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Strukturen eines antinapoleonischen Aufstands: Grebenstein 1813 ffi -S von STEFAN BRAKENSIEK O s=* W H K <J *—* X U Q Ü W '< 5 S 15 £ u .5 S u öß_Ö 2£> W3 ö (U 3 >% S - ggg s H ^ öS oo c « G I P- o. Q ^ ^ l < * Z £ 9 -fi ES -i Nachdem die Armeen Napoleons die Schlacht bei Leipzig am 19. Oktober 1813 gegen die alliierten Heere der Russen, Österreicher und Preußen verloren hatten, löste sich der Rheinbund rasch auf. Mit ihm gingen die erst wenige Jahre alten Reformstaaten im nordwestlichen Deutschland unter, so auch das Königreich Westfalen, das unter der Krone des jüngsten Napoleon-Bruders gestanden hatte. 1 Schon Ende September 1813 tauchten als Vorboten des Endes der französischen Herrschaft kleine Kosaken-Streiftrupps auf, die ungehindert durch Hessen und Niedersachsen ziehen konnten, da sich die Hauptkontin- gente der westfälischen und französischen Armeen in Sachsen befanden. Das angestammte hessische Fürstenhaus trat seine Herrschaft im Dezember 1813 wieder an. Im Oktober und November des Jahres 1813 bestand ein Machtva- kuum, mehrere Wochen ohne eindeutige staatliche Ordnung. König Jeröme und sein Hof, die Minister, die Spitzen der Geheimpolizei, der Generalstab, überhaupt alle französischen Amtsträger flohen über den Rhein. Zurück blie- ben die deutschstämmigen Beamten in den mittleren und lokalen Behörden, die zwar versuchten, die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, was ihnen jedoch m keiner Weise gelang. In diesen Wochen beherrschten gewaltbereite Gruppen vielerorts die Szene: Alte Rechnungen wurden beglichen, zahlreiche Personen wurden bedroht, gedemütigt, geschlagen, ernsthaft verletzt, in ein- zelnen Fällen sogar ermordet. Die Wohnungen der Mißliebigen wurden ge- plündert und verwüstet. 2 Am Fall der Stadt Grebenstein sollen einige charakteristische Merkmale dieser Umbruchsphase vorgestellt und Überlegungen angestellt werden, war- um es zu dem Gewaltausbruch kam und welchen Regeln er folgte. Denn re- gellos war die Gewalt keineswegs, auch wenn sie den Betroffenen so erscheinen mochte. Die Kleinstadt Grebenstein liegt etwa 20 km nördlich der Haupt- und Als Gesamtdarstellung weiterhin unersetzt: Klcinschmidt, Arthur: Geschichte des Königreichs Westfalen, Gotha 1893. Zu den Ambivalenzen der napoleonischen Reformpolitik: Berding, Heimut: Napoleonische Herrschafts- und Gesellschaftspolitik im Königreich Westfalen 1807- 1813, Gottingen 1973. Zu den westphälischen Reichsständen vgl. Obenaus, Herbert: Die Reichs- sta'nde des Königreichs Westfalen, in: Francia 9 (1981), S. 299-329; Brakensiek, Stefan: Die Reichsstände des Königreichs Wcstphalen, in: Westfälische Forschungen 53 (2003), S. 215- 240. Eine aktuelle Darstellung fehlt, so dass man zurückgreifen muss auf: I leitzcr, Heinz: Insurrek- tionen zwischen Weser und Elbe. Volksbewegungen gegen die französische Fremdherrschaft im Königreich Westfalen (1806-1813], Berlin 1959. Hinweise und Belege auch bei: Lynckcr, Karl: Geschichte der Insurrectionen wider das westfälische Gouvernement. Beitrag zur Geschichte des deutschen Freiheitskrieges, Kassel 1857.

Strukturen eines antinapoleonischen Aufstands: Grebenstein 1813hg0090/pdfe/Brakensiek_Strukturen... · 2011. 4. 30. · Strukturen eines antinapoleonischen Aufstands: Grebenstein

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  • Strukturen eines antinapoleonischen Aufstands:Grebenstein 1813

    ffi -Svon

    STEFAN BRAKENSIEK

    Os=*

    WHK

  • 46 Stefan Brakensiek

    Residenzstadt Kasse). Inder Stadt wohnten zu dieser Zeit etwa 1.800 Einwoh-ner; sie war Sitz von Kantonsbehörden und Friedensgericht, sowie Standortdes zweiten westfälischen Kürassierregiments, das sich zur fraglichen Zeit imFelde befand.

    Was trug sich in Grebenstein in den entscheidenden Tagen zu? Am Abenddes 27. September 1813 kam der Befehl vom westfälischen Generalstab inKassel, das Magazin der Kürassiere in die Festung Ziegenhain zu verlegen. Amfolgenden Morgen wurden 32 Wagen beladen und verließen die Stadt. Kurzdarauf vernahmen die Grebensteiner Kanonendonner. Der Maire des Kantons,Friedrich Ludwig Kröschell, berichtete:

    »Mit einigen Freunden wollte ich eben den nahe gelegenen sogenannten Burgbergersteigen, um zu erfahren, woher der Kanonendonner käme. Als wir in die Gegenddes Reithauses [Örtliche Kaserne, S.B.] kamen, erblickten wir einen Zusammenlaufvon Menschen. Wir gingen hin, um uns wegen der Ursache desselben zu erkundi-gen. Bei unserer Ankunft fanden wir auf der Straße rechts und links Kisten, Fässerund Ballen pp. zerstreut hegen. Als ich mich erkundigte, woher dies käme? erfuhrich: Mehrere mi: diesen Effekten beladene Wagen, welche von den nächsten Dör-fern gewesen, wären zurück gekommen, die Fuhrleute härten solche in aller Eileabgeworfen und erzählt, es wären ihnen unterwegs Gens d'armes begegnet undhätten erzählt, dass Kosaken m Kassel einmarschiert seien, sie möchten also gleichumdrehen, und sich nicht unglücklich machen. (...) Ich gab einem Polizeidienerden Auftrag, Leute zu holen, welche solche [Gegenstände, S.B.] in das Reithausbrächten. Es wollte sich aber niemand dazu verstehen. Ich bot den UmstehendenGeld, aber auch umsonst. Jetzt kamen vernünftigere Einwohner, sahen es besserals jene ein, und halfen die Kisten pp. ins Reithaus wälzen. Ich ließ ein Schloßdaran hängen und gegen Abend durch 24 Bürger bewachen. Gegen 10 Uhr kameneinige dieser Wachen zu mir und beklagten sich, dass sie dem Aufdrängen desPöbels nicht widerstehen könnten. Ich trug denselben auf, jenen vorzustellen, wiees ihnen so wie der ganzen Scadt zum größten Nachteil und Verantwortung gerei-chen würde, wenn sie sich an den Militäreffekten vergriffen, und dass ein jederruhig nach Haus gehen möchte. Diese Leute gingen mit diesem Auftrag weg undes blieb nun einige Zeit ruhig. Um halb 12 Uhr kamen aber mehrere andere undmeldeten mir, dass man von allen Seiten das Reithaus bestürme, dass sie des Lebensnicht mehr sicher wären, mit Steinen beworfen würden und nicht länger mehrWiderstand leisten könnten, sondern abziehen müsstcn. Hiergegen konnte ich nunnichts mehr tun, die Wache ging ab, und nun wurden alle Effekten rein ausgeplün-dert, so dass des anderen Morgens keine Spur mehr übrig geblieben war.«1

    Was Kröschell unspektakulär »Effekten« nannte, waren "Waffen; Säbel, Pisto-len, Gewehre und Patronen. Seither war den Amtsträgern des KönigreichsWestfalen die Kontrolle über ihren Ort vollkommen entglitten - von diesemZeitpunkt an trat die Menge bewaffnet auf. Der Maire berichtete weiter:

    »Am 29. September machte ich den Einwohnern unterm Glockenschlage bekannt,dass alle diejenigen, welche von den geraubten Effekten in Händen hätten, solchesofort auf das Rathaus abliefern sollten. Es erfolgte aber auf diese Bekanntmachung

    ProMemorkdesKantonsmaire Kroeschell, Kassel den 14. Nov. 1813, in: Staatsarchiv Marburg(StAM), Bestand 325/30, Nr. 10: Kroeschel'scne Familienpapiere, unpaginiert. Die Schreibweisealler Zitate wurde der heutigen Orthographie vorsichtig angepasst.

    Strukturen eines antinapoleonischen Aufstands: Grebenstein 1813 47

    nichts. (...) Am 30. September das Abends und bis lange in die Nacht hinein, wur-de viel in den Straßen gesungen, ohne dass jedoch weiter keine Exzesse vorfielen.Am 1. Oktober kam eine Kosaken-Patrouille hierher, und zugleich verbreitete sichdas Gerücht, der ehemalige Kurprinz von Hessen sei in Kassel eingezogen. DieserUmstand exaltierte die Gemüter sehr.«4

    Dieses - übrigens zutreffende Gerücht - ließ viele Personen hoffen, dass dieverhasste Herrschaft Napoleons und seiner Helfer zu Ende ging. Was zahl-reiche Bürger von Grebenstein gegen den Maire zusätzlich aufgebracht hatte,war der Umstand, dass er auch angesichts des bevorstehenden Endes der fran-zösischen Herrschaft noch vorbeiziehende verwundete Soldaten mit Lebens-mitteln versorgte. Er selbst betrachtete das als einen selbstverständlichen Aktder Humanität, viele in der Gemeinde erkannten in ihm jedoch den unverbes-serlichen .Franzosenfreund. Kröschell hatte schon mehrere Tage mitanseheiiund -hören müssen, wie sich das Unheil zusammenbraute. Sie

    »(...) kamen jeden Abend in der Dämmerung mit einem sehr unanständigen Ge-brülle - es sollte Gesang sein - durch die Straßen der Stadt, nachdem sie vorherdurch Branntwein, den man ihnen nicht spärlich gereicht, berausch: waren. An-fangs kamen sie in einiger Entfernung von meiner Wohnung vorbei, als sich aberdas Gerücht von Annäherung der Russen immer mehr verbreitete, da näherte sichauch der Gesang immer mehr, bis solcher endlich bei meiner Wohnung erscholl.Ls waren lauter schimpfliche Zoten und Spottlieder. Ich verhielt mich ganz ruhigund tat, als ob ich nichts gehört hätte, da ich ohnehin keine Macht in Händenhatte.«5

    Er berichtet weiter:

    »An dem Abende dieses Tages [dem 1. Oktober 1813, S.B.] versammelte sich nunein großer Haufen Bürger auf dem Markte, fingen mit einem Hurra an, und sangennun durch alle Straßen der Stadt. Alle waren mit starken Prügeln oder Pallaschenund Pistolen versehen. Der Lärm wurde immer arger und niemand getraute sichmehr aus dem Haus. Gegen 10 Uhr war es einigermaßen stille, worauf ich zu Bet-te ging, in der Hoffnung, dass der Lärm, wie den Abend zuvor, nunmehr zu Endesei. Es dauerte jedoch nicht lange, als cm großer Schwärm betrunkener Leute miteinem schrecklichen Lärm vor meiner Wohnung erschienen, mich einen Schurken,einen Coujon, einen Spitzbuben schimpften, mit Steinen an die Haustüre undWindläden schlugen, sich aber hierauf wieder entfernten. Kaum harte dies Vi Stun-de gedauert, als sie wiederum vor dem Hause erschienen, mit erschrecklichenSchimpfworten mich heraus riefen, und nun anfingen mit Steinen die Fenster ein-zuwerfen. Um unser Leben zu sichern, begaben meine Frau und ich, nebst einemSäugling uns in den hintern Teil des Hauses. Jetzt wurden die Windläden der unternEtage erbrochen und zerschlagen, die Hatipttürc gewaltsam erbrochen, keine Fens-ter in der ganzen untern Etage, weder Glas noch Holz ganz gelassen, so wie in denobern Etagen mehr als 50 Scheiben eingeworfen.«6

    Ebd.Ebd.Abschrift des Berichts von Kantonsrnaire Kroschel, Grebenstein, den 11. Okt. 1813, in; Ge-heimes Staatsarchiv Berlin, Abt. V, Kgr. Westfalen Rep. 2 I Nr. 33, Acta des Generalinspektorsder Gensdarmerie, Direktors der Hohen Polizei, General von Bongars, betr. die Ereignisse imFuldadepartement in Folge des Eindringens der Alliierten, Bl. 7-8.

  • Stefan Brakensiek

    Kantonsmaire Kröschell und seine Familie konnten sich mit Müh und Not zuVerwandten in der Nachbarschaft flüchten, wo sie für die Nacht Unterschlupffanden. Noch lange konnten sie das Krachen, Schlagen und Toben in ihrerWohnung hören. Diese Art des Protests gegen das westfälische Regime undgegen dessen örtliche Vertreter war kein Einzelfall. Auch andernorts folgte erdem gleichen Muster. Am Anfang stand anonyme Sabotage, dann übten ein-zelne Personen demonstrativen Ungehorsam und zuletzt griffen größereGruppen auf die ganze Bandbreite ritualisierter Rügebräuche zurück. Laut-starke Besäufnisse bildeten überall den Auftakt für die Charivaris. Umzügemit Spottgesängen schlössen sich an, die sich oft an mehreren Tagen wieder-holten. Schließlich näherte man sich den Wohnhäusern der missliebigen Per-sonen, schlug auf die Fensterläden ein und zerstörte die Scheiben. Durch denritualisierten Ablauf gewannen die Unruhen eine spezifische Dynamik, denndie Bräuche waren darauf angelegt, die Hemmschwellen für psychische undkörperliche Gewaltanwendung gegenüber wehrlosen Personen herabzuset-zen. Am Ende stand meist das F,indringen in die Wohnungen der Opfer, dieZerstörung ihres Eigentums, manchmal auch ihre körperliche Misshand-lung.7

    »Jetzt zog der wilde Haufen von mir ab, und malträtierte meinen Adjunkten aufeine erschreckliche Weise, indem sie ihm ebenfalls nicht nur alle Fenster und Türen,sondern sogar auch dicMcubles zerschlagen, seine sämtliche Papiere (...) zerrissen,und auf den Straßen zerstreuten. Die Wohnung der beiden Mairicdiener wurdeebenfalls mittelst Einschlagung sämtlicher Fenstern und Türen sehr übel zugerich-tet. Mehreren anderen Einwohnern, dem Pose Verwalter, so wie auch vielen Israe-luen, wurden gleichfalls Fenster eingeschlagen, das an dem Posthaus gehangeneKönigliche Wappen herunter gerissen und zertrümmert.«*

    Demnach bildeten nicht nur die Amtsträger und die Hoheitszeichen des Kö-nigreichs Westfalen die Zielscheiben des Protests, auch die Juden wurden alslegitime Opfer der Gewalt betrachtet. Diese antijüdischen Aktionen warenkeineswegs eine Ausnahme; im Gegenteil, antiobrigkeitliche und antisemi-tische Ausschreitungen erfolgten vielerorts Hand in Hand. So berichtete Kan-tonsmaire Appelius aus dem unmittelbar benachbarten Hofgeismar:

    »Am Sonntag den 3. ward allgemein gesagt, dass sich mehrere Unruhestifter ver-sammeln und in der Nacht sich an mehreren tätlich vergreifen wollten; auch hatteeine liederliche Dirne, namens Appel, öffentlich auf der Straße gesagt, die hiesigenBürger hätten keine Courage, sie möchten [sich, S.B.] ein Beispiel an Grebensteinnehmen und es eben so wie dort machen.«9

    Ebd. betr. die Gemeinden Hofgeismar, Grebenstein und Holzhauscn. Siehe auch die parallelenBefunde zum Aufstandsverhalten in den nördlich angrenzenden Regionen: H off mann, Birgit:Aufrühre:-, Ruhestörer oder gute Patrioten? Die gerichtliche Verfolgung von Selbstjustiz undExzessen bei der Auflösung des Königreichs Westphalen irn Gebiet des Herzogtums Braun-schweig-Wolf enbiittel, in: BraunscJiweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 79 (1998), S.85-124.

    " Bericht Kröschel, Grebenstein, den 11. Okt. 1813, Bl. 7v.' Abschrift des Berichts des Kantonsmaire Appelius, Hofgeismar, den 11. Okt. 1813, in: ebenda,

    Bl. 3-6.

    Strukturen eines antinapoleonischen Aufstands: Grebenstein 1813 49

    Weiter führte er aus:

    »(...} ein hiesiger Jude hatte abends gegen einen in sein Haus eindringenden undfordernden Menschen Hauswchr gebraucht und dies gab denn Anlass, dass denmchrsten Juden (...) in dieser Nacht die Fenster eingeworfen und selbst die unterenEtagen der Häuser ruiniert wurden. Nunmehr war alles in voller Gährung undzügellos(...)«10 •

    Auch in Hofgeismar wurden die Beamten massiv bedroht. Ganz so brutalgestaltete sich der Aufstand dort jedoch nicht, weil der Pfarrer und ein früheresRatsmitglied mäßigend auf die Menge einwirkten.

    Wer waren die Aufständischen? Für Kantonsmaire Kröschell in Grebensteinwar das völlig eindeutig: »Ein gewisser Carl Fiedler von der Chasscur Gardehat sich besonders ausgezeichnet, und man hat ihn auch den Kommandantengenannt, so wie dann überhaupt der ganze Haufen größtenteils aus verlaufenenSoldaten und anderem Gesindel [bestand, S.B.].«11 Auch andernorts scheinenentlassene Soldaten, Invaliden, Handwerksgesellen und Knechte den 'hartenKern< der protestierenden Menge gebildet zu haben. Sie konnten sich freilichder Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung sicher sein.12

    Kröschell war jedenfalls gezwungen, nach Kassel zu fliehen, wo er sich solange aufhielt, bis die russischen Vorauskommandos wieder abgezogen waren.Daraufhin kehrte für kurze Zeit eine kleine Abteilung französisches Militär insnördliche Hessen zurück, was die Situation erneut zuspitzte. Würde sich ciasnapoleonische Regime - wie vorher schon mehrfach - doch wieder stabilisie-ren? Der Kommandeur der französischen Truppen befahl jedenfalls allen Be-amten, auf ihre Posten zurückzukehren. Kröschcll kam der Anordnung am 10.Oktober nach. Gerneinsam mit dem Friedensrichter erstattete er ausführlichBericht über die gewaltsamen Aktionen in Grebenstein, woraufhin 60 MannKavallerie einrückten, die Tore besetzten und die Auslieferung der Rädelsfüh-rer des Aufstandes forderten. Sollte sich die Bevölkerung weigern, drohte derKommandeur, Oberstleutnant Carrega, sechs der angesehensten Bürger alsGeiseln zu nehmen und die Stadt anzuzünden. Kröschell hatte einige Personenals Anführer namhaft gemacht, von denen jedoch nur zwei verhaftet wurden,während die übrigen rechtzeitig geflohen waren.ij

    Daraufhin wurden mehrere wohlhabende Bürger verhaftet, darunter derFriedensrichter, die beiden Pfarrer und - erstaunhcherweise - auch der MaJreKröschell. Man zwang sie, im Pferdestall der Kaserne auf bloßer Erde zu sitzen,was sie als äußerst schimpflich empfanden. Die Behandlung der Geiseln zeigteWirkung: drei weitere Rädelsführer des Aufstands wurden von ihnen ange-zeigt. Als man dieser Männer ebenfalls nicht habhaft werden konnte, wurdenihre Ehefrauen arretiert. In der Nacht vom 11. zum 12. Oktober führte man

    Ebd.Pro Mcmona des Kantonsmaire Kroeschell.Hoffmann: Aufriihrer, S. 122-124; Lange, Wilhelm: Kleine Beiträge zur Geschichte der Insur-rektionen gegen die westfälische Regierung, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichteund Landeskunde 47 (1914), S. 138-156.Dies und das Folgende nach: Pro Mcmona des Kantonsmaire Kroeschell.

  • 50 Stefan Brakensiek

    sämtliche Geiseln - Männer wie Frauen - nach Kassel in die Festung ab. Un-terwegs stellte sich einer der Gesuchten und löste dadurch seine Ehefrau aus.Das Ganze musste die Gefangenen verängstigen, denn zwischen 1806 und 1813waren in anderen hessischen Orten mehrfach Beteiligte von Aufständen gegendas napoleonische Regiment hingerichtet worden. Beruhigend war immerhin,dass die Soldaten ihre Drohung, die Stadt einzuäschern, nicht wahrmachten.Die Gefangenen brachten 14 Tage im Kastell der Hauptstadt Kassel zu. Siewurden erst frei gelassen, als die französische Rurnpftruppe erneut - und dies-mal endgültig - vor den Alliierten abziehen musste.

    Über die Haftzeit berichtet Kantonsmaire Kröschell:

    »Obgleich den sämtlichen Geiseln die Ursache ihres Arrests sehr gut bekannt war,so betrachteten sie doch solchen als ein Werk von mir, welches ich allem veranlassehätte. Sogar die Prediger sind schwer davon abzubringen, der einzige, der es einsah,war der Friedensrichter. Diese irrige Idee veranlasste indessen die weitere Empö-rung gegen mich (...)«H

    Während der Zeit seiner Haft wurden nämlich die Familie und das Haus desMaire in Grebenstein erneut zur Zielscheibe von gewaltsamen Aktionen. Zu-nächst drang der Ehemann einer der weiblichen Geiseln in Kröschells Woh-nung ein und bedrohte dessen Ehefrau. Am Abend des 1. November 1813wurde das Haus dann von - angeblich - nur sechs Personen gestürmt. SeineFamilie floh gerade noch rechtzeitig, denn eine immerhin 40 Mann starke, mitGewehren bewaffnete Bürgergarde schützte sie nicht, sondern ließ die Auf-ständischen gewähren, ja einige Gardisten beteiligten sich sogar an der anschlie-ßenden Plünderung. Die Wohnung wurde »völlig ruiniert, alle Möbel, ohneUnterschied mit Äxten zerschlagen, alle Ofen abgebrochen, die Küche zerstört(.,.)«15 Diese rituellen Akte sollten dem Beamten und seiner Familie vor Augenführen, dass eine erneute Rückkehr nach Grebenstein chancenlos war. DieAufständischen raubten alles Bargeld und sämtliche wertvollen Gegenstände,die sich leicht transportieren ließen. In der selben Nacht erlitten der Mairiead-junkt, der Zwangs befehlsträger, der Steueraufseher und der Mairiediener dasgleiche Schicksal.

    An dieser Stelle sei die Schilderung des Geschehens in Grebenstein unter-brochen und der Frage nachgegangen, wie man diese und andere, ähnlichverlaufende Revolten bewerten soll. Waren sie ein Ausdruck der exzeptionellenSituation während der kurzen napoleonischen Epoche? Dass diese Formen desAufruhrs Zukunft hatten, ist gesicherte Erkenntnis: Die Arbeiten von JacobKatz zu den H ep - H ep-Verfolgungen des Jahres 1819lfi und von Stefan Rohr-bacher zu den antijüdischen Ausschreitungen im Vormärz und in der 48crRevolution17 haben deutlich gemacht, dass es in den folgenden Jahrzehnten

    Ebd.Ebd.Katz jacob: Die Hep-Hep-Verfolgungen des Jahres 1819, Berlin 1994.Rohrbacher, Stefan; Gewalt im Biedermeier. Antijüdische Ausschreitungen in Vorrnärx undRevolution (1815-1848/49), Frankfurt u.a. 1993. Siehe auch: Gailus, Manfred: Anti-JewishEmotion and Violencc in thc 1848 Crisis of German Society, in: Hoffmann, Christhard/Berg-

    Strukturen eines antmapoleonischen Aufstands: Grebenstein 1813 51

    vielerorts zu einer Verquickung von Teuerungsunruhen, Revolten gegen ob-rigkeitliche Bevormundung und feudale Bedrückung sowie Pogromen gegenJuden kam. Kurhessen bildete dabei jedesmal ein wichtiges Aufstandsgebiet,meistens allerdings die weiter südlich gelegenen Landesteile an Fulda undWerra.18

    Robert von Friedeburg hat in diesem Zusammenhang argumentiert, dass diegewaltsamen Bewegungen des Vormärz und noch die antisemitischen Par-teigründungen des Kaiserreichs auf einer wesentlich älteren Tradition des an-tiobrigkeithchen und antijüdischen Gemeindeprotests aufruhten. Schon in derFrühen Neuzeit habe sich der Unmut weiter Teile der christlichen Bevölkerungzugleich gegen die Obrigkeit und die Juden gewandt. Diese auf den ersten Blickeigenartige Verbindung sei dadurch zustande gekommen, dass die Landes-herren den verhassten Juden durch Verleihung von Schutzbriefen ein Bleibe-recht zugestanden hätten. Diese Form des Protests gegen Obrigkeit und Judensei vor allem deshalb so dauerhaft vorgebracht worden, weil er von vielenprotestantischen Pfarrern, darunter vor allem den Lutheranern, argumentativgestützt und legitimiert wurde.19

    Dagegen hat Christoph Kampmann eingewandt, dass die antijüdischen Kra-walle des Vormärz in erster Linie auf aktuelle politische Entwicklungen zu-rückzuführen waren: Erst die Emanzipation der Juden habe diese aus dertraditionellen Position der rechtlich diskriminierten Außenseiter herausge-führt und sie zu Mitbürgern gemacht. Zwar habe es in der Tat einen traditio-nellen christlichen Antisemitismus gegeben, ohne den die Gewaltsamkeitengegen Juden nicht zu verstehen seien. Großräurnige Pogrome habe es aber erstals Reaktion auf die Emanzipation gegeben, mit dem Ziel, den Juden ihrensozusagen einzig >legitimen< Ort als verfemte Außenseiter erneut zuzuweisen.20Ich möchte Kampmann im Wesentlichen beipflichten und ergänzen, dass die-se Pogrome bereits 1813 erstmals aufflammten und nicht erst 1819. Dadurch

    mann, Werner/Walscr Smith, Helmut (Hrsg.): Exclusionary VioJence. Amisemitic Riocs inModern German History, Arm Arbor 2002, S. 43-65.Von Friedeburg, Robert: Kommunaler Antisemitismus. Christliche Landgemeinden und Judenzwischen Eder und Wcrra vom späten 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Richarz, Mo-nika/Rürup, Reinhard (Hrsg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischenGeschichte, Tübingen 1997, S. 139-171.Von Friedeburg, Robert: Ländliche Gesellschaft und Obrigkeit. Gcmcindeprotest und politischeMobilisierung im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 1997, insb. S. 171-204.Kampmann, Christoph: Protest gegen die Obrigkeit? Zur Deutung der Judenfeind liehen Un-ruhen wahrend des Vormärz, in: Historisches Jahrbuch 121 (2001), S. 471-500. Zur Emanzipa-tion der Juden: Horwitz, Ludwig: Die Israeliten unter dem Königreich Westfalen. Ein akten-mäßiger Beitrag zur Geschichte der Regierung König Jerömc's, Berlin J 900; Kropat, Wolf-Arno:Die Emanzipation der Juden in Kurhessen. und Nassau im 19. Jahrhundert, in: Heinemann,Christine (Bearb.): Neunhundert Jahre Geschichte der Juden in Hessen. Beiträge zürn poli-rischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben, Wiesbaden 1983, S. 325-349; Berding, Helmut:Die Emanzipation der Juden im Königreich Westphalen (1807-1813), in: Archiv für Sox.ialge-schichte 23 (l 983), S. 23-50. Zur Geschichte der jüdischen Gemeinden in Kurhessen (darunterauch derjenigen in Grebenstein) im 19. Jahrhundert: Schwarz, Anke: Jüdische Gemeindenzwischen bürgerlicher Emanzipation und Obrigkeitsstaat. Studien über Anspruch und Wirk-lichkeit jüdischen Lebens in kurhessischen Kleinstädten im 19. Jahrhundert, Wiesbaden 2002.

  • 52 Stefan Brakensiek

    gewannen sie besondere Virulenz, denn sie richteten sich zunächst eben nichtgegen die traditioneile Obrigkeit der deutschen Fürsten, sondern gegen die inhohem Maße diskreditierte napolconische »Fremdherrschaft«. Getragen wur-de die Bewegung meines Erachtcns nicht von einem weit zurück reichendenGemcindcprotest, sondern von wesentlich aktuelleren politischen Erfah-rungen. Erst z wischen 1806 und 1813 entstand das wohlbekannte Syndrom ausAntisemitismus und Feindschaft gegen alle »welschen« Neuerungen.21

    Um diese These zu belegen, sei ein wenig weiter ausgeholt, wobei ich michauf das Beispiel der Landgraf s chaf t Hessen-Kassel beschränke, um eindeutigeterritorialgeschichtliche Bezugspunkte zu haben. Wie stellte sich Fürstcnherr-schaft im 18. Jahrhundert in diesem Territorium dar? Galt sie weithin als legi-tim, oder sah sie sich verbreitetem antiobrigkeitlichen Protest ausgesetzt? Ichmöchte - im Gegensatz zu Robert von Friedeburg - behaupten, dass das land-gräfliche Regiment zwar beileibe nicht unumstritten war, gleichwohl nichtgrundsätzlich angezweifelt wurde. Als >Lackmustest< für die Legitimität desRegiments bietet sich an zu fragen, ob die lokalen Amtsträger bereits im 18.Jahrhundert in vergleichbarem Maße angefeindet wurden wie das örtliche Per-sonal des Königreichs Westfalen.

    Für die Stellung der Amtsträger war entscheidend, dass sie keinem einheit-lichen Untertanenverband gegenüber standen, sondern sich mit einer sozialund rechtlich fraktionierten Wirklichkeit arrangieren mussten. Zum einen er-wies sich der Unterschied zwischen Stadt und Land als ausgesprochen bedeu-tungsvoll. Das Urteil, das die Einwohner einer Amtsstadt über den unter ihnenlebenden Beamten abgaben, konnte sich diametral von dem Bild unterscheiden,das sich der ländlichen Bevölkerung bot. Hinzu kamen die großen sozialenUnterschiede zwischen den führenden Personen im Bezirk, beispielsweise ein-zelnen hier residierenden Adligen oder den städtischen Honoratioren, derEhrbarkeit in Stadt und Land, bestehend aus den Zunftbürgcrn und größerenbäuerlichen Landwirten, sowie der unterbürgerlichen und unierbäüerlichenArmut.22 Überlagert wurden der Stadt-Land-Gegensatz und die sozialen Ver-werfungen außerdem noch durch quer dazu verlaufende persönliche Loyali-täten und Feindschaften sowie durch situative Koalitionen. Das Geschick einesRichters oder Verwaltungsbeamten war gefordert, sich m diesem unübersicht-lichen Feld von Sympathien und Aversionen zurechtzufinden. Im Krisenfalllauerten beträchtliche Gefahren für Besitz, Lhre, Leib und Leben. Zugleich

    Diese Position vertritt dezidiert aufgrund der Analyse von Testen der deutschen Aufklärungund Romantik: Berghahn, Klaus I..: Wiederkehr des Verdrängten. Die Entstehung des modernenAntisemitismus zur Zeit der Emanzipation, in: Ders.: Grenzen der Toleranz. Juden und Chris-ten Im Zeitalter der Aufklärung, Köln, Weimar, 2000, S. 263-294.Diese Interpretation wird übrigens gestützt durch die zahlreichen Fälle von »Gcmcindeprotcit«bei: von Fncdcburg, Robert: "Reiche«, «geringe Leute« und »Beambte«: Landesherrschaft,dörfliche »Facti.onen« und gemeindliche Partizipation 1648-1806, m: Zeitschrift für HistorischeForschung 23 (1996), S. 2 J 9-265. Vgl. dazu auch den instruktiven Beitrag von Gottschalk, Karin:»auß dem Stattgericht ein Ambtsgericht zu inachen«. Lokale Gerichtsbarkeit zwischen landes-herrlichen Arntsträ'gcrn und städtischem Rat in Grebenscein, in: Flemming, Jens u.a. (Hrsg.):Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und G esc hl echter Verhältnisse. Festschrift fürHeide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, S. 317-332.

    Strukturen eines antinapolcomschen Aufstands: Crebenstein 1S13 53

    bildete die Fraktionierung des Untertanenverbandes die Grundlage dafür, dasssich die auf wenigen Schultern ruhende Obrigkeit überhaupt durchsetzenkonnte, denn selten einmal gelangten die Einwohner eines Amtsbezirks mehr-heitlich zu einem ablehnenden Urteil über >ihren< Beamten. Er vermochtedeshalb in der Regel, eine ihm günstig gesonnene Koalition zu schmieden, dieihn unterstützte.-23

    In diesem Zusammenhang waren die Klientelverbindungen der lokalen Be-amten zu den Machtträgern in Kassel von großer Bedeutung. Der Linfluss vonPatronage endete nicht bei den Amtleuten. Vielmehr setzten sie sowohl ihredienstlichen, als auch ihre vielfältigen informellen Kontakte >nach oben< ein,um ihr Prestige und ihren Linfluss im Amtsbezirk zu steigern.2'1 Der einzelneUntertan war vielfach gezwungen, sich den Amtmann zum Verbündeten zumachen, wenn er vom Fürstenstaat Entlastung oder Förderung erhoffte. Selbstwenn er den Amtmann umgehen wollte und sich immediat an den Landgrafenwandte, wurden seine Eingaben dem örtlichen Beamten zur Begutachtungvorgelegt, bevor ein Bescheid erging. Stadrbürger, die landesherrliche Unter-stützung für die Ansiedlung von Gewerben suchten, sei es durch Gewährungvon Privilegien, Kredite oder Steuerbefreiung, kamen nicht umhin, sich hilfe-suchend an den örtlichen Beamten zu wenden. Bauern, die aufgrund von Miss-ernten oder Kriegsfolgcn verarmt waren, und die deshalb beim Landgrafen aufSteuerstundung, Dienstbcfreiung oder verbilligten Kredit aus der Landassis-tenzkassc antrugen, fanden es geraten, sich beizeiten der Unterstützung desAmtmanns zu vergewissern. Umgekehrt waren der Fürst und die einfluss-reichen Männer am Hof und in den Zentralbehörden auf die Amtleute ange-wiesen, wenn sie Entwicklungen in der Provinz steuern wollten, weil die lo-kalen Amtsträger über einen Informationsvorsprung verfügten.25 Aufgrunddieser institutionell vorgegebenen Situation kann man die Amtleute als Maklerder Staatsmacht bezeichnen, die im Fokus eines lokalen Büschels von Bezie-hungen mit subalternen Amtsträgern und kommunalen Honoratioren standenund das entscheidende Bindeglied zwischen territorialem Fürstenstaat, Amts-ort und dessen Umland darstellten.26

    Einem Amtmann waren viele Möglichkeiten an die Hand gegeben, dieseMachtkonstellation zu seinen Gunsten auszugestalten. Innerhalb der Amts-

    23 Brakensiek, Stefan: Fürstendiencr - Staatsbeamte - Bürger. Amtsführung und Lebenswelt derOrtsbeamten in niederhessischen Kleinstädten (1750-1830), Göttingen 1999, insb. S. 331-374.

    2< Ebd, S. 276-330." Dazu am Beispiel der Implementation aufgeklarter Reforrnpolitik in Baden: Holcnstein, Andre:

    »Local-Untersuchung« und »Augenschein«. Reflexionen auf die Lokalität im Verwaltungsden-ken und -handeln des Ancien Regime, in: "WerkstattGeschichte 16 (1997), S. 19-31; ders.: »GutePolicey« und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Regime. Das Fallbeispiel der Markgraf-Schaft ßaden(-Durlach), 2 Bde., Epfendorf 2003.

    -' Der Begriff des Maklers wurde gewählt in Anlehnung an: Kettering, Sharon: The HistoricalDevelopment of Political Clicmelism, in: Journal of Interdisciplinary Historv 18/3 (1988), S.419-447, hier S. 425. Belege für die zentrale Stellung von Amtleuten bei der Gewährung vonInfrastrukturhilfen finden sich in den einleitenden Abschnitten zum 18. Jahrhundert bei: Ku-kowski, Martin: Pauperismus in Kurhessen. Ein Beitrag zur Entstehung und Entwicklung derMassenannut in Deutschland 1815-1855, Darms t ad t-Marburg 1995, S. 93-96.

  • 54 Stefan Brakensick

    Stadt gehörte dazu das Recht, Personen für die Subalternstellungen im fürstli-chen Dienst einstellen zu dürfen. Die Schreiber, Polizeidiener und Feldschützenstanden in Abhängigkeit vom Amtmann und bildeten in der Regel seine erge-bensten Diener, die ihm jedes Gerücht zutrugen, das ihnen zu Ohren gekom-men war.27 Ein beachtliches Drohpotential gegenüber jedem einzelnen Bürgerin der Stadt stellte die Polizeigerichtsbarkeit bereit, die es dem Amtmann er-laubte, selektiv Ordnungsstrafen zu verhängen und dadurch missliebige Per-sonen zu disziplinieren. Außerdem konnte der Amtmann als Leiter der Wahl-en zum städtischen Magistrat Einfluss auf deren Ergebnis nehmen. So wirdüber den Melsunger Stadtrichter, Syndikus und nachmaligen FriedensrichterJohann Justus Till (1753-1816) geklagt, er habe auf die Wahlen zum Stadtrat insolchem Maße eingewirkt, dass er lauter »Nickebrüder« um sich versammelthabe. Ein lokaler Beamter hielt sich m dieser Frage jedoch besser zurück, dennsie berührte sein Verhältnis zu den führenden Personen in der Stadt am hei-kelsten Punkt.28

    Neben den offiziellen Einwirkungsmöglichkeiten, die dem Amtmann durchseine amtliche Stellung an die Hand gegeben waren, bestanden weitere legaleund illegale Wege, die eigene Macht im Bezirk zu festigen, Amtmann Biskampin Treysa nutzte beispielsweise die Vergabe von Krediten, um Mitglieder desStadtrats, städtische Untcrbediente und Dorfvorsteher an sich zu binden.29 Fürdas Amt Wanfried ist belegt, dass Amtleute verbotenerwcise in den 1740er und1750er Jahren als Makler auf dem Immobilienmarkt in Erscheinung traten. Siekauften mehrfach kleinere Lehngüter oder kontributionsfreie Parzellen desAdels auf und vermittelten sie weiter an einzelne Landwirte oder Gruppen vonbäuerlichen Interessenten. Gewinnabsichten waren dabei nicht vorrangig;stattdessen ging es darum, sich durch Gefälligkeiten einzelne Honoratiorengewogen zu machen und sich der bäuerlichen Bevölkerung als unumgänglicherVermittler von Wohltaten zu präsentieren.30

    Die Amtleute waren an herausgehobener, zugleich aber an prekärer Stelle inihren Sprengel integriert. In der Regel begegnete man ihnen mit Respekt, nichtzuletzt, weil sie sich ihrer Position durch ständig erneuerte rituelle Überhö-hung rückversichern konnten. In ähnliche Richtung wirkte der große gesell-schaftliche Einfluss im Amtsbezirk, den die Amtleute innerhalb und außerhalbdes Dienstes geltend machen konnten. Weil sich dieser Einfluss zum Teil auch

    v Vgl. hierzu die Beiträge in dem Sammclband: Holenstein, Andre u.a. (Hrsg.): Policey in lokalenRäumen. Ordnungskräftc und Sicherheitspersonal in Gemeinden und Territorien vom Spätrnit-tclalter bis ?.um frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt/Main 2002.

    18 Simon, Herbert: Die Familie Till, ihre Entwicklung und ihre Beziehungen zu Melsungen, in:Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde % (1991), S. 227-232; Ders.:Johann Justus Till, Stadtschrciber zu Melsungen. Eine biographische Würdigung, in: Zeitschriftdes Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 91 (1986), S. 205-209.

    ™ Brakcnsiek, Stefan: Das Amtshaus an der Schwelle zur Moderne, in: Zeitschrift für Geschichts-wissenschaft, 48/2 (2000), S. 119-145, insb. S. 128-132.

    30 Vgl. die Beschreibung der Eigentumsverhältnisse an den kontributionsfreien Lehngütern inStadt und Amt Wanfried, in: Gesamthochschulbibliothek Kassel, Murhardsche Sammlung,Handschriften 4° Ms.Hass. 127: Ausführliche Beschreibung von Stadt und Amt Wanfried(Amtsexercitienbuch, Entstehungszeit zwischen 1742 und 1751), S. 26-29.

    Strukturen eines antmapolconischcn Aufsrands: Grebenstcm 1813 55

    unsichtbarer Kanäle bediente und bis in illegale Grauzonen erstrecken konnte,eilte den Amtleuten oftmals ein übertriebener Ruf der Macht voraus. Es eröff-neten sich ihnen Gestaltungs- und Handlungsspielräume - freilich durften sieden Bogen nicht überspannen, indem sie die Maßgaben der fürstlichen Zen-tralverwaltung allzu offen rnissacliteten oder die Macht der örtlichen Honora-tioren unterschätzten. Auch der Respekt der kleinstädtischen Bevölkerung vordem Beamten hatte eine gefährliche Kehrseite. Sobald größere Teile einer Ge-meinde zu dem Schluss gekommen waren, >ihr< Beamter genüge den Anforde-rungen nicht, die man legitimerweise von ihm verlangen konnte, konnte er zurZielscheibe von Sabotage und Rügcbräuchen werden.31

    Wie sicher ein Amtmann sich in seiner Stellung fühlen konnte, hing nichtallein von seinen Fähigkeiten und seinem persönlichen Ansehen bei den Un-tertanen ab. Hinzu kamen weitere integrativ wirkende Momente. Viele Unter-tanen teilten mit dem Vertreter der Herrschaft Überzeugungen und Orientie-rungen. So fiel zeitgenössischen Beobachtern immer wieder der ungewöhnlichausgeprägte Patriotismus vieler Bewohner der Landgrafschaf t Hessen-Kasselauf. Dieser Landcspatnotismus setzte sich aus mehreren Elementen zusam-men. Zunächst gehörte dazu ein Gefühl der Verbundenheit mit der herr-schenden Dynastie, die Niederhessen seit mehr als 500 Jahren, seit dem Aus-sterben der Thüringer Landgrafen im Jahr 1247, regierte. Hinzu kam eine inden frühneuzcitlichen Konflikten geschärfte konfessionelle Identität, die sichzuletzt im Siebenjährigen Krieg hatte bewähren müssen. Mehrheitlich sahensich die Untertanen und Beamten in Niederhcssen als reformierte Protestantenund ihren Fürsten als den Beschützer des rechten Glaubens. Um diese Loya-litäten zu stärken, wiesen die Landgrafen die Pfarrer regelmäßig an, den Un-tertanen Gehorsam gegenüber der Obrigkeit in Katechese und Predigt einzu-bleuen. Widerspenstigkeit sollten sie mit Höllenstrafen bedrohen undUntertänigkeit als gottgewollte Tugend verherrlichen.32 Neben der konfessio-nellen Zugehörigkeit fanden sich »einfache* Bevölkerung und Elite geeint imStolz auf ihre soldatischen Tugenden. Im Reich galten die Hessen als kriege-risch und tapfer, eine stereotype Charakterisierung, die sich allenthalben in derLiteratur der Zeit fand und die selbst von Autoren aufgegriffen wurde, die sichgegen die Subsidieiigeschäfte der Landgraten wandten. Aus diesen unterschied-

    31 Vgl. Gottschalk, Karin: Alkoholische Gärung. Herrschaftskompetenz und Eigennutz in derfrühneuzcitlichen Lokal Verwaltung Hessen-Kassels, in: Brakensiek, Stefan/Wund er, Heide(Hrsg.): Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftschaftsvermittlung im al ten F.urupa, Köln,Weimar, Wien 2005, S. 231-257.

    32 Münch, Paul: Zucht und Ordnung. Reformierte Kirchenverfassungen im 16. und 17. Jahrhun-dert (Nassau-Dillenburg, Kurpfalz, Hessen-Kassel), Stuttgart 1978; Rudcrsdorf, Manfred: Ar-tikel »Hessen«, in: Schindling, An to n/Z i e gier, Walter (Hrsg.): Die Territorien des Reichs imZeitalter der Reformation und Konfessionalisieniog. Land und Konfession 1500-1650, Bd. 4:Mittleres Deutschland, Münster 1992, S. 254-288. Zum Weiterwirken frühneuzeitlicher Kon-fessionalisicrung im 19. Jahrhundert: ZÖttlein, Helga: Gemeindliche Kirchenzucht und Anzei-gepraxis in der ersten Hälfte des 19, Jahrhunderts am Beispiel der kurhessischcm LandstadtZierenberg, in: ROSS, Friso/Landwehr, Achim (Hrsg.): Denunziation und Justiz. HistorischeDimensionen eines sozialen Phänomens, Tübingen 2000, S. 95-115; Lüdicke, Martina: Kirch-enzucht und Alltagsleben. Untersuchungen in der reformierten hessischen Geineinde Deisel1781-1914, Kassel 2003.

  • 56 Stefan Brakensiek

    liehen Quellen - Treue zum Fürstenhaus, reformierte Rcchtgläubigkcit undStolz auf die Erfolge der hessischen Waffen - schöpfte das landgräfliche Regi-ment Legitimität, die sich auch auf die Amtleute erstreckte. Um die Bedeutungdieser integrativcn Momente zu ermessen, sollte man sich vergegenwärtigen,welche Leistungen der hessische Fürstenstaat seinen Untertanen abverlangte,wie sehr der Druck von Kontributionen, Verbrauchssteuern, Abgaben undDiensten auf den Pflichtigen lastete, welchen Blutzoll sie für die Subsidienge-schäfte ihres Regenten zahlten, und welcher Reglementierung sie ausgesetztwaren.33

    Von den Wirkungen der Fürstentreue sollte man sich allerdings auch keineübertriebenen Vorstellungen machen. Gegen die harten Forderungen des hes-sischen Territorialstaats regte sich unter der vorrangig betroffenen Landbevöl-kerung durchaus Widerstand, der jedoch kaum jemals zu offener Revolte es-kalierte. Neuere Arbeiten lassen erkennen, dass die Bevölkerung in Stadt undLand überwiegend verrechtlichte Widerstandsformen wählte, d.h. Prozesseführte, sich mit schriftlichen Eingaben an den bürsten wandte und Deputati-onen an ihn entsandte. Die unverblümte kollektive Verweigerung von Dienstenund Abgaben oder der Steuerstreik bildeten seltene Ausnahmen, von mili-tanteren Aktionsformen ganz zu schweigen. Im Gegensatz zu kollektivemWiderstand war individuelle Resistenz gegen obrigkeitliche Zumutungen weitverbreitet und konnte oftmals auf die stillschweigende Zustimmung der Nach-barschaft rechnen. Die Klagen sind Legion, dass Untertanen ihre Dienste nurnachlässig erledigten, Kontributionsrückstände auflaufen ließen oder deser-tierten. Diese Befunde stimmen überein mit den Ergebnissen der Protestfor-schung zum 18. Jahrhundert: Die spektakulären Widerstandsaktionen trugensich in den Adelsherrschaften und Zwergterritorien des Reichs zu, wohingegendie Untertanen der armierten Reichsstände offenbar angesichts stehender Hee-re zu der realistischen Einschätzung kamen, dass sich Widerstand gegen über-harte Forderungen der Herrschaft sinnvollerweise legaler Wege bediente, umminimale Aussicht auf Erfolg zu haben.34

    33 Der Topos von den "tapferen Hessen« findet sich in zahlreichen Publikationen des sputen l R.Jahrhunderts: Rebmana, Andreas Georg Friedrich (Hrsg.): Das neueste graue Ungeheuer l,Straßburg 1796, § 11, S. 149-185, insb. S. 184; Riesbeck, Johann Kaspar: Briefe eines reisendenFranzosen über Deutschland an seinen Bruder zu Paris, Zürich 1783 (ND: Stuttgart 1967), S.23; Seume, Johann Gottfried: Mein Leben, Leipzig 1813 (ND: Stuttgart 1971); Riqueti, Comtede Mirabeau, Honore-Gabriel: Nachrichten und Erinnerungen an verschiedene teutsche Völker,die von ihren Fürsten nach America geschickt worden sind, o.O. 1778; Ders.: Avis aux Hessoiset autrc pcuplc de l'Allemagne, vendus par Icurs princes a l'Angleterre, Clevc 1777 (ND: Suck,Friedrich (Hrsg.): Mirabeau, Schließen und die nach Amerika verkauften Hessen. Zwei zeitge-nössische Pamphlete zum »Soldatenhandel« für den amerikanischen Bürgerkrieg, Kassel1991).

    31 Einige Hinweise zu städtischen Handwerkerprotesten: Reininghaus, Wilfried: Vereinigungender Handwerksgesellen in Hessen-Kassel vom 16. bis zum frühen 19, Jahrhundert, in: Hes-sisches Jahrbuch für Landesgeschichte 31 (1981), S. 97-148. Zu den Protes[formen in Hessen-Kassel im ausgehenden 18. Jahrhundert siehe: Speitkamp, Winfried: Soziale Unruhe und stän-dische Reaktion in Hessen-Kassel zur Zeit der Französischen Revolution, in: Berding, Helmut(Hrsg.): Soziale Unruhen in Deutschland während der Französischen Revolution, Göttingen1988, S. 130-148. Die übrigen Beiträge des Bandes verschaffen einen Überblick über den poli-

    Strukturen eines antinapoleonischen Aufstands: Grebenstein 1813 57

    Allen aufmerksamen Zeitgenossen des ausgehenden Ancien Regime standgleichwohl deutlich vor Augen, dass man sich auf dünnem Eis bewegte. DasBeispiel des revolutionären Frankreich bildete eine Warnung, die relative Ruheim Reich nicht für selbstverständlich zu halten. Die Berechtigung der Befürch-tungen erwies sich in Hessen-Kassel im Winter 1806/07 nach Jena und Au-erstedt, als Kurfürst Wilhelm I. kampflos vor der französischen Armee kapi-tulierte und fliehen musste. Die Eroberung des Landes durch Bonapartestellte nicht lediglich eine Unterbrechung des kurfürstlichen Regiments dar,sondern rüttelte an den legitimatorischen Grundfesten des Fürstenstaats über-haupt. Das hessische Militär fühlte sich von der politischen Führung des Landesim Stich gelassen und verraten. Weil die hessischen Stabsoffiziere in Mainzinterniert worden waren, fehlte den Soldaten die gewohnte Informations- undKommandostruktur. So machte sich ihre Verbitterung über die schmachvollenUmstände der Okkupation in weitgehend unkoordinicrtcn, örtlichen Akti-onen gegen die Bcsatzungsarmee Luft. Die hessische Bürokratie lavierte hilflos.Gleichfalls der gewohnten fürstlichen Führung beraubt, einem abstrakten Ide-al von Ruhe und Ordnung verpflichtet, konnten weder die Beamten in Kasselnoch die Amtleute in der Provinz einem Soldatenaufstand positive Seiten ab-gewinnen, selbst wenn er legitimistische Ziele verfolgte.

    Rasch standen die Amtleute bei der erregten Bevölkerung unter Konspira-tionsvcrdacht, der sieb zur Gewissheit verdichtete, als sie begannen, im Auftragder Besatzungsarmce Waffen einzusammeln, Gespanne zu requirieren, außer-gewöhnliche Kontributionen einzufordern und schließlich die entlassenen

    tisicrenden Effekt der Französischen Revolution im Reich. Allgemeine Überblicke: Suier, An-dreas: Regionale Kulturen von Protest und Widerstand im Spätmittelaher und in der FrühenNeuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 161-194; Tilly, Charles: Hauptformenkollektiver Aktion in Westeuropa 1500-1975, in: Geschichte und Gesellschaft 3 (1977), S. 153-163; Blickle, Peter: Unruhen in der sundischen Gesellschaft 1300-1800, München 1988; Schul-ze, Winfried: Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart1980; Ders. (Hrsg.): Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewe-gungen im frühneuzeitlichen Europa, Stuttgart 1983. Zum Widerstand in Klcinterritorien:Hauptmeyer, Carl-Hans: Die Bauernunruhen in Schaumburg-Lippe 1784-1793. Landesherrund Bauern am Ende des 18. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschich-te 49 (1977), S. 149-207; Troßbach, Werner: Soziale Bewegung und politische Erfahrung. Bäu-erlicher Protest in »hessischen« Territorien 1648-1806, Weingarten 1987; Ders.: Bauernbewe-gungen im Wetterau-Vogelsberg-Gebiet 1648-1806. Fallstudien zum bäuerlichen Widerstandim Alten Reich, D ärmst ad t-Mär bürg 1985; Press, Volker: Von den Bauernrevolten des 16. zurkonstitutionellen Verfassung des 19. Jahrhunderts. Die Untertanenkonflikte in Hohcnzollern-Hcchingen und ihre Lösungen, in: Weber, Hermann (Hrsg.): Politische Ordnungen und sozialeKräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980, S. 85-112. 7,u den üblichen Formen verrech t lichtenWiderstands und alltäglicher Widersetzlichkeit in armierten Flächcnstaaten: Wunder, Heide:Bauern und bäuerlicher Widerstand in der ostelbischen Gutsherrschaft (1650-1790), in:Sowi 12(1983), S. 231-237; Peters, Jan: Eigensinn und Widerstand im Alltag, in: Jahrbuch für Wirt-schaftsgeschichte (1991), S. 85-103. Einen Beitrag der Unruhen zur Genese einer politischenÖffentlichkeit vermag ich im Falle Hessen-Kassels auch nicht ansatxweisc zu erkennen. Hierzuan schweizerischen und oberdeutschen Beispielen: Würgler, Andreas: Das Modernisicrungs-potential von Unruhen im 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Entstehung der politischen Öffent-l ichkeit in Deutsehland und der Schweiz, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 195-217;Ders.: Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahr-hundert, Tübingen 1995.

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    Soldaten unter Zwang zu rekrutieren. Damit war die legitimatorische Grund-lage für die Tätigkeit der Amtleute aufgebraucht und sie wurden zu Zielschei-ben kollektiver Gewalt. So wurden Unruhen in Homberg an der Efze ausgelöstdurch den Durchtransport der Pferde aus dem kurfürstlichen Marstall, die inder allgemeinen Erregung zum Symbol wurden für die geraubte Ehre desLandes. Der Aufstand ergriff zwar fast das gesamte Kurfürstentum, ermangel-te jedoch jeglicher überörtlichen Koordination, so dass die isoliert operierendenbewaffneten Gruppen von der relativ schwachen französischen Besatzungs-macht nacheinander auseinandergetrieben werden konnten. Die Revolte wur-de in erster Linie von den beurlaubten gemeinen Soldaten bestritten, erwach-senen Männern bis zum Alter von etwa 45 Jahren. Da die Soldaten aus denGarnisonen in ihre Heimatorte entlassen worden waren, bildeten nicht dieRegimenter, sondern die Gcincindcvcrbände den organisatorischen Rückhaltder Insurgenten. Unter ihnen fanden sich nur wenige Angehörige der führen-den Familien des Landes. Die soziale Herkunft der Aufständischen, ihr Er-scheinungsbild und ihr gewaltbetontes Auftreten, nicht zuletzt die Tatsache,dass ihnen das gewohnte Kommando durch Offiziere fehlte, versetzte dieWohlhabenderen in Angst und Schrecken.35

    An den meisten Amtsorten mussten die Amtleute vor den Gewalttätigkeitender Aufständischen weichen. Wie viel lang gehegter Groll sieb in den Aktionengegen die örtliche Obrigkeit ausdrückte, und was eher aus der momentanenSituation resultierte, lässt sich nicht genau bestimmen. Das offenkundig bereitszuvor vorhandene Ressentiment, das in einigen Bezirken gegenüber den Amt-leuten herrschte,30 verwandelte sich an der Jahreswende 1806/1807 in bittereFeindschaft, weil die Beamten nicht nur mit der Besatzungsmacht koope-rierten, sondern auch noch zu Untersuchungen gegen die Rädelsführer desAufstands schritten und damit zu Hinrichtungen und der Verhäiigung lang-jähriger Zuchthausstrafen beitrugen. Als etwa ein Jahr später die westfälischenOrtsbehörden ihre Tätigkeit aufnahmen, waren sie bereits mit einer bedeu-tenden moralischen Hypothek belastet, zumal nahezu alle hessischen Amtleu-te und Rentmeister in den Dienst der neuen Herren getreten waren.37

    Interessante AufStellungen mit Angaben über die Namen der inhaftierlen Aufsländischen, ihrenHeimatorten und Dienstgrad sowie einzelnen Hinweisen auf ihren Beruf, Stand und Alter bei:Lange; Kleine Beiträge, Allgemein '/.v. den antinapolecmischen Bewegungen im Königreich"Westphalen: Goecke, Rudolf: Das Königreich Westphalen. Sieben Jahre französischer Fremd-herrschaft im Herzen Deutschlands 1806-1813. Nach den Quellen dargestellt, vollendet undhrsg. v, Theodor Ilgen, Düsseldorf 1888; Lynker: Geschichte der Insurrectionen (wie Anm. 2);Heitzer: Insurrektionen zwischen Weser und Elbe (wie Anm. 2); Fühle, Dorothea: Das Her-zogtum ßraunschweig-Walfenbiiuel im Königreich Westphalen und seine Restitution 1806-1815, Braunschweig 1989.So hatte sich der Amtmann und Rentmeister Dithmar in Wolfhagen durch sein cholerisches Ver-halten und Veruntreuungen offenbar extrem unbeliebt gemacht: StAM, Bestand 17 II (RegierungKassel), Nr. 3077: Acta, die während der k.k. französischen Okkupation im hessischen Lande y.uWolfhagen entstandenen Unruhen und die Entfernung des dasigen Beamten (1806-1807),In Borken wurde während des Aufstands der entlassenen Soldaten auch der dortige AmtmannOtto Friedrich Struhe (1764-1818) bedroht und erpresst. Als »Hauptmann« der Insurgententrat der Kanonier Heinrich Kaufmann auf, Sohn des Borkener Schäfers Jakob Kaufmann. Alsdie französischen Truppen einrückten, wurde Kauf mann verhaftet und aufgrund eines negativen

    Strukturen eines anrinapoleonischen Aufsrands: Grebenstein 1813 59

    Das Beispiel des Soldatenaufstands von 1806 machte Schule. Gewalttätig-keiten gegen Beamte, vor allem gegenüber den lokalen Amtsträgern in derallgemeinen Administration sowie der Steuer- und Domänenverwaltung, we-niger gegenüber dem örtlichen Justizpersonal, bildeten Begleiterscheinungender Aufstandswellcn, die in den Jahren 1809 und - wie vorhin geschildert -1813über die hessischen Gebiete des Königreichs Westfalen hinwegrollten. DieMotive für diese Erhebungen wurzelten in einem Gemisch aus Anhänglichkeitan das hessische Fürstenhaus, Widerstand gegen die ins Extreme gesteigerteAbgabcnlast des neuen Reformstaats, Angst davor, als Konskribierter auf denFeldzügcn Napoleons irgendwo in Spanien oder Russland elend sterben zumüssen, aber auch Hass gegenüber den Eroberern und Antisemitismus. WennAusschreitungen gegen Mairiepersonal und Steuererhcbcr als Bestrafung der»französischen Beamtenschaft« bezeichnet wurden, obwohl innerhalb derwestfälischen Bürokratie, zumal auf lokaler Ebene, die Deutschen nahezu un-ter sich waren, so handelte es sich dabei um eine Metapher dafür, dass es imBewusstsein der Bevölkerungsmehrheit dem neugeschaffenen Königreich undseinen Dienern an Legitimität mangelte.

    Für die Gebildeten, unter ihnen besonders für die Inhaber von Staatsämtern,stellte sich die Situation zunächst anders dar. Die gesellschaftspolitischen Re-formen im >Modellstaat< Westfalen kamen ihren vom Aufklärungsdenkcn be-stimmten Zukunftserwartungen entgegen, so dass sie geneigt waren, die Schat-tenseiten des napoleonischcn Regimes zu übersehen.3K Kritik an dentiefgreifenden Veränderungen lag auch den meisten Beamten fern, stattdessenüberwog Bewunderung für den reformerischen Geist, den die westfälischenInstitutionen atmeten. Die hochgestimmten Hoffnungen, dass die neue staat-liche Ordnung zu einem harmonischen Miteinander von Monarch, Beamten-schaft und Untertanen führen möge, wurden jedoch bitter enttäuscht. Zwi-schen 1807 und 1813 öffnete sich die Schere zwischen der Vorstellungswelt derLandbevölkerung und der meisten Kleinstadtbewohncr einerseits und denIdeen der gebildeten Amtsträger andererseits weiter als je zuvor. Allen wohl-meinenden Vorsätzen der Beamten zum Trotz, lehnte die Mehrheit der Bevöl-kerung das westfälische Regime in Bausch und Bogen ab. Weil es die Mairesund Steuercrhcber waren, welche die zunehmend verhassten Anordnungenvon König Jeröme in lokale Verwaltungspraxis umsetzten, und da sie sich inexponierter und entsprechend leicht angreifbarer Lage befanden, richteten sichdie Unruhen im Gefolge des sogenannten Dörnbergschcn Aufstands von 1809und im Verlauf des Zusammcnbruchs der napoleonischen Herrschaft im Herbst

    Berichts von Strube ohne Gerichtsurteil noch am selben Tag standrechtlich erschossen. Auchhier zeigt sich der gewalttätige Unterschichtenprotest, der subkulturelle Züge trug und vor allemdiejenigen einschloss, die länger in der Armee gedient hatten. Die Obrigkeit reagierte daraufmit selektiver drakonischer Bestrafung. Amtmann Strube wurde nach der Restauration desKurfürstentums aufgrund von Protesten der Eltern des I lingcrichteten nach Vacha versetzt. Vg].Losch, Philipp: Der Aufruhr in Borken und die Erschießung des Kanoniers Kaufmann im Ja-nuar 1807, in: Hessenland 37 (1925), S. 5-8.Berding, Helmut: Das Königreich Westfalen als Modellstaat, in; Lippische Mitteilungen ausGeschichte und Landeskunde 54 (1985), S. 181-193.

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    und Winter 1813 in erster Linie gegen diese lokalen Amtsträger. Die Richterund Verwaltungsbeamten empfanden es als besonders schmerzlich, dass siedabei nicht nur von den ungebildeten Handwerkern, Tagelöhnern und Bauernangegriffen wurden, sondern dass sie wegen der Beseitigung der alten Magis-tratsverfassung auch noch ihren gewohnten Rückhalt bei Teilen der kleinstäd-tischen Elite verloren hatten. Im 18. Jahrhundert hatten die Amtleute an denwöchentlichen Sirzungen des Stadtrats teilgenommen und verfügten damitüber einen institutionalisierten Kommunikationskanal mit den örtlichen Ho-noratioren. So konflikthaft sich der Kontakt zwischen territonalstaatlicher undstädtischer Obrigkeit im Einzelnen auch gestaltete, die Amtleute kannten zu-mindest die Ansichten der örtlichen Meinungsführer. Die Abschaffung deralten Magistratsverfassung hatte zur Folge, dass sich die Mairen häufig überdie Stimmung ihres lokalen Umfeldes völlig im Unklaren befanden. So nimmtes nicht Wunder, dass aus jeder Zeile ihrer Berichte über die Unruhen tiefeVerunsicherung spricht.

    Auch hierfür bildet Friedrich Ludwig Kröschell (1768-1829) ein gut doku-mentiertes Seispiel. Er amtierte von Februar 1809 bis Dezember 1813 als Kan-tonsmaire in Grebenstein und hatte dort die ganze Zeit hindurch, ernste Pro-bleme mit den Einwohnern der Stadt und des Umlands zu bestehen. Kröschellverdankte seine Ernennung zum Mairen dem Kasseler Präfckten von Reimann,der damit, in Konkurrenz zur Leitung der geheimen Polizei, sein Klientel inder niederhessischen Provinz zu erweitern trachtete. Die Ernennung erfolgteäußerst kurzfristig und ohne Rücksprache mit dem bisherigen Amtsinhaber,dem ehemaligen Bürgermeister Johann Christoph Melcher (1745-1820), zu-gleich dem größten Grundbesitzer in der Stadt. Melcher war im Jahr 1807 ausAltersgründen zurückgetreten und beabsichtigte, den Notar Karl WilhelmPhilipp Bockwitz (1784-1857), einen Sohn des kurz zuvor verstorbenen Stadt-sekretärs, als seinen Nachfolger ins Amt des Kantonsmairen zu lancieren.3''Zwar obsiegte im Zuge der Platzierungskonkurrenz zwischen lokalen, regio-nalen und zentralen Gewalten der Präfekt, mittelfristig jedoch mit verheerendenFolgen für die Autorität der westfälischen Staatsmacht in Grebenstein. DemKantonsmaire Kröschell schlug von Beginn an Ablehnung aus den Kreisen derstädtischen Honoratioren entgegen. Der alte Bürgermeister und sein Anhangmachten ihm das Leben durch Verleumdungen und demonstrativen Ungehor-sam in jeder Hinsicht sauer, und bei den übrigen örtlichen Amtsträgern, demFriedensrichter, dem Notar und den Pfarrern, fand er keine rechte Unterstüt-zung. Im Lauf der viereinhalb Jahre seiner Amtsführung führte Kröschellsgesellschaftliche Isolation in der Gemeinde dazu, dass er Symptome von Ver-folgungswahn entwickelte. Hinter allen Widerständen, die sich ihm entgegen-stellten, vermutete er Machinationen des alten Bürgermeisters Melcher. Soschrieb er in seinem bereits häufiger angeführten Promemoria vorn 14. No-vember 1813:

    Die biographischen Daten nach der Kirchenbuchausweitung von Brendel, Christoph: Kirchen-buch Grebenstein 1639-1800, 3 Bde., maschinenschriftlich o.O. o.J.

    Strukturen eines antinapoleomschen Aufstands: Grebenstein 1813 61

    »Man erzählte mir sogar, wie sich der Sohn des Melcher namens Henrich habeverlauten lassen, >dass er, wenn die Russen kämen, seine Knechte und andere mitBranntwein besoffen machen wolle, welche dann drei gewisse Leute m der Stadttotschlagen sollten.< Diese drei waren Ich, mein Adjunkt und einer der Polizcidie-ner. In wie fern nun derselbe seine Drohungen erfüllt hat, dies wird sich m derFolge ergeben. (...) Der gewünschte Zeitpunkt, wo die Russen kommen sollten,rückte Ende September heran (...).«''°

    Wer weiß, möglicherweise wirkte Bürgermeister Melcher, diese lokale Verkör-perung des ahhessischcn Regiments, wirklich als Drahtzieher, der im Hinter-grund die Unruhe schürte. Die Verschwörungsidee, der Kröschell anhing,verbaute ihm gleichwohl Einsichten m die allgemein wirksamen Hintergründefür den Aufstand. Schließlich wurden die Maires an vielen Orten beleidigt,angegriffen und ausgeplündert.

    Auch nach der Restauration der kurfürstlichen Herrschaft blieb die Ableh-nung der ländlichen und kleinstädtischen Bevölkerung gegenüber den ört-lichen Beamten virulent. Zwar schwammen Wilhelm I. und sein Sohn zunächstauf einer die Schichten und Stände erfassenden Welle der Sympathie, die jedochselbst in Icgitirnistisch gestimmten Kreisen verebbte, als klar wurde, dass L'ürstund Minister die Verfassungsfrage auf unbestimmte Zeit vertagten, sich derAbgäbendruck nur unwesentlich verminderte und die Generalabrechnung mitder napoleonischen Beamtenschaft unterblieb. Zwar entließ der Regent eineReihe von Maires, die meisten westfälischen Beamten und Richter wurdenjedoch in den kurfürstlichen Dienst übernommen. Die 1814 erfolgte weitge-hende Rückkehr zum Status quo ante in der Staatsverfassung, im Rechtssysternund im Behördenaufbau stellte deshalb das Vertrauensverhältnis zwischen Un-tertanen und lokaler Obrigkeit nicht wieder her.41 In dieser Perspektive stehendie gewaltsamen antiobrigkeitlichen und antisemitischen Proteste in den Jah-ren 1819, 1830/31 und 1848 in der Tradition der »Insurrektionen gegen dieFremdherrschaft«.

    Pro Mernona des Kantonsmaire Kroeschcll.Hinzu kam die allmählich fortschreitende Delegmmierung des kurfürstlichen Regiments ins-gesamt. Im sprichwörtlich rückständigen Kurhessen blieben die von scadtbärgerlicher wie bäu-erlicher Seite erhobenen Ansprüche auf politische Teilhabe bis 1S30 u n e r f ü l l t , um den Preiswachsender Entfremdung /wischen den Administrierten und der Administration. Ein in Hes-sen-Kassel gänzlich ungewohntes Phänomen trat bald nach der Thronbesteigung von WilhelmII. im Jahr 1821 hinzu: Der Fürs t selbst verlor den Rückhalt in der Bevölkerung. Bis daro hattesich die Ablehnung immer auf die Beamtenschaft und den Hof beschränkt, während der Regentvielleicht als unzureichend beraten, nicht jedoch als verdorben galt. Zur politischen Lage in derRcstaurarionszwt informiert umfassend: Speitkamp, Winfried: Restauration als Transformation.Untersuchungen zur kurhessischen Verfassungsgeschich t c 1813-1830, Darmstadt, Marburg1986.