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Verwaltung & Management E 21241 Nomos Zeitschrift für moderne Verwaltung www.verwaltung-management.de Öffentliche Aufgaben n E-Government n Finanzen und Rechnungswesen n Führung und Strategie n Public Governance n Organisation n Personalmanagement 5 2010 September | Oktober Aus dem Inhalt Gian Arard Plebani/Markus Reiners Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU Marc Hansmann Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem Eva Lünnemann Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung Robert Müller-Török/Robert Stein Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

Strategie und Best Practice für IT, Personal und Finanzen · 14. Fachmesse und Kongress Strategie und Best Practice für IT, Personal und Finanzen 27.-28. Oktober 2010 Messegelände

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Verwaltung & Management

E 21241

Nomos

Zeitschrift für moderne Verwaltung

www.verwaltung-management.de

Öffentliche Aufgaben n E-Government n Finanzen und Rechnungswesen n Führung und Strategie n Public Governance n Organisation n Personalmanagement

5 2010September | Oktober

Aus dem Inhalt

Gian Arard Plebani/Markus ReinersAusbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

Marc HansmannDas mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

Eva LünnemannSzenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

Robert Müller-Török/Robert SteinDie Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

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Inhalt

VM 5/2010 225

Auf ein Wort ... 226

Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU 227Gian Arard Plebani/Markus Reiners

Seit Beginn der 1980er Jahre ist unter nahezu allen OECD- und EU-Staaten eine Politik der Privatisierung und Liberalisierung zu beobachten. Der Beitrag liefert ein Erklärungsmodell für dieses Phänomen, indem der Prozess als Politikkonvergenz aufgefasst wird. Anhand der in der Literatur vorgeschlagenen allgemeinen Konver genz-mechanismen werden Kausalmechanismen und Be stim-mungsfaktoren der Aus breitung der Pri va tisie rungs politik identifiziert und mittels zweier Regres sions analysen anhand zweier unabhängiger quantitativer Stu dien geprüft. Die Resultate zeigen, dass unabhängiges Problem lösen, Zwang und internationale Har mo ni sierung die wichtigsten Kausal-mechanismen sind.

Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem 236Marc Hansmann

Die massiven Einnahmeausfälle bei den Kommunen sind keineswegs nur die zwangsläufige Konsequenz der kon-junkturellen Entwicklung, sondern zu einem großen Teil die Folge steuerpolitischer Entscheidungen auf Bundesebene. So reduziert allein das Wachstumsbeschleunigungsgesetz die Gewerbesteuereinnahmen in den Jahren ab 2011 um bis zu 1,2 Mrd. Euro pro Jahr. Die (verheerenden) Auswirkungen der Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte auf einen kommuna-len Haushalt werden anhand wichtiger Eckpunkte konkret am Beispiel der Landeshauptstadt Hannover aufgezeigt. Auf Grundlage dieser Analyse werden abschließend Vorschläge bezüglich einer Gemeindefinanzreform formuliert; denn wie-der einmal tagt auf Bundesebene eine Kommission, welche die Gemeindefinanzen reformieren soll. Und wieder einmal steht die Gewerbesteuer zur Disposition.

Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung 243Eva Lünnemann

Die Szenariotechnik ist eine Methode des strategischen Managements, die dazu dient, ein Unternehmen oder eine Organisation durch eine strukturierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Zukunft für kommen-de Herausforderungen zu rüsten. Die Technik bildet als Methode der strategischen Analyse im Managementkreislauf die Grundlage für die strategische Planung. In öffentlichen Verwaltungen ist die Anwendung der Szenariotechnik, an-ders als in erwerbswirtschaftlichen Unternehmen, noch nicht weit verbreitet. Eine Ursache liegt darin, dass kaum anwen-dungsbezogene Literatur zum Thema verfügbar ist. Der fol-gende Beitrag beschreibt den Einsatz der Szenariotechnik im kommunalen Management am praktischen Beispiel der Stadt Emsdetten, einer kreisangehörigen Kommune in Nordrhein-Westfalen.

Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden 255Robert Müller-Török/Robert Stein

Der Vertrag von Lissabon gibt den Bürgern Europas das Recht, sich mit Europäischen Bürgerinitiativen (EBI) di-rekt an die Kommission zu wenden. Der gegenwärtige Ver-ord nungs entwurf der Kommission verpflichtet eine einzige Behörde pro Mitgliedstaat, binnen maximal drei Monaten die Unterstützungserklärungen zu prüfen und dem Organisator

eine Bescheinigung gratis auszustellen. Dieser Beitrag unter-sucht, welche Probleme und Aufwände dadurch für die na-tionalen Behörden entstehen, u.a. durch die steigende Zahl von Unionsbürgern mit mehreren Staatsangehörigkeiten, die Einbindung der Unionsbürger im Nicht-EU-Ausland und den nicht funktionierenden Informationsaustausch für Wahlen zum Europäischen Parlament. Diese Situation kann als Chance genutzt werden, nationale Wählerverzeichnisse und betroffene zwischenstaatliche Prozesse zu analysieren und zu verbessern, weswegen mögliche Umsetzungsstrategien für Mitgliedstaaten aufgezeigt und bewertet werden.

Reformen in der kirchlichen Verwaltung 263

Steffen Fleßa/Kathleen Braun/Matthias Bartels/Michael Herbst

Die kirchlichen Verwaltungsämter stehen im Spannungsfeld von kirchlichem Auftrag, hoheitlichen Aufgaben und Effizienz, wobei der Anspruch immer größer wird, insbeson-dere die Pfarrämter als Kunden zu sehen und schnelle und korrekte Dienstleistungen für sie zu erstellen. Hierzu sind straffe Prozesse und klare Aufgabenzuordnungen wichtige Voraussetzungen. In diesem Beitrag wird anhand der lan-deskirchlichen Verwaltung der Pommerschen Evangelischen Kirche beispielhaft untersucht, wie die Pfarrämter als primä-re Abnehmer der landeskirchlichen Verwaltungsleistungen die Dienstleistungsqualität des kirchlichen Verwaltungsamts einschätzen und welche Prozesse zu ihrer Qualität bei-tragen. Weiterhin werden Vorschläge für eine verbesser-te Prozessorganisation gegeben, die durchaus auf andere Kirchen und Verwaltungen übertragbar sind.

Mitarbeitergespräche in Wissenschaft und Forschung 272

Reinhold Haller

Nach der Ablösung des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) Ende 2005 sollte der darauf folgende Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) zahlreiche Änderungen erfah-ren. Statt Bewährungsaufstiegen und altersgemäßer Regelung der Entgelte war angestrebt, vor allem die persönliche Qualifikation und Erfahrung sowie eine leistungsabhängige Komponente das Gehalt bestimmen zu lassen.

Changemanagement in der Administration eines Forschungsinstituts 277

Volker Uhl

Das Heinrich-Pette-Institut, Leibniz-Institut für Experimen-telle Viro lo gie, in Hamburg, ist eine Forschungs einrichtung mit einem jährlichen Grundhaushalt von ca. acht Mio. Euro und Drittmitteleinnahmen in Höhe von zwei bis drei Mio. Euro. Dem Institut wird ein nationales Alleinstellungsmerkmal in der virologischen Grundlagenforschung zugesprochen und die wissenschaftlichen Arbeiten befinden sich auf exzellen-tem Niveau. Zwei Evaluationen der Leibniz-Gemeinschaft haben jedoch Veränderungsbedarf für das Institut aufgezeigt. Für den Teilbereich der Administration des Heinrich-Pette-Instituts wird im Beitrag dargestellt, wie durch ein stufenwei-ses Changemanagement eine Reduzierung der Inputfaktoren, insbesondere der Personalkosten, und eine Verbesserung des Outputs in Form der administrativen Kernfunktionen erreicht werden konnte.

Nachrichten 280

Impressum 280

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»Auf ein Wort …«

VM 5/2010

Die Reform der öffentlichen Verwaltung ist so alt wie die öffentliche Verwaltung selbst. Dabei werden nicht die grundlegenden Eigenschaften der Verwaltung kritisiert – also Rechtssicherheit und Zuverlässigkeit. Es werden viel-mehr Fragen nach der Effizienz, Effektivität, Qualität von Verwaltungsleistungen und Bürgerorientierung gestellt. Diese Fragen ergeben sich aus den aktuellen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen: schwierige Haushaltslage, demografischer und technologischer Wandel, Globalisierung/Europäisierung so-wie gestiegene Anforderungen der Bürger und der Wirtschaft an die Qualität und das Tempo von Verwaltungsleistungen. Sie prä-gen die Erwartungen, die an die Verwaltung gestellt werden. Auch wenn das Veränderungstempo in einer globalisierten, digitalisier-ten, vernetzten Welt fraglos hoch ist und den Menschen einiges abverlangt, sollten wir den Wandel als Chance begreifen.

Eine besondere Herausforderung ist die Haushaltslage. Die Rettungspakete zur Stabilisierung des Finanzsystems und die umfangreichen Konjunkturprogramme für die Wirtschaft haben die Staatsverschuldung in astronomische Höhen getrieben. Die Bundesregierung hat deshalb – auch um die Schuldenbremse und die Maastricht-Kriterien zu erfüllen – Anfang Juni 2010 Einspar-Beschlüsse gefasst. Die Bundesverwaltung wird im Jahr 2011 demnach 11,2 Milliarden Euro strukturell einsparen. Ähnliche Sparpakete sind für die Folgejahre festgelegt. Diese Einsparungen sind nicht per legem zu erreichen.

Daher müssen die Modernisierungsmaßnahmen in der Verwaltung unvermindert fortgesetzt werden. Ziel unserer Reformen sind dabei effiziente Strukturen und Verfahren, um staatliche Aufgaben in hoher Qualität, orientiert am Gemeinwohl, zu erfüllen.

Die Bundesregierung hat dafür am 18. August 2010 in Umsetzung des Koalitionsvertrags das neue Regierungsprogramm „Vernetzte und transparente Verwaltung“ beschlossen. Es ist die übergreifende Strategie für die weitere Modernisierung der Bundesverwaltung in der 17. Legislaturperiode. Im neu-en Regierungsprogramm werden 20 Vorhaben in den Handlungsfeldern Personal, Organisation und Informations- und Kommunikationstechnologie zusammengefasst und mit konkreten Planungen unterlegt. Sie verbinden Effizienz-, Transparenz- und Qualitätsziele mit Mitarbeiter- und Gemeinwohlorientierung.

Im Sinne von Nachhaltigkeit werden dabei Maßnahmen, die bereits in den vergangenen Jahren die Erneuerung der Bundesverwaltung in Gang gesetzt haben, fortgesetzt. So werden wir z.B. den Auf- und Ausbau von Dienstleistungszentren und das

Projekt „D115 – Einheitliche B e h ö r d e n -ruf nummer“ weiter voran-bringen. Neues P o t e n z i a l wollen wir er-schließen mit den Projekten zu Leistungs-ve r g l e i chen , Prozess ma nage ment, E-Verwaltung, Geodaten in fra struktur Deutschland, mit Maßnahmen in den Bereichen Open Go vern-ment sowie In formations- und Kom muni ka tions technologie bzw. E-Go vern ment. Das Thema Personal bleibt ein wichti-ges: demografi esensible Personalpolitik, lebenslanges Lernen und Gesundheits management sind wichtige Bausteine, um den Anforderungen des demografischen Wandels gerecht zu werden.

Das neue Regierungsprogramm fordert ressortübergreifend auf

zur Aufgabenkritik und Priorisierung von Aufgaben, effiziente Strukturen mit klaren Verantwortlichkeiten zu bilden, Doppelarbeit und Überschneidungen abzubauen, zur Geschäftsprozessoptimierung.

Damit sind neue Formen der horizontalen und vertika-len Kooperation, Koordination und Kommunikation verbun-den, ebenso wie ressort- und ebenenübergreifende Lösungen, wo sie zweckmäßig sind und das beste Ergebnis versprechen. Dass Bund und Länder vieles gemeinsam erreichen können, zeigen sinnvolle Beispiele, wie der IT-Planungsrat, der Aufbau einer Geodateninfrastruktur Deutschland, die einheitliche Behördenrufnummer 115, die elektronische Steuererklärung ELSTER oder der Postfach- und Versanddienst De-Mail. An die-sen Beispielen müssen wir uns in unserer Zusammenarbeit ori-entieren. Davon hängen in einer zunehmend vernetzten und viel-gestaltigen Gesellschaft Erfolg und Qualität, Handlungs- und Steuerungsfähigkeit der Bundesverwaltung ab.

Sparen und modernisieren

Ihre

Cornelia Rogall-GrotheStaatssekretärin im Bundesministerium des Innern

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Verwaltung und Management16. Jg. (2010), Heft 5, S. 227-235

227

VER W AL TUNG &MANAGEMENT 5/2010

16. Jahrgang, Seiten 225-280Zeitschrift für moderne Verwaltung

Herausgeber: Univ.-Prof. em. Dr. Heinrich Reinermann, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer | Univ.-Prof. Dr. Veith Mehde, Mag.rer.publ., Leibniz Universität Hannover (geschäftsführend) | Prof. Dr. Tino Schuppan, IfG.CC – Institute for eGovernment, Pots-dam (geschäftsführend)Beirat: Dr. Stephan Articus, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Städtetages, Köln | Dr. Hans Bernhard Beus, Staatssekretär im Bundes-ministerium der Finanzen, Berlin | Prof. Dr. Hinrich E.G. Bonin, Universität Lüneburg | Hans Jörg Duppré, Landrat, Präsident des Deutschen Landkreistages, Berlin | Prof. Dr. Dieter Engels, Präsident des Bundesrechnungshofes, Bonn | Univ.-Prof. Dr. Gisela Färber, Deutsche Hochschule für Verwaltungswissen-schaften, Speyer | Peter Heesen, Bundesvorsitzender des Deutschen Beamtenbundes, Bonn | Dr. Jürgen Hensen, Präsident des Bundesverwaltungsamtes, Köln | Dr. Gerd Landsberg, Geschäftsführendes Präsidialmitglied des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Berlin | Dr. Johannes Meier, Mitglied des Vorstands der Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh | Prof. Dr. Marga Pröhl, Generaldirektorin des European Institute of Public Administration (EIPA), Maastricht | Dr. Thilo Sarrazin, Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank | Dr. Sebastian Saxe, Mitglied der Geschäftsleitung der Hamburg Port Authority Anstalt des öffentlichen Rechts, Hamburg | Univ.-Prof. Dr. Christina Schäfer, Helmut Schmidt Universität, Hamburg | Dr. Hedda von Wedel, Stellvertretende Vorsitzende von Transparency International Deutschland e.V., Berlin | Dr. Arthur Winter, Sektionschef im Bundesministerium für Finanzen, Wien | Christian Zahn, Mitglied des Bundesvorstands der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Berlin

Gian Arard Plebani Universität Konstanz, Department für Politik- und Verwaltungswissenschaft

Dr. phil. Markus ReinersUniversität Hannover, Politik wissen schaftliche Fakultät; Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg; Managing Director des Inposico Instituts (im Aufbau)

Seit Beginn der 1980er Jahre ist unter nahezu allen OECD- und EU- Staaten eine Politik der Privatisierung und Liberalisierung zu beobach-ten. Der Beitrag liefert ein Erklärungsmodell für dieses Phänomen, in-dem der Prozess als Politikkonvergenz aufgefasst wird. Anhand der in der Literatur vorgeschlagenen allgemeinen Konvergenzmechanismen werden Kausalmechanismen und Bestimmungsfaktoren der Aus-breitung der Privatisierungspolitik identifiziert und mittels zweier Regressionsanalysen anhand zweier unabhängiger quantitativer Stu-dien geprüft. Die Resultate zeigen, dass (i) unabhängiges Problem-lösen, (ii) Zwang und (iii) internationale Harmonisierung die wichtigsten Kausal mechanismen sind. Die Zugehörigkeit zur EU wird als starker Faktor für die Übernahme der Privatisierungspolitik identifiziert und im OECD-Vergleich fungiert die Parteizugehörigkeit der Regierung als wich-tige intervenierende Variable.

Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

Akteur auf und übernahm die Funktion als Beschäftigungspuffer und Nachfrage-motor. Dieser Trend kehrte sich zu Beginn der 1980er Jahre um.1 Aufgrund einer dramatisch ansteigenden Staatsverschul-dung und dem damit einhergehenden Be-schäftigungsrückgang versprachen Libe-ralisierungs- und Privatisierungsmaßnah-men eine finanzielle und organisatorische Staatsentlastung. Die Balance zwischen staatlicher und marktwirtschaftlicher Ko-ordination der Gesellschaft veränderte sich hierbei zugunsten des Marktes. Der Prozess erklärt sich durch die neuen The-orien der neoklassischen und angebotsori-entierten Ökonomen wie Milton Friedman und wurde von einflussreichen Politikern wie Margret Thatcher (Amtsantritt 1979) in Großbritannien und Ronald Reagan (Amtsantritt 1981) in den USA getragen und forciert.2

Diese Privatisierungs- und Liberalisie-rungspolitik breitete sich zu Beginn der 1980er Jahre in der gesamten industria-lisierten Welt aus und wurde von vielen

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Gian Arard Plebani/Markus Reiners

schaftstheorie, das Bild des Staates als aktiver Wirtschaftsteilnehmer durch. Der Staat blähte sich in den meisten Industrie-staaten zu einem riesigen wirtschaftlichen

1 Mayer 2006.

2 Schneider/Tenbücken 2004, S. 15ff.

Einführung

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich, gestützt auf die keynesianische Wirt-

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Wissenschaftlern als Rückzug des Staates interpretiert.3 Abbildung 1 zeigt die Ent-wicklung des Public Infrastructure Ratios, der den Anteil der staatlichen Infrastruk-tur einer Volkswirtschaft innerhalb der OECD-Staaten misst. Es ist offensichtlich, dass sich Anfang der 1980er Jahre ein Trend hin zur Privatisierung öffentlicher Infrastruktur einstellte, der bis in die Ge-genwart anhält.

Der Beitrag erklärt die Ausbreitung der Privatisierungspolitik, indem der Prozess als Politikkonvergenz aufgefasst wird. An-hand der in der Literatur4 identifizierten Konvergenzmechanismen, werden dieje-nigen Faktoren untersucht und überprüft, die die Übernahme und Ausbreitung dieser Politik fördern. Ausgangs sollte sich ein detailliertes Bild der Kausalmechanismen und Bestimmungsfaktoren abzeichnen, die

für die Ausbreitung und Konvergenz der Privatisierungspolitik verantwortlich sind.

Das y-zentrierte Forschungsdesign ver-sucht, möglichst umfangreich und voll-ständig die unabhängigen Variablen zu identifizieren, die zur Privatisierung als abhängige Variable führen und erklärt somit möglichst detailliert das Phänomen der Ausbreitung der Privatisierungspolitik. Zur Überprüfung werden zwei quantita-tive Arbeiten herangezogen, die ebenfalls die Bestimmungsfaktoren der Privatisie-rung untersuchen:

„Ausverkauf des Tafelsilbers“, von R. Zolnhöfer und H. Obinger aus dem Jahre 2005. „Europeanization and the retreat of the state”, von V. Schneider und F. Häge aus dem Jahre 2008.

Zusammengefasst versucht der vorliegen-de Artikel folgende Forschungsfrage zu beantworten: Welche Kausalmechanis-men, die von der Politikkonvergenzlitera-tur vorgegeben sind, führten durch welche Bestimmungsfaktoren seit den 1980er Jahren bis zum Jahr 2000 zur Ausbreitung der Privatisierungspolitik innerhalb der OECD und EU?

Theorie und Hypothesen

Der Abschnitt bietet eine Erläuterung und Eingrenzung der wichtigsten theoretischen Konzepte. Die abhängige Variable Privati-sierung oder – genauer gesagt – die Aus-breitung der Privatisierung innerhalb der OECD und der EU wird genauso erklärt, wie deren theoretische Grundlagen, die Politikkonvergenz und Parteiendifferenz-hypothese. Daraus werden das theoreti-sche Framework und die zu prüfenden Hypothesen abgeleitet.

Privatisierung

Die vielfältige Privatisierungsforschung verwendet keinen einheitlichen Privati-sierungsbegriff. Es wird in der Literatur grundsätzlich zwischen drei Privatisie-rungsformen unterschieden. Bei der ma-teriellen Privatisierung werden öffentli-che Unternehmen teilweise oder gänzlich veräußert, d.h. Gemeinschaftseigentum wird in Privateigentum überführt. Die formelle Privatisierung verändert nur die Rechtsform eines Unternehmens. Hier geht es meist darum, das Unternehmen von bestimmten haushalts- oder verwal-tungsrechtlichen Bindungen zu befreien. Schließlich bedeutet funktionale Privatisie-rung, dass öffentliche Aufgaben von Pri-vaten finanziert bzw. auch durchgeführt werden.5 Hierzu gehört auch das in jüngs-ter Zeit sehr beliebte Konzept des Public Private Partnership.6

Der Beitrag konzentriert sich vorwie-gend auf die materielle Privatisierung als abhängige Variable, da diese zum einen, beispielsweise durch Infrastrukturveräuße-

VM 5/2010228

Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

3 Vgl. Karrass 2009; Schneider/Tenbücken 2004 oder Mayer 2006.

4 s. Holzinger/Jörgens/Knill 2007.

5 Vgl. Zolnhöfer/Obinger 2005, S. 604 oder Mayer 2006, S. 19ff.

6 Vgl. Liedtke 2007, S. 25ff.

Abb. 1: Mean and standard deviation of public infrastructure ratio, 1970–2000 (Quelle: Schneider/Häge 2008, S. 3)

Abb. 2: Privatisierungsformen im Überblick (Quelle: Mayer 2006, S. 19)

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rungen oder Privatisierungserlöse, am bes-ten messbar ist und zum andern auch die auffälligste und meistdiskutierteste Form der Privatisierung darstellt. Abbildung 2 bietet einen Überblick über das Konzept der Privatisierung als Ganzes.

Politikkonvergenz

Die beständig zunehmende Konvergenz von Kulturen, Institutionen und Politi-ken (materielle Politik, Policy) ist in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Politik- und Sozialwissenschaften gerückt. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, das Phänomen der internationalen Ausbrei-tung der Privatisierungspolitik als Poli-tikkonvergenz zu betrachten. Dies erlaubt es, die allgemeinen Konvergenzmechanis-men als Erklärungsansätze anzuführen und zu prüfen. Holzinger/Jörgens/Knill7 bieten hierzu eine fundierte Metaanalyse der Konvergenzforschung an, welche die theoretischen Konzepte und Kausalme-chanismen innerhalb des Forschungsfeldes darstellen und abgrenzen (s. Tab. 1).

Politikkonvergenz wird dabei als „ten-dency of policies to grow more alike, in the form of increasing similarity in struc-tures, processes, and performances” defi-niert.8 Generell wird die wachsende inter-nationale Verflechtung von Nationalstaat und Gesellschaft als Grundlage dieser Po-licykonvergenz betrachtet.

Beim Konzept der Politikkonvergenz steht das Ergebnis, also das Ausmaß, um das nationale Politiken einander im Zeit-verlauf ähnlicher werden, im Vorder-grund. Policytransfer und Policydiffusion stellen hierbei Prozesse dar, welche unter bestimmten Umständen zu Politikkonver-genz führen können.9

Als Konvergenz begünstigende oder behindernde Faktoren können zum einen die in der Literatur meistgenannten fünf Kausalmechanismen gelten, welche im Folgenden genauer erklärt werden aber auch die intervenierenden Faktoren, die die Geschwindigkeit und den Umfang von Konvergenzprozessen beeinflussen.10

Unabhängiges ProblemlösenInternationale Politikkonvergenz kann das Ergebnis unabhängiger nationalstaatlicher Reaktionen auf ähnlichen Problemdruck sein.11 D.h., dass verschiedene Staaten in ähnlicher Weise auf Probleme und Druck ihrer Umwelt regieren, schon allein des-halb, weil dieser Umweltdruck internatio-nal derselbe sein kann. Der Mechanismus ist aus der Biologie bekannt und wird ana-loge Entwicklung genannt.12

Übertragen auf die Privatisierungspoli-tik kann argumentiert werden, dass Staa-ten ab den 1980er Jahren verstärkt mit unbefriedigender Wachstumsperformance und ausufernder Staats verschuldung aus dem keynesianischen Zeitalter konfron-tiert waren und daher Zuflucht bei den Empfehlungen angebotsorientierter Öko-nomen und deren Privatisierungsideen suchten. Diese neue Ökonomie versprach durch Zurückdrängen des Steuer- und Wohlfahrtstaates (Privatisierung), Anrei-ze für Wachstum und Beschäftigung zu schaffen.13

Betrachtet man nun diese möglichen Zusammenhänge, können folgende Hypo-thesen abgeleitet werden:

Je höher die Neuverschuldung eines 1. Staates, desto höher sein Grad an Pri-vatisierung.Je niedriger das Wirtschaftswachstum 2. eines Staates, desto höher sein Grad an Privatisierung.

Zwang, KonditionalitätKonvergenz kann auch über einen Zwangsmechanismus hergestellt werden, wobei Macht asymmetrie eine wichtige Rolle spielt. Der Machtüberlegene kann dem -unterlegenen seine Politiken per An-reizen oder Sanktionen aufzwingen. So ist beispielsweise die USA mit der Telekom-munikationsliberalisierung gegenüber Ja-pan und Europa verfahren.14

Andererseits kann auch innerhalb einer Staatengemeinschaft zwingendes Recht eingesetzt werden, welches die Mitglieds-staaten zwingt, gewisse Politiken einzufüh-ren. Dieser Zwang zur Konvergenz kann durchaus einen Mechanismus darstellen, der innerhalb der EU zur Übernahme von Privatisierungspolitik geführt hat.

In der Europäischen Gemeinschaft hat Ende des 20. Jahrhunderts ein Paradig-menwechsel, hin zur angebotsorientierten Ökonomie, stattgefunden, der sich auch schnell in den Gesetzen der EU zeigte und das wirtschaftspolitische Verhalten der Mitglieder entscheidend beeinfluss-te.15 Zu Beginn dieses Prozesses stand die Einheitliche Europäische Akte von 1987, welche den Binnenmarkt liberalisiert hat und somit gezwungenermaßen zu einer Konvergenz der Wirtschaftspolitik aller EU-Staaten führte. Es folgte der Maast-richt-Vertrag (1992), Amsterdam (1997) sowie der Wachstums- und Stabilitätspakt (1997). Sie alle brachten mit ihren Geset-zen die Trendwende hin zu einem schlan-keren Staat zum Ausdruck. Wichtig in die-sem Zusammenhang sind die Konvergenz-kriterien, also die einheitlichen Vorgaben zur Fiskalpolitik, die die Neuverschuldung begrenzen sollten (drei Prozent Obergren-ze). Diese Gesetzgebung zwang die gesam-te Euro-Zone ihre Schulden abzubauen und Neuverschuldung zu verhindern. Ein wirksames Instrument zur Zielerreichung war die Privatisierung von staatlichem Ei-gentum, um die Schulden senken und den

VM 5/2010 229

Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

7 Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 25.

8 Drezner 2001.

9 Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 16.

10 Vgl. Holzinger/Jörgens/Knill 2007.

11 Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 25.

12 Vgl. Schneider 2001, S. 21ff.

13 Vgl. Zolnhöfer/Obinger 2005, S. 608.

14 Vgl. Schneider 2001.

15 Karrass 2009, S. 228.

Kausalmechanismen Unabhängiges Problemlösen Zwang, Konditionalität Internationale Harmonisierung Internationaler Wettbewerb Transnationale Kommunikation und Lernen

Intervenierende FaktorenLänderbezogen

Politikbezogen

Geographische Nähe Kulturelle Ähnlichkeit Institutionelle Ähnlichkeit Sozioökonomische Ähnlichkeit Politiktyp, Politikmaterie Politikdimension, Konkretisierungsgrad

Tab. 1: Ursachen von Politikkonvergenz: Kausalmechanismen und intervenierende Faktoren (Quelle: Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 25)

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Staatshaushalt schlank halten zu können. Somit brachte die Währungsunion einen Zwang zur Konvergenz in der Wirtschafts-politik und mündete in eine gesamteuro-päische Privatisierungspolitik.16

Aus diesem Sachverhalt ergibt sich nachfolgende Hypothese:

Die Mitgliedschaft in der Europäischen 3. Währungsunion führt zu einem höhe-ren Grad an Privatisierung.

Internationale HarmonisierungDieser Konvergenzmechanismus betrach-tet internationales oder supranationales Recht – d.h., dass sich eine Gruppe von Staaten rechtlich verpflichtet, ein gemein-sam ausgehandeltes Programm auf natio-naler Ebene umzusetzen. „Internationale Harmonisierung kann, muss aber nicht

zu Konvergenz führen, da internationales Recht mit erheblichen Implementations-spielräumen ausgestattet ist.“.17

Die Europäische Union ist ein Parade-beispiel für eine stark fortgeschrittene, tie-fe regionale Integration. Es sollte daher in-nerhalb der Union auch zu einer stärkeren rechtlichen Harmonisierung kommen als zwischen Staaten anderer internationaler Organisationen (z.B. UNO, WTO, OECD, NAFTA, ASEAN etc.). Dieser Mechanis-mus ist eng mit dem o.g. Mechanismus des Zwangs verwandt. Da auch die recht-liche Harmonisierung nur da einsetzt, wo bei der Nichteinhaltung einer Rechtsnorm Konsequenzen drohen, kann sie auch als Teilbereich des Zwangsmechanismus auf-gefasst werden.

Für die Europäische Union sind die bindenden Rechtsabkommen also nicht nur Zwang zur Bildung ähnlicher Politi-ken, sondern auch Förderer der internati-

onalen Harmonisierung, die dann in eine Politikkonvergenz führen kann. Dies zeigt sich vor allem dort, wo potenzielle Anwär-ter auf eine Mitgliedschaft bereits im Vor-feld Politiken der Mitglieder übernehmen, um sich an die Union anzupassen und so bessere Chancen auf eine Mitgliedschaft zu haben.

In Bezug auf die Privatisierungspolitik der EU lässt sich folgende Hypothese ab-leiten:

1 Die (potenzielle Anwartschaft zur)3. Mitgliedschaft in der Europäischen Union führt zu einem höheren Grad an Pri vati sierung.

Internationaler WettbewerbBei einer verstärkten Offenheit des inter-nationalen Wirtschaftssystems, was allge-

mein als Globalisierung bezeichnet wird, entsteht ein globaler Wettbewerb um Ressourcen, der zu gegenseitiger Anpas-sung nationaler Politiken führen kann.18 Ein Beispiel hierfür ist der internationale Steuerwettbewerb, bei dem Staaten versu-chen, Firmensitze und Kapital durch nied-rige Besteuerung anzuziehen. Dies kann dazu führen, dass viele Staaten gezwungen werden, ihre Steuern zu senken, um einem Exodus ihrer eigenen Wirtschaftakteure vorzubeugen.19

Überträgt man diese Idee auf die Priva-tisierungspolitik, kann es sein, dass Staa-ten durch den internationalen Wirtschafts-wettbewerb gezwungen werden, Steuern und Interventionen in die Wirtschaft zu senken, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Dies kann zu einem erhöhten Privatisie-rungsdruck führen und zeigt sich vorwie-gend dann, wenn eine Volkswirtschaft besonders offen ist und im internationalen Wettbewerb steht.20

Die Annahme führt zu folgender Hypo-these:

Je stärker eine Volkswirtschaft dem in-4. ternationalen Wettbewerb ausgesetzt ist, desto höher ist ihr Grad an Priva-tisierung.

Da der internationale Wettbewerb durch die Binnenmarktliberalisierung in der EU besonders stark ist, lässt sich diesbezüglich eine ähnliche Hypothese formulieren:

2 Die Mitgliedschaft im Europäischen 3. Wirtschaftsraum führt zu einem höhe-ren Grad an Privatisierung.

Transnationale Kommunikation und Ler-nenDieser Konvergenzmechanismus wird als weicher Faktor der Konvergenztheorie bezeichnet und beschreibt das Lernen und die Übernahme von Politiken durch Kom-munikation und zwischenstaatlichen Aus-tausch von Informationen (Politiklernen durch Kanäle internationaler Organisatio-nen und Strukturen). Der Mechanismus wird in vorliegendem Beitrag nicht be-rücksichtigt. Im Allgemeinen wird diesen weichen Faktoren eine hohe Erklärungs-kraft bescheinigt, sie sind aber bedeutend schwieriger zu messen als die o.g. harten Faktoren.21

Intervenierende Faktoren

Als intervenierende Variablen zählen: geo-graphische Nähe, kulturelle Ähnlichkeit, institutionelle Ähnlichkeit, sozioökono-mische Ähnlichkeit, Politiktyp, Politik-materie, Politikdimension, Konkretisie-rungsgrad (s. Tab. 1). In der Studie wird vor allem die Parteifärbung der Regierung betrachtet, welcher ebenfalls einen Ein-fluss auf die Übernahme von Privatisie-rungspolitik zugeschrieben wird. Dieser Erklärungshypothese kommt in der Poli-tikwissenschaft ein hoher Stellenwert zu. Man spricht auch von der Parteidifferenz-hypothese.

230

16 Vgl. Huffschmid 2008, S. 17ff. oder Zolnhöfer/Obinger 2005, S. 605.

17 Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 26.

18 Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 27

19 Vgl. Genschel 2002 und 2004.

20 Zolnhöfer/Obinger 2005, S. 613.

21 Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 26.

Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

VM 5/2010

»Bei einer verstärkten Offenheit des internationalen Wirtschaftssystems, was allgemein als Globalisierung bezeichnet wird, entsteht ein globaler Wettbewerb um Ressourcen, der zu gegenseitiger Anpassung nationaler Politiken führen kann.«

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Parteidifferenzhypothese

Für Anhänger der Parteidifferenzlehre ist die Schlüsseldeterminante der Staatstätig-keit die parteipolitische Zusammensetzung von Regierung und Opposition. Besonders große Policy-Unterschiede sind zwischen Linksparteienregierungen einerseits und li-beralen oder säkular-konservativen markt-orientierten Regierungen andererseits zu erwarten.22

Das Verhältnis von Staat und Markt bildet sogar traditionell das Hauptclea-vage zwischen lin ken und bürgerlichen Parteien. Bürgerliche Kräfte sind demnach eher bereit, Staatsbesitz zu privatisieren, da sie aus ihrer Grundhaltung heraus dem Marktmechanismus mehr zutrauen als ihre linken Kontrahenten.23 Das Ziel eines schlanken Staates, wie es von liberalen Po-litikern gefordert wird, kann nur erreicht werden, wenn Aufgaben in die Privatwirt-schaft delegiert werden. Anhänger linker Parteien hingegen hatten lange Zeit kein Vertrauen in den Privatsektor. Sie ver-staatlichten daher Schlüsselindustrien und benutzten die öffentlichen Unternehmen als Beschäftigungspuffer in Phasen wirt-schaftlicher Rezession.24

Daraus lässt sich hypothetisch folgern:Staaten, die von linken Regierungen 5. gelenkt werden, haben eine geringere Privatisierungsquote.

Abbildung 3 zeigt, wie Kausalmechanis-men der Politikkonvergenz auch mit der Politikdiffusion und dem Politiktransfer zusammenspielen und letztendlich in eine Politikkonvergenz münden.

Zusammenfassung der Hypothesen

Zur Übersichtlichkeit werden ergänzend alle Hypothesen dargelegt. Die Hypothe-sen zur EU-Mitgliedschaft (3, 3.1, 3.2) werden hierbei zur Hypothese drei zusam-mengefasst.

Je höher die Neuverschuldung eines 1. Staates, desto höher sein Grad an Pri-vatisierung.Je niedriger das Wirtschaftswachstum 2. eines Staates, desto höher sein Grad an Privatisierung.Die Mitgliedschaft in der Europäischen 3. Union führt zu einem höheren Grad an Privatisierung.Je stärker eine Volkswirtschaft dem in-4. ternationalen Wettbewerb ausgesetzt

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ist, desto höher der Grad an Privatisie-rung.Staaten, die von linken Regierungen 5. gelenkt werden, haben eine geringere Privatisierungsquote.

Methode und Operationalisierung

Um die fünf Hypothesen zu prüfen, wer-den zwei Studien herangezogen, welche eine ähnliche Fragestellung aufweisen, die Privatisierungspolitik jedoch nicht aus der Perspektive der Politikkonvergenz be-trachten. (i) Ausverkauf des Tafelsilbers, von R. Zolnhöfer und H. Obinger aus dem Jahre 2005 und (ii) Europeanization and the retreat of the state, von V. Schnei-der und F. Häge aus dem Jahre 2008. Bei beiden handelt es sich um quantitative y-zentrierte Studien, die möglichst umfang-reich per OLS-Regression versuchen, das Ausmaß der Privatisierung zu erklären. Natürlich messen beide Studien weit mehr unabhängige Variablen, als die, die hier geprüft werden, was aber zu vernachlässi-gen ist, da diese nicht zur zugrunde liegen-den Theorie des Beitrags passen und daher keinen Mehrwert für die Hypothesenprü-fung generieren. Die beiden Studien kön-nen hinsichtlich der Operationalisierung und Datenerhebung unabhängig vonein-ander betrachtet werden. Im Folgenden werden Methode und Operationalisierung beider Studien kurz vorgestellt.

R. Zolnhöfer und H. Obinger 2005: Ausverkauf des Tafelsilbers

Als abhängige Variable sekundiert hier der nationale Privatisierungserlös in Relation zum BIP in 20 OECD-Staaten zwischen 1990 und 2000. Als unabhängige Variable „Parteizugehörigkeit“ wird der Kabinetts-sitzanteil von linken und bürgerlichen Parteien zwischen 1989 und 2000 heran-gezogen. Die Daten zur Neuverschuldung stammen aus der Economic Outlook Da-tabase der OECD und messen sowohl den Schuldenstand als auch die Höhe des Bud-getdefizits. Beim Budgetdefizit fließt ferner die Anzahl der Jahre zwischen 1990 und 1995 mit ein, in denen das Defizit eines

22 Schmidt 2002, S. 26f.

23 Vgl. Beyme 2000, S. 89.

24 Zolnhöfer/Obinger 2005, S. 609f.

Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

VM 5/2010

Abb. 3: Zusammenhang von Konzept und Mechanismus (Quelle: Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 29)

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Staates über der drei Prozent Hürde lag (Konvergenzkriterium der EU). Das Wirt-schaftswachstum respektive die Wachs-tumsschwäche wird als Abweichung zum OECD-Wachstumsmittelwert berechnet. Um die staatliche Einbeziehung in den internationalen Wettbewerb zu messen, wird die Außenhandelsquote eines Staates gemessen (Anteil von Importen und Ex-porten am BIP). Die Autoren wenden zwei verschiedene Modelle an. Erstens messen sie alle Variablen für die 20 OECD-Länder und EU-Mitgliedstaaten als Querschnitts-modell mit Durchschnittswerten über alle Jahre hinweg und zweitens agieren sie zu-sätzlich mit einer Panelanalyse in drei ver-schiedenen Zeiträumen.

V. Schneider und F. Häge 2008: Europeanization and the retreat of the state

Die abhängige Variable basiert hier auf der Public Infrastructure Ratio. Diese misst den Anteil des Staatseigentums an der öf-fentlichen Infrastruktur in 20 OECD-Län-dern von 1983 bis 2000. Die Studie ver-wendet die durchschnittliche Veränderung dieser Ratio über den ganzen Zeitraum hinweg, um die Stärke der Privatisierung festzustellen. Die unabhängigen Variablen Trade Dependence und Mobility of Ca-pital messen den Einfluss des internatio-nalen Wettbewerbdrucks aus Hypothese vier. Trade Dependence wird erneut als Anteil des Exports und Imports am GDP gemessen und Mobility of Capital wird durch einen Index der Deregulierung von Quinn (1997) bestimmt. Als Indikator für die Parteidifferenzhypothese (Government Ideologie) sekundieren über den gesamten Zeitraum hinweg der prozentuale Anteil der Kabinettssitze linker Regierungen so-wie die Staatsverschuldung. Als Maß gilt die innerhalb des Zeitraums höchste er-reichte Verschuldungsrate eines Staates. Zusätzlich ist in diesem Modell ein EU-Dummy integriert, um den Einfluss der EU-Mitgliedschaft zu erfassen.

Resultate

Der Abschnitt fasst die wesentlichsten Er-gebnisse der Studie aus den Regressions-analysen der zwei verwendeten Untersu-chungen zusammen.

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Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

VM 5/2010

R. Zolnhöfer und H. Obinger 2005: Ausverkauf des TafelsilbersTabelle 2 präsentiert die Resultate für die Bestimmungsfaktoren der Privatisie-rungserlöse in den vierzehn EU-Ländern. Zusammenfassend ist ersichtlich, dass die Privatisierungserlöse innerhalb der EU-Länder zwischen 1990 und 2000 im Querschnittsmodell umso höher sind, je häufiger eine Regierung die Drei-Prozent-Neuverschuldungsgrenze verletzt hat. Alle anderen Va riablen, die für diese Studie in-teressant sind, bleiben in diesen Modellen insignifikant und werden deshalb meist nicht aufgeführt (wirtschaftliche Offen-heit, Außenhandel und Wirtschaftswachs-tum). Besonders interessant ist, dass die

Parteifärbung der Regierung zwar oftmals keinen signifikanten Einfluss hat, aber zumindest die theoretisch erwartete Rich-tung aufzeigt. Zudem kann ein konditio-naler Parteieneffekt angenommen werden, wobei dieser umso stärker wird, je mehr Kontrollvariablen ins Modell aufgenom-men werden. Nur zwischen 1998 und 2000 kann ein signifikanter Effekt des Kabinettssitzanteils bürgerlicher Parteien identifiziert werden. Die Panelmodelle, die zur Absicherung geschätzt wurden, bestä-tigen die Befunde weitgehend.

Tabelle 3 zeigt die Resultate für die Be-stimmungsfaktoren der Privatisierungser-löse innerhalb der OECD. Sie stimmen erst

Tab. 2: Bestimmungsfaktoren der Privatisierungserlöse in vierzehn EU-Ländern (Quelle: Zolnhöfer/Obinger 2005, S. 618)Quelle: Privatisierungserlöse: OECD Financial Market Trends No. 82; Größe des öffentlichen Sektors: CEEP (2000); Kabinettssitzanteile: Schmidt et al. (2000); Neuverschuldung: OECD Economic Outlook Database; Angaben: abhängige Variable: Privatisierungserlöse in Prozent des BIP (Periodendurchschnitt); unstandardisierte Regressionskoeffizienten, standardisierte Regressionskoeffizienten in eckigen Klammern, t-Statistik in Klammern; * p δ 0.10; ** p δ 0.05; *** p δ 0.01; Die t-Statistik basiert auf den restriktiveren OLS-Standard-Fehlern, während Whites hete-roskedastizitätsrobuste Standardfehler permissiver sind und unsere Hypothesen noch stärker stüt-zen. Querschnitt: Kabinettssitzanteile der Parteien = Durchschnitt 1989-2000; Streikintensität = Durchschnitt 1989-2000; Neuverschuldung = Anzahl der Jahre im Zeitraum 1990-1995, in denen das Drei-Prozent-Kriterium verletzt wurde.

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mit den Befunden der EU überein, wenn Australien als Ausreißer ausgeklammert wird, so wie dies in der Tabelle dargestellt ist. Die Australische Labor Party hat in-sofern einen Sonderweg gewählt, als sie einen radikalen wirtschaftsliberalen Kurs eingeschlagen hat, um auf die in Austra-lien besonders starke Krise zu Beginn der 1980er Jahre reagieren zu können. Beson-ders auffällig sind die starken und signifi-kanten Parteieneffekte, die im EU-Sample noch nicht aufgetreten waren – d.h., dass im OECD-Vergleich bürgerliche Regierun-

gen stärker privatisierten als links orien-tierte Regierungen. Ebenfalls stark wirkt entgegen dem vorherigen Modell der Ein-fluss unterdurchschnittlicher Wirtschafts-leistung auf die Privatisierungserlöse. Dies bedeutet, dass OECD-Länder mit unter-durchschnittlichem Wirtschaftswachstum zwischen 1985 und 1995 stärker privati-sierten als solche mit überdurchschnittli-chem. Ansonsten ergibt sich ein ähnliches Bild wie im EU-Vergleich. Der positive Zusammenhang zwischen hoher Neuver-schuldung und Privatisierung tritt erneut

ein. Alle übrigen hier interessierenden Va-riablen bleiben insignifikant.

V. Schneider und F. Häge 2008: Europeanization and the retreat of the state

Tabelle 4 zeigt die Determinanten für die Privatisierung der Infrastruktur in 20 OECD-Ländern. Auch aus dieser Studie wird ersichtlich, dass Offenheit und in-ternationaler Konkurrenzdruck, gemessen durch die Variablen Financial Market De-regulation und Trade Dependence, keinen signifikanten Einfluss auf Infrastrukturpri-vatisierungen haben. Auch die Parteifär-bung scheint im Modell eins, welches alle Variablen einschließt, keinen signifikanten Einfluss zu haben. Dies ändert sich jedoch drastisch in anderen Modellen, welche weniger Variablen testen. In den Model-len, die nur noch die Government Ideo-logy und EU Membership messen, hat die Parteizugehörigkeit der Regierung einen besonders starken Einfluss. Die EU-Mit-gliedschaft hat über alle Modelle hinweg den stärksten Einfluss. In summa ist zu diagnostizieren, dass die Infrastrukturpri-vatisierung in EU-Ländern und Ländern mit bürgerlichen Regierungen besonders ausgeprägt ist. Die Erklärungskraft die-ser beiden Variablen zeigt sich durch ein R-Quadrat von 0.59 besonders deutlich, wenn Spanien als klassischer Ausreißer vernachlässigt wird.

Interpretation der Ergebnisse

Erst die dargestellten theoretischen Grund lagen ermöglichen es, die Resultate sinnvoll zu interpretieren. Von den fünf aufgestellten Hypothesen können vier be-stätigt werden. Nur Hypothese vier: „Je stärker eine Wirtschaft dem internationa-len Wettbewerb ausgesetzt ist, desto höher ist der Grad an Privatisierung“, lässt sich nicht bestätigen. Die Variablen, die in bei-den Studien die wirtschaftliche Offenheit und den Außenhandel messen, bleiben insignifikant. In Tabelle 3 zeigt die Offen-heitsvariable sogar einen der Theorie ent-gegengesetzten Einfluss. Somit wird der vierte Konvergenzmechanismus des inter-nationalen Wettbewerbs entkräftet. Man kann durchaus behaupten, dass dieser für die Konvergenz der Privatisierungspolitik keinen Einfluss hat.

233VM 5/2010

Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

Tab. 3: Bestimmungsfaktoren der Privatisierungserlöse in 20 OECD-Ländern (Zolnhöfer/Obinger 2005, S. 621) Quelle: Privatisierungserlöse: OECD Financial Market Trends No. 82; Größe des öffentlichen Sektors: Gwartney/Lawson (2000); Kabinettssitzanteile: Schmidt et al. (2000); Bikameralismus / Föderalismus: Lijphart (1999); Neuverschuldung: OECD Economic Outlook Database; Regulierungsdichte: Gwartney/Lawson (2000); Streikintensität: Armingeon et al. (2004); Colomer-Index: Schmidt (2000), S. 352); Zahl der Regierungsparteien: Schmidt et al. (2000); Offenheit: Armingeon et al. (2004); Wirtschaftswachstum: Maddison (2003). Angaben: abhängige Variable: Privatisierungserlöse in Prozent BIP-Querschnitt 1990-2000; unstandardisierte Regressionskoeffizienten, standardisierte Regressionskoeffizienten in eckigen Klammern, t-Statistik in Klammern; * p δ 0.10; ** p δ 0.05; *** p δ 0.01.

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Die zwei Erklärungsansätze, die aus dem ersten Konvergenzmechanismus (dem unabhängigen Problemlösen) herrühren, können bestätigt werden. In der Tat hat sich die Privatisierungspolitik just in den Ländern ausgebreitet, die eine hohe Neu-verschuldung aufweisen und unter einem schwachen Wirtschaftswachstum leiden. Daraus kann geschlossen werden, dass Regierungen oft erst mit Reformen reagie-ren, wenn sie einem hohen Problemdruck ausgesetzt sind.

Sehr überzeugend sind die Ergebnisse von Schneider und Häge23, die feststellen, dass die EU-Zugehörigkeit ein wichtiger Faktor für die Ausbreitung der Privatisie-rungspolitik darstellt. Leider zeigt das Re-sultat keine eindeutigen Ergebnisse bezüg-lich der Konvergenzmechanismen, da die EU-Zugehörigkeit lediglich bei drei der fünf Kausalmechanismen eine Rolle spielt (Zwang, internationale Harmonisierung und internationaler Wettbewerb). Man müsste demnach testen, welcher Einfluss innerhalb der EU am stärksten ist, um den einflussreichsten Kausalmechanismus bestimmen zu können. Da die Ergebnisse aber deutlich machen, dass Internationaler Wettbewerb im OECD-Vergleich keinen Einfluss entfaltet, kann auch davon ausge-gangen werden, dass er in der EU nur eine untergeordnete Rolle spielt. Somit bleiben als wichtigste Kausalmechanismen der Ausbreitung der Privatisierungspolitik in-nerhalb der EU noch der Zwang und die Internationale Harmonisierung, welche beide einen starken Einfluss ausüben.

gehörigkeit der Regierung tatsächlich als intervenierende Variable auftritt, solange sie nicht von anderen Kausalmechanismen überdeckt oder verdrängt wird.

In diesem Kontext ist auch erklärbar, warum ein unterdurchschnittliches Wirt-schaftswachstum nur im OECD-Vergleich mit starker Privatisierungspolitik kor-reliert, im EU-Vergleich hingegen nicht. Auch diesbezüglich scheint es so, dass der Druck der EU-Gesetzgebung stärker wirkt als wirtschaftliche Dringlichkeit, denn in-nerhalb der EU wurde die Privatisierung sogar durch stark wachsende Staaten vo-rangetrieben, während in der gesamten OECD vornehmlich wirtschaftlich schwä-cher wachsende Staaten Privatisierungspo-litik betreiben.

Konklusion und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das theoretische Framework der Po-litikkonvergenz einen geeigneten Rahmen abgibt, um die wichtigsten Kausalmecha-nismen zu identifizieren, die zur Ausbrei-tung einer Privatisierungspolitik beitragen.

Der fünfte Mechanismus Transnatio-nale Kommunikation und Lernen wurde in dieser Studie nicht mitberücksichtigt, wenngleich ihm eine hohe Erklärungs-kraft in der Literatur bescheinigt wird.26 Diesen Mechanismus zu prüfen, könnte als interessante Grundlage für die weite-re Forschung gelten. Es deutet viel darauf hin, dass unter Einbezug dieses Mecha-nismus ein noch viel aussagekräftigeres Erklärungsmodell für die Ausbreitung der Privatisierungspolitik entwickelt werden kann.

Die interessanteste Feststellung dieser Studie ist sicher, dass die EU zwischen 1980 und 2000 als regelrechter Privatisie-rungsmotor galt, der die Mitgliedstaaten trotz gutem Wirtschaftswachstum und linken Regierungen dazu angehalten hat, Privatisierungen zu betreiben. Eine inter-essante noch weitergehende Forschungs-frage wäre die Suche nach jenem Kausal-mechanismus, welcher innerhalb der EU am stärksten auf die Mitgliedstaaten und dessen Policy-Making einwirkt.

Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

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Es lässt sich festhalten: Die Europäi-sche Union ist durch ihre angebotsorien-tierte und neoliberale Wirtschaftspolitik seit den 1980er Jahren ein „Zugpferd“ in Sachen Privatisierungspolitik. Des Weite-ren sind nahezu alle Mitgliedstaaten auf diesen Zug aufgesprungen.

Im Theorieteil wurde die Parteizugehö-rigkeit der Regierung als intervenierende Variable festgestellt. Als Hypothese wurde formuliert, dass konservative Regierun-gen eher bereit sind, Privatisierungspolitik umzusetzen. Wie aus der Tab. 2 hervor-geht, ist dies in der Europäischen Union jedoch nicht der Fall. Aus den anderen beiden Tabellen kann man allerdings her-auslesen, dass die Parteifärbung mitunter die wichtigste Determinante der Privati-sierungspolitik darstellt, zumindest in der Gesamtauswahl der OECD-Staaten. Wie lässt sich dieser fundamentale Unterschied erklären?

Wie bereits aufgezeigt, hat die Zugehö-rigkeit zur EU einen sehr starken Einfluss. Die Resultate sind geradezu überwälti-gend, dass der Druck aus einer EU-Zuge-hörigkeit die Parteizugehörigkeit überla-gert. Die Gesetzgebung gestaltet sich durch ihren „Zwang“, und wohl auch die euro-päische Harmonisierung, so bedeutend, dass selbst linksorientierte Regierungen keine andere Möglichkeit haben, als die Privatisierung voranzutreiben. Eine große Rolle spielt hierbei ferner die Einhaltung der Konvergenzkriterien (drei Prozent Neuverschuldungsobergrenze). Somit lässt sich diagnostizieren, dass die Parteienzu-

Tab. 4: The determinants of infrastructure privatization (Quelle: Schneider/Häge 2008, S. 9)

25 Schneider/Häge 2008.

26 Vgl. Holzinger/Jörgens/Knill 2007, S. 26.

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Plebani/Reiners, Ausbreitung der Privatisierungspolitik in der OECD und EU

Staatliches Innovations-management

Innovationen im und durch Recht

Hermann Hill/Utz Schliesky (Hrsg.)

E-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems II

Verwaltungsressourcen und Verwaltungsstrukturen 15

Nomos

Innovationen im und durch RechtE-Volution des Rechts- und Verwaltungssystems IIHerausgegeben von Prof. Dr. Hermann Hill und Prof. Dr. Utz Schliesky2010, 302 S., brosch., 79,– €, ISBN 978-3-8329-6034-6(Verwaltungsressourcen und Verwaltungsstrukturen, Bd. 15)

Der Band dokumentiert die Ergebnisse der zweiten Veranstaltung des wissenschaftlichen Gesprächskreises „E-Volution des Rechts- und Ver-waltungssystems“. Diesmal standen ausgewählte Probleme der Weiter-entwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts im Hinblick auf den verstärkten Einsatz moderner Informations- und Kommunikationstech-nik in Staat und Verwaltung auf der Agenda. Zugleich wird den Ursachen für die Schwierigkeiten der öffentlichen Verwaltung bei – insbesondere IT-gestützten – Modernisierungsvorhaben nachgespürt und es werden Lösungsvorschläge unterbreitet.

Die Dokumentation der Vorträge soll die wissenschaftliche und rechts-politische Diskussion in einem wichtigen, aber oftmals vernachlässigten Themenfeld befördern. Darüber hinaus ist der Tagungsband ein Kompen-dium für zeitgemäßes „Staatliches Innovationsmanagement“, das Ver-antwortlichen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung Anregungen für die erfolgreiche Durchführung von Modernisierungsprojekten gibt.

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Verwaltung und Management16. Jg. (2010), Heft 5, S. 236-242

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Dr. Marc HansmannStadtkämmerer

der Landeshauptstadt Hannover, Finanz-, Rechts- und Ordnungsdezernent der Landeshauptstadt Hannover

Die massiven Einnahmeausfälle bei den Kommunen sind keineswegs nur die zwangsläufige Konsequenz der konjunkturellen Entwicklung, son-dern zu einem großen Teil die Folge steuerpolitischer Entscheidungen auf Bundesebene. So reduziert allein das Wachstumsbeschleunigungsgesetz die Gewerbesteuereinnahmen in den Jahren ab 2011 um bis zu 1,2 Mrd. Euro pro Jahr.2 Welche (verheerenden) Auswirkungen die Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte auf einen kommunalen Haushalt haben, wird anhand wichtiger Eckpunkte – angefangen bei der Abschaffung der Lohnsummensteuer bis zur unterbliebenen Reform der Grundsteuer – konkret am Beispiel der Landeshauptstadt Hannover aufgezeigt. Auf Grundlage dieser Analyse werden abschließend Vorschläge bezüglich einer Gemeindefinanzreform formuliert; denn wieder einmal tagt auf Bundesebene eine Kommission, welche die Gemeindefinanzen refor-mieren soll. Und wieder einmal steht die Gewerbesteuer zur Disposition.

Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

Marc Hansmann

Abschaffung der Lohnsummensteuer

Die Gewerbesteuer wurde traditionell mit-tels drei verschiedener Bemessungsgrund-lagen erhoben: Ertrag (= Gewinn), Kapital und Lohnsumme. Das hatte zwei Vorteile. Erstens blieb das Gewerbesteueraufkom-men auch in konjunkturell schwierigen Phasen relativ stabil. Zweitens begrenzte dieses System die Gestaltungsfähigkeit der Bemessungsgrundlage. Diese Gestaltungs-fähigkeit ist die Achillesferse jeder gewinn-orientierten Unternehmensbesteuerung. Zunächst muss genau festgelegt werden,

Nicht zufällig hat deswegen Österreich erst vor ein paar Jahren die Erhebungs-grundlage der Gewerbesteuer vollständig auf die Lohnsumme umgestellt. Allerdings bestehen auch gewichtige Nachteile. So müssen auch Unternehmen, die Verluste erwirtschaften, Steuern zahlen. Die Ge-werbekapitalsteuer besteuert die Subs-tanz, während die Lohnsummensteuer mit einiger Berechtigung als Strafsteuer für Arbeitsplätze charakterisiert werden kann. Deswegen ist letztere vor mehr als dreißig Jahren abgeschafft worden. Auf dem Bonner Weltwirtschaftsgipfel von 1978 wurde Deutschland insbesondere von den USA unter erheblichen Druck ge-setzt, als Lokomotive der Weltkonjunktur zu dienen. Die deutsche Antwort war eine Mischung aus nachfrage- und angebots-orientierter Politik. Neben umfangreichen, überwiegend defizitfinanzierten Konjunk-turpaketen wurde die Lohnsummensteuer abgeschafft. Dieser Vorschlag kam damals völlig überraschend und wurde beinahe handstreichartig durch das Parlament ge-peitscht. Als Ausgleich erhielten die Kom-munen einen zusätzlichen Prozentpunkt an der Einkommensteuer. Zudem wurde die Gewerbesteuerumlage gesenkt. Dies glich zwar insgesamt das Aufkommen der Lohnsummensteuer aus, jedoch kei-neswegs für sämtliche Kommunen. Insbe-sondere die ohnehin vom Strukturwandel

welche betrieblichen Erträge versteuert werden sollen und welche Betriebsausga-ben abzugsfähig sind. Darf beispielswei-se eine bombastische Betriebsfeier den Unternehmensgewinn – und damit die Steuerfestsetzung – schmälern? Im Zwei-felsfall zeigen Gerichte die Grenzen auf. Auch die Finanzverwaltung bemüht sich ständig, strittige Einzelfälle zu regeln, was dem Kampf gegen Windmühlen gleicht. Das Hauptproblem liegt jedoch nicht an dieser Stelle, sondern in den internen Ver-rechnungsmöglichkeiten global agierender Konzerne. Im Zuge der Globalisierung schmilzt das deutsche Unternehmensteu-ersubstrat wie der Schnee in der Sonne. In der Theorie ist eine ausschließlich am Gewinn orientierte Unternehmensbesteue-rung natürlich völlig richtig. Wer gut ver-dient, zahlt auch mehr Steuern. Wer nichts verdient, zahlt keine Steuern. In der Praxis optimiert leider auch das Unternehmen, das ausgesprochen gut verdient, seine Steuerbelastung. Weniger gestaltungs-fähig ist die Besteuerung auf der Grund-lage des Kapitals oder der Lohnsumme.

1 Ausführlicher: Memorandum der Landes-hauptstadt Hannover zu den Auswirkungen steu-erpolitischer Entscheidungen auf den städtischen Haushalt, Hannover 2010, als download unter: http://www.hannover.de/de/buerger/verwaltun-gen/dez_fb_lhh/dezernate_lhh/fina_dez/dezer-nent/index.html

2 Siehe Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode, Drucksache 17/15, S. 16.

Die Steuerpolitik der letzten Jahrzehnte und ihre Auswirkung auf die kommunalen Haushalte1

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stark betroffenen Ruhrgebietsstädte, deren Einnahmebasis traditionell von der Lohn-summensteuer dominiert wurde, verloren stark. Letztlich haben sie sich bis heute nicht von diesem Schlag erholt. Insofern ist die Abschaffung der Lohnsummen-steuer ein gutes Lehrstück für die gegen-wärtig diskutierte Gemeindefinanzreform. Im bundesweiten Durchschnitt sämtlicher Kommunen könnte die Abschaffung der Gewerbesteuer vermutlich kompensiert werden, nicht jedoch bezogen auf jede einzelne Kommune.3 Kam Hannover 1979 noch recht glimpflich davon, so war das bei der Abschaffung der Gewerbekapital-steuer leider nicht der Fall.

Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer

Eine der letzten steuerpolitischen Maß-nahmen der Regierung Kohl bestand in der Abschaffung der Gewerbekapitalsteu-er. Mit Wirkung zum 01.01.1998 wurde eine alte Forderung der Unternehmens-verbände erfüllt. Die Unternehmensteuern sanken und die Besteuerung der Substanz wurde weitgehend abgeschafft. Mit Aus-nahme einiger ertragsunabhängiger Hin-zurechnungen bemisst sich die Gewerbe-steuer seitdem am Gewinn.

Als Ausgleich für die Mindereinnahmen infolge der abgeschafften Gewerbekapital-

steuer erhielten die Kommunen eine Be-teiligung in Höhe von ca. 2,2 Prozent des Mehrwertsteueraufkommens. Insbesonde-re für gewerbesteuerstarke Städte erwies sich diese Kompensation als unzureichend. Hingegen waren kleinere Wohnortgemein-den die Gewinner dieser Regelung. Zwar erwies sich die wenig konjunkturreagible Mehrwertsteuer insbesondere im Rezessi-onsjahr 2003 auch für das Steueraufkom-men der Stadt Hannover als stabilisierend. Insgesamt ist die Abschaffung der Gewer-bekapitalsteuer aber ein enormes Verlust-geschäft für den städtischen Haushalt, wie Abbildung 1 verdeutlicht.

Die Verluste der Stadt Hannover belau-fen sich auf bis zu 28 Mio. Euro im Jahr und summieren sich seit 1998 auf 188 Mio. Euro.

Erhöhte Gewerbesteuerumlage als Finanzierungsbeitrag zur Deutschen Einheit

In der Öffentlichkeit ist kaum bekannt, dass sich die Kommunen erheblich an den Kosten der Deutschen Einheit beteiligen, was deren Haushalte stark belastet. Über einen bestimmten Anteil an der Gewer-besteuerumlage, der als Solidarbeitrag bezeichnet wird, zahlte beispielsweise die Stadt Hannover im Jahr 2008 mehr als 41 Mio. Euro, was acht Prozent des gesamten Gewerbesteueraufkommens entsprach. Mit dem Konjunktureinbruch reduzier-te sich dieser absolute Betrag zwar, doch summiert sich der Beitrag der Stadt Han-nover zur Finanzierung der Deutschen Einheit mittlerweile auf über 640 Mio. Euro.

Auch wenn spätestens seit der Banken- und Wirtschaftskrise die Milliarde als kleinste Einheit der Finanzpolitik gilt und Rettungsschirme im Umfang von hunder-ten von Milliarden Euro aufgespannt wer-den, so sind 640 Mio. Euro für die Stadt Hannover eine riesige Summe. Zum Ver-gleich: Die Kassenkredite der LHH lagen im September 2010 bei 170 Mio. Euro. Anders ausgedrückt: Ohne den Solidar-beitrag müsste die Stadt Hannover heute

VM 5/2010 237

Hansmann, Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

3 Bach/Fossen 2008.

4 Haushaltspläne der Landeshauptstadt Hannover von 1992 bis 2010.

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jährliche Mindereinnahmen durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuersummierte Mindereinnahmen

in Mio. €

Abb. 1: Entwicklung der Mindereinnahmen der LHH durch die Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer, 1998-2010

Abb. 2: Entwicklung des Solidarbeitrags der Landeshauptstadt Hannover (LHH) bei der Gewerbesteuerumlage, 1991-20104

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700

1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

jährlicher Solidarbeitrag bei der Gewerbesteuerumlage (einschl. Einheitsumlage bis 1998)summierter Solidarbeitrag bei der Gewerbesteuerumlage

in Mio. €

Belastung der Stadt Hannover durchdie Kosten der Deutschen Einheit

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nicht ihr Girokonto überziehen, sondern hätte im Gegenteil eine prall gefüllte Rücklage in Höhe von mehreren hundert Millionen Euro.

Unternehmensteuerreformen

Spätestens seit der von Helmut Schmidt durchgesetzten Abschaffung der Lohn-summensteuer wird in Deutschland eine angebotsorientierte Steuersenkungspolitik verfolgt, und zwar bemerkenswerterweise völlig unabhängig von der parteipoliti-schen Zusammensetzung der Bundesre-gierung. Damit sollen die seit der Ersten Ölkrise von 1973 schwierigen Rahmen-bedingungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland verbessert werden. Im Ergeb-nis hat sich der Anteil der Körperschaft- und Gewerbesteuer am gesamten Steuer-aufkommen in den letzten 50 Jahren von 20 Prozent auf zehn Prozent halbiert.5

Höhepunkte dieser Steuersenkungs-politik für die Unternehmen waren die bereits beschriebene Wegnahme von zwei der insgesamt drei Säulen der Gewerbe-steuer sowie die drastische Senkung der Körperschaftsteuersätze. Diese wurden von 45 Prozent bzw. 30 Prozent im Jah-re 1998 auf zunächst einheitlich 25 Pro-zent in 2001 und dann noch mal auf 15 Prozent in 2008 gesenkt. Das Jahr 2001 wurde dabei zum kompletten Desaster einer Unternehmensteuerreform. Die Kör-perschaftsteuer brach von knapp 24 Milli-arden Euro in 2001 auf einen Minuswert ein. Die Finanzämter mussten also mehr

Hansmann, Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

auszahlen als sie einnahmen. Zudem be-saß die Eichelsche Unternehmensteuer-reform mit der Steuerfreiheit für Beteili-gungsverkäufe ein völlig überraschendes Element. Für die Unternehmen bestand als Folge ein hoher Anreiz, ihre Beteiligun-gen zu verkaufen, da sie ihre Buchgewin-ne, also die stillen Reserven, nicht mehr zu versteuern brauchten. Die miteinander verwobene Deutschland-AG, in der die großen Unternehmen untereinander Über-kreuzbeteiligungen besaßen, löste sich ra-send schnell auf.

Es ist äußerst schwierig, die Auswir-kungen der diversen Unternehmensteuer-reformen auf das Gewerbesteueraufkom-men der Stadt Hannover zu schätzen. Die Senkung der Körperschaftsteuer von 53 Prozent in den siebziger Jahren auf jetzt 15 Prozent wirkt sich nicht direkt auf das kommunale Steueraufkommen aus. Aller-dings bedeutet es erfahrungsgemäß nichts Gutes für die Kommunen, wenn Bund und Länder erhebliche Steuerausfälle zu ver-kraften haben. Insbesondere die Länder konsolidieren ihre Haushalte gerne über Aufgabenverlagerungen an die Kommu-nen und Kürzungen der Zuweisungsmasse im kommunalen Finanzausgleich.

Die Unternehmensteuerreform 2008 hat einige weitgehende Änderungen in der Bemessungsgrundlage vorgenommen. So wurde die Steuermesszahl für Gewerbe-betriebe, die nicht von natürlichen Perso-nen oder Personengesellschaften betrieben werden, erheblich gesenkt (von fünf Pro-

zent auf 3,5 Prozent). Dafür gab es je-doch eine Reihe von Kompensationen, die schwierig zu bewerten sind. Die Steuer-abteilung der Stadt Hannover geht davon aus, dass allein die Unternehmensteuerre-form von 2008 einen Verlust von mindes-tens zehn Prozent des Gewerbesteuerauf-kommens bedeutete. Allerdings wird dies nie eindeutig zu belegen sein. Konjunk-turelle Schwankungen – in diesem Fall ein wahrer Gewerbesteuerboom in 2008 – überlagern die strukturellen Steuerver-luste. Zudem verfolgt jede/r der ca. 6.500 Gewerbesteuerzahler/innen individuelle Entscheidungen zur Unternehmensstrate-gie und zur Optimierung der Steuerzah-lungen. Als beispielsweise eine große han-noversche Firma eine milliardenschwere Übernahme durch Kredite finanzierte, fiel von einem Tag auf den anderen einer der wichtigsten Steuerzahler aus, obwohl der operative Gewinn des Unternehmens wei-terhin auf einem Rekordhoch lag.

Vorsichtig geschätzt könnten die Kom-munen heute ein um ein Viertel höheres Steueraufkommen haben, wenn es in den letzten 20 Jahren keine Unternehmensteu-erreformen gegeben hätte. Das würde für die Stadt Hannover ein Plus von derzeit 73 Mio. Euro bedeuten. Bei diesem Betrag ist die Gewerbesteuerumlage bereits ab-gezogen. Im Boomjahr 2008 wären sogar 104 Mio. Euro mehr in der Kasse gewe-sen.

Senkung der Einkommensteuer

Die Bundesfinanzminister der letzten Jahr-zehnte besaßen nicht nur den unbändigen Willen, die Unternehmensteuern zu sen-ken, sondern wollten jeweils auch „Jahr-hundertreformen“ bei der Einkommen-steuer durchführen. In der Tat wurde der Einkommensteuertarif in den letzten Jahr-zehnten stark gesenkt. Von jeder Tarif-senkung sind die Kommunen unmittelbar betroffen. Sie erhalten einen Anteil von 15 Prozent der Einkommensteuer. Wenn die Steuer gesenkt wird, erhalten die Kom-

VM 5/2010238

5 Bundesfinanzministerium, als download un-ter: http://www.bundesfinanzministerium.de/nn_4158/DE/Wirtschaft__und__Verwaltung/Steuern/Steuerschaetzung__einnahmen/Steuereinnahmen/001.html?__nnn=true, eigene Berechnungen.

6 Haushaltspläne der Landeshauptstadt Hannover von 1992 bis 2010.

Mio. Euro

100

150

200

250

300

350

400

450

500

550

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010

Abb. 3: Entwicklung des Gewerbesteueraufkommens der LHH, 1990-20106

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munen zwangsläufig weniger Geld. Es ist nicht ganz leicht, das Ausmaß der Steu-ersenkung zu quantifizieren. Neben dem Steuertarif spielt die Besteuerungsgrund-lage eine entscheidende Rolle. Gesetzgeber und Gerichte definieren ständig neu, was abzugsfähig ist und was nicht. Beispiels-weise hat es Tradition, dass sich die An-erkennung von Fahrtkosten von und zur Arbeit vor Gericht erstritten werden muss. So argumentierte bereits vor über 100 Jahren das Preußische Oberverwaltungs-gericht, „wenn der Erwerbende sich nicht zu seiner Arbeitsstelle begibt, so verdient er auch nichts“.7 Eine gesetzliche Regelung kam jedoch erst 1920, wobei nur die Kos-ten für die Nutzung öffentlicher Verkehrs-mittel als abzugsfähig anerkannt wurden. Die Anerkennung des Privatautos muss-te 1955 wiederum vor Gericht erstritten werden. Damals wurde ein Pauschalbetrag eingeführt, der nur bis 40 Entfernungski-lometer galt. Peer Steinbrück wollte die Pendlerpauschale schließlich ganz abschaf-fen, ließ sie jedoch dann im Rahmen eines Kompromisses auf Entfernungen über 20 Kilometer bestehen. Diese Regelung kas-sierte aber wiederum das Bundesverfas-sungsgericht, so dass heute wieder der alte Zustand gilt. Das schmälert zwangsläufig das Einkommensteueraufkommen.

Die Pendler- bzw. Entfernungspau-schale birgt noch ein anderes Problem. Sie erhöht den Anreiz, ins Umland zu zie-hen. Durch diesen Umzug wird nicht nur die Landschaft zersiedelt, sondern auch das Steueraufkommen der Kernstadt re-

duziert, da die Einkommensteuer der Wohnortkommune zufließt. Im letzten Jahr vermochte die Stadt Hannover das erste Mal seit Jahrzehnten den Trend der Suburbanisierung, also der Stadt-Umland-Wanderung insbesondere junger Familien, zu stoppen. Seit Mitte der neunziger Jahre weist die Stadt massiv Bauflächen für Ein-familien- und Reihenhäuser aus, vergibt einen Kinder-Bauland-Bonus und baut die Kinderbetreuung aus. Zudem ist die Eigenheimzulage gestrichen worden. Viele junge Familien wollen mittlerweile auch lieber in einer großen Altbauwohnung als in einem ästhetisch häufig nicht sehr ansprechenden Einfamilienhausgebiet im Umland wohnen. Gerade diese Familien verfügen in der Regel über ein überdurch-schnittlich hohes Einkommen. Davon und auch von den vielen einkommensstarken Bürgerinnen und Bürgern profitiert die Stadtkasse leider nur wenig, da zu ver-steuernde Einkommen ab einem Betrag in Höhe von 30.000 Euro bei Alleinstehen-den bzw. 60.000 Euro bei Verheirateten bei der Berechnung des städtischen Ein-kommensteueranteils nicht berücksichtigt werden. Diese Regelung hat zusammen mit der Stadt-Umland-Wanderung dazu geführt, dass die Großstädte in den letz-ten drei Jahrzehnten mehr als 25 Prozent ihrer Einkommensteuerbasis verloren ha-ben.9 Die interkommunale Umverteilung, die massiven Steuersenkungen sowie die seit 20 Jahren nur relativ bescheiden aus-fallenden Gehaltssteigerungen haben deut-liche Bremsspuren in der Entwicklung des Einkommensteueraufkommens der Stadt

Hannover hinterlassen. Bis Anfang der neunziger Jahre wuchsen die Einnahmen aus der Einkommensteuer insgesamt deut-lich. Danach ging es bergab.

Die Stadt Hannover verlor von 1993 bis 2005 nicht weniger als 35 Prozent ihres Einkommensteueraufkommens. In absoluten Zahlen sind das 62 Mio. Euro. Die Hälfte davon dürfte – vorsichtig ge-schätzt – das Resultat steuerpolitischer Entscheidungen sein. Demnach verliert der städtische Haushalt aufgrund der diversen Einkommensteuerreformen über 30 Mio. Euro im Jahr.

Unterbliebene Reform der Grundsteuer

Ein großes Ärgernis ist die unterbliebe-ne Reform der Grundsteuer. Da das Auf-kommen der Grundsteuer ausschließlich den Kommunen zufließt, hat der Bund in den letzten Jahrzehnten überhaupt keinen Ehrgeiz an den Tag gelegt, hier gesetzge-berisch tätig zu werden. Als Berechnungs-grundlage für die Grundsteuer dienen Ein-heitswerte, welche durch das Finanzamt festgestellt werden. Diese wurden seit 46 Jahren [!] nicht mehr angepasst, obwohl die Hauptfeststellung eigentlich alle sechs Jahre zu erfolgen hat. Die Verkehrswerte liegen daher weit über den Einheitswer-ten. Neue Werte würden zu Umverteilun-gen zwischen den Steuerzahler/innen füh-ren. Einige, deren Grundstückswert in den letzten Jahrzehnten erheblich gestiegen ist, müssten mehr bezahlen. Hingegen wür-den andere entlastet. Wo es Verlierer gibt, droht auf jeden Fall Ärger. Das dürfte ein weiterer Grund sein, warum der Bund bisher keine neue Einheitsbewertung ver-anlasst hat. Zudem entstünde ein ziemlich hoher Verwaltungsaufwand.

Mittlerweile gibt es viele Überlegun-gen und Modelle, wie die Grundsteuer auf eine neue Basis gestellt werden könnte. Diese wären im Vergleich zu einer neuen Einheitsbewertung wohl deutlich weniger aufwändig. Der Freistaat Bayern hat vor-geschlagen, nur die Fläche als Steuermaß-stab zu nehmen. Eine Arbeitsgruppe der

Hansmann, Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

7 Zitiert nach Tipke 2007, S. 1529.

8 Haushaltspläne der Landeshauptstadt Hannover von 1992 bis 2010.

9 Gemeindefinanzbericht 2005, S. 37f.

0

25

50

75

100

125

150

175

200

1970 1974 1978 1982 1986 1990 1994 1998 2002 2006 2010

Mio. Euro

Abb. 4: Entwicklung des Einkommensteueraufkommens der LHH, 1970-20108

VM 5/2010 239

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Finanzministerkonferenz unter Leitung Bremens hat kürzlich eine Machbarkeits-studie zu der Frage erstellen lassen, ob „in Deutschland die Erhebung der Grundsteu-er nach verkehrswertorientierten Grund-stückswerten kostengünstig und automa-tionsgerecht möglich ist“.10 Im Ergebnis gibt es eine eindeutig bejahende Antwort. Dabei wird vor allem auf das niederländi-sche Vorbild verwiesen.

Trotz der kommunalen Finanznot be-tonen alle Vorschläge, dass die Grund-steuerreform aufkommensneutral gestaltet werden sollte. Das ist jedoch keineswegs zwingend. Im internationalen Vergleich ist die deutsche Grundsteuer alles andere als hoch. In den USA macht sie beispiels-weise ca. 15 Prozent des gesamten Steuer-aufkommens aus, bei uns nur 1,5 Prozent. Die amerikanischen Kommunen finanzie-ren sich hauptsächlich aus dieser Quelle. In der Tat ist die Grundsteuer die perfekte Kommunalsteuer. Die Einwohner/innen

und gerade die Haus- und Grundbesitzer/innen haben ein vitales Eigeninteresse da-ran, dass ihre Kommune insbesondere die Infrastruktur unterhält und den sozialen Frieden sichert. Kann sich das die Kom-mune aufgrund struktureller Unterfinan-zierung nicht leisten, verliert der Grund-besitz in der Regel deutlich an Wert und es entstehen erhebliche Kosten für die Einwohner/innen. So müssen Hausbesit-zer/innen an vielen Orten der Dritten Welt viel Geld für hohe Zäune und privates Si-cherheitspersonal ausgeben.

Wie Abbildung 5 zeigt, ist die Grund-steuer eine absolut verlässliche Einnah-mequelle. Der Sprung im Aufkommen von 1991 auf 1992 war das Ergebnis der letzten Grundsteuererhöhung. Die übrigen Steigerungen resultieren insbesondere aus der regen Bautätigkeit in der Stadt Han-nover. Insgesamt finanziert die Grundsteu-er ca. 7,5 Prozent der städtischen Ausga-ben.

Eine Neubewertung des Grund und Bodens würde dem städtischen Haushalt – vorsichtig geschätzt und bei unveränder-ten Hebesätzen sowie ansonsten gleicher Rechtslage – ein um 75 Prozent höheres Grundsteueraufkommen bringen. Das wä-ren 92 Mio. Euro. Wenn davon die Hälfte für Hebesatzsenkungen verwendet wür-den, blieben 46 Mio. Euro als Mehrein-nahme für die Stadtkasse. Aufgrund der bei einer Neubewertung zwangsläufigen, derzeit aber noch nicht quantifizierbaren Umverteilungswirkung zwischen den Steu-erzahler/innen lässt sich die individuelle Mehrbelastung kaum abschätzen. Aller-dings kann angegeben werden, wie hoch die Belastung wäre, wenn die Stadt heute 46 Mio. Euro mehr an Grundsteuer ein-nehmen wollte. Die monatliche Belastung einer durchschnittlichen Wohnung mit einer Größe von 75 m2 stiege um sieben Euro (von knapp 20 Euro auf dann 27 Euro). Für ein 125m2-Haus müsste knapp 18 Euro mehr im Monat bezahlt werden. Die Grundsteuer würde von 49 auf 67 Euro steigen.

Gesamtwirkung der steuerpoliti-schen Entscheidungen

Die in den vorherigen Kapiteln behandel-ten steuerpolitischen Maßnahmen belas-ten den Haushalt der Landeshauptstadt Hannover in einer Größenordnung bis zu einer viertel Milliarde Euro pro Jahr.

Der in der Abbildung 6 genannte Be-trag ist insbesondere bei den ersten drei Maßnahmen von der Konjunkturentwick-lung bzw. von der Höhe der Gewerbesteu-er abhängig. Die Angaben beziehen sich auf das Boomjahr 2008 mit einem Gewer-besteueraufkommen von einer halben Mil-liarde Euro. Bezogen auf die Haushalts-planwerte des Jahres 2010 würden sich die Mindereinnahmen auf ca. 180 Mio. Euro reduzieren. Anders ausgedrückt: Mit 180 Mio. Euro zusätzlich in der Kasse gäbe es in 2010 kein Rekorddefizit, son-dern einen Haushaltsüberschuss in Höhe von 20 Mio. Euro.

Hansmann, Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

10 Die Senatorin für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen 2010, S. 3.

11 Haushaltspläne der Landeshauptstadt Hannover von 1992 bis 2010.

Steuerpolitische Maßnahmenstrukturelle ( jahresbezogene)

Mindereinnahmen

Solidarbeitrag bei der Gewerbesteuerumlage bis zu 41 Mio. €

Abschaffung der Gewerbekapitalsteuer bis zu 28 Mio. €

Unternehmensteuerreformen bis zu 104 Mio. €

Einkommensteuerreformen bis zu 31 Mio. €

Unterbliebene Grundsteuerreform bis zu 46 Mio. €

Insgesamt bis zu 250 Mio. €

Mio. Euro

25

50

75

100

125

150

1990 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010

Abb. 5: Entwicklung des Grundsteueraufkommens der LHH, 1990-201011

Abbildung 6: Strukturelle Mindereinnahmen der LHH aufgrund steuerpolitischer Maßnahmen

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Vorschläge für eine Reform des Gemeindefinanzsystems

Die nachfolgenden Vorschläge würden bei konsequenter Umsetzung zu einem deutli-chen Ausbau der kommunalen Einnahme-basis führen und damit die strukturellen Probleme der Gemeindefinanzen zumin-dest erheblich reduzieren oder – im Falle der Stadt Hannover – sogar ganz lösen.

Ausbau statt Abbau der Gewerbesteuer

Ein Hauptproblem der Gewerbesteuer ist ihre Konjunkturabhängigkeit. Gerade in der Rezession befinden sich die Kommu-nen in der gefährlichen Zangenbewegung einbrechender Steuereinnahmen und stei-gender Sozialausgaben. Allerdings besteht kein mathematisch exakt zu berechnender Zusammenhang zwischen Gewerbesteu-

er und Konjunktur. Im New-Economy-Boomjahr 2000 wuchs das Bruttoinlands-produkt beispielsweise um 3,2 Prozent. Das Gewerbesteueraufkommen der Stadt Hannover sank jedoch um zwölf Prozent. Noch drastischer war die divergierende Entwicklung im Folgejahr. Die Wirtschaft wuchs um 1,2 Prozent, während die Ge-werbesteuer in Hannover um 45 Prozent einbrach. Das war die Folge einer einma-lig hohen Rückzahlung an eine Bank. Ab-gesehen von Besonderheiten in der lokalen Wirtschaftsstruktur und großen Einmalef-fekten bei Steuerabgängen und -zugängen besteht aber ein Zusammenhang zwischen Konjunktur und Gewerbesteuerentwick-lung, häufig allerdings mit einem gewissen time-lag. So stieg das hannoversche Ge-werbesteueraufkommen in 2008 auf das Rekordhoch von 502 Mio. Euro, also zu einem Zeitpunkt, als sich die Konjunktur nach den beiden Boomjahren 2006 und

2007 bereits abkühlte. Im präzedenzlo-sen Konjunktureinbruch des Jahres 2009 brach die Gewerbesteuer dann überra-schend schnell ein. Die Unternehmen re-duzierten in der Wirtschafts- und Finanz-krise ihre Gewerbesteuerzahlungen, um Liquidität zu sichern. Niemand konnte das Ausmaß der Krise abschätzen. Ent-sprechend groß war die Unsicherheit. Die Schätzung des Gewerbesteueraufkommens war daher noch schwieriger, als es dies be-reits in normalen Jahren ist.

Gerade das Hauptproblem der Kon-junkturabhängigkeit lässt sich nicht lösen, wenn die Gewerbesteuer durch Zuschläge auf die Körperschaftsteuer ersetzt wür-de. In der Rezession schlägt die Körper-schaftsteuer durch ihre ausschließliche Bemessung am Gewinn noch stärker nach unten aus als die Gewerbesteuer.12 Aus fis-

kalischer Sicht ist der Ansatz der Gewer-besteuer mit seinen ertragsunabhängigen Elementen richtig. Nur so kann die Kon-junkturabhängigkeit gemindert und das deutsche Steuersubstrat gegen die im Rah-men der Globalisierung möglichen Gestal-tungsfähigkeiten geschützt werden. Daher sind z.B. Mieten und Pachten in der Ge-winnberechnung unbedingt zu belassen. Die ertragsunabhängigen Elemente sind im Gegenteil weiter auszubauen.

Im Einzelnen sollte die Gewerbesteuer mindestens um folgende Punkte ausgebaut werden:

deutliche Erweiterung des Kreises der Steuerpflichtigen, insbesondere um die Freiberufler/innen Erhöhung des Hinzurechnungsfaktors aller Zinsen und Finanzierungsanteile in Mieten, Pachten, Leasingraten und

Hansmann, Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

Lizenzen von 25 Prozent auf mindes-tens 50 Prozent vollständige Streichung der Freibeträge für natürliche Personen/Personengesell-schaften (derzeit 24.500 Euro)ersatzlose Streichung der Kürzung in Höhe von 1,2 v.H. des Einheitswertes der Betriebsgrundstückestärkere Beschränkung der Verlustüber- tragungenAnhebung der Steuermesszahl von 3,5 Prozent auf 3,75 Prozent

Diese Punkte ließen sich relativ leicht im Rahmen des bestehenden Steuerrechts um-setzen. Bei einem größeren Reformwillen könnte die Gewerbesteuer in eine kom-munale Wirtschaftssteuer umgewandelt werden. Hierzu hat u.a. die Bertelsmann-Stiftung einen interessanten Vorschlag ge-macht.13 Dieser zielt letztlich darauf, die drei klassischen Bemessungsgrundlagen der Gewerbesteuer – also Lohnsumme, Kapital und Ertrag – wieder einzuführen. Ferner sollen alle Wirtschaftssubjekte (Ka-pital- und Personengesellschaften, Freibe-rufler, Land- und Forstwirte) steuerpflich-tig und Schuldzinsen, Mieten, Pachten und Leasingraten bei der Ertragsberech-nung vollständig zu den Gewinnen hin-zugerechnet werden. Letzteres wird zwar von Unternehmensverbänden vehement abgelehnt, ist aber im Grunde konsequent. Warum sollte der Einsatz von Fremdka-pital gegenüber Eigenkapital weiterhin steuerlich bevorzugt werden? Immerhin wird damit ein krasser Fehlanreiz gesetzt. Anders ausgedrückt: „… [B]ei der Nicht-hinzurechnung der Fremdkapitalkosten sinkt der steuerliche Gewinn aufgrund der Zinszahlungen, obwohl das Unterneh-men über die gleiche Ertragskraft verfügt wie ein durch Eigenkapital finanziertes Unternehmen.“14 Bis zum Jahr 1982 wur-den übrigens die Entgelte für Schulden in voller Höhe hinzugerechnet. Mit der Senkung auf 60 Prozent im Jahr 1983 und dann auf 50 Prozent ein Jahr später wurde die Bemessungsgrundlage der Ge-werbesteuer weiter kräftig ausgehöhlt. Im-merhin 16 Prozent des Aufkommens der Gewerbeertragsteuer resultierten 1982 aus

12 Deutscher Städtetag 2010.

13 Witte/Tebbe 2006.

14 Werner 2008, S. 105.

VM 5/2010 241

»Gerade in der Rezession befinden sich die Kommunen in der gefährlichen Zangenbewegung einbrechender Steuereinnahmen und steigender Sozialausgaben.«

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der Hinzurechnungsvorschrift für Dauer-schuldzinsen.15

Die Erweiterung des Kreises der Steu-erpflichtigen würde die Gewerbesteuer auf eine breitere Grundlage stellen und damit die Abhängigkeit von den Groß-betrieben mindern. Insbesondere gut lau-fende Rechtsanwaltskanzleien und Arzt-praxen dürften im Gewinn eine Reihe von mittleren Unternehmen hinter sich lassen. Daher ist es kaum einzusehen, dass sie keine Gewerbesteuer zahlen. Zudem dürfte ihr Geschäft kaum konjunkturab-hängig sein, was ebenfalls stabilisierend für das Gewerbesteueraufkommen wäre. Wie sehr die Gewerbesteuer mittlerweile von einigen wenigen Unternehmen domi-niert wird, verdeutlichen folgende Zahlen: Nur 0,7 Prozent der insgesamt 6.500 han-noverschen Gewerbebetriebe leisten 71 Prozent des Gewerbesteueraufkommens. Umgekehrt zahlen tausende Gewerbesteu-erpflichtige nur Kleinstbeträge.

Es ist schwierig zu schätzen, wie hoch der strukturelle Mehrertrag infolge der vorgeschlagenen Maßnahmen zur Verbrei-terung der Besteuerungsgrundlage wäre. Näherungsweise dürfte er bei mindestens 20 Prozent liegen.

Abbau des Solidarbeitrags zur Gewerbesteuerumlage

Im Jahr 20 der Deutschen Einheit ist es sehr schwer zu vermitteln, warum sich westdeutsche Kommunen, deren Infra-struktur seit Jahren verfällt, noch am Auf-bau Ost beteiligen. Daher sollte der Soli-darbeitrag zur Gewerbesteuerumlage nach und nach abgebaut werden. Das Gewer-besteueraufkommen der Stadt Hannover würde mittels dieser Maßnahme netto um ungefähr acht Prozent steigen.

Verzicht auf weitere Einkommensteuersenkungen und Abschaffung der Sockelgrenze

Für weitere Einkommensteuersenkungen ist auf absehbare Zeit überhaupt kein fi-nanzpolitischer Spielraum mehr. Eigentlich müssten die Kommunen für die Steuersen-kungen der letzten Jahrzehnte mit einem höheren Einkommensteueranteil entschä-digt werden. Das dürfte aber angesichts der katastrophalen Lage des Bundeshaus-

Hansmann, Das mutwillig erzeugte Einnahmenproblem

Literatur

Bach, S./Fossen, F. (2008): Grundlegende Ge-wer besteuerreformen haben deutliche Um ver-tei lungswirkungen, in: Wochenbericht des DIW Berlin Nr. 39, S. 586-590.Deutscher Städtetag (2010): Die Gewerbesteuer – eine gute Gemendesteuer. Fakten und Ana lysen, Berlin und Köln (= Beiträge des Deutschen Städtetages zur Stadtpolitik, Bd. 94), als download unter http://www.sta-edtetag.de/10/presseecke/pressedienst /artikel/2010/07/26/00724/index.htmlDie Senatorin für Finanzen der Freien Hansestadt Bremen (2010): Grundsteuer auf der Basis von Verkehrswerten. Kurzfassung der Machbarkeitsstudie (= Kurzfassung des Berichts der Arbeitsgruppe „Grundsteuer auf der Basis von Verkehrswerten“), als down-load unter: http://www.finanzen.bremen.de/sixcms/media.php/13/Machbarkeitsstudie_Kurzfassung_22.pdfKarrenberg, H./Münstermann, E. (2005): Ge-mein de finanzbericht 2005, in: der städtetag 5/2005.Tipke, K. (2007): Das Nettoprinzip – Angriff und Abwehr, dargestellt am Beispiel des Werkstorprinzips, in: Betriebs-Berater 62, S. 1525-1533.Werner, J. (2008): Das deutsche Ge meinde-finanzsystem. Reformvorschläge im Kontext der unterschiedlichen Einnahmenautonomie der lokalen Gebietskörperschaften in Europa, Diss. Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 2008 (= Europäische Hoschulschriften, Reihe V, Bd. 3312).Witte, K./Tebbe, G. (2006): Von der Gewer-besteuer zur kommunalen Wirtschafts steuer. Ein Reformkonzept der Bertelsmann Stiftung Gütersloh, als download unter http://www.dstgb.de/homepage/artikel/schwerpunkte/gemeindefinanzen/steuern/bertelsmann_stif-tung_plaediert_fuer_kommunale_wirtschafts-steuer/bertelsmann_stiftung_modell_kommu-nale_wirtschaftssteuer.pdfZitzelsberger, H. (1990): Grundlagen der Ge-werbe steuer: ein steuergeschichtliche, rechts-vergleichende, steuersystematische und ver fassungsrechtliche Untersuchung, Habil. Re-gensburg 1989, Köln 1990.

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halts und der meisten Länderhaushalte gänzlich unrealistisch sein.

Nicht belastet würden Bund und Län-der durch die Abschaffung der Sockelgren-ze von 30.000/60.000 Euro bei der Vertei-lung des kommunalen Einkommensteu-eranteils. Die Einkommensteuer ist rein nach örtlichem Aufkommen zu verteilen. Umverteilungen zwischen den Kommu-nen sollten ausschließlich über den kom-munalen Finanzausgleich vorgenommen werden.

Umgehende Reform der Grundsteuer

Der Gesetzgeber steht in der Pflicht, die Grundsteuer zu reformieren. Dabei ist we-niger wichtig, welches Verfahren der Steu-erbemessung – neue Einheitsbewertung, Fläche als Maßstab oder Verkehrswerte – gewählt wird. Generell sollten im Rah-men einer Grundsteuerreform alle Befrei-ungsvorschriften, insbesondere für Bund und Länder sowie für Religionsgemein-schaften, abgeschafft werden. Hauptsache ist, dass die Grundsteuer so schnell wie möglich revitalisiert wird. Das gäbe den kommunalen Haushalten zugleich Spiel-raum für Steuersatzsenkungen als auch für Mehreinnahmen.

15 Zitzelsberger 1990, S. 65.

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Verwaltung und Management16. Jg. (2010), Heft 5, S. 243-254

243

Eva LünnemannDiplom-Verwaltungs-wirtin (FH), Diplom-Betriebswirtin (FH), Master of Business Administration MBA, Mitarbeiterin in der Stabsstelle des Bürgermeisters der Stadt Emsdetten

Bei der Szenariotechnik handelt es sich um eine Methode des strate-gischen Managements, die dazu dient, ein Unternehmen oder eine Organisation durch eine strukturierte Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der Zukunft für kommende Herausforderungen zu rüsten. Die Technik bildet als Methode der strategischen Analyse im Managementkreislauf die Grundlage für die strategische Planung.1 In öffentlichen Verwaltungen ist die Anwendung der Szenariotechnik, anders als in erwerbswirtschaftlichen Unternehmen, noch nicht weit verbreitet. Eine Ursache liegt darin, dass kaum anwendungsbezogene Literatur zum Thema verfügbar ist.2 Der folgende Beitrag beschreibt den Einsatz der Szenariotechnik im kommunalen Management am prakti-schen Beispiel der Stadt Emsdetten, einer kreisangehörigen Kommune in Nordrhein-Westfalen.3

Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der

KommunalverwaltungEva Lünnemann*

Ansatzpunkte der Szenariotechnik im kommunalen Management – die „Leerstelle“ im Neuen Steuerungsmodell

Zur Erfüllung ihres verfassungsmäßigen Auftrags der Gemeinwohloptimierung müssen Kommunen strategisch handeln. Sie haben durch verantwortungsvollen Umgang mit ihren Ressourcen auch für das Wohl zukünftiger Generationen Sorge zu tragen.4 Diese Aufgabe schlägt sich z.B. in der kommunalen Entwicklungsplanung bzw. Stadtentwicklungsplanung nieder, die durch langfristige Rahmenregelun-gen und Ziele für kommunales Handeln in den verschiedenen Aufgabengebieten der Gemeinde eine erfolgreiche, bedarfs-gerechte Weiterentwicklung derselben erzielen möchte. Trotz z.T. umfassender

ments an. Sie fördert das zukunftsoffene, vernetzte und strategische Denken6 und versucht, das Umfeld einer Organisation durch mehrere, systematisch erstellte alter-native Zukünfte zu analysieren und zu be-schreiben. Ein einzelnes Szenario ist ein in sich stimmiges Bild „einer komplexen, zu-künftigen Situation, deren Eintreten nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden kann. Es ist die Darstellung einer möglichen Entwicklung.“7 Den Szenarien wird dabei keine Eintrittswahrscheinlichkeit zugeord-net, sie sind nicht als Prognosen, sondern als mögliche, alternative Entwicklun-gen zu verstehen. Szenarien unterstützen damit Überlegungen in der Form „Was wäre wenn?“ (im Gegenzug zu „Was wird sein?“)8, um daraus „Rückschlüsse auf adäquate Handlungen abzuleiten.“9 Sie gehen dabei davon aus, dass Entwicklun-gen in Richtung Zukunft in bestimmten Punkten beeinflussbar sind.10

Szenarien können für jedes abgrenzbare Thema erstellt werden11 und verknüpfen dabei „isolierte Vorstellungen über positi-ve und negative Veränderungen einzelner Entwicklungsfaktoren in der Zukunft zu umfassenden Bildern und Modellen, d.h. möglichen [...] ‚Zukünften’ [...]. Szenari-en verknüpfen empirisch-analytische mit kreativ-intuitiven Elementen.“12 Dabei un-terscheidet man zwischen Globalszenari-en und Unternehmensszenarien. Während Global-Szenarien zu allgemein interessan-ten bzw. gesellschaftlich oder wirtschaft-

Reformen tun sich jedoch kommunale Verwaltungen in der Praxis mit der strate-gischen Planung und Zielbildung oftmals schwer. Das strategische Management ist in Kommunen oft gar nicht oder nur schwach ausgebildet: Zwischen den gene-rellen Zielen eines Leitbilds und operati-onalisierten Zielen bzw. Kennzahlen eines Produkthaushalts klafft in der Praxis eine „strategische Leerstelle“.5 Für ein funktio-nierendes Steuerungssystem sind der Wil-le zur Umsetzung, insbesondere bei der Verwaltungsführung, die Akzeptanz der Politik und Kenntnisse der Methoden und Techniken des strategischen Managements erforderlich.

Szenarien

Die Szenariotechnik setzt in der strategi-schen Leerstelle des kommunalen Manage-

* Der Beitrag basiert auf der Masterthesis der Autorin im Studiengang Betriebswirtschaft für New Public Management der Fachhochschule Dortmund.

1 Vgl. z.B. Meyer-Schönherr 1992, S. 82, Simon/von der Gathen 2002, S. 10.

2 Vgl. Blasche 2006, S. 91.

3 36.000 Einwohner, ca. 330 Mitarbeiter/innen.

4 § 1 (1) GO NRW.

5 Vgl. Heinz 2000, S. 12; Gornas 2008, S. 13.

6 Vgl. Schierenbeck/Wöhle 2008, S. 198.

7 Malik Management 2009.

8 Tessun 1998, S. 113.

9 Blasche 2006, S. 68.

10 Vgl. ILS 1985, S. 5.

11 Vgl. Geschka/Schwarz-Geschka 2009, S. 3.

12 Weinbrenner 2009.

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lich für mehrere Branchen relevanten, übergeordneten Themen (z.B. Mitarbeiter-führung in der Zukunft) erstellt werden, beschäftigen sich unternehmensspezifische oder organisationsspezifische Szenarien mit einem Unternehmen bzw. der Organi-sation als Ganzes, mit organisatorischen Einheiten, Produktgruppen oder einzel-nen Produkten bzw. Technologien13. Sze-narien können mit kurzfristigem (5-10 Jahre), mittelfristigem (11-20 Jahre) und langfristigem Betrachtungshorizont (über 20 Jahre) erstellt werden14. Nach der in-haltlichen Ausrichtung unterscheidet man explorative und normative Szenarien. In explorativen Szenarien werden mit vor-wärts gerichtetem Blick mehrere verschie-dene Entwicklungsmöglichkeiten einzel-ner, in der Gegenwart bereits sichtbarer Einflussfaktoren dargestellt und zu Zu-kunftsbildern verdichtet.15 In normativen Szenarien (auch als antizipative Szenarien bzw. Wunsch- oder Chancenszenarien be-zeichnet) werden sehr positive, aber noch mögliche Zukunftssituationen abgebildet, die als Ziel verfolgt werden sollen.16 In der Fachliteratur werden meist explora-tive Szenarien behandelt. Die Denkweise der Szenariotechnik wird oft in einem sog. Szenariotrichter veranschaulicht. Dieser symbolisiert die Komplexität und Unsi-cherheit der Zukunft (vgl. Abb. 1).

Wenn versucht wird, aus der Gegen-wart heraus in die fernere Zukunft zu blicken, dann nimmt der Einfluss heutiger

Strukturen rasch ab. Die Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung wird umso grö-ßer, je weiter man in die Zukunft blickt. Es gibt ein breites Spektrum an Möglichkei-ten und Kombinationen der Entwicklung einzelner Einflussfaktoren. Ein gedachter Schnittpunkt durch die Trichteröffnung umfasst als sog. „window of opportunity“ alle zu diesem Zeitpunkt möglichen Zu-künfte. Diese Zukünfte sind Szenarien.17

Szenarioerstellung

Der Prozess der Szenarioerstellung lässt sich in verschiedene Phasen gliedern, die in der Literatur nicht einheitlich darge-stellt werden. Es lassen sich aber einige „Kern-Phasen“ der Szenarioerstellung identifizieren, aus denen heraus ein An-wendungsmodell für eine Kommune ent-wickelt werden kann, welches am Beispiel der Stadt Emsdetten dargestellt werden soll.

Der Szenario-Prozess wird in die-sem Modell in Form eines Workshops18 durchgeführt, der von einem externen Moderator begleitet wird. Die Szenario-Arbeitsgruppe umfasst nicht mehr als 15 Personen aus dem Kreise der Fachdienst-leitungen (Ebene des Top-Managements) und ggf. von den Fachdienstleitungen hinzugezogene Sachbearbeiter/innen. Die Zentrale Steuerung inkl. des Bereichs Fi-nanzen sind dabei stets vertreten. Der Verwaltungsführung kommt die Rolle

des Auftraggebers für das Szenarioteam zu. Sie wird in den Punkten der Szenario-Erstellung intensiv eingebunden, die im Schnittpunkt Politik-Verwaltung beson-dere Bedeutung haben, nämlich der Fest-legung des Themas als Grundlage der wei-teren Szenario-Arbeit der Arbeitsgruppe sowie in der Schlussphase der Szenario-Erstellung mit der anschließenden Analy-se und Strategiebildung. Grundsätzlich ist die Szenarioerstellung jedoch eine fachli-che, politisch neutrale Aufgabe und erfolgt ausschließlich im Kreis der o.g. Fachex-perten der Arbeitsgruppe, da die Akzep-tanz der erstellten Szenarien sich auch in der Politik erhöhen sollte, wenn die Ver-treter der verschiedenen Parteien von ei-ner politisch neutralen, nachvollziehbaren und mit Fachwissen gespeisten Erstellung der Szenarien ausgehen können. Die Ko-ordination des Szenario-Prozesses (Zeit-management, Protokollführung etc.) sollte bei der zentralen Steuerungsunterstützung liegen. Dort sollten auch personelle und finanzielle Mittel für die Szenarioarbeit bereitgestellt werden.

Vorbereitung

Die Vorbereitungsphase als Einstieg in die Szenarioarbeit beinhaltet die Klärung inhaltlicher sowie organisatorischer19 Fra-gestellungen. Die Definition und Abgren-zung des Betrachtungsgegenstandes spie-len dabei eine Schlüsselrolle. Es gilt fest-zulegen, welche Aufgabenstellung mit der Szenariotechnik gelöst werden soll. Die richtige Fokussierung ist erfolgskritisch. Ein zu weiter Fokus birgt die Gefahr, zu allgemeine und für die Problemlösung zu undefinierte Szenarien zu entwickeln. Eine zu enge Eingrenzung des Themas kann dazu führen, wichtige Einflüsse außer Acht zu lassen; die erarbeiteten Handlungsemp-

VM 5/2010244

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

13 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 15.

14 Vgl. Albers/Broux 1999, S. 59.

15 Vgl. Fink/Schlake 1995, S. 26 und Spiegel 1989, S. 11.

16 Vgl. Schulz-Montag/Müller-Stoffels 2006, S. 382.

17 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 29 f.

18 Im Rahmen der Masterarbeit wurden Muster-Protokolle zur Dokumentation der Szenarioarbeit sowie Zeitschätzungen für den Arbeitsaufwand des Teams erarbeitet.

19 Bspw. Teamzusammenstellung, zur Verfügung stehende Zeit etc.

20 Vgl. Blasche 2006, S. 71 und Meyer-Schönherr 1992, S. 36 f.

Abb. 1: Denkmodell zur Darstellung von Szenarien (Quelle: Nach von Reibnitz 1987, S. 30)

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fehlungen werden in diesem Fall dem tat-sächlichen Problem nicht gerecht.20

Einige Gemeinden verfügen bereits über politisch beschlossene Arbeitsschwer-punkte z.B. aus einem Leitbild als Aus-gangspunkt für die strategische Steuerung. Es erscheint sinnvoll, sich bei der Szenari-oarbeit an derartigen Schwerpunkten21 zu orientieren. Eine gleichzeitige Betrachtung aller – sehr unterschiedlichen – Arbeitsfel-der einer Stadtverwaltung in einem ein-zigen Szenario wäre zu komplex, um mit den Mitteln der (strategie-unerfahrenen) Verwaltung noch bewältigt werden zu können. Der Bürgermeister als Auftragge-ber der Szenarioarbeit nimmt bei inhalt-lich sehr breiten politischen Schwerpunk-ten nötigenfalls noch eine Eingrenzung

auf ein aus seiner Sicht aktuell relevantes Thema vor. Für das gemeinsame Problem-verständnis ist es hilfreich, wenn das Team sich auch auf eine ausformulierte Frage-stellung einigt, die mittels der zu erstellen-den Szenarien beleuchtet werden soll.22

Als Fallbeispiel für Emsdetten wurde das Themenfeld „Kindertagesbetreuung“ ausgewählt. Die Stadt Emsdetten hat als mittlere kreisangehörige Kommune ein eigenes Jugendamt eingerichtet, welches u.a. für die Kinderbetreuung in Kinder-tagesstätten und in Tagespflege verant-wortlich ist. In diesem Zusammenhang werden Fachplanungen zur Bereitstellung von Betreuungsplätzen angestellt. Für das Fallbeispiel Emsdetten wurde für die The-meneingrenzung die Frage gewählt: Wel-che Angebote braucht die Kindertagesbe-treuung im Bereich der Stadt Emsdetten im Jahr 2025? Die Fragestellung grenzt das Themenfeld auf einen gedanklich zu bearbeitenden Umfang ein (Kinderta-

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

gesbetreuung auf dem Gebiet der Stadt Emsdetten), ist dabei jedoch offen für alle potenziell eintretenden Entwicklungen der nächsten 15 Jahre (d.h. sie ist ungebunden in Bezug auf Angebotsformen, Trägerfra-gen, Zuständigkeiten etc.). Im Rahmen einer Szenario-Analyse wurde das Umfeld beleuchtet, unter dessen Rahmenbedin-gungen zukünftig Betreuungsangebote bereitgestellt werden müssen. Die zu er-stellenden Szenarien sollen dazu dienen, Erkenntnisse zu gewinnen, wie das Ange-bot in Zukunft vor dem Hintergrund der Bürgeranforderungen entwickelt werden sollte (Zielperspektive), bzw. entwickelt werden kann (Ressourcenperspektive).

Ein Schwerpunkt der Vorbereitungs-phase ist die Analyse und Problemermitt-

lung der gegenwärtigen Situation der zu betrachtenden Organisationseinheit (z.B. quantitative und qualitative Daten zur Ist-Situation, Stärken, Schwächen und aktuelle Probleme). Alle an der Szenari-oerstellung Beteiligten, insbesondere die Fachdienstleiter und die Verwaltungsfüh-rung, sollten die aus ihrer Sicht relevan-ten Probleme23 und Einschätzungen bzw. Informationen zur Ist-Situation im The-menfeld ansprechen. Hierbei wird ein ge-meinsames Verständnis der Ist-Situation hergestellt, die im täglichen Geschäft ggf. nur wenigen Beteiligten intensiv vertraut ist. Idealerweise haben die Mitglieder des Teams zur Unterstützung ihrer Argumen-tation quantitative und qualitative Daten zum jeweiligen Verantwortungsbereich vorbereitet. In der Diskussion sollten auch Überlegungen angestellt werden, ob die vorhandenen Daten die Situation aus-führlich genug beschreiben oder ob und ggf. wie noch ergänzende Informationen beschafft werden können (dies könnte in

Bereichen der Fall sein, in denen die Ver-waltung die Aufgabenerledigung üblicher-weise delegiert, z.B. an Träger der freien Wohlfahrtspflege, oder nicht selbst tätig ist z.B. bei ehrenamtlich durchgeführten gesellschaftlichen Aufgaben). Die Mode-ration achtet auf eine ausgewogene und ganzheitliche Diskussion aller Beteiligten.

Im Fallbeispiel „Kindertagesbetreuung in Emsdetten“ umfassen die Basisdaten zur Ist-Analyse, im Wesentlichen

Angaben zur aktuellen Angebotssitua- tion in Bezug auf Betreuungsplätze in Einrichtungen und in der Tagespflege in Emsdetten,demografische Daten (Kinderzahlen etc.) undDaten zu aktuellen Elternwünschen, zur Gesetzeslage und zur Finanzierung.

Die auf diesen Angaben beruhende Prob-lemanalyse behandelt im Wesentlichen

die starke bundes- und landesgesetzli- che Reglementierung mit regelmäßigen Änderungen,die angespannte kommunale Finanzsi- tuation,die sich schon jetzt zeigenden demogra- fischen Veränderungen unddie strategische Relevanz des Themas Kinderbetreuung im interkommunalen Wettbewerb.

Darüber hinaus ist die Festlegung des Be-trachtungshorizonts als vorbereitender Schritt wichtig, d.h. die Festlegung der Zeitspanne in Richtung Zukunft, die von der Analyse abgedeckt werden soll. Der Betrachtungshorizont kann ggf. je nach Thema variieren. Er sollte für den kom-munalen Kontext in jedem Fall die Zeit-spanne einer Legislaturperiode übertref-fen, aber auch nicht so weit gesteckt sein, dass er verstandesmäßig völlig ungreifbar wird, insbesondere für ungeübte Szenario-teams. 15 Jahre erscheinen im Regelfall angemessen24 und wurden auch für das Fallbeispiel gewählt.

VM 5/2010 245

21 Bzw. an Aufgaben- oder Politikfeldern.

22 Vgl. Tessun 1998, S. 114.

23 Vgl. Graf 1999, S. 197.

24 Vgl. auch Anwendungen im öffentlichen Sektor z.B. nach ILS 1985. Der übliche Planungszeitraum in der Planung der Kindertagesbetreuung in Emsdetten beträgt ein bis vier Jahre.

»Alle an der Szenarioerstellung Beteiligten, insbesondere die Fachdienstleiter und die Verwaltungsführung, sollten die aus ihrer Sicht relevanten Probleme und Einschätzungen bzw. Informationen zur Ist-Situation im Themenfeld ansprechen.«

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Einflussanalyse

Die Einflussanalyse bildet die Grundla-ge der späteren Szenarien und besteht aus den beiden Schritten „Ermittlung von Einflussfaktoren“ und „Vernetzung von Einflussfaktoren“, die unterschied-lich differenziert dargestellt bzw. teils zu-sammengefasst werden. Zunächst geht es hier darum, „die relevanten Faktoren zu bestimmen, die einen Betrachtungsge-genstand beeinflussen oder davon beein-flusst werden.“25 Diese Faktoren sind die sog. Schlüsselfaktoren.26 Ausgehend von Einflussbereichen werden einzelne Ein-flussfaktoren ermittelt, die eine direkte Wirkung auf das Betrachtungsfeld ha-ben.27 Dabei werden ggf. sowohl globale als auch nationale Einflüsse betrachtet, um anschließend den Fokus auf branchen- und unternehmensspezifische bzw. organi-sationsspezifische Entwicklungen zu legen. Ggf. können Einflussfaktoren bereits aus

der vorangegangenen Situationsanalyse (Vorbereitungsphase) entnommen werden, auch Kreativitätstechniken und Grup-penarbeitstechniken wie beispielsweise Brainstorming oder Brainwriting und Me-taplantechniken kommen in dieser Phase zum Einsatz. In der Praxis übernimmt der Moderator/die Moderatorin in der Dis-kussion über die Einflussfaktoren eine lei-tende und koordinierende Funktion und fordert die Teammitglieder insbesondere dazu auf, auch Überlegungen anzustellen, die ihrem eigenen Arbeitsbereich nicht nahe stehen.

Die Einflussanalyse wurde im Fallbei-spiel Kindertagesbetreuung mit Hilfe einer Mindmap durchgeführt. Als wichtige Ein-flussbereiche für das Thema Kindertages-betreuung konnten die Themenfelder So-ziodemografie, Wirtschaft/Arbeitsmarkt, Politik/Werte und Ressourcen/Strukturen identifiziert werden. Mit dem in der Pro-

blemanalyse bereits aufgedeckten Mega-trend demografischer Wandel verknüpft sind dabei weitere Einflüsse aus verschie-denen Gesellschaftsbereichen, insb. Bil-dung, Arbeitsmarkt/Wirtschaft und Integ-ration.28 Innerhalb dieser Einflussbereiche wurden folgend Einflussfaktoren ermit-telt, die das Gestaltungsfeld bestimmen. Dabei wurde der Fokus zunächst eng auf Faktoren gelegt, die unmittelbar im Ar-beitsfeld Kindertagesbetreuung der Stadt Emsdetten angesiedelt sind, die also die Produkterstellung „Kindertagesbetreu-ung“ der Stadt Emsdetten bestimmen. Er wird dann erweitert auf Faktoren, die für die Stadt Emsdetten insgesamt mit ihrem Umland auftreten. Anschließend wird der Blickwinkel auf allgemeine Entwicklun-gen im nationalen Kontext und schließlich auf relevante europäische oder globale Faktoren mit Bezug zum Thema erweitert. Allgemeine „Megatrends der Zukunft“, die in der Fachliteratur dargestellt sind,29 reicherten das Brainstorming zu den Ein-flussfaktoren an.

Aus einer auf diese Weise entstehenden Urliste mit vielen Einflussfaktoren werden dann die wichtigsten Hauptfaktoren als Schlüsselfaktoren identifiziert30. Dies ge-schieht entweder im Wege eines intuitiven Rankings durch die Szenarioteammitglie-der nach einer ausführlichen Diskussion31 oder durch methodengestützte Ermittlung eines relativen Rankings32. Für eine kleine-re bis mittelgroße Verwaltung empfiehlt es sich, intuitiv in der Diskussion der Team-mitglieder die wichtigsten max. ca. 12-15 Schlüsselfaktoren auszusondern33.

Als Ergebnis der Einflussfaktorener-mittlung sind alle Faktoren, die in das Szenario eingehen sollen, ermittelt. Die Beteiligten haben dadurch eine Über-sicht gewonnen, in welchem Umfeld das zu lösende Problem zu betrachten ist. Im

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

Tab. 1: Schlüsselfaktoren „Kindertagesbetreuung im Fallbeispiel“ (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 2: Qualitative Vernetzungsanalyse „Kindertagesbetreuung“ (Quelle: Eigene Darstellung)

VM 5/2010246

Einfl ussbereich Schlüsselfaktor

Soziodemografi e

Geburtenrate in der BevölkerungFrauen im gebärfähigen Alter in EmsdettenGeburtenzahl in EmsdettenKinder, die noch nicht der Schulpfl icht unterliegen

Wirtschaft/Arbeitsmarkt

Entwicklung verfügbares Einkommen für FamilienEntwicklung von Arbeitsmodellen/Arbeitszeiten/FlexibilitätTatsächliche Beschäftigung/Berufstätigkeit (Männer, Frauen)

Ressourcen/Strukturen

Finanzsituation der Stadt EmsdettenVorhandensein alternativer Betreuungsformen in EmsdettenFreie Träger der Kinderbetreuung in EmsdettenPersonalsituation in Emsdettener KindertageseinrichtungenVorhandene Räumlichkeiten für Kindertagesbetreuung

Politik/WerteGesetzliche Vorschriften zur KinderbetreuungElternwünsche zur Kinderbetreuung

25 Blasche 2006, S. 70.

26 Vgl. Klein/Graf/Schöllhorn 2006, S. 359.

27 Vgl. Albers/Broux 1999, S. 61 und von Reibnitz 1987, S. 229.

28 Vgl. Große Starmann 2009.

29 Vgl. Berner 2004, S. 12 ff.

30 Vgl. Tessun 1998, S. 115.

31 Vgl. Schulz-Montag/Müller-Stoffels 2006, S. 385.

32 Wird hier nicht näher thematisiert. Ver fah rens-beschreibung bei von Reibnitz 1987, S. 231.

33 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 47.

Entwicklung von Arbeitsmodellen, Arbeitszeiten und

-flexibilität/Telearbeit

Kinder < Schulkind

Unmittelb. gesetzliche Vor-schriften zur Kin-

derbetreuungFreie Träger der Kinderbetreuung in

Emsdetten

Personalsituation

Vorhandene Räumlichkeiten

Geburten in Emsdetten

Geburten pro Frau

Frauen im gebärfähigen Alter

in Emsdetten

Tatsächl. Beschäftigungs-

quote Frauen/ Männer

Entwicklung verfügbares Einkommen

Kommunale Finanzsituation

Vorhandensein alternativer

Betreuungsformen

Beeinflussbarkeit indirekt / schwach /

unklar

Beeinflussbarkeit durch Stadt Emsdetten

Gewünschte Betreuung

1

2

3

45

67

8

9 10

11

12

1415

16

17

13

19

A

B

C

D

E

F

G

H

20

21

22

23

18

24

25

26

27

28

29

30

31

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Fallbeispiel verblieben 14 Schlüsselfakto-ren (vgl. Tab. 1). Diese werden in einem zweiten Teilschritt der Einflussanalyse auf Wechselwirkungen untersucht. Es wird er-mittelt, welcher Schlüsselfaktor34 auf wel-che der übrigen Faktoren Einfluss nimmt bzw. selbst durch die Entwicklung anderer Faktoren beeinflusst wird.35 Es kann da-bei hilfreich sein, zunächst in einer groben Skizze die Richtung der wichtigsten bzw. augenfälligsten Wirkungs-Beziehungen qualitativ mit Pfeilen grafisch darzustellen. Die Abbildung 2 zeigt eine derartige Dar-stellung für das Fallbeispiel. Die gegensei-tige Einflussnahme der Schlüsselfaktoren (ovale Elemente) wird hier durch Pfeildar-stellungen symbolisiert. Es sind bereits die von der Stadt Emsdetten beeinflussbaren oder in Teilbereichen bzw. mittelbar be-einflussbaren Faktoren grafisch gekenn-zeichnet. Für die weitere Arbeit wurden außerdem die Arten der angenommenen Wechselwirkung in ergänzenden Erläu-terungen festgehalten. Deutlich wird bei dieser ersten Analyse die starke Bedeutung der Gesetzeslage. Außerdem lassen sich auf den ersten Blick Wechselwirkungen zwischen Einflussfaktoren aus den Berei-chen Arbeitsmarkt und Soziodemografie erkennen. Es ist festzustellen, dass Ein-flussmöglichkeiten der Stadt Emsdetten nur bei einigen Faktoren gegeben und dort auch zumeist in ihrer Wirkung sehr begrenzt sind.

Matrix-Darstellungen finden gelegent-lich Anwendung im Rahmen kommunaler Analysen und Planungen. Die detailliertere

Darstellung der Vernetzung der Einfluss-faktoren in Form einer Vernetzungsmat-rix erscheint daher auch für kleinere Ver-waltungen problemlos durchführbar (vgl. Abb. 3). In dieser Matrix-Analyse wird die zuvor qualitativ dargestellte Stärke der bestehenden wechselseitigen Beeinflus-sung der Faktoren nun durch Punktwerte auch quantifiziert. Sie wird subjektiv vom Szenarioteam eingeschätzt.36 „0“ steht für „kein Einfluss“, der Wert „1“ für einen schwachen Einfluss eines Faktors auf ei-nen anderen Faktor. Ein starker Einfluss wird je nach Zuschnitt der Skala durch eine „2“37 oder eine „3“38 dargestellt, wo-bei im letzteren Fall noch die Auswahl „2“ für „mittelstarker Einfluss“ ergänzt wird.39 Abbildung 3 veranschaulicht am Fallbeispiel, wie eine solche Vernet-zungsmatrix gestaltet werden kann. Jeder Schlüsselfaktor wird sowohl als Spalten-überschrift als auch als Zeilenüberschrift in die Matrix eingetragen. Im grau hinter-legten Bereich der Tabelle werden mit den festgelegten Punkte-Werten (s.o., z.B. 0; 1; 2) die geschätzten Einflüsse jedes Einfluss-faktors auf jeden der übrigen Faktoren quantifiziert, von links nach rechts und oben nach unten (Wie beeinflusst Einfluss-faktor 1 Einflussfaktor 2? usw.). Für eine bessere Nachvollziehbarkeit werden die angenommenen Wechselwirkungen in der Praxis auch kommentiert. Durch Ermitt-lung von Summen in Zeilen und Spalten lassen sich Erkenntnisse über das Zusam-menwirken der identifizierten Einflüsse und die „Stärke“ einzelner Faktoren im System erzielen.40 Dazu werden zunächst

durch Addition aller Wer-te in jeder einzelnen Spalte (z.B. senkrecht in Spalte I) und jeder einzelnen Zeile (z.B. waagerecht in Zei-le A) sog. Passivsummen (Spaltensummen) und Ak-tivsummen (Zeilensum-men) gebildet.

Aus den ermittelten Werten ergeben sich fol-gende Kategorisierungen zu den Einflussfaktoren:

Eine hohe Aktivsumme und eine kleine Passivsum-me zu einem Faktor be-

deuten: Dieser Faktor nimmt viel Einfluss auf das Gesamt-system, wird selbst jedoch

wenig vom System beeinflusst – ein sog. aktiver oder impulsiver FaktorEine hohe Aktivsumme bei gleichzeitig hoher Passivsumme heißt: Dieser Fak-tor nimmt viel Einfluss, wird selbst je-doch ebenfalls stark beeinflusst – ein sog. kritischer oder dynamischer/ambi-valenter Faktor.Eine kleine Aktivsumme bei kleiner Passivsumme lässt darauf schließen, dass der Faktor wenig Einfluss auf an-dere nimmt, aber auch selbst wenigen Einflüssen unterliegt – ein sog. puffern-der oder träger/niedrig ambivalenter Faktor.Eine kleine Aktivsumme bei hoher Pas- sivsumme schließlich bedeutet: dieser Faktor beeinflusst andere kaum, ist je-doch stark dem Einfluss anderen Fak-toren ausgesetzt – ein sog. reaktiver oder passiver Faktor.

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

34 Tlw. auch auf Ebene von Einflussbereichen durch-geführt, vgl. z.B. Albers/Broux 1999, S. 6.

35 Einige Autoren empfehlen auch, die Ver net-zungsanalyse mit der „Urliste“ der Einfluss fak-toren durchzuführen und erst nach diesen Er-gebnissen die Schlüsselfaktoren auszuwählen, die in die Szenarien eingehen sollen, vgl. Fink/Schlake 1995, S. 22 und Schulz-Montag/Müller-Stoffels 2006, S. 385.

36 Klein/Graf/Schöllhorn 2006, S. 359.

37 Vgl. Albers/Broux 1999, S. 62 auch von Reibnitz 1987, S. 38.

38 Vgl. Wilms 2006, S. 51.

39 Vgl. Blasche 2006, S. 73f., für die praktische An-wen dung wird hier empfohlen, eine Skala von 0, 1 und 2, um die Tendenz einer Mittel wert be vor zu-gung zu vermeiden.

40 Vgl. Blasche 2006, S. 73 f.

Abb. 3: Einflussanalyse – Auszug für das Fallbeispiel Emsdetten (Quelle: Erweitert nach Blasche 2006, S. 74)Legende: Auszug aus der Darstellung für das Emsdettener Fallbeispiel: Direkter, starker Einfluss = „2“. Indirekter, schwacher oder zeitversetzter Einfluss = „1“. Kein Einfluss = „0“.

VM 5/2010 247

I II IIISystem-Ele-menteWirkung aufvon

Geburtenrate Frauen im ge-bärfähigen Alter

Anzahl Geburten

Aktivsumme

A Geburtenrate 1 2 Aktivsumme (Ein-fl ussfaktor 1) = Σ A

B Frauen im gebär-fähigen Alter 0 2 Aktivsumme (Ein-

fl ussfaktor 2) = Σ B

C Anzahl Geburten 0 1 Aktivsumme (Ein-fl ussfaktor n) = Σ C

PassivsummePassivsumme (E.-faktor 1) = Σ I

Passivsumme (E.-faktor 2) = Σ II

Passivsumme (E.-faktor n) = Σ III

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Für eine bessere Übersichtlichkeit und Abgrenzung werden die Schlüsselfaktoren auf Basis der Matrix schließlich noch mit ihrer jeweiligen Kategorisierung in einem sog. System-Grid visualisiert (vgl. Abb. 4). Die Konstruktion des Grid gelingt wie folgt:

Die Begrenzung der Aktiv- und Passiv- achsen errechnet sich aus (Anzahl der Einflussfaktoren - 1) x höchster Beein-flussungswert der Skala (z.B. „2“ oder „3“, s.o.).Die Addition der Aktivsumme bzw. Passivsumme aller Einflussfaktoren ge-teilt durch die Anzahl der Einflussfak-toren ergibt den Schnittpunkt mit der Aktiv- bzw. Passivachse.Von den Schnittpunkten werden Gera- den gezogen, so dass vier Felder entste-hen.Die Aktivsumme jedes Einflussfaktors wird auf der y-Achse und die Passiv-summe auf der x-Achse in das Grid eingetragen, hierdurch wird durch Zu-ordnung der Einflussfaktoren zu den vier Feldern die Kategorisierung der Faktoren als aktiv, passiv, dynamisch oder puffernd deutlich.41

Eine Besonderheit der Szenario-Erstellung für den kommunalen Bereich liegt dar-in, dass Kommunen aufgefordert sind, für ihren Einflussbereich viele der in der Einflussanalyse zu ermittelnden Umwelt-faktoren zum Wohl ihrer Einwohner auch

selbst zu gestalten, obwohl die Möglich-keiten der Gestaltung auf lokaler Ebene begrenzt sind. Dieses Problem sollte sich die Szenariogruppe bei der Vernetzungs-analyse im Hinblick auf eine spätere stra-tegische Planung und Zielbildung bewusst machen und steuerbare Größen auch im System-Grid kennzeichnen.

Mit diesem Verständnis über Wirkungs-zusammenhänge und Einflussmöglichkei-ten ist dann hier bereits ein Grundstein für die spätere Strategie- und Maßnahmen-entwicklung gelegt.42 Ist ein aktiver Fak-tor, d.h. ein Faktor, der selbst stärkeren Einfluss auf eine Problemsituation nimmt, als dass er beeinflusst wird, durch die Or-ganisation lenkbar, wird dieser als Hebel bezeichnet. In diesem Hebel liegt eine gute Gestaltungswirkung. Ressourcen können hier am effektivsten eingesetzt werden, um das System in gewünschter Richtung zu beeinflussen.43 Passive oder puffernde Faktoren sollten sorgfältig analysiert wer-den. Sie leisten ihren Dienst als Indikato-ren bei der Beobachtung der Situation.44

Im System-Grid für das Praxisbeispiel (Abb. 4) wird die Bedeutung des Schlüs-selfaktors „Frauen im gebärfähigem Alter in Emsdetten“ deutlich und die bereits ermittelte herausragende Bedeutung des Faktors „gesetzliche Vorschriften zur Kin-dertagesbetreuung“ auf das System wird bestätigt (aktive Elemente). Die Dynamik

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

von arbeitsmarktbezogenen Faktoren (verfügbares Einkommen, tatsächliche Beschäftigung) wird sichtbar (dynami-sche Elemente) sowie die Tatsache, dass die meisten von der Stadt gestaltbaren Elemente (durch Unterstreichung gekenn-zeichnet, z.B. Finanzsituation, Personal, Räumlichkeiten) der Reaktion (passive Elemente) und nicht der aktiven Gestal-tung des Handlungsfeldes zuzuordnen sind.

Prognose

In der Prognose-Phase werden mögliche zukünftige Entwicklungen der festgeleg-ten Einflussfaktoren erdacht. Aus diesen Zukunfts-Projektionen werden später die Szenarien gebildet. Die Grundlage der Prognose bilden Deskriptoren - Kenngrö-ßen oder Kennzahlen, mit denen sich die ermittelten Einflussgrößen in ihrem Zu-stand heute und in Zukunft beschreiben lassen. Für jeden Einflussfaktor wird min-destens ein Deskriptor festgelegt. Die De-skriptoren sollten nach Möglichkeit ope-rationalisiert sein, d.h. es sind eindeutig definierte Messgrößen festzulegen, anhand derer die Entwicklung eines Einflussfak-tors beschrieben werden kann.45 Deskrip-toren müssen allerdings nicht notwendi-gerweise quantitativer Art sein, eindeutige qualitative Messgrößen können ebenfalls verwendet werden46 (Beispiel: Schlüssel-faktor Entwicklung des Arbeitsmarkts, Deskriptor Arbeitslosenquote in % oder Schlüsselfaktor Einstellung zu Technolo-gie, Deskriptor Einstellung Technologie: ablehnend/zustimmend).47 Beispielhaft sind in Tabelle 2 einige Deskriptoren aus dem Fallbeispiel Kindertagesbetreuung dargestellt. Um ein anschauliches und aus-reichend aussagekräftiges Bild entwerfen zu können, wurden dabei einigen Einfluss-faktoren mehrere Deskriptoren zugeord-net. Es war außerdem darauf zu achten, dass Deskriptoren gewählt wurden, die sowohl für den jetzigen als auch für ei-nen zukünftigen Zeitpunkt für Emsdetten

VM 5/2010248

Abb. 4: System-Grid – Fallbeispiel „Kindertagesbetreuung“ in Emsdetten (Quelle: Eigene Darstellung)

41 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 40

42 Vgl. Tessun 1998, S. 115; von Reibnitz 1987, S. 41.

43 Vgl. Blasche 2006, S. 74

44 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 42 und Wilms, Falko E. P., 2006, S. 51

45 Vgl. Albers/Broux 1999, S. 63

46 Vgl. Geschka/Schwarz-Geschka 2009, S. 3

47 Angelehnt an von Reibnitz 1987, S. 121 ff.

25

Aktive Elemente Dynamische Elemente

20

Gesetze

15

Geburten/Frau10

Verf.EK, Beschäft.

Frauen Flex.Arb., Geburten Fr.Träger Wünsche

5 Kinder Finanzsit.Altern.Betr., Personal

RäumePuffernde Elemente Passive Elemente

5 10 15 20 25

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die Ist-Situation hinreichend beschreiben. Nicht alle Kennzahlen, die einen quantita-tiven Ausdruck benötigen, stehen z.B. für die Ebene einer kreisangehörigen Mittel-stadt zur Verfügung.48

Für jeden der Deskriptoren, ergo für jeden Schlüsselfaktor, sind anschließend verschiedene mögliche Ausprägungen für den festgelegten zukünftigen Zeitpunkt zu bestimmen. Im Regelfall sind jedem De-skriptor mindestens zwei verschiedenarti-ge Zukunftsausprägungen (Zukunftspro-jektionen) zuzuordnen. Bei der Erstellung dieser Ausprägungen sind „vor allem Kre-ativität, Mut und Querdenken gefragt.“49 Die Szenarioteammitglieder sollten mög-lichst nicht den Fehler machen, aus Grün-den der Einfachheit oder Gewohnheit alle Deskriptoren-Ausprägungen so zu gestal-ten, dass sie eine Verlängerung eigener Er-fahrungen in die Zukunft darstellen. „Es ist entscheidend für die Kraft der Szenari-en, dass es den Teilnehmern gelingt, diesen ‚Verlängerungsautomatismus’ zu unter-binden und in einen ‚Möglichkeitsmodus’ überzuwechseln.“50 So sind „bewu[ss]t divergierende und auch extreme Projek-tionen zu erarbeiten, damit die Szenarien das ‚window of opportunitiy’ vollständig beschreiben.“51 Dies ist insbesondere für die kommunale Anwendung deutlich her-

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

vorzuheben, da oftmals „in der Verwal-tung […] Kernstadtperspektive und Fixie-rung auf Stärkung des eigenen Wachstums, gleich was es woanders andere kosten mag, institutionalisiert sind […] – die Stadt attraktiv, (ökonomisch) wachsend, zentral im Umland. […] Die Stadtfunktion selbst und die möglichen Alternativen zur gegenwärtigen Form des städtischen Le-bens werden so gar nicht erwogen.“52

Bei der Anwendung in einer kleineren Kommunalverwaltung sollten der Über-sichtlichkeit halber nicht mehr als drei Ausprägungen erstellt werden, in der Anfangszeit der Anwendung der Szena-riotechnik eher jeweils zwei, die dafür aber in Richtung extremer Entwicklun-gen tendieren (die Frage beantwortend: „Welches sind extreme, jedoch denkbare Entwicklungen bezogen auf den betrach-teten Zeithorizont?“53). Dieses Verfahren sollte die Einführung des Szenariodenkens sowie die anschließende Erstellung der Rohszenarien erleichtern und ein Verfallen auf eine einfache „Trendlösung“ verhin-dern. Es ist ebenso hilfreich, wenn bereits bei der Deskriptoren-Festlegung darauf geachtet wurde, neutrale Formulierungen zu wählen, um die Entwicklung von Zu-kunftsprojektionen nicht von vorneherein unbewusst in eine Richtung zu lenken

Tab. 3: Beispielhaftes Vorgehen bei der Bildung von Rohszenarien (Quelle: Eigene Darstellung)

(Beispiel: „Änderung der Bevöl-kerungszahl in Personen/Prozent“ anstelle von „Bevölkerungswachs-tum“).

Auch im Fallbeispiel wurden meist zwei Ausprägungen je De-skriptor erstellt und dabei Entwick-lungen in unterschiedliche bzw. entgegengesetzte Richtungen ange-nommen (z.B. Wanderungsgewinne oder Wanderungsverluste der Bevöl-kerung, wirtschaftlicher Abschwung oder Erholung). In einigen Punkten enthalten jedoch beide Ausprä-gungsalternativen zu einem Deskrip-tor die gleiche Grundrichtung in unterschiedlich starker Ausprägung (z.B. weiterer Bedeutungsverlust des

produzierenden Gewerbes zu Gunsten des Dienstleistungssektors).

Szenariobildung

Aus der Kombination von jeweils einer entwickelten Ausprägung zu jedem Schlüs-selfaktor bzw. Deskriptor entstehen erste Zukunftsbilder, die auch als Rohszenarien bezeichnet werden. Grundsätzlich bildet jede mögliche Kombination von Schlüssel-faktor-Ausprägungen ein Rohszenario. Bei der Rohszenariobildung ist aber darauf zu achten, dass die gebildeten „Annahmen-bündel“ plausibel, schlüssig und logisch sind. Sie sollten konsistent, also in sich widerspruchsfrei sein54. Hierzu kann man sich einer Konsistenzmatrix bedienen, um sich über Kombinationsmöglichkeiten der Faktorenausprägungen klar zu werden.55 Man kann jedoch auch ganzheitlich in-tuitiv die verschiedenen Alternativen der Deskriptoren-Ausprägungen gegenüber-stellen und daraus Rohszenarien bilden.56

VM 5/2010 249

Schlüsselfaktor Deskriptor(en)

Geburtenraten in der Bevölkerung

Allgemeine Geburtenziffer für Emsdetten: Anzahl Geburten pro tausend Frauen (15-44 Jahre) in Emsdetten pro JahrBeschreibung zu Unterschieden in Bildungsstand/soziale Herkunft und Nationalität

Geburtenzahl Absolute Anzahl der für Emsdetten gemeldeten (Lebend)-Gebore-nen im Zeitraum 01.01.-31.12

Kinder, die noch nicht der Schulpfl icht unter-liegen

Anzahl der Kinder von 0 Jahren bis zum Alter des Eintretens der gesetzlichen Schulpfl icht

Entwicklung verfüg-bares Einkommen für Familien

Änderung des durchschnittlichen für Familien verfügbaren Einkom-mens durch Einkommensveränderung bzw. Veränderung fi nanzieller Belastungen in % im Vergleich zu heute

Tatsächliche Beschäf-tigung/Berufstätigkeit (Männer, Frauen)

Erwerbsquote bei 15-64-Jährigen (Männer, Frauen) in %Arbeitslosenquote in %Anteil Teilzeitbeschäftigung (Männer/Frauen) in %

Gesetzliche Vorschriften zur Kinderbetreuung

Qualitative Beschreibung der Vorschriften zu:Betreuungsformen Inhaltsverständnis, Ziele von Kindertagesbetreuung Rechtsanspruch/-pfl ichten/Vertragsregelungen Betreuungsumfang (zeitlich)/-struktur

Tab. 2: Deskriptoren „Kindertagesbetreuung“ – Auszug für das Fallbeispiel Emsdetten

Einfl ussfaktor/Szenario Szenario I Szenario IIEinfl ussfaktor 1 Ausprägung a Ausprägung bEinfl ussfaktor 2 Ausprägung b Ausprägung aEinfl ussfaktor n Ausprägung a Ausprägung b

48 Die Anzahl der Geburten pro Frau kann z.B. an-hand der Einwohnermeldedaten als Allgemeine Geburtenrate/Jahr pro Tausend Frauen für Emsdetten berechnet werden, steht jedoch nicht als Kennzahl „Kinder pro Frau“ zur Verfügung.

49 Blasche 2006, S. 77.

50 Klein/Graf/Schöllhorn 2006, S. 360.

51 Fink/Schlake 1998, S. 135.

52 Häußermann/Siebel 1989, S. 218 ff.

53 Vgl. Berendes/Herse 2007, S. 4.

54 Vgl. Klein/Graf/Schöllhorn 2006, S. 361.

55 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 130, wird hier für die kommunale Anwendung nicht näher erläutert.

56 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 47.

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Dies sollte für die hier beschriebene kom-munale Anwendung erfolgen. Das Verfah-ren erscheint bei je zwei Ausprägungen je Schlüsselfaktor/De-skriptor in der Grup-pendiskussion mach-bar und sogar über-sichtlicher als eine Kons i s tenzmatr ix . Die Zuordnung der Ausprägungen könn-te dabei nach dem in Tabelle 3 dargestell-ten Muster gesche-hen, wobei bei zwei Ausprägungen pro Faktor jede der Aus-prägungen je einem der Rohszenarien zu-geordnet wird. Nach der ersten Zuordnung wird die Ausprägungs-kombination jedes Szenarios noch einmal überprüft und es wer-den ggf. einzelne Zu-ordnungen getauscht, wenn dies im Gesamt-bild der entstehenden Rohszenarien stimmi-ger erscheint. Die er-stellten Grafiken zur Vernetzung der Ein-flussfaktoren können hierbei unterstützen. Mit diesem Verfahren für Kommunen ent-stehen nur zwei bis maximal drei Szena-rien: Aus den vielen denkbaren Möglich-keiten, z.B. die je zwei Ausprägungen je Fak-tor zu kombinieren, werden lediglich zwei Rohszenar i en mi t größtmöglicher Plau-sibilität und innerer Stimmigkeit gebil-det. Sie unterscheiden sich deutlich vonein-ander. Das Ergebnis entspricht damit den

Literatur-Empfehlungen, die anraten, in die Strategieentwicklung im Anschluss

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

VM 5/2010250

Einfl ussfaktor Szenario I Szenario II

Geburtenraten in der Bevölkerung

Senkung auf 40,00Geburten pro Frau signifi kant höher bei Migrationshintergrund und Herkunft aus bildungsfernen Schichten/Arbeitslosig-keit

Steigerung auf 42,00Geburten pro Frau leicht höher bei Migra-tionshintergrund und Herkunft aus bil-dungsfernen Schichten/Arbeitslosigkeit.

Geburtenzahl in Emsdetten

200 275

Kinder, die noch nicht der Schul-pfl icht unterliegen

1.200 1.550

Entwicklung verfüg-bares Einkommen für Familien

- 8 % + 5%

Tatsächliche Be-schäftigung (Män-ner, Frauen)

78% Erwerbsquote Männer68% Erwerbsquote Frauen12% Arbeitslosigkeit40% Anteil Teilzeit bei Frauen 6% Anteil Teilzeit bei Männern

81,5% Erwerbsquote Männer 70% Erwerbsquote Frauen3,5% Arbeitslosigkeit28 % Anteil Teilzeit bei Frauen5% Anteil Teilzeit bei Männern

Gesetzliche Vor-schriften zur Kinder-betreuung

Förderung der Tagespfl ege Betreuungsgeld eingeführt für die Be-treuung durch Eltern, Elternzeit: Verlängerung der bezahlten Zeit bei geringfügiger Verringerung der Geldleistungen,Betreuung, Sprachförderung, Gesund-heitsförderungRechtsanspruch ab 2 JahrenVorwiegend altersgemischte Gruppen, Elternwahlrecht bei Betreuungsumfang

Schwerpunkt auf institutioneller Betreu-ung, Elternzeit alternativ mit verbesserten Regelungen zur Teilzeitarbeit oder erhöh-ter Geldleistung, Förderung von mehr Elternzeit und Teilzeit für Väter Betreuung, Sprachförderung, intensive frühkindliche BildungRechtsanspruch ab Ende ElternzeitVorwiegend altersgemischte Gruppen, Elternwahlrecht bei Betreuungsumfang

Tab. 4: Rohszenariobildung „Kindertagesbetreuung“ – Auszug aus dem Fallbeispiel Emsdetten (Quelle: Eigene Darstellung)

Szenario I Szenario IISchrumpfendes, armes Emsdetten Das Emsdetten der erwerbstätigen ElternEmsdetten leidet seit Jahren unter der Schwäche der lokalen Wirtschaft. Der damit verbundene Abbau von Arbeitsplätzen hatte eine Abwanderung von Einwoh-nern zur Folge. Daraus resultierend und aus Zukunfts-ängsten vieler Paare werden deutlich weniger Kinder als noch vor 15 Jahren geboren.Da sich freie Träger fast völlig zurückgezogen haben, hat die Stadt Emsdetten ihre Tätigkeit in der Kinderbe-treuung ausgeweitet, obwohl das Geld knapp ist, ge-spart wird an Gebäuden und am Personal. „Zum Glück“ sind inzwischen weniger Kinder zu betreuen.Viele Kinder aus Familien mit einem erwerbslosen Elternteil werden nur halbtags betreut, da die Stadt aus fi nanzieller Not auch einkommensschwache Eltern an den Kosten der Kinderbetreuung beteiligen muss. Viele andere Kinder werden demgegenüber zeitlich sehr umfangreich betreut, weil Eltern lange arbeiten und oft pendeln.Viele auf Transferleistungen angewiesene Familien lassen ihre Kinder erst ab drei Jahren betreuen und erhalten Betreuungsgeld, das für den Staat günstiger ist als die institutionelle Betreuung (die meisten Kin-der werden inzwischen jedoch ab zwei Jahren betreut, nach dem Ende der Elternzeit).Die Belastungen durch lange Arbeitszeiten und sozial auffällige Kinder, die erst mit drei Jahren in die KiTa kommen und Sprach- und Gesundheitsförderung er-fahren sollen, führen zu hohen Krankenständen beim Betreuungspersonal in KiTas.

Nachdem Emsdetten die Wirtschaftskrise 2008/2009 gut gemeistert hat, konnte durch gezielte Förderung von jungen Paaren und Familien der Bevölkerungsrück-gang durch vermehrten Zuzug zumindest ein wenig abgemildert werden, die Geburtenrate ist bei zuver-sichtlichen Eltern wieder leicht gestiegen.In der Wirtschaft herrscht inzwischen jedoch ein Man-gel an einsatzbereiten Fachkräften, mit denen sich die Dynamik des internationalen Wettbewerbs noch meistern lässt. Deshalb wird die Erwerbstätigkeit von inzwischen mehrheitlich sehr gut ausgebildeten Frau-en nicht nur gesetzlich (Änderungen in den Vorschrif-ten zur Elternzeit), sondern auch von Unternehmen (fl exible Arbeitszeit) gefördert.Eine wachsende Zahl von Eltern lässt daher schon sehr junge Kinder in KiTas betreuen, direkt im Anschluss an eine kurze (Vollzeit-) Elternzeit.In den KiTas wird nach dem Wunsch vieler Eltern und des Gesetzgebers entsprechend von gut ausgebildeten pädagogischen Kräften viel Wert auf eine intensive Förderung gelegt, weil jedes Kind die Chance auf Bildung und späteren berufl ichen Erfolg braucht. Be-sonderen Wert wird darauf gelegt, auch Kinder aus bildungsfernen Schichten (hier große Arbeitslosigkeit) optimal zu fördern. Viele besuchen früh den für alle Kinder kostenlosen Kindergarten, weil sie von den Mitarbeitern des Jugendamtes über die Vorteile infor-miert wurden.Das Berufsfeld Kinderbetreuung wird zunehmend attraktiver.

Tab. 5: Szenarien „Kindertagesbetreuung“ (Quelle: Eigene Darstellung)

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an die Szenarioerstellung sollen zwecks Handhabbarkeit nur wenige Szenarien eingehen. Mit der Verwendung „mög-lichst unterschiedlicher Szenarien wird sichergestellt, da[ss] die Wirksamkeit von Strategien auch unter sehr unterschiedli-chen Umfeldbedingungen geprüft werden kann. In der Literatur scheint mittlerwei-le weitgehend Einigkeit darüber zu beste-hen, da[ss] [...] nicht mehr als zwei bzw. drei Szenarien in den Planungsproze[ss] einfließen sollten, da eine größere Anzahl nur schwer handhabbar wäre und sich die Szenarien inhaltlich aufgrund der kaum ausgeprägten Unterschiede überschneiden würden.“57 So handhabt es beispielswei-se auch das Unternehmen Shell, ein Pio-nier der Szenarioarbeit: „Die Shell United

Kingdom hat bereits sehr früh (Anfang der 70er Jahre) erkannt, da[ss] es für die Unternehmensplanung völlig ausreicht, zwei Szenarien zu generieren, die jedoch folgenden Kriterien entsprechen: Zum ei-nen in sich möglichst große Stimmigkeit, Konsistenz und Widerspruchsfreiheit, und zum anderen sollte zwischen beiden Sze-narien eine möglichst große Unterschied-lichkeit bestehen.“58 Tabelle 4 enthält aus-zugsweise eine Darstellung der Rohszena-rien für das Fallbeispiel Emsdetten.

Ausgestaltung und Interpretation

Durch Ausgestaltung und Betiteln werden aus den Rohszenarien „fertige“ Szenarien. Die Szenarien werden mit einprägsamen Namen betitelt, die ihren Charakter tref-fen59. Hierbei sollten jedoch keine einfa-chen Betitelungen wie „positiv/negativ“, „bestmöglich/schlechtmöglich“ etc. ge-wählt werden, weil dies schon eine (poli-tische) Interpretation beinhaltet, welche eine offene Diskussion über die Bedeu-tung und die zu ziehenden Schlüsse ggf. gefährden könnte. Außerdem werden die „wesentliche[n] Inhalte [der Szenarien] in etwa 3-5 Kernaussagen zusammengefa[ss]t.“60 Die aus der Vernetzungsanalyse ge-wonnen Erkenntnisse sollten dabei mit

einfließen.61 Im Fallbeispiel entstanden die in Tabelle 5 dokumentierten Beschreibun-gen zu den Szenarien. Für eine politische oder öffentliche Diskussion der Szenarien empfiehlt es sich, darüber hinaus verständ-liche, prägnante Darstellungsformen für die Präsentation der Szenarioinhalte bei den Zielgruppen, die sich mit den Szenari-en beschäftigen sollen, zu entwickeln (z.B. fiktive Schlagzeilen in der Presse, Bilder, Grafiken, eine Geschichte etc.). „Szenari-en müssen so geschrieben werden, da[ss] einem Laien der Zugang zum Verstehen des Themas und der Verknüpfungen er-möglicht oder erleichtert wird.“62 Welche Form, welche Sprache (z.B. Fachjargon, Populärsprache) und welches Medium (z.B. Unternehmensbericht, Zeitschrift, In-

ternet, Film) hierfür gewählt werden, liegt also vorwiegend an den jeweiligen Ziel-gruppen.

Die fertigen Szenarien werden durch die Arbeitsgruppe zunächst dem Verwal-tungsvorstand präsentiert. Die Verwal-tungsführung kann weitere Anregungen zur Präsentationsform der Ergebnisse in der Politik geben. Sie nimmt im Übrigen die Arbeit des Szenarioteams als nachvoll-ziehbar dokumentiertes Arbeitsergebnis des Expertengremiums ab.

Änderungen durch die Verwaltungsfüh-rung am Inhalt der Szenarien sind nicht nötig und nicht sinnvoll, da die erstellten Szenarien nur neutrale Möglichkeiten der Zukunft darstellen, die eine Diskussion anregen sollen, und die nicht mit Wahr-scheinlichkeiten, Prognosecharakter oder Bewertungen als gut oder schlecht ver-bunden sind. Die politische Neutralität der Szenarien sollte auf jeden Fall gewahrt bleiben.

Strategiebildung mit Szenarien in Kommunen

Szenarien können einerseits zur strate-gischen Entscheidung dienen. Hierbei

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

57 Meyer-Schönherr 1992, S. 63. Zwei bis maxi-mal drei alternative Szenarien empfehlen auch Albers/Broux 1999, S. 64 und Geschka/Schwarz-Geschka 2009, S. 2.

58 von Reibnitz 1987, S. 31

59 Vgl. Klein/Graf/Schöllhorn 2006, S. 362

60 Tessun 1998, S. 119

61 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 76

62 Arras 1989, S. 29

63 Vgl. Fink/Schlake 1995, S. 24

64 Vgl. Meyer-Schönherr 1992, S. 77; Fink/Schlake/Siebe 1998, S. 35 f.; ILS 1985, S. 7 nach Senger, Matthias, Szenario-Technik. Methodische Dar stel-lung und kritische Analyse, TU Berlin, Brennpunkt Systemtechnik, Berlin, Selbstverlag, 1976, S. 78

65 Klein/Graf/Schöllhorn 2006, S. 363

VM 5/2010 251

schaffen sie die Grundlage dafür, bei ei-ner Auswahl aus mehreren alternativen Maßnahmen diejenige Alternative auszu-wählen, die der Zielerreichung am besten dient.63 Anwendungsmöglichkeiten sind in erster Linie Entscheidungen mit langfris-tiger Tragweite wie z.B. kapitalintensive Investitionen mit langer Lebensdauer bzw. langen Amortisationszeiten oder Neupro-duktentwicklungen (in der öffentlichen Verwaltung aber bspw. auch Bebauungs- oder Flächennutzungspläne).64

Andererseits können Szenarien der stra-tegischen Planung dienen. Bei der Anwen-dung in Unternehmen dienen die fertigen Szenarien dabei als „Testumgebungen“ für strategische Planungen. Vereinfacht dargestellt werden dabei für einzelne Sze-narien entwickelte Unternehmensstrate-gien, die für mehrere Szenarien gleichsam wirksam erscheinen, zu einer Leitstrategie gebündelt, denn diese Strategien bilden die „effizienteste[...] Vorbereitung auf die Zu-kunft, […] unabhängig davon, in welche Richtung sich die Zukunft [tatsächlich] entwickelt, werden diese Themen eine be-deutende Rolle [...] spielen.“65 Auch wird beabsichtigt, das Unternehmensumfeld für die Zukunft gezielt mittels der Strategie zu beeinflussen, indem z.B. wünschens-werte Umwelt-Entwicklungen forciert werden und negativen Entwicklungslini-en entgegengewirkt werden soll bzw. es sollen diese abgeschwächt werden. Die Erkenntnisse der Vernetzungsanalyse zur Beeinflussbarkeit und Wechselwirkung der Schlüsselfaktoren sind hierbei von großer Bedeutung.

Da Kommunen im Vergleich zu Unter-nehmen im Regelfall wenig Übung in der

»Die politische Neutralität der Szenarien sollte auf jeden Fall gewahrt bleiben.«

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Entwicklung von Strategien haben, sollte das Verfahren der Strategieentwicklung aus Szenarien bedarfsgerecht angepasst werden. Ziel sollte es sein, zunächst poli-tische Richtungsziele für Wirkungen (Out-come) festzulegen und anschließend Maß-nahmen und Programme zur Erreichung der Ziele zu entwickeln. Ein derartiges Verfahren wird im Folgenden beispielhaft beschrieben. Für die verbindliche Festle-gung der strategischen Ziele ist dabei nach § 41 (1) Buchst. t GO NRW der Rat der Stadt verantwortlich.

Erstanalyse durch die Verwaltung

Die erste Analyse der erstellten Szenarien sollte als Grundlage der späteren Ziel-bildung zunächst durch die Fachdiens-te vorgenommen werden, die über ihre fachliche Zuständigkeit und über ihre Produkte das Themenfeld der Szenarios schwerpunktmäßig bearbeiten. Hierbei kann zur Vorbereitung der späteren poli-tischen Richtungszielentwicklung ggf. zu-nächst eine Einschätzung vorgenommen werden, inwieweit die erstellten Szenarien vor dem Hintergrund des Leitbilds der Kommune als erstrebenswert oder negativ zu bewerten sind. Die Beteiligten sollten sich noch einmal vor Augen führen, wel-che Einflussgrößen im System durch die Stadt beeinflusst werden können und wie sich diese Beeinflussung ggf. auf weitere Faktoren auswirken könnte. Hintergrund ist, dass, sofern eine Zielfestlegung für die Gestaltung der im Szenario enthaltenen Schlüsselfaktoren erfolgen soll, diese keine Steuerungsmöglichkeit bietet und nur per Zufall erfolgreich ist, wenn diese Schlüs-selfaktoren durch die Stadt (oder Dritte) in keiner Weise beeinflussbar sind.

Die erstellten Szenarien sollten dann auf Auswirkungen, insb. Chancen und Gefahren für die Kommune im Gestal-tungsbereich des Szenarios beleuchtet werden. Ein Abgleich mit dem in der Ist-Analyse zu Beginn der Szenarioerstellung dargestellten Status quo der Ressourcen und Leistungen der Stadt offenbart hier ggf. mögliche, in der Zukunft auftretende Stärken und Defizite. (Bspw.: „Ist die vor-handene Infrastruktur im Bereich den zu-künftigen Herausforderungen des Szena-rios x gewachsen?“). Diese Überlegungen unterstützen auch die Beantwortung der Frage: „Was müssen wir tun?“.

Nach dieser Vorbereitung durch die verantwortlichen Fachdienste sollten durch die Verwaltungsführung mit Unter-stützung durch die Fachdienste sowie die Zentrale Steuerungsunterstützung (diese vertritt Ressourcen-Sicht und Gesamtver-antwortung) Empfehlungen für Richtungs-ziele für die Politik erarbeitet werden:

welches Szenario mit welchen Ausprä- gungen der Schlüsselfaktoren (bzw. ggf. welche alternative Entwicklung bestimmter Einflussfaktoren) ist (vor

dem Hintergrund des Leitbilds) als er-strebenswert zu bewerten?welche Richtungsziele erscheinen im Hinblick auf die Szenarien und die ggw. Situation sinnvoll (Strategische Frage: Was wollen wir erreichen?), d.h.:Soll das Umfeld in eine bestimmte Richtung beeinflusst werden? Wenn ja: Welche Schlüsselfaktoren sind beein-flussbar und in welche Richtung sollten sie beeinflusst werden?Welchen Anforderungen sollte das An- gebot der Stadt in diesem Bereich zu-künftig entsprechen?

Zielentwicklung durch die Politik

An dieser Stelle wird empfohlen, die Po-litik zunächst im Rahmen eines Strategie-workshops mit einer kleinen Gruppe von Ratsherren und -frauen einzubinden. Eine Gruppe aus Fraktionsvorsitzenden sowie ggf. der stellvertretenden Bürgermeister/innen erscheint als Gremium geeignet, die-se Aufgabe zu übernehmen. In Emsdetten wurden mit derartigen, paritätisch besetz-ten Gruppen bereits positive Erfahrungen bei der Durchführung von strategischen Prozessen gesammelt. Als Input für diesen politischen Workshop können von Seiten der Verwaltung die aktuelle Ist-Analyse zum Gestaltungsfeld (möglichst prägnant

visualisiert), die Szenarien in der für die Kommunikation aufbereiteten Form sowie die Übersicht über die Beeinflussbarkeit und Wechselwirkung von Schlüsselfakto-ren eingebracht werden.

Anschließend sollten im Workshop in der offenen Diskussion die beiden o.g. Fragen – „Welches Szenario erscheint wünschenswert?“ und „Was wollen wir erreichen – welche Richtungsziele sollten gesetzt werden?“ beantwortet werden.

Unter Einbeziehung der von der Verwal-tungsspitze formulierten Empfehlungen und idealerweise als gemeinsamer Vor-schlag aller Beteiligten für den Stadtrat. Denkbar wären aber auch mehrere, frak-tionsgebundene Vorschläge. Die erarbeite-ten Empfehlungen werden in den Stadtrat eingebracht und dort beraten und be-schlossen.

Die Szenarien werden vor der Be-schlussfassung und Diskussion als Prä-sentation im Rat durch den Bürgermeis-ter vorgestellt. Der Bürgermeister oder Vertreter/innen der Fraktionen erläutern ihre Ziel-Empfehlungen (Beispiel für ein mögliches Richtungsziel in Bezug auf das städtische Angebot: Die Versorgung mit Betreuungsplätzen für Kleinkinder im Al-ter von einem bis unter drei Jahren soll besser werden66).

Zielumsetzung mit Produkten und Programmen

Die politisch beschlossenen Richtungs-ziele sind in den Haushaltsplan der Stadt aufzunehmen. Die Fachdienste erarbeiten

»Ziel sollte es sein, zunächst politische Richtungsziele für Wirkungen (Outcome) festzulegen und anschließend Maßnahmen und Programme zur Erreichung der Ziele zu entwickeln.«

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

VM 5/2010252

66 Abgewandelt nach KGSt 2000a, S.16.

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Empfehlungen für Umsetzungsstrategien und Maßnahmen, um

Umweltfaktoren (=Schlüsselfaktoren) in gewünschter Weise zu beeinflussen unddie Verwaltung und ihr Angebot im Rahmen der erarbeiteten Ziele auf er-kannte zukünftige Herausforderungen vorzubereiten (bspw. Ausgleich von Schwächen in der Infrastruktur).

Die Maßnahmen gehen, von der Verwal-tungsführung gestützt, durch Ratsbe-schluss in den Etat ein und werden damit legitimiert. Hierdurch erhält die Verwal-tung die nötigen Ressourcen. Es kann sich um Maßnahmen oder Handlungen inner-halb der bestehenden Produktstruktur handeln oder um Projekte, die außerhalb der Produkte des Tagesgeschäfts die Ziel-erreichung fördern. Auch bei Beschluss-vorlagen der Fachdienste, die außerhalb der Etatverabschiedungen Maßnahmen-vorschläge enthalten, sind die im Szena-rio-Prozess festgelegten Richtungsziele aufzunehmen und die Maßnahmenvor-schläge diesbezüglich zu begründen. Eben-falls denkbar sind politische Initiativen für Programme, die der Umsetzung der Rich-tungsziele dienen. Diese werden ebenfalls durch Ratsbeschluss verabschiedet.

Nutzen und Herausforderungen der Szenariotechnik in der Kommunalverwaltung

Zusammenfassend lassen sich Nutzen aber auch Herausforderungen des dargestellten Verfahrensmodells zur Szenariotechnik für die Kommunalverwaltung wie folgt beschreiben. Die Szenariomethode bein-haltet immer eine systematische Auseinan-dersetzung mit der Umwelt situation einer Organisation. Durch die Bildung eines multidisziplinären Teams kann dabei eine Fülle von Fachwissen vereint werden, was die Entwicklung gut ausgestalteter, ganz-heitlicher Szenarien ermöglicht. Durch eine mit dem Prozess verbundene umfang-reiche Dokumentation entsprechend des vorgestellten Anwendungsmodells stünden die im Verfahren gewonnenen Erkenntnis-se auch im Rahmen der täglichen Arbeit der Fachdienste zur Verfügung.

Die Szenariomethode ist von ihrem Wesen her eine auf die Zukunft ausge-richtete Methode. Durch das dargestellte

Modell der Szenariotechnik würde der in der Verwaltung übliche Planungshorizont von drei bis max. sechs oder sieben Jah-ren67 mit einem Szenario-Horizont von 15 Jahren mehr als verdoppelt. Mit ei-nem Umfang von drei Legislaturperioden übersteigt er auch deutlich den üblichen Planungszeitraum der Politik. Der Kernin-halt der Szenario-Methode ist das Denken in Zukünften und ihren Möglichkeiten. Bei der Aufstellung von Richtungszielen können die alternativen Zukunftsbilder der Szenarien helfen zu entscheiden, wel-che Situation zukünftig erreicht werden soll. Durch die Entwicklung von zwei

sehr unterschiedlichen Szenarien zwingt das Verfahren aber auch, sich mit mögli-chen negativ beurteilten Entwicklungen auseinanderzusetzen. Auch kann ein Weg in Richtung einer erwünschten Zukunft aufgezeigt werden, weil die Szenarioana-lyse Klarheit über die Ausgangslage und die Beeinflussbarkeit des Handlungsum-feldes schafft. „Nur, wenn wir also die Möglichkeiten der Zukunft [...] kennen, können [...] die Politiker [...] eine Wahl aus verschiedenen Alternativen treffen. Wer hingegen keine Vorstellungen über die Zukunft hat, kann dementsprechend auch nicht auswählen, was er/sie ger-ne geschehen lassen möchte, geschweige denn Politiken entwickeln und Ma[ß]nah-men ergreifen, um eine derartige Zukunft herbeizuführen.“68

Die Szenariotechnik als Methode der strategischen Analyse ist dazu bestimmt, strategische Entscheidungen vorzubereiten bzw. eine Grundlage zur Zielfindung und zur ganzheitlichen Strategieentwicklung zu bilden. Eine stärkere Orientierung an Wir-kungszielen wird durch die anschauliche Darstellung von Einflussfaktoren und de-ren Zusammenwirken im politisch zu ge-

staltenden System sowie die Beschreibung von möglichen resultierenden (politisch erwünschten oder unerwünschten) Zu-künften gefördert. In der Verwaltung sind oftmals das nötige Fachwissen und der Wunsch vorhanden, sich mit der Zukunft auseinanderzusetzen.69 Die Szenariotech-nik in der in diesem Beitrag beschriebenen Form macht dieses Wissen der Verwaltung auch für die politische Zielbildung nutz-bar, in dem sie nachvollziehbare, anschau-liche Kulissen für die langfristige Entschei-dungsfindung und wirkungsorientierte Zielbildung schafft. Damit und durch die Verpflichtung der Verwaltung auf die so

entstandenen Ziele trägt sie deutlich zur Füllung der „strategischen Leerstelle“ in Kommunen bei.

Der zeitliche Aufwand der Szenario-erstellung nach dem in dieser Arbeit be-schriebenen Verfahren ist aber nicht un-erheblich.70 Die für die Zielbildung nötige Arbeitszeit hat aufgrund der Notwendig-keit der Politikbeteiligung im Prozess ein

»Durch das dargestellte Modell der Szenariotechnik wird der in der Verwaltung übliche Planungshorizont von drei bis max. sieben Jahren mit einem Szenario-Horizont von 15 Jahren mehr als verdoppelt.«

67 Erfahrungswerte der Stadt Emsdetten

68 Graf 1999, S. 33

69 Erfahrungswerte aus Emsdetten. Dies wird mit dem Eigeninteresse der Verwaltungsmitarbeiter begründet, bei einem auf Jahrzehnte ange-legten Dienstverhältnis erfolgreich für die Zukunft des Tätigkeitsfeldes vorzusorgen. Im Gegensatz dazu ist das Engagement der politi-schen Mandatsträger/innen zunächst auf eine Legislaturperiode befristet.

70 Die Kalkulation für die Stadt Emsdetten sieht wie folgt aus: Insgesamt sind i.d.R. für zwölf bis 15 Mitarbeiter/innen je 2,5 Arbeitstage für Szenario-Workshops anzusetzen. Hinzu kommen Zeiten für die Organisation und die Vor- und Nachbereitung der Workshops sowie ggf. für wei-terführende Recherchen. Für die anschließende Strategieentwicklung werden voraussichtlich ca. 1,5 Arbeitstage der bearbeitenden Mitarbeiter/innen benötigt. Hinzu kommen die Zeiten für die politische Beschlussfassung im Rat.

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

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besonderes Gewicht. Im gesamten Prozess hat aufgrund der Notwenigkeit der Poli-tikbeteiligung die für die Zielbildung nö-tige Arbeitszeit ein besonderes Gewicht. Hier liegt der kalkulierte Zeitumfang deutlich höher als in vergleichbaren Kal-kulationen für kleinere Szenarioprojekte in Unternehmen71. Gleichwohl sind die kommunalen Ergebnisse bescheidener. Im Modell für die Verwaltung liegen am Ende des Szenarioprozesses Richtungsziele vor, die folgend noch von der Verwaltung (z.B. im Rahmen der Etatberatungen) operati-onalisiert und mit Maßnahmen versehen werden müssen, während im Unternehmen am Ende des Prozesses eine umsetzungs-fähige Strategie steht. Darüber hinaus scheint sicher, dass sich kurzfristige, auch der erarbeiteten Planung widersprechende politische Entscheidungen insbesondere vor Wahlen mit keiner Managementtech-nik, auch nicht mit der Szenariotechnik, gänzlich vermeiden lassen werden. Der Aufwand für die Zielbildung und die Art der erzielten Ergebnisse ist Ausfluss der gesetzlich bestimmten, politisch-demokra-tischen Entscheidungs- und Organisati-onsstruktur einer Kommune.

Um die kommunale Steuerung grund-legend zu verbessern, ist es notwendig, die Szenariotechnik auch tatsächlich und umfassend, und nicht nur einmalig und unverbindlich, zur Zielbildung einzuset-zen. Eine wirkliche strategische Steuerung zur Umsetzung der Aufgabe aus § 1 GO kann nur über ein für die Verwaltung und Politik verbindliches, einheitliches, poli-tisch beschlossenes Wirkungs-Zielsystem erreicht werden. Die Szenarien bilden die Grundlage für die Zielbildung, sie sind jedoch selbst noch keine Ziele. In dieser Ausdauer und Selbstverpflichtung, insbe-sondere der Politik, zur Zielbildung mit Blick über kurzfristig politisch akut wer-denden Themen hinaus wird die zentrale Herausforderung der Szenarioarbeit lie-gen: „Der Einmalgebrauch von Szenarien erfordert sehr viel weniger Investitionen als deren Institution als einem integralen Bestandteil des Unternehmensplanungs-prozesses.“72

Literatur

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KGSt – Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (1993): Bericht Nr. 5/1993 - Das neue Steuerungsmodell, Köln

71 Vgl. von Reibnitz 1987, S. 211.

72 Graf 1999, S. 204.

KGSt – Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (2000a): Bericht Nr. 8/2000 – Strategisches Management I: Leitbericht für Politik und Verwaltungsführung, KölnKGSt – Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (2000b): Bericht Nr. 9/2000 – Strategisches Management II: Wege zur Gesamtstrategie, KölnKlein, G./Graf, H. G./Schöllhorn, A. (2006): Entscheidungsvorbereitung mit Szenarien im Team-Dialog, in: Wilms, F. E.P. (Hrsg.): Szenariotechnik, Bern, Stuttgart, Wien; 353-379Meyer-Schönherr, M. (1992): Diss.: Szenario-Technik als Instrument der strategischen Planung, Ludwigsburg, BerlinSchierenbeck, H./Wöhle, C. B. (2008): Grundzüge der Betriebswirtschaftslehre, 17. Auflage, MünchenSchulz-Montag, B./Müller-Stoffels, M. (2006): Szenarien – Instrumente für Innovations- und Strategieprozesse, in: Wilms, F.E.P. (Hrsg.): Szenariotechnik, Bern, Stuttgart, Wien, S. 381-397Simon, H./von der Gathen, A. (2002): Das große Handbuch der Strategieinstrumente, Werkzeuge für eine erfolgreiche Unternehmensführung, Frankfurt, New YorkTessun, F. (1998): Szenarien in der Luft- und Raumfahrtindustrie, in: Gausemeier, J./Fink, A./Schlake, O. (Hrsg.): Grenzen überwinden – Zukünfte gestalten: 2. Paderborner Konferenz für Szenario-Manage ment, Paderborn, S. 111-126von Reibnitz, U. (1987): Szenarien - Optionen für die Zukunft, Hamburg, New YorkWeinbrenner, P. (2009): Szenariotechnik, [URL: http://www.sowi-online.de/methoden/doku-mente/szenariotechnik.htm vom 26.08. 2009]Wilms, F.E.P. (2006): Szenarien sind Systeme, in Wilms, F.E.P. (Hrsg.), Szenariotechnik, Bern, Stuttgart, Wien, S. 39 - 60

Lünnemann, Szenariotechnik als Instrument des strategischen Managements in der Kommunalverwaltung

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Verwaltung und Management16. Jg. (2010), Heft 5, S. 255-262

255

Dr. Robert Müller-Török Universitätslektor, Institut für Produktions-management, Wirtschafts-universität Wien

Mag. Robert SteinBundesministerium für Inneres, WienLeiter Wahlabteilung

Der Vertrag von Lissabon gibt den Bürgern Europas das Recht, sich mit Europäischen Bürgerinitiativen (EBI) direkt an die Kommission zu wen-den. Der gegenwärtige Verordnungsentwurf der Kommission1 ver-pflichtet eine einzige Behörde pro Mitgliedstaat, binnen maximal drei Monaten die Unterstützungserklärungen zu prüfen und dem Organisator eine Bescheinigung gratis auszustellen. Dieser Beitrag untersucht, wel-che Probleme und Aufwände dadurch für die nationalen Behörden ent-stehen, insbesondere durch die steigende Zahl von Unionsbürgern mit mehreren Staatsangehörigkeiten, Wohnsitzen etc. innerhalb der zwölf Monate Laufzeit der EBI, die Einbindung der Unionsbürger im Nicht-EU-Ausland und den nicht funktionierenden Informationsaustausch für Wahlen zum Europäischen Parlament.2 Diese Situation kann als Chance genutzt werden, nationale Wählerverzeichnisse und betroffene zwi-schenstaatliche Prozesse zu analysieren und zu verbessern, weswegen mögliche Umsetzungsstrategien für Mitgliedstaaten aufgezeigt und be-wertet werden.

Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

Robert Müller-Török/Robert Stein

EinführungGegenwärtig verhandeln die Mitglied-staaten der Europäischen Union über die Ausgestaltung eines Entwurfs der Europä-ischen Kommission über eine Verordnung, mit der die im Vertrag von Lissabon fest-geschriebene Europäische Bürgerinitiati-ve (EBI) umgesetzt werden soll. Trotz des noch nicht feststehenden Endergebnisses können aus dem Verordnungsentwurf so-wie aus einer den Autoren zwischenzeit-lich zugänglichen Weiterentwicklung des Entwurfs3 der Kommission bereits Folgen

inwieweit eine Überprüfung auf Basis der existierenden Wählerverzeichnisse, Daten-banken und v.a. des tatsächlichen Umset-zungsstandes bezüglich des Informations-austausches zwischen den Mitgliedstaaten für Wahlen zum Europäischen Parlament5 überhaupt möglich ist. Danach werden mögliche Handlungsspielräume aufge-zeigt und die Frage, wie sich die benann-ten Behörden auf diese neuen Aufgaben vorbereiten können, strukturiert. Dabei orientieren wir uns prinzipiell strikt am vorliegenden Entwurf der Europäischen Kommission, verweisen aber an einigen Stellen auf die erwähnte, sich zwischen-zeitlich abzeichnende Weiterentwicklung.

Durch die Verordnung den Mitgliedstaaten übertragene Aufgaben

Den Mitgliedstaaten wurden von der Ver-ordnung verschiedene Aufgaben übertra-gen, für die bis spätestens drei Monate nach Inkrafttreten der Verordnung Behör-den zu benennen sind (s. Tab 1). Die bei-den Aufgabenbereiche scheinen auf den ersten Blick voneinander unabhängig zu sein. Während der erste Bereich sich auf die Übereinstimmung eines E-Initiative-Systems mit technischen Spezifikationen bezieht, bezieht sich der zweite Bereich auf klassische hoheitliche Aufgaben, wie die Führung von Wählerverzeichnissen, Evidenzen über ausgestellte Ausweisdoku-

für die nationalen Verwaltungen abgelei-tet werden.

Dieser Beitrag untersucht zunächst die Auswirkung der beabsichtigten Umset-zung der EBI auf die nationalen Verwal-tungen, insbesondere die Wahlbehörden, die nach Artikel 144 mit der Koordinie-rung der Überprüfung der Unterstützungs-bekundungen betraut werden. Anhand eines Untersuchungsschemas werden Ver-hältnisse europäischer Bürger analysiert und anhand dieser Klassifikation gezeigt,

1 Europäische Kommission 2010, S. 15.

2 Bundesrat 2010, S. 5f.

3 Bundesministerium für Inneres, Wien, Abteilung für Wahlangelegenheiten (Stand: Mai 2010).

4 Sämtliche Zitierungen von Artikeln beziehen sich auf Europäische Kommission 2010.

5 Rat der Europäischen Union 1993.

Probleme der Verifikation von Unterstützungserklärungen in der Praxis

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mente, Melderegistern etc. Bemerkenswert ist, dass die Aufgaben im Zusammenhang mit der Überprüfung und Zertifizierung der Unterstützungsbekundungen explizit nur einer einzigen Behörde pro Mitglied-staat übertragen werden, während für die technische Prüfung offenbar auch eine Mehrzahl von Behörden benannt werden kann.

Aufgaben im Zusammenhang mit Online-Sammelsystemen

Aus Artikel 6 Absatz 2 ergibt sich ein freies Wahlrecht des Organisators, in wel-chem der 27 Mitgliedstaaten er die Daten speichern möchte und somit auch faktisch eine freie Wahl des Mitgliedstaates, der das verwendete Online-Sammelsystem zertifiziert. Diese Zertifizierung ist nach Artikel 6 Absatz 3 unionsweit gültig. Für kommerzielle Anbieter von IT-Dienstleis-tungen ist es sicherlich ein Geschäftsfeld, derartige Systeme zu entwickeln, zertifi-zieren zu lassen und potenziellen Orga-nisatoren von EBI entgeltlich anzubieten. Ebenso ist zu erwarten, dass NGOs der-artige Systeme entwickeln und ggf. sogar gratis oder gegen geringes Nutzungsent-gelt zur Verfügung stellen. Somit wird sich die Belastung der nationalen Verwaltun-gen im Zusammenhang mit dieser Auf-gabe, abgesehen von einer Anfangsphase, eher in Grenzen halten. Aus diesem Grund wird hier von einer detaillierten Analyse abgesehen.

Aufgaben im Zusammenhang mit der Überprüfung und Zertifizierung von Unterstützungsbekundungen nach Artikel 9

Vollkommen anders hingegen sieht die Si-tuation bei dieser Aufgabe aus. Die Aufga-be zeichnet sich durch folgende Vorgaben aus, die zu einer effektiven Mehrbelastung der Verwaltungen führen, diese sind laut Entwurf der Verordnung:

die Unentgeltlichkeit der von der be- nannten Behörde des Mitgliedstaates zu erbringenden Verwaltungsleistung gemäß Artikel 9 Absatz 3.die Benennung einer einzigen Behörde gemäß Artikel 14 Absatz 2, die ggf. in-nerhalb des Mitgliedsstaates eine koor-dinierende Funktion ausübt. Dies kann, gerade in stark föderalistisch geglieder-ten Mitgliedsstaaten, zu erheblichem Mehraufwand führen. die Vorlage der Unterstützungsbekun- dungen in elektronischer und in Papier-form wie gesammelt, wobei die Zuord-nung einer Unterstützungsbekundung zu einem Mitgliedstaat nach Artikel 9 Absatz 1 nach dem Aussteller des vom Unterstützer angegebenen Identitäts-dokumentes erfolgt, also faktisch im freien Ermessen des Unterstützers liegt. Auf die damit verbundene Problematik wird weiter unten in einem eigenen Ab-schnitt eingegangen.die Dreimonatsfrist für die Überprü- fung und Zertifizierung unabhängig von der Anzahl und dem Medium der

Unterstützungsbekundungen. Mangels Regelung muss davon ausgegangen werden, dass bei Ablauf dieser Frist die eingereichten Unterstützungsbekun-dungen als authentisch angenommen werden müssen, auch wenn die Behör-de untätig war bzw. die Überprüfung nicht abgeschlossen hat.die Unbestimmtheit der Überprüfung durch die Formulierung des Artikels 9 Absatz 2 „Die zuständigen Behörden überprüfen innerhalb von höchstens drei Monaten die vorgelegten Unter-stützungsbekundungen in angemesse-ner Form und stellen dem Organisator eine Bescheinigung entsprechend dem Modell in Anhang VII über die Zahl der gültigen Unterstützungsbekundun-gen für diesen Mitgliedstaat aus.“

In den nachstehenden Absätzen werden die sich daraus ergebenden Aufgaben und ihre mögliche Lösung für die jeweilige Verwaltungsbehörde eines Mitgliedstaates im Detail analysiert.

Unentgeltlichkeit

Anhand einer Prognose des Mengengerüs-tes kann der Aufwand pro Mitgliedstaat nur grob konservativ abgeschätzt werden:

Unter der Annahme, dass pro Jahr und 1. Mitgliedstaat zwei Europäische Bür-gerinitiativen initiiert werden und jede zweite davon erfolgreich ist (Erreichen einer Million Unterstützungsbekun-dungen innerhalb von zwölf Monaten), ergeben sich insgesamt 27 zu bearbei-tende Initiativen pro Jahr. Eine erfolgreiche Initiative wird im 2. Schnitt von angenommen zwei Mio. Unionsbürgern unterstützt, insgesamt sind somit 54 Mio. Unterstützungsbe-kundungen zu prüfen.Bei Gleichverteilung anhand der Be-3. völkerungsanteile ergeben sich damit für Österreich ca. 1,5 Prozent von 54 Mio., also 810.000 zu überprüfende Fälle jährlich. Im Falle Deutschlands wären es 8.640.000 Fälle bei 16 Pro-zent von 54 Mio.

VM 5/2010256

Müller-Török/Stein, Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

6 Die Behörde, welche die zwölf Monate nach Inkrafttreten der Verordnung vorliegenden technischen Spezifikationen zu überprüfen hat, muss allerdings bereits drei Monate nach deren Inkrafttreten benannt werden.

Aufgaben im Zusammenhang mit Online-Sammelsystemen nach Artikel 6

Überprüfung und Zertifi zierung von Unterstützungsbekundungen nach Artikel 9

Ausstellung einer Bescheinigung, dass ein Online-Sammelsystem den Bestimmungen des Artikels 6 Absatz 4 entspricht und zwar dass:

nur natürliche Personen eine 1. Unterstützungserklärung abgeben können,die Identität der Person überprüft werden 2. kann,Datensicherheit und Datenschutz 3. gewährleistet ist,die Kontrolle durch die Mitgliedsstaaten 4. ermöglicht wird.

Die zugrundeliegenden technischen Spezifi -kationen, welche durch die nationale Behörde zu prüfen sind, werden innerhalb von neun Monaten6 nach Inkrafttreten der Verordnung erlassen.

Die benannte nationale Behörde (eine!) erhält die Unterstützungsbekundungen in elektronischer oder in Papierform und über-prüft

binnen dreier Monate unentgeltlich in angemessener Form

und stellt dem Organisator eine Bescheini-gung aus.Der nationalen Behörde werden diejenigen Unterstützungsbekundungen vorgelegt, in denen ein Ausweispapier des jeweiligen Mitgliedstaates zur Legitimation angegeben wurde.

Zwei neue Aufgabenblöcke

Tab. 1: Von den Mitgliedstaaten zu benennende Behörden und deren Aufgaben bei der Umsetzung.

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Bei einer hälftigen Verteilung auf das 4. Online-Sammelsystem und auf die Papiersammlung wären es im Falle von Österreich 405.000, im Falle von Deutschland 4.320.000 Fälle pro Me-dium.Unter der widerlegbaren Annahme, 5. dass eine Prüfung der elektronisch vor-liegenden Unterstützungsbekundungen bei Nutzung vorhandener Informati-onssysteme zu Kosten von Null erfol-gen kann, bleibt für die in Papierform vorliegenden Unterstützungsbekun-dungen ein angenommener Aufwand von einer Minute pro Fall. Dies würde für Österreich bei einer angenomme-

nen Jahresarbeitszeit eines Beamten von 80.000 Minuten wenigstens fünf zusätzliche Planstellen erfordern, in Deutschland wenigstens 54 zusätzliche Stellen.Nicht berücksichtigt ist hierbei der ein-6. malige und laufende Aufwand, der für die Einrichtung der Verwaltungsabläu-fe, der notwendigen IT-Unterstützung etc. entsteht. In den ersten beiden Jahren des In-7. krafttretens der Verordnung ist mit ei-ner signifikant höheren Anzahl an Eu-ropäischen Bürgerinitiativen zu rechen sowie mit einzelnen Initiativen, welche mehrere -zig Millionen Unterstützungs-bekundungen erzielen werden7.

Die angenommene Minute pro Unter-stützungsbekundung setzt voraus, dass die Daten in einem geeigneten IT-System erfasst und überprüft werden, wobei Es-kalationen, also notwendige Klärungen und Abstimmungen, z.B. mit anderen Mit-gliedstaaten, nicht berücksichtigt sind. Bei Vorliegen des letztendlich rechtskräftigen Verordnungstextes muss eine erneute Ab-

Müller-Török/Stein, Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

schätzung vorgenommen werden, wobei sich das zugrundeliegende Zahlengerüst hierbei nicht wesentlich in Richtung weni-ger Aufwand bewegen wird. Der tatsäch-liche Überprüfungsaufwand richtet sich nach der Art der Überprüfung.

Verantwortlichkeit einer einzigen Behörde pro Mitgliedstaat

Insbesondere bei föderalistisch geglieder-ten Mitgliedstaaten wie Deutschland stellt sich das Problem, dass sie bereits Verein-barungen auf der Ebene der Kommissi-on zur Umsetzung der Richtlinie 93/109/EG bislang nicht nachkommen konnten

und die Daten dezentral an die anderen Mitgliedstaaten übermitteln lassen. Unter „dezentral“ ist hierbei nicht bundeslän-derweise, sondern in der Verwaltungspra-xis vielmehr gemeindeweise gemeint. Dies hat zur Folge, dass z.B. manche deutsche Gemeinden ihrer Verpflichtung zur Da-tenübermittlung gerecht werden, andere wiederum nicht. Jene Gemeinden, die ih-rer Pflicht nachkommen, bedienen sich aber wiederum höchst unterschiedlicher Methoden, die von Papierform über CDs bis zu einer Übermittlung via Internet rei-chen. Selbst für kleinere Mitgliedstaaten bedeutet dies, dass aus Deutschland eine Masse an Daten verschiedenster Medien, Formate und Absender zu bewältigen ist. In größeren Mitgliedstaaten kann die An-sammlung an Daten in der kurzen hierfür zur Verfügung stehenden Zeit praktisch nicht bewältigt werden, so dass die Daten ungeprüft „abgelegt“ werden müssen8. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass die Richtlinie 93/103/EG keine zentrale Behörde pro Mitgliedstaat als Ansprech-partner vorschreibt, sondern stets von „zuständigen Behörden“ spricht – und

»Dies würde für Österreich wenigstens fünf zusätzliche Planstellen erfordern, in Deutschland wenigstens 54 zusätzliche Stellen.«

somit eine etwaige innerstaatliche (zentra-le) Koordinationsfunktion den nationalen Gesetzgebern überlässt.

Mit einer unter der Deutschen Rats-präsidentschaft Anfang 2007 im Rat ein-geleiteten Initiative war beabsichtigt, die Richtlinie eingehend zu reformieren und insbesondere anstelle der systematischen Übermittlung der Daten auf Stichproben basierende Ex-ante- und Ex-post-Kont-rollen zu verankern. Das Vorhaben einer Änderung der Richtlinie nach erfolglosem Vorantreiben wurde durch die portugiesi-sche Präsidentschaft dann von der slowe-nischen Präsidentschaft auf die Zeit nach der Europawahl 2009 verschoben. Es ist unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit möglich sein wird, einen Konsens hinsichtlich einer Verbesserung der Richt-linie unter den Mitgliedstaaten zu erzielen, bislang wurde die angekündigte Initiative auch nicht ergriffen.

Neben den Problemen mit den in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschied-lichen Fristen treten auch immer wieder Probleme mit den diakritischen Zeichen-sätzen auf (z.B. kann der deutsche Fami-lienname Müller, in einem Mitgliedstaat, in dem die deutschen Umlaute nicht ge-bräuchlich sind, in den Datenbanken als Mueller, Muller oder doch als Müller ge-speichert sein). Im Herkunftsmitgliedstaat kann dies dazu führen, dass eine Person als nicht eingetragen gilt, obwohl sie in ei-nem Wählerverzeichnis eingetragen ist.

Parallel zu den im Rat gesetzten Initi-ativen sieht auch die Europäische Kom-mission weiterhin Handlungsbedarf. Um Unionsbürgern die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts zu erleichtern und eine höhere Wahlbeteiligung zu errei-chen, schlägt die Kommission vor, einige Bestimmungen der Richtlinie 93/109/EG zu ändern9.

VM 5/2010 257

7 So z.B. die von den sozialdemokratischen Parteien Deutschlands und Österreichs angekündigte EBI zum Thema europäische Finanztransaktionssteuer (vgl. SPD 2010).

8 Aus der Praxis der Abteilung für Wahlangelegenheiten des Bundesministerium für Inneres, Wahlabteilung, gestützt durch Europäische Kommission 2006, Gründe und Ziele des Vorschlags.

9 Vgl. Europäische Kommission 2006; Stein/Vogl/Wenda 2009, Anmerkung 4 zu § 13 EuWO.

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Im Oktober 2008 hat sich die Euro-päische Kommission bereits mit Blick auf die Europawahl 2009 neuerlich der In-suffizienz der Richtlinie angenommen. Es wurden unter den Mitgliedstaaten einige Vereinbarungen getroffen, die zu Verbesse-rungen beim Vollzug der Richtlinie anläss-lich der Europawahl 2009 führen sollen. Sie betrafen insbesondere spanische Fami-liennamen sowie Transkriptionsregelun-gen bezüglich griechischer Namen. Bei der Europawahl 2009 waren – wenigstens aus österreichischer Sicht – keinerlei Verbesse-rungen beim Datenaustausch feststellbar. Daher hat die Kommission im Juni 2010 ein weiteres Mal mit einer Expertenrunde ein „fact finding“ durchgeführt. Es ist zu hoffen, dass diese Initiative erfolgreicher verläuft als vergleichbare Anstrengungen der letzten 17 Jahre.

Zuordnung der Unterstützungsbekundungen anhand des Ausweispapiers

Der Verordnungsentwurf formuliert in Artikel 9, Absatz 1: „Eine Unterstützungs-bekundung ist dem Mitgliedsstaat vorzu-legen, der das darin angegebene Ausweis-papier ausgestellt hat.“ Im Anhang III sind als Ausweispapiere Personalausweis, Reisepass und Sozialversicherungsnummer (sic!) angeführt. Vor- und Zuname, Staats-angehörigkeit sowie Geburtsdatum und -ort sind vom Unterstützer auszufüllende

Pflichtfelder, keine Pflichtfelder sind hin-gegen über Ort und Land hinausgehende Angaben zur Anschrift.

Während Artikel 9 Absatz 1 klar vor-gibt, dass die Behörde des Mitgliedstaates, der das Ausweispapier ausgestellt hat, die Überprüfung durchzuführen hat, normiert Artikel 7 Absatz 3 „Unterzeichner gelten als aus dem Mitgliedstaat stammend, der das in ihrer Unterstützungsbekundung an-gegebene Ausweispapier ausgestellt hat“. Dadurch ergeben sich im Falle von z.B. Österreich einige mögliche Konstellatio-nen, die in Tabelle 2 aufgelistet sind.

Der zuletzt angeführte Fall erscheint aus demokratiepolitischer Sicht bedenk-lich. Eine z.B. slowakische oder deutsche Studentin arbeitet zur Studienfinanzierung in der Wintersaison in einem schwedi-schen Wintersportgebiet als Kellnerin oder als Skilehrerin. Sie wird in diesem Zeit-raum in Schweden sozialversichert, erhält eine schwedische Sozialversicherungsnum-mer und wird, bei Angabe als Ausweisdo-kument bei der Unterstützungsbekundung für eine EBI dem schwedischen Kontingent zugeordnet. Dies hat zur Rechtsfolge, dass die für eine nach Artikel 7 Absatz 2 im Zusammenhalt mit Anhang I notwendige Unterstützung durch mindestens 15.000 „Unterzeichner aus Schweden“ problem-los durch Unionsbürger erzielt werden kann, die faktisch keinen Bezug zu Schwe-

den ha-ben – we-der durch Wohnsi tz noch durch Staatsan-g e h ö r i g -keit. Glei-ches gilt für alle a n d e r e n Mitgl ied-s t a a t e n , insbeson-dere für diejenigen, die einen h o h e n Anteil an Saisonar-beitskräf-ten, Stu-dierenden

etc. aus anderen Mitgliedstaaten haben. Bei Wahlen zum Europäischen Parlament normierte der Rat, dass ein Anteil von 20 Prozent Unionsbürger im Wahlalter mit einer anderen Staatsangehörigkeit Ausnahmeregelungen des betreffenden Wohnsitzmitgliedstaats erlauben11. Solche Ausnahmeregelungen können z.B. die Bin-dung der Ausübung des Wahlrechts an bis zu fünf Jahren Wohnsitz (aktiv) bzw. bis zu zehn Jahren Wohnsitz (passiv) sein12. Der Verordnungsentwurf enthält keine derartigen Regelungen.

Die im ursprünglichen Green Paper der Europäischen Kommission angestrebte Zuordnung in Anlehnung an die Bestim-mungen zur Wahl des Europäischen Parla-mentes – Zitat „Member States can draw on their experience in managing the right to vote of such citizens in European Par-liament Elections“ – ist damit vollkom-

Müller-Török/Stein, Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

VM 5/2010258

10 Die zuletzt verhandelte Version des Entwurfs wür-de es Österreich ermöglichen, bei in Österreich vorgelegten Unterstützungsbekundungen auf Pass oder Personalausweis zu bestehen. Andere Mitgliedstaaten akzeptieren dieser Version nach vergleichsweise exotische Dokumente wie Seefahrerbücher oder von Militärbehörden ausgestellte Dokumente, aus denen nicht zwin-gend die Staatsangehörigkeit des ausstellenden Mitgliedstaates hervorgeht.

11 Rat der Europäischen Union 1993, S.3 und S.10, Artikel 14.

12 Rat der Europäischen Union 1993, S.10, Artikel 14.

Ausweispapier WohnsitzStaats-

angehörigkeitZuordnung Kommentar/Beispiel

Reisepass AT AT AT AT Regelfall

Reisepass ATanderer

MitgliedstaatAT AT

Betrifft mehrere hunderttausend Auslandsösterrei-cher, v.a. in Deutschland.

Reisepass AT außerhalb der EU AT ATKontakt zu österreichischen Behörden im Extrem-fall alle zehn Jahre bei Ausstellung eines neuen Reisepasses.

Reisepass AT oder Personalausweis AT

n/a mehrere ATSofern eine weitere Unionsbürgerschaft existiert, ist den österreichischen Behörden diese häufi g nicht bekannt.

Personalausweis AT AT AT AT Regelfall

Personalausweis ATanderer

Mitgliedstaat/außerhalb der EU

AT ATPersonalausweise werden nur in AT ausgestellt, die Mehrheit der Auslandsösterreicher verfügt über keinen Personalausweis.

Sozialversicherungs-nummer10

AT n/a AT Eine Überprüfung ist möglich.

Sozialversicherungs-nummer

anderer Mitglied-staat oder außer-

halb der EUn/a AT

Hier kann nur überprüft werden, ob irgendwann im Leben des Unionsbürgers eine österreichische Sozialversicherungsnummer zugeordnet wurde.

Tab. 2: Zuordnung von Unterstützungsbekundungen

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men aufgehoben13. Zur Notwendigkeit einer klaren Zuordnung anhand von ent-weder Staatsangehörigkeit oder (Haupt-)Wohnsitz gab es auch entsprechende Stel-lungnahmen im Konsultationsverfahren, welche auf die Gefahren doppelter Unter-stützungsbekundungen durch Mehrfach-staatsbürger etc. detailliert aufzeigten14. Dies ist auch konsistent mit der bisherigen Regelung, die Richtlinie 93/109/EG unter-scheidet zwischen Wohnsitzmitgliedstaat und Herkunftsmitgliedstaat15.

Da die Unterstützungsbekundungen von den Organisatoren der EBI der Behör-de vorgelegt werden, kann sich eine Über-prüfung letztendlich nur darauf erstre-cken, ob das angegebene Ausweispapier und die übermittelten Daten des – angebli-chen – Unterstützers mit den entsprechen-den Daten einer tatsächlich existierenden Person übereinstimmen. Folgende, weiter-gehende Überprüfungen sind, wenigstens im Falle des Mitgliedstaates Österreich, nicht machbar:

eine Überprüfung der Echtheit einer in Papierform abgegebenen Unterstüt-zungsbekundungeine Überprüfung der Echtheit einer im Online-Sammelsystem abgegebenen Unterstützungserklärung, dies kann erst nach Vorliegen der technischen Spezifikationen und vor allem des ge-forderten Authentifizierungsverfahrens beurteilt werdenÜberprüfung auf mehrfach abgegebene Unterstützungsbekundungen, da nur die Daten von Unterstützern mit von Österreich ausgestellten Ausweisdo-kumenten übermittelt werden. Eine z. B. unter Angabe einer deutschen Sozi-alversicherungsnummer abgegebene Unterstützungsbekundung der gleichen Person wird den deutschen Behörden vorgelegt, eine von einem österrei-chisch-französischen Doppelstaats-bürger mit seiner französischen Carte d‘identité abgegebene zweite Unterstüt-zungsbekundung an die von Frankreich benannte Behörde.Überprüfung, ob die Person zwischen dem Zeitpunkt der Überprüfung und dem Zeitpunkt der angeblichen Unter-stützungsbekundung überhaupt noch lebt(e) oder die Staatsbürgerschaft be-saß, den Wohnsitz wechselte etc. Durch die beabsichtigte Frist von 12 Monaten für die Sammlung von Unterstützungs-

bekundungen ist die einzige seitens der österreichischen Behörde belastbar zu tätigende Aussage, dass das Ausweisdo-kument tatsächlich ausgestellt wurde.

Eine Überprüfung, ob die Person zum Zeitpunkt der Unterstützungsbekundung das Wahlrecht zum Europäischen Parla-ment besaß, ist in Anbetracht der Kons-tellationen aus Tabelle 2 sinnlos, da nur überprüft werden kann, ob die Person im österreichischen Wählerverzeichnis für die Wahlen zum Europäischen Parlament eingetragen war/ist – und die Nichtein-tragung rechtlich irrelevant ist. Mit Blick

auf den Umstand, dass in vielen Mitglied-staaten ein Register der Wahlberechtigten nicht vorhanden ist und erst kurz vor der Wahl durch Registrierung der Wähler neu erstellt wird, wäre eine solche Überprü-fung in vielen Fällen auch nicht möglich

Dreimonatsfrist

Die Dreimonatsfrist erscheint, wenigstens aus österreichischer Sicht, kein unlösbares Problem für die Verwaltung darzustellen. Offen ist allerdings, wie mit erkannten Fehlern in den vorgelegten Unterstüt-zungsbekundungen umgegangen werden soll. In den folgenden Fällen kann es not-wendig sein, mit dem Organisator der EBI oder mit anderen Behörden Kontakt auf-zunehmen:

Offensichtliche Schreib- oder Tippfeh- ler in der Unterstützungsbekundung, z.B. ein Ziffernsturz in der Sozialversi-cherungsnummer (enthält das Geburts-datum) und der anhand des ebenfalls vorliegenden Geburtsdatums amtlich berichtigt werden könnte.Sachliche Fehler in der Unterstützungs- bekundung, so könnte z.B. ein kroa-

tisch-österreichischer Doppelstaatsbür-ger zwar seine österreichische Perso-nalausweisnummer angeben, aber bei Staatsangehörigkeit „Kroatien“ einge-tragen haben.Abgelaufene Ausweispapiere: Es ist nicht geregelt, ob z.B. ein abgelaufener Reisepass als Ausweispapier anerkannt werden soll.Mehrsprachigkeit: Dem Inhaber eines österreichischen Ausweispapiers bliebe es unbenommen, insbesondere bei der Sammlung in Papierform, aber auch beim Online-Sammelsystem, die Unter-stützungsbekundung nicht in deutscher

Sprache abgeben. Alleine durch Anga-be des Wohn- oder Geburtsortes Wien in ungarischer Sprache (Bécs) oder in slowakischer Sprache (Vieden) oder in französischer Sprache (Vienne) wäre zu hinterfragen, ob hier die Unterstüt-zungsbekundung zurückzuweisen oder zu akzeptieren ist. Umbenennungen von Orten im Zuge der Ereignisse um 1989, z.B. von Karl-Marx-Stadt nach Chemnitz oder von Berlin (West) nach Berlin, können bei Geburtsorten eben-falls zu Mehraufwänden bei der Über-prüfung führen.

Dieser so entstehende Schriftverkehr wür-de die Dreimonatsfrist möglicherweise übersteigen. Auch ist nicht geregelt, ob die Zurückweisung einer Unterstützungsbe-kundung in der nach Art. 9 Absatz 2 bzw. Anhang VII auszustellende Bescheinigung der nationalen Verwaltungsgerichtsbarkeit unterliegt, also wie Differenzen zwischen

Müller-Török/Stein, Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

VM 5/2010 259

»Die Überprüfung der Einmaligkeit der Unterstützungsbekundungen ist, basierend auf den Erfahrungen mit der Umsetzung der Richtlinie 93/109/EG, nicht durchführbar.«

13 Europäische Kommission 2009, S.10.

14 Vgl. Prosser/Müller-Török 2009, S. 2ff.

15 Rat der Europäischen Union 1993, S. 4, Artikel 2.

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dem Organisator und der Behörde verwal-tungsrechtlich auszutragen sind – was die Fristenläufe verlängern würde.

Angemessene Form der Überprüfung

Welche Punkte zu überprüfen sind, kön-nen dem Verordnungsentwurf entnommen werden, wobei zwischen Sammlung und Übermittlung von Unterstützungsbekun-dungen in elektronischer und in Papier-form unterschieden werden muss (s. Tab. 3)

Unter der Annahme, dass der benann-ten Behörde Originalunterschriften, z.B. aus dem Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses vorliegen, sind folgende Pro-blempunkte des Schriftvergleiches zu be-achten18:

Beide Unterschriften, sowohl auf der Unterstützungsbekundung als auch auf dem Vergleichsdokument der Behörde,

sollen in guter Qualität (Original, ohne Überstempelungen etc.) und in 200- bzw. 250prozentiger Vergrößerung vor-liegen.Richtlinien des deutschen Bundeskri- minalamtes empfehlen etwa 20 unbe-fangene Vergleichsunterschriften, die möglichst zeitnah zur zu prüfenden Unterschrift entstanden sein sollen. Ein zeitlicher Rahmen von insgesamt zehn Jahren (für alle Vergleichsunterschrif-ten) ist tolerierbar.Gutachten formulieren die Ergebnisse in Form von Wahrscheinlichkeitsaus-sagen, wobei festgelegt werden muss, ob nur die Aussagen „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ (ent-spricht 99,9 Prozent), „mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit“ (ab 99 Prozent) und „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ (über 90 Prozent) gelten oder ob auch „wahrscheinlich Urheberidentität“ (75 Prozent) für eine Gültigkeit der Un-

Müller-Török/Stein, Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

VM 5/2010260

terstützungsbekundung herangezogen werden soll.Schriftvergleich ist eine forensische Wissenschaft, die von Spezialisten durchgeführt wird. Entsprechende Kos-ten muss die jeweils überprüfende na-tionale Behörde tragen, deren Beamte üblicherweise nicht in dieser Wissen-schaft ausgebildet sind.

16 Infolge der zahlreichen EU-Beitritte der letz-ten zwei Dekaden ist eine österreichische Sozialversicherungsnummer, ausgestellt 1988 für einen jugoslawischen Staatsbürger, in Anwendung des publizierten Entwurfs der Verordnung ein gültiger Nachweis für die EU-Bürgerschaft eines slowenischen Staatsangehörigen und eine gülti-ge Unterstützungsbekundung für das österreichi-sche Kontingent nach Anhang I.

17 Es wäre denkbar, z.B. ein PIN-/TAN-Verfahren oder eine benutzer-ID-basierte Unterstützungsbekundung einer entsprechenden Organisation, wie z.B. der Miles&More-Konten der Lufthansa oder des Online-Bankings einer eu-ropäischen Bank zu akzeptieren.

18 Vgl. Seibt 2004, S.1ff.

Datum zu prüfender Sachverhalt Elektronisches Verfahren Papierverfahren

Ausweisdokument Übereinstimmung mit einem vom Mitgliedstaat ausgestellten Ausweisdokument16

Anhand Abgleich mit maschinell gespeicherten Daten der Pass- und Personalausweis- bzw. Sozialversiche-rungsbehörden auf Übereinstimmung

Wie bei elektronischem Verfah-ren, zusätzlich manuelle Erfas-sung der Daten durch Personal der Behörde

Name, Geburts daten Übereinstimmung mit den zum ausgestellten Ausweisdokument gespeicherten Informationen

Im obigen Prüfschritt enthalten Im obigen Prüfschritt enthalten

Staatsangehörigkeit EU-Staatsangehörigkeit Formalprüfung, da irrelevant für die Zuordnung und die Gültigkeit der Un-terstützungsbekundung

Formalprüfung, da irrelevant für die Zuordnung und die Gültigkeit der Unterstützungsbekundung

Einmaligkeit der Unterstützungs bekundung

Wurde mehrmals in elektroni-scher und/oder Papierform eine Unterstützungsbekundung ab-gegeben?

innerhalb des übermittelten Datenbestandes pro Mitgliedstaat prob-1. lemlos möglich gegenüber dem auf Papier an die gleiche Behörde übermittelten Daten-2. bestand möglich, aber aufwändiggegenüber den an die 26 Behörden der anderen Mitgliedstaaten über-3. mittelten elektronischen Datenbestände nur auf Basis einer rechtlichen Grundlage möglich, aber machbargegenüber den an die 26 Behörden der anderen Mitgliedstaaten 4. übermittelten Papierunterstützungserklärungen nur auf Basis einer rechtlichen Grundlage und mit hohem Aufwand machbar – setzt eine Kompletterfassung aller Papier-Unterstützungsbekundungen in elekt-ronischer Form voraus.

Unterschrift und Datum Authentizität Nur bei einer qualifi zierten elektro-nischen Unterschrift oder rechtlich gleichwertigem Verfahren17 möglich. Vordatierte Unterstützungsbekundun-gen können nur bei entsprechendem Verfahren (time-stamp und digitale Signatur jeder Unterstützungsbekun-dung durch einen vorgegebenen Refe-renzserver) erkannt werden.

Faktisch nicht überprüfbar, siehe nächster Absatz. Vordatierte Un-terstützungsbekundungen kön-nen keinesfalls erkannt werden.

Tab. 3: Zu überprüfende Sachverhalte

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Eine Überprüfung der Unterschrift gegen-über einer vorliegenden Vergleichsunter-schrift durch die nicht ausgebildeten Be-amten der nationalen Behörden erscheint nicht zielführend.

Die häufig in den Beratungen des Ent-wurfs, insb. in Ratsarbeitsgruppen, ins Spiel gebrachte Überprüfung anhand von Stichproben ist aus zwei einfachen Grün-den praktisch zweifelhaft:

Ist eine mit statistischen Verfahren er-1. reichbare Aussage wie z.B. „anhand der Überprüfung Stichprobe von n sind die vorgelegten m Unterstützungsbe-kundungen innerhalb eines 95prozen-tigen Konfidenzintervalles gültig“ ein rechtliches Nullum und mit der von der Behörde auszustellenden Beschei-nigung im Anhang VII nicht vereinbar. Ebenso erscheint z.B. eine stichproben-artige Überprüfung der Authentizität einer Unterschrift auf einer Papier-Un-terstützungsbekundung unzweckmäßig, da das Ergebnis dieser Untersuchung ebenfalls eine Wahrscheinlichkeitsaus-sage ist, z.B. „wahrscheinlich Urheberi-dentität“.Um aus einer Stichprobe eine eventu-2. elle Mehrfachunterstützung identifizie-ren zu können, ist das Vorliegen aller Unterstützungsbekundungen aller Be-hörden der Mitgliedsstaaten, auch der auf Papier geleisteten, in elektronischer Form erforderlich. Wenn aber alle Un-terstützungsbekundungen elektronisch vorliegen, sind die Kostenvorteile einer Stichprobenprüfung gegenüber einer Vollprüfung nicht mehr signifikant.

Es ist offen, inwieweit die endgültige Verordnung, sofern die Überprüfung an-hand von Stichproben bestehen bleibt, detaillierte Vorgaben für dieses Überprü-fungsverfahren beinhaltet. Im Sinne einer gleichmäßigen Überprüfung in den 27 Mitgliedsstaaten sind aus Gründen der Rechtssicherheit Vorgaben wünschens-wert.

Die Überprüfung der Einmaligkeit der Unterstützungsbekundungen ist, basierend auf den Erfahrungen mit der Umsetzung der Richtlinie 93/109/EG, nicht durch-führbar. Da leg. cit. keine Datenformate, Medien oder Termine vorschreibt, haben sich in der Verwaltungspraxis zwar eini-ge De-facto-Standards ergeben, allerdings liegt sowohl die Übermittlung der Infor-mationen durch den Wohnsitzmitglied-staat als auch die Verarbeitung durch den Herkunftsmitgliedstaat faktisch im freien Ermessen des jeweiligen Staates.

Ein wesentliches Problem bleibt in je-dem Falle bestehen: Massive Fälschung von Unterstützungsbekundungen auf Ba-sis von gestohlenen oder illegal verwende-ten personenbezogenen Daten durch den Organisator können zumindest bei der Prüfung der in Papierform abgegebenen Unterstützungsbekundungen nur durch Zufall erkannt werden. Ebenso wenig die Abgabe von Unterstützungsbekundungen für andere Personen ohne deren Wissen durch Einzelpersonen.

Das einzige belastbare Ergebnis der Überprüfung einer Unterstützungsbekun-dung ist, dass ein Ausweispapier tatsäch-

lich für eine Person mit den auf der Un-terstützungsbekun-dung angegebenen Daten ausgestellt wurde.

Mögliche Strategien für Mitgliedstaaten

Aus Sicht der natio-nalen Verwaltungen wäre der Idealzustand gekennzeichnet durch

das Vorliegen eines europaweiten

und gepflegten Wählerregisters für die Wahlen zum Europäischen Parlament, welches alle zur Unterstützung einer EBI berechtigten Bürger Europas ent-hält,eine klare Zuordnungsregel für jeden einzelnen Bürger zu genau einem Mit-gliedstaat, zu dessen Kontingent die Unterstützungsbekundung gezählt wer-den muss, eine verlässliche digitale Signatur als verpflichtendem Bestandteil einer mit-tels Online-Sammelsystem abgegebenen Unterstützungsbekundung,Vorlage der auf Papier gesammelten Unterstützungsbekundungen in elek-tronischer oder wenigstens maschi-nenlesbarer Form, z.B. durch die Ver-wendung von genormten Formularen, die mit vertretbarem Aufwand über marktübliche Texterkennungssoftware – Stichwort OCR – eingelesen werden können.

Da diese Punkte aller Voraussicht nach nicht Bestandteil der endgültigen Verord-nung werden, bleiben den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung verschiedene Strategi-en/Handlungsspielräume (s. Tab. 4).

Durch die Umsetzung der Europäischen Bürgerinitiative auf Basis des vorliegenden Entwurfes erhalten die nationalen Behör-den zusätzliche Aufgaben in Größenord-nungen, deren Ergebnis in Abhängigkeit von Art, Umfang und Aufwand der zu rechtlich zweifelhaften Ergebnissen führt. So kann ein wesentliches Qualitätskriteri-um für eine Bürgerinitiative, nämlich die Authentizität der Unterstützungsbekun-dung, auf Basis des vorliegenden Entwur-

Müller-Török/Stein, Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

VM 5/2010 261

Formelle Minimalprüfung Abgleich mit den 26 anderen Mitgliedstaaten

Prüfung auf Plausibilität der Angaben auf den Unterstüt-zungserklärungen in Form einer

„harten Prüfung“ mit Ausscheiden bei kleinen Fehlern, wie z.B. falsche Schreibweise des Geburtsortes und wenigstens stichprobenartiger Prüfung der Unterschrift bei Papier-Unterstützungsbekundungen,„weichen Prüfung“, wo nur bei groben Fehlern wie z.B. Nichtexistenz des angegebenen Ausweisdokumentes ausgeschieden wird.

Im Falle des Vorliegens einer digitalen Signatur ist zu-sätzlich deren Echtheit zu prüfen. Ein Abgleich auf dop-pelte Unterstützungsbekundungen erfolgt nur innerhalb des dem einzelnen Mitgliedstaates übergebenen Daten-bestandes.

Die benannte nationale Behörde prüft Mehrfachunter-stützungen gegenüber den Datenbeständen/Papier-Unterstützungsbekundungen der 26 anderen Mitglied-staaten wenigstens stichprobenartig auf Basis

einer Ermächtigung durch die endgültige Verordnung auf Basis von bilateralen Abkommen (351 für Vollständigkeit erforderlich).

Sollte ein Abgleich innerhalb der 27 Mitgliedsstaaten gewünscht sein, so muss er ebenfalls innerhalb der 3-Monats-Frist erfolgen.

Ausstellung der Bescheinigung

Tab. 4: Strategien der Mitgliedstaaten für die Umsetzung

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fes nur mit einem sehr hohen Aufwand seitens der nationalen Behörde erreicht werden. Da die nationale Behörde gratis, d.h. ohne Aufwandsvergütung durch den Organisator oder die EU tätig ist, wird dieser Aufwand möglicherweise gescheut werden. Vor allem dann, wenn die 27 Mitgliedstaaten in Art und Intensität un-terschiedliche Prüfungen vornehmen. Die Legitimität des durch den Vertrag von Lissabon eingeführten neuen Instrumentes wird darunter vermutlich zu leiden haben.

Müller-Török/Stein, Die Europäische Bürgerinitiative aus Sicht nationaler Wahlbehörden

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Literatur

Bundesrat (2010): Drucksache 841/09 (Be-schluss) vom 12.2.2010 zum Grünbuch der Kom-mission der Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Bürgerinitiative, Berlin.Europäische Kommission (2006): Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, KOM(2006) 791 endg., Brüssel.Europäische Kommission (2009): Green Paper on a European Citizens‘ Initiative, Dokument-nummer COM(2009) 622, Brüssel 11.11.2009.Europäische Kommission (2010):Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Bürgerinitiative, Do ku-ment nummer SEC(2010) 370, Brüssel 31.03.2010.Prosser, A./Müller-Török, R. (2009): European Citizens‘ Initiative – A comment on the issues raised by the European Commission Green Paper, http://ec.europa.eu/dgs/secretariat_ge-neral/citizens_initiative/docs/prosser_mueller_toeroek_en.pdf; abgefragt am 4.06.2010.

Rat der Europäischen Union (1993): Richtlinie 93/109/EG des Rates vom 6. Dezember 1993 über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für Unionsbürger mit Wohnsitz in einem Mitgliedsstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen, Amtsblatt Nr. L 329 vom 30/12/1993, http://www.bundeswahlleiter.de/de/europawahlen/downloads/rechtsgrundla-gen/richtlinie_93_109_EG.pdf; abgefragt am 22.06.2010.Seibt, A. (2004): Qualitätsmerkmale foren-sischer Schriftgutachten, in: Zeitschrift für Schriftpsychologie und Schriftvergleichung 68, S. 44-62.Stein, R./Vogl, M./Wenda, G. (2009): EuWO – Europawahlordnung mit Europa-Wähler-evidenzG, 2. Auflage idF der Novelle 2009, Sonderausgabe, Verlag Manz, Wien.SPD (2010): Spekulationssteuer: SPD und SPÖ für Europäische Bürgerinitiative, http://www.spd.de/de/aktuell/nachrichten/2010/05/Spekulationssteuer-SPD-und-SPOe-fuer-Europaeische-Buergerinitiative.html ; abgefragt am 4.06.2010.

Governance und RaumHeiderose Kilper (Hrsg.)

Nomos

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Governance und RaumHerausgegeben von Prof. Dr. Heiderose Kilper2010, 250 S., brosch., 39,– €, ISBN 978-3-8329-5743-8

Das Governance-Konzept für ein besseres Verständnis der sozialen Konstruktion von Räumen zu nutzen – diesem Erkenntnisinteresse nähert sich die Publikation mit ihren Beiträgen, indem sie die bisher dominierenden politik- und wirtschafts-wissenschaftlichen Perspektiven im Governance-Diskurs mit kommunikations- und raumwissenschaftlichen verknüpft.

Mit Beiträgen von: Matthias Bernt, Gabriela B. Christmann, Ludger Gailing, Oliver Ibert, Heiderose Kilper, Hans Joachim Kujath, Heike Liebmann, Gerhard Mahnken, Timothy Moss, Jan Prömmel, Suntje Schmidt und Axel Stein.

Mit Kommentaren und Reflektionen von: Arthur Benz, Joachim Blatter und Dietrich Fürst.

Die Herausgeberin ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Regionalentwicklung und Strukturplanung (IRS) e.V. und Inhaberin des Lehrstuhls Stadt- und Regional-entwicklung an der BTU Cottbus.

Governance und die soziale Konstruktion von Raum

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Verwaltung und Management16. Jg. (2010), Heft 5, S. 263-271

263

Matthias BartelsPfarrer

Die kirchlichen Verwaltungsämter stehen im Spannungsfeld von kirchli-chem Auftrag, hoheitlichen Aufgaben und Effizienz, wobei der Anspruch immer größer wird, insbesondere die Pfarrämter als Kunden zu sehen und schnelle, korrekte und zugewandte Dienstleistungen für sie zu er-stellen. Hierzu sind straffe Prozesse und klare Aufgabenzuordnungen wichtige Voraussetzungen. In diesem Beitrag wird anhand der landes-kirchlichen Verwaltung der Pommerschen Evangelischen Kirche bei-spielhaft untersucht, wie die Pfarrämter als primäre Abnehmer der lan-deskirchlichen Verwaltungsleistungen die Dienstleistungsqualität des kirchlichen Verwaltungsamts einschätzen und welche Prozesse zu ihrer Qualität beitragen. Weiterhin werden Vorschläge für eine verbesser-te Prozessorganisation gegeben, die durchaus auf andere Kirchen und Verwaltungen übertragbar sind.

Reformen in der kirchlichen Verwaltung

Steffen Fleßa/Kathleen Braun/Matthias Bartels/Michael Herbst

Einleitung

Die 22 Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) gehören mit etwa 25 Millionen Christen zu den größ-ten Nonprofit Organisationen, die auch aus ökonomischer Sicht höchst interessant sind. Im Jahr 2007 beschäftigten sie (ohne Diakonie) zusammen 216.000 hauptamt-

sourcenverschwendung zu vermeiden und damit den kirchlichen Auftrag bestmög-lich zu erfüllen. Tatsächlich bestehen in je-der Kirche und in der EKD Verwaltungen, die jedoch bislang wenig wissenschaftlich analysiert wurden.

Dies verwundert zum einen, da sowohl von ökonomischer als auch von theolo-gischer Seite ein steigendes Interesse an Fragen im Schnittfeld der beiden Wissen-schaften entstanden ist. Noch 1996 hatte Alfred Jäger die „Ökonomie als besonders theologiefremde Handlungswissenschaft“2 bezeichnet, denn insbesondere der harte Kern ökonomischer Theorie und Praxis, der angestammte Bereich der Betriebs-wirtschaftslehre, wird [...] noch kaum berührt“.3 Er selbst wagte zuerst auch nur einen Blick auf die „Diakonie als christli-ches Unternehmen“ (Titel), da hier offen-sichtlich eine Marktbeziehung diakoni-scher Dienstleistungen besteht. Erst in den 1990er Jahren sind Publikationen erschie-nen, die sich intensiv mit der Rolle der Be-triebswirtschaftslehre in der Kirche ausei-nandersetzen.4 In der Regel beschränken sich diese Analysen jedoch auf die ethische Dimension der wahrgenommenen „Öko-nomisierung in der Kirche“.5 Die einzige Funktionallehre der Betriebswirtschafts-lehre, die breitere Beachtung in der Theo-logie und der Kirchenführung findet, ist das so genannte „Kirchenmarketing“6, das den Vorsatz hat, Methoden der zielgrup-pengenauen Adressierung der Bevölkerung

liche Mitarbeitende – hinzu kommen rund eine Million Ehrenamtliche – und verfüg-ten gemeinsam über ein Jahresbudget von knapp zehn Milliarden Euro.1 Angesichts dieser Finanzvolumina und der großen Zahl der Mitarbeitenden erscheint ein professionelles Management bzw. die An-wendung moderner verwaltungswissen-schaftlicher Methoden zwingend, um Res-

1 EKD 2009, S. 122.

2 Jäger 1986, S. 15.

3 Jäger 1986, S. 17.

4 Degen 1994; Garhammer 1998; Kreutzkam 1998; Nethöfel 1998; Fetzer, Grabenstein & Müller 1999.

5 Forssmann 1999; Gräb-Schmidt 1999.

6 Abromeit et al. 2001; Mödinger 2001; Raffée 2001.

Prozessmanagement in einer Pommerschen Evangelischen Kirche

Prof. Dr. Steffen Fleßa Lehrstuhl für Allgemeine Betriebs-wirtschaftslehre und Gesundheits-management, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald

Prof. Dr. Michael Herbst

Lehrstuhl für Praktische Theologie, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald

Kathleen Braunehem. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebs-wirtschaftslehre und Gesundheits-management, Ernst Moritz Arndt Universität Greifswald

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mit kirchlichen Leistungen der Verkündi-gung, der Gemeinschaft und der Diakonie für die kirchlichen Lebensäußerungen in Wert zu setzen. Abgesehen von den klas-sischen Handreichungen zur Interpretati-on des jeweiligen Kirchenrechts7 bestehen jedoch keine wissenschaftlich fundierten betriebswirtschaftlichen Studien, die sich mit Prozessen in kirchlichen Verwaltungen befassen.

In diesem Beitrag wird anhand der lan-deskirchlichen Verwaltung der Pommer-schen Evangelischen Kirche beispielhaft untersucht, wie die Pfarrämter als primä-re Abnehmer der landeskirchlichen Ver-waltungsleistungen diese einschätzen und welche Prozesse zu ihrer Qualität beitra-

gen. Die Ausführungen beruhen auf einer umfangreichen Organisationsstudie in die-ser Gliedkirche. Im folgenden Kapitel wer-den der Forschungsgegenstand sowie die Methodik der Studie in Grundzügen dar-gestellt. Es folgt eine Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse. Die Arbeit schließt mit einigen Empfehlungen, die sowohl konkrete Ansätze zur Umsetzung in der untersuchten Kirchenverwaltung umfassen als auch generelle Bemerkungen zum Dienstverständnis in der EKD.

Methodik

Die vorliegende Organisationsstudie wur-de in der landeskirchlichen Verwaltung der Pommerschen Evangelischen Kirche (PEK) durchgeführt. Die PEK ist derzeit mit etwa 100.000 Mitgliedern die kleinste Gliedkirche der EKD, wobei ihr Kirchen-gebiet sich über eine vergleichsweise gro-ße Fläche von 7.707 qkm erstreckt.8 Die Kirchenverwaltung steht vor der Heraus-forderung, ihre Dienstleistungen für 280

Kirchengemeinden bzw. 120 Pfarrstellen, zentrale Dienste und Werke (z.B. Diako-nie, Frauenwerk, Mission) sowie assoziier-te Aufgaben (z.B. Denkmalschutz, Religi-onsunterricht) mit Kirchensteuernmitteln von durchschnittlich 56 Euro pro Gemein-demitglied aufrecht zu erhalten – ein Wert, der nur etwa 40 Prozent des EKD-Mittels beträgt. Eine effiziente Kirchenverwaltung ist deshalb gerade für diese Kirche von existentieller Bedeutung, denn Verschwen-dung knapper Ressourcen kann sich die PEK nicht leisten.

Aus diesem Grunde wurde im Jahr 2008 die hier beschriebene Organisati-onsanalyse mit dem Ziel durchgeführt, die Kirchenverwaltung zu befähigen, ih-

ren Auftrag noch besser zu erfüllen. Die Analyse erstreckt sich ausschließlich auf das Verwaltungsdezernat des Konsisto-riums, d.h., die Verwaltung der Kirchen-gemeinden, der Superintendenturen, der Dienste und Werke, der Bischofskanzlei sowie weiterer Funktionen (z.B. Theolo-gie) wurden bewusst vernachlässigt, um die Studie überschaubar zu halten. Ziel der vorliegenden Analyse ist es, den Grad der Funktionserfüllung des Verwaltungs-dezernats zu bestimmen und Vorschläge zur Verbesserung zu unterbreiten. Die Tä-tigkeit der Verwaltung wird hierbei als Be-reitstellung von Dienstleistungen definiert, wobei der Begriff Dienstleistung lediglich das Gegenteil der Sachleistung umschreibt und sowohl reine Serviceleistungen (z.B. Beratung, Buchung) als auch hoheitliche Aufgaben (z.B. Denkmalschutz, Aufsicht, Genehmigung) umfasst.

Die Organisationsstudie wurde von den Autoren geleitet und mit Hilfe von weite-ren Wissenschaftlern durchgeführt. Die

Studiendauer betrug vier Monate (Febru-ar-Mai 2008). Von Beginn an wurde die Organisationsberatung durch eine Begleit-gruppe unterstützt und verantwortet, die sich aus Mitgliedern des Konsistoriums (u.a. der Verwaltungsleiter), einem Super-intendenten, einer Gemeindepfarrerin und einem Mitarbeiter eines Instituts für Prak-tische Theologie zusammensetzte. In die-ser Begleitgruppe wurden die zu untersu-chenden Sachverhalte und Problemfelder sowie die Methodik diskutiert und festge-legt. Abschließend nahm die Begleitgrup-pe die Ergebnisse als auftragskonform, korrekt und zielführend ab. Weiterhin war die Mitarbeitervertretung (MAV) von Anfang an einbezogen. Die Abschlussprä-sentation und Diskussion der Ergebnisse erfolgte in einer gemeinsamen Sitzung von Begleitgruppe und MAV. Die vorliegenden Ergebnisse wurden abschließend im Kon-sistorium, in der Kirchenleitung, in der Mitarbeiterversammlung sowie im Finanz-ausschuss präsentiert und diskutiert.

Die Beurteilung der Verwaltungsprozes-se basierte auf unterschiedlichen Quellen. Erstens wurde eine Dokumentenanalyse vollzogen, d.h. auf Grundlage bestehender Dokumente und Akten wurden Ablauf- und Zeitanalysen durchgeführt sowie das Leistungsportfolio validiert. Hierzu ge-hören u.a. Aktenplan, Akten über Kauf-, Pacht- und Bauverträge, Buchungsbelege und Rechnungen, Geschäftsverteilungs-plan, Postlaufordnung, Postfilter, Handrei-chung zur Schriftgutverwaltung, Hausver-fügung, kirchenaufsichtliche Genehmigun-gen, Krankenstatistiken, Stellenplan und (soweit vorhanden) Tätigkeitsbeschrei-bungen. Zweitens wurde die Dauer des Postumlaufs mit Hilfe eines hierfür ent-worfenen Formblattes analysiert. Drittens wurden Kennzahlen erstellt (z.B. Verwal-tungsvorgänge pro Mitarbeitenden einer Abteilung) und mit den entsprechenden Statistiken aus benachbarten Landeskir-chen verglichen.

Auf Grundlage des Studiums der Ver-waltungsdokumente, des Postumlaufs und der Interviews wurden für jede Abteilung

VM 5/2010264

Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

7 Braun 2002.

8 Evangelisch-Lutherische Landeskirche Meck len-burgs, Nordelbische Evangelisch-Lutherische Kirche & Pommersche Evangelische Kirche 2008, S. 30-31.

»Ziel der vorliegenden Analyse ist es, den Grad der Funktionserfüllung des Verwaltungsdezernats zu bestimmen und Vorschläge zur Verbesserung zu unterbreiten.«

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(Finanz-, Personal-, Bau- und Grund-stücksabteilung) Prozesse identifiziert, die besonders häufig, wichtig und problem-trächtig sind. Diese Prozesse wurden mit Hilfe einer Tätigkeitsanalyse und einer Zeitanalyse dargestellt und bewertet. Da die Organisationsstudie jedoch Probleme und Herausforderungen herausarbeiten sollte, die nicht nur sachlich bedingt sind, stellten die Interviews den Schwerpunkt der Erhebungsphase der Analyse dar.

Viertens wurden standardisierte Inter-views mit den Führungskräften, mit allen Mitarbeitenden des Verwaltungsdezernats sowie mit einigen Pfarrerinnen und Pfar-rern geführt. Im Rahmen der Befragung der Leitungsebene wurden 60-minütige Gespräche über grundlegende Verwal-tungsleistungen, deren Abläufe sowie Pro-blemfelder und -ursachen mit sieben Füh-rungskräften (u.a. Bischof, Verwaltungs-leiter, Superintendenten) durchgeführt, da

Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

sie nicht nur als Mitglieder des Konsisto-riums verantwortlich für die Qualität des Verwaltungsdezernats, sondern zum Teil auch Auftraggeber und Abnehmer seiner Leistungen sind.

Anschließend erfolgten jeweils 60-mi-nütige Interviews mit allen Mitarbeiten-den dieses Dezernats. Der erste Teil des Gespräches beschäftigte sich mit den Ar-beitstätigkeiten. Hierbei wurde nach der Häufigkeit, Problemträchtigkeit, Schwie-rigkeit und Wichtigkeit der zu erfüllen-den Verwaltungsaufgaben gefragt. Die Antworten dienten als Grundlage für die Portfolio- und Prozessanalyse. Des Weite-ren wurden die Mitarbeitenden gebeten, Rahmenbedingungen ihrer Arbeitstätig-keit (z.B. die Zusammenarbeit mit ande-ren Stellen, die Arbeitsbelastung und das Arbeitsklima) zu beurteilen und Verände-rungswünsche zu äußern. Dieses Vorgehen gab den Mitarbeitenden die Möglichkeit,

ausführlich ihre Eindrücke über ihre der-zeitige Arbeitssituation zu schildern und ermöglichte einen Einblick in die Leis-tungserstellung und Austauschprozesse im Dezernat.

Die Analyse der Auftraggeber und Ab-nehmer musste stichprobenhaft erfolgen. Hierzu wurden 16 Pfarrämter ausgewählt. Als Schichtungskriterien wurden die Su-perintendenturen, die Urbanität (etwa gleicher Anteil Stadt- und Landgemeinden) sowie die Verfügbarkeit einer Pfarramts-sekretärin (etwa gleicher Anteil Existenz und Fehlen einer Sekretärin) gewählt. Aus den Schichten wurde jeweils ein Pfarramt so ausgewählt, dass eine möglichst hohe Repräsentativität und Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit gegeben war. Die Inter-views folgten wiederum einen standardi-sierten Leitfaden.

Das im Rahmen dieser Analyse gesam-melte Datenmaterial wurde unter Wah-rung der Anonymität vorrangig deskriptiv ausgewertet. Die Ergebnisse sollen im Fol-genden vorgestellt werden.

Ergebnisse

Leistungsempfänger

Ausgangspunkt der Befragung der Pfarrerinnen und Pfarrer war eine im Jahr 2007 durchgeführte Analyse der Arbeitszufriedenheit,9 bei der unter ande-rem eine relativ hohe Unzufriedenheit mit der bisherigen Verwaltungspraxis der Lan-deskirche festgestellt worden war. Um die-se generelle Aussage spezifizieren zu kön-nen, wurden die Pfarrerinnen und Pfarrer gefragt, welche Verwaltungsleistungen oder -prozesse der Kirchenverwaltung als problematisch empfunden werden. Wie Abbildung 1 zeigt, wurde am häufigsten der zu lange Dienstweg kritisiert. Auffällig ist weiterhin, dass die Austauschprozesse, die ständig stattfinden, auch besonders bemängelt werden (z.B. Finanzdienstleis-tungen, Grundstücksverwaltung, Melde-wesen).

In einem nächsten Schritt sollten die Pfarrerinnen und Pfarrer die Dienstleis-

VM 5/2010 265

9 Böhm, Herbst & Fleßa 2008.

Abb. 1: Problematische Verwaltungsleistungen aus Sicht der Pfarrerinnen und Pfarrer (Quelle: Eigene Erhebung)

Abb. 2: Beurteilung der einzelnen Abteilungen (Quelle: Eigene Erhebung)

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tungen der einzelnen Abteilungen der landeskirchlichen Verwaltung hinsichtlich Qualität, Freundlichkeit, Schnelligkeit und Kompetenz anhand von Schulnoten auf einer Skala von 1-5 beurteilen (Abb. 2).

Positive Noten erhält vor allem der weiche Faktor Freundlichkeit in den ein-zelnen Abteilungen. Dagegen zeigt sich sehr deutlich, dass die Schnelligkeit des Leistungserstellungsprozesses am schlech-testen bewertet wird. Auch die Qualität der Verwaltungsleistungen in einzelnen Bereichen (Rechtsabteilung, Meldewesen, Bauabteilung) wird eher negativ einge-schätzt.

Auf Grundlage dieser und weiterer Ergebnisse kann man schließen, dass die wahrgenommene Funktionserfüllung der landeskirchlichen Verwaltung durchaus verbesserungswürdig ist. Das Hauptprob-lem ist die Prozessdauer, d.h., mit Instru-menten des Prozessmanagements müsste eine Reduktion der Durchlaufzeiten der Verwaltungsprozesse möglich sein.

Dieser Einschätzung der Abnehmer der Verwaltungsleistungen soll im Folgenden die Bewertung der Leistungserstellung des Dezernats entgegengestellt werden.

Landeskirchliche Verwaltung

Wie Abbildung 3 zeigt, können lange Pro-zessdauern verschiedene Ursachen haben, die im Folgenden anhand der Ergebnisse der Prozessanalyse und der Mitarbeiterbe-fragung dargestellt werden sollen.

Komplexität des ProzessesHohe Prozessdauern können durch die Komplexität des Leistungserstellungs-prozesses bedingt sein. Die Komplexität ergibt sich aus der Zahl der notwendigen Teilschritte sowie der Interdependenz zwi-schen diesen Schritten. Je mehr Akteure sich für einen Prozess abstimmen müssen, desto länger wird dieser Ablauf dauern, da Termine vereinbart, Dokumente vorbe-reitet, Gutachten eingeholt und Beschlüsse abgewartet werden müssen. Diese Zeit-spannen sind durch den Sachbearbeiter meist wenig zu beeinflussen. Beispielhaft zeigt Abbildung 4 die Prozessbeschreibung einer Pachtverlängerung. Hierbei wurde die jährliche Pachtsumme von 3.132,60 Euro auf 4.014,39 Euro erhöht (Pachtan-

passung 881,79 Euro). Der gesamte Pro-zess dauerte ca. drei Jahre und 4 Monate. Schätzt man die Arbeitskosten der Sach-bearbeiter mit 200 Euro pro Tag, so dürf-ten die zusätzlichen Pachteinnahmen von mindestens fünf Jahren allein durch die Bearbeitungskosten absorbiert werden.

Als weiteres Beispiel zeigt Abbildung 5 die Tätigkeiten, die bei der Anstellung eines geringfügig Beschäftigten regelmä-ßig durchgeführt werden. Die Bearbei-tungszeit betrug drei Monate. Nach dem Beschluss des Gemeindekirchenrates vom 13.11.2007 ging dieser nach zehn Tagen am 23.11.2007 im Konsistorium ein. Der hierauf erstellte Arbeitsvertrag wurde am 06.12.2007 an die Superintendentur ver-sandt und erst am 06.02.2008 durch den Gemeindekirchenrat unterschrieben. Der unterschriebene Arbeitsvertrag benötigte

für seinen Weg aus der Kirchengemeinde über die Superintendenten wiederum 19 Tage bis er im Konsistorium zur abschlie-ßenden Bearbeitung einging. Dabei muss hinterfragt werden, ob tatsächlich alle Be-teiligten wirklich nötig sind. Beispielswei-se ist zweifelhaft, ob der Bischof über die Anstellung eines geringfügig Beschäftigten in einer Kirchengemeinde informiert sein muss.

Die große Zahl der Involvierten impli-ziert eine hohe Komplexität sowie eine hohe Störanfälligkeit der Prozesse.10 Da-mit dürfte diese Komplexität eine der Hauptursachen für die unbefriedigende Prozesslaufzeit sein. Insbesondere die Re-duktion der Zahl der Beteiligten müsste zu einer Beschleunigung der Prozesse führen.

Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

Abb. 3: Ursachen für lange Bearbeitungszeiten (Quelle: Eigene Darstellung)

Uneinheitliche Aktenführung Postweg Zuarbeit der

Gemeinden Leistungser-

stellungsprozess

Hohe Prozessdauer

Überlastung der Mit-arbeiter

Komplexität, insb. notwendige Abstim-mungen

Fehlende Kompetenz

Fehlende Sekretärin

Fehlender Wille / Verständnis

Beteiligung vieler Personen

Lange Bearbeitungs-zeiten

Entnahme von Do-kumenten aus Ge-schäftsgang

Technikprobleme

Abb. 4: Prozessbeschreibung einer Pachtverlängerung (Quelle: Eigene Erhebung)

Pächter Kirchen-gemeinde

Suptur Postein-gang

Bischof Dezernent Theologie

Dezernent Verwaltung

Abteilungs-leiter

Sachberarbeiter

VM 5/2010266

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Hierbei ist allerdings auffällig, dass die Prozesslänge nicht stark mit der ökonomi-schen Relevanz korreliert. Tabelle 1 zeigt beispielsweise die Bearbeitungszeiten von Vertragsänderungen bei zwölf Landpacht-verträgen, drei Grundstücksmietverträgen, neun Nutzungsverträgen und zwei Gar-tenpachtverträgen. Hierbei unterschei-det sich die Bearbeitungszeit der ersten

drei Varianten nur minimal, während die durchschnittlichen Pachtsummen erheb-lich voneinander abweichen.

PostlaufzeitIn der untersuchten Landeskirche besteht die Regelung, dass alle Anschreiben aus den Kirchengemeinden den Geschäftsgang durchlaufen, also vom Bischof und den

beiden Dezernenten zur Kenntnis genom-men werden müssen, bevor sie dem jewei-ligen Abteilungsleiter zugestellt werden dürfen. Wie Abbildung 6 darstellt, ist der Postweg von einer Kirchengemeinde zum Sachbearbeiter ausführlich. Dies hat zwei-felsohne einen wesentlichen Einfluss auf die Schnelligkeit der Bearbeitung.

Es wird deutlich, dass die Schriftstücke durch die Hände vieler beteiligter Perso-nen gehen, bevor der zuständige Mitarbei-tende mit der Bearbeitung beginnen kann. Dabei müssen die Anschreiben, wenn sie für einen Sachbearbeiter in den Außenstel-len bestimmt sind, dreimal per Post ver-sendet werden, was ebenfalls zu zeitlichen Verzögerungen führt und Kosten verur-sacht. Weiterhin werden die Anschreiben auch nicht immer unverzüglich gegenge-zeichnet oder sogar aus dem Geschäfts-

gang genom-men, ohne v o r h e r i g e Kopien zu z iehen, so dass es zu Verzögerun-gen kommt oder Doku-mente fü r bes t immte Ze i t ganz verschwin-den.

Trotzdem kann man nicht grundsätzlich schließen, dass die langen Bearbeitungs-zeiten allein das Ergebnis ineffizienter Prozesse innerhalb der landeskirchlichen Verwaltung sind. Beispielsweise beträgt der durchschnittliche Zeitverbrauch vom Rechnungseingang im Pfarramt bis zur Bezahlung der Rechnung in der Finanzab-teilung 21,3 Tage, wobei allerdings 18,1 Tage die Rechnung im Pfarramt verweilt (vgl. Tab. 2).

Neben der Komplexität und dem Post-lauf bzw. Geschäftsgang gibt es noch eine

Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

10 Wenn auch nicht Thema dieser Ausführungen, so soll doch erwähnt werden, dass die regel-mäßige Involvierung höherer Dienststufen in Routineangelegenheiten auch zu einer Überlastung der Dezernenten und des Bischofs sowie zu einer ineffizienten Zeitallokation auf diesen Ebenen führt.

Abb. 5: Prozessbeschreibung der Anstellung eines geringfügig Beschäftigten (Quelle: Eigene Erhebung)

Tab. 1: Bearbeitungszeiten von Vertragsänderungen (Quelle: Eigene Erhebung)

Arbeitnehmer Kirchen-gemeinde

Suptur Bischof Dezernent Theologie

Dezernent Verwaltung

Abt.- leiter

Sachberar-beiter

Postein-gang

Durchschnittliche Bearbeitungszeit

[Monate]

MinimaleBearbeitungszeit

[Monate]

MaximaleBearbeitungszeit

[Monate]

Durchschnittliche Pachtsumme vor

Anpassung [€]

Pachterhöhung [€]

alle Verträge 11 2 28 1088,00 397,00

Landpachtverträge 13 2 28 1952,33 488,54

Grundstücks-mietverträge 12 9 14 0,00 17,50

Nutzungsverträge 11 4 18 467,15 401,74

Gartenpachtverträge 5 3 7 20,82 17,53

Abb. 6: Postlauf (Quelle: Eigene Darstellung)

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Reihe von Gründen für die lange Pro-zesslaufzeit. So trägt beispielsweise die uneinheitliche Aktenführung zu längeren Bearbeitungszeiten bei, wenn Dokumen-te gesucht oder Mitarbeitende vertreten werden müssen. Ein weiterer wichtiger Faktor ist auch die Qualität der Zuarbeit aus den Kirchengemeinden. Auch hier tre-ten oft große Zeitverzögerungen auf, da Dokumente oder Beschlüsse fehlen, in den Kirchengemeinden falsch bearbeitet und nicht rechtzeitig weitergeleitet werden. Die schlechte Zuarbeit einiger Kirchengemein-den ist in einigen Fällen auf die fehlende Verwaltungskompetenz der Pfarrerinnen und Pfarrer, auf die Vielzahl anderer zu erledigender Aufgaben und auf fehlendes Verständnis für die Notwendigkeit der Verwaltungsarbeit zurückzuführen. Pfar-rerinnen und Pfarrer erhalten zwar in der Regel eine mehrtätige Einführung in die Gemeindeverwaltung, jedoch beschränkt sie sich meist auf die Wahrung hoheitli-cher Aufgaben (z.B. Taufregister, Sterbe-register, Friedhofsverwaltung). Ein Trai-ning in Personalwirtschaft, Grundstücks-verwaltung und Buchführung ist nicht vorgesehen, wobei auch fraglich ist, ob diese überhaupt zum Aufgabengebiet ei-

ner Pfarrerin bzw. eines Pfarrers gehören. In der untersuchten Landeskirche müs-sen jedoch viele Pfarrerinnen und Pfarrer diese Tätigkeiten übernehmen, da für eine zusätzliche Verwaltungskraft meist keine ausreichenden Ressourcen bestehen. Teil-weise ist die technische Ausstattung in den Pfarrämtern auch so mangelhaft, dass die Nutzung von EDV und Software nur eingeschränkt möglich ist. Sowohl in den Mitarbeiterinterviews als auch in den Pro-zessanalysen wurde jedoch die hohe Zahl von Beteiligten als primärer Grund für die langen Laufzeiten genannt.

Auf Grundlage der vorliegenden Befra-gungs- und Analyseergebnisse können wir folglich festhalten, dass sowohl aus Sicht der Pfarrämter als auch der Verwaltungs-mitarbeiter die Reduktion der Bearbei-tungszeiten das vorwiegende Problem die-ser Kirchenverwaltung ist. Weitere Prob-lemfelder, wie z.B. technische Ausstattung (EDV, Klimaanlagen, Telefonanlage etc.) und fehlende Tätigkeitsbeschreibungen wurden im Rahmen der Organisations-studie erhoben, sind jedoch im Vergleich dazu von geringerer Bedeutung.

Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

Ursachen für geringe EffizienzMit Hilfe der Interviews wurde versucht zu erfassen, welche Ursachen die komple-xen Verwaltungsgänge und damit die ge-ringe Effizienz haben. Hierbei wurde zu-erst deutlich, dass die Mitarbeitenden der landeskirchlichen Verwaltung sich dessen durchaus bewusst sind, dass die von ihnen generierten Leistungen nicht immer zufrie-denstellend sind, wobei wiederum die lan-gen Dienstwege als wichtigstes Problem beschrieben wurden (Abb. 7).

Als zweitwichtigstes Problem und als eine Ursache für die langen Bearbeitungs-zeiten wurde die Arbeitsbelastung auf-geführt. Aus diesem Grunde wurden die Mitarbeitenden gebeten, anhand einer 5-stufigen Skala zu beurteilen, wie stark sie sich derzeit belastet fühlen. Abbildung 8 zeigt, dass 31 Prozent der Mitarbeiten-den ihre Arbeitsbelastung als sehr hoch einschätzen, wobei die subjektive Arbeits-belastung in der Bauabteilung am höchs-ten und in der Rechtsabteilung am nied-rigsten war. Dies ist primär auf einen als erheblich empfundenen Zeitmangel für die Bearbeitung der Arbeitsaufgaben zu-rückzuführen. Die hohe Arbeitsintensität lässt sich auch anhand von Kennzahlen herleiten. Wie Tabelle 3 zeigt, bearbeiten die Mitarbeitenden dieser Landeskirche in fast allen Bereichen größere Fallzahlen bzw. Flächen oder erwirtschaften höhere Erlöse als in einer Nachbarkirche. Eine Ausnahme bilden hier lediglich die Anzahl der zu bearbeitenden Buchungen und der Amtshandlungen.

Als wichtigste Ursache für die kom-plexen Abläufe wurden von den Mitar-beitenden in den Gesprächen der geringe Delegationsgrad und die geringe Standar-disierung genannt. Grundsätzlich wird das Arbeitsklima innerhalb der einzelnen Abteilungen als positiv bewertet (Abb. 9). Das Verhältnis zu den hierarchisch höhe-ren Mitarbeitenden ist jedoch teilweise als gespannt zu bezeichnen, wobei die fehlen-de Delegation und die Intervention der Vorgesetzten in übertragene Abläufe als Hauptursachen der Beziehungsbelastung dargestellt wurden.

Zusammenfassend kann man festhal-ten, dass die hohen Prozesslaufzeiten in der untersuchten Landeskirche primär nicht auf fehlende Qualifikation oder Mo-

Rechnungstyp

Durchschnittliche

Verweildauer

Kürzeste Verweildauer

Längste Verweildauer

Kirchengemeinden 18,1 6 49

Superintendenturen 2,2 1 6

Finanzabteilung 1,1 0 2

Tab. 2: Zeitspannen der Teilprozesse [Tage] (Quelle: Eigene Erhebung)

0,00

10,00

20,00

30,00

40,00

50,00

60,00

70,00

Nen

nung

en [%

]

Abb. 7: Problemfelder in der Verwaltungsarbeit aus Sicht der Mitarbeitenden (Quelle: Eigene Erhebung)

VM 5/2010268

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tivation der Mitarbeitenden zurückzufüh-ren sind, sondern auf eine äußerst kom-plexe Prozesskette, die aus zahlreichen Schritten und Schleifen bestehen. Dies ist

Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

Ausdruck geringer Delegation und feh-lenden Vertrauens, da die Leitung der Landeskirche selbst bei finanziell und in-haltlich irrelevanten Vorgängen (wie z.B. der Anstellung eines geringfügig Beschäf-tigten in einer Kir-chengemeinde oder der Verpachtung ei-nes Gartengrundstü-ckes) involviert sein möchte.

Diskussion

Auf Grundlage dieser Erkenntnis können zwei An-satzpunkte einer Verbesserung des Prozessmanage-ments hergeleitet werden. Zum einen müssen die Pro-zesse klar standar-disiert werden, so dass die Koordina-tion dieser Tätig-keiten nicht mehr durch direkte Über-wachung erfolgt, sondern durch die verlässliche Pro-zessbeschreibung. Dadurch werden

ein deutlich höherer Delegationsgrad und die Reduktion der Prozessschritte mög-lich. Zum anderen muss die Leitung dieser Kirche ihre Führungskonzeption überden-

Abb. 8: Subjektive Arbeitsbelastung (Quelle: Eigene Erhebung)

ken bzw. ihre eigenen Glaubenssätze auch in der Personalführung implementieren.

Ein wichtiges Standardisierungsinst-rument ist die Entwicklung eines Orga-nisationshandbuches. Es sollte die häu-figsten und bedeutendsten Prozesse jeder Abteilung darstellen, Checklisten für die wichtigsten Prozesse sowie Arbeitsplatz-beschreibungen umfassen. Als Grundlage hierfür können die bereits bestehenden Checklisten verfeinert und ergänzt wer-den.

Die Entwicklung des Handbuches ver-folgt zwei Ziele. Zum einen wird der Pro-zess der Erstellung bereits wichtige Klä-rungen innerhalb der Abteilungen bringen, z.B. über Prioritäten, Ziele, notwendige Arbeitsschritte, Standardisierungsmöglich-keiten. Das fertige Ergebnis soll eine Ar-beitshilfe für bestehende und zukünftige Mitarbeitende sein, aber auch eine Hilfe-stellung für Kunden der Verwaltung, z.B. in den Pfarrämtern.

Die Checklisten sind eine sehr wichtige Komponente des Organisationshandbu-ches. Sie umfassen dabei auch Tätigkeiten, die durchaus als selbstverständlich gel-ten können, jedoch von großer Entschei-dungsrelevanz sind. Die Entwicklung des Organisationshandbuches sowie insbe-sondere der Checklisten muss durch die Mitarbeitenden der Abteilungen in Zu-sammenarbeit mit dem Konsistorialpräsi-denten erfolgen. Eine Unterstützung durch einen externen Berater kann hilfreich sein. Er darf aber auf keinen Fall die Ergebnisse liefern, sonst werden die Mitarbeitenden nicht die Eigentümer des Handbuches. Sie sollen es als „ihres“ sehen, als Arbeitshil-fe verstehen und als Freiraum für mehr Delegation. Wird die Checkliste zum auf-oktroyierten Kontrollinstrument, ist sie zum Scheitern verurteilt.

Darüber hinaus kann ein einheitlicher, systematischer und die ganze Organisati-on umfassender Aktenplan ein weiteres Standardisierungsinstrument sein, mit des-sen Hilfe Koordination und eine Vereinfa-chung der Prozesse, eine Erleichterung der Vertretung und eine bessere Einarbeitung neuer Mitarbeitender möglich werden. Der einheitliche Aktenplan sollte nicht nur das Verwaltungsdezernat umfassen, sondern auch auf die Bischofskanzlei und

Abteilung Objekt Quantität je Mitarbeitenden

Untersuchte Kirche NachbarkirchePersonal Personalfälle 235 180

Grundstücke

Flächen 2935 ha 2177 ha

Verträge 495 417

Erlöse 571.890 € 306.980 €

Mietverträge 884 437

MeldewesenAmtshandlungen 1999 2249

Gemeindemitglieder 69.172 34.809

BauGebäude 191 140

Bauvolumen 1.525 Mio. € 1.007 Mio. €

Finanzen Buchungen 12.131 13.830

Tab. 3: Anhaltszahlen (Quelle: Eigene Erhebung)

Abb. 9: Bewertung der Arbeitsatmosphäre innerhalb der Abteilungen (Quelle: Eigene Erhebung)

VM 5/2010 269

Niedrig3%

Eher niedrig0%

In Ordnung17%

hoch49%

Sehr hoch31%

Gut64%

Gespannt3%

Sehr gut27%

Sehr gespannt

3%Mittelmäßig3%

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auf das theologische Dezernat ausgeweitet werden. Hierzu steht der EKD-Aktenplan zur Verfügung.

Eine weitere Empfehlung zur Organi-sation betrifft den kompletten Postgang, sowohl hausintern als auch hausextern. Als Probleme des Postlaufs wurden die lange Postlaufzeit sowie der erhöhte Ar-beitsaufwand durch mehrfache Schleifen beschrieben. Hierzu wird vorgeschlagen, dass grundsätzlich alle Schreiben direkt an die zuständigen Sachbearbeiter gehen. Der Postgang über die Superintendentur sollte in Zukunft ebenso entfallen wie der Geschäftsgang über Bischof und Dezer-nenten. Stattdessen sollten im Rahmen des Organisationshandbuches klare Regeln definiert werden, welche Vorgänge eine zeitnahe Information der Leitung und Su-perintendenturen erfordern. Hierzu gehö-ren insbesondere alle strittigen Fälle und

Beschwerden sowie Vorgänge, die für die Kirchengemeinden und die Landeskirche von strategischer Relevanz sind.

Ein großer Teil der Versender von Post weiß selbständig, wer innerhalb der Kirchenverwaltung für eine Bearbeitung zuständig ist, d.h. die meisten Briefe kön-nen direkt an den Sachbearbeiter in der Landeskirche oder in den Außenstellen adressiert werden. Der Sachbearbeiter hat die Verpflichtung, seinen Abteilungsleiter nach klar festgelegten Regeln über Prozes-se und Ergebnisse zu informieren. In den Fällen, wo der zuständige Sachbearbeiter dem Versender der Post nicht bekannt ist, ist häufig zumindest die zuständige Abteilung zu erkennen oder logisch zu erschließen. In diesem Fall sollte die Post direkt an den Abteilungsleiter gehen, der die weitere Verteilung und – wo nötig –

Information übernimmt. Nur in Fällen, in denen eine Abteilung entweder nicht erkennbar oder logisch zu erschließen ist, sollte die Post in den herkömmlichen Geschäftsgang gegeben werden. Darüber hinaus müssen wenige, explizit genannte Ausnahmen definiert werden, bei denen der traditionelle Dienstweg über den Bi-schof, die Dezernenten und Abteilungslei-ter einzuhalten ist, wie z.B. Beschwerden, Anträge auf Sabbaticals, Disziplinar- oder Lehrzuchtsfragen sowie vertrauliche Per-sonalprobleme.

Ziel dieser Vereinfachung ist die Ver-ringerung des Arbeitsaufwandes bei den Superintendenten, dem Bischof und den Dezernenten, da nur noch wesentliche Vorgänge zur Kenntnis genommen wer-den müssen. Gleichzeitig dürften sich al-lein schon wegen der deutlich geringeren Brieflaufzeiten erhebliche Verringerungen

der Bearbeitungszeit einstellen. Darüber hinaus dürften weniger Verzögerungen durch Abwesenheit der Knoten im Post-pfad auftreten.

Die Reduktion der Prozessschritte ver-langt, dass die Vorgesetzten ihren Mitar-beitenden Vertrauen entgegenbringen und Entscheidungsbefugnisse delegieren. Dies ist betriebswirtschaftlich sinnvoll, denn eine Koordination über direkte Anwei-sung und Kontrolle verhindert Kreativität, Flexibilität und Motivation. Sie fördert Bürokratismus, Dienst nach Vorschrift, In-kompetenz der Mitarbeitenden und damit letztlich lange Prozesse.11 Vertrauen und Delegation sind deshalb grundsätzlich der Kontrolle und direkten Anweisung über-legen.12 Auf der anderen Seite birgt der Verzicht auf Kontrolle die Gefahr, dass

Mitarbeitende die Freiräume für opportu-nistisches Verhalten missbrauchen.

Gefordert ist folglich der Aufbau einer Vertrauenskultur, bei der durch Delegati-on Vertrauen und durch Standardisierung der Prozesse Verlässlichkeit entsteht.13 Hierzu gehört auch, dass Ziele gemeinsam bestimmt (Management by Objectives), erwartete Ergebnisse der Prozesse klar de-finiert, Ressourcen bzw. Training bereitge-stellt und Instrumente der Selbstkontrolle zur Verfügung gestellt werden. Anschlie-ßend muss der Vorgesetzte dem Mitarbei-tenden möglichst „aus dem Weg gehen“ und auf die Ergebnisse warten. Erst wenn sie nicht zum vereinbarten Zeitpunkt in der festgelegten Qualität kommen, muss er sie einfordern. Die Vertrauenskultur zeichnet sich durch folgende Kriterien aus:

Hohe Delegation: Mitarbeitende er-halten Entscheidungs- und Verantwor-tungsspielräume. Das häufige Abzeich-nenlassen von Teilprozessen hingegen vermittelt das Gefühl der Inkompetenz.Ausrichtung der Systeme auf Ziele: Der Vorgesetzte bewertet ausschließlich die Ergebnisse, nicht die Abläufe. Alle Systeme werden so gestaltet, dass sie dem vereinbarten Ergebnis dienen (z.B. schnelle Bearbeitung des Postlaufs).Kommunikation: Der Informationsfluss zwischen Vorgesetzten und Mitarbei-tenden wird verbessert. Hierzu gehört die Standardisierung (Aktensystem, Checklisten) ebenso wie eine Verbes-serung der Zuwendung zu den Mitar-beitenden. Wo keine alternative Lösung möglich ist, wird die Situation transpa-rent dargestellt und um das Verständnis der Betroffenen geworben (z.B. Not-wendigkeit bestimmter Entscheidungen bei Pfarrerinnen und Pfarrern).Empowering der Mitarbeitenden: Ziel der Personalführung ist die Förderung und Motivation der Mitarbeitenden im Sinne einer dienenden Leiterschaft. Der Vorgesetzte kommuniziert seine Wertschätzung für die Mitarbeitenden und befähigt sie damit, diesem hohen Anspruch zu genügen. Dies impliziert auch, dass der Vorgesetzte den Team-geist stärkt, so dass die einzelnen Ver-

11 Leder 1989.

12 Fleßa 2001.

13 Covey 2009.

»Gefordert ist folglich der Aufbau einer Vertrauenskultur, bei der durch Delegation Vertrauen und durch Standardisierung der Prozesse Verlässlichkeit entsteht.«

Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

VM 5/2010270

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waltungskulturen zu einer neuen Kul-tur zusammenwachsen können.

In der Umsetzung dieser Empfehlun-gen muss es sich bewahrheiten, ob die „Dienstgemeinschaft“ in der Kirche An-spruch oder Wirklichkeit ist. Gemäß dem Wort Jesu „Der Größte unter euch soll euer Diener sein“ (Mt. 23,11), verste-hen sich kirchliche Amtsträger primär als Diener ihrer Anvertrauten. Dieses „Orga-nisationsprinzip“ erstreckt sich von der Governance der Kirchenleitung bis zur Personalführung14 und wird in dem Satz von Karl Barth zusammengefasst: „In der Christengemeinde wird in der Nachfolge Christi selbst nicht geherrscht, sondern gedient“.15 Die Barmer Theologische Er-klärung (1934) definiert demgemäß: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche be-gründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst beson-dere, mit Herrschaftsbefugnissen ausge-stattete Führer geben und geben lassen.“ (Barmen IV).

Von den Mitarbeitenden wird regelmä-ßig die Zugehörigkeit zur Kirche verlangt, so dass auch die Verwaltungsmitarbei-ter Teil der Kirche sind und damit in der Dienstgemeinschaft stehen. Daraus leitet sich aber auch ein hohes Maß an Loyali-tät ab, so dass ein interdependentes Sys-tem der Dienstgemeinschaft entstehen kann. Dieser Konzeption müsste eigent-lich die stärkere Betonung des Dienstge-dankens im Management entsprechen, so wie sie von verschiedenen Führungskon-zeptionen dargestellt wird. So postuliert beispielsweise Rieckmann die „dienende Autorität“16 als effizient, und Greenleaf empfiehlt „dienende Leiterschaft“.17 Auch Covey sieht die Rolle der Organisation und der Vorgesetzten primär darin, ihre Mitarbeitenden zu befähigen, ihnen die Ressourcen und Freiräume zu verschaffen und sie zu coachen.18

Damit müsste theoretisch die kirchli-che Verwaltung eine Fallstudie für eine dienende und befähigende Leiterschaft sein.19 Kirchliche Führungskräfte, die ihre Prozesse transparent darstellen und stan-dardisieren sowie die Prozessverantwort-

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Fleßa/Böhm/Bartels/Herbst, Reformen in der kirchlichen Verwaltung

14 Gebhard 2006, S. 1182.

15 Barth 2004.

16 Rieckmann 2000, S. 136.

17 Greenleaf 2002.

18 Covey 2004.

19 Böhlemann & Herbst 2010.

VM 5/2010 271

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Verwaltung und Management16. Jg. (2010), Heft 5, S. 272-276

272

Dr. Reinhold Haller Freiberuflicher Berater, Trainer und Coach mit Schwerpunkt Wissenschaft und Forschung

Nach der Ablösung des Bundesangestelltentarifvertrages (BAT) Ende 2005 sollte der darauf folgende Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) zahlreiche Änderungen erfahren. Statt Bewährungsaufstiegen und altersgemäßer Regelung der Entgelte war angestrebt, vor allem die persönliche Qualifikation und Erfahrung sowie eine leistungsabhängige Komponente das Gehalt bestimmen zu lassen. So wurde festgelegt – be-ginnend mit einer Leistungsprämie von einem Prozent – ein sukzessive aufzustockendes Leistungsentgelt von im Mittel bis zu acht Prozent des Brutto-Jahreseinkommens zu gewähren.

Mitarbeitergespräche in Wissenschaft und Forschung

Reinhold Haller

Bevor die Tarifparteien den Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD Bund) im September 2005 unterschrieben, ka-men Gewerkschaften und öffentliche Ar-beitgeber einvernehmlich überein, mehr als ein Regelwerk der Tarifentgelte schaf-fen zu wollen. Aus der Verhandlungsdele-gation wurde seinerzeit kolportiert, man wolle – neben tarifrechtlichen Neuerungen – mit den impliziten Regularien des TVöD die Führungskräfte im öffentlichen Dienst „zur Jagd tragen“.

Der Hintergrund dieser Aussage ist selbst aus heutiger Sicht nachvollzieh-bar: etablierte Instrumente zur Pflege von Kommunikation, Zusammenarbeit, Mitar-beiterführung und Motivationsförderung, die in Industrie und Dienstleistungsunter-nehmen seit Jahrzehnten breitflächig eta-bliert sind, zeigten sich selbst Anfang des dritten Jahrtausends im öffentlich-rechtli-chen Sektor noch als seltene Übungen.

Wirtschaftsunternehmen fordern Führungskräften in jährlichen Interval-

chen inhaltlichen Kombinationen angebo-ten.

Anhand der oben beschriebenen Kom-munikationswerkzeuge setzte nun der Ver-such der Tarifparteien an, die Führungs-kräfte zur bereits zitierten Jagd tragen zu wollen. Die Gelegenheit dazu bot der TVöD im Rahmen des Leistungsentgeltes. Hier wurde ein Mitarbeitergespräch vor-geschrieben, in welchem eine systemati-sche Leistungsbeurteilung und optionale Zielvereinbarungen festgeschrieben wur-den.

Damit war, zumindest im Tarifbereich Bund, die verbreitete abwartende Hal-tung vieler Arbeitgeber im öffentlichen Dienst perdu. Ebenso hinfällig war die aus prinzipiellen Gründen verbreitete Blocka-dehaltung einzelner Personalvertretun-gen bezüglich mitbestimmungspflichtiger Maßnahmen wie Mitarbeitergespräche oder Leistungsbeurteilungen. Es stand mit Wirkungseintritt des TVöD folglich nicht mehr zu Diskussion, ob man als Institu-tion systematische Mitarbeitergespräche, Leistungsbeurteilungen und/oder Zielver-einbarungen anbieten und einführen woll-te. Der Leistungs-TV machte diese Kür plötzlich zur Pflicht.

So unvollendet der TVöD z.B. bezüg-lich der Eingruppierungsfragen geblie-ben ist, so wenige Erwartungen er in Be-zug auf mehr Flexibilität erfüllt hat und so unbeliebt er bei den Beschäftigten im Forschungsbereich geblieben ist, die be-schriebene Hintertür ist unbestreitbar ein Erfolg: Erst im Zuge der Umsetzung des TVöD und des TV-L begannen zahlreiche Organisationen, sich mit den anderenorts längst bewährten Führungsinstrumenten auseinanderzusetzen.

len folgende Gespräche mit allen ihren Mitarbeiter/-innen ab:

Orientierungsgespräche zur Klärung und Aktualisierung der Aufgaben, Rah-menbedingungen, Prioritäten, Entwick-lungen des Arbeitsbereiches mit Fokus auf das kommende Jahr (meist zu Jah-resanfang durchgeführt),Zielvereinbarungsgespräche zur Ver-einbarung konkreter, messbarer, realis-tischer und terminierter Ziele (in Über-einstimmung mit den strategischen Zielen der jeweiligen Organisationsein-heit);Leistungsbeurteilungsgespräche , in welchen die Führungskraft der/dem Mitarbeiter/-in erläutert, wie seine/ihre Leistung gesehen wird (in der Regel mit qualifizierter Leistungsrückmel-dung anhand eines bis zu zehnteiligen Punktesystems). Meist haben an dieser Stelle die Beschäftigten umgekehrt Ge-legenheit, ihren Führungskräften eine oft ebenso dezidierte und qualifizierte Rückmeldung über deren Führungs-, Informations- und Motivationsbemü-hungen zu geben; Entwicklungsgespräche zur Vereinba-rung und konkreten Einleitung von Personalentwicklungs-/Weiterbildungs-maßnahmen zum Vorteil der/des Mit-ar beiter/-in.

Mitunter wurden und werden diese Ge-spräche separat, oftmals in unterschiedli-

Pflicht und Kür von Führungsinstrumenten im Rahmen der leistungsorientierten Vergütung

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Als im Oktober 2005 der Tarifvertrag für die Beschäftigten des Bundes sowie der Kommunen und im Mai 2006 der für die Länder (TV-L) in Kraft trat, hätte das behutsame „Tragen“ der Führungskräf-te beginnen können. Doch weit gefehlt: Während einzelne öffentlich-rechtliche Forschungseinrichtungen begannen, Be-triebs- oder Dienstvereinbarungen zur Umsetzung der Leistungsorientierten Ver-gütung abzuschließen, blieben andere un-tätig. Schließlich erlaubten die Regelungen des TVöD die leistungsorientierte Vergü-tungskomponente erst einmal pauschal – wenn auch nur zur Hälfte des angesetzten Budgets – auszuschütten. Zudem kam es auf Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zu negativen Reaktionen bzgl. der Regulari-en um die Leistungsorientierte Vergütung und es machte sich vielfach die Hoffnung breit, „der Kelch möge an uns vorüber ge-hen“.

Tatsächlich nutzen die Tarifpartner auf Landesebene die Tarifverhandlungen, um die leistungsorientierte Vergütung zum Beginn 2009 außer Kraft zu setzen. Ganz anders einigten sich Bund und die kom-munalen Arbeitgeber (VKA), die leistungs-orientierte Vergütungskomponente bis Ende 2013 auf zwei Prozent zu erhöhen. Nun erst machte sich in einigen öffentlich-rechtlichen Institutionen – zumindest den am TVöD orientierten – die Erkenntnis breit, dass besagter Kelch keinesfalls vor-überziehen würde.

Als wären all diese Entwicklungen und Vorgaben neu, entfachte nun manche öf-fentlich-rechtliche Institution hektische Aktivitäten, die Vorgaben des TVöD zu erfüllen. Das Eisenhower‘sche Gebot, wo-nach Wichtiges nicht dringend gemacht werden sollte, wurde dabei vielfach igno-riert.

Umsetzung der leistungs-orientierten Vergütung in Wissenschaft und Forschung

Einige Forschungsinstitutionen begannen dagegen relativ frühzeitig, die Rahmen-bedingungen des TVöD umzusetzen. Dies erforderte, eine Dienst- bzw. Betriebsver-einbarung abzuschließen, in welcher die Vorgaben und Freiräume aus dem Tarif-vertrag definiert wurden. Hierzu zählte vor allem:

ein Mitarbeitergespräch als Kern des Verfahrens zu gestalten und die Rah-menbedingungen hierfür zu erläutern, zu vereinbaren, welche formalen Re- gungen getroffen werden sollten, u.a. bezüglich Gesprächsdauer, Dokumenta-tion, Eingang in die Personalakte etc.,die Kriterien einer Leistungsbeurteilung festzulegen und mit einer Bewertungs-skala zu verknüpfen,zu definieren, ob und in welchem Maße eine Gewichtung einzelner Leistungs-kriterien ermöglicht werden sollte,

abzustimmen, ob und in welchem Maße optionale Zielvereinbarungen zwischen Führungskraft und Mitarbeitern/-innen abgeschlossen werden sollten,festzulegen, nach welchem Verteilungs- schlüssel die Leistungsentgelte aus-geschüttet werden sollten (Verteilung über Organisationseinheiten, Berufs- oder Entgeltgruppen etc.),zu klären, ob und wie eine Information oder Schulung für Führungskräfte und Beschäftigte über das Verfahren durch-geführt werden sollte.

Bei der Ausgestaltung entsprechender Dienst- und Betriebsvereinbarungen zeig-te sich nun, dass die hierfür notwendige Verhandlungszeit in der Regel deutlich unterschätzt wurde. Zudem waren den Verhandlungspartnern die Auswirkungen einzelner Verhandlungsdetails nicht immer klar, weshalb an dieser Stelle systemimma-nente Fehler geschaffen wurden (s.u.), de-ren Auswirkungen sich erst später zeigen sollten. Diese Unzulänglichkeiten entstan-den aus verschiedenen Gründen:

Die meisten Organisationen hatten mit solchen Systemen bisher keine Er-fahrungen gemacht, weder mit perio-dischen Mitarbeitergesprächen, syste-matischen Leistungsbeurteilungen oder mit einem Zielvereinbarungssystem.Mitunter haben sich Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter vor Beginn der Verhandlungen separat informieren

bzw. beraten lassen, die unterschiedli-chen Wissensstände und Meinungsbil-der erschwerten die Verhandlungen.Viele Einrichtungen machten sich die Mühe, mit ureigenen Betriebs- oder Dienstvereinbarungen „das Rad neu erfinden“ zu wollen, zudem man an-fänglich kaum auf bewährte Modell zurückgreifen konnte (zumindest nicht aus dem Forschungsbereich).

Aus diesen Gründen dauerten die Ver-handlungen von Dienst- bzw. Betriebs-

vereinbarungen im Einzelfall bis zu zwei Jahren.

Erste Erfahrungen

Bei der Einführung selbst wurde unter-schiedlich vorgegangen. Einige wenige Forschungszentren verfügten bereits über etablierte (systematische) Mitarbeiterge-spräche, zu welchen bereits Betriebs- oder Dienstvereinbarungen bestanden. Erwar-tungsgemäß verlief die Umsetzung dort schneller und reibungsloser als in Ein-richtungen, die hiervon bisher unberührt blieben. Letztere gingen – was sich als ef-fizient herausstellte – oft so vor, dass sie mit „einfachen“ Mitarbeitergesprächen begannen, in welchen sich Führungskräf-te und Mitarbeiter/-innen über Aufgaben, Rahmenbedingungen der Arbeit, Priori-täten, Weiterbildungsmöglichkeiten und Optimierungspotenziale bei Führung und Zusammenarbeit austauschten. In den nächsten Durchgängen wurden dann die systematische Leistungsbeurteilung und – in der Regel als dritte Stufe – Zielverein-barungen ergänzt.

Nachteil dieser eher behutsamen Praxis war die längere Umsetzungsdauer. Als gro-ßer Vorteil erwies sich dagegen, dass Füh-rungskräfte und Mitarbeiter schrittweise an die einzelnen Instrumente gewöhnen konnten. Zudem konnten die entsprechen-

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Haller, Mitarbeitergespräche in Wissenschaftszentren und Universitäten

»Bei der Ausgestaltung entsprechender Dienst- und Betriebsvereinbarungen zeigte sich, dass die hierfür notwendige Verhandlungszeit in der Regel deutlich unterschätzt wurde.«

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den Dienst- und Betriebsvereinbarungen schrittweise angepasst werden.

Zu Beginn der Umsetzung stießen die Mitarbeitergespräche mit integrierten Leistungsbeurteilungen und optionalen Zielvereinbarungen auf große Skepsis. Das Unbehagen mit diesem Instrumentarium lag dabei gleich verteilt sowohl bei den Führungskräften als auch bei den Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern. Selbst aus-führliche Schulungen oder Trainings – in der Regel zweitägige Veranstaltungen für Führungskräfte und halb- bis ganztägige für die Beschäftigten – konnten die massi-ven Vorbehalte meist nicht aufheben.

Insbesondere die Leistungsbeurteilung stieß auf Vorbehalte. Zum Teil wurden diese Bedenken verstärkt durch „hand-werkliche“ Fehler bei der Ausgestaltung der Dienst- oder Betriebsvereinbarungen und deren Umsetzung (s. Tab. 1). Aus die-sen Unzulänglichkeiten entstanden in der Folge (vermeidbare) Anwendungsfehler (Tab. 2)

Haller, Mitarbeitergespräche in Wissenschaftszentren und Universitäten

Trotz aller Bedenken und Unzuläng-lichkeiten, die zum Teil in Kombination oder nur einzeln beobachtet wurden: Wer heute Mitarbeiter und Führungskräfte in den Forschungszentren befragt, welche Mitarbeitergespräche mit Leistungsbeur-teilungen umgesetzt haben, erhält in der Regel eine insgesamt durchaus positive Resonanz. Die Mitarbeitergespräche und selbst die Leistungsbeurteilungen werden von den meisten Befragten durchaus be-grüßt.

Viele Mitarbeiter empfinden es tat-sächlich als eine Form der Wertschätzung, wenn sich die zuständige Führungskraft einmal ein bis eineinhalb Stunden Zeit nimmt, um Aufgaben, Entwicklungspo-tenziale, Motivationsfaktoren, Weiterbil-dungsmöglichkeiten etc. persönlich und jenseits des operativen Alltagsgeschäftes zu besprechen. Selbst solche Führungs-kräfte, welche zu Beginn der Umsetzung sehr skeptisch waren, merken nachher an, durchaus gute Erfahrungen und unerwar-tete Erkenntnisse aus den Gesprächen ge-wonnen zu haben.

Beinahe durchgängig kritisch be-sprochen werden dagegen zwei Aspek-te:

Die direkte Koppelung der Ge- spräche mit dem Leistungsentgelt: Je mehr handwerkliche Fehler sich in den Systemen fanden (s.o.), desto kritischer wurde diese Verbindung gesehen. Hin-zu kommt, dass sich den meisten Betei-ligten/Betroffenen das Verhältnis von Aufwand und Nutzen dieses Systems allein zur Ermittlung des Leistungs-entgeltes nicht vermitteln ließ. Hier wurde vor allem die „homöopathische Dosis“ des Leistungsentgeltes gesehen. Auch die Tatsache, dass im Gegensatz zu einem in der Regel vernachlässigba-rem Nettobetrag des Leistungsentgel-tes sich die direkten Bezüge seit Ablö-sung des BAT durch den TVöD mehr als deutlich gesenkt haben, trägt nicht dazu bei, dass die jeweils ermittelte jährliche Leistungsprämie als motivie-rend wahrgenommen wird.

Die Zielvereinbarungen: Viele Mitarbeiter erlebten die abgestimm-ten Zielvereinbarungen nicht als wirk-lich „smart“. Viele der Ziele werden als nicht (allein durch die persönliche Leistung) erreichbar oder nicht wirk-lich zweckdienlich wahrgenommen. Zudem klagen manche Betroffenen darüber, die Zielvereinbarung im Mit-arbeitergespräch mehr als Zielvor-gabe erlebt zu haben. Von solchen Mitarbeiter/-innen wird dann die als „LoB“ abgekürzte leistungsorientier-te Bezahlung gerne als „Leistung ohne Bezahlung“ persifliert. Verstärkt wird dieser Ablehnungseffekt, weil von man-chen Führungskräften Zielvereinbarun-gen nur als „On-top-Ziele“ – also im Kontext der regulären Aufgaben – als zusätzliche Leistungen verstanden wer-den.

Sonderproblem Ziel ver ein ba-rungen

In der Tat gestalten sich Zielvereinbarun-gen als der schwierigste Part bei der Um-setzung der Leistungsorientierten Vergü-tung. Zur Ehrenrettung des öffentlichen Dienstes muss dabei gesagt werden, dass sich dieses Problem in Wirtschaftsunter-nehmen nicht grundsätzlich anders dar-stellt. Auch in Produktions- oder Dienst-leitungsunternehmen zeigen sich die

Systematische/methodische Fehler Folgen

zu hohe Führungsspannen (> 20) führen dazu, dass die Beurteiler die kontinuierliche Leistung nicht adäquat beurteilen können

Mitarbeiter fühlen sich „nach Gutsherrenart“ beurteilt

zu exakte Leistungsmessung2 Stellen hinter dem Komma

Leistungsmessung wird als pseudo-exakt belächelt/abgetan

zu grobe LeistungsmessungZwang zur Rundung

Beurteilung wird als willkürlich erlebt, weil seri-elle Rundungen zur Abwertungen führen

Leistungskriterien nicht präzise kommentiert exakte Verhaltensanker fehlen

Beurteilung wird als willkürlich erlebt, weil Ver-gleichbarkeit aufgehoben wird

Leistungskriterien zu differenziert/exakt für spe-zielle Fach-/Berufsgruppen

unpraktikabel, verwirrend und ergebnisorien-tiert (statt leistungsorientiert)

Leistungskriterien individualisierbar/veränderbar Vergleichbarkeit wird aufgehoben.

verbindliche „Beurteilungskonferenzen“ für Be-urteiler fehlen

keine abgestimmten Beurteilungsniveaus = er-lebte Willkür und große Unterschiede

Tab. 1: Systematische Fehler bei Leistungsbeurteilungen/Leistungsentgeltsystemen

Anwendungs-/Umsetzungsfehler Folgen

unterschiedliche Beurteilungs-niveaus der Beurteiler

Mitarbeiter erleben Beurteilung als willkürlich bzw. „unge-recht“

einzelne Führungskräfte pau-schalieren Beurteilung

leistungsbereite Mitarbeiter sind enttäuscht, leistungsschwa-che fühlen sich ermutigt

Konkurrenz der Führungskräfte Ringen um viele „gute“ Mitar-beiter

Infl ationierung (sehr) guter Leistungsbeurteilungen

kollektiver „Kuschelfaktor“ Vermeidung kritischer Gespräche/Themen, s.o.

Beurteiler scheuen Ränder der Beurteilungsskala

Nivellierung der Leistungen (= Prämien) auf mittlerem Niveau = geringe Unterschiede; Sinn/Aufwand des Systems zweifelhaft

ausschließliche Stützung auf Zielvereinbarungen

Verhaltensaspekte wie Flexibilität, Teamgeist, operative Aufga-ben verblassen (siehe zudem Text zu Zielvereinbarungen, s.u.)

Reduktion auf Gruppenbeurtei-lungen

Einzelleistungen/individuelle Entwicklungspotenziale werden vernachlässigt

Tab. 2: Umsetzungsfehler durch Anwender/Führungskräfte

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meisten Beschäftigen unzufrieden mit der gelebten Praxis von Zielvereinbarungen.

Die gründlichste formale Evaluation der Praxis von Mitarbeitergesprächen mit Leistungsbeurteilungen und Zielvereinba-rungen hat wohl das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) durchgeführt. Dort wurden am ehemaligen Forschungszent-rum Karlsruhe (heute KIT, Campus Nord) 2008 die ersten Gespräche als Vorberei-tungsphase geführt, im Folgejahr dann komplett verbunden mit allen Elementen Mitarbeitergespräch, Leistungsbeurtei-lung und (optional) Zielvereinbarungen. Bei der zentralen Auswertung durch die im TVöD vorgesehene „betriebliche Kom-mission“ zeigte sich, wie in vielen anderen Forschungseinrichtungen, dass viele Ziel-vereinbarungen den sog. SMART-Krite-rien nicht wirklich entsprachen. „Smart“ sind demnach Ziele erst dann, wenn:

die Erreichbarkeit der Ziele im Wesent- lichen durch den Zielempfänger und dessen Leistung resp. Verhalten selbst steuerbar ist (versus durch andere Fak-toren wie Zulieferer, Glück, Zufall, wissenschaftspolitischen Rahmenbedin-gungen etc.);die Ziele spezifisch, klar bzw. eindeu- tig formuliert sind und damit spätere Diskussionen über die Zielerreichung entfallen;die Ziele messbar sind und damit qua- lifizierbar und quantifizierbar;die Ziele anwendungsbezogen sind und anspruchsvoll;die Ziele realistisch sind und damit den Bedingungen und Fähigkeiten der Beteiligten entsprechen und schließlich konkret terminiert sind.1

Auch in durch den Autor in Forschungs-institutionen durchgeführten Trainings für Führungskräfte zeigte sich dieser Effekt – und das durchgängig durch alle Hierar-chiestufen. Selbst wenn in solchen Veran-staltungen die SMART-Kriterien unmit-telbar vorher und ausführlich behandelt wurden, waren die durch die Führungs-kräfte erstellten Übungsbeiträge nur etwa zu 40 bis 50% vollständig „smart“.2

Fazit

Personalentwickler in Forschungseinrich-tungen leben in einem nicht auflösbaren Paradoxum: Einerseits hindert offenbar

gerade der Entgeltfaktor der leistungsori-entierten Vergütung Führungskräfte und Mitarbeiter/-innen daran, Mitarbeiterge-spräche mit Leistungsbeurteilungen und Zielvereinbarungen zu akzeptieren (s.o.). Und dies, obwohl viele Beschäftigte regel-mäßige, ausführlichere und gut vorbereite-te Mitarbeitergespräche als solche durch-aus begrüßen.

Im Umkehrschluss: Ohne die direkte Verknüpfung mit einem Leistungsentgelt wären Mitarbeitergespräche bei Füh-rungskräften und Beschäftigten besser akzeptiert. Ohne die Entgeltkomponente könnten die systematische Klärung von Aufgaben, Befugnissen und arbeitsplatz-bezogenen Wünschen, die Leistungsbe-urteilung, die Zielvereinbarung und die Erörterung von Entwicklungs- und Wei-

terbildungsoptionen mehr Motivationspo-tenzial erzeugen. Zumal aus der Motivati-onsforschung bekannt ist, dass das Entgelt zwar einen oft unterschätzten „Hygiene-Faktor“ darstellt, aber keine (intrinsische) Motivationsgröße. Beiläufig sei dabei ins Gedächtnis gerufen, dass man in absehba-rer Zeit beim Leistungsentgelt des TVöD ohnehin wohl mit „homöopathischen“ Größenordnungen wird leben müssen.

Die andere Seite des Paradoxums: Wür-de es ohne die „Hintertür“ der leistungs-orientierten Vergütung in vielen – wenn nicht den meisten – Forschungseinrich-tungen bis heute keine solchen Gespräche geben. Viele Institutionen haben entspre-chende Dienst- oder Betriebsvereinbarun-gen erst im Kontext der systematischen Leistungsbeurteilung als Bestandteil der leistungsorientierten Vergütung abge-schlossen und für ihre Führungskräfte verpflichtend gemacht. Diese Vermutung wird durch die Beobachtung belegt, dass einzelne Forschungseinrichtungen und vor allem Universitäten mit ihrer Anbindung an den TV-L nach Wegfall des Leistungs-

entgeltes keine weiteren Bemühungen mehr gezeigt haben, obligatorische und turnusmäßige Mitarbeitergespräche ein-zuführen; insbesondere im wissenschaftli-chen Personalbereich.

Der eingangs erwähnte Versuch der Urheber des Tarifvertrages, die Führungs-kräfte im Bereich des öffentlichen Dienstes zur Umsetzung von mehr Kommunikati-on- und Führungsinstrumenten anzuregen, war also offensichtlich zumindest im Gel-tungsbereich des TVöD nicht wirkungslos. Für die an den TV-L gebunden Universi-täten dagegen ist dieser Versuch letztlich weitgehend gescheitert.

Dass der zumindest partielle Erfolg we-niger reinem Erkenntnisgewinn geschuldet war, sondern weit mehr dem Zwangsmit-

tel des Tarifvertrages, bleibt ein Wermuts-tropfen für humanistisch und akademisch anspruchsvolle Zeitgenossen aus dem Wis-senschaftsbereich.

Empfehlungen

Mitarbeiter/-innen aus Forschungsein-richtungen bestätigen immer wieder: Das Argument im wissenschaftlichen Bereich würde zwischen Führungskräften und Beschäftigten ständig und ausreichend geredet, stimmt nicht. Vielmehr beklagen viele Diplomanden, Doktoranten und Post Doc‘s in Forschungszentren und Univer-sitäten, dass über das operative Gesche-hen hinaus zu wenig über Wertschätzung, Entwicklungspotenziale, konkreten Er-wartungen etc. kommuniziert werde. So belegt eine Studie der Universität Jena3, dass speziell die obere Ebene der wissen-schaftlichen Führungskräfte (Hochschul-lehrer) sich keineswegs durch eine bessere

Haller, Mitarbeitergespräche in Wissenschaftszentren und Universitäten

1 Haller R. (2009): Checkbuch für Führungskräfte, Planegg.

2 Haller R. (2007): Mitarbeiterführung in Wis sen-schaft und Forschung, Berlin.

»Ohne direkte Verknüpfung mit einem Leistungsentgelt wären Mitarbeitergespräche bei Führungskräften und Beschäftigten besser akzeptiert.«

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Mitarbeiterführung und entsprechend effi-zientere Kommunikationsinstrumente aus-zeichnet, als Führungskräfte in der freien Wirtschaft4.

Mitarbeitergespräche, offene und qua-lifizierte Leistungsrückmeldungen und (wenn auch sehr bedingt) Zielvereinba-rungen sollen deshalb in Forschungsinsti-tutionen ihren festen Platz haben. Univer-sitäten und anderen am Tarifvertrag der Länder orientierten Organisationen wäre dies – auch ohne tarifrechtliche „Zwangs-beglückung“ – zu empfehlen.

Bei der Einführung und Umsetzung dieser Führungsinstrumente sind folgende Vorgehensweisen zu empfehlen:

Vor Abfassung einer Dienst- oder Be-1. triebsvereinbarung zur Einführung von Führungsinstrumenten sollten sich Arbeitgeber und Arbeitnehmervertre-

tungen gemeinsam informieren und be-raten lassen, um bereits in dieser Phase gemeinsame Interessen und Belange zu kultivieren.Bei der Erstellung von Regelungen zur 2. Umsetzung sollte auf bewährte Muster zurückgegriffen werden. Handwerkli-che Fehler (s.o.) anderer Organisatio-nen wiederholen zu wollen, ist nicht effizient.Parallel zur Einführung von Füh-3. rungs- und Kommunikationsinstru-menten sollten die Führungsebenen geklärt werden. Die Durchführung von Mitarbeitergesprächen ist bei Führungsspannen von mehr als 15-20 Mitarbeiter/-innen zunehmend un-möglich. Zum einen bleibt den meis-ten Führungskräften dann kaum die hierfür notwendige Zeit. Zum anderen entfernt sich mit zunehmender Mitar-beiterzahl die Führungskraft zu sehr vom direkten Arbeitskontext der Be-schäftigten, um Leistung, Verhalten

und Entwicklungspotenziale entspre-chend beurteilen zu können. Für Forschungsorganisationen die sich unter dem Diktat des sog. „Lean-Ma-nagements“ vermeintlich erfolgreich vom „Mittelbau“ verabschiedet ha-ben, stellt dieses Strukturproblem eine besondere Herausforderung dar. Ohne wirklich funktionierende Führungs-strukturen bleiben aber selbst die effi-zientesten Führungsinstrumente wir-kungslos5.Wer Leistungsbeurteilungen systema-4. tisch umsetzen will (oder muss), sollte wissen: Leistungsmessung fordert eine Kalibrierung der „Messinstrumente“ (der Beurteiler). Dies erfordert, alle Beurteiler gründlich über das Beurtei-lungssystem zu informieren und ih-nen Gelegenheit zu geben, sich über die Beurteilungsmaßstäbe konstruktiv auszutauschen. Grob unterschiedliche

Bewertungsmaßstäbe verhindern die Transparenz und die nachhaltige Ak-zeptanz systematischer Beurteilungen. In fast allen Forschungseinrichtungen, die Leistungsbeurteilungen eingeführt haben, wurde dieser Aspekt lange zu wenig gewürdigt.Leistungsbeurteilungssysteme sollten 5. ebenso übersichtlich gestaltet werden wie transparent. Einfachheit schlägt dabei Komplexität; auch bezüglich der Akzeptanz der Beurteiler und Beurteil-ten.Führungsinstrumente wie systemati-6. sche Mitarbeitergespräche, Leistungs-beurteilungen oder Zielvereinbarungen fordern die systematische Schulung aller Führungskräfte. Der Glaube, ab einer gewissen akademischen Po-sition sei dies obsolet, ist ein Trug-schluss. Alle dem Autor bekannten Forschungszentren, welche die oben beschriebenen Führungsinstrumen-te erfolgreich umgesetzt haben, sind

dieser Erkenntnis gefolgt. Für eine entsprechende Schulung der Führungskräfte aus dem wissenschaft-lichen Bereich wurden Veranstaltun-gen von mindestens einem Tag Dauer (meistens jedoch 2-Tages-Veranstaltun-gen) angeboten.Für die breite Akzeptanz ist es hilfreich, 7. halb- bis eintägigen Veranstaltungen für Mitarbeiter/-innen auf freiwilliger Basis anzubieten, um neben den Füh-rungskräften auch die Beschäftigen vor allem praktisch mit dem System ver-traut zu machen.Da sich methodisch korrekte Zielver-8. einbarungen in der Praxis als schwer umsetzbar und häufig schlecht ak-zeptiert erweisen (s.o.), empfiehlt es sich, stattdessen sog Leistungsverein-barungen in die Mitarbeitergespräche zu implementieren. Leistungsverein-barungen6 sind konkrete, verhaltens-orientierte Vereinbarungen zwischen Führungskraft und Mitarbeiter, die bei erfolgreicher Umsetzung nachfolgende Leistungsbeurteilungen positiv beein-flussen.

Jenseits tarifvertraglicher Verpflichtung empfiehlt es sich für Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen bewährte und effiziente Kommunikations- und/oder Führungsinstrumente anzuwenden. Auch für die Wissenschaft gilt: die nachhaltige Motivation wissenschaftlicher ebenso wie nichtwissenschaftlicher Mitarbeiter/-innen ist im Wesentlichen abhängig von einer soliden Kommunikations- und Führungs-kultur. Eben dieser gebührt deshalb beson-dere Aufmerksamkeit.

Haller, Mitarbeitergespräche in Wissenschaftszentren und Universitäten

»Mitarbeitergespräche, offene und qualifizierte Leistungsrückmeldungen und – bedingt – Zielvereinbarungen sollten in Forschungsinstitutionen ihren festen Platz haben.«

3 Studie von B. Schmidt/A. Richter. Vgl: Bebber v. F. (2009): Das Führungszeugnis. duz-Magazin 11/09 vom 24.10.2009.

4 Vgl. Brinkmann R. et al (2005): Innere Kündigung, München.

5 Vgl. Dysfunktionale Führungsstrukturen. In: Haller, R. (2007): Mitarbeiterführung in Wissenschaft und Forschung, Berlin, S. 107ff.

6 Haller R. (2009): Leistungsvereinbarungen. In: Mitarbeiterführung kompakt. St. Gallen/Zürich, S. 125ff.

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Verwaltung und Management16. Jg. (2010), Heft 5, S. 277-279

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Dr. Volker UhlKaufmännischer Leiter und Vorstand Heinrich-Pette-Institut, Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie, Hamburg; Lehrbeauftragter im Studiengang Hochschul-und Wissenschafts-management an der FH Osnabrück

Das Heinrich-Pette-Institut, Leibniz-Institut für Experimentelle Viro-lo gie, in Hamburg, ist eine Forschungs einrichtung mit einem jährli-chen Grundhaushalt von ca. acht Mio. Euro und Drittmitteleinnahmen in Höhe von zwei bis drei Mio. Euro. Der Stellenplan umfasst 78,5 Mitarbeiter. Dem Institut wird ein nationales Alleinstellungsmerkmal in der virologischen Grundlagenforschung zugesprochen und die wissenschaftlichen Arbeiten befinden sich auf exzellentem Niveau. Evaluationen der Leibniz-Gemeinschaft in den Jahren 2002 und 2009 haben jedoch auch Veränderungsbedarf für das Institut aufgezeigt. Für den Teilbereich der Administration des Heinrich-Pette-Instituts soll im Folgenden dargestellt werden, wie durch ein stufenweises Changemanagement eine Reduzierung der Inputfaktoren, insbesondere der Personalkosten, und eine Verbesserung des Outputs in Form der ad-ministrativen Kernfunktionen erreicht werden konnte.

Changemanagement in der Administration eines Forschungsinstituts

Volker Uhl

Am Anfang dieses Prozesses stand kein ausgearbeiteter Megaplan, sondern die Einsicht der leitenden Wissenschaftler und der aufsichtführenden Behörde über eine aus dem „Ruder” gelaufene Verwal-tungsabteilung und die Unsicherheit über das „Wie“ des Veränderungsprozess. Die in Abbildung 1 dargestellte, überkomple-xe Aufbauorganisation der Verwaltung wurde 2005 durch hohe externe EDV-Beratungskosten begleitet. Die mangelnde Effizienz der Aufbauorganisation und lan-ge Bearbeitungszeiten im Geschäftsprozess wurden von den leitenden Wissenschaft-lern vor allem im operativen Management

wendungsgebern bewusst, allerdings be-stand auch Konsens darüber, dass der Ver-änderungsprozess nicht von außen gema-nagt werden kann. Vielmehr musste durch eine neu eingesetzte Verwaltungsleitung eine interne Steuerungsinstanz eingerichtet werden, die den Prozess gegen Widerstän-de umsetzen kann. Dabei musste sicher-gestellt werden, dass die administrative Handlungsfähigkeit erhalten blieb und insbesondere die Haushalts- und Finanz-transaktionen nicht gefährdet werden. Die Verwaltungsführung entschied sich daher in 2005 für einen mehrstufigen und lang-fristigen Prozess des Changemanagements.

Danach wurde in einer ersten Phase das Sachgebiet Finanz- und Rechnungs-wesen restrukturiert. Der Sachgebietslei-ter Finanz- und Rechnungswesen wurde durch eine betriebsbedingte Kündigung freigesetzt und seine Aufgaben an die ver-bleibenden Sachbearbeiter verteilt. Durch die Zusammenführung von Ausführungs- und Entscheidungsfunktionen auf der Sachbearbeiterebene konnten buchhalteri-sche Geschäftprozesse, z.B. der Reisekos-tenabrechnung, erheblich schneller abge-wickelt werden, wodurch die Akzeptanz des Finanz -und Rechnungswesen deutlich verbessert wurde.

Indem höherwertige Aufgaben auf der Sachbearbeiterebene verdichtet wurden, konnten zwei Stellen höhergruppiert wer-den, wodurch auch ein finanzieller Anreiz für die Mitarbeiter entstand, aktiv an dem Veränderungsprozess mitzuwirken. Die Kombination aus Aufgabenverdichtung und Höhergruppierung erhöhte die Ar-beitszufriedenheit der Mitarbeiter und ver-besserte das Serviceniveau der Abteilung gegenüber den Wissenschaftlern. Durch

als erhebliches Hindernis wahrgenommen. Auch durch die Ressourcenbildung für administrative Prozesse – 17 Planstellen bei einem Stellenplan von 78,5 – verlor das Institut zunehmend seine strategische Flexibilität für die Besetzung innovativer Forschungsfelder in der Virologie.

Die Fokussierung auf die Ausbildung administrativer Kontrollmechanismen durch einen hierarchisierten Verwaltungs-aufbau, bestehend aus der Trennung von Ausführungs-, Entscheidungs-, und Kon-trollfunktionen, bewirkte einerseits eine Entschleunigung der administrativen Pro-zesse, für die Bearbeitung von Arbeitsver-trägen mussten vier bis sechs Wochen ver-anschlagt werden, und wurde andererseits zunehmend als Kostenproblem des Insti-tuts wahrgenommen.

Restrukturierung der Aufbauorganisation

Die Notwendigkeit des Wandels war den leitenden Wissenschaftlern und den Zu-

Das Beispiel des Heinrich-Pette-Instituts, Leibniz-Institut für Experimentelle Virologie

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die Freisetzung einer hochwertigen Sach-gebietsleiterposition und deren Transfer in die Wissenschaft erhöhte sich ebenfalls die strategische Flexibilität des Instituts.

Eine nicht triviale Aufgabe beruht in diesem Zusammenhang in der Wahl einer optimalen Einbindungsstrategie des Be-triebsrats. Um langwierige Arbeitsprozesse zu verhindern, wurde der Betriebsrat früh-zeitig in die Problemanalyse eingebunden und es wurden gleichzeitig sozialverträgli-che Abfindungsregelungen angeboten.

Optimierung der Geschäftprozesse

Mit Hilfe einer zuwendungsrechtlichen Sonderprüfung und eines Beratungsauf-trags an einen Wirtschaftsprüfer wurde im Anschluss an die Restrukturierung des Finanz- und Rechnungswesens die sachgerechte Aufgabenwahrnehmung der Personaladministration untersucht. Dabei wurden systemische Mängel der einge-setzten EDV in der Lohn- und Gehalts-buchhaltung sowie ein Qualifizierungs-defizit der Mitarbeiter/innen identifiziert. Da weder auf der Basis der bestehenden EDV-Systemarchitektur noch durch die Fachkompetenz der Mitarbeiter ein Neu-anfang möglich schien, entschied sich die Verwaltungsleitung für das stufenweise Outsourcing relevanter Prozesse der Lohn- und Gehaltsabrechnung und des administ-rativen Vertragsmanagements. Dieser Pro-zess des sukzessiven Outsourcings sollte dabei von einem stufenweisen Personalab-bau – von drei auf einen Mitarbeiter – be-gleitet werden.

Durch das Instrument von Auflösungs-verträgen mit langen Laufzeiten erhielten die Mitarbeiter die Möglichkeit, mit ent-sprechendem Vorlauf eine neue Stelle zu finden, wobei das Institut das kumulierte Wissen der Mitarbeiter in die neue Sys-temkonfiguration transferieren konnte. Indem ein Parallelbetrieb alter und neuer Strukturen einkalkuliert wurde, konnte der worst case, d.h. der vollständige Kol-laps der Lohn- und Gehaltsabrechnung mit unberechenbaren rechtlichen Folgen verhindert werden.

Am Ende des Outsourcing-Prozesses, der von 2007 bis 2008 abgewickelt wur-de, bestand eine einfache Schnittstelle

zwischen dem Institut, das dem externen Dienstleister den Input für die Lohn- und Gehaltsabrechnung zur Verfügung stellt, sowie einer kompletten Abwicklung der administrativen Funktionen der Lohn- und Gehaltsabrechnung durch den exter-nen Dienstleister.

Die zentralen Entscheidungsfunktionen verblieben in der Organisationshoheit des Instituts. Die Planung und Besetzung der vorhandenen Planstellen und die Steuer-ung und Kontrolle des Personalkostenbud-gets wurden damit zu den strategischen Kernaufgaben der Personaladministration.

Institutsspezifische Planungstools konnten nicht von dem externen Dienst-leister erworben werden, sondern mussten vom Heinrich-Pette-Institut durch eigene Programmierung erstellt werden. Dabei

zeigten sich die Stärke und Schwächen ex-terner Dienstleister. Die rechtlich korrekte Abbildung öffentlicher Lohn- und Ge-haltsabrechnungen für eine große Anzahl von Kunden und deren Mitarbeiter kann von ihnen hervorragend abbildet werden, wohingegen für institutsspezifische Pla-nungs- und Kontrolltools die eigenständi-ge Programmierung vorteilhafter ist.

Ein Beispiel, welches die aktuelle Or-ganisation der Personalkostenplanung am Heinrich-Pette-Institut zeigt, ist Abbildung 2 zu entnehmen. Ausgehend von der Aus-lastung der Stellen mit Mitarbeitern durch die Abteilungen/Kostenstellen wird das verfügbare Budget der jeweiligen Organi-sationseinheit errechnet und entsprechen-de Finanzreste der jeweiligen Abteilung frühzeitig zur Verfügung gestellt.

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Uhl, Changemanagement in der Administration eines Forschungsinstituts

Abb. 1: Organigramm der Verwaltungsabteilung 2005

Abb. 2: Beispiel einer Eigenprogrammierung, Besetzung der Abteilungen/Kostenstellen mit Mitarbeitern

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Kooperationsformen mit anderen Instituten

Für das Management des Technologie-transfers wurde hingegen ein Kooperati-onsmodell für die Aufgabenwahrnehmung gewählt. In Zusammenarbeit mit dem be-nachbarten Bernhard-Nocht-Institut und dem Forschungszentrum Borstel wurde mit der Life Science Agentur Ascenion ein langfristiges Beratungs- und Betreuungs-arrangement gestaltet. Danach berät die Agentur den Vorstand und die Forscher des Instituts in allen Fragen des Patent- und Erfindungsmanagements. In diesem Kooperationsmodell wird eine langfris-tige Integration des Dienstleisters in die interne Wertschöpfungskette angestrebt, gleichzeitig aber die rechtliche und organi-satorische Trennung der Partner aufrecht-erhalten. Diese hybride Organisations-

form ist aus unterschiedlichen Gründen vorteilhaft. Zum einen kann eine mittel-große Forschungseinrichtung keine eige-ne Planstelle für den Technologietransfer finanzieren und zum anderen wäre auch der Arbeitsaufwand für eine vollständige Stellenauslastung nicht ausreichend. Zu-sätzlich umfasst die Aufgabenstellung ein solches Spezifikationsprofil, das sie nicht von internen Mitarbeitern neben dem Ta-gesgeschäft realisiert werden kann. Durch die langfristige vertragliche Bindung der Patentagentur Ascenion konnte eine nach-haltige Einbindung des externen Partners in den Verwertungsprozess der wissen-schaftlichen Forschungsinstitute erreicht werden.

Erfolgsfaktoren einer hybriden Verwaltungsorganisation

Wie oben ausgeführt, hat der Prozess der Verwaltungsmodernisierung von 2005 bis 2009 am Heinrich-Pette-Institut zu einer sehr heterogenen Aufgabenwahrnehmung

Uhl, Changemanagement in der Administration eines Forschungsinstituts

durch unterschiedliche Organisationsty-pen geführt. Die Wahl des Typus der Or-ganisationsstruktur erfolgte dabei über eine Reflexion der Erfolgsfaktoren der Geschäftsprozesse. Für die Administration des Heinrich-Pette-Instituts wurden fol-gende Erfolgsfaktoren identifiziert.

Rechtssicherheit, Schnelligkeit/Flexibilität und Kosteneffizienz

Bei der Entscheidung, ob Geschäftsprozes-se durch die eigene Organisation, durch externe Partner oder durch eine hybride Kooperationsform ausgeführt werden sollen, wurden die Geschäftsprozesse hin-sichtlich ihrer Relevanz für die Umsetzung dieser Erfolgsfaktoren bewertet.

Da z.B. der Chemikalienbedarf, ins-besondere unter Berücksichtigung von

„Schnelligkeit und Flexibilität“ realisiert werden muss, wurde eine interne Organi-sationslösung für diesen Geschäftsprozes-se gewählt.

Gleiches gilt für die Bewirtschaftung der Haushalts- und Drittmittel oder den Stellenplan. Diese Geschäftsprozesse er-fordern eine Verortung der Mitarbeiter in-nerhalb der Organisation, um eine schnel-le und flexible Aufgabenwahrnehmung zu gewährleisten.

Demgegenüber wurde in der internen Bewertung der Geschäftsprozesse „Ein-kauf von Großgeräten“ oder der „Be-schaffung von komplexen Bauleistungen“ den Erfolgsfaktoren „Rechtssicherheit“ und „Wirtschaftlichkeit“ eine dominieren-de Relevanz zugeordnet.

Da das entsprechende fachliche Know-how für diese Geschäftsprozesse in einem mittelgroßen Leibniz-Institut wirtschaft-lich nicht vorgehalten werden kann und

nur größere Organisationseinheiten Men-geneffekte erreichen können, wurde das Outsourcing oder eine hybride Aufgaben-wahrnehmung für diese Geschäftsprozesse angestrebt.

Aus einer überkomplexen hierarchi-schen Verwaltungsorganisation ist dabei von 2005 bis 2009 eine Organisation ent-standen, die sowohl hierarchische Verwal-tungsstrukturen als auch marktwirtschaft-liche und hybride Organisationselemente enthält. Insgesamt konnten von 17 Stellen drei Stellen abgebaut sowie die jährlichen Beratungskosten von 400.000 Euro auf unter 100.000 Euro reduziert werden, wobei durch die Bildung einer neuen Stel-le eines EDV-Systemadministrators erst die Voraussetzungen geschaffen wurden, die EDV-Beratungskosten in den „Griff“ zu bekommen.

Hier wie in dem gesamten Prozess galt der Grundsatz „erst investieren, dann ein-sparen.“

Festzustellen ist aber auch, dass die Lo-gik des Managements hierarchischer Ver-waltungsprozesse, marktwirtschaftlicher und hybrider Prozesse die Fähigkeit ver-langt, in unterschiedlichen Systemwelten zu agieren. Dabei kann die Zusammenar-beit mit marktwirtschaftlichen Partnern, die einer ausschließlich gewinnorientierten Logik folgen, auch erhebliche finanzielle Risiken verursachen, wie wir insbesondere bei komplexen Bauprojekten lernen konn-ten.

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»Changemangement zu einer hybrigen Verwaltungsorganisationen erfordert Mut, finanzielle Investitionen und einen gemeinsamen politischen Willen der Handelnden.«

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Redaktionsanschrift: Prof. Dr. Veith Mehde (V.i.S.d.P.), Juristische Fakultät der Leibniz Universität HannoverKönigsworther Platz 1 | 30167 HannoverTel. (0511) 762 - 8206 | Fax (0511) 762 - 19106E-Mail: [email protected] | www: http://www.verwaltung-management.de

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Nachrichten

VM 5/2010280

Dreiländertagung „Die Rolle des Staates in der Informationsgesellschaft“

18./19. November 2010, BerlinDie Tagung wird von den verwaltungswissenschaftlichen Sek-tionen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz in Zu sam-menarbeit mit dem Bundesministerium des Innern veranstaltet.

Den Eröffnungsbeitrag hält die Staatssekretärin im Bundes-ministerium des Innern und Beauftragte der Bundesregierung für die Informationstechnik, Frau Cornelia Rogall-Grothe. Danach folgen Länderberichte zu „Staatliche und regulative Rahmen-bedingungen für E-Government“ von

Abteilungsleiter Mag. Peter Kustor, Bundeskanzleramt, Wien (Österreich)

Prof. Dr. Andreas Ladner, IDHEAP, Universität Lausanne (Schweiz)

IT-Direktor im Bundesministerium des Innern Martin Schalbruch (Deutschland)

Am zweiten Tag folgen zunächst die Länderberichte „Internet als Reformmotor für die Verwaltungs organisation“ von:

Thomas Reitze, Direktor Public Sector Microsoft Schweiz (Schweiz)

Prof. Dr. Tino Schuppan, Geschäftsführer des IfG.CC der Universität Potsdam (Deutschland)

Mag. Dr. Peter Parycek, MAS, Zentrum für E-Government, Donau-Universität Krems (Österreich)

Danach folgen die Länderberichte zu„Staat-Bürger-Beziehungen in der Informationsgesellschaft – Was bringt die Zukunft?“ von:

Dr. Leonard Novy Stiftung neue Verantwortung, Berlin (Deutschland)

Mag. Robert Krimmer, Büro ODIHR, Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) (Österreich)

Prof. Dr. Reto Steiner, KPM Universität Bern (Schweiz)

Weitere Informationen: www.deutschesektion-iias.de/tagungen.html

„e-motion 2010 – Stadtentwicklung und IuK-Techno-logien“

11./12. November 2010, BonnVom 11.-12.11. findet zum dritten Mal die Tagung „e-motion – Stadtentwicklung und IuK-Technologien“ im Haus der Deutschen Welle in Bonn statt. In diesem Jahr steht der Zusammenhang zwischen Wirtschaft, neuen Technologien und Stadtentwicklung im Mittelpunkt der Tagung. Im Rahmen dieser Konferenz geht es darum zu klären, welche Auswirkungen breitbandige IuK-Technologien auf die Lebensqualität für die Menschen und die Standortqualität für die Unternehmen haben. Räumliche und gesellschaftliche Auswirkungen dieser Technologien in verschie-denen Städten und Anwendungsbereichen stehen im Mittelpunkt

der Tagung. Mit der Konferenz „e-motion 2010“ wird in diesem Jahr der Bereich Zukunft von Wirtschaft und Arbeit vertieft. Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien eröffnen Standortfreiheiten für wirtschaftliche Aktivitäten, z.B. Online-Einkauf von zuhause, innovative Konzepte für die Abwicklung des Güterverkehrs oder „mobile“ Arbeitsorganisation.

Am ersten Tag werden die Themen im Rahmen von Impulsvorträgen von Wissenschaftlern und Praktikern behandelt und am zweiten Tag vertiefend in drei Workshops diskutiert.

Weitere Informationen: http:// www.e-motion2010.dehttp://www.twitter.com/forschung_tcity