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„In unsern jungen Jahren müssen wir schon vieles erfahren" Handwerkerwandern im 19. Jahrhundert wie es sich in den Wander- büchern widerspiegelt Stefanie Hose 1. „Gut nach..." Gut nach ..." so lautete die Eintragung im Wanderbuch eines Handwerksgesellen, der sich an einem Ort abgemeldet und sich auf den Weg zum nächsten begeben hatte. Der lapidare Vermerk besagte, daß er keine der zahlreichen Vorschriften ver- letzt und auch sonst keinen Anlaß zu Verweisen gegeben hatte. Eintragungen, die von dieser Formel abwichen, lassen oft Rückschlüsse auf die Schwierigkeiten zu, denen die wandern- den Handwerksgesellen begegnen konnten. Diese Schwierigkei- ten wurden seit dem 19. Jahrhundert in Literatur, Liedern und bildlichen Darstellungen über das Leben auf der Walz gern un- terschlagen. Idyllische Vorstellungen gingen in das Allgemein- wissenüber „den wandernden Handwerksgesellen" ein. Es gilt, das romantisch verklärte Bild des freien ungebunde- nen Handwerksgesellen, der vergnügt zu Fuß durch die Lande schreitet und nur das tut, was ihm gefällt, mit den Eintra- gungender Wanderbücher zu vergleichen. Keineswegs arbeiteten die jungen Handwerksgesellen wann, wo und wielange es ihnen zusagte. Die Wanderbücher geben Zeugnis ab von den Schwierigkeiten der Gesellen, Arbeit zu bekommen und oft mittellos von Ort zu Ort zu ziehen. Nicht nur die Romantiker des vorigen Jahrhunderts schufen ein idealisierendes Bild des wandernden Handwerkerburschen, das sich bis heute in vielen Köpfen erhalten hat: Wenn einmal der Morgen kommt, der Tag langsam am Himmel heraufsteigt, wo der Wandergeselle zum ersten Mal den Fuß auf die Straße setzt, vor ihm geht die Welt auf, er kann gehen, wohin er will, links oder rechts, er kann machen, was er will, sich niederset- zen oder aufstehen, des Abends eine Herberge suchen oder un- ter einem Baume schlafen, an keine Stunde ist er gebunden, an keinen Ort, keine Stimme schallt ihm nach, keine Stimme ruft ihn hierher, ruft ihn dorthin, er ist frei in Zeit und Raum, kann machen, was er will: dann durchströmt ein eigen Gefühl den jungen Menschen, rasch und heiß rieselt ihm durch die Adern das Blut, und munter zieht aus und ein die weite Brust der leichte Atem." 1 In das Bild vom „jungen Wandersmann" passen weder den Gesellen einengende, streng ausgeführte Vorschriften von Sei- ten der Obrigkeit wie das regelmäßige Vorlegen der Wander- bücher noch neue Verkehrsmittel wie die Eisenbahn. In den Wanderbüchern hingegen ist belegt, daß es nicht ungewöhnlich war, müde oder wunde Gesellenfüße während einer Eisenbahn- fahrt zu schonen. Viele sehen den wandernden Handwerkergesellen als jungen Mann, der fernab der Heimat, ungebunden, sein Heimweh bekämpfend, in drei Jahren und einem Tag neue Techniken sei- nes Handwerks erlernt und neue Länder und Menschen sieht. Der fahrende Handwerksgeselle war unter Umständen aber auch ein Mann, der Weihnachten bei seinen Eltern verbrachte und sich das Jahr über vorwiegend die Sehenswürdigkeiten anderer Städte betrachtete oder aber schon im Nachbardorf arbeitete. Eine Sammlung von über 200 Wanderbüchern aus dem Stadtarchiv Oldesloe war der Anlaß zu einem Versuch, die 1 In: Bruno Brandl und Günter Creutzburg (Hrsg.): Die Zunftlade. Das Handwerk vom 15. bis 19. Jahr- hundert im Spiegel der Literatur. 2. Aufl. Berlin 1976. S. 427. 2 Vgl. Friedrich Lenger: Sozialge- schichte der deutschen Handwerker seit 1800. Frankfurt 1988; Rainer S. Elkar: Die Mühsal der Walz. Selbst- zeugnisse wandernder Handwerksge- sellen als Quellen für die Sozial- und Bildungsgeschichte des Handwerks im 19. Jahrhundert. In: IL Internationa- les handwerksgeschichtliches Sympo- sium. Veszprem 1983. Bd.l, 5.293-313 und ders.: Wandernde Gesellen in und aus Oberdeutschland. Quantitative Studien zur Sozialgeschichte des Handwerks vom 17. bis 19. Jahrhun- dert. In: Ulrich Engelhardt: Handwer- ker in der Industrialisierung. Stuttgart 1984. (Industrielle Welt Bd. 37). S. 262-293. Schleswig-Holstein heute 35

Stefanie „Inunsern Jahren müssen schonvieles … · „RastenderHandwerksbursche,1817" v. Joh. Adam Klein:Das Heerder wandernden Handwerksgesellen im 19.Jahrhundertbestandnichtnuraus

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„In unsern jungenJahren müssen wirschon vieleserfahren"Handwerkerwandern im19. Jahrhundert — wiees sich in den Wander-büchern widerspiegelt

Stefanie Hose

1. „Gut nach..."

„ Gut nach ..." so lautete dieEintragung im Wanderbuch einesHandwerksgesellen, der sich an einem Ort abgemeldet undsich auf den Weg zum nächsten begeben hatte. Der lapidareVermerk besagte, daß er keineder zahlreichen Vorschriften ver-letzt und auch sonst keinen Anlaß zu Verweisen gegebenhatte.Eintragungen, die von dieser Formel abwichen, lassen oftRückschlüsse auf die Schwierigkeiten zu, denen die wandern-denHandwerksgesellenbegegnen konnten.Diese Schwierigkei-ten wurden seit dem 19. Jahrhundert in Literatur, Liedern undbildlichenDarstellungen über das Leben auf der Walz gern un-terschlagen. Idyllische Vorstellungen gingen in das Allgemein-wissenüber „den wanderndenHandwerksgesellen"ein.

Es gilt, dasromantisch verklärte Bild des freien ungebunde-nen Handwerksgesellen,der vergnügt zu Fuß durch die Landeschreitet und nur das tut, was ihm gefällt, mit den Eintra-gungender Wanderbücher zu vergleichen.

Keineswegs arbeiteten die jungen Handwerksgesellen wann,wo und wielange es ihnen zusagte. Die Wanderbücher gebenZeugnis ab von den Schwierigkeiten der Gesellen, Arbeit zubekommen undoft mittellos vonOrtzuOrt zuziehen.

Nicht nur die Romantiker des vorigen Jahrhunderts schufeneinidealisierendes Bild des wandernden Handwerkerburschen,das sich bis heute invielen Köpfenerhaltenhat: „Wenn einmalder Morgen kommt, der Tag langsam am Himmel heraufsteigt,wo der Wandergeselle zum ersten Mal denFuß auf die Straßesetzt, vor ihm geht die Welt auf, er kann gehen, wohin er will,links oder rechts, er kann machen, was er will, sich niederset-zen oder aufstehen, des Abends eineHerbergesuchen oder un-ter einem Baume schlafen, an keine Stunde ist er gebunden, ankeinen Ort, keineStimme schallt ihm nach, keine Stimme ruftihn hierher, ruft ihn dorthin, er istfrei in Zeit undRaum, kannmachen, was er will: dann durchströmt ein eigen Gefühl denjungen Menschen, rasch und heiß rieselt ihm durch die Aderndas Blut, und munter zieht aus und ein die weite Brust derleichte Atem."1

In das Bild vom „jungen Wandersmann" passen weder denGesellen einengende, streng ausgeführte Vorschriften von Sei-ten der Obrigkeit wie das regelmäßige Vorlegen der Wander-bücher noch neue Verkehrsmittel wie die Eisenbahn. In denWanderbüchern hingegen ist belegt, daß es nicht ungewöhnlichwar, müde oder wunde Gesellenfüße während einer Eisenbahn-fahrt zu schonen.

Viele sehen den wandernden Handwerkergesellenals jungenMann, der fernab der Heimat, ungebunden, sein Heimwehbekämpfend, indrei Jahrenund einem Tagneue Techniken sei-nes Handwerks erlernt und neue Länder und Menschen sieht.Der fahrende Handwerksgeselle war unter Umständen aberauch ein Mann, der Weihnachten bei seinen Eltern verbrachteund sich das Jahr über vorwiegend die Sehenswürdigkeitenanderer Städte betrachtete oder aber schon im Nachbardorfarbeitete.

Eine Sammlung von über 200 Wanderbüchern aus demStadtarchiv Oldesloe war der Anlaß zu einem Versuch, die

1 In: Bruno Brandl und GünterCreutzburg (Hrsg.): Die Zunftlade.Das Handwerk vom 15. bis 19. Jahr-hundert im Spiegel der Literatur. 2.Aufl.Berlin 1976. S. 427.2 Vgl. Friedrich Lenger: Sozialge-schichte der deutschen Handwerkerseit 1800. Frankfurt 1988; Rainer S.Elkar: Die Mühsal der Walz. Selbst-zeugnisse wandernder Handwerksge-sellen als Quellen für die Sozial- undBildungsgeschichte des Handwerks im19. Jahrhundert. In: IL Internationa-les handwerksgeschichtliches Sympo-sium. Veszprem1983. Bd.l, 5.293-313undders.: Wandernde Gesellen inundaus Oberdeutschland. QuantitativeStudien zur Sozialgeschichte desHandwerks vom 17. bis 19. Jahrhun-dert. In:Ulrich Engelhardt: Handwer-ker in der Industrialisierung. Stuttgart1984. (Industrielle Welt Bd. 37).S. 262-293.

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formalistischen und damit relativ einheitlichen EintragungenindenBüchern mit Hilfeder EDV zustrukturieren und auszu-werten. Anfangs bestand noch die Hoffnung, signifikante Er-gebnisse aus dengewonnenenDaten zu gewinnen, die auch all-gemeingültige Rückschlüsse auf das Wanderschaftsverhaltenvon Handwerksgesellen im 19. Jahrhundert zuließen. Dafürerwiessich jedochder vorliegendeBestandals zu klein.

DieErgebnisse dieser Untersuchung sind daher zum größtenTeil nicht signifikant im Sinne der schließenden Statistik, las-sen aber bei einzelnen Fragestellungen Tendenzen erkennen,die sich auchinVergleichsuntersuchungenwiderspiegeln.2

Hier könnenein paar interessanteDetails vorgestellt werden,die einigeverbreitete Meinungenin Fragestellen.

linke Seite:Wanderbuch aus dem Jahre 1853:

Wir Frederik der Sechste thun kundhiemit: Daß Wir, behuf einer zweck-mäßigeren Aufsicht hinsichtlich derreisenden Handwerksgesellen, undzur Verhütung des arbeitslosen Um-hertreibens derselben, Nachstehendesfestzusetzen Uns allerhöchst bewogengefundenhaben:

Allgemeine Vorschriften über dieEinführung von Wanderbüchern.

Die in den Herzogthümern Schleswigund Holstein reisenden Hand-werksgesellen sollen statt der Kund-schaften, deren Ausstellung hiedurchfür die Zukunft gänzlich untersagtwird, mit Wanderbüchern versehenwerden, welche über die Person unddas Gewerbe desInhabers, seineReise-route, die Orte, wo er in Arbeit ge-standen, unddie Länge der Zeit, wel-che er dort gearbeitet hat, so wie überseine Aufführung amtlich beglaubigteAuskunft geben.

(Auszug aus der „Verordnung, betr.die den Handwerksgesellen zu erthei-lenden Wänderbücher, und das vondenselben bei dem Wandern zu be-obachtende Verhalten."In:Chron. Sig, lö.Februar1830)

„Wanderschaft" vonLudwig Richter:Die Freiheit der Wanderschaft stelltsich aus der Sicht der Romantik dar,wie in dem Lied „Seine Arbeit, diegefällt mir nicht". Dortheißt es:„Er ererunder, HerrMeister leb

Er wohl!Ichsags ihm gradfrei ins Gesicht,SeineArbeit,die gefällt mir nicht.Ichwillmein Glück probieren,

marschieren.Siesiesie undsie, Frau Meisterin, leb

Sie wohl!Ichsagihr gradfreiins Gesicht,IhrSpeckundKraut,dasschmeckt

■ mirnicht.Ich willmein Glück probieren,

marschieren.(In: Wolfgang Steinitz: DeutscheVolkslieder demokratischen Charak-ters aus sechs Jahrhunderten. Berlin1979. S. 202)

nächste Seite:Oldesloe um 1825. Die vorliegendenWanderbücher waren zum großen Teildurch eine Beziehung ihrer Inhaberzuder Ortschaft Oldesloe geprägt: 22.8%(54) der untersuchten Personen waren inOldesloegeboren,darüberhinaus wurdenbei 43.8% (104) allerFälleGeburtsorteinder näherenUmgebung (ca.15km Luftli-nie im Umkreis) festgestellt. Insgesamt70.5% (167)beendetenihre Wanderschaftin Oldesloe.

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„Rastender Handwerksbursche, 1817"v. Joh. Adam Klein: Das Heer derwandernden Handwerksgesellen im

19. Jahrhundert bestandnicht nur ausjungen Männern— es gab eineganzeReihe von Gesellen, die nie wiederseßhaft wurden.

2. „In der Fabrik vonHerrn Wirk in Busch-horn in Arbeit gestan-den" — Chemnitz,den 9. December 1835

Die Handwerksgesellen, deren Wanderschaften im folgendennäher untersucht werden sollen, lebten und wanderten in einerZeit des wirtschaftlichen und technischen Wandels. Die Schwie-rigkeiten des Handwerks in dieser Zeit werden sowohl „... inder zünf tierischen Erstarrung mit ihren [angeblichen] Miß-bräuchen und Wettbewerbsbeschränkungen, die jede Initiativelahmten"5 gesehen, als auch in der „... Auflösungder traditio-nellen Ordnung, die ungezügelte' Konkurrenz, die Ausbrei-tung des unzünftigen ländlichen Handwerks unddes Landhan-dels, die die .natürliche' Arbeitsteilung zwischen Stadt [Gewer-be und Handel] undLand[Ackerbau] störten..."4.

Zweifelsohne haben darüber hinaus aber auch konjunktu-relle Schwankungen und technische Neuerungen ihrenEinflußauf dieEntwicklungdes Handwerksgehabt.

3 Klaus Aßmann: Zustand und Ent-wicklung des städtischen Handwerksin der ersten Hälfte des 19. Jahrhun-derts. Göttingen 1971 (GöttingerHandwerkswirtschaftliche StudienBd. 18) S.l; vgl. auch Karl HeinrichKaufhold: Das Handwerk der StadtHildesheim im 18. Jahrhundert. Göt-tingen 1968 (Göttinger Handwerks-wirtschaftlicheStudien Bd. 13).4 Ebenda.

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Bereits im 18. Jahrhundert hatte sich das Bevölkerungs-wachstum als Folge von Geburtenüberschüssen und Einwan-derungen im 17. und 18. Jahrhundert 5 als so groß erwiesen,daß die Nachfragenach Nahrungsmitteln die Produktionsmög-lichkeiten der Landwirtschaft überstieg. DieFolgen waren stei-gendePreise undeinSinken der Reallöhne.

Die Einwohnerzahl Deutschlands verdoppelte sich in den ersten75 Jahrendes 19. Jahrhunderts aufgrundeiner verbesserten medi-zinischen Versorgung, der Einführung von Hygienevorschriftenund des Rückgangs von Epidemien. Viele zog es in die Städte, wosie möglichsthandwerkliche Beschäftigungensuchten.

Wem im Handwerk kein Einstieg gelang, versuchte sich als„Pfuscher", Geselle oder Landhandwerker,oder er ging in eineManufaktur oderFabrik.

Die Industrialisierung bewirkte vor allem Veränderungen imBereich des produzierenden Gewerbes. Maschinenund Techno-logien wurden eingesetzt, Arbeitsabläufe neu organisiert. DieUmstellungen in der Produktion wiederum bewirkten Verände-rungen in anderen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen bishinein indas kulturelle Leben.

Die Industrialisierung, der im allgemeinen handwerks-vernichtende Wirkungen nachgesagt werden, zeigte auch för-dernde Effekte für die Handwerker:

- Vgl. Klaus Aßmann und GerhardStavenhagen: Handwerkereinkommenam Vorabendder industriellen Revolu-tion. Göttingen 1969 (GöttingerHandwerkswirtschaftliche StudienBd. 15) 5.73 und Gustav Schmoller:Geschichte der deutschen Kleingewer-be. Halle 1870. S.23ff. und5.65.

Papierfabrik um 1850: Vor 1815 waran dieser Stelle eine Kupfermühle, von1815 bis 1882 die Papierfabrik, an-schließend eine Zuckerrübenfabrik,die 1904 geschlossen wurde. Die Fa-brik gilt als äußeres Symbol der Um-wälzungen im 19. Jahrhundert. AuchdieHandwerker konntensich denEin-flüssen der Industrialisierung nichtentziehen und mußten auf die sichverändernde Umweltreagieren.

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1. Effekte, die sich aus Lieferungen des Handwerks an dieIndustrie und aus der Ausbildung neuer Handwerke zur War-tung industriellerGüter ergebenund

2. die Einkommenseffekte, die aus der Schaffung von pro-duktiven Arbeitsplätzen für eine wachsende Bevölkerungentstanden." 6

Diese Effekte sind nicht zu unterschätzen. Sie sind jedochunter der Einschränkung zu sehen, daß die Ausbildung neuerHandwerksberufe (z.B. Maschinenschlosser) mehrere Jahreumfaßte. Durch die Umstrukturierung des Handwerks konn-ten gerade soviele neue Arbeitsplätze geschaffen werden, daßdas zusätzliche Arbeitskräfteangebot durch die sich rasch ver-mehrende Bevölkerungausgeglichen wurde.

Die Maschinen des 19. Jahrhundertsveränderten die Arbeitvon Handwerkern mehr, als daß sie das Handwerk zerstörten,allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die HandwerkersichMaschinen zunutze machen konnten.

Die Stellung alsFacharbeiter oder Werkmeister war eine rea-listische Alternative für die Gesellen, wenn dies für viele auchzunächst eine Deklassierung bedeutete.7 Die sozialen Unter-schiede zwischen Handwerker und Fabrikarbeiter, die vomHandwerk lange Zeit mehr oder weniger künstlich auf-rechterhalten wurden, spiegeln sich auch in der Literatur der

6 Aßmann, a.a.0.,5.73 (wie Anm.3).1 Vgl. Rudolf Stadelmann und Wolf-gang Fischer: Die Bildungswelt desdeutschen Handwerkers um 1800. Ber-lin 1955, 5.234ff.

Es mußte relativ viel Geld für Nah-rungsmittel ausgegeben werden, sodaß entsprechend weniger für andere(wie handwerkliche) Produkte aufge-wendet werdenkonnte.

rechte Seite:Inszenierte Schuhmacherwerkstatt imHeimatmuseumHohenwestedt.

Es wurden Berufe bevorzugt, dienur geringe Investitionen zur Einrich-tung einer Werkstatt voraussetztenund eine Massennachfrage garantier-ten, wie das Schneider- oder Schuh-macherhandwerk.

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Zeit in der Verherrlichung des Zusammenlebens von Meister-familie und Gesellen wider: „Es war daserste Mal, daß er, wieman zu sagen pflegt, um Speise undLohn arbeitete, der Mei-ster nicht Hausvater undErhalter war. ImHausvater liegt eineganz eigeneKraft undMacht ... Das Auge desMeisters ist überdem Gesellen auch außerhalb der Werkstätte, der Geselle mußsich anständig am Tische betragen, ...; er erfährt es, daß seinFortkommen nicht bloß von seinem Geschick im Handwerkeabhängt, ... er wird freundlich ermahnt, wenn er gegen dieHausordnung verstößt, er wird fortgesandt trotz seiner Hand-werksfertigkeit, wenn sein Betragen Ärgernis gibt. Er fühlt, erist nicht bloß eine Handwerksmaschine, sein Meister ziehtnicht bloß Vorteil von ihm und nährt ihm den Leib, sein Mei-ster gibt ihm etwas, welchesmehr wert istalsLohnund Arbeit,ergibt ihm denchristlichenHalt imLeben ..."8

Die Verflechtung von sozialem und ökonomischem Statusder Handwerker wurde für viele zueinem Hemmnis.

3. „Wegen arbeits-losen Herum-ziehens..."

Der Lebensabschnitt inder Zeit der Wanderschaft sollte eigent-lich eine Übergangszeit zwischen Ausbildung und Meister-schaft sein. Das Leben der Gesellen in der NichtSeßhaftigkeit

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s Brandl a.a.0.,5.430 (wieAnm.l).

bedeutete ein Leben in relativ großer Freizügigkeit und gleich-zeitig insozialer Unsicherheit. Die wandernden Gesellen stan-denzumeist inschlechtemRuf.

Dieses Bild war deutlich geprägt durch das Mißtrauen, dasdie „Seßhaften" dem mobilen Teil der Bevölkerung entgegen-brachten: „DieFahrenden waren mit ihrer Existenz an die Stra-ße gebunden, ohne Rückzugslinie und ohne heimische Ge-meinde. Eben dies machte sie in den Augen der ständisch Fi-xierten unehrenhaft, da sie als permanent mobile Sozialgrup-penaußerhalb der statischen Ordnungstanden.'19

Das Selbstbildnis, das diewandernden Gesellen vonsich hat-ten, deckte sich oft mit diesen Vorstellungen. Das wird z.B.deutlich, wenn J.E. Dewald einen Wintertag auf der Wander-schaft aus den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts be-schreibt und dabei feststellt: „Ein Wanderröckehen hält nit argwarm, und einen Mantel zu tragen, kommt seßhaften Leutenzu,nit abereinem reisendenBurschen."10

Die wandernden Handwerker gehörten, ebenso wie Vaga-bunden und Landstreicher, zum allgemein wahrgenommenenErscheinungsbild: „Ihr Dasein war von Mangelund Not ge-prägt, verbunden mit negativer Typisierung und Diskriminie-

9 Rainer S. Elkar: Reisenbildet. Über-legungen zur Sozial- und Bildungsge-schichte des Reisen während des 18.und 19. Jahrhunderts. In: 8.1. Krasno-baer, Gert Robel, Herbert Zeman(Hrsg.): Reisen und Reisebeschreibun-gen. Berlin 1980,5.53.10 Georg Maria Hofman (Hrsg.): Jo-hann Eberhard Dewald, Biedermeierauf der Walze. Aufzeichnungen undBriefe des Handwerksburschen De-wald 1836-1838. Berlin 1932. In:Wolf-ram Fischer: Quellen zur Geschichtedes deutschen Handwerks. Göttingen,Berlin, Frankfurt 1957 (Quellensamm-lung zur Kulturgeschichte Bd. 13)5.124.

Wanderstock aus dem Heimatmu-seumHohenwestedtAus dem Lied„Inunsern jungenJah-renmüssen wir schon vieleserfahren":Brüder, höretmichjetztan,Was ich euch erzählenkann.Inmeinen jungen JahrenHab'ich schon vielerfahren,VielHungerundvielDurst,VielHitzeund vielFrost.Von zuHause reist' ichfortWohlin ein andres Ort;VonFerneblieb ich stehen,Gedenk': Wie wirdmir's gehen,Wennich keinGeldmehr habUnd zuHausnicht gehendarf!(In: Wolfgang Sleinitz: DeutscheVolkslieder demokratischen Charak-ters aus sechs Jahrhunderten. Berlin1979. S. 199)

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rung von seiten derer, die sich imBesitz sogenannter Sicherheitbefanden. Aber ebenso erfuhren sie von dort her Unter-stützung und Hilfeleistung, oft sogar im Widerspruch zu dengeltenden Verbotsnormen, die die totale Ausgrenzung und Iso-lierungderNichtseßhaften verlangten."''

Mit der Verschlechterung der Chancen auf die Besetzungeiner Meisterstelle verlängerten sich die Zeiten der Wander-schaft. Eine Verlängerung der Wanderzeit bedeutete aber aufalle Fälle eine Vergrößerung der Anzahl durchreisender Hand-werksgesellen,die Arbeit, Unterkunft und eventuell Unterstüt-zungbenötigten,was für diejenigen, die dies gewährleistensoll-ten, zu einem Problem werden konnte. Diese problematischeSituation wiederum wurde auf den wanderndenGesellenproji-ziert.12

„In der Öffentlichkeit wird zu Beginn des 19. Jahrhundertsüber die zu große Zahl wandernder Handwerksgesellen in denHerzogtümern geklagt. Es wird angeregt, wöchentlichnur so-viele Gesellen über die Grenze zu lassen, wie nach einer unge-

" Kai Detlev Sievers: Vaganten undBettler auf Schleswig-Holsteins Stra-ßen. In: Zeitschrift für Schleswig-Hol-steinische Geschichte. Bd. 114. 1989.5.51.12 Vgl. Silke Göttsch: „Auf, Brüder,laßt uns wandern.." Zur Lage derHandwerksgesellen in Schleswig-Hol-stein in der ersten Hälfte des 19. Jahr-hunderts. In:Kieler Blätter zur Volks-kunde. 1985. S.3BL; Manfred Simon:Handwerk und Krise im Umbruch.Köln,Wien 1983 (Neue Wirtschaftsge-schichte 16) 5.241 über die Forderungvon 1848 nach einer Wanderkasse, ein-gerichtet von den Arbeitgebern, mitder Begründung, daß das Wanderngesetzlich befohlen sein und daherauch erleichtert werden muß: „DieWanderkasse ist das einzige Beispieleines freiwillig eingeräumten Arbeit-geberzuschusses zu einer Einrichtung,die nur den Gesellen nutzen soll, diesich beimMeisterkongreß findet"

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fähren Berechnung auch Arbeit bekommen können, die ande-ren aber zurückzuweisen. Um dieses Problem wenigstens unterKontrolle zu bekommen, wird 1828 eine königliche Verordnungfür Dänemark und die Herzogtümer erlassen, nach der denGesellen an den Grenzen Wanderbücher oder Reisepässeausge-stellt werden sollen, die ihnenfür eine bestimmte Zeit denAuf-enthalt in bestimmten Städten undFleckenerlauben."11.

In dieser Verordnung „betr.die zur Verhinderungdes Umher-treibens reisender Handwerksgesellen zu ergreifenden Maß-regeln u.s.w." wird von Personen gesprochen, die „...meistensunter dem Namen von Handwerksgesellen, in unserem König-reiche Dänemark ohne Beschäftigung und ohneMittelsich zuernähren umhergestreift sind, und daß dieses Umhertreibennicht nur den Zünften in unseren Städten zur bedeutendenBürde gereicht, sondern auch überhaupt den Einwohnern inden Städtenund auf dem Lande viele Beschwerden verursacht,so wie auch zu manchen Unordnungen Veranlassung gegebenhat."'4

Die im Titel dieser Verordnung bereits angedrohten Maß-nahmen bestanden aus sehr detaillierten Vorschriften, an diesich der wandernde Geselle zu halten hatte. Nicht nur daß erseinen Lehrbrief und seine finanziellen Mittel vorweisen muß-te, „... er muß auch über seinen LebenswandelAuskunft geben,undinsbesondere darthun, daß er sich mittelsseiner Professionaufgehörige Weise ernährt, und nicht ohneArbeit sich herum-getriebenhat."15

Darunter war ein lückenloser Nachweis zu verstehen, wanner wo, wie langeund wie gut gearbeitet hatte, in welcher Zeit erwohinzu gehen beabsichtigteusw. Jeder Tag der Wanderschaftsollte formal in den Wanderbüchern dokumentiert sein. Lük-ken fielen leicht auf, und ohne beglaubigte Gründe gaben siemitunter Anlaß zu Landesverweisen. Der wandernde Hand-werksgesellestand damit also unter einer jedenfalls theoretischvoll entwickelten obrigkeitlichen Kontrolle. Und dies bereitsein Jahr vor der offiziellen Einführung der Wanderbüchernach der Verordnungvon 1830, die dieKundschaften endgültigablöste.16

„Schon die Kundschaften waren keine .Erfindung' desHandwerks, sondern eine obrigkeitliche Forderung, die denalten verbalen Arbeitsnachweis, den richtigen Gruß, ersetzensollte. Nachfolger der Kundschaften waren die Wanderbücher,die inersterLinie nurnochPaß waren"11

Eine weitere Verschärfung und Einschränkung erfuhren diewandernden Handwerker mit der Verordnung vom 7.März1835, die „das Wandern der den deutschen Bundesstaaten un-gehörigen Handwerksgesellen nach denjenigen Ländern undOrten, in welchen offenkundig Handwerker-Associationenund Versammlungen geduldet werden,... verboten seyn 5011e..."n

Das 19. Jahrhundert war für die wandernden Gesellen ge-kennzeichnet durch eine immer stärker werdende Regle-mentierung vonSeiten des Staates. In diesen Gesetzenund Ver-ordnungen spiegelt sich die grundsätzliche Annahme des Staa-tes wieder, „... daß alle Fahrenden einer abgeschlossenen Welt

Handwerksgesellen: Im Bewußtseinder Bevölkerung spiegelte sich dasLeben der fahrenden Gesellen in dem„Bild des unsteten, heimatlosen, dieZehrgroschen einheimsenden Gesel-len, der es an keinem Ort lange aus-hielt undstatt zu arbeiten, herumzogund Unruhe stiftete." (Berwing wieAnm.l3, 5.127)

13 Margit Berwing: Preetzer Schuh-macher und ihre Gesellen 1750-1900.Neumünster 1983 (Studien zur Volks-kunde und Kulturgeschichte Schles-wig-HolsteinsBd. ll)S.138f.14 „Verordnung für das KönigreichDänemark, betr. die zur Verhinderungdes Umhertreibens reisender Hand-werksgesellen zu ergreifenden Maßre-geln u.s.w" In: Chron. Slg, 28.März1829." Chron. Slg, 28.März 1829, § 1.16 siehe „Verordnung, betr. die denHandwerksgesellen zu ertheilendenWanderbücher, unddas von denselbenbei dem Wandern zu beobachtendeVerhalten." In: Chron. Slg., 16. Fe-bruar 1830.17 Otto Kettemann: Handwerk inSchleswig-Holstein. Neumünster1987. 5.316.18 In:Chron. Slg., 7.März 1835.

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Auszug ausden Vorschriften vom16.2.1830:Dieser Auszug ausder Verordnungstammt aus dem Wanderbuchfür denSchuhmacher-gesellen PeterPhilipp Christian Gerberaus Oldesloe, ausgestellt am 15. Juli 1847. DieseVerordnung wurdeoft den Wanderbüchern angeheftet.

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für sich angehörtenund daß von Menschen, die ihren Standortrasch wechselten und daher schwer kontrollierbar waren, Ge-fahren ausgingen."19

Erst auf dem Meisterkongreß 1848 inFrankfurt wurde dar-über diskutiert, wie das Wandern erleichtert werden könnte:mit der Einrichtung von Wanderkassen, der Aufhebung politi-scher Kontrolle der Gesellen sowie demMinimum anReisegeldoder der Festlegung des Höchstaltersbei dreißig Jahren usw.Es wurde sogar darüber nachgedacht, ob sich die GesellenihreArbeitgeber selbst aussuchendürften. 20

" Sieversa.a.0.,5.53 (wie Anm.ll).20 vgl. Simon a.a.0., S.24lff. (wieAnm.l2).

4. Ergebnisse Dank dieser formalen Struktur sinddieInformationen zur Per-sonenbeschreibung recht vollständig erhalten. Für die statisti-sche Untersuchung wurden die Angaben zum Beruf, dem Ge-burtsort, der Militärpflicht, dem Alter, der Lehrzeit und desAusbildungsortes sowie die Dauer, die der ausgelernte Gesellenoch bei seinem Lehrherrn vor Antritt der Wanderschaft gear-beitet hat und das Jahr der Ausstellung des Wanderbuches alsrelevant betrachtet. Die Informationen wurden in numerischeund alphanumerische Codes umgesetzt. In Ermangelung eineran das Material angepaßten Software wurde das Datenver-arbeitungsprogramm SPSS benutzt, das vor allem für sozial-

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wissenschaftlicheUntersuchungen, hauptsächlich Fragebogen-erhebungen, entwickelt wurde. Aus diesem Grunde wurdenvorwiegend Häufigkeitsverteilungen und Kreuztabulierungengerechnetunddiese ZahleninGrafikenumgesetzt.

4.1. Die zeitlicheVerteilung derWanderbücher überdas 19. Jahrhundert

Die nach dem Jahr der Ausstellung gruppierten Handwerker-wanderbücher verteilen sich über den Zeitraum des 19. Jahr-hunderts wie folgt:

Beachtet man, daß die letzte Gruppe nur bis einschließlich1867 besetzt ist (Wanderbücher späteren Datums lagen nichtvor), sokann man von einer steigendenTendenz sprechen. Un-ter der Voraussetzung, daß die Sammlung der Wanderbücherim Stadtarchiv Oldesloe gleichmäßig und kontinuierlich ange-legt wurde, kannman erkennen, daß die Zahl der wanderndenHandwerkergesellenim Verlauf des 19. Jahrhunderts noch an-steigt, obwohl die Wanderpflicht bereits Mitte des 19. Jahrhun-derts von Seitendes Staatesaufgehoben worden war.

Gesellschaftliche Normen aber erzeugten die Erwartung,daß der Handwerksgeselle „auf die Walz" gehen möge. DenGesellen blieben die Möglichkeiten der Verweigerung, die Er-füllung der Erwartung durch Internalisation oder eine Erfül-lungpro forma.21

Die Wanderschaft war bedingt durch eine gesellschaftlichtradierte Erwartungshaltung gegenüber dem beruflichen Wer-degangdes Handwerkers. Die Mobilität war ein Teil der zünfti-genSozialisationdes Handwerkers.Sie war normalerweise zeit-lich begrenzt, um danach seßhaft werden zu können.Mit derSeßhaftigkeit war der soziale Aufstieg verbunden. Die Wander-schaft unterlag zünftigen und obrigkeitlichen Versuchen einerrechtlichen Kontrolle und Sanktionierung. Von Seiten der

21 Eine Wanderschaft pro forma kannfolgendermaßen aussehen: der Gesellewandert ein paar Kilometer von sei-nem Heimatort bis zum nächsten Ort,arbeitet dort einige Zeit, vielleicht so-gar mehrere Jahre, und kehrt wiedernach Hause zurück.

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Wanderbuch des Tischlergesellen Carl Heinrich Daniel Jessenaus Blumendorf: „Jedes Wanderbuch muß mit Unserer Na-menschiffer bestempelt werden, und 48 Octavseiten stark, pa-giniert, in Pappe gebunden und mit einem gedruckten, nachAnleitung des angehängten Formulars verfaßten Blanquet zur

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Personenbeschreibung und Legitimation des Inhabers verse-hen seyn."(§ 2 der „Verordnung, betr. die den Handwerksgesellenzuerthei-lenden Wanderbücher, und das von den selben bei dem Wandernzu beobachtende Verhalten."In:Chron. Slg. 16. Februar 1830)

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Zunft wurde sie durch Arbeitsmöglichkeitenund die Auszah-lung vonReisegelderngefördert.

Diese Mobilität erscheint als eine Art der Kulturfixierung:ein traditionsgebundenes Verhalten wurde zu einer Zeit fort-geführt, da dieses de facto und de jure überflüssig gewordenwar. Es diente damit der demonstrativen Aufrechterhaltungeines besonderensozialenStatus.

Andererseits liegt die Vermutung nahe, hinter den Wander-schaften der Gesellen eine verdeckte Arbeitslosigkeit zu sehen.Dies läßt sich jedoch in denWanderbüchern nicht ablesen undbleibt so reine Spekulation.

linkeSeite:In Biographien ehemaliger wandern-der Handwerkergesellen tauchen desöfterenKlagen auf, daß andere Gesel-len sich nicht mehr „zünftig" verhiel-ten, etwa den Gruß nicht mehr be-herrschten, daß eskeinen Zusammen-halt mehr unter den Gesellen gebeusw. Vgl. u.a. Hofmann, a.a.O. (wieAnm.lo).

4.2. Das durch-schnittliche Alter derGesellen bei Antrittder Wanderschaft

Knapp 80°7o (186) der Gesellen sind zwischen 19 und 24 Jahrealt, wenn sie die Wanderschaft beginnen. Der Anteil der 19 bis21jährigenliegt bei 57.8% (137), währendder Anteil der 22bis24jährigen 20.7°70 (49) ausmacht. Das durchschnittliche Alteraller einbezogenen Gesellen beträgt bei Antritt der Wander-schaft 21 Jahre.

Eine auffällige Veränderung des Alters der Handwerker-gesellen im Verlaufdes Jahrhunderts läßt sich anhand der vor-liegenden Datennicht feststellen.

Bemerkenswert ist das insgesamt relativ hohe Alter der Ge-sellenbei Wanderschaftsantritt. Es handelt sich nicht mehr umJugendlicheimheutigenSinne,sondernum jungeErwachsene.

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4.3. Welchen BerufengehörtendieGesellen an?

Die Personen dieser Untersuchungseinheit gehörten36 einzel-nen Berufenan, die sich zuBerufsgruppen — wie nach der fol-gendenGrafik ersichtlich — zusammenfassen lassen:22

Grafik 3: Häufigkeit der Berufsgrup-pen(in %)

Aus dem Wanderbuch des Schlosser-gesellen Jürgen Heinrich Rüge ausOldesloe: „Daß JH. Rüge von Ostern1828 bis dahin 1831bei mirdie Schlos-serprofession zünftig erlernt und seitOstern d. J. als Geselle in Arbeit ge-standenundsich währendseines Lehr-und Gesellenstandes gut und zu mei-ner völligen Zufriedenheit betragenhat, solches bescheinige ich hiermit."Oldesloe den19. April 1831. J.H. Stehn

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Diese Verteilung bestätigt die in anderen Untersuchungen ge-wonnenen Ergebnisse. Zur Situation um 1800 schreibt z.B.Friedrich Lenger: „Holz- und Metallhandwerke machten zu-sammen zumeist ein Viertel des Gesamthandwerks aus, wäh-rend die Bekleidungshandwerke unter Einschluß der textil-und lederverarbeitenden Gewerbe oft bis, gelegentlich auchüber 50% derHandwerkerbeschäftigten."23

Eine Erklärung dieser Verhältnisse kann darin gesehen wer-den, daß der Zeit der Befreiungskriege, der Hungersnot von1816/17 und der Agrarkrise der zwanziger Jahre um die Mittedes 19. Jahrhunderts eine Expansion der Wirtschaft folgte, diesich auf Bevölkerungswachstumund Industrialisierung einzu-stellen begann. Eine der Folgen war eine rege Bautätigkeit, vonder außer dem Baugewerbedieholzverarbeitenden Handwerke,besonders die Tischler,profitierten.24

22 Bau = Glaser, Maler, Maurer, Töp-fer, Ziegler, Zimmerer.Holz = Böttcher, Drechsler, Stell-undRademacher, Tischler.Leder = Gerber, Kürschner, Sattler,Schuhmacher.Metall = Gelbgießer, Goldschmied,Hufschmied, Kupfer- und Messing-schläger, Nagelschmied, Sandformer,Schlosser,Schmied.Textil = Bürstenmacher, Färber, Hut-macher,Schneider, Weber.Sonstige = Bäcker, Buchbinder, Haar-schneider, Müller, Musiker, Papierma-cher, Schlachter, Schornsteinfeger,Zigarrenmacher.

23 Lenger,a.a.0.,5.23 (wieAnm.2).24 Lenger,a.a.0.,S.4lf. (wie Anm.2).

4.4 Zur Einheitlichkeitder Ausbildungsdauer

Nach Wissell wurde eine geregelte Ausbildung oder Lehre fürHandwerker erst mit der Wende des 14. Jahrhunderts Vor-schrift; davor führte jeder handwerklich Geschickte das aus,was ihm seinen Lebensunterhalt sicherte. Wenn er Glück hatte,fand er jemanden, dem er sein Könnenabgucken konnte. Abdem 12. Jahrhundert entwickelte sich, was Wissell ein „geord-netes Lehrwesen" nennt25. Dazu gehört, daß der Lehrherrselbst ineine Lehre gegangen seinmußte und nur eine begrenz-te Anzahl von Lehrlingen aufnehmen durfte.26 Ferner bestanddie Vorschrift, daß ein Knecht nicht Meister werden solle, so-wie die Forderung, daß der Lehrling jung zu sein habe27 undder Zucht des Meistersunterstehe.

Voraussetzung für die Aufnahme inein Handwerk waren dieeheliche und ehrlicheGeburt. Als unehrlichgalten u.a.Unfreieoder Personen bestimmter Gewerbe wie z.B. Scharfrichter undAbdecker. Der Lehrling lebte im Haushalt des Meisters undunterstand dessenhausväterlicher Gewalt.

u Wissell gibt als früheste Urkundefür den Beweis eines geordneten Lehr-wesens die der Kölner Drechsler von1182 an; vgl. RudolfWissell: Des altenHandwerks Recht und Gewohnheit.Bd.l.Berlin 1929, 5.137.26 Ab 1825 ist es in Preetz den Mei-stern freigestellt, wieviele GesellenBd.l.Berlin 1929, 5.137.26 Ab 1825 ist es in Preetz den Mei-stern freigestellt, wieviele Gesellenund Lehrlinge sie beschäftigen. Vgl.Berwing, a.a.0.,5.17(wie Anm.l3)27 „Zwar war ein bestimmtesAlter imMittelalter nicht allgemein vorge-schrieben. Nur selten finden wir inden Zunftsatzungen oder den Stadt-rechten ein Mindest- oder Höchstalterfestgesetzt. ... Die Altersgrenzeschwankt zwischen dem 12. und 18.Jahre:' Wissell, a.a.0., 5.138 (wieAnm.2s). Allerdings findet sich aufS. 137 ein Hinweis auf Ausnahmen,d.h. der Annahme von älteren und/oder verheiratetenGesellen.

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Die Angaben zur Ausbildungsdauer in den Oldesloer Wander-büchern weisen eine stark ausgeprägte Regelmäßigkeit auf:51.8% (85) haben 3 Jahre lang gelernt, 29.3% (48) 4 Jahre —dies spricht für eine einheitlichgeregelte Ausbildungsdauer.

Üblich waren aber auch kürzere oder längere Ausbil-dungszeiten. So konnte sich etwa die Ausbildungszeit bei Weg-fall des Lehrgeldes verlängern28.

„DieDauer der Lehrzeit war variabel. Eher kurz war sie imBauhandwerk, wo die (nicht beim Meister wohnenden) Lehr-linge bereits Lohn erhielten. In den Massenhandwerken derSchneider, Schuhmacher und Tischler waren drei bisfünf Jah-re gebräuchlich, doch wurde gerade hier die Lehrzeit zur Ablö-sung des Lehrgeldes ... oft verlängert. In einigen spezialisiertenHandwerken konntedieLehrzeit biszuachtJahrendauern..."29

Auch nach Wissell schwankt die Dauer der Lehrzeit zwi-schen einem Jahr und acht Jahren, üblich aber waren drei bisvier Jahre.

Holz-,metall- und textilverarbeitendeBerufe weisen indieserUntersuchung die größte Gleichmäßigkeit in der Ausbil-dungsdauer auf. Es wurden vorwiegend drei bzw. vier volleJahre gelernt.

Die längste Ausbildung in dieser Untersuchungseinheit hatein Töpfer genossen: er hat 6 Jahre gelernt; die kürzeste einCigarrenmacher, der in nur 6 Monaten seinen Beruf beherr-schen sollte.

linkeSeite:Repräsentationszeichen der Zünfte:„Willkomm" der Oldesloer Schuhma-cher von 1803 mit angehängten Mei-sterschilden und Zunftzepter, Oldes-loe und Vexierbecher der OldesloerHufschmiede und Schlosser von 1776aus dem Heimatmuseum Bad Oldes-loe.

Die Gründung von Zünften dienteder Regelung von Konkurrenzver-hältnissen, der Sicherung der Existenzabgegrenzter Arbeits- und Absatzbe-reiche. Es entwickelten sich darausFormen wie Zunftzwang, Begrenzungder Zahl der Meister, Lehrlinge undGesellen, Verfolgung Nicht-Zünftiger,eigene Jurisdiktion und schließlichauch dieGesellengilden.

„Zigarre": Handwerkerzeichenin BadOldesloe 1991Lehrbrief eines Klempners:DenBerufdes Klempners gab es bereits vor derErfindung von Sanitäranlagen undHeizungsrohren. Er fertigte vor allemKleinteile ausMetall für Haushaltsge-genstande.

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28 vgl. Lenger, a.a.0., 5.30 (wieAnm.2); vgl. auch Berwing, a.a.0.,S.B6L (wie Anm.l3): Berwing sprichtvon der „im 19.Jahrhundert übli-che(n) Verlängerung der Lehrzeitenauf bis zu acht Jahre (...) mit der Ziel-setzung, dem Meister möglichst langeeine billige Arbeitskraft zuerhalten"

Bei Durchsicht der Wanderbücherdrängte sich der Verdacht auf, daßauch Verwandte wie Vater, Onkel,Bruder usw. in der Regel längere Zeitfür die Ausbildung ihrer anverwand-ten Gesellen brauchten; da diese Artvon Eintragungen jedoch sehr spär-lich zu finden waren, läßt sich dieseThese nicht beweisen. Lediglich in derLiteratur finden sich Hinweise, daßanverwandte Lehrjungen quantitativund/oder qualitativ ausgenutzt wur-den — siehe z.B. inden Jugenderinne-rungen Karl Friedrich von Klödens,Jahns1874.29 Lenger, a.a.0., 5.31 (wie Anm.2);vgl. PaulLobe:Der Weg war lang. Ber-lin 1954, S.18: „(...) brachte mich derVater zueinem Schneidermeister Frostund vereinbarte mit ihm, daß ich amdritten Osterfeiertag die vierjährigeLehre beginnensollte"

4.5. Wie oft und wielange wurde beimLehrmeister vor Be-ginn der Wander-schaft nochgearbeitet?

Nur knapp in einem Fünftel, nämlich in 18.6% (44) der Wan-derbücher ist dokumentiert, daß die Betreffenden vor Antrittder Wanderschaft als ausgelernte Gesellen nicht mehr gearbei-tet haben. Daraus ist zu schließen, daß es zwar möglich war,gleich nach der Lossprechungauf die Wanderschaft zu gehen,daß aber in den meisten Fällen noch eine gewisse Zeit beimLehrmeister oder dochzumindestam Ort30gearbeitet wurde.

In der Regel wurde noch etwa ein halbes bis ein Jahr zwi-schen Beendigung der Lehrzeit und Antritt der Wanderschaftgearbeitet. Die Palette der Zeitangaben über diese Arbeits-dauer reicht von sechs Tagen bis über acht Jahre (das Maxi-mum liegt bei 2953 Tagen), wobei die Gruppen „unter einemMonat" und „über zwei Jahre" aufgrund ihrer schwachen Be-setzung (5.9% = 14 Fälle und7.6% = 18 Fälle) die Ausnahmebilden. Dieses Ergebnis entspricht durchaus den rechtlichenVorschriften,die, festgelegt in der „Verordnung wegen der Ge-sellen- und Wanderjahre der Handwerksgesellen, für die Her-zogthümer Schleswig und Holstein" vom 19. Februar 1828, in§ 6 besagt: „Einem Gesellen ist es nicht länger als ein Jahr,nachdem er aus der Lehre geschrieben worden, an seinemLehrort zu bleiben und als Geselle zu arbeiten erlaubt, falls ernicht von der Obrigkeit des Ortes eine Verlängerung der Fristzum Antreten der Wanderschaft, die jedoch nur besondererUmstände wegenzu ertheilen ist, bewirkt."*1

Als besondere Umstände für eine Aufenthaltsverlängerungodergar einen Dispens von der Wanderschaft galtenKrankheitoder Behinderung eines Gesellen oder die Übernahme einerväterlichen Werkstatt.

Häufigkeitsverteilung für die Variable „Arbeit vor Beginn derWanderungin Tagen":

Die „missing-value"Quote besagt, daß 14.3% (34) der Gesellenvor Beginn der Wanderschaft gearbeitet haben, ohne daß eineAussage über die Dauer ihres Arbeitsaufenthaltes getroffenwurde.

Unter Ausschluß der „missing values" (Eintragungen ohneZeitangabe) haben also 21.7% (44) vor Antritt der Wander-schaft nicht gearbeitet,34.5% (70) weniger als einhalbes Jahr,

30 Siehe „Verfügung an den Magistratin Flensburg, daß das in der StadtFlensburg Statt findende Herkom-men, daß die ebenausgelerntenGesel-len, bevor sie wandern, nur bei demMeister, bei welchem sie in der Lehregestanden, Gesellenarbeit verrichtendürfen, abzustellen sey? In: Chron.Slg.,B.Dezember 1826.31 Chron.Slg., 19.Februar 1828.

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Titel Häufigkeit Prozentbereinigte

Prozent

KeineBis 1Monat1-3Monate3-6 Monate6-12Monate1-2 Jahreüber 2JahreKeine Angabe

4414302641301834

18.65.9

12.711.017.312.77.6

14.3

21.76.9

14.812.820.214.88.9

MISSING

Total 237 100.0 100.0

20.2% (41) zwischen einem halben und einem Jahr, 14.8% (30)bis zu zwei Jahren. Nur noch8.9% (18) der ausgelerntenGesel-len arbeiteten länger als zwei Jahre bei ihrem Lehrmeister,be-vor sie dieWanderschaft antraten.

In den einzelnen Berufsgruppen stellt sich die Arbeitsdauervor Beginn der Wanderschaft leicht unterschiedlichdar: in denlederverarbeitenden Handwerken blieben die Gesellen in fast70% der Fälle (69.5% = 32) weniger als ein Jahr an ihremAusbildungsort. Nur einer hat noch länger als zwei Jahre gear-beitet, bevor er seine Wanderschaft antrat. Noch extremer zei-gen sich die Zahlenbei den Textilhandwerkern, vondenen 60%(12) nicht oder weniger als einen Monat vorher arbeiteten undkeiner länger als zwei Jahre. Bei den Metallhandwerkern ist estendenziell fast umgekehrt: zwar arbeiteten fast ein Viertel(26.3% = 5)nicht vorher,dafür verteilt sich der Rest — bis aufzwei, die unter einem Monat arbeiteten — auf die letzten dreiGruppen.

Im Jahrhundertverlauf zeigt sich eine leicht steigende Ten-denz zu keiner bzw. nur kurzzeitiger Arbeit in der Zeit zwi-schen Beendigungder LehreundBeginnder Wanderschaft.

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4.6. Beginn und Endeder Wanderschaft

In Grafik 6 zeigt sich, daß die Frühjahrsmonate April, Mai,Juni und noch der Juli die bevorzugten Monate waren, in de-nendie GesellenihreWanderschaft begannen.

Zu erklären ist dies zum einen durch den Ausbildungsrhyth-mus. Wie oben bereits beschrieben, begann die Lehrzeit übli-cherweise um Ostern. Da die Ausbildungsdauer zumeist ganzeJahre umfaßte, endete sie in der Mehrzahl der Fälle auch umOstern.

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Zum anderen haben ganz sicher die jahreszeitlichenBedingungen eine entscheidende Rolle gespielt — es wandertsichnuneinmal imSommer angenehmer als im Winter.Bei der Ankunft am letztgenannten Ort läßt sich eine eindeu-tige Bevorzugung von bestimmten Monaten nicht mehr nach-weisen.

Entgegen der Hypothese, daß die Gesellen möglicherweise inAnbetracht des bevorstehenden Winters im September/Okto-ber ihre Wanderschaft beendeten, finden sich als häufigsteAngaben neben dem Oktober auch die Monate März und Juli

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als Schlußpunkte der Wanderschaft. Ein Ende der Wander-schaft imMärz läßt einen Zusammenhang zur letzten Arbeits-stelle vermuten, oder einen schlechten Winter, eventuell auchein Bestreben, volle Jahre gewandert zu sein. Dies ist jedochreine Spekulation.

4.7. „Drei Jahre undein Tag"?-DiedurchschnittlicheGesamtdauer derWanderschaft

„1) Daß von denjenigen Handwerkern, an deren Geschick-lichkeit dem Publico sonderlich gelegen ist, und die sich dienöthige Tüchtigkeit nicht erwerben können, ohne an solchenÖrtern, wo geschickte Handwerker ihrer Art sind, gearbeitet,und unter deren Anführung einige Jahre selbst Hand angelegtzu haben, als insbesondere von den Schmieden- Rademacher-Tischler- und Maurerzünften und den Zimmerleuten künftigniemand zur Gewinnung des Meisterrechts zugelassen werdensolle, der nicht wenigstens fünf Jahre als Gesell, und darunterentweder zwey Jahre in der Königl. Residenzstadt, oder dreyJahre in der Fremde außerhalb den Herzogthümern undKöni-greichengearbeitet.

2) Daß die Gesellen bey den übrigen Zünften wenigstensdrey Jahre, und darunter ein Jahr in der Fremde, oder wenig-stens außerhalb des Lehrortes, als Gesellen sollen gearbeitethaben, und davon gehörigeKundschaft beybringen, bevor siesich alsMeisterniederlassen können;..."32

Ein gutes Drittel (36.7%) der untersuchten Wanderschaftendauerte zwischen zwei und fünf Jahren — eine durchaus übli-che Zeitspanne, wie auch aus der oben zitierten Verfügung zuersehenist. Die anderen zwei Drittel dagegen weichen zum Teilerheblich von diesem zeitlichen Rahmen ab: 20.7% der Unter-suchungseinheitsind weniger als ein Jahr und 24.9% länger alsfünf Jahre33 unterwegsgewesen.

Es kristallisieren sich somit drei Gruppen heraus:die extremkurzen Wanderschaften (mit 5.1% = 12 Fälle unter einemMonat!), eine Hauptgruppemit einer Dauer um drei Jahreunddie Gruppe der extrem langen Wanderschaften. Der Mittelwertliegt bei 1382 Tagen, das sind drei Jahreund neunMonate; dasMinimum bei einem Tag(!), dasMaximum bei 9812 TagenodersechsundzwanzigJahren und zehn Monaten.

Die berühmten „3 Jahre und 1 Tag" ist genau genommenniemand unterwegsgewesen!

Auffällig ist der große Anteil an Wanderschaften,die längerals fünf Jahre dauerten. Sie waren offensichtlich keine Aus-nahme: „... daß viele der Handwerksburschen ein Jahrzehntund länger quer durch Europa wanderten und ihre Gesellen-fahrten zu echten Bildungsreisen machten, wie wir aus zahlrei-chen Einzelzeugnissen und aus den Herbergsbüchern verschie-dener Gewerbeersehen."34

In dieser Untersuchung wurden nur Wanderbücher berück-sichtigt, in denen in sich abgeschlossene Wanderschaften do-kumentiert sind. In der Sammlung befanden sich mehrereExemplare, die „auf einbereits vollgeschriebenes Wanderbuch"ausgestellt waren, das dazugehörigeBuch jedoch fehlte. D.h.das vorliegende Wanderbuch stellte nur einen Ausschnitt derWanderschaft des betreffenden Gesellen dar und konnte daher

32 „Andas Oberpräsidium zu Kiel; andie Magistrate zuOldenburgundNeu-stadt; an das Amtshaus zu Neumün-ster, und an die Landvogtey in Nord-erdithmarschen. Verfügung wegen derWanderjahre der Gesellen" In: Chron.Slg., lO.Februaur 1794.33 Die in dieser Rechnung noch feh-lenden 17.7% teilen sich auf in 0.8%missing data (Fälle, in denen keineGesamtdauer errechnet werden konn-te) und16.9% als derAnteil der Gesel-len, die zwischen einem und zwei Jah-Ren unterwegs waren.34 Stadelmann, a.a.0., 5.211 (wieAnm.7).

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nicht für diese Statistik verwendet werden. Es hat also einennochhöherenAnteilan langenWanderschaftengegeben.

Sämtliche Distanzangaben der folgenden Grafik sind als An-gaben inKilometer Luftlinie zwischen zwei aufeinanderfolgen-denOrtseintragungen zu verstehen. Siegeben also nicht die tat-sächlich zurückgelegte Distanz an, sondern dienen hier ledig-lichals Vergleichszahlen! Die durchschnittliche Gesamtkilome-terleistung aller untersuchten Wandergesellen liegt unter dieserVoraussetzungbei 978 km; das Minimum bei 8 km, das Maxi-

4.8. ZurückgelegteGesamtkilometer

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mum bei 9816 km für einen wandernden Handwerkergesellen.Aus diesen Zahlen lassen sich noch einmal drei etwa gleich-

große Gruppenzusammenfassen:

unter 200km 67 28.3%200 bis 1000 km 76 32.1%über 1000 km 77 32.5%

Eine Korrelation zwischen der Gesamtdauer der Wanderungund denzurückgelegten Kilometernhat sich bestätigt.

Die Handwerker des Baugewerbes stellten in ihrer Gruppeeinen überproportionalen Anteil an Wanderschaften über1000 km: 51.7% (30) der untersuchten Gesellen des Bau-gewerbes haben am Ende ihrer Wanderschaft mindestens1000 km zurückgelegt, gefolgt von den Textilhandwerkern mit50% (13) und denMetallhandwerkern mit 45% (9). Die holz-und lederbearbeitenden Gesellen stellen jeweils in ihrer Gruppedie wenigsten Wanderschaften von über 1000 km, hier liegendie Schwerpunktebei 200 bis 1000 km, wobei geradedie Gesel-len aus den lederbearbeitendenBerufen in den Kategorien bis200 kmdominieren.

5. Das Gesellen-wandern

Die Wanderschaft der Handwerksgesellen nach Beendigungder Lehrzeit war schon inmittelalterlicher Zeit üblich und auchempfohlen, jedochnoch keine Vorschrift: „Die erste Vorschriftüber das Wandern der Gesellen finde ich in der Satzung derGerber Hamburgs von 1375, und zwar nicht in derForm einesGebots, sondern so, daß man schließen kann, es habe das Wan-dern imBeliebendes einzelnengestanden ..."35

Vorschriften zur Wanderpflicht finden sich ansonsten erstMitte des 15. Jahrhunderts. Im 16. Jahrhundert besteht danndie Wanderpflicht als Vorbedingung für die Zulassung zur Mei-sterschaft. Die Dauer der Wanderschaft wird mit einem halbenbis drei Jahren angegeben36. Die Wanderschaft hatte u.a. dieFunktion, den regionalen Markt auszugleichen und einerÜberbesetzung des Handwerks vorzubeugen, denn viele Gesel-len ließen sich unterwegs nieder. Wenn sie zurückkamen undkeine Arbeit fanden,begabensie sichoft aufeineneue — nichtselten permanente — Wanderschaft, absinkend in die unter-ständische Schicht der Bettler und Vagabunden.

Begründet wurde die Verpflichtung zur Mobilität damit, daßder Geselle in fremder Umgebung und bei fremden MeisternNeues sehen und lernen sollte. Auch wurde der Nutzen einerZeit in fremder Umgebung für die Herausbildung der Persön-lichkeit und des Charakters betont:37 „Nachdemer einige Jahrezum Theil mit Erlernung der ersten Anfangsgründe seinesHandwerkes, noch mehr aber mit den niedrigsten häuslichenVerrichtungen zugebracht hat, tritt er jetzt roh an Sitten und

Kenntnissen aus der Lehre. Welche Schulekann dann wohlbes-ser für ihn seyn, als wenn er große, volkreiche wegen seinesHandwerks berühmte Städte besucht?Hier lernt er neben dennützlichen Vortheilen seines Handwerks, welche ihm dasselbe

35 Wissell a.a.O. 5.151 (wieAnm.2s).36 vgl. Wissell a.a.O. 5.151f (wieAnm.2s).37 vgl. Simon a.a.O. S.24lff über dieBefürwortung des Wanderns auf demMeisterkongreß im August 1848 (wieAnm.l2).

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einträglicher machen, Bescheidenheit und bessere Sitten. Ge-bildeterundfähigerkommt er insein Vaterlandzurück.

"38

In der Biographie eines Handwerkers werden IntentionundStimmung bei Beginn der Wanderschaft ausgedrückt: „DieWelt draußen kennenzulernen und sich im eigenenBeruf fort-zubilden, war das Ziel unserer Wanderschaft, wenn wir sin-gendhinauszogen indie Welt ." 39

In seinen Erinnerungen an die Wanderzeit berichtet PaulLobe vor allem von Landschaften, Städten,Menschen und Se-henswürdigkeiten. Er spricht fast gar nicht von der Arbeit,schon gar nicht vom Arbeiten in seinem Beruf. ManbekommtdenEindruck,daß die „touristischenEindrücke" viel nachhal-tiger waren als das Erlernen neuer Fertigkeiten: „Es muß über-dies erstaunen, daß Berichte über das gelernte technische Wis-sen, über besondere Produktions- und Vertriebsformen des

38 Aus der Fürstlich Oetting-Oetting-und Oetting-Spielbergschen Wander-ordnung vom Ende des 18. Jahrhun-derts. In: Wissell, a.a.0., 5.153 (wieAnm.2s).39 Paul Lobe, a.a.0., 5.23 (wieAnm.29).

„Bei Muller Grün" (Im Berliner Tier-garten): Die Zeit unddieErfahrungender Mobililätsphase waren Vorausset-zungen für die Verwirklichung einessozialen Aufstiegs mit dem Ziel derSeßhaftigkeit auf einer Meisterstelle.Wo dieser Aufstieg versagt blieb,kames in vielen Fällen zu einer Wiederauf-nahme der Wanderschaft. Sie war al-lerdings nun gesellschaftlich nichtmehr anerkannt und konnte sehrschnell zu sozialem Abstieg (Vaga-bundentum, „Orientkunden")führen.

Stubenschild der Tischlergesellen ausdemHeimatmuseum BadOldesloe

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Handwerks eine verschwindend geringe Rolle spielen. Wenndie Handwerksreise ein Bildungserlebnis darstellt — und diemeisten Reisebeschreibungen der Handwerker betonen diesmehr oder minder deutlich — ,so setzten die Handwerker, so-bald sie ihreErinnerungen zuPapier brachten, den Begriff derBildung mit einer gelehrten Bildung gleich, die weit eher vonden Vorstellungen des Bildungsbürgertums abgeleitet waren."40

Friedrich Lenger hingegen interpretiert die Beliebtheit von„großen Gewerbezentren" als ein Zeichen dafür, „... daß dieWanderschaft auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts ihre

Funktion handwerklicher Vervollkommnung zumindest teil-weiseerfüllte."4^

Die Wanderschaft hatteaber nicht nur die Funktion der Wei-terbildung — sei sie nun mehr fachlich oder touristisch ge-prägt — , sie bedeutete auch die Loslösung vom Elternhausbzw. dem Haushalt des Meisters mit den Vorteilen der Frei-zügigkeit und denNachteilen der sozialenUnsicherheit.

Die Wanderpflicht erlosch mit Durchsetzung der Gewerbe-freiheit im 19.Jahrhundert. Die Gewerbeordnung von 1845hebt die Wanderpflicht auf und damit auch den Anspruch aufUnterstützung der Gesellen durch ihreBerufskollegen. Für denschleswig-holsteinischen Raum wird dies in der Gewerbeord-nung des Norddeutschen Bundes von 1869 zum Ausdruck ge-

40 Rainer S. Elkar: Deutsches Hand-werk im Spätmittelalter und der Frü-hen Neuzeit. Göttingen 1983 (Göttin-ger Beiträge zur Wirtschafts- und So-zialgeschichte 8d.9) S.lOB. Vgl. auchAndreas Grießinger: Das symbolischeKapital der Ehre. Frankfurt, Berlin,Wien 1981, 5.67 wird ein Buchbinder-geselle zitiert, für den das Reisen derHauptzweck der Wanderschaft ist.Der Beruf ist für ihndasMittelzudie-sem Zweck.41 Lenger, a.a.0., 5.32 (wie Anm.2);vgl.auch die Beschreibung des Kunst-schmieds J. Schramm, der im Mai1890 „auf eine Wanderschaft im mo-dernen Sinne (geht), teils mit Benut-zung der Eisenbahn und in schönenGegenden zu Fuß. Wir (...) hatten vor-her gemeinsam einen Wanderplan mitdem Ziel aufgestellt, schöne Gegen-den und alte Städte zu besuchen, alteund neue Eisenarbeiten zu zeichnenund in Frankfurt am Main und späterin München zu arbeiten. In beidenStädten gab es Werkstätten, die einenbesonders guten Namen wegen ihrerArbeit hatten" In: Wolfram Fischer,a.a.O. (wieAnm.7).

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bracht. Bereits in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts wurdedas Areal für Wanderschaften der Gesellen eingeschränktdurch die Verbote, u.a. in die Schweiz oder nachFrankreich zureisen.42

Dewald beschreibt: „Nachmittags wollte ich mir über dieSchweyz visieren lassen, was man mir aber unter keinen Um-ständen gestatten wollte. Die Wache wurde sogar recht miß-trauisch, und mir wurde bedeutet, diesen Wunsch nit weiterlaut werden zu lassen, weilman mich sonst für gute Zeit zudenAufrührern in das Gefängnis stecken würde." 4* In denWander-büchern finden sich des öfteren Vermerke, daß der Inhaber

42 Verordnung vom7.März 183543 wie Anm.lo.

Wanderbuchauszug: „Inhaber hatzwar das gesetzliche Reisegeldprodu-ziert, kann sich aber hinsichtlich derBlattern nichtlegimitieren.Daher über CellenachHamburg.Amt Lüchow den 28/? August 1830undEins"

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über die bestehenden Wanderverbote und die unerlaubten Ge-sellenverbindungen belehrt worden sei. Reisen in die Schweizwurden zum Teil sehr streng mit Gefängnis oderLandesverwei-senbestraft.

Es gab auch vereinzelt sog. „gesperrte" Handwerke, derenMitgliedernicht wandern durften,um selteneHandwerke nichtin andere Orte zu bringen und dadurchKonkurrenz zu schaf-fen.

Zu den Übernachtungsmöglichkeiten und -gepflogenheitender Gesellen ist in den Wanderbüchern nichts zu lesen. Infor-mationen dazu lassen sich aber biographischen Auf-zeichnungen entnehmen. Laut Wissell waren die Gesellen ur-sprünglich auf Übernachtungen im Freien, bei Berufskollegenoder im Armenhaus angewiesen.44 Mit Beginn der Wander-pflicht konnten dann Räume der Zunft oder später Zunfther-bergen benutzt werden, außerdem waren die Zunftmitgliederdazu verpflichtet, Unterkunft zu gewähren. „Handwerksge-wohnheit hat schließlich aus der freiwilligen Aufnahme eines

Fremden diePflicht dazu werdenlassen."45

Aberauch diesunterlag — wie so vieles imHandwerk — fe-sten Regeln, die der wandernde Geselle kennen und beherr-schen mußte.

44 „Wir mußten öfter mit einem„Knacker" vorlieb nehmen, dem La-ger in Stroh und Heu, mußten „Bank-arbeit" auf den harten Tischen undBänken kleiner Wirtshäuser verrich-ten oder gar „Platte reißen", daß heißtim Freien übernachten, was auch inder wärmeren Jahreszeit meist einziemlich kühles Quartierbleibt" Lobe,a.a.0., 5.27 (wie Anm.29).« Wissell,a.a.0.,S. 156 (wie Anm.2s).

Wanderbuchauszug: „Gültig nachHamburg Inhaber ist wegen Abwei-chens von der Reiseroute mit 24stün-digem Arrestbestraft und wegen man-gelndem Reisegeldes über die Grenzezurückgewiesen.Wandsbeck 16. März1856'Einunerlaubtes Abweichen vondie-

ser — nach derEintragung nunvorge-schrieben Richtung — konnte mitGefängnis bestraft werden, wenn sienicht auf Antrag wieder geändertwurde. Oft wurde dies aber nur miß-billigenderwähntoder auch ignoriert.

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6. Zu den Daten, diedie Wanderschaftrepräsentieren

Der Verlauf der einzelnen Wanderschaften ist in jedem Wan-derbuch durch die Eintragungen der Behörden bzw. Meisterdokumentiert. In jedem Ort hatte sich der Geselle zu meldenund eine Eintragung darüber vornehmen zu lassen, ob er sichum Arbeit bemüht oder in Arbeit gestanden hat, ob er Reise-geldbesaß oder als „Geschenk" erhaltenhatte und wohiner alsnächstes zu reisen beabsichtigte. Darüberhinaus wurden Er-mahnungen niedergeschrieben und Bestrafungen festgehalten.In den30er Jahrendes 19.Jahrhunderts finden sich des öfterenAnmerkungen wie „Lüneburg ist gesunder Ort" vom 13. Fe-bruar 1832 oder 3 Tage später aus Rendsburg „hier herrschtkeine ansteckende Krankheit". Dies sind spärliche Hinweiseauf die äußeren Umstände, denen ein wandernder Geselle aus-gesetzt war undaufdie Ängste der Seßhaften.

6.1. „Inhaber fandhier keine Arbeit"

„Inhaberfand hier keine Arbeit" — oder einfach nur die Be-merkung „Arbeit war nicht" — findet sich in schöner Regel-mäßigkeit in den Wanderbüchern. Die Begründung, daß dieGesellen vor allem deshalb auf Wanderschaft gingen, damit siesich fremde Arbeitstechniken aneigneten, die sie zu Hausenicht lernenkonnten, muß angesichts der vorliegenden Zahlenfür das 19. Jahrhundert in Schleswig-HolsteininFrage gestelltwerden:

Das Verhältnis der Einträge über geleistete Arbeit zu denEinträgen, die nur eine Durchwanderungdes Ortes bescheinig-ten, beträgt 1 zu 3, d.h. nur ein Viertel der Einträge währendder Wanderschaft zeigen ein Arbeitsverhältnis an. In 40% bis50% der Fälle wurde, unabhängigvon der Jahreszeit,zwischeneinem Monat und einem Jahr an einem Ort gearbeitet. Ledig-lich 20% der Arbeitsverhältnisse waren kürzer als einenMonatundnur 5% länger als ein Jahr.

Die Eintragungen über gefundene bzw. geleistete Arbeit wa-ren für die Gesellen sehr wichtig, da es zu Rügen kommenkonnte, wie bei einemKupfer- und Messingschläger aus Oldes-loe, der unter dem 7.1.1846 in Pinnebergdie Bemerkung„Inha-ber wird gebeten, sich ernstlich um Arbeit zu bemühen" in sei-nem Wanderbuch zu stehen hatte. Härter traf es einen Zim-mermann aus Allermöhle,der am 18.1.1832 aus Gotha „wegenlanger Arbeitslosigkeit undMangel an Reisegeld über Langen-salza und Mühlhausen in seine Heimath" verwiesen wurde.Derartige Bemerkungen oder gar Ausweisungen finden sichdes öfteren in den Wanderbüchern, so daß man davon ausge-hen kann, daß sowohl dieMeister und die Vertreter der Obrig-keit als auch die Gesellen sehr auf diese Eintragungengeachtetund so dazu beigetragen haben, daß entsprechende Daten fastvollständig vorliegen.

73

6.2. „Inhaber istwegen Abweichensvon der Reiseroutemit 24 StundenArrest bestraft..." -Wandsbek, den16. März 1853

Im Zuge der Auswertung wurden den in den WanderbücherngenanntenOrtenRegionenentsprechend der Grenzverläufe desDeutschenBundes (1815-1866)zugeordnet46

Über die Hälfte aller eingetragenen Stationen liegen also imBereich des heutigen Schleswig-Holstein und Hamburg, ge-folgt von Routen, die Richtung Osten führten. Dies deutet aufregionale Präferenzen hin, denn

—nach Kaufhold

—war eine

zunehmende Handwerkerdichte eher in Richtung Westen undSüden hinanzutreffen.47

Als Beispiele für berufsspezifische Abweichungen von derallgemeinen Verteilung sind in Grafik 11 die regionalen Häu-figkeitender Berufsgruppen„Metall"und „Holz"dargestellt.

46 Es wurden folgende Länder zu-sammengefaßt:Mitte - Großherzogtum Hessen-Darmstadt, Hessen-Frankfurt, Hes-sen-Kassel, Hessen-Nassau, Lippe-DetmoldNorden = Schleswig, Holstein, Lü-beck,Lauenburg, HamburgNordosten = Mecklenburg, Mecklen-burg-Strelitz, Preußen-Ostelbien,Preußen-WestNordwesten = Hannover, Bremen,Oldenburg, Braunschweig, Niederlan-deOsten = Anhalt, Böhmen, Mähren,Posen, Sachsen, ThüringenSkandinavien = Dänemark, Schwe-denSüddeutschland = Baden, Bayern,Westfalen, WürttembergSüdeuropa - Österreich, Schweiz,Ungarn, Italien47 Karl Heinrich Kaufhold: Umfangund Gliederung des deutschen Hand-werks um 1800. In: Wilhelm Abel(Hrsg.): Handwerksgeschichte in neue-rer Sicht. Göttingen 1978 (GöttingerBeiträge zur Wirtschafts- und Sozial-geschichte Bd.l). Vgl. auch Schmoller,a.a.0., S.lo3ff.(wie Anm.s).

74

Betrachtet man die Orte im einzelnen, so überrascht es nichtmehr, daß sämtliche Orte (einzige Ausnahme ist Harburg) mitmehr als fünfzig Nennungen ebenfalls in diesen Gebieten lie-gen.

Ortemit mehr als 100Nennungenbei insgesamt 6015 FällenOldesloe 398 6.6%Hamburg 259 4.3%Altona 228 3.8%Kiel 158 2.6%Lübeck 144 2.4%Segeberg 142 2.4%Neumünster 132 2.2%Rendsburg 105 1.7%

Bei einem Vergleich mit den bei Brockmann und Diederichsgenannten „großen Städten der Industrialisierung", nämlichdas Hamburger Umland, Altona, Neumünster, Lübeck, Kiel,Rendsburgund Flensburg48, läßt sich eine auffällige Überein-stimmung feststellen.

Ortemit 50bis99Nennungenbei insgesamt 6015 FällenPreetz 91 1.5%Itzehoe 90 1.5%Elmshorn 86 1.4%Wandsbek 84 1.4%Schleswig 83 1.4%Flensburg 80 1.3%Eckernförde 70 1.2%Glückstadt 60 1.0%Bramstedt 55 0.9%Friedrichstadt 54 0.9%Neustadt 53 0.9%Pinneberg 53 0.9%Harburg 52 0.9%Plön 50 0.8%

48 Detailliertere Informationen zurindustriellen Entwicklung in den ein-zelnen Städten und Regionen sieheden Sammelband „Schleswig-Hol-steins Weg ins Industriezeitalter",hrsg. von Urs Diederichs, Hamburg1986.

75

Die Bedeutungder Ortschaftender Unterelberegion wie Glück-stadt, Itzehoe, Elmshorn, Pinneberg, Bramstedt stieg mit derFertigstellung der Altona-Kieler-Eisenbahn 1844, dem An-schluß Glückstadts an die Ostseebahn 1845 und dem Bau derChaussee zwischen Altonaund Itzehoebis 1846.Elf Jahre spä-ter wurde die Eisenbahnlinie von Glückstadt über Krempenach Itzehoe verlängert. Es gab eine feste Straßenverbindungvon Krempe und Glückstadt mit der Chaussee nach Elmshornund Itzehoeund zwischen Wüster und St. Margaretenmit Itze-hoe. Durch den Eisenbahnanschluß entwickelte auch Pinne-bergsich zum Industriestandort.

Hervorzuheben ist noch einmal die Tatsache, daß nur 11%aller genannten Orte 71.6% aller Nennungenauf sich vereinen.Das darf als Hinweis darauf gelten, daß es Tendenzen zu be-stimmten gleichartigenRouten gab. So z.B. vonSchleswig-Hol-steinvorwiegend inRichtung OstenundNorden.49

Immer wieder wurden größere Orte angelaufen, sei es wegenpotentiell besserer Arbeitsmöglichkeitenoder wegenerwarteterSehenswürdigkeiten. Die außerordentlich große Anzahl vonOrten und Dörfernaber, dienur ein- bis fünfmal genannt wur-den, weist jedoch auch darauf hin, daß es weder notwendignoch üblich war, feste Routen zubenutzen. Hier scheint sich inder großen Vielfalt der Wege Individualität auszudrücken.Dabei darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß dieRoutenverläufe nicht immer allein von den Gesellen bestimmtwurden: „Den 29. morgens ging ich auf diePolizei und wollteganzgetrost nach Schweinfurt visieren lassen. Allein die saube-re Polizeischrieb mich über die Grenze nach Mergentheim insWürttemberger Gebiet."50

Verließ der Geselle einen Ort, wurde der als nächstes anzu-laufendeOrt indas Wanderbuch eingetragen.

Als Beispiel sei hier die Wanderroute des DrechslergesellenJohann HeinrichDan. Helms aus Oldesloe wiedergegeben.Erbegann seine Wanderschaft nach dreijähriger Lehrzeit imAltervon 19 Jahren am 19. April 1847 inOldesloe. Die letzte Eintra-gung wurde in Viborg (Dänemark) am 7. Januar 1848 vorge-nommen „tilOldesloe":

49 Eine statistische Untersuchung derregionalen Herkunftsorte der Gesel-len, die auf ihrer Wanderung Nürn-berg berührten, ergabbevorzugte Ein-zugsgebiete. Dieser entgegengesetzteWeg der Untersuchung führt letzliehzu dem gleichen Ergebnis, nämlichder Feststellung, daß es Präferenzengab, in welche Richtung die Wande-rung führte; ganz offensichtlich ab-hängig von Herkunftregion, Berufund Empfehlungen. Vgl. Elkar,a.a.0.,5.104L(wie Anm.4o).50 WieAnm.lo.

76

Ankunftsdatum Ort Arbeit

21.04.184722.04.184725.04.184725.04.184727.04.184730.04.184703.05.184705.05.184707.05.184712.05.184715.05.1847

HamburgStadeBremenVarrelgrabenOldenburgOsnabrückHannoverBraunschweigMagdeburgBerlinNauen

keinekeinekeinekeinekeinekeinekeinekeinekeinekeinekeine

20.05.184702.06.1847

NeustrelitzNeubrandenburg

jakeine

6.2.1. „Die Mutigstenwagten sich kaumüber die deutscheSprachgrenze hinausnach Paris, nachRom, nachBudapest."51

Zur Frage, wieviele und welche Gesellen über die Grenzen desheutigenSchleswig-Holsteinnicht hinauskamen.

Diese Frage ist besonders interessant aufgrund der starkenFrequentierung der Orte in den Herzogtümern Holstein,Schleswig, Lauenburg und der Städte Lübeck und Hamburg.Eine diesbezügliche Untersuchung ergibt, daß 93 Hand-werkergesellenauf ihren Wanderungen den schleswig-holsteini-schen Raum gar nicht verlassen haben, dies sind 39.2% allerFälle, immerhin mehr als ein Drittel! Diese wiederum verteilensichwie folgt:

Der hohe A"teil der Lederhandwerker fällt besonders ins Auge,er wird vorwiegend von 28 Schuhmachern52 bestritten.

Eine Vorschrift über die Wahrung einer Entfernung zumHeimatort der Gesellen findet sich in der „Verordnung wegender Gesellen-und Wanderjahre der Handwerksgesellen, für dieHerzogthümer Schleswigund Holstein"von 1828 § 2:

„Bei den Zimmer-, Tischler-, Maurer-, Rademacher-, Grob-und Kleinschmiede-, Riemer- und Sattler- und Reiserzünftendürfen Gesellen, die in unseren Landen die Lehrjahre bestan-den haben, nur dann, wenn sie drei Jahre in derFremde, näm-lich außerhalb unseres Königreichsund Unserer HerzogthümerSchleswig, Holstein und Lauenburg, oder zwei Jahre in Unse-rer Residenzstadt Kopenhagen, und bei den übrigen Zünftennur dann, wenn sie wenigstens ein Jahr außerhalb ihres Lehror-tes, als Gesellen gearbeitet haben, zur Gewinnung des Meister-rechts zugelassen werden."53

Es findet sich in den bearbeiteten Wanderbüchern keineErmahnung bei Nichtbeachtung dieser Verordnung. Diese Tat-sache mag insofern ein Indikator dafür sein, daß diese Vor-

51 Lobe, a.a.0.,5.24 (wie Anm.29).52 Insgesamt sind 39 Schuhmacher inder Untersuchungseinheit, dies ent-spricht 71.8%

—oder:Nur jeder vier-

te Schuhmacher wagt sich über dieGrenzen Schleswig-Holsteins undHamburgs hinaus. Nicht unbedingteineReklame für ihre Produkte!" Chron. Slg, 19.Februar 1828.

77

Leder 33 13.9% bzw. 64.7% aller LederhandwerkerHolzBauSonstigeTextil

1917127

8.0% bzw. 44.2% aller Holzhandwerker7.2% bzw. 27.9% aller Bauhandwerker5.1% bzw. 44.4% aller sonst.Handwerker2.9% bzw. 23.3% aller Textilhandwerker

Metall 5 2.1% bzw. 20.8% aller Metallhandwerker.

09.06.184710.06.1847

StavenhagenTeterow

keinekeine

12.06.184713.06.184728.07.184730.07.1847

RostockWismarLübeckPlön

keinejakeinekeine

01.08.184704.08.184707.08.184707.08.184708.08.184709.08.1847

KielFlensburgHaderslebenKoldingVejleHorsens

keinekeinekeinekeinekeinekeine

11.08.184714.08.1847

RandersViborg

keineja

Schrift weder von denGesellen noch vonder Obrigkeit sonder-lich ernst genommen worden zu sein scheint, weil ansonstenjeder Verstoß gegen eine Vorschrift oder die „guten Sitten" ge-rügt wurde.

Interpretationen, nach denen die „drei Jahre inder Fremde"dazu noch als ununterbrochene Zeit verstanden wird, lassensich noch viel weniger aufrecht erhalten: verfolgt man die Wegeder Gesellen imMonat Dezember, so endeten diesenicht seltenbei den Eltern, von wo aus die Wanderung im Januar wieder-aufgenommen wurde. Auch zwischenzeitliche Arbeitsperiodenbeim Vater, Bruder oder Onkel, die sich durchaus über einigeMonate oder Jahre erstrecken konnten, sindkeine Ausnahmeninden Wanderbüchern.

Wanderbrief ausBudapest:Bis nach Budapestist nur einer der

Gesellen gekommen, deren Wander-bücher bearbeitet wurden. Nur wenigekamen weit herum, die meisten blie-ben in der näheren Umgebung ihresHeimatortes.

6.2.2. „Inhaberstandhier mit gutemBetragen in Arbeit"

Die Listeder einzelnen Orte, an denen nun tatsächlichgearbei-tet wurde

—immerhin noch 413 verschiedene Städte oder Ort-

schaften — weisen lediglich drei Spitzenauf: die Städte Oldes-loe, Hamburg und Altona wurden am häufigsten eingetragen:Oldesloe 230 mal (=15.8%), Hamburg 117 mal (=B%) undAltona78 mal (=5.3%). Zusammen wurden indiesen drei Or-ten 29.1% (=425), also fast ein Drittel, aller positiven Eintra-gungenüber gefundenebzw. geleistete Arbeit vorgenommen.

Dies ist schon eine ganz beachtliche Konzentration. Auchunter dem Aspekt, daß die Dichte der ansässigen Handwerkerindengroßen StädtenSchleswig-Holsteinsrelativ gering war.54

54 Vgl. Kettemann, a.a.0., 5.62f. (wieAnm.l7).

78

79

80

6.3. Zu den Einzel-etappen während derWanderung

Der Mittelwert aller Einzeletappen liegt bei 38 km Luftlinie.Dieser Wert schließt auch die Strecken ein, die mit Hilfe vonVerkehrsmitteln zurückgelegt wurden, da die Datenstrukturbei dieser Auswertung keine Differenzierung zuläßt. Diesedurchschnittlichen 38 km Luftlinie wurden also nicht nur zuFuß bewältigt! 6.3.1. „Inhaber hat

sich wegen böserFüße ohne Arbeit auf-gehalten"—Wahren,den 5. August 1841

Häufigkeitsverteilung für die Variable „Kilometer", gültig füralleFälle

Diese Tabelle gibt nicht nur Auskunft über die von den Gesel-len zurückgelegten Distanzen, sondern auch über AbständezwischendeneinzelneneingetragenenOrten.

Die unregelmäßige Eintragung von Verkehrsmittelbe-nutzungen läßt sich an der Streckenkombination Kiel-Kopen-hagen demonstrieren, die ohne eine Schiffspassage schwerlich— noch dazu inzwei Tagen — zubewältigen gewesenseindürf-te. In diesen Fällen findet sich aber nur sehr selten ein Hinweisauf Schiffsbenutzung. Sie galt wohl als so selbstverständlich,daß man auf einen Eintrag verzichtete. Gar keine Erwähnungfinden Mitfahrgelegenheiten auf Fuhrwagen, wie sie z.B.

81

Titel00- 9km10-19km20-29km30-39 km40-49 km50-99 kmüber 100 km

Häufigkeit519

118911971047534850679

Prozent8.6

19.819.917.48.9

14.111.3

Total 6015 100.0

J.E. Dewald beschreibt: „Bei den spottschlechten Wegen inBayern war es ein Segen, daß die Fuhrleut einEinsehen hattenund wir aufdiese Weisefast ohne zu marschieren (...) nach Tra-bersheim kamen. (...) Kaum, daß wir die Stadt verlassen hatten,ließ uns ein Fuhrmann bis Teisendorf aufsitzen, wofür wir ihmdenn zumEntgelt einigeLiedersangen.

"55

Weniger selbstverständlich war im 19. Jahrhundert noch dieBenutzung der Eisenbahn. 67 Eintragungen (bei insgesamt6015 Eintragungen) bezüglich Bahnfahrten fanden sich in denWanderbüchern. Interessant ist, daß die Zahl der Einträge imLaufe des Jahrhunderts zunimmt, obwohl man davon ausge-hen kann, daß bei einer Gewöhnungan dieses neue Verkehrs-mittel Einträge hätten überflüssig werden können.Eintragun-gen über Eisenbahnfahrten fanden sich immerhin noch zehn-mal häufiger als Hinweise auf dieBenutzung von „Wochenwa-gen". Auch Hinweise auf Schiffspassagen fanden sich nur sehrvereinzelt (19mal).

Die meisten eingetragenenEisenbahnfahrten fanden auf der1844 eröffneten Strecke Altona-Kiel statt, gefolgt von derStrecke Hamburg-Berlin (seit 1846).56

Diese — zugegeben — spärlichen Hinweise auf Verkehrs-mittelbenutzung während der Wanderschaft sagen nur wenigüber den tatsächlichen Umgang mit Verkehrsmitteln aus, abersie weisen doch nach, daß die Handwerkergesellenkeineswegsausschließlich zu Fuß gegangensind.Ein weiterer Beweis dafürfindet sich in „Der rechtschaffende Professionist"57, ein „Ta-schenbuch für alle Handwerker", indem die Empfehlung aus-gesprochenwird: „Mit dem Fahren, undsollte es auch nur miteiner Gelegenheit seyn, laß dich nicht viel ein;denn ein Hand-werksgeselle, welcher keine Verschreibung in der Tasche, undmithin nicht sichere Arbeit hat, muß zuFuß reisen ... Das Rei-sen zu Fuß ist Wohlthat für den Körper;dasBewegen infreierLuft und die Abwechslung der Witterung härtet dich ab, stärktdie Nerven, und macht das Blut leichter undgesünder; unter-wegs kannst du dich nach allem erkundigen, dich mit jedem,derdir inden Wegkommt, unterhalten."5"

Saal gibt in seinem „Wanderbuch für junge Handwerker"59

grundsätzlich die gleiche Empfehlung mit der Begründung,daß es „auf Schusters Rappen" auch am bequemsten sei,ohne die Abhängigkeit von Kutschen und Abfahrtszeiten. Abergleichzeitig preist er auch die Schnelligkeit und die Er-holung bei Kutschfahrten,besonders mit der Schnellpost. Dasbilligste Reisemittel aber sei die Eisenbahn — auch billigerals der Fußmarsch, „weil man Touren in einem Tage zurückle-gen kann, auf welcher der Fußgänger 14 Tage und länger zu-bringt"60

Wasserfahrten sollten — nach Saal — als eine „... vielleichtin eurem ganzen Leben niemals wieder vorkommende Gele-genheit ..."61 genutztwerden.

Nach den Beschreibungen Saals scheint die Benutzungvon Verkehrsmitteln, insbesondere der Eisenbahn, durchauserschwinglich gewesen zu sein. In seinen Reisebeschreibungendes 18Jahrhunderts62 gibt Herbert Schwarzwälder jedoch

" Wie Anm.lo, 5.130.s6Jahreszahlen nach Carl Otto Hillmer: Verkehrspolitik im 19. Jahrhunden.Barnberg 1971.57 Der rechtschaffende Professionist.Meissen 1818.58 Der rechtschaffende Professionist5.2» C. Th. B. Saal: Wanderbuch fürjunge Handwerker oder populäre Be-lehrungen. Leipzig 1982 (Nachdruckder Ausgabe Voigt,Weimar 1842).60 Saal wie Anm. 59, 5.102. Immerhinstammt dieser Hinweis aus dem Jahre1842, also nur sieben Jahre nachEröffnungder ersten deutschen Eisen-bahnstrecke!61 Saal,wieAnm. 59, 5.103.62 Vgl. Herbert Schwarzwälder: Reise-beschreibungen des 18. Jahrhundertsüber Norddeutschland. In: WolfgangGrieb und Hans. W. Jäger (Hrsg.):Reise und soziale Realität am Endedes 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1983.

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einen ganz anderenMaßstab an: Danach mußte ein Zimmerer-oder Maurergeselle, die Schwarzwälder zu den Spitzenver-dienern unter den Handwerkern zählt, etwa sechs Tage fürdas Fuhrgeld von Bremen nach Hannover arbeiten. Damiterklärt er auch die Präferenz der Fußreise zu dieser Zeit.Auch nach Dewald soll eine Eisenbahnfahrt in der Zeit zwi-schen 1836 und 1838 nicht allzu billig gewesen sein: „Hattenfür die Fahrt zwölfKreuzer zu zahlen, was nit grad billig ist.Muß aber doch sagen, daß ich schwerlich nach Belgrad undDalmatien zu Fuß gereist wäre, hätteman schon überall solcheDampfer [= Dampfwagen oder Eisenbahn, d. Verf.] aufge-stellt."63

Auf einen besonderen Punkt bringt Schivelbusch die Vor-schlägeund Warnungen der zeitgenössischenRatgeber mit sei-ner These von der Vernichtung von Raum und Zeit durch dieEisenbahn: „... aufder einen Seite schließt dieBahn neue Räu-me auf, die bisher nicht verfügbar waren, aufder anderen Seitegeschieht dies, indem Raum vernichtet wird, nämlich derRaumdazwischen."64

Der „Raumdazwischen" könnte eben Arbeitsmöglichkeiten,„Geschenke" oder Sehenswürdigkeiten bieten, ebenso aberauch wundgelaufene Füße, Regen oder andere Widrigkei-ten.65

In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach derräumlichen Ausdehnung der Wanderschaften im Vergleich zuden Wanderschaften vorausgegangener Jahrhunderte. Daß dieEisenbahn Einfluß auf die Wanderschaften genommen hat, istunbestreitbar, aber in welche Richtungund wie weitdieser Ein-fluß 66 reichte, wäre — wenn überhaupt — nur durch VergleicheingrößeremMaßstab zuermitteln.

'3 Hofmann wieAnm. 10, 5.135.64 Wolfgang Schivelbusch: Geschichteder Eisenbahnreise. München, Wien1977,5.39.65 Indem Wanderbuch eines Maurersaus Rümpel fand sich eine Eintragungvom Januar 1849, die besagt,daß sichder Inhaber des Wanderbuches wegenwundgelaufener Füße noch 9 Tage inBreslau aufhalten dürfe.66 Z.B. weitere Entfernungen vomHeimatort, größerer Anteil an Ar-beitszeit,weniger Krankheits-undBet-telfälle usw.

6.3.2. „Inhaber wirdaufgefordert, die Rei-sezeit einzuhalten" —Dresden, den27. December 1853

Die Annahme, daß mit größerer Entfernung vom Heimatortdie Vorlage des Wanderbuches nicht mehr so häufig und regel-mäßig erfolgte, scheint sich zubestätigen. Nimmt man die Ge-biete „Norden" und „Südeuropa" als ausgeprägteste Gegensät-ze, so ist deutlich zuerkennen ,daß imNorden — für diemei-sten Gesellen die Heimatregion — die kürzeren Strecken über-wiegen, während in Südeuropa die langen Etappen von überfünfzig und über einhundert Kilometer überproportional oftvorkommen. Lange Etappen lassen einerseits auf die Benut-zung von Verkehrsmitteln schließen und andererseits darauf,daß das Wanderbuch bei Übernachtungen nicht mehr an je-dem Ort vorgelegt wurde. Auch dies wurde mitunter in denBüchern gerügt.

6.4. JahreszeitlicheVerteilung derArbeitszeit

Die Annahme,dieauchinder Literatur immer wieder bestätigtund gefestigt wird, daß vorwiegend im Sommer gewandert undim Winter gearbeitet wurde67,läßt sich mit diesem Datenmate-rial nicht aufrechterhalten. Der größte Anteil an eingegange-nen Arbeitsverhältnissen liegt bei dieser UntersuchungseinheitindenSommermonaten:

67 Zwei Beispiele: „Natürlich bildenauch für Kiel die Frühjahrs- undSommermonate die Hauptwander-zeit." — Wissell, a.a.0., 5.166 (wieAnm.2s); „Als die Sonne wieder hö-her stieg, regte sich neu die Wander-lust.." — Lobe, a.a.0., 5.26 (wieAnm.29).

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7. „Inhaber produ-ciert das gesetzlichfestgelegte Reisegeld"

Unterstützung für Handwerkergesellen auf der Wanderschaftist erstmals im 16. Jahrhundert beidenSattlern Nürnbergs be-legt68.Die finanzielleBelastung war unterschiedlich aufgeteilt.Entweder trugen Meister und Gesellen sie gemeinsam, oder eswaren die Gesellen oder die Meister jeweils zuständig69. Ab1830 sollten allein die Ämter für Zehrpfennige zuständig sein.Die Ämter allerdings versuchten, die Finanzierung durchLohnabzüge bei den Gesellen zu gewährleisten, was wiederumauf Widerstand bei den Gesellen stieß. Nachdem 1850 dieseRegelung wieder aufgehoben worden war, schafften die großenÄmter, die eine hohe Anzahl von durchreisenden Gesellen zuversorgen hatten, den Zehrpfennig grundsätzlich wieder ab.Diese Regelung fand allerdings nicht durchgängigBeachtung.

Wissell schreibt, daß das „Geschenk"70 bereits im altenHandwerk die Regel war und daß dies bis ins 20. Jahrhunderthinein so geblieben sei, und zwar nicht als eine Form von Bette-lei, sondern als anerkanntes Recht.Nur wenn ein Geselle trotzdes Geschenks inder Stadt noch bettelte, wurde dies eingetra-gen, damit er in Zukunft in dieser Stadt kein Geschenk mehrbekäme.

Aber es sprach sich herum, „... in welchen Orten sie das,Ortsgeschenk' ohne Leistung beim Vorlegen ihres Wanderbu-ches erhielten und in welchen Orten sie für dies Geschenk eineStundeHolzhacken oderandereArbeit verrichten mußten." 1^

Die Höhedes geschenkten Geldbetrags war aber auch abhän-gig von der zurückgelegten Tagesstrecke: so besagt §19 der Ver-ordnung vom 16. Februar 1830, daß ein wandernder Geselle andem Ort, an dem seine Zunft ansässig war, ihm aber keine Ar-beit geben konnte, den Ältermann um einen Zehrpfennig zurReise in die nächste Stadt oder dennächsten zunftberechtigten

68 Vgl. Wissell, a.a.0., 5.157 (wieAnm.2s)69 Zur Problematik der steigendenGesellenzahlenund des damit verbun-denen Mehrbedarfs an Unterstützun-gen im 19.Jahrhundert: Göttsch,a.a.0., 5.37(wie Anm.l2).70 Der Begriff „Geschenk" stammtvon dem Vorgang des Getränke Aus-schenkens; von da wiederum leitensich die Bezeichnungen „geschenktes"bzw. „ungeschenktes Handwerk" ab,je nachdem, ob die Statuten ein Ge-schenk für durchreisende Gesellen vor-sahenodernicht.' Wie Anm.lo.

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Flecken bitten konnte. Bei einer Entfernung unter drei Meilensollte die Unterstützung acht rbß., bei weiteren Strecken dasDoppelte betragen. Daneben sollten dem Gesellenkeine weite-ren Geschenke gegeben werden.72 Paul Lobe berichtet, daß esin Venedigein Kilometergeld von fünf Centesimi gab.73

Reisegeldeintragungen fanden sich relativ häufig in den un-tersuchten Wanderbüchern: 122 (= 2%)mal der Vermerk,,/;^Reisegeld", 74 mal der Vermerk, daß Reisegeld ausgezahlt wur-de, leider fast nie dieHöhedes Betrages, und 47 mal wurde le-diglich „Reisegeld" eingetragen, ohne Hinweis darauf, ob derGeselle dieses Reisegeld besaß oder es ihm ausgezahlt wurde.14 mal wurde ein „MangelanReisegeld" festgestellt. Insgesamtsind das 257 Eintragungen über Reisegeld. Das entspricht bei6015 Fällen 4.3%. Auffällig ist eine Häufung der Reise-geldeintragungen inLandesgrenzstädten wieHarburg, wo ganzoffensichtlich die Handwerker, die aus dem Hamburger Raumnach dem KönigreichHannover einreisen wollten, auf ihre fi-nanzielle Situation nach §2 der Anlage zum Kanzleischreibenvom 28.März 182974 überprüft wurden. Ein Beispiel aus Lin-dau in den 1830er Jahren: „Splitternackt wurden wir aufdemStadthaus auf Kretz untersucht und mußten unser Reisegeldvorweisen. Ich hatte Zorn und wies den Sekretären meinen vol-len Beutel... Mein Reisekollege kam in arge Verlegenheit, die-weil er nur einige Kreuzer bei sich hatte. Die Sekretäre freutensich schon, ihn instädtische Arbeit abführen zu können, wo ersich seine zehn Gulden zusammenverdienen sollte. Sie grielach-ten von Herzen, aber ich stand ihnen entgegen, indem ich an-gab, mein Reisegesellhätte mir inKonstanz zehn Gulden gelie-hen ..." 75

72 Vgl. Verordnungvom16.Feb.1830.73 Vgl. Lobe, a.a.0., 5.33 (wieAnm.29).74 Vgl. Anlage zum Kanzleischreibenvom2B.März1829.75 Wie Anm.lo,5.127f.

8. SchlußbemerkungDer Einsatz von EDV bei der Untersuchung serieller Quellenhat sich am behandelten Beispiel als hilfreich erwiesen. DasQuellenmaterial konnte überschaubar gemacht, mit Hilfe desComputers erschlossen und für eine Interpretation aufbereitetwerden. Die Arbeit bestätigte die Erkenntnis, „daß der EDV-Einsatz nicht gleichbedeutend mit einer Mathematisierung so-zialer Phänomene oder ihrer Reduktion auf Zahlen und Chif-fren sein muß, sondern zunächst vor allem Hilfsmittel derQuellen- und Informationsspeicherung und -Ordnung seinkann."16

Einige populäre Anschauungen über die Handwerkerwan-derschaft sollten anhand der vorliegenden Zahlen geprüft wer-den, wie z.B. die Vorstellung über die Wanderschaftsdauer von„3 Jahren und 1 Tag". Für die Gesellen, deren Wanderbücheruntersucht wurden,hattediese Frist offenbar keineBedeutung:nur vier Gesellen von 237 beendeten ihre Wanderschaft imer-stenMonat nach Ablaufder Dreijahresfrist.

Die verbotene und verpönte Rückkehr an den Heimatortwährend der Wanderschaft zog, nach den Eintragungen derWanderbücher zu urteilen, nicht einmal eine Bestrafung nachsich. Familienbesuche, besonders um die Weihnachtszeit, sindnicht selten verzeichnet.

Neue Erkenntnissebrachten dieErgebnisse, die aus dem Ver-

76 Wolfgang Kaschuba, Carola Lipp:EDV-Volkskunde. In: Tübinger Kor-respondenzblatt Nr.24, August 1983.5.24.

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haltender Gesellen während der Wanderschaft gewonnen wur-den. Es zeigt sich eine deutliche Polarisierung: auf der einenSeite läßt sich eine große Gruppe von Gesellenermitteln,die inder näheren Umgebung ihres Heimatortes blieben, auf der an-deren Seite finden sich die Gesellen,die große Distanzen über-wanden.

Es ließen sich beider statistischen Auswertungkeineberufs-typischen Routen oder Orte herauskristallisieren. Zeitangabenzum Alter, der Ausbildungsdauer und der durchschnittlichenGesamtdauer der Wanderschaft weisen für die Gesellen allerHandwerke eine ähnliche Struktur auf. Berufsspezifische Un-terschiede, etwa bei den durchschnittlich zurückgelegten Ge-samtkilometern oder den Wanderrichtungen, könnten nur

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nach einer Bestätigung durch weitere Daten als berufstypischinterpretiert werden.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Wandern derHandwerker als Teil der Berufsausbildungauch nach der offi-ziellen Aufhebung der Wanderpflicht im 19. Jahrhundert fort-geführt wurde und zum Teil heute noch wieder fortgeführtwird. Inwieweit „Handwerkerehre",d.h. dieErwartung,die vonaußen an denGesellen herangetragen wurde,drohende Arbeits-losigkeit am Heimatort oder Abenteuerlust ausschlaggebenddafür waren, „auf die Walz" zu gehen, läßt sich heute kaumnoch rekonstruieren. Aber die Hinweise auf Belehrungen,Ermahnungen oder gar Bestrafungen in den Wanderbücherngeben schlaglichtartige Einblicke in die tatsächliche Welt derwandernden Handwerker. Sie zeigen, inwieweit Verordnungenund Verbote relevant waren und daß diese Verordnungen dasLeben der Gesellen auf ihren Wanderschaften bestimmten. Dergroßen Freiheit derStraße waren durchausGrenzengesetzt.

Abbildungs-verzeichnis

Abb. 1, 9, 11, 13, 19, 20, 21, 23: Wanderbücher aus dem Stadtar-chiv BadOldesloeAbb. 2 und 3:In: Bruno Brandlund Günter Creuzburg(Hrsg.):Die Zunftlade 2.Aufl.Berlin1979Abb. 4und5: Reprofoto aus dem StadtarchivBad OldesloeAbb. 6: In: Michael Stürmer (Hrsg.): Herbst des alten Hand-werks München 1986, S. 124 und 126Abb. 7, 8, 16, 24: Privatfoto, aufgenommen im Heimatmu-seum HohenwestedtAbb.lo: Aus dem Begleitheft „Leute machen Kleider" zurWechselausstellung in der volkskundlichen Gerätesammlungdes Schleswig-HolsteinischenLandesmuseums Schleswig,Juni-Dezember 1985, 5.12Abb.l2: Reprofoto aus demHeimatmuseum HohenwestedtAbb.l4, 18, 22: Privatfoto, aufgenommen im HeimatmuseumBad OldesloeAbb.ls: Privatfoto, aufgenommen in Bad OldesloeAbb.l7: In: Klaus Bergmann (Hrsg.): Schwarze ReportagenReinbek 1984, 5.17 (Illustrierte Ztg. Nr. 1612, 23. Mai 1874,5.397)

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