10
Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gab es in Deutschland im Jahr 2011 ca. 8,7 Mio. tödliche und nichttödli- che Unfälle [1], darunter viele Stürze. Dif- ferenzierte Informationen zum Unfallge- schehen, die es beispielsweise erlauben, die Häufigkeit von Stürzen bevölkerungs- weit zu schätzen, liegen nur unregelmä- ßig und auf Basis von Bevölkerungsbe- fragungen vor [2, 3]. Dabei beziehen die- se Untersuchungen überwiegend zu Hau- se lebende Personen ein. Nach Angaben der repräsentativen Gesundheitsbefra- gung „Gesundheit in Deutschland aktu- ell 2010“ des Robert Koch-Instituts stel- len Stürze mit einem knappen Drittel aller Unfälle den wichtigsten Unfallmechanis- mus dar. Auf Stürze entfallen bei Frauen 38,0 %, bei Männern 24,8 % aller ärztlich versorgten Unfälle. Zudem führen Stür- ze überdurchschnittlich häufig zu einem weiterführenden Behandlungsbedarf: 44,0 % der schwerwiegenden Unfälle, die einen stationären Krankenhausaufenthalt nach sich ziehen, ereignen sich aufgrund eines Sturzes [3]. Besonders in höheren Altersgruppen bestimmen Stürze das Un- fallgeschehen: Bei Frauen ab 70 Jahren entfallen zwei Drittel (63,9 %) aller Unfäl- le auf Stürze, bei Männern etwa die Hälf- te (52,6 %) [3]. Zudem ziehen Sturzunfäl- le bei älteren Menschen häufiger schwer- wiegende Komplikationen nach sich. Während es insgesamt bei einem guten Drittel (34,4 %) aller Sturzunfälle zu Kno- chenbrüchen kommt, beträgt die Fraktur- rate bei Sturzunfällen unter den 70-Jäh- rigen und Älteren 63,9 % bei den Frau- en und 52,6 % bei den Männern [3]. Ent- sprechend häufiger kommt es bei älteren Menschen im Falle eines Sturzes unfallbe- dingt zu einem stationären Krankenhaus- aufenthalt [3]. Insbesondere sturzbedingte Fraktu- ren können aufgrund von Mobilitätsein- bußen zu einer Einschränkung der Akti- vitäten des täglichen Lebens bis hin zur Heimaufnahme führen [4]. Eine weitere wichtige psychosoziale Folge von Stürzen ist die Entwicklung von Sturzangst, die zu Funktionseinschränkungen, Depression, herabgesetzter Lebensqualität und wiede- rum zu vermehrten Stürzen führen kann [5]. Stürze sind also insbesondere bei äl- teren Personen häufige unerwünschte Er- eignisse mit möglicherweise dauerhaften und schwerwiegenden körperlichen und psychosozialen Folgen. Aufgrund dessen sollten Stürze auch während eines Aufenthaltes in Kranken- häusern oder Pflegeheimen vermieden werden. In Pflegeheimen wurden inter- national durchschnittliche Sturzraten von 1,5 Stürzen pro Bett pro Jahr ermit- telt [6]. Andere Studien schätzen den An- teil der Pflegeheimbewohner 1 , die inner- halb eines halben Jahres mindestens ein- mal stürzen, auf ca. 40 %. Besonders be- troffen sind demenziell erkrankte Bewoh- ner mit einem Anteil von 62 % [7]. Eine Studie mit 528 bayrischen Einrichtungen der stationären Langzeitversorgung er- gab eine höhere Sturzinzidenz bei männ- lichen Bewohnern (2,2 Stürze pro Perso- nenjahr) als bei Bewohnerinnen (1,5 Stür- ze pro Personenjahr) [8]. Während die Sturzrate bei den Männern mit zuneh- mendem Alter anstieg, nahm sie bei den Frauen jedoch ab. Bewohnerinnen und Bewohner mit den Pflegestufen 1 und 2 stürzten am häufigsten. Eine Auswertung der Daten aller bayrischen AOK-Versi- cherten im Alter ab 65 Jahren zu Hüft- frakturen ergab, dass ihre Rate bei pfle- gebedürftigen Älteren höher war als bei nicht pflegebedürftigen Personen [9]. Die Angaben zum Anteil gestürzter Patien- ten in Krankenhäusern variieren abhän- gig von den untersuchten Institutionen und den eingeschlossenen Fachbereichen zwischen 3 und 20 % [10]. Vor allem ge- 1 Zur sprachlichen Vereinfachung wird im Text die männliche Geschlechtsform benutzt, wenn beide Geschlechter gemeint sind. N. A. Lahmann 1 · C. Heinze 2 · A. Rommel 3 1 Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin 2 Evangelische Hochschule Berlin 3 Robert Koch-Institut, Berlin Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013 Häufigkeiten, Verletzungen, Risikoeinschätzung und durchgeführte Prävention Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:650–659 DOI 10.1007/s00103-014-1966-8 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 N. A. Lahmann und C. Heinze teilen sich die Erst- autorenschaft. 650 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014 Leitthema

Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

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Page 1: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gab es in Deutschland im Jahr 2011 ca. 8,7 Mio. tödliche und nichttödli-che Unfälle [1], darunter viele Stürze. Dif-ferenzierte Informationen zum Unfallge-schehen, die es beispielsweise erlauben, die Häufigkeit von Stürzen bevölkerungs-weit zu schätzen, liegen nur unregelmä-ßig und auf Basis von Bevölkerungsbe-fragungen vor [2, 3]. Dabei beziehen die-se Untersuchungen überwiegend zu Hau-se lebende Personen ein. Nach Angaben der repräsentativen Gesundheitsbefra-gung „Gesundheit in Deutschland aktu-ell 2010“ des Robert Koch-Instituts stel-len Stürze mit einem knappen Drittel aller Unfälle den wichtigsten Unfallmechanis-mus dar. Auf Stürze entfallen bei Frauen 38,0 %, bei Männern 24,8 % aller ärztlich versorgten Unfälle. Zudem führen Stür-ze überdurchschnittlich häufig zu einem weiterführenden Behandlungsbedarf: 44,0 % der schwerwiegenden Unfälle, die einen stationären Krankenhausaufenthalt nach sich ziehen, ereignen sich aufgrund eines Sturzes [3]. Besonders in höheren Altersgruppen bestimmen Stürze das Un-fallgeschehen: Bei Frauen ab 70 Jahren entfallen zwei Drittel (63,9 %) aller Unfäl-le auf Stürze, bei Männern etwa die Hälf-te (52,6 %) [3]. Zudem ziehen Sturzunfäl-le bei älteren Menschen häufiger schwer-

wiegende Komplikationen nach sich. Während es insgesamt bei einem guten Drittel (34,4 %) aller Sturzunfälle zu Kno-chenbrüchen kommt, beträgt die Fraktur-rate bei Sturzunfällen unter den 70-Jäh-rigen und Älteren 63,9 % bei den Frau-en und 52,6 % bei den Männern [3]. Ent-sprechend häufiger kommt es bei älteren Menschen im Falle eines Sturzes unfallbe-dingt zu einem stationären Krankenhaus-aufenthalt [3].

Insbesondere sturzbedingte Fraktu-ren können aufgrund von Mobilitätsein-bußen zu einer Einschränkung der Akti-vitäten des täglichen Lebens bis hin zur Heimaufnahme führen [4]. Eine weitere wichtige psychosoziale Folge von Stürzen ist die Entwicklung von Sturzangst, die zu Funktionseinschränkungen, Depression, herabgesetzter Lebensqualität und wiede-rum zu vermehrten Stürzen führen kann [5]. Stürze sind also insbesondere bei äl-teren Personen häufige unerwünschte Er-eignisse mit möglicherweise dauerhaften und schwerwiegenden körperlichen und psychosozialen Folgen.

Aufgrund dessen sollten Stürze auch während eines Aufenthaltes in Kranken-häusern oder Pflegeheimen vermieden werden. In Pflegeheimen wurden inter-national durchschnittliche Sturzraten von 1,5 Stürzen pro Bett pro Jahr ermit-telt [6]. Andere Studien schätzen den An-

teil der Pflegeheimbewohner1, die inner-halb eines halben Jahres mindestens ein-mal stürzen, auf ca. 40 %. Besonders be-troffen sind demenziell erkrankte Bewoh-ner mit einem Anteil von 62 % [7]. Eine Studie mit 528 bayrischen Einrichtungen der stationären Langzeitversorgung er-gab eine höhere Sturzinzidenz bei männ-lichen Bewohnern (2,2 Stürze pro Perso-nenjahr) als bei Bewohnerinnen (1,5 Stür-ze pro Personenjahr) [8]. Während die Sturzrate bei den Männern mit zuneh-mendem Alter anstieg, nahm sie bei den Frauen jedoch ab. Bewohnerinnen und Bewohner mit den Pflegestufen 1 und 2 stürzten am häufigsten. Eine Auswertung der Daten aller bayrischen AOK-Versi-cherten im Alter ab 65 Jahren zu Hüft-frakturen ergab, dass ihre Rate bei pfle-gebedürftigen Älteren höher war als bei nicht pflegebedürftigen Personen [9]. Die Angaben zum Anteil gestürzter Patien-ten in Krankenhäusern variieren abhän-gig von den untersuchten Institutionen und den eingeschlossenen Fachbereichen zwischen 3 und 20 % [10]. Vor allem ge-

1 Zur sprachlichen Vereinfachung wird im Text die männliche Geschlechtsform benutzt, wenn beide Geschlechter gemeint sind.

N. A. Lahmann1 · C. Heinze2 · A. Rommel3

1 Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin2 Evangelische Hochschule Berlin 3 Robert Koch-Institut, Berlin

Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013

Häufigkeiten, Verletzungen, Risikoeinschätzung und durchgeführte Prävention

Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:650–659DOI 10.1007/s00103-014-1966-8© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

N. A. Lahmann und C. Heinze teilen sich die Erst-autorenschaft.

650 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Leitthema

Page 2: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

riatrische, gerontopsychiatrische und in-nere Abteilungen zeigen sowohl national als auch international überdurchschnitt-lich hohe Sturzzahlen [11–13]. Eine gro-ße US-amerikanische Studie mit 1263 eingeschlossenen Krankenhäusern er-mittelte eine durchschnittliche Rate von 3,5 Stürzen auf 1000 Patiententage, wobei 26 % der Stürze eine Verletzung zur Fol-ge hatten. Verglichen mit den chirurgi-schen Abteilungen hatten Stationen der inneren Medizin sowohl höhere Sturzra-ten als auch mehr sturzbedingte Verlet-zungen [14].

Prospektive Beobachtungsstudien er-gaben, dass Stürze in der Vorgeschichte, kognitive Beeinträchtigungen sowie die Einnahme von Sedativa und Psychophar-maka sowohl für Pflegeheimbewohner als auch für Krankenhauspatienten wichtige Sturzrisikofaktoren darstellen [15]. Darü-ber hinaus sind bei Pflegeheimbewohnern eine bestehende Parkinson-Erkrankung, funktionelle Beeinträchtigungen, Unru-hezustände wie beispielsweise ruheloses Umhergehen, Schwindel, Hilfsmittelbe-nutzung, die Einnahme von Antidepres-siva sowie Polypharmazie mit einem er-höhten Sturzrisiko assoziiert [4, 12, 15]. Der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege benennt außerdem die Be-einträchtigung sensomotorischer Fähig-keiten wie Gang- und Balancestörun-gen, Kontinenzprobleme, Sturzangst und die Durchführung freiheitsentziehen-der Maßnahmen als Risikofaktoren [16]. In einer aktuellen Studie wurde zudem das Vorliegen einer Mangelernährung mit einer erhöhten Sturzhäufigkeit asso-ziiert [17]. Die Einschätzung des vorlie-genden Sturzrisikos stellt für Pflegekräfte eine große Herausforderung dar. Die ge-nerelle Anwendung standardisierter Ein-schätzungsinstrumente in der Pflege kann aufgrund häufig nur mäßiger Vorhersa-gewerte und sporadischer Replikations-studien nicht empfohlen werden [16, 18]. Deshalb sind die Pflegenden laut des Ex-pertenstandards Sturzprophylaxe in der Pflege gehalten, das individuelle Sturzri-siko der Patienten oder Bewohner anhand der evidenzbasierten Risikofaktoren, die oben genannt wurden, einzuschätzen. Bislang ist jedoch in deutschen Gesund-heitseinrichtungen noch nicht untersucht worden, inwiefern diese Risikofaktoren

zur klinischen Beurteilung des Sturzrisi-kos tatsächlich eine Rolle spielen.

Einen großen Stellenwert nimmt bei der Sturzprävention die Beratung von Pa-tienten und Bewohnern sowie ihrer An-gehörigen ein [16]. In Krankenhäusern mit Patienten, die in der Regel eine län-gere Liegedauer haben, werden multifak-torielle sturzpräventive Maßnahmen, die auf das individuelle Sturzrisiko von Pa-tienten zugeschnitten sind, sowie Bewe-gungsübungen als effektiv beschrieben [19]. Für den Pflegeheimbereich können dagegen derzeit keine klaren Schlussfolge-rungen bezüglich multifaktorieller Maß-nahmen sowie Bewegungsangeboten ge-zogen werden. Jedoch kann eine Vitamin-D-Substitution bei Bewohnern mit nied-rigem Spiegel die Sturzrate verringern [4]. Letztendlich kommt der Schaffung einer sicheren Umgebung in beiden Settings eine hohe Bedeutung zu [16].

Trotz der Vielzahl von Studien zu Sturzhäufigkeiten und Sturzfolgen ist die Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse einge-schränkt. So werden laut der ProFaNE-Gruppe (Prevention of Falls Network Earth) häufig unterschiedliche Definiti-onen von Stürzen oder Sturzfolgen be-nutzt, oder die Erhebungsmethodik ist nicht vergleichbar [20–23].

Seit mehr als 13 Jahren werden vom In-stitut für Medizin-/Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft der Charité – Univer-sitätsmedizin Berlin in deutschen Pflege-heimen und Krankenhäusern pflegerele-vante Daten erhoben, darunter auch zu Sturzereignissen, sturzbedingten Verlet-zungen und zu sturzpräventiven Maßnah-men. Die jährliche standardisierte Erhe-bung ermöglicht es, die Sturzinzidenz und den Anteil sturzbedingter Verletzungen in Krankenhäusern und Pflegeheimen zu beschreiben und miteinander zu verglei-chen. Folgende Forschungsfragen sollen daher im Folgenden beantwortet werden: 5 Wie hoch ist die Sturzinzidenz in deutschen Pflegeheimen und Kran-kenhäusern und was sind die Sturz-folgen? 5 Welche Determinanten sind mit der klinischen Einschätzung des Sturzri-sikos von Pflegenden assoziiert? 5 Welche sturzpräventiven Maßnah-men werden angewendet?

Methodik

Design und Messmethoden

In einem standardisierten Verfahren werden seit 2001 vom Institut für Medi-zin-/Pflegepädagogik und Pflegewissen-schaft der Charité – Universitätsmedi-zin Berlin einmal jährlich Daten zu pfle-gerelevanten Gesundheitsproblemen er-hoben. Dabei werden jedes Jahr bundes-weit 5000 Informationsbroschüren an ei-ne zufällige Auswahl aus allen deutschen Krankenhäusern mit einer Mindestgrö-ße von 100 Betten und aus Pflegeheimen mit einer Mindestgröße von 50 Plätzen verschickt. Sie werden darin zur Teilnah-me an der Studie eingeladen. Entscheidet sich eine Einrichtung zur Teilnahme, er-hält diese vom Institut gegen eine gerin-ge Gebühr (EUR 2,80 je Patient/ Bewoh-ner) Erhebungsbögen, detaillierte Anlei-tungen, schriftliches und digitales Schu-lungsmaterial mit Definitionen, diagnos-tischen Hinweisen und Abbildungen. Ein von der Einrichtung bestimmter Studi-enkoordinator schult die an der Erhebung beteiligten Pflegekräfte. An einem festge-legten Erhebungstag werden alle Patien-ten und Pflegeheimbewohner durch di-rekte Inaugenscheinnahme untersucht, und es wird die Pflegedokumentation der letzten 14 Tage begutachtet. Anschließend werden die erhobenen Daten an das In-stitut geschickt. Dort werden sie elektro-nisch weiterverarbeitet und danach ana-lysiert. Die beteiligten Einrichtungen er-halten daraufhin einen Bericht für ihr in-ternes Qualitätsmanagement.

Studienteilnehmer

Einschlusskriterium für die Teilnahme an der Studie ist das Vorliegen der infor-mierten Zustimmung der Patienten und Bewohner. Die informierte Zustimmung wurde in jedem Jahr eingeholt. Kann ein Patient oder Pflegeheimbewohner auf-grund gesundheitlicher oder kognitiver Einschränkungen keine informierte Zu-stimmung geben, können Angehörige oder gesetzliche Betreuer in seinem Sinne entscheiden. Für die Durchführung der Studie besteht ein positives Votum der Ethikkommission der Ärztekammer Ber-lin (Eth-873-262/00).

651Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014 |

Page 3: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

Variablen

Neben demografischen Merkmalen wur-den über den gesamten Zeitraum 2006 bis 2013 das Vorliegen eines Sturzereignisses innerhalb der letzten 14 Tage in der jewei-ligen Einrichtung und die Schwere dieses Sturzes erfasst. Hierfür wurde bei allen teilnehmenden Patienten und Bewohnern die Pflegedokumentation auf einen Hin-weis nach einem Sturz untersucht. Darü-ber hinaus wurden Patienten und Bewoh-

ner nach einem Sturzereignis in den ver-gangenen 14 Tagen in der Einrichtung befragt, sofern es ihnen möglich war, auf Fragen zu antworten. Ein Sturzereignis wird definiert als „[…] Fallen des Kör-pers von einem höheren zu einem niedri-geren Niveau durch ein gestörtes Gleich-gewicht des Körpers oder die reduzierte Kapazität, das Gleichgewicht des Körpers in verschiedenen Positionen zu halten“ [24]. Bei den Sturzfolgen wird zwischen keinen, minimalen, mittleren (größere

Wunden oder Prellungen) und schwe-ren Folgen (z. B. Frakturen) unterschie-den. Von 2006 bis 2010 wurde die Art der Verletzung eines schwerwiegenden Stur-zes dokumentiert.

Von 2009 bis 2013 wurden regelmä-ßig anhand eines standardisierten Fra-gebogens die Prädiktoren bzw. Risiko-faktoren Alter, Geschlecht, Stürze inner-halb der letzten 14 Tage, Sturzverletzun-gen (keine/geringe vs. mittlere/schwere Verletzungen), Harninkontinenz, Ver-

Zusammenfassung · Abstract

Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:650–659 DOI 10.1007/s00103-014-1966-8© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

N. A. Lahmann · C. Heinze · A. Rommel

Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013. Häufigkeiten, Verletzungen, Risikoeinschätzung und durchgeführte Prävention

ZusammenfassungHintergrund. Eine übergreifende systema-tische Erfassung zu Stürzen und Sturzfolgen in Gesundheitseinrichtungen in Deutschland existiert derzeit nicht. Ziel dieser Arbeit ist die Analyse von Häufigkeiten und Folgen von Stürzen in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen, der diesbezüglichen Risikoein-schätzung und der durchgeführten Präven-tionsmaßnahmen.Material und Methoden. Von 2006 bis 2013 wurden Querschnitterhebungen in insge-samt 124 Kliniken (N = 22.493 Patienten) und 332 Pflegeheimen (n = 25.384 Bewohner) durchgeführt. Geschulte Pflegekräfte erho-ben Daten zur Sturzrate innerhalb der letzten 14 Tage sowie zu Schwere und Art der daraus resultierenden Verletzungen. Darüber hinaus sollten die Pflegekräfte durch direkte Inau-

genscheinnahme das Sturzrisiko einschätzen und die durchgeführten Sturzpräventions-maßnahmen dokumentieren.Ergebnisse. Über den gesamten Zeitraum lag die Sturzrate bei 3,9 % (95 %-KI 3,6–4,2) in Krankenhäusern und bei 4,6 % (95 %-KI 4,3–4,9) in Pflegeheimen. 6,4 % der gestürz-ten Heimbewohner und 8,8 % der gestürzten Krankenhauspatienten erlitten eine schwere Verletzung (z. B. eine Fraktur). In den Pflege-heimen wurden rund zwei Drittel der Bewoh-ner als erhöht sturzgefährdet eingeschätzt, in den Krankenhäusern weniger als ein Drittel der Patienten. Assoziiert sahen Pflegende ein höheres Sturzrisiko mit eingeschränkter Mo-bilität, kognitiver Beeinträchtigung und Stür-zen in den letzten 14 Tagen. Im Krankenhaus spielten darüber hinaus die Harninkontinenz

und das Alter eine große Rolle. Eine Beratung zum Sturzrisiko ist in beiden Einrichtungsar-ten die häufigste präventive Maßnahme.Schlussfolgerung. Auch wenn die überwie-gende Zahl der Stürze ohne gravierende Fol-gen blieb, so stürzte doch jeder 20. bis 25. Pa-tient/Bewohner innerhalb der letzten 2 Wo-chen in Krankenhäusern oder Pflegehei-men. Ein Trend ist nicht erkennbar. Die Iden-tifizierung der Risiken erlaubte eine geziel-te Anwendung von Präventionsmaßnahmen und die Verbesserung der Versorgungspraxis. Durch die Studie liegen belastbare Zahlen für nationale und internationale Vergleiche vor.

SchlüsselwörterStürze · Krankenhaus · Pflegeheim · Sturzrisiko · Prävention

Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013. Frequencies, injuries, risk assessment, and preventive measures

AbstractBackground. In Germany, a nationwide sys-tematic collection of data regarding fall inci-dents within health-care facilities is lacking. The objective of the study was to provide val-id and robust data on fall rates, the severity of the fall and its resulting injuries, fall risk as-sessment, and preventive measures offered by professional caregivers in German hospi-tals and nursing homes.Materials and methods. Each spring from 2006 to 2013, cross-sectional studies were conducted in 124 hospitals (n = 22,493 pa-tients) and 332 nursing homes (25,384 res-idents) throughout Germany. Fully trained nurses obtained information on the recent history (< 14 days) of the fall and its conse-quences. Further, they assessed the individu-

al fall risk by clinical judgment and recorded ongoing preventive measures.Results. The total fall rate was 3.9 % (95 % CI 3.6–4.2) in the hospitals and 4.6 % (95 % CI 4.3–4.9) in the nursing homes. Of the fall victims, 6.4 % of the nursing home residents and 8.8 % of the hospital patients were bad-ly injured (i.e., fracture). The fall risk was con-sidered high for residents, with two thirds of all residents being affected, while it was low-er for the patients, at one third. The following factors were associated with fall risk: limited mobility, cognitive impairment, recent histo-ry of falls for nursing home residents, and ad-ditionally urinary incontinence and higher age in hospital patients. The most common

preventive measure was counseling of the in-dividual in both settings.Conclusion. Although most falls have no se-vere consequences, the study shows that ev-ery 20–25th individual has a falling event in hospitals and nursing homes within 14 days. Despite the slight variance, the trend of the rates remains largely stable. Because specif-ic fall risks were determined, preventive mea-sures can be applied in a more personalized manner and care can be improved. Finally, the study provides valid and durable figures for national and international comparisons.

KeywordsFalls · Hospitals · Nursing homes · Risk of falling · Prevention

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Page 4: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

wirrtheit, Mangelernährung, Multime-dikation (mehr als 4 verschiedene Medi-kamente) sowie eingeschränkte Mobilität erfasst. Eingeschränkte Mobilität wurde wie folgt definiert: Aus den Items Aktivi-tät und Mobilität der Braden-Skala wur-de ein Summenwert (2 Punkte vollstän-dig immobil – 8 Punkte vollständig mo-bil) für den Grad der Mobilität gebildet. Als eingeschränkt mobil definierten wir alle Patienten und Bewohner mit einem Punktwert von 4 bis 7 Punkten. Patien-ten und Bewohner mit einem Body-Mass-Index unter 20 kg/m2 wurden als „man-gelernährt“ definiert [25]. Darüber hin-aus sollten die Pflegekräfte das Sturzrisi-ko der Patienten und Bewohner auf einer pseudometrischen Skala von 1 (geringe Gefährdung) bis 10 (hochgradige Gefähr-dung) einschätzen [26].

Schließlich wurde anhand eines Maß-nahmenkataloges gefragt, welche emp-fohlenen sturzpräventiven Maßnahmen bei den Patienten und Bewohnern durch-geführt wurden [16]. Mehrfachantwor-ten zu den erfragten Interventionen wa-ren möglich.

Analyse

Die Auswertung erfolgt vorwiegend de-skriptiv. Für den Trend der Sturzraten in beiden Einrichtungsarten werden zusätz-lich die 95 %-Konfidenzintervalle nach der Methode von Wilson ausgewiesen [27]. Zur Bestimmung der statistischen Signifikanz der Unterschiede von Sturz-folgen zwischen den Einrichtungsarten und den Erhebungsjahren, wurden Chi-Quadrat-Tests verwendet. Um zu analy-sieren, inwiefern das Vorliegen spezifi-

scher Sturzrisikofaktoren mit der klini-schen Einschätzung der Pflegenden as-soziiert ist, wurde zunächst für den biva-riaten Vergleich der t-Test nach Student benutzt. Statistisch signifikante Determi-nanten wurden anschließend im Rahmen einer multivariaten linearen Regression füreinander adjustiert. Insgesamt wur-de ein α < 0,05 (zweiseitig) angenommen. Die Analyse erfolgte mit SPSS für Win-dows (Version 21).

Ergebnisse

Stürze und Sturzfolgen

. Tab. 1 zeigt die Anzahl der teilnehmen-den Einrichtungen und Bewohner und Patienten. Die Anzahl der Teilnehmer in beiden Einrichtungsarten wurde den je-weils an den Erhebungstagen anwesen-den Bewohnern und Patienten gegenüber-gestellt und daraus die Response berech-net. Von 2006 bis 2013 wurden die Daten von 25.384 Bewohnern in 332 Pflegehei-men (Response 84,9 %) und 22.493 Pa-tienten in 124 Krankenhäusern (Res ponse 67,7 %) erhoben. Die höchste Response von 92,7 % gab es 2012 in Pflegeheimen, die geringste mit 61,5 % in den Kranken-häusern im Jahr 2013. Das Durchschnitts-alter der Pflegeheimbewohner lag bei 84,1 Jahren (sd. 10,4), bei den Kranken-hauspatienten bei 64,4 Jahren (sd. 17,3). Der Anteil an Frauen lag bei 77,9 % in den Pflegeheimen und bei 53,8 % in den Kran-kenhäusern.

. Abb. 1 zeigt die Veränderung der jährlich ermittelten Rate an einrichtungs-internen Stürzen in den Sektoren Pfle-geheime (oben) und Krankenhäuser

(unten), die sich innerhalb von (maximal) 14 Tagen vor dem Erhebungszeitraum er-eignet hatten. Über den gesamten Zeit-raum 2006 bis 2013 stürzten 1132 Pfle-geheimbewohner und 861 Krankenhaus-patienten. Dieses entspricht insgesamt einem relativen Anteil von 4,6 % (95 %-KI 4,3–4,9 %) in Pflegeheimen und 3,9 % (95 %-KI 3,6–4,2 %) in Krankenhäusern. In den Pflegeheimen lag die Rate gestürz-ter Frauen bei 4,4 % (95 %-KI 4,1–4,7 %), der Anteil gestürzter Männer bei 5,3 % (95 %-KI 4,7–5,9 %). In den Krankenhäu-sern war diese Rate bei den Frauen mit 4,1 % (95 %-KI 3,7–4,4 %) um 0,4 % höher als bei den Männern (3,7 %, 95 %-KI 3,4–4,1 %). Das Durchschnittsalters gestürz-ter (85,6 Jahre; 95 %-KI 85,1–86,1) im Vergleich zu nicht gestürzten (84,0 Jah-re; 95 %-KI 83,9–84,1) Pflegeheimbewoh-nern war leicht, das gestürzter (73,3 Jahre; 95 %-KI 72,3–74,3) und nicht gestürzter Krankenhauspatienten (64,1 Jahre; 95 %-KI 63,9–64,3) deutlich erhöht. Der ermit-telte jährliche Punktschätzer (. Abb. 1 Sturzrate; mittlere Linie) lag bis 2009 in beiden Sektoren mehr oder weniger bei ungefähr 4 %. Bis 2011 verminderte sich dann in den Krankenhäusern die Sturzra-te auf ca. 2,5 % während diese in den Pfle-geheimen auf über 6 % anstieg. Danach glichen sich die Sturzraten aus beiden Sek-toren wieder an und lagen bei der letzten Messung 2013 bei ca. 4,5 %. . Tab. 2 zeigt die jeweilige Schwere des Sturzes insge-samt und im Trend. Sowohl in den Pfle-geheimen (67,2 %) als auch in den Klini-ken (66,1 %) blieben zwei Drittel der Stür-ze ohne schwerwiegendere Verletzungen. Mittelschwere und schwere Stürze ereig-neten sich in den Kliniken tendenziell et-

653Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014 |

Tab. 1 Anzahl der an der Querschnitterhebung teilnehmenden Einrichtungen, Bewohner und Patienten

Pflegeheime Krankenhäuser

Einrichtungen Bewohner Einrichtungen Patienten

Erhebungsjahr n n anwesend n teilgenommen % Response n n anwesend n teilgenommen % Response

2006 24 2349 2061 87,7 28 6853 5046 73,6

2007 29 2817 2393 84,9 23 6117 4080 66,7

2008 37 4023 3345 83,1 19 5428 3391 62,5

2009 76 6960 5521 79,3 15 4437 2930 66,0

2010 52 4336 3610 83,3 14 3438 2417 70,3

2011 50 4215 3759 89,2 10 3282 2136 65,1

2012 47 3830 3552 92,7 7 2062 1496 72,6

2013 17 1352 1142 84,5 8 1620 997 61,5

Gesamt 332 29.882 25.383 84,9 124 33.237 22.493 67,7

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was häufiger als in den Pflegeheimen. Zwar traten in den Jahren Schwankun-gen bezogen auf die Schwere des Sturzes in den jeweiligen Sektoren auf, ein ein-deutiger Trend ist jedoch nicht auszuma-chen. Bei der Art der schweren Verletzun-gen, die von 2006 bis 2010 erhoben wur-den, lag die Prävalenz der Oberschenkel-halsfraktur (OHS-Fraktur) mit 41 % mehr als doppelt so hoch in den Pflegeheimen als in den Krankenhäusern. Alle ande-ren Frakturen sowie Gelenk-/Bänderver-letzung traten bei Patienten in Kranken-häusern deutlich häufiger auf als bei Be-wohnern in Pflegeheimen.

Determinanten und Risikoeinschätzung

Bei der von 2009 bis 2013 durchgeführ-ten klinischen Einschätzung durch die professionell Pflegenden anhand einer 10-stufigen Skala (Skala 1 = keine Ge-fährdung; 10 höchste Gefährdung) wur-den n = 16.069 Pflegeheimbewohner mit

5,1 (Standardabweichung 2,8) statistisch signifikant sturzgefährdeter eingeschätzt als n = 8464 Krankenhauspatienten mit 3,1 (Standardabweichung 2,6). Die jähr-lichen Schwankungen dieser Einschät-zungen lagen bei ca. 0,4 in den Pflege-heimen und ca. 0,2 in den Krankenhäu-sern. . Tab. 3 zeigt Unterschiede der Ri-sikobewertung bezogen auf potenziell re-levante soziale und medizinisch-pflege-rische Determinanten. Die t-Tests nach Student dieser bivariaten Unterschie-de zeigten sich alle statistisch signifikant. Die größten Unterschiede in den Pflege-heimen fanden sich bezogen auf ein vor-angegangenes Sturzereignis innerhalb der letzten 14 Tage (7,3 vs. 5,0) und bei einer eingeschränkten Mobilität (5,6 vs. 4,4). Die größten Unterschiede in den Kran-kenhäusern fanden sich bezogen auf eine kognitive Beeinträchtigung (6,2 vs. 2,8), ein vorangegangenes Sturzereignis inner-halb der letzten 14 Tage (6,1 vs. 2,9), bei einer eingeschränkten Mobilität (3,9 vs. 2,4) und bei einer bestehenden Harnin-

kontinenz (5,2 vs. 2,5). Kontrolliert man die einzelnen Determinanten füreinan-der im Rahmen eines multiplen linearen Regressionsmodells, bestätigen sich so-wohl in den Pflegeheimen als auch in den Krankenhäusern diese Determinanten. Den höchsten Einfluss auf die Einschät-zung der Sturzgefährdung anhand der in . Abb. 2 dargestellten standardisierten β-Koeffizienten hatten die eingeschränkte Mobilität (stand. β = 0,178) in den Pflege-heimen und eine bestehende Harninkon-tinenz (stand. β = 0,281) in den Kranken-häusern.

Präventionsmaßnahmen

In . Tab. 4 ist die relative Häufigkeit der Anwendung sturzpräventiver Maßnah-men bei niedrigem, erhöhtem und sehr hohem Risiko jeweils für Pflegeheime und Krankenhäuser getrennt dargestellt. Laut Einschätzung der professionell Pflegen-den wiesen von 16.069 Bewohnern, bei denen eine Einschätzung vorgenommen wurde, 32,4 % ein erhöhtes und 32,9 % ein sehr hohes Sturzrisiko auf. In den Kran-kenhäusern wurde 68,8 % der Patienten ein niedriges Sturzrisiko zugesprochen. Beratung von hoch gefährdeten Personen war sowohl in den Pflegeheimen (76,2 %) als auch in den Krankenhäusern (55,8 %) die am häufigsten angewandte Präventi-onsmaßnahme. Neben dem Einsatz von Mobilitätshilfsmitteln (72,1 und 44,9 %) wurden in Pflegeheimen vor allem die Modifikation von Sturzgefahren (58,6 %) und das Angebot eines Hüftprotektors bei den hoch gefährdeten Personen an-gewandt. In Krankenhäusern wurden bei dieser Gruppe oft individuelle Physiothe-rapie und Bettgitter verwendet.

Diskussion

Werden die Ergebnisse aller Erhebungs-jahre zusammen genommen, liegt die Sturzinzidenz in deutschen Kranken-häusern bei 3,9 % (95 %-KI 3,6–4,2) und in Pflegeheimen bei 4,6 % (95 %-KI 4,3–4,9). Bereits in einer früheren Studie mit der gleichen Methodik lag die Sturzin-zidenz in den Pflegeheimen leicht über der in den Krankenhäusern [28]. In einer Studie mit 5 Krankenhäusern in Singapur wurde allerdings mit 13 % eine weitaus

654 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Leitthema

Trend P�egeheime 2006 - 2013

Trend Krankenhäuser 2006 - 2013

2006

8,0%

7,0%

6,0%

5,0%

4,0%

3,0%

2,0%

1,0%

0,0%

7,0%

6,0%

5,0%

4,0%

3,0%

2,0%

1,0%

0,0%

2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013

Sturzrate unteres 95%-KI oberes 95%-KI

Sturzrate unteres 95%-KI oberes 95%-KI

Abb. 1 8 Trend der Sturzrate (innerhalb der letzten 14 Tage) in Pflegeheimen und Krankenhäusern 2006 bis 2013 mit 95 %-Konfidenzintervallen

Page 6: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

höhere Sturzinzidenz ermittelt [29]. Eine Schweizer Untersuchung in einem städti-schen Krankenhaus berichtete von insge-samt 7,2 % gestürzten Patienten während des Aufenthaltes [30]. Jedoch sind direkte Vergleiche der Studienergebnisse aus ver-schiedenen Studien aufgrund der Unter-

schiede in ihrem Design und unterschied-licher Rahmenbedingungen in anderen Ländern problematisch. Möglicherwei-se hängen die niedrigeren Zahlen in der vorliegenden Studie mit dem Beobach-tungszeitraum von 14 Tagen zusammen, der nicht bei allen Patienten die gesam-

te Aufenthaltsdauer umfasst. Der Trend war in beiden Einrichtungsarten weitge-hend stabil. Für den Anstieg der Inzidenz in Pflegeheimen bzw. den Rückgang in den Krankenhäusern im Jahr 2011 konn-te in weiterführenden Analysen der de-mografischen Variablen und der poten-ziellen Risikofaktoren keine hinreichen-de Erklärung gefunden werden.

Bei den Krankenhauspatienten waren sowohl die mittleren als auch die schwe-ren Sturzfolgen – mit Ausnahme der Oberschenkelhalsfrakturen – häufiger als bei den Pflegeheimbewohnern. Auch die-ser Unterschied wurde schon früher be-schrieben [28]. Studien konnten zeigen, dass die Umsetzung krankenhausweiter sturzpräventiver Programme insbesonde-re schwere Sturzfolgen minimieren konn-te [31, 32]. Schlüsselt man allerdings die Art der schweren Sturzverletzungen auf, zeigt sich, dass sturzbedingte Oberschen-kelhalsfrakturen fast doppelt so häufig in den Pflegeheimen wie in den Kranken-häusern vorkommen. Die Bedeutung von Hüftfrakturen als ein vielfach auftreten-des schwerwiegendes Phänomen in Pfle-geheimen wird in verschiedenen Studien bestätigt [33, 34]. Generell wird das Risiko für einen Sturz in den Pflegeheimen deut-

655Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014 |

Tab. 2 Sturzfolgen 2006 bis 2013 in Pflegeheimen und Krankenhäusern in Deutschland

Pflegeheime Krankenhäuser Chi-Qua-drat-Test

Keine in % Minimale in %

Mittlere in %

Schwere in %

Gesamt (n)

Keine in % Minimale in %

Mittlere in %

Schwere in %

Gesamt (n)

(95 %-KI) (95 %-KI) (95 %-KI) (95 %-KI) (95 %-KI) (95 %-KI) (95 %-KI) (95 %-KI)

2006 66,9 (58,2–74,7)

19,8 (13,7–27,8)

7,4 (4,0–13,5)

5,8 (2,8–11,5)

121 67,0 (61,4–72,2)

15,8 (12,0–20,5)

6,3 (4,0–9,8)

10,9 (7,8–15,0)

285 0,343

2007 80,0 (73,6–85,2)

14,4 (10,1–20,3)

2,2 (0,9–5,6)

3,3 (1,5–7,1)

222 62,6 (56,1–68,7)

19,8 (15,1–25,6)

5,4 (3,1–9,2)

12,2 (8,5–17,1)

180 0,000

2008 70,6 (63,3–76,9)

19,4 (14,2–26,0)

4,1 (2,0–8,3)

5,9 (3,2–10,5)

170 78,1 (72,9–82,6)

11,1 (7,9–15,3)

5,7 (3,6–9,1)

5,0 (3,0–8,2)

279 0,086

2009 63,5 (57,4–69,2)

24,2 (19,3–29,9)

6,3 (3,9–10,1)

6,0 (3,6–9,6)

252 61,4 (53,9–68,5)

20,5 (15,0–27,3)

9,0 (5,6–14,4)

9,0 (5,6–14,4)

166 0,395

2010 58,7 (54,7–62,5)

26,6 (23,2–30,2)

6,9 (5,1–9,2)

7,9 (6,3–10,7)

595 58,4 (52,9–63,6)

19,6 (15,6–24,2)

8,7 (6,1–12,3)

13,4 (10,1–17,5)

322 0,009

2011 66,8 (63,4–70,1)

18,9 (16,2–21,8)

5,5 (4,1–7,4)

8,8 (7,0–11,1)

748 46,6 (38,7–54,7)

32,9 (25,8–40,9)

13,0 (8,5–19,4)

7,5 (4,3–13,0)

146 0,000

2012 77,4 (72,7–81,4)

15,2 (11,8–19,3)

5,7 (3,7–8,7)

1,7 (0,8–3,7)

349 84,0 (78,4–88,4)

9,7 (6,4–14,5)

3,9 (2,0–7,5)

2,4 (1,0–5,6)

206 0,182

2013 64,2 (50,7–75,7)

20,8 (12,0–33,5)

11,3 (5,3–22,6)

3,8 (1,0–12,8)

53 57,8 (43,3–71,0)

28,9 (17,7–43,4)

11,1 (4,8–23,5)

2,2 (0,4–11,6)

45 0,799

Gesamt 67,2 (65,3–69,0)

20,5 (19,0–22,2)

5,8 (5,0–6,8)

6,4 (5,5–7,5)

2468 66,1 (63,8–68,4)

17,8 (16,1–19,7)

7,2 (6,1–8,6)

8,8 (7,5–10,3)

1671 0,002

Chi-Quad-rat-Test (p)

0,000 0,000

Tab. 3 Determinanten zur Bewertung des Sturzrisikos (univariat)

Pflegeheime Krankenhäuser

n mw sd p n mw sd p

Geschlecht Männlich 3596 5,2 2,8 0,041 3836 2,9 2,6 0,000

Weiblich 12.181 5,1 2,8 4378 3,2 2,6

Harninkontinenz Nein 5436 4,6 2,6 0,000 6536 2,5 2,2 0,000

Ja 10.372 5,4 2,8 1793 5,2 3,0

Kognitive Beein-trächtigung

Nein 7927 4,8 2,6 0,000 7012 2,8 2,4 0,000

Ja 7609 5,5 2,9 713 6,2 2,9

Multimedikation Nein 13.266 5,0 2,8 0,000 6814 2,8 2,5 0,000

Ja 2803 5,5 2,8 1650 4,0 2,8

Eingeschränkte Mobilität

Nein 5848 4,4 2,9 0,000 3985 2,4 2,5 0,000

Ja 9602 5,6 2,6 3866 3,9 2,5

Mangelernährung Nein 13.456 5,1 2,8 0,004 7553 3,0 2,6 0,000

Ja 2276 5,3 2,9 606 3,5 2,8

Sturzereignis in-nerhalb 14 Tagen

Nein 14.726 5,0 2,8 0,000 7879 2,9 2,5 0,000

Ja 825 7,3 2,2 361 6,1 2,9

Alter < 65 853 4,5 3,0 0,000 3692 2,2 2,1 0,000

65–80 3192 5,1 2,9 3114 3,4 2,7

> 80 11.836 5,1 2,7 1487 4,6 2,8

mw Mittelwert, Sd Standardabweichung.

Page 7: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

lich höher eingeschätzt als in Kranken-häusern. Rund einem Drittel der Bewoh-ner ordnen die professionell Pflegenden ein erhöhtes, einem weiteren Drittel ein sehr hohes Sturzrisiko zu. Im Kranken-haus hingegen wird mehr als zwei Drit-tel der Patienten ein niedriges Sturzrisi-ko zugesprochen. Bei der Einschätzung der Höhe des Sturzrisikos spielte bei den pflegerischen Mitarbeitern der Pflegehei-me und Krankenhäuser die Mangelernäh-rung keine Rolle. Bislang wurde die Man-gelernährung in systematischen Über-sichtsarbeiten noch nicht als Risikofaktor für Stürze identifiziert [12, 15]. Die pfle-gerischen Mitarbeiter orientierten sich bei der Sturzrisikoeinschätzung vor allem am kognitiven Status, an der Mobilität und an kürzlich erfolgten Stürzen. Die hohe Verbreitung dieser Einschränkungen bei Pflegeheimbewohnern mag auch eine Er-klärung dafür sein, warum sie in der vor-liegenden Studie prinzipiell als stärker sturzgefährdet eingeschätzt wurden als Krankenhauspatienten. Für die Pflege-kräfte in den Krankenhäusern spielte zu-sätzlich das Vorliegen einer Harninkon-tinenz eine große Rolle. Auch in dem Re-view von Deandrea [15] wurde die Harn-inkontinenz nur bei Krankenhauspatien-ten als Sturzrisikofaktor genannt. Man muss jedoch berücksichtigen, dass in der Regel eine Mehrheit der Pflegeheimbe-wohner harninkontinent ist [35] und die-

ses Merkmal daher im Pflegeheim eher eine untergeordnete Diskriminanz auf-weist. Insgesamt entsprechen die Deter-minanten, die in der vorliegenden Studie mit einer als höher wahrgenommenen Sturzgefährdung assoziiert wurden, den Risikofaktoren, die auch in weiteren Stu-dien genannt werden.

Sowohl in den Pflegeheimen als auch in den Krankenhäusern war die Beratung der Patienten die häufigste sturzpräven-tive Maßnahme. In den Pflegeheimen wurden die Beratungen unabhängig vom wahrgenommenen Sturzrisiko auch bei als gering gefährdet eingeschätzten Be-wohnern durchgeführt. In diesem Set-ting werden bei der Beratung auch häufig die Angehörigen mit einbezogen; dies ist plausibel, da Angehörige einen wichtigen Einfluss auf die Akzeptanz der angebo-tenen sturzpräventiven Maßnahmen ha-ben können. Im Krankenhaus findet eine Beratung der Angehörigen seltener statt, möglicherweise dadurch bedingt, dass sie aufgrund der kürzeren Liegedauer der Pa-tienten auch nicht so präsent sind.

Bewegungsbezogene Angebote wie Kraft- und Balancetraining und Physio-therapie werden sowohl in den Pflegehei-men als auch in den Krankenhäusern sel-tener angeboten als Mobilitätshilfsmittel. Fast zwei Drittel der stark sturzgefährde-ten Bewohner und knapp die Hälfte der hochgradig sturzgefährdeten Patienten

verfügen über ein Mobilitätshilfsmittel. Allerdings wurde in dieser Studie nicht erhoben, wie lange das Hilfsmittel schon in Gebrauch ist und wie viele Hilfsmittel wegen einer Sturzgefahr angeboten wur-den.

Sowohl in den Pflegeheimen als auch in den Krankenhäusern erhielten Patien-ten und Bewohner mit einem sehr hohen Sturzrisiko häufiger Bettgitter oder eine Gurtfixierung als Personen mit einem niedrigeren Risiko. Obwohl bekannt ist, dass Fixierungen das Sturzrisiko erhö-hen [36] und freiheitsentziehende Maß-nahmen nicht als sturzpräventive Maß-nahmen empfohlen werden [16], wer-den sie häufig als „letzter Ausweg“ gese-hen [37]. Die Anpassung der Medikation wird in beiden Settings eher selten durch-geführt, obwohl bestimmte Medikamen-te einen Risikofaktor darstellen [15]. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass Pflegende zwar die Medikamentenwir-kung beobachten, es aber nicht in ihren Verantwortungsbereich fällt, Medika-mente zu verordnen oder Dosierungen zu variieren. Dabei ist bekannt, dass die Sturzrate in Pflegeheimen über ein Me-dikamentenreview durch einen Pharma-kologen und eine daraus resultierende Empfehlung an die behandelnden Ärzte gesenkt werden kann [38]. In den Kran-kenhäusern wird fast die Hälfte der als er-höht und sehr hoch gefährdeten Patien-

656 | Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014

Leitthema

Tab. 4 Interventionen bei unterschiedlich starker Sturzgefährdung

Pflegeheime (Gesamt n = 16.069) Krankenhäuser (Gesamt n = 8464)

(% von Gesamt n) Niedrig (34,7) Erhöht (32,4) Sehr hoch (32,9) Niedrig (68,8) Erhöht (17,1) Sehr hoch (14,1)

n 5573 5214 5282 5827 1446 1191

% von n (95%-KI)

% von n % von n % von n (95%-KI)

% von n (95%-KI)

% von n (95%-KI)

Beratung des Patienten/Be-wohners zum Sturzrisiko

65,5 (64,2–66,7) 81,2 (80,1–82,2) 76,2 (75,0–77,3) 25,3 (24,2–26,4) 52,2 (49,6–54,8) 55,8 (52,7–58,4)

Beratung Angehöriger zum Sturzrisiko

50,7 (49,3–52,0) 60,7 (59,3–62,0) 71,5 (70,3–72,7) 1,8 (1,5–2,1) 8,6 (7,3–10,2) 20,0 (17,8–22,3)

Modifikation von umgebungs-bedingten Sturzgefahren

39,2 (38,0–40,5) 51,9 (50,5–53,2) 58,6 (57,2–59,9) 8,4 (7,7–9,1) 26,2 (24,0–28,5) 32,0 (29,4–34,7)

Kraft-/Balanceübungen 12,4 (11,4–13,1) 17,6 (16,6–18,6) 22,5 (21,4–23,6) 4,1 (3,6–4,6) 13,3 (11,7–15,2) 19,6 (17,5–22,0)

Einsatz von Mobilitätshilfs-mitteln

53,8 (52,5–55,1) 71,1 (69,9–72,3) 72,1 (70,9–73,3) 9,4 (8,7–10,2) 38,5 (36,0–41,1) 44,9 (42,1–47,8)

Anpassung der Medikation 4,0 (3,5–4,6) 6,7 (6,0–7,4) 9,0 (8,3–9,8) 2,5 (2,1–2,9) 6,8 (5,7–8,3) 12,8 (11,0–14,8)

Individuelle Physiotherapie 11,6 (10,8–12,5) 14,5 (13,6–15,5) 16,1 (15,2–17,1) 11,9 (11,1–12,7) 35,5 (33,1–56,0) 47,0 (44,2–49,9)

Angebot eines Hüftprotektors 14,7 (13,8–15,7) 31,6 (30,3–32,8) 40,5 (39,2–41,8) 0,2 (0,1–0,3) 1,7 (1,2–2,5) 2,4 (1,7–3,6)

Bettgitter 23,7 (22,6–24,9) 16,3 (15,3–17,3) 25,3 (24,2–26,5) 3,4 (3,0–3,9) 15,4 (13,7–17,4) 37,5 (34,8–40,3)

Gurtfixierung 4,6 (4,1–5,2) 3,8 (3,3–4,3) 7,1 (6,5–7,9) 0,2 (0,1–0,3) 0,7 (0,4–1,3) 4,5 (3,5–5,9)

Beaufsichtigung 36,0 (34,7–37,2) 45,1 (43,7–46,4) 49,9 (48,6–51,3) 3,9 (3,5–4,5) 16,3 (14,5–18,3) 31,5 (28,9–34,2)

Page 8: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

ten stärker durch das Pflegepersonal be-aufsichtigt. Eine amerikanische Studie er-mittelte eine verstärkte Überwachung bei 20 % der sturzgefährdeten Patienten [39]. In einer Befragung gaben leitende Pflege-kräften in US-amerikanischen Kranken-häusern als zweithäufigste Maßnahme re-gelmäßige „Patientenrunden“ zur Situa-tionskontrolle an. Als häufigste sturzprä-ventive Maßnahme wurde in dieser Stu-die die Nutzung von Bettalarmsystemen angegeben [37], obwohl für diese Inter-vention kein Effekt nachgewiesen ist [6]. Insgesamt scheinen sich die durchgeführ-ten Maßnahmen und ihre Anwendungs-intensität zwischen einzelnen Ländern zu unterscheiden.

Limitationen der Studie

Die Response war über den gesamten Zeitraum in den Pflegeheimen höher als in den Krankenhäusern. Ein möglicher Grund hierfür könnte sein, dass in Pflege-heimen mehr Zeit besteht, um die infor-mierte Zustimmung der Bewohner einzu-holen bzw. sie zu beraten. Erschwert wird

die Einholung der informierten Zustim-mung vor allem dann, wenn der Betroffe-ne aufgrund seiner Erkrankung(en) nicht mehr zustimmungsfähig ist und die Zu-stimmung daher von einem Angehörigen oder ggf. gesetzlichen Vertreter eingeholt werden muss. Die unterschiedliche Re-sponse hat einen direkten Einfluss auf die Schätzwerte in beiden Einrichtungsarten und sollte bei der Interpretation der Er-gebnisse berücksichtigt werden [40]. Im Gegensatz zu Längsschnittstudien, die eine direkte Kalkulation von Effektgrö-ßen (relativen Risiken, Odds Ratios) der einzelnen Sturzrisikofaktoren bezogen auf das Outcome „Sturzereignis inner-halb der letzten 2 Wochen in der Einrich-tung“ erlaubt hätten, wurde in der vor-liegende Studie nach der klinischen Ein-schätzung der professionell Pflegenden gefragt. Wir begründen dieses alternati-ve Vorgehen zum einen mit der gewach-senen klinischen Kompetenz der geschul-ten und erfahrenen Pflegenden [41], zum anderen wollen wir der Gefahr entgegen-treten, dass Fehlinterpretationen entste-hen. Als besonders problematische De-

terminanten gelten in diesem Fall einge-schränkte Mobilität, Verwirrtheit und/oder Multimedikation. Bezogen auf Letz-teres kann es beispielsweise sein, dass sich die Medikation in der Folge eines schwe-ren Sturzes erhöht oder ändert (z. B. zur Schmerztherapie). Es bleibt im Rahmen von Querschnitterhebungen stets unklar, ob diese Veränderungen dem jeweiligen Sturz als Risikofaktor vorausgingen oder seine Folge waren. Analysiert wurden da-her nicht das tatsächliche Sturzrisiko mit seinen Determinanten, sondern das aus professioneller Erfahrung heraus wahr-genommene Sturzrisiko und die ihm zu-geschriebenen Ursachen.

Die Beurteilung der Repräsentativität der ermittelten Ergebnisse ist nicht leicht. Gegen ein hohes Maß an Repräsentativi-tät spricht, dass die Teilnahme an der Stu-die Kosten verursacht und auf Freiwillig-keit beruht. Somit können Selektionsef-fekte a priori nicht ausgeschlossen wer-den. Für ein hohes Maß an Repräsenta-tivität spricht hingegen, dass – neben der Überprüfung der demografischen Daten mit zentralen Registern der Bundesrepu-

657Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung - Gesundheitsschutz 6 · 2014 |

P�egeheimbewohner Krankenhauspatienten

stand. β β unteres95%-KI

oberes95%-KI

Determinanten stand. β β unteres95%-KI

oberes95%-KI

–0,03 –0,19 –0,30 –0,08 Geschlecht n.s. 0,03 –0,08 0,13

0,06 0,36 0,26 0,46 Harninkontinenz 0,28 1,73 1,60 1,86

0,11 0,62 0,53 0,71 Kognitive Beeinträchtigung 0,21 1,89 1,70 2,09

0,05 0,38 0,26 0,50 Multimedikation 0,07 0,46 0,33 0,59

0,18 1,02 0,93 1,11 Eingeschränkte Mobilität 0,21 1,08 0,97 1,19

n.s. 0,04 –0,09 0,17 Mangelernährung n.s. 0,33 0,13 0,52

0,17 2,08 1,88 2,28 Sturzereignis innerhalb 14 Tage

0,16 2,02 1,77 2,28

0,02 0,01 0,00 0,01 Alter 0,12 0,02 0,02 0,02

Statistisch signi�kante standardisierte β-Koe�zienten bei multipler linearer Regression bezogen auf Sturzrisiko (Skala 1-10)

Abb. 2 8 Determinanten für die Bewertung des Sturzrisikos (multiple lineare Regression)

Page 9: Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013; Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013;

blik Deutschland [42, 43] – im Abgleich mit den ebenfalls in der Studie erhobenen Daten zur Mangelernährung [44] und zu Dekubitus [45] große Übereinstim-mungen mit anderen Studienergebnis-sen gefunden werden konnten. Wir ge-hen davon aus, dass diese Übereinstim-mungen nicht zufällig und somit in ho-hem Maß repräsentativ sind. Die Bestim-mung der Sturzrate erfolgte im Rahmen einer Querschnitterhebung durch retro-spektive Dokumentenanalyse und Be-fragung durch die professionell Pflegen-den. Im Vergleich zu prospektiven Längs-schnittstudien kann daher ein bestimm-tes Maß an „underreporting“ nicht ausge-schlossen werden.

Erhoben wurde in der Studie, ob ein Sturzereignis innerhalb der letzten 14 Ta-ge vorlag. Zwar wurde die Aufenthaltszeit der Patienten im Krankenhaus (und somit die Zeit unter Risiko) in der Studie nicht erhoben, diese dürfte aber im Vergleich zur Verweildauer von Bewohnern in Pfle-geheimen deutlich geringer gewesen sein. Daher ist der Vergleich zwischen Pfle-geheimen und Krankenhäusern mit der hier verwendeten kalkulierten kumulati-ven Inzidenz nur eingeschränkt möglich. Auch wurden nicht alle in der Literatur benannten Sturzrisikofaktoren, wie z. B. Probleme mit dem Gleichgewicht oder unangemessenes Schuhwerk, erhoben.

Schlussfolgerung

Die Studie stellt belastbare Zahlen zu den in den jeweiligen Einrichtungen entstan-denen Stürzen sowie zu den Folgen und den durchgeführten Präventionsmaßnah-men für nationale und internationale Ver-gleiche bereit. Etwa jeder 20. bis 25. Be-wohner oder Patient erlitt innerhalb eines Zeitraumes von maximal 14 Tagen min-destens 1 Sturzereignis. Eine Bewertung, ob diese Zahl „zu hoch“ oder „akzeptabel“ ist, ist an dieser Stelle nicht möglich. Zum einen gibt es diesbezüglich (noch) kei-ne gesetzlichen Vorgaben. Zum anderen können Zahlen aus anderen nationalen oder internationalen Studien aufgrund der methodischen Unterschiede nur ein-geschränkt für einen Vergleich herange-zogen werden.

Deutlich wird jedoch, dass Kranken-häuser und Pflegeheime wichtige Settings

für die Prävention von Stürzen darstel-len. Die vorliegenden Ergebnisse geben Hinweise darauf, welche Personen aus professioneller Sicht eine besondere Ge-fährdung für Stürze aufweisen. Zur Prä-vention kommt bereits ein breites Maß-nahmenspektrum zum Einsatz. Da mo-bilitätseinschränkende Maßnahmen wie Bettgitter oder Fixierungen das Sturzrisi-ko eher erhöhen, sollte hierauf weitestge-hend verzichtet werden. Darüber hinaus wird der Möglichkeit einer modifizierten Medikation zur Senkung des Sturzrisikos bisher zu wenig Beachtung geschenkt. Bei besonders gefährdeten Personen ver-spricht zudem der Einsatz neuer Techno-logien, sog. technisch-pflegerischer Assis-tenzsysteme wie beispielsweise von opti-schen Kamerasystemen oder Lagesenso-ren, eine weitere Verringerung der Sturz-rate. Um die Nachhaltigkeit von Quali-tätsinitiativen wie beispielsweise der Ex-pertenstandards oder um Veränderungen aufgrund des zu erwartenden demografi-schen Wandels beobachten zu können, sind weitere übergreifende und systema-tische Erfassungen zu Stürzen und deren Folgen innerhalb von Gesundheitsein-richtungen in Deutschland erforderlich.

Korrespondenzadresse

PD Dr. N. A. Lahmann, MSEInstitut für Gesundheits- und PflegewissenschaftCharité Universitätsmedizin Berlin Augustenburgerplatz 1, 13359 [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien

Interessenkonflikt. N. Lahmann, C. Heinze und A. Rommel geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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