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Acta Medica. Scandinavica. Vol. LXXV, fasc. 1-11, 1931. Studien uber den niedrigen nrteriellen Blutdmck. 1st es berechtigt, einen Symptomenkomplex Essentielle Hypotonie aufzustellen? von ESKIL KYLIN. Seit zwei oder drei Jahrzehnten hat die Prage der Blutdruck- steigerung, ihrer hiologie und Pathogenese, ihrer Klinik und Therapie eine grosse Rolle in der internmedizinischen Forschung gespiolt. Im letzten Dezennium begann sich das Interesse auch dem niedrigen Blutdruck zuzuwenden. Ebenso wie man friiher einen Symptomenkomplex Essentielle Hypertonie aufgestellt hatte, so wollten in diesen letzten Jahren mehrere Forscher einen an- deren Symptomenkomplex, Essentielle Hypotonie, herausheben. Andere Forscher meinten indes, das Vorkommen eines solchen, speziellen krankhaften Zustandes, der durch niedrigen Blut- druck gekennzeichnet sein sollte, nicht anerkennen zu konnen und verhielten sich daher ablehnend gegen die Aufstellung des erwahnten Symptomenkomplexes. Schon im Jahre 1910 heschrieb Herz das Vorkommen von Hypo- tonie und Bradykardie. Anfangs der zwanziger Jahre lenkte Fr. v. Muller die Aufmerksamkeit auf denselben hypotonen Zustand. Aus der Klinik Muller erschien dann im Jahre 1925 eine Arbeit iiber die Essentielle Hypotonie von Martini und Pierach. Diese Forscher fanden als charakteristische Symptome des Komplexes einerseits den nied- rigen Blutdruck, anderseits eine Reihe von Symptomen allgemein nervoser Natur, wie Mattigkeit und leichtere Ermlidbarkeit, Neigung zu Schwindel und Ohnmachtsanfallen, Herzklopfen mit dem Bediirfnis tief zu atmen (Lufthunger), Kopfschmerzen usw. Als objektive Symp- tome fanden Martini und Pierach einen asthenischen (evtl. hyposthe- nischen) Habitus, herabgesetzte oder aufgehobene sexuelle Potenz Bei der Redaktion eingegangen am 17. Jan. 1931.

Studien über den niedrigen arteriellen Blutdruck. : Ist es berechtigt, einen Symptomenkomplex Essentielle Hypotonie aufzustellen?

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Page 1: Studien über den niedrigen arteriellen Blutdruck. : Ist es berechtigt, einen Symptomenkomplex Essentielle Hypotonie aufzustellen?

Acta Medica. Scandinavica. Vol. LXXV, fasc. 1-11, 1931.

Studien uber den niedrigen nrteriellen Blutdmck.

1st es berechtigt, einen Symptomenkomplex Essentielle Hypotonie aufzustellen?

von

ESKIL KYLIN.

Seit zwei oder drei Jahrzehnten hat die Prage der Blutdruck- steigerung, ihrer hiologie und Pathogenese, ihrer Klinik und Therapie eine grosse Rolle in der internmedizinischen Forschung gespiolt. Im letzten Dezennium begann sich das Interesse auch dem niedrigen Blutdruck zuzuwenden. Ebenso wie man friiher einen Symptomenkomplex Essentielle Hypertonie aufgestellt hatte, so wollten in diesen letzten Jahren mehrere Forscher einen an- deren Symptomenkomplex, Essentielle Hypotonie, herausheben. Andere Forscher meinten indes, das Vorkommen eines solchen, speziellen krankhaften Zustandes, der durch niedrigen Blut- druck gekennzeichnet sein sollte, nicht anerkennen zu konnen und verhielten sich daher ablehnend gegen die Aufstellung des erwahnten Symptomenkomplexes.

Schon im Jahre 1910 heschrieb Herz das Vorkommen von Hypo- tonie und Bradykardie. Anfangs der zwanziger Jahre lenkte Fr. v. Muller die Aufmerksamkeit auf denselben hypotonen Zustand. Aus der Klinik Muller erschien dann im Jahre 1925 eine Arbeit iiber die Essentielle Hypotonie von Martini und Pierach. Diese Forscher fanden als charakteristische Symptome des Komplexes einerseits den nied- rigen Blutdruck, anderseits eine Reihe von Symptomen allgemein nervoser Natur, wie Mattigkeit und leichtere Ermlidbarkeit, Neigung zu Schwindel und Ohnmachtsanfallen, Herzklopfen mit dem Bediirfnis tief zu atmen (Lufthunger), Kopfschmerzen usw. Als objektive Symp- tome fanden Martini und Pierach einen asthenischen (evtl. hyposthe- nischen) Habitus, herabgesetzte oder aufgehobene sexuelle Potenz

Bei der Redaktion eingegangen am 17. Jan. 1931.

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und vagotone Einstellung des vegetativen Systems, die sich unter andrem in vagotoner Adrenalinreaktion aussert. Joachim fasste die Hypotoniefiille, deren arterieller Tiefdruck sich nicht durch eine iiber- geordnete Krankheit erklaren liess, in einen durch die genannten Symp- tome charakterisierten rhypotonen Symptomenkomplexr zusammen. Auch Munk beschrieb den gleichen Symptomenkomplex, den er rhmn- stitutionelle arterielle Hypotonieo nannte. Stein fand, dass der nied- rige Blutdruck nicht an und fur sich pathologisch sei, war aber der' Ansicht, dass bei Individuen mit vasolabiler Konstitution allerlei schhdliche Einfliisse wie Nikotin-, Koffein- und Sexualabusus wie auch psychische Anstrengungen einen Symptomenkomplex hervor- rufen konnen, der sich durch niedrigen Blutdruck und die schon er- wahnten nervosen Beschwerden kennzeichne. Am weitesten gingen in der Absteckung scharfer Grenzen fur den Symptomenkomplex Es- sentielle Hypotonie die franzosischen Forscher Lian und Blondel. Sie halten die Essentielle Hypotonie fur eine Krankheit sui generis, und wahlten von den erwahnten Symptomen vier aus, die ihrer Ansicht nach fur das Krankheitsbild charakteristisch sind, und zwar 1. den niedrigen arteriellen Blutdruck, 2. die abnorm erhohte Ermiidbarkeit, 3. die Neigung zu Schwindel und Ohnmacht, 4. die Akrozyanose und Schwierigkeit, die Korpertemperatur aufrecht zu erhalten, besonders in den distalen Teilen des Korpers (Handen und Fussen). Als objektive Symptome dieses Symptomenkomplexes fanden sie eine gewisse Sen- kung des Kalkgehaltes im Blute und eine unter dem Normalen liegende Reaktion auf Adrenalin. Auch mehrere andere Forscher wie Martinet, Fossier, Roberts, schlossen sich der Auffassung an, dass dem sogen. essentiellen Hypotoniekomplex ein Krankheitszustand spezifischer Natur zugrundeliegt.

Gegen diese Auffassung hoben jedoch andere Forscher hervor, dass der niedrige Blutdruck an und fur sich kein krankhafter Zustand ist. Kiilbs betont, dass d i e Hypotonie als solche keine Krankheit istu. Strasser und Loewenstein ziehen den Schluss, dass rdie dauernde Hypotension meist als konstitutionelles Zeichen zu bewerten ist, sie kann als Symptom anderer konstitutioneller Schaden vorhanden sein, aber auch als alleiniges dominierendes Symptom, dass andere Er- scheinungen in den Hintergrund drangtr. Sie halten die Begriffe Es- sentielle Hypotonie und Hypotoner Symptomenkomplex fur uber- flussig. Curschmann verhalt sich gleichfalls ablehnend gegen den Symptomenkomplex Essentielle Hypotonie.

Wir ersehen aus obigem, dass die Frage der klinischen Bedeu- tung des niedrigen Blutdruckes keineswegs gelost ist. Es diirfte deshalb als berechtigt betrachtet werden konnen, dass ich die Bnsichten bezuglich der vorliegenden Frage vorlege, zu welchen ich wahrend meiner Forschungen auf dem Gebiete des Blut- druckes gekommen bin.

Bei unserer Einteilung und Gruppierung von Krankheiten ha- ben wir irn allgemeinen zwei verschiedene Prinzipien zu ver-

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folgen. Wir konnen die Krankheiten einerseits nach ihrer Ursache einteilen, wodurch wir zu einer atiologischen Einteilung kommen, und anderseits nach ihrer Symptomatologie.

Es ist wohl kaum notig, daran zu erinnern, dass es die Ein- teilung der Krankheiten nach atiologischen Prinzipien ist, die wir zu erreichen versuchen mussen. Die Krankheiten nach ihren Symptomen zu gruppieren, kann nur ein Provisorium bedeuten, das so lange berechtigt ist, als unsere Kenntnisse nicht hinreich- en, um sie nach ihren wirklichen ursachlichen Momenten zu grup- pieren und einzuteilen. Erwahnenswert diirfte ferner sein, dass es sich spater als notwendig herausstellen kann, eine sympto- matologische Krankheitsgruppe aufzuteilen oder sogar sie mit anderen Krankheitsgruppen zu vereinen, um eine atiologisch einheitliche Gruppe zu bilden.

Wenn es sich um die Aufstellung eines Krankheitskomplexes Essentielle Hypotonie handelt, so ist es wohl schon von vorn- herein klar, dass diese Gruppeneinteilung nur symptomatologi- scher Art ist. Man kann sich indes vorstellen, dass eine Krank- heitseinteilung, die anfangs rein symptomatologischer Art war, unter gewissen Umstanden gewissermassen eine atiologische Krankheitseinteilung werden kann. Es ist namlich denkbar, dass ein Symptom, welches an und fur sich durch verschiedene schadliche Agentia hervorgerufen sein kann, auf so vitale Weise in die Funktionen des menschlichen Organismus eingreift, dass das Symptom ale solches einen sekundaren Krankheitskomplex herbeifuhrt. Bei diesem Verhalten kann eine Krankheitsein- teilung, die vielleicht sonst kaum motiviert ware, berechtigt und in gewisser Weise eine rein kausale Gruppeneinteilung werden.

Ich mochte durch ein Beispiel naher veranschaulichen, wie ich dies meine. Wir haben fruher den Begriff Essentielle Hyper- tonie als ein klinisches Syndrom aufgestellt. Wir wissen nicht, ob diese Krankheitsgruppe einheitlich bedingt ist, ob in jedem Falle ein und derselbe Krankheitsfaktor diese Form des Hoch- druckes hervorruft. Ich mochte sogar vermuten, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass umgekehrt diese Form des Hochdruckes im einen Falle von der einen, im anderen Falle von einer anderen primaren Storung hervorgerufen wird. Wenn diese Vermutung richtig ist, 90 ist die Essentielle Hypertonie keine einheitliche Krankheit. Die Blutdrucksteigerung ruft indes als solche Sto- rungen im menschlichen Organismus hervor. Von diesen ist die Herzinsuffizienz von besonderer Bedeutung. Ferner ruft die

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Vasokonstriktion, welche die Ursache der Blutdrucksteigerung ist, den der Blutdrucksteigerung folgenden Nierenschaden her- vor. Ebenso verursacht die Gefiissstorung die folgenden Hirn- blutungen. Der Hochdruck verursacht also eine gewisse ))Be- triebsstorungo, welche uns von diesem Standpunkte die Berech- tigung gibt, die Essentielle Hypertonie als klinisches Syndrom zu bezeichnen.

Wenn man nun die Essentielle Hypotonie als ein iihnliches klinisches Syndrom aufstellen will, so scheint mir dies von zwei verschiedenen Gesichtspunkten berechtigt zu sein; entweder der- art, dass man annimmt, eine gewisse krankhafte Storung verur- sache sowohl den niedrigen Blutdruck als auch die anderen, als typisch fur die Krankheit aufgestellten Symptome (der niedrige Blutdruck sei also den anderen Symptomen koordiniert), oder auch derart, dass man annimmt, der niedrige Blutdruck, der an und fur sich wohl durch verschiedene Momente hervorgerufen sein konnte, bewirke an und fur sich krankhafte Storungen, die dem Krankheitsbilde sein Gepriige geben.

Ob man nun der Ansicht ist, dass der niedrige Blutdruck und die anderen, als typisch erwahnten Symptome koordinierte Er- scheinungen sind, oder, dass der niedrige Blutdruck eine Ursache der anderen Symptome ist: in beiden Fallen scheint es mir, als ob man fur die Aufstellung eines Symptomenkomplexes, fiir den der niedrige Blutdruck das den Namen gebende Symptom ist, gewisse Forderungen aufstellen sollte. Diese Forderungen bilden in nicht geringem Grade eine Nomenklaturfrage. Bei der Krankheitseinteilung auf dem Gebiete der Medizin muss man aber, um Missverstandnisse und einen daraus sich ergebenden polemischen Meinungsaustausch zu vermeiden, bezuglich der No- menklatur gewisse Normen befolgen. Die Forderungen, die, wie mir scheint, dabei aufgestellt werden sollten, sind folgende:

Dasjenige Symptom, das der Nomenklatur zugrundeliegt, und um das die anderen gruppiert werden, sol1 bei gesunden Individuen nicht vorkommen.

In denjenigen Fallen, wo das den Namen gebende Symp- tom vorliegt, sollen in der Regel auch die anderen Symptome vorhanden sein.

3.) Diejenigen Fiille, wo der ubrige Symptomenkomplex vor-

1 .)

2.)

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kommt, sollen auch das den Namen gebende Symptom auf- weisen.

Ich will im folgenden untersuchen, ob es von den erwahnten Gesichtspunkten berechtigt ist, die Nomenklatur Essentielle Hy- potonie als einen klinischen Krankheitskomplex aufzustellen. Ich gehe dabei die aufgestellten Forderungen der Reihe nach durch und betrachte jede einzelne darauf, ob sie als erfullt gel- ten kann.

1. Gibt 88 auclh bei volletllndig gesunden Individuen unter dem Normalen liegende Blutdruokwerte?

Um diese Frage beantworten zu konnen, ist es zunachst not- wendig, den systolischen arteriellen Blutdruck nach unten ab- zugrenzen. Fiir diese Abgrenzung sind naturlich nur Unter- suchungen erwachsener Individuen heranzuziehen.

Wenn man den arteriellen Blutdruck nach unten abgrenzt, so muss man zuerst in Betracht ziehen, dass der arterielle Blut- druck bei verschiedenen Volksrassen betrachtlich variieren kann. So fand Cadbury bei jungen mannlichen Chinesen einen Blut- druck, der urn 20-30 mm Hg niedriger war, als derjenige gleich- altriger Europaer oder Amerikaner. Von besonders grossem Interesse ist, dass Amerikaner, die sich langere Zeit in China auf- gehalten hatten, wahrend ihres dortigen Aufenthaltes nach Tung im allgemeinen einen niedrigeren Blutdruck zeigten, als sie ihn in Amerika aufgewiesen hatten.

Bei dieser Abgrenzung der normalen Blutdruckziffern nach unten ware ferner in Betracht zu ziehen, dass der Blutdruck mit zunehmendem Alter etwas hohere Ziffern zeigt als in jungeren Jahren, obgleich man ab und zu auch bei sehr alten, gesunden Individuen auffallend niedrige Blutdruckwerte finden kann. Symonds hatte, auf eine Zusammenstellung von 150,419 Indivi- duen gestutzt, Durchschnittswerte fiir den arteriellen systoli- schen Blutdruck bei verschiedenen Altersklassen zusammenge- stellt und dabei nachstehende Ziffern gefunden. Auch Fischer legte ahnliche Ziffern vor, die hier neben den Symondschen ange- fuhrt werden:

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Alter Symond 15-19 . . . . . . . . . . . 123.6 20-24 . . . . . . . . . . . 124.2 25-29 . . . . . . . . . . . 124.6 30-34 . . . . . . . . . . . 125.1 35-39 . . . . . . . . . . . 125.9 40-44 . . . . . . . . . . . 126.4 45-49 . . . . . . . . . . . 128.2 50-54 . . . . . . . . . . . 130.2 55-59 . . . . . . . . . . 133.5 60-64 - 60 nnd dariiher . . . . . . . 135.2 65 nnd dariiber . . . . . . .

. . . . . . . . . . .

-

Fischer 120 122 123 124 126 128 130 132 134 135 -

136

Um den hypotonen Blutdruck mit grosserer Sicherheit vom normotonen abgrenzen zu konnen, sollten uns grossere Unter- suchungsserien an Gesunden von verschiedenen Altersklassen zur Verfugung stehen. Da es indes keine solchen grosseren Serien gibt, mussen wir uns mit den wenigen gegenwartig vorliegenden Untersuchungen an Gesunden begniigen.

Barach untersuchte 4,142 gesunde Individuen (Studenten und Soldaten) und fand bei 3.6 % hypotone Blutdruckwerte. Er betrachtete danach Werte von 110 und darunter als hypotone. Alvarez fand an vollstandig gesunden Individuen bei 2.2 yo der Untersuchten hypotone Blutdruckwerte. Ungefiihr dieselben Ziffern gibt Friedlander an, der in 2.6-3.6 yo hypotone Blut- druckwerte fand. Hitzenberger konstatierte bei 561 untersuch- ten, gesunden Individuen einen Blutdruck zwischen 70-109 in folgenden Prozentzahlen:

bei 33 K im Alter von . . . . . . . 11-20 Jahren B 16 % > B . . . . . . .21-30 3

* 13 % > * . . . . . . .31-40 D

* 1 3 % * . . . . . . .41-50 >

7 K * . . . . . . .51-60 >

D 3 ‘16 > 1 . . . . . . iiber 60 Jahre.

Faber fand bei einer Untersuchung an 1,000 Soldaten im Alter von 20-25 Jahren folgende Blutdruckwerte:

Bei 17 Individuen betrug der Blutdruck 90 mm Hg oder dar- unter, bei 87 Individuen zwischen 90-100 mm und bei 255 Individuen zwischen 100-110 mm Hg.

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Ich selbst untersuchte zu einem anderen Zweck 300 gesunde Wehrpflichtige, die alle die Rekrutenschule durchgemacht hat- ten und als die Gesundesten ihrer betreffenden Altersklassen ausgewahlt worden waren. Alle waren in gutem Zustande, gut triiniert und abgehartet, um die mit dem Militiirleben verbun- denen Anstrengungen auszuhalten.

Einen Blutdruck von 110 mm Hg oder einen niedrigeren fand ich bei beinahe 10 %, einen solchen von 100 mm Hg oder dar- unter bei gut 2.5 yo, einen Blutdruck von 95 mm Hg bei 2 Indi- viduen.

Aus diesen Zusaminenstellungen ersehen wir also, dass man sehr niedrige Blutdruckzif fern bei vollstdndig gesunden Individuen i n einer nicht so ganz geringen Prozentzuhl antreffen kann.

2. Wie oft flnden wir an einem Erankenhausmaterial den typisohen hypotonen Symptomenkomplex bei solchen Kranken,

die hypotone Blutdruokwerte auMesen?

Von diesem Gesichtspunkte haben die friiheren Untersucher, soweit ich finden konnte, ihr Material nicht zusammengestellt. Mehrere von ihnen beleuchteten indes die Frage, wie oft bei den am Krankenhause wegen irgendeiner Krankheit behandelten Individuen hypotone Blutdruckwerte vorkommen.

Stewart R. Roberts fand unter 500 Patienten bei 41 yo Hypo- tonie. Er betrachtete dabei die unter 110 mm Hg liegenden Wer- te bei unter 45 Jahre alten Individuen und Werte unter 119 mm Hg bei uber 45 Jahre alten Individuen als hypoton.

Franz Kisch fand unter 28,600 am Krankenhause behandel- ten oder zum ambulatorischen Material gehorenden Patienten in 6.88 yo Hypotonie. Unter hypotonen Blutdruckwerten ver- stand er dabei Blutdruckwerte von 100 mm Hg oder darunter. Joachim konstatierte unter 3,000 Patienten bei 181 hypotone (unter 110 mm Hg liegende) Blutdruckwerte. Fossier, der gleich- falls 110 mm Hg als Grenze annahm, fand bei mehr als 5 yo Hy- potonie. Martini und Pierach stellten 9,000 Patienten aus der Munchener Klinik zusammen und fanden bei Ansetzung der Blutdruckgrenze fur Manner auf 105 und fur Frauen auf 100 in 2.4 % Hypotonie. Strasser und Loewenstein fanden Hypotonie in 10 yo eines aus 2,763 Patienten bestehenden Materials. Die

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Grenze zwischen Normotonie und Hypotonie stetzen sie unge- fahr bei 100 mm Hg an.

Ich selbst habe fruher ein Material von 1,000 Patienten zu- sammengestellt, wobei ich 12 yo mit einem Blutdruck von 105 mm Hg oder einem geringeren fur Manner und 100 mm Hg fur Frauen fand. Spater sammelte ich aus meinem gegenwartigen Tatigkeitsfelde ein aus 3,869 uber 18 Jahre alten Patienten be- stehendes Material. In diesem fand ich bei 427 Patienten einen Blutdruck von 106 mm Hg oder darunter. (Zu bemerken ist, dass der Blutdruck stets palpatorisch bestimmt wurde, und dass sich die Angaben auf die bei der Untersuchung am Aufnahme- tage gefundenen Werte beziehen.) Die Blutdruckwerte ver- hielten sich bei diesen Individuen mit h ypotonen Werten folgen-

' dermassen: Blotdruck Anzahl

105 . . . . . . . . . . . . 95 loo . . . . . . . . . . . . 1 9 9 95 . . . . . . . . . . . . 46 90 . . . . . . . . . . . . 51 85 . . . . . . . . . . . . 12 80 . . . . . . . . . . 10 75 . . . . . . . . . . . . 1 70 . . . . . . . . . . . . 3

Durchsicht des Materials zeigte mir, dass bei 35 von diesen Individuen mit hypotonen Blutdruckwerten der ubrige Hypo- toniekomplex in mehr oder weniger ausgesprochenem Grade vorlag.

Ich glaube, bezuglich dieser Zusammenstellung die Moglich- keit, ja, wie mir scheint, die Wahrscheinlichkeit hervorheben zu sollen, dass in einer grosseren Anzahl von Fallen eines oder mehrere von den fur den Hypotoniekomplex als typisch beschrie- benen Symptomen herauszuholen gewesen waren, wenn man aus der Anamnese dieser 426 Falle das ausserste hatte heraus- pressen wollen. Es scheint mir indes nicht richtig, derart zu versuchen, Symptome aus einer Anamnese hervorzupressen, und am allerwenigsten, wenn es sich um so vage Symptome wie MU-

digkeit, Schwindel und dergl. handelt. Diese Symptome diirfte man bei einer sehr grossen Anzahl spitalsbehandelter Patienten herausbringen konnen. Ich habe es deshalb fur zweckmassiger gehalten, diese Symptome nur in dem Masse zu beriicksichtigen,

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wie die Kranken die Erscheinungen selbst als solche hervor- hoben, die sich fur sie sozusagen in den Vordergrund gedrangt und das Krankheitsbild beherrscht hatten.

Hier scheint rnir eine weitere Bemerkung hinzuzufugen zu sein. Das von mir zusammengestellte Material besteht aus spitals- behandelten Individuen. In meine Abteilung wurden wegen Platzmangels in erster Linie solche Kranken aufgenommen, die an organischen Krankheiten eingreifenderer Art litten. Weniger schwer Erkrankte konnten in der Regel nicht in die Abteilung aufgenommen werden. Nun wissen wir, dass Individuen mit dem sogen. essentiellen Hypotoniekomplex in der Mehrzahl der Falle nicht so ernstlich krank sind, dass man eine Spitalsbehand- lung fur indiziert halten kann, sie mussen vielmehr in dem Masse, wie sie trotz ihrer Krankheit Arbeit leisten konnen, zu Hause behandelt oder in Erholungsstatten verschiedener Art aufgenom- men werden. Aus diesem Grunde kann mein Material nicht die Frage beleuchten, wie oft ein niedriger Blutdruck mit dem ub- rigen essentiellen Hypotoniekomplex kombiniert ist. Meine Zu- sammenstellung scheint mir jedoch insofern von einem gewissen Wert zu sein, als sie das Verhalten beleuchtet, dass kin niedriger Blutdruck oft bei Kranken vorkommt, ohne dass andere Erschei- nungen des essentiellen Symptomenkomplexes vorhanden sind.

Zusammenstellungen aus der friiheren Literatur, wie auch aus meinen eigenen Untersuchungen scheinen also zu ergeben, dass zwischen 5-10 yo aller spitalsbehandelten Individuen hypotone Blutdruckwerte aufwiesen. Die Angaben verschiedener Verfasser variieren, je nach der von den verschiedenen Forschern gezoge- nen Grenze zwischen Hypotonie und Normotonie.

Aus meiner eigenen Zusammenstellung geht ferner hervor, dass nur ungefahr 10 yo aller spitalsbehandelten Patienten, die hypotone Blutdruckwerte aufwiesen, den iibrigen fur die Essentielle Hypotonie charakteristischen Symptomenkomplex zeigten.

9. Sind die Blutdruokwerte in denjenigen Fkllen hypoton wo man den hypotonen Symptomenkomplex vorflndetP

Ich lege im folgenden eine Reihe von Fallen aus meiner Praxis vor, bei welchen der hypotone Symptomenkomplex vorgefunden wurde, der Blutdruck aber in normalen Grenzen lag:

Einar W., 26jahriger Barbier. - Der Kranke litt seit unge- fahr 5 Jahren an beschwerlicher Miidigkeit und Mattigkeit und ermudete leicht bei Anstrengungen. Die Hande und Fusse waren standig kalt.

Fall 1.

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Ausserdem Nervositat und ein Gefiihl von Unruhe und Angst. Oft Kopfschmerzen und Schwindel. Gefiihl von Schwere auf der Rrust und oft das Bediirfnis, tief zu atmen. Trage Darmtiitigkeit. Saures Aufstossen. Mitunter Herzklopfen. - Bei Untersuchung erwies sich der Kranke als ein etwas schwachlich gebauter Mann mit ungefahr normaler Korperfiille und schwacher Muskulatur. An den inneren Organen nichts Pathologisches. Der Blutdruck betrug 125 mm Hg. Rote Blutkorperchen 5,200,000. Die Adrenalinreaktion war von vagotonem Typus, zeigte aber ausserdem eine auffallend kraftige ,Sekundarsteigerung.

Hereditar nichts von Interesse. Zwei Geschwister jedoch etwas mervos,. Pat. sol1 sich friiher gesund gefiihlt haben, abgesehen von einem vor einigen Jahren aufgetretenen rheumatischen Fieber, das rasch voriiberging. Pat. leidet seit mehre- ren Jahren an einem hartniickigen Mudigkeitsgefuhl, das allmahlich zugenommen zu haben scheint. I n gewissen Perioden trut jedoch eine leichte Besserung ein. Der Schlaf war wahrend der ganzen Krankheits- zeit ziemlich gut. Dagegen litt Pat. an Kopfschmerzen, mitunter mit einer gewissen Neigung zu Schwindel. Hande und Fusse waren oft kuhl und kalteempfindlich, zeitweise aber auch auffaLlend warm. Oft Herzklopfen. Mitnnter, besonders im Herbst und Friihling, Diarr- hoe und ein Gefiihl des Saugens in der Magengrube. Pat. ist auch standig deprimiert und angstlich wegen seiner Kraftlosigkeit. - Bei der Untersuchung des Kranken fand man folgendes: Allgemeinzustand gut. Hautfarbe normal. Korperfiille und Muskulatur vom Durch- schnittsmass. Keine odeme, die Haut feucht. Thyreoidea 0. B. Herz: Keine Vergrosserung. Schwaches systologisches Nebengerausch iiber der Basis. Die inneren Organe durchwegs 0. B. Neurologischer Status 0. B. Blut: Rote Blutkorperchen 3,750,000. Das Blut hat einen Kal- ziumgehalt von 11.0 mg %, und einen Kaliumgehalt von 21.0 mg 76. Blutdruck 125.

Hereditar nichts von Interesse. Abgesehen von periodischen Beschwerden nervoser Natur war er im grossen ganzen gesund und arbeitsfahig. Seit 15 Jahren wurden seine nervosen Beschwerdenperioden ausgesprochener. Er leidet in gewis- sen Perioden an einer schweren Mudigkeit und Mattigkeit sowie an schlechtem Schlaf. In diesen Perioden pflegt er sich unruhig und angst- lich zu fiihlen. Hun& und Fiisse kult. Schwere und Druck iiber dem Scheitel. Die letzte Beschwerdenperiode seit 2 Monaten. Bei der Untersuchung fand man den krliftig gebauten Mann mit gut entwickelter Muskula- tur in gutem Allgemeinzustand. Am Herzen ein schwaches systoli- sches Blasegerausch iiber der Spitze. Keine Vergrosserung. Keine a bnorme Akaentuierung. Blutdruck 140 mm Hg. Die Adrenalinreak- tion war von vagotonem Typus. Von den inneren Organen sonst nichte Bemerkenswertes.

Fall 4 . Artur H., 25 Jahre alt. Hereditiir nichts von Interesse. Vor 5 Jahren Schmerzen in der linken Seite der Brust. Ein Arzt dachte

Fall 2. Karl L., 45 Jahre alt.

FUZZ 3. Oskar K., 53 Jahre alt.

Sonst fiihlt sich Pat. gesund und hat guten Appetit.

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an eine Lungenkrankheit, ein Verdacht, der sich jedoch spater nicht bestiitigte. Wiihrend derselben Zeit oft Herzklopfen, besonders bei Zustanden won Mudigkeit oder Unruhe. Seine gegenwartigen Beschwer- den hat Pat. seiner Angabe nach seit 3 Jahren. Er leidet seit damals an starkem Miidigkeitsgefiihl und vermochte nicht warm zu werden, besonders nicht an Handen und Fussen. Ausserdem leidet er an Kopf- schmerzen, die er als Schwere und Druck uber den1 Scheitel fuhlt. I n der letzten Zeit leichter atemlos als fruher. Die Leistungsunfuhig- keit hat in der letzten Zeit immer mehr zugenommen, so dass Pat. keine Arbeit mehr verrichten kann. Bei der Untersuchung findet man guten Allgemeinzustand. Gewohnliche Korperfulle und Muskulatur. Haut- farbe normal. Auffallend kalte Hunde und Fusse. Blutdruck 130 inin

H q . Von den inneren Organen nichts Pathologisches nachweisbar. Besonders hervorgehoben werden soll, dass an den Lungen nichts ab- normes nachweisbar ist. Die Adrenalinreaktion von vagotonem Ty- pus.

Wchrpflichtiger 506 17/24. Pat. fiihlte seit langem eine Herabsetzung seiner Korperkrafte und in der letzten Zeit erhohte Be- schwerden durch Miidigkeit, Mattiqkeit und Arheitsunfahigkeit. E r hat ein Gefuhl von Schwere uber der Brust, und das Atmen fiillt ihm schwer. Oft Herzklopfen, Angst und Unruhe. .Weint leicht. Mitun- ter Kopfschmerzen. Mitunter saures Aufstossen. Er leidet auch sehr an kalten Handen und Fussen. - Bei den Untersuchungen findet man den Allgemeinzustand des Patienten gut. Korperfulle und Muskula- tu r normal entwickelt. Die Hautfarbe normal. Von den inneren Organen nichts Pathologisches. Blutdruck 160 m m Hg. Spiitere Blut- druckmessungen gaben Werte zwischen 130-150 mm Hg. Das Blut hat einen Kalkgehalt von 10 .4 mg ‘$6, einen Kaliumgehalt von 23.0 mg ”/. Die Adrenalinreaktion etwas ubernormal steigend.

Fall 6. O., 43jahriger Pastor. Hereditar nichts von Interesse. Abgesehen von den nachstehend genannten Krankheitssymptomen konnte sich Pat. einer guten Gesundheit erfreuen. Seit seiner fruhen Jugend litt. Pat. a n einer abnormen Ermudbarkeit, die ihm bei seinen Studien sehr hinderlich war. Wahrend seiner Studienzeit suchte e r wiederholt arztlichen Rat wegen seiner Mudigkeit und Mattigkeit. Er meinte zu bemerken, &ass ihm seine Studienarbeit am besten in liegen- der Stellunq qelang. Ausserdem litt er sehr oft a n Schwindelqefuhl, er wurde aber niemals wirklich ohnmiichtig. Er konnte kein Blut oder Wunden sehen, weil er dann schwindelig wurde. Die Beschwerden waren in manchen Perioden starker, in anderen weniger schwer. Pat. musste sich stets schonen und brauchte langere Nachtruhe als andere Menschen. I n den letzten Jahren litt er bei der Ausfiihrung seines Berufes an schwerem Schwindelyefuhl, besonders stark bei Verrichtung des Altardienstes. Er hatte dabei das Gefuhl, als oh seine Beine ein- knicken wollten, und musste sich deshalb an eine Stiitze lehnen und sich in unnaturlicher Weise strecken, sodass er nach dew Altardienst oft von Schweiss durchniisst war. Er ist jetzt angstlich, dass er wegen des Schwindels und Mattigkeitsgefuhls, das ihn bei jedem offentlichen

Fall 5 .

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Auftreten befallt, bei dem er eine langere Weile aufrecht stehen muss, Rein Amt nicht mehr wiirde ausfiillen konnen. Auf die Frage, ob er ein Kaltegefuhl in den Handen und Fussen hatte, gibt er an, dass dies mitunter der Fall gewesen ware, dass dieses Symptom aber von unter- geordneter Bedeutung sei, und er es nicht besonders beachtet habe. - Bei der Untersuchung erweist er sich als kraftiger, etwas unter- setzt gebauter Mann mit kraftiger Muskulatur und guter Korperfiille. Das Aussehen gesund und kraftig. Hautfarbe gut. Von den inneren Organen nichts Pathologisches nachweisbar, ausser einem schwachen systolischen Nebengedusch iiber der Herzspitze. Keine Vergrosser- ung der Herzgrenzen. Blutdruck 140 mm Hg. Pat. giht an, dass dieser Blutdruckwert auch bei verschiedenen friiheren Untersuchungen ge- funden worden war.

Fall 7 . Anna F., 32 Jahre alt. Ein Bruder der Patientin hatte mehrere Jahre lang Hschwache Nervenr. Sonst hereditar nichts von Interesse. Pat. ist seit 13 Jahren verheiratet und hat ein Kind, dass jetzt 12 Jahre alt und gesund ist. Im grossen ganzen hatte Pat. keine organischen Krankheiten gehabt. Seit dem Alter won 17-18 Jahren litt sie a n abnormer Ermiidbarkeit, war nervos und reizbar. Zeitweise war sie wegen Miidigkeit nicht imstande, den Haushalt zu versorgen. Sie leidet an Kongestionen zum Kopf mit Schwindelgefuhl, Unruhe, Beklemmung und Angstgefiihl. Oft Schwere iiber der Brust und Herz- klopfen. Unbestimmter Druck iiber der Stirn, aber kein eigentlicher Kopfschmerz. Mitunter saures Aufstossen. Bald litt sie unter dem einen, bald unter dem anderen Symptom, fast niemals war sie ganz beschwerdenfrei. - Die Untersuchung ergibt, dass die Frau, deren Korperbau von Durchschnittsmass ist, sich in gutem Allgemeinzu- stand befindet; Korperfiille, Muskulatur und Hautfarbe normal. Von den inneren Organen nichts Abnormes nachweisbar. Blutdruck 115 mm Hg. Blut-Ca 10.4 mg %, Blut-K. 23.5 mg %.

Fall 8. Gottfried H., 25 Jahre alt. Eiii Bruder war an Lungentu- berkulose gestorben. Sonst hereditar nichts von Interesse. - Pat. gibt an, dass er immer schwiichlich gewesen sei. E r fuhlte sich stets mude, kraftlos und ermiidet sehr rasch, wenn er zu arbeiten versucht. Im Jahre 1918 machte er eine Influenza durch, nach der sein Zustand noch schlechter wurde als friiher. Seit mehreren Jahren leide er an Kopfschmerzen und mitunter a n einem Gefuhl von Schwindel. Der Schlaf ist schlecht. Pat. ist sehr unruhig, hat oft Angstgefiihl, ist schwermiitig und deprimiert. Er gibt an, dass er an Impotenz gelitten habe. Hiiufig Herzklopfen und ein Gefiihl der Schwere iiber der Brust. Pat. hat standig h l t e Fusse, die nur schwer warm werden. Die Unter- suchung zeigt einen sehr kraftig, fast athletisch gebauten Mann mit gut entwickelter Korperfiille und kraftiger Muskulatur. Die Haut a n den Handen marmoriert. Herz: Keine Vergrosserung. Schwaches systoli- sches Nebengerausch uber der Spitze. Keine abnorme Akzentuation. Blutdruck 125 mm Hg. Adrenalinreaktion vagoton. Blutkalkgehalt 10.4 mg x. Sonst nichts Abnormes an den inneren Organen.

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174 ESKIL KYLIN.

Pall 9. Wehrpflichtiger 166 16/24. N. Pat. gibt an, seit langeni an Miidigkeit und Mattigkeit gelitten zu haben. Ausserdem eine Menge nervose Beschwerden, wie Ameisenkriechen in der Haut. Oft Herz- klopfen und Atemnot. Oit h l t e Hande und Piisse. Mitunter saures Aufstossen. Oft Aufstossen von Luft. Ohrensausen. - Untersuchung: Korperbau von Durchschnittsmass, gute Korperftille und Muskula- tur. Abgesehen von einem Herzfehler (Insuff. valv. mitr.) nichts Ab- normes an den inneren Organen. Blutdruck 126 mm Hg. Ca-Gehalt des Blutes 10.7 mg o/, Ka-Gehalt 23.0 mg %. Adrenalinreaktion vagoton.

Aus den hier vorgelegten Fallen geht hervor, dass der fruher fur die Essentielle Hypotonie a19 typisch beschriebene Sympto- menkomplex bei Normotonikern vorkommt.

Gerade dieser Symptomenkomplex kann sich indes, vom nied- rigen Blutdruck abgesehen, auch bei Individuen vorfinden, die durch Blutdrucksteigerung vom essentiellen Typus gekenn- zeichnet sind. Ja, mehrere von den Verfassern, die sich besonders mit dem Gebiete der Essentiellen Hypertonie befasst haben, beschrieben ganz denselben Krankheitskomplex als fur diese Krankheitsgruppe typisch. So hebt z. B. Kauffmann hervor, dass der typische anamnestische Komplex bei Essentieller Hypo- tonie aus abnormer Ermudbarkeit, Neigung zu Schwindel, Kopf- schmerz, nervoser Unruhe bestehe, also durchwegs aus Symptovnen, die gerade als charakteristisch fiir die Essentielle Hypotonie betrach- tet wurden.

Stellen wir nun die Resultate zusammen, die sich aus der obi- gen Betrachtung ergeben, so finden wir folgendes:

1 .) Dass hypotone Blutdruckwerte in nicht eben geringer Aus- dehnung bei vollstdndig gesunden Individuen vorkommen.

2.) Dass von den spitalsbehandelten Kranken, die hypotone Blutdruckwerte aufweisen, nur ein geringer Teil (bei eigenen Unter- suchungen ungefdhr 10 7.) einen fur die sog. Essentielle Hypotonie typischen Symptomenkomplex aufwiesen.

3.) Dass der fur die sog. Essentielle Hypotonie typische Symp- tomenkomplex bei Individuen mit normalen Blutdruckwerten, ja, dass obendrein derselbe Symptomenkomplex als charakteristisch fur die Essentielle Hypertonie beschrieben worden ist.

Auf Grund dieser Untersuchungsresultate scheint es mir nicht zweckmdssig zu sein, einen Krankheitskomplex zusarnmenzufassen, der nach diesem Symptom Hypotonie benannt werden sollte.

Bei meinen Untersuchungen sind aueserdem weitere Umstande zu Tage getreten, die d a m angetan zu sein scheinen, Fragestel-

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GTUDIEN UBER DEN NIEDRIQEN ARTERIELLEN BLUTDRUCK. 175

lungen zu beleuchten, die bezuglich des sogenannten hypotonen Blutdrucks entstehen. Ich mochte diese Umstande hier vorlegen, ohne jedoch Anspruch darauf zu erheben, diese Fragestellungen vollstandig klargelegt zu haben. Da sie mir indes geeignet zu sein schienen, in noch hoherem Grade zu beleuchten, wie unbe- rechtigt ea ist, einen Symptomenkomplex aufzustellen, bei dem ein niedriger Blutdruck das Hauptsymptom ware, schien es mir zweckmasaig, die betreffende Verhaltnisse in diesem Zusammen- hang vorzulegen.

fjber das Verhalten des Blutdruokes in epbteren Rekon- valessensstadien der akuten Glomerulonephritis.

Wenn man den arteriellen Blutdruck bei der akuten Glome- rulonephritis mit taglichen, morgens und abends vorgenomme- nen Messungen verfolgt, findet man bekanntlich, dass dieser Blutdruck allmahlich von den erhohten Werten des Anfangs- stadiums auf normale Werte sinkt. Aber nicht genug damit, wird man in der Mehrzahl der Falle, wie Lichtwitz und Kylin schon hervorgehoben haben, oft finden, dass der Blutdruck auf deutlich unternormale Werte sinkt, wobei Ziffern von 90 mm Hg und weniger nicht zu ‘den allzu grossen Seltenheiten gehijren. Ich beleuchtete dieses Verhalten durch Vorlegung von Blut- druckkurven einiger Fiillen von akuter Glomerulonephritis (siehe Kurve 1-2). Da das Verhalten wohl schon als allgemein be- kannt betrachtet werden kann, glaube ich davon absehen zu konnen, den Platz durch einen Bericht uber die Fiille in An- spruch zu nehmen.

fjber unternormalen Blutdruok bei der Essentiellen Hypertonie.

Ebenso wie man bei der akuten Glomerulonephritis im Re- konvaleszenzstadium unter dem Normalen liegende Blutdruck- werte findet, kann man mitunter, wenngleich nicht oft, auch bei Patienten die sonst als an essentieller Hypertonie leidende Fiille eingereiht werden miissen, unter-normale Blutdruckwerte fin- den. Ich lege hier zwei Fiille vor, um das Verhalten zu beleuchten. Wahrend der letzten Jahre habe ich acht solche Falle gesehen.

Frau Edit S., 52 Jahre alt. Hereditiir nichts von Interesse. Vor gut 10 Jahren hatte Pat. eine Struma gehabt, die jedoch spater

Fa2Z 9.

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= Blutdruch ------I: = Korpergewicht

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Fig. 1.

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I a 160 150 1w 130 120 110 100

90 80 70 60 50 40 30 2 i; B

= Blutd r u c k .I.-.-- = Korperge wicht *----x = Aesf:N

9: W M w

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Fig. 2.

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178 ESKIL KTLIN.

wieder kleiner geworden sein soll. - Seit 3-4 Monaten Kopfschmer- zen und Ohrensausen. Pat. wurde immer matter und mtider. Sie fror leicht und musste sich auch im Sommer warm kleiden. Das Ge- wicht hielt sich nach Angabe der Patientin konstant. In den letzten Wochen, glaubt Pat., habe sich eine leichte Schwellung unter den Augen eingestellt.

Status am 13. XII. 1929. Allgemeineustand recht gut. Blass mit einer gewissen Andeutung

von Lippenzyanose. Angedeutetes Udem an den Unterschenkeln. (Bedeutende Varizen an den Beinen.) Die Haut der Stirne dem Ge- fiihl nach etwas verdickt. Pat. weist gewisse myxodematose Charak- teristika im Gesicht auf. Die Augen tiefliegend, ihre Umgebung sack- formig aufgedunsen. Keine Basedowsymptome an den Augen. Die Haut am Korper normal feucht. Haarwuchs schtitter. Axillarhaar sparlich. Die Pubeshaare normal. Thyreoidea etwas diffus vergros- sert. Kein Tremor in den Handen. An den oberflachlichen Lymph- driisen nichts Abnormes. Lungen 0. B. Hem: Unbedeutende Links- vergrosserung. Schwaches systolisches Nebengerausch tiber der Basis. Keine abnorme Akzentuierung von Herztonen. Keine Tachykardie. Keine Arhythmie. Bluldruck 160 mm Hg. Bauch, Leber und Milz 0.

B. Harn: Kein Zucker, Spuren von Eiweiss. (Zwei Tage danach keine Albuminurie.) Blut: Rote 2,700,000, weisse 6,000. Diff.-Zahlunq: 73 % Neutrophile, 18 yo Lymphozyten, 1 % Eosinophile, 7 .5 yo grosse Mononukleare. Qrundumsatz + 59 %. Die Blutdrucksverhalt- nisse der Patientin wahrend des Spitalsaufenthaltes gehen aus der beigefiigten Kurve hervor (Kurve 3).

Fig. 3.

Der in Rede stehende Pall zeigte gewisse Hymptome, die als Zeichen von Myxodem gedeutet werden konnten, wiihrend die Bestimmung des Grundumsatzes erhohten Stoffwechsel zeigte. Diese Verhiiltnisse erscheinen jedoch in diesem Zusammenhange von geringerem Interesse. Was uns hier am meisten interessiert, ist das Verhalten des Blutdrucks, der bei der Aufnahme hypertone Werte zeigte, wahrend des Spitalsaufent- haltes auf unternormale sank, wobei wiederholte Male so niedrige Ziffern wie 100 mm Hg gemessen wurden.

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BTUDIEN UBER DEX NIEDRIGEN ARTERIELLEN BLUTDRUCK. 179 Full 10. Frau Ellen A., 56 Jahre alt. Pat. sol1 als Kind Tbc-

Lymphone gehabt haben. Im November 1928 hatte sie eine rechts- seitige Pleuritis exsudativa durchgemacht. Gleichzeitig wurde Hyper- tonie und Albuminurie konstatiert. Pat. wurde dann wiederholt unter- sucht und wies erhohihten Blutdruck mit wechselnden Werten auf. Un- mittelbar vor Weihnachten 1929 Herzbeschwerden, mit Herzklopfen und Atemnot. Bei poliklinischer Untersuchung Blutdruck 190 mm Hq. 4. I. 1930 Aufnahme in die Abteilung. Der Allgemeinzustand war gut, die Hautfarbe normal. Keine Dyspnoe. Leichtes Odem in den Unter- schenkeln. Das Herz nach links vergrossert. Schwach systolisches Nebengerausch. Rontgenologisch Hypertonietypus. Der Harn ent- hielt weder Eiweiss noch Zucker. Nierenfunktionsprobe normal. Die inneren Organe sonst 0. B. Der Blutdruck geht aus CEer beigefiigten Kurve 4 herum. - Bei spiiterem poliklinischem Besuch wieder hypertone

. Blutdruckswerte, jedoch niemals iiber 200 mm Hg.

Fig. 4.

Dieser Fall ist, soweit ich sehe, als ein Fall von Essentieller Hypertonie zu deuten. Es werden jedoch einzelne Male hypotone Blutdruckwerte, zu anderen Zeiten hingegen hypertone Werte gemessen.

Uber einige objektiv neohweiebere Bymptome, die fiir die' Gruppe Eesentielle Hypotonie beseiohnead sein eollen.

Wir haben im obigen gefunden, dass die fur die Essentielle Hypotonie a19 charakteristisch betrachteten Symptome subjek- tiver Art waren. Von entscheidender Bedeutung fur den Krank- heitskomplex waren die anamnestischen Angaben der Patienten. Es wurden indes, abgesehen vom niedrigen Blutdruck, auch

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180 ESIiIL KYLIN.

zwei andere Symptome erwahnt, die fur die Gruppe charakte- ristisch sein sollen. Diese Symptome bestanden 1.) i n einer Ver- schiebung des Kalium- und Kalziumgehaltes des Blutes und 2 . ) in einer Verschiebung der Reaktionslage fur das Adrenalin. Durch das mir zur Verfiigung stehende Material kann ich das Vorkom- men dieser beiden Symptome beim in Rede stehenden Sympto- menkomplex einigermassen beleuchten.

Ich beginne damit, einige nach dem aufgestellten Symptomen- komplex typische Falle von Essentieller Hypotonie vorzulegen, Falle also, wo ausser den anamnestischen Befunden auch hypo- toner Blutdruck vorhanden war.

Fall 11. Emma E., 38 Jahre alt. Hereditar nichts von Interesw 111-para. Keine Aborte. Pat. war seit ihrem 17. Lebensjahre immer kranklich und kraftlos. Sie ermiidete leicht und war nicht imstande, ihre Arbeit zu verrichten. Im Jahre 1910 Magengeschwiir. Nach 11/2 Jahren diatischer Behandlung soll sie von ihren Beschwerden befreit gewesen sein. Vor 10 Jahren soll sie gelegentlich einer Graviditiit einen 3 Tage lang anhaltenden Anfall von Bewusstlosigkeit bekommen haben. Sie ware dann 3 Wochen lang desorientiert und wie geistesab- wesend gewesen. Vor zwei Jahren habe sie angeblich eine Hirnblutunq gehabt, von der sie binnen zwei Wochen vollstandig wiederhergestellt ge- wesen sei. Ihre eigentlichen Beschwerden bestehen jetzt in der er- wahnten abnormen Ermiidbarkeit, die nicht einmal durch Ruhe zu he- seitigen ist, sowie in Schwindel und Schwindelgefiihl. Ferner driik- kende, in der Stirn lokalisierte Kopfschmerzen. Pat. ist immer depri- miert, bange und angstlich. Oft Herzklopfen. Kommt leicht ausser Atem.

Kleine, grazil gebaute, schwachliche Frau mit blasser Hautfarbe. Der Allgemeinzustand deutlich herabgesetzt. Pat. macht einen ausserst nervosen Eindruck und neigt leicht zum Weinen. Blutdruck 90-110 mm Hg (mehrerc Male bestimmt). Rote Blutkorperchen 3,200,000. Cor: Ein schwa- ches, systolisches Nebengerausch iiber dem ganzen Herzen. Keine Vergrosserung. Blut-Ca 11, Blut-K 26.5 mg yo. Die Adrenalinreak- tion sympathikoton (siehe Kurve 5).

Pat. wurde in den nachsten beiden Jahren wiederholt an der Abteil- ung behandelt. Wahrend des Spitalsaufenthaltes besserte sich der Zustand etwas, wurde aber nach einiger Zeit des Aufenthaltes awser- halb dem Krankenhause wieder schlechter, und die friiher erwahnten Beschwerden traten wieder auf. Sie beging spater aus Verzweiflung uber ihren Zustand Selbstmord.

Bei Untersuchung ergab sich folgendes.

Fall 12. Fraulein M. H., 24 Jahre alt. Der Vater gesund. Die Mutter sehr nervos, leidet jetzt an Zuckerkrankheit. Die Grossmutter miitterlicherseits hat gleichfalls asehr schwache Nervena. Pat. selhst litt standig an Miidigkeit und Mattigkeit sowie abnorm grossem Ruhe-

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STUDIEN UBER DEN HIEDRIQEN ARTERIELLEN BLUTDRUCK. 181

Min.

Fig. 5.

bedurfnis. Ausserdem periodenweise auftretende, meistens in der Stirngegend lokalisierte Kopfschmerzen. Mitunter Schwindel. Pat. ist einige Male ohnmachtig geworden, besonders wenn sie eine langere Weile stehen musste, (z. B. behufs Anprobierens bei der Schneiderin). Herzklopfen, wenn sie sich beunruhigt. Trage Darmtiitigkeit, sonst nichts Abnormes vom Bauch. - Bei Untersuchung fand man bei der etwas uber mittelgrossen Frau grazilen, schwiichlichen Korper- bau. Auffallend blasse Hautfarbe. Pat. sieht immer sehr miide aus und klagt standig iiber Mudigkeit. Der Blutdruck variiert bei wie- derholten Bestimmungen zwischen 95-100 mm Hg. Rote Blutkor- perchen 4,700,000, Blutkalk 10.5 mg ”/.

Fall 13. Karl J., 54jiihriger Landwirt. Hereditiir nichts von Inte- resse. Abgesehen von einer vor einem Jahre durchgemachten Ge- sichtsrose hatte Pat. keine organische Krankheit gehabt. Solange Pat. zuriickdenken kann, hat er an einer gewissen Nervositat und psy- chischen Verstimmung gelitten. Seit 11/2 Jahren deprimierter und nervoser und ausserdem sehr mude und matt. Pat. fiihlt sich niemals ausgeruht. Mitunter Schwindel und Schwindelgefuhl. Pat. grubelt viel, einerseits uber okonomische, anderseits iiber religiose Dinge. Im letz- ten Jahre fie1 es dem Pat. schwer sich z u erwarmen, besonders Hande und Fusse blieben kalt. Er weint leicht ohne Ursache. - Die Unter- suchung zeigt gewohnlichen Korperbau, mittlere Grosse, Korperfulle und Muskulatur von Durchschnittsmass. Der Blutdruck variiert hei verschiedenen Messungen zwischen 90-105 mm Hg. Von den inne- ren Organen oder vom Nervensystem nichts Abnormes nachweisbar. Blut 0. B. Rote Blutkorperchen 5,700,000. -4drenalinreaktion sym- pathikoton (siehe Kurve 6). Grundumsatz - 32 %.

Fall 14. Gustav Hjalmar N., 34jiihriger Landwirt. Hereditiir nichts von Interesse. Im grossen ganzen friiher gesund, bis auf seine jetzigen Beschwerden, die ungefahr vor 2 Jahren mit einem abnormen Mudigkeitsgefiihl und psychischer Verstimmung begonnen hatten. Der

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182 ESGIL KYLIN.

Zustand wurde dann besser, im Mai 1930 begann Pat. aber wieder, und zwar in hoherem Grade an denselben Beschwerden zu leiden. Er fiihlte sich seitdem standig miide und matt und psychisch verstimmt und iingstlich. Schmerzen in Kopf und Riicken. Schlechter Schlaf. - Pat. sol1 keine Neigung zu Schwindel haben. Er pflegt nicht beson- ders leicht zu frieren. - Angeblich wurde er immer leichter miide als andere. - Die Untersuchung zeigte bei dem grossen, grazil gebauten Mann geringe Korperfiille und schlecht entwickelte Muskulatur. Die Hautfarbc normal. Der Blutdruck variierte bei verschiedenen Mes- sungen zwischen 80-100 mm Hg. Thyreoidea etwas diffus vergros- sert. Keine Zeichen einer Basedow- oder Myxodemerkrankung. Adre- nalinreaktion (zu zwei verschiedenen Zeiten untersucht) stark sympa- thikoton (siehe Kurve 7). Innere Organe sonst 0. B. - Zu bemerken ist, dass der Blutzuckergehalt bei diesem Fall wiederholt, an verschie- denen Tagen bestimmt wurde, immer morgens bei niichternem Magen. Die Blutzuckerwerte waren mehrere Male auffallend niedrig (5. IX.: 89, 9. IX.:90, 12. IX.:83, 16. IX.:98, 19. IX.:75, 23. IX.:84).

Fanny L., 26 Jahre alt. Hereditiir nichtv von Interessc Vor 11 Jahren Erythema nodosum. Vor 9 Jahren Operation wegen Appendizitis. Vor 4 Jahren einen Sommer lang Magenkatarrh. Nach Di&t Besserung. - Seit 2 Monaten Schmerzen in verschiedenen Kor- perregionen. S c h n vorher hutte Pat. begonnen, sich auffallend miide und matt zu fiihlen. Mitunter such ein unbedeutendes Gefiihl von Schwin- del. Manchmal Temperatursteigerung. Schlechter Appetit. Trilge Darmentleerung. Gelegentlich diffuse Magenbeschwerden. - Unter- suchung: Kriiftiger Korperbau, Grosse unter dem Mittelmass. Korper- ftille gut. Gut entwickelte Muskulatur. Blut: Rote Blutkorperchen 6,400,000. Weisse 6,900. Senkungsreaktion 6-8 mm nach einer Std. (bei 2 verschiedenen Bestimmungen). Blutdruck 105-95 mm Hg

Fall 15.

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STUDIEN UBER DEN NIEDRIQEN ARTERIELLEN BLCITDRUCK. 183

Fig. 7.

bei verschiedenen Bestimmungen. Von den inneren Organen nicht. Abnormes nachweisbar. Adrenalinreaktion von vagotonem Typus Grundumsatz. - 27 %.

Maja L., 30jahrige Lehrerin. Die Mutter an Cancer hepa- tis gestorben, sonst hereditiir nichts von Interesse. Im Jahre 1923 machte Pat. Pneumonie und Pleuritis durch. Im Jahre 1927 Magen- beschwerden von unbestimmtem Typus. Die Rontgenuntersuchung konnte nichts Abnormes feststellen. Nach Medikation von Valerians und Brom wurde Pat. gesund. Im Herbst 1929 wieder ahnliche Magen- beschwerden, die jedoch auf medikamentose Behandlung verschwan- den. In der letzten Zeit hatte Pat. anstrengendere Arbeit in der Schule gehabt als friiher und glaubt sich iiberanstrengt zu haben. Mehr diirfte sie indes durch eine Liebesangelegenheit irritiert worden sein, die sie in der letzten Zeit psychisch aufgeregt hatte. I n der letzkn Zeit hutte sie begonnen, an einem schweren Miidigbitsgefiihl zu leiden. Der Schlaf wurde immer schlechter. Oft Schwindel und Schwindelge- fiihl. Pat. machte wegen ihrer Beschwerden einen Selbstmordversuch, der misslang. Aus diesem Anlass Aufnahme in die Abteilung. - Un- tersuchung: Kleine, kraftig gebaute Frau in gutem Allgemeinzustan- de, mit guter Muskulatur und recht reichlicher Korperfiille. Sie klagt sehr iiber intensives Miidigkeitsgefuhl und Schwindelgefiihl, das so stark ist, dass die kaum den Kopf vom Kissen zu heben vermag. Am Herzen ein schwaches, systolisches Nebengerausch. Keine Vergros- aerung. Keine abnorme Akzentuierung von Herztonen. Blutdruck 95. Sonst ist an den inneren Organen und am Nervensystem nichts Abnormes zu konstatieren. Pat. wurde nach einem Monat Spitals- aufenthalt vollstandig symptomfrei entlassen.

Rechtsanwalt Gustaf K. 52 Jahre. Eingeliefert 4/12 1930. Hereditar nichts von Interesse. - Seit wenigstens 10-15 Juhren

Full 16.

Fall 17.

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184 ESKIL KYLIN.

hat, sich der Pat. unwohl gefiihlt. Leidet seitdem oft a n Schwindel und Mattigkeit. Hat sehr grosse Bedurfnisse nach Erholung und fiihlt sich eigentlich niemals ausgeruht. - Seit den letzten 1-2 Jahren sind seine Beschwerden mehr belastigend geworden. Er fiihlt sich imrner sehr miide und matt. Leidet auch mehr a n Schwindel und hat einpaar ma1 Ohnmachtanfalle gehabt. Es frkrt ihm sehr oft und er ist immer kuhl a n den Handen und Fussen. Oft Herzklopfen. Oft Kopfschmerzen. Seine Libido sexualis ist abgenommen. Das Haar ist wahrend der letzten Jahre abgefallen. Seine psychische Stimmung melancholisch.

Bei der Untersuchung fand man: Ein mittelgrosser Mann von astheni- scher Habitus. Sieht alterer aus als er ist. Er ist sehr mager, die Haut diinn, faltig, trocken, von braun-gelbgrauer Farbe. Das Haar sehr diinn. Der Kinn ist klein. Der Korpermuskulatur schlecht. Der Kranke sieht sehr mude und elend aus. - Keine Symptome an Mor- bus Basedowi oder Myxtidem. Thyreoidea 0. B. Innere Organe siimt- liche 0. B. Blutdruck variiert bei mehreren Messungen wahrend einer Wahl zwischen 85-110 mm Hg. Der Blutzucker variierte bei 5 ver- schiedene Bestimmungen an verscbiedenen Tagen (am Morgen mit niichternem Magen) zwischen 85-110 mg %. Harnsaure im Blute 2.82 mg :(,. Grundumsatz - 43 %.

Fall 18. Fraulein Vivi K. 29 Jahre. Eingeliefert 11/12 1930. He- reditiir nichts von Interesse. - Seit 5 Jahren leidet die Patientin an schwere Miidigkeit und Mattheit. Hat grosse Ruhebediirfnis, wird aber niemals ausgeruht. Es friert ihr sehr leicht besonders an den Handen und Fiissen. Dann und wann leidet sie an Schwindelanfalle. ist indessen niemals in Ohnmacht gefallen. - Die Beschwerden sind wiihrend der letzten 3 4 Monate immer schwerer geworden.

Bei der Untersuchung fand man eine grazil gebaute junge Frau, die im grossen ganzen gesund aussah. Ihr Blutdruck lag bei wiederhol- ten Bestimmungen zwischen 80-95 rnm Hg. Vom Herzen ein systo- lisches schwaches Nebengerausch an der Spitze. Normalen Herzgren- Zen. Von inneren Organen sonst nichts von Interesse. Blutharn- siiure I , 74. Blutzuckerwerte an niichternem Magen morgens friih: 12/12 88; 13/12 87; 16/12 88; 17/12 75 mg %. - Grundumsatz - 21 yo.

Die beiden letzten Kranken wurden mit Praephysolz behandelt. Nach einer Behandlung von ungefahr 4 Wochen wurden sie bedeutend verbessert. Ihre Blutdruckwerte waren bis normale Werte gestiegen (fur Fall 17 bis 140 mm H g und fur Fall 18 bis 130 mm Hg). Die subjektiven Beschwerden waren dann beinahe vollstandig verschwunden. Bei dem Pat. 17 wurde nach einer Praephysonbehandlung von 2 Monaten der Grundumsatz normal.

Die Krankengeschichte, die ich hier hervorgelegt habe, stim- men, wie wir finden, mit dem Symptomenkomplex ))essentieller Hypotonie)) uberein.

Es gibt indessen noch eine Krankheit, die in den Gedanken fallt, wenn man diese Krankengeschichte studiert. Diese Krankheit ist die

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STUDIEN UBER DEN NIEDRIGEN ARTERIELLEN BLUTDRTJCK. 185

s. g. ymmondsche Krankheit. Wie wir wissen ist diese Krankheit von einer Unterfunktion des Vorderlappens der Hypophyse verur- sacht. Die klassischen Symptomen bei dieser Simmondschen Krank- heit sind, allgemeine Atrofie von Muskel und Fettgewebe. Atrofie von gewissen Skeletteilen besonders die Kinn, Haarabfall, allgemeine Miidigkeit und MattSeit, Schwindelanfalle, Akrocyanose und Schwie- rigkeit den Korpertemperatur auftrechzuerhalten. Weiter findet man bei der Simmondschen Krankheit niedrigen Blutdruck und oft niedrigen Grundumsatz samt oft niedrige Blutzucker und Harnsaure- werte. Da wir in vier von unseren Fallen niedrigen Grundumsatz zusammen

mit gewissen anderen fur die Simmondsche Krankheit charakteristi- schen Symptomen gefunden haben, scheint es nicht unmoglich, dass gewisse von diesen Fallen der Simmondschen Krankheit zuhoren.

In einer spiiteren Arbeit uber die Simmondsche Krankheit werde ich diesen Gesichtspunkten weiteres Interesse widmen.

Ich habe erwahnt, dass zwei objektiv nachweisbare Symptome als typisch fur die Essentielle Hypotonie hervorgehoben wurden. Das eine von ihnen ist eine unternormale Reaktion auf Adrena- lin. Dieses Symptom haben schon Martini und Pierach hervor- gehoben. Sie geben an, dass sie in einer Anzahl von Hypotonie- fallen einen vagotonen Typus der Adrenalinreaktion fanden. Spater konnten Lian und Blonde1 dasselbe Verhalten durch in- travenose Injektion von sehr kleinen Adrenalindosen nach- weisen. Den Ausfall der Reaktion bestimmten diese Forscher durch plethysmographische Untersuchungen. L. und B. heben hervor, dass Hypertoniker bei dieser Versuchsanordnung uber- normal, Hypotoniker unternorrnal reagieren.

Was die auf gewohnliche Weise ausgefuhrte Adrenalinreak- tion betrifft, so untersuchte ich diese in einer Anzahl von Fallen, die einen Symptomenkomplex aufwiesen, der dem der Essen- tiellen Hypotonie entsprechen kann. Ich sah in einem Teil von diesen Fallen, ebenso wie Martini und Pierach, eine Adrenalin- reaktion von vagotonem Typus. In anderen Fallen mit typischen Hypotoniekomplex fund ich indes eine Adrenalinreaktion von uber- normal steigendem Typus, einem sympathikotonen Reaktionstypus. Diese Falle habe ich in meiner obigen kleinen Kasuistik vor- gelegt.

Das Untersuchungsresultat zeigt also, dass die Adrenalinreak- tion bei der Essentiellen Hypotonie sehr wohl sympathikoton sein kann. Das Symptom der unternormalen Adrenalinreaktion, dem Lian und Blondel grosse Bedeutung beimassen, ist also keines- wegs pathognomonisch fur den in Rede atehenden Komplex.

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186 ESIiIL KYLIN.

S a l h hat mir personlich mitgeteilt, dass er Lian und Blondels plethysmographische Untersuchungen nach der intravenosen Adrenalinjektion in der von L. und B. angegebenen Dosierung nachgepriift hat. Sale'n konnte indes Lian und Blondels Angaben nicht bestdtigen.

Ein anderes Symptom, dem Lian und Blonde1 Bedeutung bei- massen, ist das Vorkommen von unternormalen Werten fur den Blut-Ca-Gehalt und iibernormalen Werten fur den Blut-K-Ge- halt beim beschriebenen Essentiellen Hypotoniekomplex. Ich habe in einer Anzahl von Fallen mit hypotonen Blutdruckwer- ten den Kalzium- und Kaliumgehalt des Blutes bestimmt, kann aber Lian und Blondels Angabe nicht bestdtigen. I n der nachste- henden Tabelle lege ich die von mir gefundenen Werte fur den Kalk- und Kaliumgehalt des Blutes vor.

Name Alter

Emma E. . . . . 3 8 Viola L. . . . . . 19 Madelaine H. . . . 25 Karolina L. . . . 61 Sigrid P. . . . . . 40 Ottilia F. . . . . 49 Annie J. . . . . . 28 Lorentz R. . . . . 17 Hilma G.. . . . . 29 Judi t L. . . . . . 33 Karl S. . . . . . 38 Berta J. . . . . . 33 Gerda H . . . . . . 42 Uno M. . . . . . 27 Beda L. . . . . . 26 Sigrid L. . . . . . 20 Erik A. , . . . . 37 Tobias J. . . . . . 44 John A. . . . . . 34 Torsten N. . . . I 32 Hnlda R. . . . . 56

Tabelle.

Blntdrnck 9't;f 90 11.0 90 8.2 95 1o.h 110 11.8 100 10.0 95 12.9 100 12.4 110 13.0 90 11.6 95 10.0 110 10.6 85 12.6 80 11.1 100 11.7 100 11.4 100 11.6 100 10.1 105 11.8 100 10.4 95 12.0 70 ' 14.8

Kalium in m g %

-- Neorose. 21.4 Nenros. postop. - Nenrose.

22.0 Neorose. 18.7 Nenroee. 25.8 Diahetes. - Diabetes.

21.8 Diabetes. - Diabetes.

18.0 Myxtidem. 18.0 Ulcns veutr. 29.1 Nenrose. 27.7 Neurose.Tbc.pnlm. 24.6 Nenrose. 23.4 Nenrose. - Nenroee. - Asthma bronch.

24.8 Asthma broncb. - Asthma bronch.

26.2 Polyarthr. chron. - Morbns Addieoni.

Wir ersehen aus dieser Zusammenstellung, dass die Blutkalk- werte in Fallen mit hypotonem Blutdruck keineswegs regel-

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STUDIEN UBER DEN NIEDRIGEN ARTERIELLEN BLUTDRUCK. 187

miissig Tendenz zu unternormalen Werten aufwiesen. Nur in 7 Fallen lag der Ca-Gehalt des Blutes unter den von mir als normal befundenen Werten (10, 6-12 mg %). Dagegen wurden in 5 Fallen ubernormale Werte gefunden, ein Verhalten, dem je- ,doch meiner Ansicht nach keine grossere Bedeutung beizumessen ist, da die Zusammenstellung zu klein ist, um Schliisse aus ihr zu erlauben. Ein gleichfalls erwahnenswertes Verhalten ist, dass der Blutkaliumgehalt in einer Anzahl von Fallen iiber meinen Normalwerten (18-23 mg %) lag.

Man kann nun vielleicht einwenden, dass die vorgelegten Falle nicht alle in die Gruppe Essentielle Hypotonie eingereiht werden konnen, da gewisse von ihnen Krankheiten inkretorischer Art aufwiesen, wie z. B. Diabetes, welche Krankheiten Lian und Blonde1 aus ihrem Material bei Aufstellung der Gruppe Essen- tielle Hypotonie ausschalteten. Anderseits mag aber hervorge- hoben werden, dass die Mehrzahl der Falle doch, ausser dem niedrigen Blutdruck, in mehr oder weniger hohem Grade auch den Symptomenkomplex aufwiesen, der fur die Essentielle Hy- potonie als charakteristisch angegeben wurde. Wir /inden also, dass fur die Gruppe, die unter dem Namen

Essentielle Hypotonie zusammengefasst wird, Hypokalkdmie und sogen. vagotone Adrenalinreaktion keine charakteristischen Symp- tome wit konstuntem Vorkommen sind.

Zusammenstellung und Zasammenfnssung.

In der Einleitung habe ich hervorgehoben, dass man der Be- nennung von Krankheiten zweierlei Arten von Einteilungs- griinden zugrundelegen kann, entweder kausale oder symptoma- tologische.

Will man nun um ein gewisses Symptom einen Symptomen- komplex aufbauen, unter der Vermutung, dass dieser Komplex eine Krankheit sui generis ist, und will man diesen Komplex nach diesem Symptom benennen, so miissen, wie ich gleichfalls hervor- gehoben habe, gewisse Forderungen an das Hauptsymptom ge- stellt werden: Diese Forderungen waren:

1.) dass das in Rede stehende Symptom nicht bei gesunden Individuen vorkommen darf. Wenn sich das den Namen gebende Symptom bei vollstandig Gesunden vorfindet, so kann dies zu diagnostischen und therapeutischen Irrtumern fuhren.

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188 ERKIL KTLIW.

2.) dass das Symptom bei Patienten, die an anderen Krank- heiten leiden, nur in selteneren Ausnahmefallen vorkommen darf, da es sonst gleichfalls zu diagnostischen und therapeuti- schen Irrtiimern verfiihren kann.

3.) dass das den Namen gebende Symptom bei allen oder wenigstens bei fast allen Kranken vorkommt, die den iibrigen Komplex aufweisen. Wenn diese Forderung nicht erfiillt wird, so fiihrt dies zur Aufstellung einer gewissen Form dieser Krank- heit, bei der das bezeichnende Symptom fehlt. Man kommt dann zu denselben abderitischen Nomenklaturformen, wie sie friiher z. B. beziiglich der Paralysis-agitans-Krankheit aufge- stellt wurden, wobei man von einer Form der Krankheit mit den ungliicklich gewiihlten Worten Paralyses agitans sine agita- tione spricht.

Aus den hier oben in meiner Zusammenstellung vorgelegten Tatsachen geht hervor, dass der sogenannte unternormale Blut- druck in einem ausgewahlten, kraftigen Material (Soldaten) nicht so selten bei vollstiindig gesunden Individuen vorkommt. Ferner fanden wir, dass im Krankenhausmaterial die Mehrzahl der einen unternormalen Blutdruck aufweisenden Individuen an anderen Krankheiten litten als denjenigen, die unter der Bezeichnung Essentielle Hypotonie zusammengefasst wurden. So fand ich unter 425 Individuen mit einem Blutdruck von 105 mm Hg oder darunter nur bei ungefiihr 10 % den Komplex, der unter dem Namen Essentielle Hypotonie zusammengefasst wurde.

Schliesslich fand ich in einer grossen Anzahl solcher Fiille, die sonst den sog. Essentiellen Hypotoniekomplex aufwiesen, normale Blutdruckwerte.

W i r sehen also, dass der niedrige Blutdruck kein fur einen ge- wissen Krankheitskomplex charakteristisches, konstant vorkom- mendes Symptom ist. Unter diesen Umstanden dieses inkon- stante, nicht charakteristische Symptom zum Namen eines Krank- heitskomplexes zu machen, erscheint mir unzweckmdssig und da- nach angetan, Begrif fsverwirrung und eine Reihe diagnostischer und therapeutischer Irrtumer hervorzurufen. Ich sehe mich deshalb gezwungen, mich gegen den Namen Essentielle Hypotonie fur einen gewissen Krankheitskomplex ablehnend zu verhalten.

Eine weitere Frage, die sich nun zur Erwiigung aufdriingt, ist die, ob das Syndrom, das man unter dem Namen Essentielle Hypo- tonie zusammengefasst hat, einem-fassbaren Krankheitskomplex entspricht, ob es eine gewisse Krankheit gibt, die durch das Vor-

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STUDIEX UBER DEN "IEDRIBEN ARTERIELLEN BLUTDHUCK. 189

kommen der von Lian und Blonde1 als charakteristisch aufge- stellten Symptomenreihe gekennzeichnet ist.

Lian und Blonde1 behaupten, dass bei der Essentiellen Hypo- tonie die vier charakteristischen Symptome abnorme Ermud- barkeit, Neigung zu Schwindel, Akrozyanose und der niedrige Blutdruck koordinierte Erscheinungen sind, von welchen wenigs- tens die drei ersten im Einzelfalle fehlen konnen.

1st nun jedes der von diesen Verfassern als Charakteristika fur den in Rede stehenden Krankheitskomplex aufgestellten Symp- tome an und fur sich so charakteristisch, dass das isolierte Vor- kommen des einen oder anderen Symptoms zur Vermutung be- rechtigt, dass eine sog. Essentielle Hypotonie vorliegt? Wir wissen, dass die beiden ersten Symptome, abnorme Ermudbar- keit und Neigung zu Schwindel, Symptome sind, die allgemein bei allerlei Zustanden korperlicher Krankheit und herabgesetz- ten Allgemeinzustandes vorkommen. Wir konnen an jede be- liebige Krankheit denken und werden uns erinnern, dass Mudig- keit un herabgesetzte Widerstandskraft des Korpers gegen die verschiedenen Beanspruchungen im taglichen Leben gerade cha- rakteristisch sind. Ebenso verhalt es sich mit der Neigung zu Schwindel, mag sein in weniger ausgesprochenem Masse als beim friiher erwahnten Symptom. Der Versuch, auf das Vorliegen dieser beiden Symptome hin eine gewisse Krankheit zu diagnos- tizieren, scheint mir ebenso unbegrundet (wenn nicht noch un- begrundeter) als ein Versuch zur Differentialdiagnose einer Krankheit nach dem Vorkommen einer erhohten Korpertempe- ratur.

Weniger haufig kommt das Symptom Akrozyanose vor. Die- aes Symptom ist indes auch nicht von so einheitlicher Natur, dass es fur die Differentialdiagnostizierung eines Krankheitsbildes als ausreichend betrachtet werden konnte.

W i r finden also, dass von den aufgestellten Symptomen keines a n und f u r sich fur eine gewisse Krankheit charakteristisch ist , sondern dass sie alle bei mehreren verschiedenen Krankheitszustan- den vorkommen konnen.

Die nachste sich ergebende Frage ist nun, ob die Symptomen- reihe als solche genugende Gewahr dafur leistet, dass bei ihrem Vorhandensein in allen Fallen derselbe Krankheitskomplex vor- liegt.

Fur denjenigen, der auf den fur die sog. essentielle Hypotonie als charakteristisch beschriebenen Krankheitskomplex aufmerk-

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190 ESKIL KPLIK.

Sam geworden ist, liegt unstreitig eine gewisse Versuchung vor, den Symptomenkomplex als eine Krankheitsgruppe aufzufassen. Es kommt so haufig vor, dass man den Symptomenkomplex als Genzes oder haufiger mit Fehlen des einen oder anderen der er- wiihnten, fuhrenden Symptome findet, dass die Annahme, es verberge sich hinter dem Komplex eine einheitliche Storung, erkliirlich erscheinen mag. Meiner Erfahrung nach ist das Symp- tom, das am hdlufigsten fehlt, der unternormale Blutdruck. Meiner Erfahrung nach kommt es ferner haufiger vor, dass man den Symptomemkomplex bei mormalen als bei unternormalen Blut- druckwerten findet. Ich mochte es jedoch fur wahrscheinlich halten - ich konnte keine Zusammenstellung daruber machen, weil mein Material fur eine solche ungeeignet ist -, dass man bei denjenigen Individuen, die den erwiihnten, als charakteristisch beschriebenen Komplex aufweisen, ofter hypotone Blutdruck- werte findet als bei einem Material, das aus Gesunden oder Pati- enten mit anderen, fur die Frage bedeutungslosen Krankheiten besteht. Eine bestimmte Ausserung wage ich in dieser Bezie- hung nicht zu machen.

Indessen mag hervorgehoben werden dass bei gewissen in- kretorische Storungen wie z. B. bei morbus Addisoni, bei der Simmondschen Krankheit und oft bei Diabetes mellitus der Blutdruck unternormal wird. Besonders scheint es mir wert hervorzuheben; dass bei der Simmondschen Krankheit eben der typische Symptomenkomplex der essentiellen Hypotonie vor- kommt. Ich mochte es darum als wahrscheinlich ansehen, dasa gewisse Rille mit s. g. easentieller Hypotonie dem Simmondschen Krankheitsgruppe zuhort. In gewissen anderen Fallen mochte ich andere inkretorische Verschiebungen vermuten. Die Auf- fassung dass es sich um eine einheitliche Krankheit handelt, muss ich oblehnen.

Ein eigentumliches Verhalten, das in diesem Zusammenhang zweckmassigerweise zu erwahnen sein durfte, ist es, dass der- selbe anamnestische Symptomenkomplex, den man als charak- teristisch fur die essentielle Hypotonie aufgefuhrt hat, auch als typisch fur die essentielle Hypertonie beschrieben worden ist (Kauffmann).

Wir finden also, dass derselbe Symptomenkomplex bei Hypo- tonie, bei Normotonie und bei Hypertonie vorliegen kann. Sol1 man unter diesen Umstanden nach einem einheitlichen atiologi- schen Faktor fur den in Rede stehenden Symptomenkomplex

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GTUDIEN UBER DEN NIEDRIGEX ARTERIELLEX BLUTDRUCK. 19 1

suchen, so erscheint es mir nicht logisch, ihn in erster Linie im niedrigen Blutdruck oder i n solchen Faktoren zu suchen, die einen niedrigen Blutdruck hervorrufen. Man sollte eher vermuten kon- nen, dass die Atiologie des Komplexes mit einem Faktor zusam- menhangt, der an und fur sich mitunter unternormale, mitunter normale und manchmal iiber dem Normalen liegende Blutdruck- werte gibt. Man konnte denken, dass eine abnorme Blutdruck- labilitiit mit dem Komplex zusammenhangt, wobei man nicht anzunehmen brauchte, dass die Blutdrucklabilitiit als solche die anderen Symptome hervorruft, sondern dass alle Symptome durch einen gemeinsamen Faktor verursacht, also koordiniert sein konnten. Gegen eine solche Annahme scheint mir indes der Umstand zu sprechen, dass der Blutdruck bei Fallen von sog. Essentieller Hypotonie nicht besonders labil ist. Ich habe meh- rere Falle dieses Krankheitskomplexes unter 2mal taglich, mor- gens und abends vorgenommenen Blutdruckmessungen, verfolgt, aber keine Tagesvariationen gefunden, die grosser waren, als man sie bei gesunden Individuen zu finden pflegt.

Ein anderer Faktor, der fur einen Zusammenhang zwischen den beiden Zustanden von Dysregulierung des Blutdruckes - der Essentiellen Hypertonie und der sog. Essentiellen Hypo- tonie - sprechen konnte, ist das Verhalten, dass diese beiden ZustSinde ofter als normal bei einem anderen Krankheitszustande vorkommen, namlich bei Asthma bronchiale. Bei einer Zusam- menstellung meines Materials fand ich, dass ungefahr 50 % mei- ner samtlichen Falle von Asthmatikern normalen, ungefahr 20 -25 % unternormalen und ungefahr 26-30 % ubernormalen BluMruck zeigten. Ich fand ferner, dass die Neigung dieser Asthmatiker zu Hypotonie im Alter unter dem 40. Jahre am ausgesprochensten war. Neigung zu Hypertonie fand ich bei Individuen iiber 40 Jahre haufiger. Dieses Verhalten stimmt mit der bekannten Erfahrung uberein, dass die Essentielle Hy- pertonie besonders nach dem 40. Lebensjahre auftritt. Er- wahnenswert mochte es in diesem Zusammenhang sein, dass ich in einem Fall von Asthma- einen direkten ffbergang von Hypo- tonie zu essentieller Hypertonie gesehen habe.

Miiller in Tubingen fasste, wie wir wissen, unter der Bezeich- nung vasoneurotische Diathese eine Reihe in anderen Bezieh- ungen verschiedener Krankheiten zusammen, wie Asthma, Ma- gengeschwurkrankheit, Essentielle Hypertonie, gewisse Formen von Neurose mit vasolabilen Symptomen usw. Gemeinsam sollten fur

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192 EPKIL KTLIN.

diese Krankheitsgruppe unter anderem gewisse kapillaroskopisch nachweisbare Veranderungen in den kleinsten Hautgefassen sein. Ein anderes gemeinsames Kennzeichen fur diese Gruppe ware nach Bock eine herabgesetzte Adrenalinreaktion, und zwar so- wohl nach subkutaner, wie nach inhalatorischer oder nach para- kapillarer Applikation des Mittels.

Es erscheint mir nicht ganz unwahrscheinlich, dass der sog. Es- sentielle Hypotoniekomplex am ehesten in diese Gruppe von vaso- neurotischer Diathese einzureihen ist. Gegen einen solchen Ver- such ist vielleicht der Einwand moglich, dass die Adrenalinreak- tion beim Essentiellen Hypotoniekomplex nicht stiindig von vagotonem Typus ist. Anderseits mag aber hervorgehoben werden, dass man auch bei den anderen Krankheitsformen, die zur vasoneurotischen Diathese gezahlt wurden, eine Adrenalin- reaktion von anderem als dem vagotonen Typus finden kann, obgleich die AdrenaIinreaktion beim Asthma, bei der Ulkus und bei der Essentiellen Hypertoniekrankheit doch in der Regel sogen. vagoton ist.

Litereturverseiohnie

ist bei Kisch: Ergeb. d. inner. Med. u. Kinderheilkunde Bd. 38 zu finden.