21
Suhrkamp Verlag Leseprobe Allende, Isabel Die Insel unter dem Meer Roman. Geschenkausgabe Aus dem Spanischen von Svenja Becker © Suhrkamp Verlag suhrkamp taschenbuch 4789 978-3-518-46789-3

Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

  • Upload
    others

  • View
    2

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Suhrkamp VerlagLeseprobe

Allende, IsabelDie Insel unter dem Meer

Roman. GeschenkausgabeAus dem Spanischen von Svenja Becker

© Suhrkamp Verlagsuhrkamp taschenbuch 4789

978-3-518-46789-3

Page 2: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

suhrkamppocket

Page 3: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Die Mulattin Zarité, genannt Tété, ist erst neun Jahre alt,als der Plantagenbesitzer Toulouse Valmorain sie als Dienst-magd für seine lebensuntüchtige Frau kauft. Doch in Tétéschlummert eine andere Bestimmung als die der willfähri-gen Sklavin. Selbst als ihr Herr sie in sein Bett zwingt, alsman ihr das erste Kind entreißt und ihr Geliebter sie ver-läßt, um sich den aufständischen Sklaven anzuschließen,verliert Tété ihr Ziel nicht aus den Augen: die Freiheitfür sich und ihre Tochter. Als der Konflikt zwischen denaufständischen Sklaven und den weißen Herren eskaliert,f lieht sie nach New Orleans. In der bunten kreolischen Ge-sellschaft findet Tétés Drang nach Selbstbestimmung neueNahrung, doch werden Jahre vergehen, bis ihr TraumWirklichkeit wird.

Isabel Allende, 1942 in Chile geboren, ging nach Pino-chets Militärputsch 1973 ins Exil, wo sie ihren Weltbestsel-ler Das Geisterhaus schrieb. Sie lebt mit ihrer Familie inKalifornien. Ihr gesamtes Werk erscheint auf Deutsch imSuhrkamp Verlag.

Svenja Becker lebt als Übersetzerin (u. a. Juan CarlosOnetti, Carla Guelfenbein, Hernán Rivera Letelier) inSaarbrücken.

Zuletzt sind von Isabel Allende erschienen: Der japani-sche Liebhaber. Roman (st 4730), Mayas Tagebuch. Roman.Geschenkausgabe (st 4703) sowie Amandas Suche. Roman(st 4600).

Page 4: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Isabel AllendeDie Insel unter dem Meer

Roman

Aus dem Spanischen vonSvenja Becker

Suhrkamp

Page 5: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem TitelLa isla bajo el mar

bei Random House Mondadori, S. A., Barcelona.

© Isabel Allende, 2009

Erste Auflage 2017suhrkamp taschenbuch 4789

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2010© Isabel Allende, 2009

Suhrkamp Taschenbuch VerlagAlle Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck und Bindung: Kösel, Altusried

Umschlagabbildung: Andre GabbUmschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Printed in GermanyISBN 978-3-518-46789-3

Page 6: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Die Insel unter dem Meer

Page 7: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Für meine Kinder, Nicolás und Lori

Page 8: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Zarité

Mit meinen vierzig Jahren ist mir, Zarité Sedella,mehr Glück beschieden gewesen als anderen Skla-vinnen. Ich werde lange leben und im Alter frohsein, weil mein Stern – mein Z’étoile – auch in wol-kenverhangener Nacht leuchtet. Ich weiß, wie schönes ist, wenn ich bei dem Mann liege, den mein Herzgewählt hat, und seine großen Hände meine Hautwecken. Vier Kinder habe ich geboren, ich habe einEnkelkind – und die am Leben sind, sind frei. Inmeiner frühesten Erinnerung an Glück bin ich eindürres, verfilztes Würmchen, das zum Klang derTrommeln tanzt, und das ist auch mein jüngstesGlück, denn gestern abend habe ich auf dem Con-go-Platz getanzt und getanzt ohne einen Gedankenim Kopf, und heute fühlt sich mein Körper heißund müde an. Die Musik ist ein Wind, sie trägt dieJahre mit sich fort, das Gestern und die Furcht, diewie ein Tier in mir kauert. Mit den Trommeln schwin-det die Alltags-Zarité, und ich bin wieder das Kind,das getanzt hat, bevor es richtig laufen konnte. Mei-ne Füße stampfen auf die Erde, und durch meineBeine steigt das Leben empor, es durchströmt meineKnochen, gewinnt Macht über mich, nimmt mir den

7

Page 9: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Kummer und versüßt meine Erinnerungen. Die Welterbebt. Der Rhythmus entspringt auf der Insel unterdem Meer, er erschüttert die Erde, durchfährt michwie ein Blitz und reißt meine Beschwernisse mit hin-auf in den Himmel, damit Papa Bondye sie zerkautund schluckt und ich gereinigt und froh werde. DieTrommeln besiegen die Angst. Die Trommeln sinddas Erbe meiner Mutter, die Kraft Guineas, die mirinnewohnt. Dann nimmt es keiner mit mir auf, ichwerde gewaltig wie Erzuli, Loa der Liebe, und schnel-ler als die Peitsche. Die Muscheln an meinen Knöchelnund Handgelenken rasseln, die Kalebassen fragen, esantworten die Djembés mit ihrer Waldstimme unddie Timbas mit ihrer Metallstimme, die sprechendenDjun Djuns laden zum Tanz, und heiser dröhnt diegroße Maman, wenn sie geschlagen wird, um dieLoas zu rufen. Die Trommeln sind heilig, durch siespricht man mit den Loas.

Dort, wo ich die ersten Jahre aufwuchs, töntenkeine Trommeln in der Kammer, die ich mit Honoré,dem anderen Sklaven, teilte, aber sie gingen häufigdraußen spazieren. Meine damalige Herrin, Mada-me Delphine, wollte keinen Negerlärm hören, nurdas schwermütige Klagen ihres Klavichords. Montagsund dienstags unterrichtete sie farbige Mädchen,und die übrige Woche gab sie Stunden in den Häu-sern der Grands Blancs, wo die jungen Damen ihreeigenen Instrumente hatten, weil sie nicht dasselbe

8

Page 10: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

benutzen konnten, auf dem die Mulattinnen spiel-ten. Ich lernte, wie man die Tasten mit Zitronensaftputzt, durfte aber keine Musik darauf machen, weilMadame es uns verboten hatte. Das brauchten wirauch nicht. Honoré konnte aus einem Topf Musikherausholen, jedes Ding in seinen Händen besaßTempo, Melodie, Rhythmus und Stimme; er trug dieKlänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht.Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, diewir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wieich seine Trommeln leise streicheln konnte. Und dasvon Beginn an, als er mich noch in den Armen tra-gen mußte, wenn er zu den Tänzen und Voodoozere-monien ging, wo er den Rhythmus mit der großenTrommel vorgab und die anderen ihm folgten. Soweiß ich es noch. Obwohl Honoré damals nicht älterwar als ich heute, wirkte er sehr betagt, weil er steif inden Knochen war. Er trank Tafia gegen die Schmer-zen jeder Bewegung, aber eine bessere Medizin alsder derbe Zuckerrohrschnaps war für ihn die Musik.Beim Klang der Trommeln wurde aus seinem Klagenein Lachen. Honoré konnte mit seinen krummenFingern kaum die Kartoffeln für das Essen der Her-rin schälen, doch an der Trommel war er unermüd-lich, und wenn es ans Tanzen ging, hob niemand dieKnie höher, schüttelte niemand den Kopf kräftiger,schwenkte niemand das Hinterteil mit größerer Lust.Bevor ich laufen konnte, ließ er mich im Sitzen tan-

9

Page 11: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

zen, und kaum daß ich auf beiden Beinen stand, luder mich ein, mich in der Musik zu verlieren wie ineinem Traum. »Tanz, Zarité, tanz, denn ein Sklave,der tanzt, ist frei … solange er tanzt«, sagte er. Ich ha-be immer getanzt.

10

Page 12: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Erster Teil

Saint-Domingue1770-1793

Page 13: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich
Page 14: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Die spanische Krankheit

Toulouse Valmorain kam 1770 nach Saint-Domin-gue, im selben Jahr, in dem der Dauphin von Frank-reich die österreichische Erzherzogin Marie Antoi-nette zur Frau nahm. Vor seiner Reise in die Kolonie,als er noch nicht ahnte, daß das Schicksal ihm einenStreich spielen und man ihn zwischen den Zucker-rohrfeldern der Neuen Welt zu Grabe tragen würde,war er nach Versailles auf eins der Feste zu Ehren derneuen Dauphine eingeladen worden, die ein kleinesblondes vierzehnjähriges Kind gewesen war und in-mitten des gestrengen französischen Hofprotokollsunverhohlen gähnte.

Das war Vergangenheit, Saint-Domingue eine an-dere Welt. Der junge Valmorain besaß eine eher vageVorstellung von dem Ort, an dem sein Vater ein Ver-mögen machen wollte, jedoch nur mehr schlecht alsrecht das tägliche Brot der Familie besorgte. Irgend-wo hatte er gelesen, die Insel habe bei den eingebore-nen Arawaken Haiti geheißen, ehe die Eroberer ihrden Namen La Española gaben und die Ureinwoh-ner ausrotteten. Fünfzig Jahre später war kein einzi-ger Arawak geblieben, den man sich hätte anschauenkönnen: Alle waren unter der Sklaverei gestorben, an

13

Page 15: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

den Krankheiten der Europäer oder von eigenerHand. Dem Vernehmen nach waren sie von rötlicherHautfarbe gewesen, mit kräftigem schwarzem Haar,von unerschütterlicher Würde und so zaghaft, daßein einziger Spanier zehn von ihnen mit bloßen Hän-den überwältigen konnte. Sie lebten in polygamenGemeinschaften und bauten mit Bedacht ihre Feld-früchte an, um den Boden nicht zu ermüden: Bata-ten und Mais, Kürbis und Erdnüsse, Chili, Kartof-feln und Maniok. Die Erde kannte wie der Himmelund das Wasser keinen Besitzer, bis die Fremdensich ihrer bemächtigten, die Ureinwohner zur Arbeitzwangen und nie gesehene Pflanzen wachsen ließen.Damals machte man sich einen Spaß aus der »Hatz«,dem Töten wehrloser Menschen, auf die man die Hun-de hetzte. Als die Eingeborenen vernichtet waren,führte man Sklaven ein, verschleppte sie aus Afrikaund brachte außerdem Verbrecher, Waisen, Hurenund Aufwiegler aus Europa als Sklaven auf die Insel.

Ende des 17. Jahrhunderts trat Spanien den West-teil der Insel an Frankreich ab, das ihn Saint-Domin-gue nennen und in die reichste Kolonie der Welt ver-wandeln sollte. Zu der Zeit, als Toulouse Valmoraindort ankam, stammte ein Drittel aller französischenVerkäufe von Zucker, Kaffee, Tabak, Baumwolle, In-digo und Kakao von dort. Inzwischen gab es keineweißen Sklaven mehr, aber die Zahl der Schwarzenging in die Hunderttausende. Die schlimmste Schin-

14

Page 16: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

derei galt der Gewinnung von Zucker, dem süßenGold der Kolonie: das Zuckerrohr zu schneiden, eszu pressen und den Saft einzudicken war in den Au-gen der Plantagenbesitzer keine Arbeit für Menschen,sondern für Vieh.

Valmorain war gerade zwanzig Jahre alt, als einSchreiben des väterlichen Handelsagenten ihn drin-gend in die Kolonie rief. Von Bord ging er in der neue-sten Mode – Spitzenbesatz an den Hemdsärmeln,bepuderte Perücke und hochhackige Schuhe – undfest überzeugt, daß die Bücher über Ackerbau, dieer studiert hatte, ihn mehr als befähigten, seinem Va-ter für einige Wochen beratend zur Seite zu stehen.Er reiste mit einem Lakaien, der kaum weniger her-ausgeputzt war als er selbst, und mit etlichen Truhen,die seine Garderobe und Bücher enthielten. Er sahsich selbst als Gelehrten und wollte sich nach seinerRückkehr nach Frankreich ganz den Wissenschaftenzuwenden. Seine Verehrung galt den Philosophen undEnzyklopädisten, die in Europa seit einigen Jahr-zehnten Furore machten, und mit vielen ihrer libera-len Vorstellungen ging er d’accord: Rousseaus Gesell-schaftsvertrag war ihm mit achtzehn ein ständigerBegleiter. Kaum daß er nach einer Überfahrt, die we-gen eines karibischen Wirbelsturms um ein Haar ineiner Tragödie geendet hätte, von Bord seines Schiffsging, erlebte er die erste unschöne Überraschung:Sein Herr Vater erwartete ihn nicht am Hafen. Statt

15

Page 17: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

dessen empfing ihn der Agent, ein freundlicher, vonKopf bis Fuß schwarz gekleideter Jude, der ihn überdie nötigen Sicherheitsvorkehrungen bei Reisen aufder Insel aufklärte, ihm Pferde und einige Maultierefür das Gepäck besorgte und außerdem einen orts-kundigen Führer und einen Milizionär, die ihn zurHabitation Saint-Lazare begleiten sollten. Der jungeMann hatte nie einen Fuß außerhalb Frankreichs ge-setzt und den – ohnehin banalen – Anekdoten, diesein Vater während seiner sporadischen Besuche beider Familie in Paris zum besten gab, wenig Beach-tung geschenkt. Er hatte nicht damit gerechnet, daßer die Plantage je besuchen würde; nach der still-schweigenden Übereinkunft mit seinem Vater sollteder das Vermögen in der Kolonie mehren, währender sich um seine Mutter und seine Schwestern küm-merte und die Geschäfte in Frankreich im Auge be-hielt. In dem Brief, den er bekommen hatte, war vongesundheitlichen Malaisen die Rede, und er war da-von ausgegangen, es handele sich um ein vorüberge-hendes Fieber, mußte jedoch, als er nach einem kno-chenzermalmenden Tagesritt durch eine gefräßigeund feindliche Wildnis auf Saint-Lazare ankam, fest-stellen, daß sein Vater im Sterben lag. Er litt nicht,wie vom Sohn gemutmaßt, am Tropenfieber, sondernan der Syphilis, die Weiße, Schwarze und Mulattengleichermaßen hinraffte. Die Krankheit hatte ihrletztes Stadium erreicht, und sein Vater konnte sich

16

Page 18: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

kaum noch bewegen, lag von Geschwüren übersätda, mit wackligen Zähnen und umwölktem Bewußt-sein. Die höllischen Behandlungen mit Aderlässen,Quecksilbereinreibungen und Kauterisationen desPenis mit glühenden Drähten hatten keine Linderunggebracht, doch unterzog er sich ihnen weiter als Aktder Buße. Mit seinen gerade fünfzig Jahren war er ineinen Greis verwandelt, der schwachsinnige Befehlebrabbelte, seinen Urin nicht halten konnte und vonfrüh bis spät mit seinen beiden Schoßtierchen, zweikleinen Negermädchen, denen eben Brüste sprossen,in einer Hängematte lag.

Während sich unter den Anweisungen seines schnö-seligen Lakaien, der die Überfahrt kaum ertragenhatte und von den primitiven Zuständen vor Ort ent-setzt war, einige Sklaven des Gepäcks annahmen, ver-schaffte Toulouse Valmorain sich einen Eindruckvon den weitläufigen Besitzungen. Vom Zuckerrohr-anbau verstand er nichts, begriff indes bereits bei die-sem ersten Rundgang, daß die Sklaven Hunger littenund die Plantage dem Ruin nur entgangen war, weildie Welt mit wachsendem Appetit nach Zucker ver-langte. Die Rechnungsbücher gaben Aufschluß überdie desolate Finanzlage seines Vaters und erklärten,warum er die Familie in Paris nicht mit den standes-gemäßen Annehmlichkeiten hatte versorgen können.Die Produktion war katastrophal niedrig, und dieSklaven starben wie die Fliegen; zweifellos bereicher-

17

Page 19: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

ten sich die Aufseher am grausigen Verfall seines Va-ters. Sein Schicksal verfluchend, krempelte Valmo-rain die Ärmel auf und ging an das, was im Lebeneines jungen Mannes von seinem Geblüt nicht vorge-sehen war: Arbeit war etwas für eine andere KlasseMensch. Zunächst besorgte er sich über den Han-delsagenten seines Vaters, der gute Beziehungen zuverschiedenen Bankiers unterhielt, ein üppiges Dar-lehen, dann schickte er die Commandeurs auf dieZuckerrohrfelder, wo sie Seite an Seite mit denenschuften mußten, die zuvor von ihnen gepeinigt wor-den waren, er ersetzte sie durch weniger skrupelloseAufseher, milderte die Strafen und stellte für zweiMonate einen Veterinär ein, der den Gesundheitszu-stand der Neger auf Saint-Lazare etwas verbessernsollte. Seinem Lakaien konnte der Veterinär nichthelfen, in weniger als achtunddreißig Stunden raffteden ein beeindruckender Durchfall hin. Nach Val-morains Berechnungen waren die Sklaven seines Va-ters im Schnitt achtzehn Monate zu gebrauchen, ehesie flohen oder vor Erschöpfung starben, weit kürzerals auf anderen Plantagen. Die Frauen lebten etwaslänger als die Männer, brachten aber bei der anstren-genden Arbeit auf den Feldern weniger Ertrag undwurden ärgerlich häufig schwanger. Weil von den Kin-dern kaum eins überlebte, rentierte sich die Frucht-barkeit unter den Negern in der Kalkulation der Plan-tagenbesitzer nicht.

18

Page 20: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

Der junge Valmorain nahm die notwendigen Ver-änderungen leidenschaftslos, ohne große Pläne undeilig in Angriff, weil er schleunigst wieder abzureisenwünschte, mußte jedoch, als sein Vater wenige Mo-nate später starb, der Tatsache ins Auge sehen, daßer in der Falle saß. Zwar wollte er nicht warten, bisseine Gebeine in dieser stechmückenverseuchten Ko-lonie verfaulten, aber wenn er vor der Zeit abreiste,würde er die Plantage verlieren und mit ihr das Ein-kommen und die gesellschaftliche Stellung seiner Fa-milie in Frankreich.

Valmorain suchte keinen Umgang mit anderen Ko-lonialherren. In den Augen der Grands Blancs, diewie er Plantagen besaßen, war er ein Laffe, der es aufder Insel nicht lange machen würde; um so mehrstaunten sie, ihn mit schlammverschmierten Stiefelnund sonnenverbranntem Gesicht zu sehen. Die Abnei-gung war gegenseitig. Valmorain sah in diesen aufdie Antillen verpf lanzten Franzosen bloße Bauern-tölpel, kein Vergleich mit der Gesellschaft, in derer daheim verkehrt hatte, wo man sich für Ideen, fürWissenschaft und Kunst begeisterte und kein Menschvon Geld oder von Sklaven sprach. Aus dem »Zeital-ter der Vernunft« in Paris war er in eine primitiveund gewalttätige Welt hinabgesunken, in der die Le-benden und die Toten Hand in Hand gingen. Auchunter den Petits Blancs, deren einziges Kapital ihreHautfarbe war, hatte er keine Freunde, hielt sie für

19

Page 21: Suhrkamp Verlag · Klänge in sich, hatte sie aus Dahomey mitgebracht. Mein Spielzeug war eine ausgehöhlte Kalebasse, die wir zum Klingen brachten; danach zeigte er mir, wie ich

armselige Gestalten, an denen Neid und Mißgunstnagten. Sie kamen von überall her, und über die Rein-heit ihres Bluts oder ihr Vorleben konnte man nurspekulieren. Im besten Fall waren sie Händler, Hand-werker, mäßig tugendhafte Ordensbrüder, Matro-sen, Soldaten und kleine Beamte, doch gab es auchGauner unter ihnen, Zuhälter, Kriminelle und See-räuber, die jeden Winkel der Karibik für ihre Betrü-gereien nutzten. Er hatte nichts gemein mit diesenLeuten.

Unter den freien Mulatten, den Affranchis, gab esüber sechzig Abstufungen nach dem Anteil an Blutvon Weißen, das in ihren Adern floß und ihren ge-sellschaftlichen Status bestimmte. Valmorain lernteweder, die Schattierungen zu unterscheiden, nochkonnte er sich die Bezeichnungen der verschiedenenKombinationen beider Hautfarben merken. Die Af-franchis besaßen keine politische Macht, bewegtenaber eine Menge Geld. Deshalb wurden sie von denweißen Habenichtsen gehaßt. Einige bestritten ih-ren Lebensunterhalt mit illegalen Geschäften, vonSchmuggel bis Prostitution, andere aber hatten eineErziehung in Frankreich genossen und besaßen Ver-mögen, Land und Sklaven. Über alle subtilen Far-benspiele hinweg waren die Mulatten einig in ihremBestreben, als Weiße durchzugehen, und in ihrertiefsitzenden Verachtung den Schwarzen gegenüber.Die Sklaven, von denen es zehnmal mehr gab als Wei-

20