21
Suhrkamp Verlag Leseprobe Ehrenberg, Alain Die Mechanik der Leidenschaften Gehirn, Verhalten, Gesellschaft Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58730-0

Suhrkamp Verlag · Schuld und Konflikt im Vordergrund stehen, und mehr und mehr auf narzisstische Aspekte, bei denen eher Scham und Spaltung das Bild beherrschen. Diese Veränderungen

Embed Size (px)

Citation preview

Suhrkamp VerlagLeseprobe

Ehrenberg, AlainDie Mechanik der Leidenschaften

Gehirn, Verhalten, GesellschaftAus dem Französischen von Michael Halfbrodt

© Suhrkamp Verlag978-3-518-58730-0

SV

Alain Ehrenberg

Die Mechanik der LeidenschaftenGehirn, Verhalten, Gesellschaft

Aus dem Französischenvon Michael Halfbrodt

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel La Mécanique despassions. Cerveau, comportement, société © Odile Jacob, .

Für Corinne, noch einmal

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage © dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie derÜbertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilmoder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder

verbreitet werden.Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany

ISBN ----

Einleitung

Die neue Wissenschaft des menschlichen Verhaltens

Von der Psychoanalyse zur Neurowissenschaft,von einer modernen Stimmungslage zur nächsten

Die kognitive Neurowissenschaft als moralische Autorität:Welche Ideale der Moderne? Welcher Individualismus?

Das Programm

Kapitel 1

Exemplarische GehirneVon den Leiden des praktischen Subjekts zum Heroismus des

verborgenen Potentials

Die Leiden des praktischen Subjekts

Die Persönlichkeitsstörungen aus Sicht des praktischen Sub-jekts () – Emotion, Kognition,Verhalten: das goldene Dreieckder kognitiven Neurowissenschaft ()

Die Gehirne des verborgenen Potentials oderdie Demokratisierung des Außergewöhnlichen

Vom Typus zum Individuum () – Wollen, ohne zu können,Schlüssel zur Individualisierung des neurologischen Patien-ten () – Vom Defizit zum Trumpf: das Tourette-Syndrom alsBeispiel des neuen Individualismus () –Das autistische Gehirn

als zivilisatorischer Wert () –Der Autismus – gestern und heu-te () – Das verborgene Potential, spezifische soziale Form desEintritts in die Moderne ()

Kapitel 2

Wissenschaftliche Methode und individualistisches IdealDie Umwandlung der Affekte von der schottischen Aufklärung bis

zum neuen Individualismus

Die Mechanik der Affektumwandlung: das gewöhnliche Indivi-duum als aktiver Werteschöpfer

Die Dichotomie von Natürlichem und Künstlichem überwin-den () – Tugend oder Charakter, Zentralkonflikt beim Eintrittin die Moderne () – Das Werte schöpfende Individuum oderdie Sozialisierung der Selbsterweiterung () – Aufkommender Polarität von Altruismus und Egoismus und das moralischeMoment des Charakters ()

Vom Social Engineering zur Selbstverwirklichung (-): diedrei Zeitalter des Verhaltens

Der Behaviorismus: den Individualismus in der Massengesell-schaft durch Außensteuerung des Menschen neu begrün-den () – Das Ich der sozialen Verhaltenswissenschaften ()

Wer entschlossen ist, entscheidet frei: die Einführung von Subjekti-vität und Aktivität

Die »kognitive Revolution« oder der Wissenschaftler als Modellgewöhnlicher Intelligenz

Der neue Individualismus der wissenschaftlichen Psychologie:Jeder soll sein eigener Psychologe werden () – Ein Individua-lismus der Befähigung ()

Kapitel 3

Das Gehirn als Individuum, eine Physiologie der Autonomie

Eine »Rückkehr« des Subjekts im biologischen Gewand?

Individualisierung: vom reagierenden zum agierenden Gehirn

Von der Neurologie zur Neuropsychologie () – Diskonnek-tionssyndrome: ein anatomisch vollständiges Gehirn () –

Parallelentladung: ein Gehirn, das physiologisch eine Handlungauslöst () – Synaptische Übertragung und neuronale Plastizi-tät: Ist das Gehirn (wie) ein Individuum? ()

Die Entindividualisierung des Gehirns im Matrixraum der Neuro-wissenschaft

Vom anatomischen Gehirn zum digitalisierten Raum: die Ge-hirntätigkeit des Geistes () – Das neuroanatomische »Wo«,aber wie steht es um das neurophysiologische »Wie«? () –Die Auflösung des individuellen Gehirns in den Big Data: aufdem Weg zu einer Pathologie der Gehirnschaltkreise? () –

Das Gehirn als Individuum ()

Kapitel 4

Die soziale Neurowissenschaft oder Wie das Individuum mitanderen agiert

Die Notwendigkeit des Sozialen

Die Neufassung des Charakters im Konzept der »Sozialkompe-tenz« () –Die drei Bedeutungen des »Sozialen« in der Neuro-wissenschaft () – Empathie: emotionaler Bereich und kogni-tiver Bereich () – Das neurobiologische Fundament derBeziehungen: eine neurale Resonanz ()

Die Verhaltensökonomie, eine kognitive Psychopathologie des All-tagslebens

Die Bedingungen der Regelmäßigkeit: Fairness, um die Unwäg-barkeiten des Vertrauens zu beherrschen () – Kognitive Ver-zerrung und die Politik der kleinen Anstöße: ein Mechanis-mus, um »das Verhalten zu ändern, ohne den Geist zu verän-dern« ()

Kapitel 5

Die Autonomieübungen: individualistische Rituale zurWiederherstellung des eigenen moralischen Wesens?

Soziale Kognition, Achse der Individualisierung von Schizophre-nen

Die soziale Kognition wiederherstellen oder Wie man das Indivi-duum zum Urheber seiner eigenen Veränderung macht

Recovery in neurokognitiver Version ()

Affective Computing und Partnermaschine

Auf dem Weg zum digitalen Coach () – Das World WideBrain, Utopie eines Austeilens der Psychologie an alle ()

Das Biologische, das Psychologische und das Soziale: auf die neu-ronalen Schaltkreise einwirken oder eine akzeptable Lebensformfinden?

Biologie: was das Labor dem Krankenbett bringt () – Psycho-logie: die indirekten Gesamtwirkungen der Übungen des prakti-schen Subjekts () – Soziologie: individualistische Rituale zurWiederherstellung des eigenen moralischen Wesens () – DieGrenzen der starken neurobiologischen Erklärung: ein sprach-liches Versäumnis? ()

Kapitel 6

Sind meine Ideen krank oder ist es mein Gehirn?Neurowissenschaft und Selbsterkenntnis

Der moralische Perfektionismus, eine Philosophie der persön-lichen Veränderung

Ursachen und Gründe: die Dilemmata der einen und die Harmo-nie des anderen

Das zweideutige Zittern der Schriftstellerin Siri Hustvedt () –Der fehlende Teil des Musikers Allen Shawn ()

Der Käfig des Gehirns: woher wissen, wie es sich anfühlt, ein ande-rer zu sein?

Von der wahnhaften Gewissheit zum Diskonnektionssyn-drom () – Eine Erkennungstragödie im Identifikations-wahn () – Die Lösung: zwei große Strategien zur Wiederher-stellung unseres moralischen Wesens unterscheiden ()

Schluss

Der Ort des Gehirns. Vom neuronalen Menschen zum totalenMenschen

Die Individualismuserzählung: eine Echokammmer unserer Befä-higungsideale

Alltäglicher Umgang und praktisches Wissen: die Reform des neu-ronalen durch den totalen Menschen

Bibliographie

Danksagung

»Eine neue Individualität zu erzeugen, die in Einklang steht mitden objektiven Bedingungen, unter denen wir leben, ist das grund-legende Problem unserer Zeit.«

John Dewey, Individualism. Old and New, 1

»Es gibt keinen Abstand zwischen dem Sozialen und dem Biolo-gischen.«

Marcel Mauss, »Die Techniken des Körpers«, 2

»Indem wir das Rätsel dieser außergewöhnlichen Menschen lösen[…], können wir auch mehr über uns selbst lernen, die ›Herausfor-derung unserer Fähigkeiten‹ erforschen und das verborgene Poten-tial enthüllen – den kleinen Rain Man –, das vielleicht in uns allenliegt.«

Darold A. Teffert, »The Savant Syndrome:An Extraordinary Condition«, 3

J. Dewey, Individualism. Old and New, in ders., The Later Works, -.Volume : -, Carbondale-Edwardsville , S. -, dort S. .

M. Mauss, »Die Techniken des Körpers«, in ders., Soziologie und Anthropologie.Band II, Frankfurt am Main, Berlin,Wien , S. -, dort S. .

D.A. Treffert, »The Savant Syndrome: An Extraordinary Condition. A Synopsis:Past, Present, Future«, Philosophical Transactions of the Royal Society, , ,S. -, dort S. .

11

Einleitung

Die neue Wissenschaftdes menschlichen Verhaltens

In den hoch entwickelten demokratischen Gesellschaften hat diemedizinische und soziale Bedeutung des Gehirns seit Beginn derer Jahre um ein Vielfaches zugenommen. Nach Meinung vonNeurowissenschaftlern soll die Hirnforschung über kurz oder langbeträchtliche Fortschritte nicht nur bei der Behandlung psychi-scher Erkrankungen (wie Depression oder Schizophrenie), sondernauch beim Umgang mit gesellschaftlichen Problemen ermöglichen,was effizientere Anwendungen im Bereich politischer Strategien,pädagogischer Praktiken oder Methoden der Konsumenten- undWählerbeeinflussung (Neuroökonomie, Neuropädagogik, Neuro-marketing, Neurorecht usw.) erhoffen lässt. Denn die Neurowis-senschaft ist zur sozialen Neurowissenschaft geworden und dieEntwicklung auf diesem Gebiet ist so stürmisch, dass Nature Neu-roscience kürzlich von »einer Forschungsexplosion«1 sprach. Bio-logen haben nachgewiesen, dass das Gehirn ein offenes, sich stän-dig wandelndes System ist, dessen Funktion in Antizipation2 oderRekognition (Wiedererkennen)3 besteht, ein Handlungssimulator,ein Hypothesenschöpfer, dessen Grundeigenschaft die Entschei-dung ist. Sagt man mittlerweile nicht, das Gehirn erkenne, ent-

Anonym, »Focus on Social Neuroscience« [Editorial], Nature Neuroscience, , (), S. .

A. Berthoz, Le Sens du mouvement, Paris , und La Décision, Paris . G.M. Edelman, Göttliche Luft, vernichtendes Feuer: wie der Geist im Gehirn ent-steht, München , S. .

13

scheide und handle? Eine neueWissenschaft des menschlichen Ver-haltens, des normalenwie des pathologischen, ist auf demWege derEntstehung: die kognitive Neurowissenschaft. Sie vereint Hirnfor-schung mit Behaviorismus, Experimental- und Kognitionspsycho-logie, die heute unter dem Label »Verhaltenswissenschaft« zu-sammengefasst werden.

Die kognitive Neurowissenschaft gibt gleichermaßen Anlass zuErwartungen wie zu Befürchtungen, die weit über den Rahmeneiner Diskussion unter Spezialisten hinausgeht. In einem globalenKontext, in dem psychisches Leid und geistige Gesundheit ein zen-trales Anliegen sind, ob im Betrieb und bei der Arbeit oder in Er-ziehung und Familie, können die theoretischen und praktischenProbleme, die sich aus diesen Disziplinen und ihrem Einsatz er-geben, die öffentliche Meinung nicht unberührt lassen. Immerhingeht es dabei um so entscheidende Fragen wie unser individuellesund kollektives Wohlbefinden, die Behandlungsformen von Psy-chosen, die Art und Weise, wie wir unsere Kinder erziehen undunterrichten, mit einer Vielzahl von auffälligen Verhaltensweisenund kriminellen Handlungen umgehen, demokratische Gefühle,wie Empathie, oder gegenseitiges Vertrauen fördern…

In ihren ambitioniertesten Zielen präsentieren sich diese Diszi-plinen als eine »Biologie des Geistes«, die ein möglichst vollständi-ges Wissen über den Menschen als denkendes, fühlendes und han-delndes Wesen erstrebt, ausgehend von einer Erforschung seinesGehirns (und der Verästelungen des Nervensystems im übrigenKörper). Eine solche These setzt voraus, dass man die Neurowis-senschaft als Anthropologie betrachtet, das heißt als eine Auffas-sung oder gewisse Vorstellung vom Menschen. Gleichzeitig wer-den die klassischen Unterscheidungen zwischen psychischen undneurologischen Erkrankungen innerhalb der Allgemeinkategorieder Hirnstörungen durch sie neu gefasst.Wir haben hier vorliegen,was man das starke Programm der kognitiven Neurowissenschaftnennen könnte.

Nicht die gesamte Forschung auf diesem Gebiet betrifft die

14

Pathologie, doch ist sie aus zwei Gründen unterschiedlicher Naturderen sensibelster Bereich. Zunächst, weil sie das Terrain darstellt,auf dem der Dualismus von Gehirn und Geist, vermittelt durch diebeiden Spezialgebiete der Neurologie und der Psychiatrie, konkretin Frage gestellt werden kann. Zum anderen, weil es dort nicht nurum die Fragen psychischen Leids geht, sondern um die des Wohl-befindens oder der Verbesserung jener individuellen Leistungen,hinsichtlich deren die öffentliche Meinung die höchsten Erwartun-gen hat.

Gegenstand dieses Buches ist die Beschreibung dieser Anthro-pologie, mit besonderem Augenmerk auf deren Kernproblem, dieBeziehungen zwischen Gehirn und Verhalten. Ausgangspunkt istdie These, dass das Gehirn in viel engerer Beziehung zum Restdes Körpers steht als zur Außenwelt, und folglich das Verhalten,was Gedanken, Gefühle und Handlungen einschließt, vorrangigdurch zerebrale Mechanismen bedingt wird. Das Wort »Verhal-ten« ist hier sehr weit gefasst, es schließt insbesondere alles ein,was man mit »Geist« bezeichnen könnte – weswegen ich vorziehe,von der Hirn-Verhaltens-Problematik zu sprechen.

Von der Psychoanalyse zur Neurowissenschaft,von einer modernen Stimmungslage zur nächsten

Die Psychoanalyse repräsentierte für die Psychopathologie und dieKultur der westlichen Welt im . Jahrhundert, wie der DichterAuden in Bezug auf Freud schrieb, »ein ganzes Meinungsklima,in dem wir unsere verschiedenen Leben gestalten«.4 Die Neuro-

J. Forrester, Dispatches from the Freud Wars. Psychoanalysis and Its Passions,Cambridge/London . Kapitel , »A Whole Climate of Opinion«, wurde insFranzösische übersetzt unter dem Titel »Freud, baromètre du XXe siècle«, Esprit,November , S. -. »If often he was wrong, and, at times, absurd, / to ushe is no more a person / now but a whole climate of opinion // under whom weconduct our different lives: / Like weather he can only hinder oder help« (»Wenn

15

wissenschaft scheint auf dem besten Wege, zum Barometer derLebensgestaltung im . Jahrhundert zu werden.

Die folgende Arbeit beabsichtigt, diesen Klimawandel zu erfor-schen.

In Das Unbehagen in der Gesellschaft () habe ich beschrie-ben, wie französische und amerikanische Psychoanalytiker, aufje eigene Weise, das allmähliche Vordringen der Autonomie – des-sen, was ich Autonomie als Zustand nenne – in die Kollektivvor-stellungen des gesellschaftlichen Menschen begleiteten, indem sieweniger Gewicht auf die ödipalen Problematiken legten, bei denenSchuld und Konflikt im Vordergrund stehen, und mehr und mehrauf narzisstische Aspekte, bei denen eher Scham und Spaltungdas Bild beherrschen. Diese Veränderungen der Psychopatho-logie haben einen Dauerstreit hinsichtlich der Vorzüge und Nach-teile des neuen Individualismus, eines Individualismus des fähigenMenschen, in Bezug auf die Gesellschaftsbildung ausgelöst. DerNarzissmus symbolisierte das neue Unbehagen in der Kultur derGesellschaften, die in die Phase der Autonomie als Zustand einge-treten sind, er lieferte ihnen eine Gestalt, in der die demokratischeSorge über die Auflösung des Sozialen dargestellt werden konnte.Mit der Neurowissenschaft gilt es, sich einer Reihe von Diszipli-nen zuzuwenden, die offenkundig stärker mit diesen modernenLebensgewohnheiten in Einklang stehen. Sie werden unter demGesichtspunkt einer Naturwissenschaft des autonomen Verhaltensthematisiert, wobei das Problem darin besteht, das »Natürliche«an ihnen zu verdeutlichen bzw. das entsprechende Autonomiepro-jekt genauer zu formulieren.

Anhand der psychoanalytischen Modelle der Autonomie als

er oft im Irrtum war und dann und wann absurd, / ist er doch für uns keine Per-son mehr, / sondern vielmehr ein ganzes Meinungsklima, // in dem wir unsere ver-schiedenen Leben gestalten. / Gleich dem Wetter kann er nur hindern oder hel-fen«), W.H. Auden, »In memoriam Sigmund Freud«, ein Gedicht von [hierzitiert nach Wystan Hugh Auden, Poems – Gedichte, München , S. bzw.].

16

Zustand habe ich den kanonischen Gegensatz von Individuum undGesellschaft in Frage gestellt, indem ich aufzeigte, dass man esnicht mit einem Niedergang des Gesellschaftsgedankens, bedingtdurch einen entfesselten Individualismus, zu tun hat, sondern miteiner Veränderung unserer Handlungsweisen, die sich in der Ge-stalt des fähigen Individuums ausdrückt. DieMechanik der Leiden-schaften befasst sich, in Fortführung dieses Ansatzes, mit der bio-logischen, kognitiven, verhaltenswissenschaftlichen Version dieserAutonomievorstellung, und zwar vermittelt über einen weiterenkanonischen Gegensatz: dem zwischen Biologischem und Sozia-lem oder zwischen Natur und Kultur.Was beide Bücher verbindet,ist die These, dass diese beiden Gegensätze eng zusammenhängenund zu den gleichen geistigen Zirkelschlüssen führen. Doch zu-gleich betonen sie den unterschiedlichen Tenor dieser beiden Wis-senschaften vomMenschen: Während die Psychoanalyse denMen-schen an seine Grenzen erinnert, lädt die Neurowissenschaft ihndazu ein, sie zu überwinden.

Der Anspruch der kognitiven Neurowissenschaft, eine Vielzahlvon Problemen des täglichen Lebens zu klären und zu behandeln,wirft eine Reihe von Fragen auf: Verändert sie wirklich unsereVorstellungen und unser Verständnis des menschlichen Wesens?Sind die Menschen im Begriff, sich anhand zerebraler oder kogni-tiver Sprachspiele, nach dem Motto: »Das ist mein Gehirn, dasbin nicht ich«, zu erkennen oder zu bestimmen, und was bedeu-tet das für ihr Leben? Werden wir die neurowissenschaftlichen Be-griffe genauso verwenden, wie wir es uns mit den Freud’schenBegriffen angewöhnt haben? Sind die »kognitiven Verzerrungen«drauf und dran, an die Stelle der Fehlleistungen zu treten, und er-setzt das Emotionsmanagement die Erforschung von Triebkonflik-ten? Stehen neue kognitive oder Verhaltenstherapien, neue Medi-kamente oder neue biologische Techniken, die selektiv auf dieseoder jene Hirnregion einwirken, kurz vor ihrer Entwicklung? Inwelchem Maße und in welchen Zusammenhängen wird das Ge-hirn zu einem existentiellen Bezugspunkt, zu einem Identifikations-

17

kriterium für Individuen, die sich in ihrem (gesunden oder kran-ken) Hirn erkennen?

Um solche Fragen zu beantworten, muss man über die doppelte,erkenntnistheoretische wie politische Debatte hinausgelangen, inder die Neurowissenschaft feststeckt. Die erkenntnistheoretischeDebatte wird über das Thema von »Descartes’ Irrtum«, um denTitel des berühmten Buches von Antonio Damasio aufzugreifen,an die Neurowissenschaft herangetragen. Damasio stellt dem ver-meintlichen Leib-Seele-Dualismus bei Descartes einen materialis-tischen Monismus entgegen, eine unteilbare Einheit des Seins, dieim Gehirn ihren Sitz hätte. Er erhält übrigens Unterstützung vonsoziologischen oder philosophischen Strömungen, die sich auf denmethodologischen Individualismus berufen, demzufolge man kol-lektives Verhalten nur ausgehend vom Individuum begreift, unddie hoffen, das vermeintlich Unzulängliche unserer Disziplinendurch Rückgriff auf die Resultate jener Wissenschaften und ihrerexperimentellen Methoden kompensieren zu können.5 Die politi-sche Debatte wird im Wesentlichen durch die kritischen Strömun-gen innerhalb der Sozialwissenschaften und der Philosophie be-fördert, die sich auf das Denken von Michel Foucault oder PierreBourdieu beziehen: Sie richten sich gegen den Reduktionismus derNeurowissenschaft als Ausdruck einer Biomacht, die ihrerseits imDienst des herrschenden Neoliberalismus stünde. Ihre Kernfragelautet: Ist diese Wissenschaft emanzipatorisch oder ein neues Werk-zeug sozialer Kontrolle? Diese Strömungen sprechen sich für dieEntstehung einer »Biosozialität«6 aus, sie meinen, »die Neurobio-logie [sei] unverkennbar auf demWeg der Neubestimmung einigerder Arten, individuelle und kollektive Probleme verständlich zu

So bei G. Bronner, É. Géhin,LeDanger sociologique, Paris . Siehe insbesondereKapitel III: »La crainte des sciences cognitives: une peur injustifiée«. Diese Soziolo-gie steht übrigens der Verhaltensökonomie sehr nahe, die in Kapitel IV untersuchtwird.

P. Rabinow, »Artifizialität und Aufklärung. Von der Soziobiologie zur Biosoziali-tät«, in ders., Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensfüh-rung, Frankfurt am Main [].

18

machen«,7 sodass folglich »die vordringlichste Aufgabe wäre, dieKluft zwischen Sozialem und Neuralem zu überwinden«.8

Die folgende Analyse unterläuft derartige Auseinandersetzun-gen: Sie versucht, die unbemerkten Verbindungen zwischen wis-senschaftlichen Konzepten und gesellschaftlichen Idealen heraus-zustellen, denn weder die Kluft zwischen Neuralem und Sozialemnoch die Umgestaltung unserer Regierungsformen durch die Neu-rowissenschaft entspricht dem, was in unseren Gesellschaften inBezug auf die kognitive Neurowissenschaft gerade vor sich geht.

Denn die Sichtweisen in der Neurowissenschaft werden zwardurch die Begriffe und Methoden der Naturwissenschaften, insbe-sondere der Experimentalwissenschaften, geprägt, sind aber auchvon moralischen Werten, gängigen Gesellschaftskonzepten undgemeinsamen Ideen beeinflusst – kurzum, von dem, was die So-ziologie Kollektivvorstellungen nennt. Darin liegt der heuristischeWert der Neurowissenschaft für eine Soziologie des zeitgenössi-schen Individualismus. Ihr Erfolg verrät uns etwas über uns selbstals menschliche Gemeinschaft. Aber was? Und wie? Die Antwortauf diese Fragen verlangt danach, sie als einen Raum zu betrach-ten, wo bestimmte Ideale der Moderne mobilisiert werden. Wel-che?

N. Rose, J.M. Abi-Rached,Neuro: The New Brain Sciences and the Management ofMind, Princeton , S. .

S. Choudhury, J. Slaby (Hg.), Critical Neuroscience: A Handbook of the Social andCultural Contexts of Neuroscience, Chichester , S. . »Die kritische Neu-rowissenschaft analysiert die Verfahren und Bedingungen, anhand deren Verhal-tensweisen und Personengruppen naturalisiert werden«, S. . Bezüglich einesÜberblicks über das Verhältnis von Sozial- und Biowissenschaften, der kritischewie apologetische Ansätze gleichermaßen vermeidet und zeigt, dass dieses Verhält-nis äußerst variabel ist und gegenseitige Anleihen die Regel sind, siehe das ausgezeich-nete Buch von D. Guillo, Sciences sociales et sciences de la vie, Paris .

19

Die kognitive Neurowissenschaft als moralische Autorität:Welche Ideale der Moderne? Welcher Individualismus?

Der Erfolg der kognitiven Neurowissenschaft beruht darauf, dasssie eine moralische Autorität erworben hat. Das heißt nicht, dassneurobiologische Konzepte und empirische Beweise irrelevant oderbloße Rationalisierungen wären, vielmehr geht es darum, zu zei-gen, auf wie vielfältige Weise spezielle Wissenschaftskonzepte undKollektivvorstellungen des Menschen in der Gesellschaft oder inIdealen miteinander verknüpft sind. Die Notwendigkeit hierzumacht sich umso deutlicher bemerkbar, als diese biologischen undpsychologischenWissenschaften sich unmittelbar mit menschlichenAngelegenheiten befassen –mit Verhalten, Psychologie, Geist; aberauch Krankheit, Wohlbefinden und Unbehagen. Deshalb macheich mir Émile Durkheims Schlussfolgerung aus der »Zusammenfas-sung« derElementaren Formen des religiösen Lebens zu eigen: »Esgenügt für die Begriffe noch lange nicht, selbst wenn sie nach allenRegeln der Wissenschaft gebildet sind, wenn sie ihre Autorität al-lein aus ihrem objektiven Wert beziehen. Es genügt nicht, daß siewahr sind, um auch geglaubt zu werden. Wenn sie nicht mit denanderen Überzeugungen und anderen Meinungen harmonieren,mit einemWort, mit der Gesamtheit der kollektiven Vorstellungen,so werden sie abgelehnt. Die Geister bleiben ihnen gegenüber ver-schlossen. Es ist folglich, als ob sie nicht existierten.«9 Diese Vor-stellungen sind nicht deshalb wirksam, weil sie uns von außen auf-genötigt wären, sondern weil es gemeinsame sind und sie deshalbzugleich ein von jedem Einzelnen unabhängiges Niveau der Ver-ständlichkeit und ein System von Erwartungen bilden, die den Ein-zelnen prägen, indem sie ihn restlos in Beschlag nehmen, bis hineinin seine Physiologie. Ich spreche unterschiedslos von Kollektivvor-stellungen, Idealen oder Wertideen. Ziel dieser Methode ist zu ver-

É. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt am Main [], S. -.

20