei-dend ins Gewicht. Durch die Anhebung der Mindest-mitgliederzahl auf drei Personen werden im Übrigen dieWertungswidersprüche bei den so genannten gemisch-ten Banden aus Dieben und Hehlern (vgl. dazu Miehe,StV 1997, 247 [248 f.]; Erb, NStZ 1998, 537 [538 f.])gemindert und, wenn die "Bande" lediglich aus einemDieb und einem Hehler besteht, sogar gegenstandslos.

b) Auswirkungen auf das ProzessrechtDie Einschränkung des Anwendungsbereichs der Ban-dendelikte auf Verbindungen von wenigstens dreiBandenmitgliedern grenzt die Anwendbarkeit der pro-

zessualen Vorschriften nicht unverhältnismäßig ein, diedie Zulässigkeit strafprozessualer Untersuchungshand-lungen (auch) an die bandenmäßige Begehung einzelnerDelikte anknüpfen (§§ 98 a, 100 a, 100 c, 110 a StPO).Für den erforderlichen, durch bestimmte Tatsachen zukonkretisierenden "Verdacht" wird es eher auf die sons-tigen Umstände der Tatbegehung ankommen, wie etwakonspirative Vorbereitung oder tatbegleitende Maßnah-men, die auf ein organisiertes Verhalten von mehr alszwei Personen hindeuten. Im Übrigen knüpfen sämtli-che dieser prozessualen Vorschriften nicht allein an denVerdacht von Bandendelikten, sondern überwiegend anden Verdacht anderer Straftaten an.

c) Vertrauen in der Kontinuität der RechtsprechungDurch die Änderung des Bandenbegriffs wird auchnicht das Vertrauen in die Kontinuität der Rechtspre-chung beeinträchtigt. Die Kontinuität der Rechtspre-chung war infolge der in Einzelfällen unterschiedlichverwendeten und ausgelegten Merkmale des "gefestig-ten Bandenwillens" und des "Tätigwerdens in einemübergeordneten Bandeninteresse inhaltlich weitgehendverlorengegangen. Darüber hinaus erscheint es im In-teresse der Rechtssicherheit sogar sinnvoll, der Praxismit der Mindestanzahl von drei Bandenmitgliedern unddem Verzicht auf einen wie auch immer gearteten "Ban-denwillen" klare Vorgaben an die Hand zu geben unddamit eine feste Grundlage für die künftigeRechtsanwendung zu schaffen.

II. Zum Erfordernis der Mitwirkung eines anderenBandenmitglieds im Tatbestand des BandendiebstahlsDer Tatbestand des § 244 I Nr. 2 StGB, wonach derje-nige einen Bandendiebstahl begeht, der als Mitgliedeiner Bande, die sich zur fortgesetzten Begehung vonRaub oder Diebstahl verbunden hat, unter Mitwirkungeines anderen Bandenmitglieds stiehlt, setzt nicht vor-aus, dass wenigstens zwei Bandenmitglieder örtlich undzeitlich die Wegnahmehandlung zusammen begehen. Esreicht aus, wenn ein Bandenmitglied als Täter und einanderes Bandenmitglied beim Diebstahl in irgendeinerWeise zusammenwirken. Die Wegnahmehandlungselbst kann auch durch eine bandenfremde Person aus-geführt werden.

1. Bisherige RechtsprechungNach der früheren Rechtsprechung konnte Täter einesBandendiebstahls nur ein Bandenmitglied sein, dasbeim Bandendiebstahl am Ort der Wegnahme, wennauch nicht notwendig körperlich, selbst mitwirkt(BGHSt 8, 205; 25, 18; 33, 50; NJW 1985, 502). Dem

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lag die Auffassung zugrunde, dass die Mitwirkungbeim Diebstahl am Ort der Wegnahme täterschaftsbe-gründendes und Eigenhändigkeit voraussetzendesMerkmal sei, weil die vom Gesetz verlangte Mitwir-kung sich auf den Täter beziehe. Diese Rechtsprechunghat der BGH mit Urteil v. 9. 8. 2000 - 3 StR 339/99(BGHSt 46, 120) aufgegeben und dahin abgeändert,dass ein Mitglied einer Diebesbande auch dann Tätereines Bandendiebstahls ein kann, wenn es zwar nicht ander Ausübung des Diebstahls unmittelbar beteiligt war,aber auf eine andere als täterschaftlichen Tatbeitrag zuwertende Weise daran mitgewirkt hat. Diese Auslegungdes Mitwirkungsmerkmals hat der BGH durch Urteil v.20. 9. 2000 - 2 StR 186/00 (BGHSt 46, 138) für denTatbestand des Bandenraubes gem. § 250 I Nr. 2 StGBübernommen.Dass die Täterschaft beim Bandendiebstahl nichtnotwendig die unmittelbare Mitwirkung am Ort derWegnahme voraussetzt, hat die Rechtsprechung bishernur für die Fälle entschieden und anerkannt, in denenwenigstens zwei weitere Bandenmitglieder den Diebs-tahl im zeitlichen und örtlichen Zusammenwirken be-gangen hatten. Hieran anknüpfend ist nunmehr die Fra-ge zu entscheiden, ob das Tatbestandsmerkmal "wer ...unter Mitwirkung eines anderen Bandenmitgliedsstiehlt" grundsätzlich ein Zusammenwirken von wenigs-tens zwei Bandenmitgliedern am Ort der Wegnahme vo-raussetzt, auch wenn weitere Bandenmitglieder imHintergrund oder bei der Vorbereitung der Tat mitge-wirkt haben. Durch die Entscheidung, dass der Begriffder Bande den Zusammenschluss von wenigstens dreiPersonen zu kriminellem Tun voraussetzt, haben dieBandendelikte generell eine restriktive Auslegung erfah-ren. Dies ermöglicht es, die Auslegung des Mit-wirkungserfordernisses im Tatbestand des Banden-diebstahls von der herkömmlichen Betrachtungsweiseder Rechtsprechung zu lösen und die von ihr vorgenom-mene enge Anbindung an die unmittelbare Tatausfüh-rung aufzugeben.

2. Erweiterung des Tatbestandes auf jede Form derMitwirkungDie Erweiterung des Anwendungsbereichs des Tatbe-stands des Bandendiebstahls in dem Sinne, dass jedeForm des Mitwirkens am Diebstahl und nicht nur diepersönliche Beteiligung am Ort der Wegnahme aus-reicht, ist mit dem Wortlaut und der ratio des § 244 INr. 2 StGB vereinbar. Dem stehen weder systematischeGründe entgegen, noch lassen sich durchgreifende Ein-wendungen aus der Entstehungsschichte der Norm ab-leiten.

a) Grammatikalische und teleologische AuslegungDerGesetzeswortlaut des § 244 I Nr. 2 StGB sagt über dieArt und Weise der Mitwirkung nichts aus. Er legt ins-besondere nicht fest, dass es sich um eine "örtliche undzeitliche Mitwirkung" handeln muss und eine lediglichfördernde Beteiligung, etwa als Kopf der Bande imHintergrund des Tatgeschehens, nicht in Betrachtkommt (Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., §244 Rdnr. 27; Kindhäuser, in: NK-StGB, § 244 Rdnr.35; Arzt/Weber, StrafR, BT/2, § 14 Rdnrn. 61 f.; Ren-gier, StrafR, BT/l, 2. Aufl., § 4 VI 2 Rdnr. 47; Wes-sels/Hillenkamp, StrafR, BT/2, 23. Aufl., § 4 III 2Rdnr. 272; Arzt, JuS 1972, 576 [579]; Schünemann,JA 1980, 393 [395]; Schild, GA 1982, 55 [83]; Joer-den, StV 1985, 329 [330]; Meyer, JuS 1986, 189[190]; Küper, GA 1997, 327 [334]; Hohmann, NStZ2000, 258 f.; Sya, NJW 2001, 343 [344]; a. A. Hoyer,in: SK-StGB, § 244 Rdnr. 36; Taschke, StV 1985,367; Schmitz, NStZ 2000, 477 [478]).

aa) Bisherige Bestimmung der StrafwürdigkeitDer Begriff der Mitwirkung beim Stehlen erfasst fürsich genommen jede Form der Beteiligung am Diebs-tahl, die auch sonst nach den allgemeinen Regeln alsBeitrag zur Förderung einer bestimmten Tat gewertetwerden kann (vgl. Joerden, StV 1985, 329 [3301; Ja-kobs, JR 1985, 342 [343], jew. Anm. zu BGHSt 33,50). Sinn und Zweck des Tatbestands des Bandendiebs-tahls verlangen nicht, besondere Anforderungen an dieMitwirkung der Bandenmitglieder zu stellen. Die be-sondere Gefährlichkeit des Bandendiebstahls und damitder Grund für seine höhere Strafwürdigkeit liegt zumeinen in der abstrakten Gefährlichkeit der auf eine ge-w i s s e D a u e r a n g e l e g t e n a l l g e m e i n e nVerbrechensverabredung, der Bandenabrede, zum ande-ren aber auch in der konkreten Gefährlichkeit der ban-denmäßigen Tatbegehung für das geschätzte Rechtsgut.Zwar wird mit der früheren Rechtsprechung auch vonVertretern der Literatur die Auffassung vertreten, dasErfordernis des Stehlens unter Mitwirkung eines ande-ren Bandenmitglieds kennzeichne die Tatausführungselbst und solle dem Umstand Rechnung tragen, dassdie besondere Gefährlichkeit der Tat nur bei der räumli-chen Anwesenheit von mindestens zwei Bandenmitglie-dern am eigentlichen Tatort vorliege (Eser, in: Schön-ke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 244 Rdnr. 27; Kind-häuser, in: NK-StGB, § 244 Rdnr. 36; Rengier, § 4 VI2 Rdnr. 47; Küper, StrafR, BT, 3. Aufl., S. 43 f.; Mey-er, juS 1986, 189 [192]; Otto, StV 2000, 313 [314]).Diese Auslegung des Mitwirkungserfordernisses be-

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schränkt die straferhöhende Wirkung des zweiten Ge-fährlichkeitselements des Bandendiebstahls auf die anden Wegnahmeort gebundene Aktionsgefahr durch we-nigstens zwei Bandenmitglieder. Dem Ein-schüchterungseffekt sowie der gesteigerten Durchset-zungsmacht mehrerer Täter gegenüber dem Opferkommt beim Bandendiebstahl aber nur sekundäre Be-deutung zu. Eine potentielle Täter-Opfer-Konfrontationist dem Tatbestand des Diebstahls nicht von vornehe-rein immanent.

bb) Strafgrund der erhöhten Gefahr für die Schutzgü-ter des DiebstahlsDer Tatbestand des § 242 StGB schützt die Rechtsgü-ter des Eigentums und des Gewahrsams an einer Sache.Die Vorschrift des § 244 1 Nr. 2 StGB setzt voraus,dass durch die bandenmäßige Tatbegehung des Diebs-tahls diese Rechtsgüter einer erhöhten Gefährdung aus-gesetzt werden. Eine so verstandene Aktions- und Aus-führungsgefahr beim Bandendiebstahl kann jedochnicht nur durch gemeinschaftliches Handeln am Ort derWegnahme, sondern ebenso durch jedes arbeitsteiligeZusammenwirken wenigstens zweier Bandenmitgliederbei der Planung und Vorbereitung der Tat oder bei tat-begleitenden Maßnahmen gesteigert werden. Dies kannder Fall sein, wenn ein Bandenmitglied die Tat aufGrund seiner Ortskenntnisse oder besondererOrganisationsmöglichkeiten plant, ein anderes die er-forderlichen Vorbereitungen trifft, indem es die notwen-digen Werkzeuge oder Transportmittel besorgt, wäh-rend wieder ein anderes Baudenmitglied - möglicher-weise wegen seiner besonderen Kenntnisse und Fähig-keiten - die Sache wegnehmen soll und ein weiteresBandenmitglied für den Abtransport und die Sicherungder Beute Sorge trägt. Eine derartige Arbeitsteilung, dievor allem für organisierte und spezialisierte Diebesban-den typisch ist, ist zumindest genauso gefährlich wiedie Arbeitsteilung am Ort der Wegnahme selbst (soschon Arzt, JuS 1972, 576 [579]; Jakobs, JR 1985,340 [343]; a. A. Zopfs, GA 1995, 320 [327 f.]; Englän-der, GA 20009 578 [582]).

b) Systematische AuslegungEin Festhalten am Erfordernis eines zeitlichen und örtli-chen Zusammenwirkens von wenigstens zwei Banden-mitgliedern am Wegnahmeort ist nicht aus gesetzessys-tematischen Gründen geboten. Zwar trifft es zu, dassdie Bandendelikte im Gesetz unterschiedlich tatbestand-lich ausgestattet sind; außer § 244 I Nr. 2 StGB fordertnur eine relativ geringe Zahl die Mitwirkung eines an-deren Mitglieds (§ 250 I Nr. 2 StGB; § 373 II Nr. 3

AO 1977; §§ 19 II Nr. 1, 22 a II KWKG; § 52 a IIWaffG), während eine Vielzahl anderer Tatbestände,namentlich §§ 260 I Nr. 2, 260 a I StGB; §§ 30 I Nr.1, 30 a I BtMG, auf dieses Merkmal verzichtet. Darauslassen sich jedoch für die Tatbestände, die das Mitwir-kungserfordernis enthalten, insbesondere aber für § 244I Nr. 2 StGB, keine Anforderungen an die inhaltlicheAuslegung dieses Merkmals ableiten. Aus der vom Ge-setzgeber erkennbar vorgenommenen Differenzierungfolgt lediglich, dass das Mitwirkungserfordernis nichtin einer Weise ausgelegt werden darf, dass ihm keineeigenständige, tatbestandsumschreibende Bedeutungmehr zukommt. Das ist aber beim Bandendiebstahlnicht der Fäll, solange - entsprechend dem Wortlaut des§ 244 I Nr. 2 StGB - ein irgendwie geartetes Zusam-menwirken des Täters mit einem anderen Bandenmit-glied gefordert wird. Auch dann kommt dem Mitwir-kungserfordernis eine den Anwendungsbereich der Vor-schrift beschränkende Funktion zu. Einen Bandendiebs-tahl begeht weder das Mitglied einer Bande, das einenDiebstahl allein ohne Mitwirkung eines anderen Ban-denmitglieds verübt, noch dasjenige, das bei der Tatausschließlich mit bandenfremden Personen zusammen-wirkt. Die Ausklammerung solcher Fälle aus dem Tat-bestand des Bandendiebstahls macht auch Sinn, weil inihnen die besondere Gefährlichkeit der Bandenabredeund die der bandenmäßigen Tatbegehung nicht gleich-zeitig zum Tragen kommen.Gegen die schon vom vorlegenden Senat im Anfrage-und Vorlegungsverfahren vertretene weite Auslegungdes Mitwirkungserfordernisses in § 244 I Nr. 2 StGBlässt sich nicht mit Erfolg einwenden, diese Auslegungerfasse, indem sie irgendeine Beteiligungshandlung ei-nes anderen Bandenmitglieds genügen lasse, allein denStrafschärfungsgrund der erhöhten Organisationsge-fahr, die sich aus dem Bandenzusammenschluss ergebeund als solche schon Inhalt des Tatbestandsmerkmalsder Mitgliedschaft in der Bande sei (Engländer, GA2000, 578 [581 f.]; ders., JR 2001, 78 [79]). Auch dieweite Auslegung des Mitwirkungsmerkmals trägt demGesichtspunkt der gesteigerten AusführungsgefahrRechnung, weil die Tatbeiträge der einzelnenBandenmitglieder in die Tatausführung einfließen undsich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Diese dieEffizienz der Tathandlung erhöhende bandenmäßigeAusführungsgefahr ist nicht gleichzusetzen mit derschon vom bandenmäßigen Zusammenschluss ausge-henden Organisationsgefahr. Denn die abstrakte Gefähr-lichkeit der Bandenabrede liegt in der engen Bindung,die die Mitglieder für die Zukunft und für eine gewisseDauer eingehen und die einen ständigen Anreiz zur

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Fortsetzung bildet (vgl. BGHSt 23, 239 [240]). DieSteigerung der Effektivität der Tatausführung ist einhiervon unabhängiges Gefährlichkeitselement, das dieBandendelikte, die die Mitwirkung eines anderen Ban-denmitglieds bei der Tatbegehung vorsehen, nach wievor von denjenigen Bandendelikten unterscheidet, diekein ausdrücklich im Tatbestand genanntesMitwirkungsmerkmal enthalten. Bei diesen genügt dieRealisierung der im bandenmäßigen Zusammenschlussliegenden Organisationsgefahr, indem ein Bandenmit-glied die Tat für die Bande begeht.Der Verzicht auf das Erfordernis eines örtlichen undzeitlichen Zusammenwirkens von (mindestens) zweiBandenmitgliedern am Tatort fügt sich zwanglos an dieneuere Rechtsprechung des BGH zu § 244 I Nr. 2StGB an. Nach übereinstimmender Auffassung allerStrafsenate des BGH muss sich der Täter des Banden-diebstahls nicht mehr - wie nach früherer Rechtspre-chung - selbst am Tatort an der Ausführung des Diebs-tahls unmittelbar beteiligen. Vielmehr reicht es aus,wenn er auf eine andere - als täterschaftliche Beteili-gung zu wertende - Weise daran mitgewirkt hat(BGHSt 46, 120; 46, 138). Setzt aber die Verurteilungwegen täterschaftlichen Bandendiebstahls nicht mehrvoraus, dass der Angekl. selbst am Tatort anwesendwar, so liegt es nahe, die Tatbestandsmäßigkeit seinesVerhaltens als Bandendiebstahl i. S. des § 244 I Nr. 2StGB auch nicht mehr davon abhängig zu machen, dasszwei andere Bandenmitglieder sich an der Wegnahme-handlung am Tatort in räumlichem und zeitlichem Zu-sammenwirken beteiligt haben.

c) Historische AuslegungAuch aus der Entstehungsgeschichte des § 244 I Nr. 2StGB lassen sich durchgreifende Einwendungen gegendie weite Auslegung des Mitwirkungserfordernissesnicht ableiten. Zwar hat der Gesetzgeber des 1.Strafrechtsreformgesetzes, mit dem § 244 I Nr. 3 StGBa. F. - die Vorläufervorschrift des § 244 I Nr. 2 StGB -in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde, die höchstrich-terliche Rechtsprechung zu § 243 Nr. 6 StGB a. F. ge-kannt und gebilligt, wonach nur diejenigen Bandenmit-glieder als Täter des Bandendiebstahls in Betracht ka-men, die örtlich und zeitlich an dem Diebstahl mitge-wirkt hatten; auch hat er den Vorschlag, das Merkmalder Mitwirkung in § 244 I Nr. 3 StGB a. F. und § 244a StGB zu streichen, verworfen (vgl. Niederschriftenüber die Sitzungen des Unterausschusses des Rechts-ausschusses des Bundesrats, Sitzung v. 2. 4. 1990, S.41). Indes kann dieser Wille des Gesetzgebers nicht alsmaßgebliches Argument gegen eine das Mitwirkungs-

erfordernis inhaltlich erweiternde Auslegung geltendgemacht werden. Bei der Schaffung neuer Bandendelik-te ist weitgehend unklar geblieben, warum der Gesetz-geber etwa im Betäubungsmittelstrafrecht - auf dasMitwirkungserfordernis verzichtet oder es - besonderszweifelhaft - im Waffenrecht weiterhin verlangt hat(vgl. Nadler, NStZ 1985, 162; Katholnigg/Brüner, ZRP1984, 173 f.;. Engländer, JR 2001, 78 [79]). Ange-sichts dieser wenig stringenten Unterscheidung inner-halb der Bandendelikte ist ein Wille des historischenGesetzgebers, der einer erweiternden Auslegung desMitwirkungsmerkmals durch die Rechtsprechung ernst-lich entgegenstünde, nicht festzustellen.

3. Zur Beteiligtenrolle des MitwirkendenDas Merkmal der Mitwirkung beim Bandendiebstahlsetzt ferner nicht voraus, dass jedes der zusammenwir-kenden Bandenmitglieder Täter ist. Es genügt für denTatbestand auch, wenn ein Bandenmitglied mit einemanderen Bandenmitglied in irgendeiner Weise, etwa alsGehilfe, zusammenwirkt. Auch dann findet das Gefähr-lichkeitspotential der Bande in der von mehreren Ban-denmitgliedern ausgeführten Tat seinen Niederschlag(vgl. Ruß, in: LK-StGB, 11. Aufl., § 244 Rdnr. 13;Tröndle/Fischer, StGB, 50. Aufl., § 244 Rdnr. 22).Die Voraussetzungen eines Bandendiebstahls könnenselbst dann erfüllt sein, wenn die Wegnahmehandlungvon einem Nichtbandenmitglied für die Bande ausge-führt wird. Bedienen sich die Mitglieder einer Bandeeines Nichtmitglieds als Hilfsperson, weil dieses z. B.über spezielle Kenntnisse oder Fähigkeiten verfügt, diedie unmittelbare Wegnahmehandlung erst ermöglichenoder zumindest erleichtern, so hindert das die Annahmeeines Bandendiebstahls nicht, wenn im Übrigen zweiMitglieder der aus zumindest drei Personen bestehendenBande am Diebstahl mitwirken und wenigstens einemvon ihnen die unmittelbare Tatausführung des Nicht-mitglieds als Täter zuzurechnen ist. Denn auch beimBandendiebstahl gelten die allgemeinen Teilnahme- undZurechnungsregeln, nach denen Täterschaft nicht zwin-gend eine Mitwirkung am Kerngeschehen voraussetzt.So kann für die Annahme von Mittäterschaft ausrei-chen, wenn mehrere die Begehung eines Diebstahls der-art vereinbaren, dass nur einer von ihnen die Wegnah-me (körperlich) durchführen soll, weil dieser besser alsdie anderen dazu geeignet ist. Der Umstand, dass einunmittelbar die Wegnahme ausführender Dritter nichtMitglied der Bande ist, steht nur dessen Verurteilungals Täter eines Bandendiebstahls entgegen, nicht aberder Annahme eines Bandendiebstahls.

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