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Süverkrüps Liederjahre Die Bildunterschriften stammen, mit einer Ausnahme, aus Texten in diesem Buch, meistens aus den Sperrmülltexten. Wer herauskriegt, welche Zeile diese Ausnahme ist, darf zur Belohnung behaupten, er sei ein aufmerksamer Leser.

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Süverkrüps Liederjahre

Die Bildunterschriften stammen, mit einer Ausnahme, aus Texten in diesemBuch, meistens aus den Sperrmülltexten. Wer herauskriegt, welche Zeile dieseAusnahme ist, darf zur Belohnung behaupten, er sei ein aufmerksamer Leser.

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Süverkrüps Liederjahre1963 –1985 ff

kurzweilig und bequemvon vorne nach hinten zu lesen

sowiemit 40 nachträglichen Radierungen

des Urhebers versehen

herausgegeben von Udo Achten

Grupello Verlag

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DAS AUGE LIEST MIT – schöne Bücher für kluge LeserBesuchen Sie uns im Internet unter: wwwwww..ggrruuppee ll lloo ..ddeeHier finden Sie Leseproben zu allen unseren Büchern, Veranstaltungs-hinweise und Besprechungen. E-Mail: [email protected]

Der Verlag dankt der Stiftung Kunst und Kulturdes Landes NRW für die freundliche Unterstützung.

1. Auflage 2002

© by Grupello VerlagSchwerinstr. 55 · 40476 DüsseldorfTel.: 0211-498 10 10 · Fax: 0211-498 01 83Druck: Müller, GrevenbroichAlle Rechte vorbehalten

ISBN 3-933749-88-3

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Statt einer Einleitung

Über die alltäglichen Besonderheiten beim Herausgebeneines Buches von einem noch lebendenLiteraten und Liedermacher, Sänger und Künstler

M an kennt sich, längere Zeit. Sicher nahm ich den Liedermacher undSänger früher wahr als er mich. Die »Lieder gegen die Bombe« und

»Fröhlich ißt du Wiener Schnitzel« sprachen mich an, deswegen verkaufteich die Schallplatten des »pläne«-Verlags in einem kleinen Bauchladen. Einemehr einseitige Wahrnehmung, auch weil für einen Zweiundzwanzigjähri-gen ein Einunddreißigjähriger eine andere Generation ist.

Lieder wie »BleimSemirdochwegmitIhremScheißvietnam« oder »Touri-stenflamenco« entsprachen einem Unbehagen an den gesellschaftlichen Ver-hältnissen. Gemeinsam etwas zu ändern, sich zu wehren, war angesagt.

Die Teilnehmer der ersten Ostermärsche, die sich durch eine geringe Zahlmit großem Selbstbewußtsein auszeichneten, welche in der Selbsteinschät-zung der Teilnehmenden hoch-, und von der Polizei hinuntergerechnet wur-de, zogen zäh durch abgelegene Viertel, kannten mittlerweile so manche bisdahin unentdeckte Seitenstraße, wurden durch Industriegebiete geleitet,marschierten quer durchs Ruhrgebiet.

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Man konnte dabei auch auf die Idee kommen, daß Lieder die gleiche Funk-tion hatten wie Pfeifen im Keller. Wenn man dort alleine ist und Angst hat, suchtman durch Pfeifen den anderen, um sich selbst Mut zu machen.

Zu Recht gingen wir davon aus, daß Krieg möglich, ja wahrscheinlich,und doch verhinderbar sei. Hätte man eine der Komponenten ignoriert, hät-te man keine Protestbewegung benötigt.

Das »Marschieren« für eine gute Sache in einem Häuflein individueller An-timilitaristen enthielt auch einen Widerspruch. Um den abzumildern, demon-strierte die Gewerkschaftsjugend in der Remilitarisierungsbewegung der fünf-ziger Jahre mit dem Fahrrad.

Ungeeignet, sich allzu vertrauensvoll – was nicht ausschließt, daß jederseine eigenen Scheuklappen besaß – großen Hoffnungen hinzugeben, wardie Einsicht, daß man Lieder für die gemeinsame Begeisterung (Wir-Lieder)und solche, die mehr zum Nachdenken anregen, brauchte. Letztere warenDieters Spezialität. Sprachliche Stolpersteine, wenn die Gedanken sich allzusehr im vorgegebenen Flußbett bewegen.

1965 fragte der IG Metall Sekretär bei der SDS-Gruppe (SozialistischerDeutscher Studentenbund) nach, ob man bereit wäre, die Kinderbetreuungbei einer Veranstaltung »Samstags gehört Vati mir« mit Dieter Süverkrüp zuübernehmen. War man: Schließlich waren wir ja angehende Sozialarbeiter,Gewerkschaftsmitglieder; die meisten trotz Unvereinbarkeitsbeschluß nichtaus der SPD rausgeflogen. Zwar durfte die Gruppe nicht in der »HöherenFachschule der Arbeiterwohlfahrt« tagen, weil diese ja bekanntlich auf demgleichen Boden wie die SPD steht. Aber der evangelische Pfarrer stellte dar-aufhin den Gemeindesaal für die erste Vietnamveranstaltung zur Verfügung.Mit der IG Metall organisierte man eine Kundgebung gegen die Notstands-gesetze und auch wieder die Kinderbetreuung.

Wir verloren uns nicht aus den Augen, aber man mußte schon weit schau-en, um den anderen zu sehen. Die Schallplatten mit Kinderliedern wurde,neben der »Roten Zora« von Kurt Held, ein beliebtes Mitbringsel von Teil-nehmern nach Besuch eines Gewerkschaftslehrgangs, damit die Familie auchetwas von den Ideen mitbekommt, die man bewegt und die einen selbst be-wegen. Unvergessen die Veranstaltung »Lieder der 48er Revolution« mitdem aus Österreich vertriebenen israelischen Historiker Walter Grab.

Die Idee, ein Buch über und mit Dieter Süverkrüp zu machen, entstandlangsam. Öfter suchte ich Texte eines Süverkrüpliedes, und obwohl ich bücher-mäßig nicht schlecht sortiert bin, glich die Suche meist einem Lotteriespiel mitZufallstreffer. Ganz offensichtlich wurde die »Buchlücke« bei der Zusammen-stellung des Textbuches über Gerd Semmer, Süverkrüps frühen Weggefährten.

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Meine Idee zündete mehr bei den Leuten, denen ich meine Idee erzählte,weniger bei demjenigem, über den und mit dem ich dieses Buch machenwollte. »Wen interessiert das denn heute noch, das ist nur für den Tag ge-schrieben, so würde ich das heute nicht mehr machen«, sagte er.

Zugegeben, das war alles in allem nicht gerade motivierend. Zur Struktu-rierung der eigenen Gedanken schrieb Dieter seine Bedenken auf – Urlaubs-lektüre für Udo. Dem wurden die Bedenken zum Trotzdem. Wer würdenicht, zumal in Zeiten schneller Veränderungen, Texte anders machen! Ge-sellschaftliche Umbrüche hinterlassen ihre Spuren in den einzelnen Biogra-phien. Was hat Bestand, kann bleiben? Was ist jedoch, obwohl es weder vorJahren noch heute dem Zeitgeist entspricht, hochaktuell – was ist heute ge-nauso falsch, undurchdacht wie damals, als manchmal Hoffnung und Idealden Realitätssinn über Gebühr beeinträchtigten?

Einen Brief von Dieter zu einem 1.-Mai-Buch von mir hatte ich im Ge-dächtnis. Damals schrieb er, daß man so ein Buch gerne quer ins Bücherregallegt. Man stößt immer wieder auf anregende Einzelheiten und bekommtLust, sich mit dem Thema und der Zeit auseinanderzusetzen.

Genau so dachte ich mir das Grundprinzip. Ein Porträt und sein Umfeld.Die Person mit all ihren Facetten, das Politisch-Öffentliche neben dem Sub-jektiv-Privaten; die vielfältigen Arbeiten in ganz unterschiedlichen Genres:Lieder, Texte, Stücke, Comic Strips, Zeichnungen, Poster, Malereien; danebenpersönliche »Erinnerungsstücke«, Fotografien, kleine Anekdoten und solcheDinge.

Süverkrüp: »In deinem großen Buch über die Geschichte des Ersten Maiklappt das hervorragend. Da geht es um ein riesiges Thema, um eine langeinternationale Tradition, eine epochale Sache; Millionen und Abermillionenvon Menschen waren und sind daran beteiligt. Das hat so viele Aspekte, da-zu gibt es soviel an Details; da ist jede Kleinigkeit aufschlußreich, es kann garnicht genug davon geben. – Aber bei unserem Buch geht es um ein Einzel-männchen mit bißchen was drumrum. Dafür ist dieses Prinzip zu gewaltig.«

Na ja, so ganz sah ich das nicht ein. Bald jedoch stellte sich heraus, wiewenig brauchbares Privatmaterial es tatsächlich gibt.

Nun hatten wir also ein Buch entworfen, wenn auch nicht über den kom-pletten Süverkrüp, so doch über das, womit er an die Öffentlichkeit getretenwar, also über sein politisch-musikalisches Opus. Aber leider war der bilden-de Künstler dabei unter den Tisch gefallen. Wenn ich an die vielen Blätter den-ke, die er entworfen hat für Projekte, an denen ich mitbeteiligt war, oder anseine Schallplattencovers, an die Posters, Buchillustrationen, Ruhrgebietsbil-der! Das kann doch nicht alles außen vor bleiben, wagte ich zu behaupten.

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Süverkrüps Einwand: »Nur weil ich das auch gemacht habe, muß es nichtgleich ins Buch! Ganz weniges davon hat eine direkte Beziehung zu den Tex-ten.« Er schaute im Zimmer herum: »Wie wäre es denn mit ein paar von denRadierungen und Stichen, die hier hängen? Darin habe ich meine Arbeit fort-gesetzt, nachdem ich mit der Singerei Schluß gemacht hatte. Auf den erstenBlick hat das eine mit dem andern nichts zu tun, aber in Wirklichkeit reflek-tiert es dieselben Phänomene, dieselbe Gesellschaft, wenn auch unter einemganz anderen Blickwinkel und mit anderen artistischen Mitteln. Das und dieLieder sind kompatibel, wie man in der Logik sagt. Es müßte sogar interes-sant sein, sie einmal zusammenzubringen.«

An dieser Stelle bemühte ich mich, ein recht ernstes Gesicht zu machen,denn ich wollte meine heimliche Freude nicht zeigen. Langsam bekam dergemeinsame Entwurf doch noch Ähnlichkeit mit meiner anfänglichen Vor-stellung.

Aber jetzt stellte die aktuelle Technik ihre ganz speziellen Fallen. Vonsämtlichen Texten gab es nur Typoskripte, von einigen sogar nur Hand-schriften, die erst in Typoskripte verwandelt werden mußten. Diese Art derTextverarbeitung gilt, wie jedermann weiß, als inzwischen veraltet. Mankann es ganz liebenswert finden, daß es so etwas überhaupt noch gibt. Dasdann aber in einen Computer zu kriegen, erfordert einige Geduld! Tagelanghabe ich gescannt und gescannt, als müßte ich einen ganzen Kinderhort miteinem einzigen kleinen Löffel füttern.

Denn wie bei einem Kindermäulchen gelegentlich ein wenig Brei dane-benschlabbert, geht es auch bei Computerchen. Anschließend ergibt sich dieAufgabe zu korrigieren, und die ist mit feuchtem Waschlappen nicht zu lö-sen. – Wenn zudem der Autor sich ständig etwas außerhalb der orthographi-schen Konventionen bewegt, fängt Computerchen gelegentlich an zuspucken. Und das, sagte ich mir, soll dann gefälligst der Autor selbst ins rei-ne bringen.

Es war übrigens erstaunlich leicht, ihn dazu zu bewegen. Ihm genügte,daß er einen transportablen Computer ins Haus bekommen wird, und daßich die nötigen Instruktionen liefere. Ein solches Gerät ist für ihn ausgespro-chen neu, und den Umgang damit muß er Schritt für Schritt erlernen. Dabeiwerde ich ihm helfend zu Seite sitzen. Danach wird meine Arbeit an diesemBuche getan sein, und ich kann schließen mit den Worten: Soweit der Her-ausgeber.

Udo Achten

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A n dieser Stelle beschließe ich, Dieter Süverkrüp, ein Selbstgespräch zuführen, und beginne mit den Worten: »Denk einfach mal an die elek-

trische Uhr in unserer Küche. Seit Jahren hängt sie an der Wand, verrichtetgeduldig ihre eintönige Arbeit, tickt aber immer freundlich, als hätte sienichts anderes im Sinn, als eine gleichnishafte Zeitbombe zu sein. Dann,plötzlich und unerwartet, schaltet sie um auf Handbetrieb und läßt sich zunichts anderem mehr bewegen. Auch nicht vom Uhrmacher.

Sic praeterit irreparabile tempus. – Was kannst du tun? Verschrotten? Sohübsch, wie sie noch aussieht? Oder Flohmarkt? Ach nee, da hat sie keineChance mehr! – Also Sperrmüll; wie tragisch es auch klingt. Da landet so vie-les, das nicht mehr heimgeführt werden kann in die vertraute Hackordnungvon Angebot und Nachfrage. Zwischen lauter Gegenständen gleichenSchicksals liegt sie dann, und die Zeit verrinnt, auch ohne ihr Zutun, bisschließlich ...

Aber jetzt mal angenommen, ganz zufällig, kommt in geschmackvollemPlunder-Look, eine Ausstattungskünstlerin vorbei, Schwerpunkt Fernsehde-koration. Sie erblickt die Uhr und stutzt. Genau das sucht sie seit Wochen fürdie Wohnküchenserie Unter unserem Tisch. Sie prüft den Fund und jubelt:Kaputt ist sie auch schon! – Oder angenommen, jemand sucht für den Tachoseiner privaten Weltraumstation ein originelles Zifferblatt. – Oder ein ver-späteter Entdecker der Langsamkeit findet hier endlich eine Uhr, die garan-tiert nicht vorgehen kann ... Auch andere potentielle Finder sind denkbar. Obsie kommen werden, weiß niemand. Ausgeschlossen werden kann esgrundsätzlich nicht.

Wird dir dabei nicht warm ums Herz? Ist Sperrmüll denn nicht auch eineWeise der Veröffentlichung? Und von allen die uneigennützigste? – Stell dirvor, du könntest die wundersame, ergreifende Neubegegnung von Angebotund Nachfrage gar miterleben, ganz diskret, am Fenster deines Zimmers sit-zend wie vor einem TV-Gerät! Ja, würdest du nicht gerne ...«

Es klingelt an der Wohnungstür. Aus der Gegensprechanlage ertönt ver-nehmlich das Wort: »Uudo!« Damit ist gesagt, was gesagt werden muß. Udokommt hoch, schleppt eine schwarze, konspirativ gefaltete Aktentasche her-auf. Ihr enthebt er, mit Geburtshelfer-Geschicklichkeit, das schwarze vier-eckige Kistchen, dessen Deckel aufgeklappt werden kann und eine Art Fern-seher enthält, freilich noch viel platter.

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»Und so« – sagt Udo – »funktioniert das Ding. Erst mal, wie es angeht ...hier drauf drücken ... warten, bis das Zeichen erscheint ... siehste, da obenlinks? ... dann in der oberen Leiste ... nein ... ganz oben, da wo die vielenSymbole stehn, die brauchste alle nicht ... nur das eine, das zweite von links... da ist son kleines Buch drauf, wenn du genau hinsiehst ... siehste ... so,darauf gehst du mit der Maus ... nein, mit dem kleinen Zeiger ... da siehstedas kleine Pfeilchen ... kuckmaa, kann man soooo bewegen ... und jetzt mitdiesem ... kuckma ... soooooo ... auf das Symbol und dann ... doppelterMausklick ... siehste ... jetzt warten ... dafür ist die Sanduhr da ... och, daslernste alles ... ich hab damals son Grundkurs gemacht ... kannste aber auchalleine ... da, jetzt ist das Programm aufgemacht ... sind alle Texte drin. Mitdiesen beiden Tasten kannst du blättern, vor und zurück. Und nun mußt dualles genau prüfen, Zeilenfall, Orthographie und so weiter. Du hast deineLieder am besten im Kopf. Und ich habe im Kopf einen Termin. Ich muß so-fort los! Später rufe ich dich an. Bis dahin kommst du ja ohne mich klar,oder?« – »Aber klar! Tschüß!«

Dann bin ich alleine mit diesem Läpptopf! – Reglos steht er vor mir undpräsentiert seine flimmerfreie Weltsicht. Sowie einen Text. Schon in der er-sten Zeile kleinere Fehlerbeträge: »Ind esinen Tag dinn rseNchkao mmen zurspatnhällsti Zeitnpe«.

Na, dann wolln wir mal sehn, was wir gelernt haben? Tipptipp, maus-maus, so ... und jetzt ganz oben links, klickklick ... Es ändert sich nicht viel.Nochmal dasselbe! Es ändert sich nicht viel. Muß aber doch gehn, verdammt... mausmaus klickklick ...

Die Zeile steht wie gemeißelt. Man sollte sie so stehen lassen, zur Strafe.Gibt es nicht noch andere Knöpfchen auf dieser Tastatur? Tipptipp. Und an-dere Symbole auf dem Fernseher? Das beispielsweise sieht doch gut aus, ir-gendwie aufmunternd! Probieren geht über Zack! Nun ist alles dunkel.Stromsperre. Also wieder von vorne. Tipptipp, klickklick, mausmaus. Gehtaber nicht. Langsam und geduldig, wie die großen Prozesse in der Evoluti-on, baut sich ein Wutanfall auf. Dann folgt der dialektische Sprung: ich brül-le los, packe den Läpptopf mit beiden Händen, hebe ihn drohend hoch, wieGeorg Friedrich Händel es mit ungebärdigen Sängerinnen gemacht habensoll. – »Du kannst wählen! Fenster oder Papierkorb!!!« –

»Seien Sie bitte nicht albern!« – sagt der Läpptopf milde. »Ich enthalte jaauch ein ganz spezielles Programm für Vollidioten. Stellen Sie mich wiederhin. Dann wird sich alles regeln.«

Auf dem Bildschirm ist jetzt das Gesicht eines Mann zu sehn. Er kommtmir bekannt vor.

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»Kennen wir uns?« – frage ich ihn.»Wer kennt sich schon!« – Er lächelt höflich.»Wir haben uns doch schon mal irgendwo gesehen.«»Unmöglich. Ich bin mein Zwillingsbruder. Und der ist verschollen!!!«Er lächelt immer noch, fast freundschaftlich, deutlich antwortbereit.Also frage ich: »Was machen Sie beruflich?«»Ich habe ein Syndrom.«»Benzin oder Diesel?«»Neinnein, ich lebe in Symboliose.«Wir plaudern noch eine Weile. Dann erklärt er mir: Vergessen Sie jetzt Ta-

statur und Maus! Bei diesem Programm kommt es einzig auf die Kraft IhrerGedanken an. Mit Hilfe Ihrer Gedanken werden Sie alles steuern können. Siebleiben ganz einfach vor diesem Gerät sitzen, und gleichzeitig können Siesich hier drinnen völlig frei bewegen; Sie können hier spazierengehn, könnensich umsehn, alles ist möglich: »Anfassen, Umräumen, Durcheinanderwer-fen. Wie im richtigen Leben.«

»Und wie soll ich hineinkommen? Digital, oder wie?«»Nehmen Sie das hier«, sagt er und reicht mir ein grüngefülltes Schnaps-

glas. »Es ist eine Einstiegsdroge«.Ich kippe das Zeug hinunter. Es schmeckt gar nicht so schlecht. Im selben

Moment ist der Mann verschwunden. Der Bildschirm zeigt einen großenspeicherartigen Raum, angefüllt mit lauter eigentümlichen Gebilden, dienicht recht zu identifizieren sind. Das Ganze sieht aber ziemlich lustig ausund etwas abenteuerlich, recht wohl geeignet, ein Kinderherz zu erfreuen,mindestens das meine ... und das wäre ja schon mal eines.

Was es da aber auch alles gibt!! – Paarreime, in strengen viereckigen Mu-stern geordnet, daneben achtlos hingeworfene Haufenreime und Bruchzei-len, riesige Papierstapel, obenauf erobern die Flächen den Raum: Eng be-schriebene Blätter haben sich hochgebogen und miteinander zu abstraktenPlastiken formiert, nicht weit davon puppenstubengroße Häuser mit winzi-gen Figürchen drin, Menschen Tieren, ebensolche Fabriken, manche schonRuinen, verfallene Werkshallen, aber auch blitzsaubere Hochhäuser undweitgeschwungene Brückenkonstruktionen, weiter hinten ein sehr großesAquarium, angefüllt mit einer Vorstadtlandschaft und einem lehmigen Bag-gersee, überall, im ganzen Raum verteilt, Statuetten, menschliche Figurinen,in der Bewegung erstarrt, und doch wie lebendig, die meisten recht klein, esgibt auch größere und überlebensgroße, die meisten sind sorgsam in Zeitun-gen verpackt, mit Planen und langen beschrifteten Tüchern zugedeckt, dieKörperformen lassen sich trotzdem erkennen, hier und da ragt ein heroischer

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Arm heraus oder ein zartes Frauengesicht, ein Pferdefuß, eine Marmormüt-ze, so muß es aussehn, wenn Skulpturensammlungen auf Reisen gehn sollen,und die Koffer sind noch nicht da.

Die ganze Szene liegt im Halbdunkel, aber wenn ich irgend etwas näherbetrachten will, wird es wie von selbst hell beleuchtet, erscheint größer undschärfer in seiner Gestalt, Texte sind plötzlich lesbar, als wäre alles ein Traum,dabei ist es Realität, virtuelle freilich nur, wenn ich in meinen Arm kneife, tutmir die Ferse weh, sonst klappt alles zuverlässig.

Wie rätselhaft jedoch diese Objekte ringsum auch sein mögen, sobald ichauf eines von ihnen nur eine Sekunde lang gestarrt habe, weiß ich prompt,welches Opus sich in ihm verbirgt, dadurch gewinne ich bald einenÜberblick, und warte nun eigentlich nur noch darauf, daß endlich ein Su-chender kommt, bislang bin ich mutterseelenallein ... aber wenn jemandkommt ... ich werde natürlich alles dem Zufall überlassen ... nur ein bißchennachhelfen, um gewisse Schnäppchenerlebnisse zu vermitteln ... um Aha-Er-werbungen möglich zu machen ... in jedem Fall wird es nicht schaden, wennich einigermaßen gut vorbereitet bin ... was würde ich denn sagen in sol-chem Augenblick ... selbstverständlich nicht ungefragt ... nur wenn mich je-mand anspricht ... jetzt mal rein übungshalber ... hier vornean gleich bei demRiesenapparat würde ich, wie gesagt, nur wenn ich gefragt werde, würde ichsagen: »Wissen Sie, es fehlen leider einige wichtige Hinweise, ich habe michschon umgesehen, wenn ich Ihnen helfen soll – gerne! Sie müssen von alle-dem nichts zur Kenntnis nehmen, sehen ja nicht aus, als wären Sie auf Ge-brauchsvorschriften erpicht. Darum geht es mir auch gar nicht; es ist mehrdie Liebe zum Detail, zu den Kleinigkeiten ...«

Und wenn es mir bis dahin gelungen sein sollte, erste Anflüge von Inter-esse oder gar Neugier zu verursachen, wenn ich mindestens noch nicht un-terbrochen worden wäre, könnte ich weitermachen: »Sehn Sie mal, der klei-ne Hallstein hier, er war früher mal Staatssekretär. Wenn Sie ihn ganz dichtan’s Ohr halten, können Sie hören, was er sagt: Wer mit der DDR diploma-tisch anbändelt, kommt bei uns auf Liebesentzug! Das war damals die Hall-steindoktrin. Hat lange funktioniert. Kennt heute niemand mehr, wird nichtmehr gebraucht. Aber wer weiß, womöglich können Sie ja ... vielleicht daßSie sich privat was draus basteln ... oder geschäftlich ... oder edukativ...Oder hier: Spiegelaffäre, das war, warten Sie mal ... im Spiegel hatte wasüber faule Rüstungsgeschäfte gestanden, Verteidigungsminister Strauß ließdaraufhin den Herausgeber Augstein einbuchten, Grund: Landesverrat.Adenauer sagte sogar: Ein Abgrund von Landesverrat. Weil aber ein Ab-grund nicht so triftig ist wie ein echter Grund, ging die Affäre schnell zu En-

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de. Oder hier: Kubakrise. Da hätte es beinahe atomaren Weltkrieg gegeben,aber echt, knallhart. Doch ehe es soweit kam, hatte sich der Verteidigungs-minister vor Begeisterung, aus Angst, zur Vorsicht, wer weiß das, wer kannihn heute noch befragen, schon besoffen. Wie sagt der bayrische Volksmund?›Bierkriag san besser wie Weltkriag!‹ Oder hier: Notstandsgesetze. Darüberliegt weiter hinten noch einiges herum ...Und das Ritterkreuz hing damalsan der Dritten Kraft, bzw. an der FDP, bzw. an deren Vorsitzendem, bzw. andessen Hals ...Nun denn! Das Prosa-Lyrik Aggregat, das Sie vor sich haben,entstand für den Westdeutschen Rundfunk und die Ruhrfestspiele. Ein typi-sches Auftragswerk, fand ich damals.« (Spätestens an dieser Stelle hätte ichmich dann allerdings decouvriert.) »Aber bei der Aufführung ... die jungenGewerkschafter im Saal haben alles prima geschnallt, in bester Häme, viel-leicht weil ich noch viel jünger war und entsprechend aktueller, selbst derWDR-Programmdirektor soll sich beim Abhören der Aufnahme gut amüsierthaben, ehe er festlegte, was vor der Sendung alles herausgeschnitten werdenmüsse. – Also, wenn Sie Lust haben, schneiden Sie sich auch was raus.«

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Fröhlich ißt du Wiener Schnitzel (1965)

In diesen Tagen, die unsere Nachkommen zur »späten Hallsteinzeit« rechnenwerden oder zum »Militärziär« lebt ein Mann mit Namen, na, sagen wir Her-bert Michel, unter vielen anderen (Hochparterre, Abitur, verheiratet, schonlänger, zwei Kinder, auch schon länger, technischer Kaufmann, Pykniker, so-gar sehr, NSDAP-Mitläufer, Kriegteilnehmer, gegen Ende, Stirnnarbe rechts,Opel Kadett, Bild- Zeitung, manchmal Spiegel, Anbau-Möbel, Anbau-Ideo-logie, Eichhörnchenvorrat, komplette Camping-Ausrüstung, man kann ja niewissen, wahlberechtigt). Er schläft ... denn es ist mitten in der Nacht (in derHallsteinzeit, im Militärziär). Weckt mir Herrn Michel nicht! Singt ihm einSchlaflied, vielleicht wacht er auf ...

Fröhlich ißt du Wiener Schnitzelmit Salat und mit Pommes frites,der Kellner stellt im Nebenraumden Fernsehkasten an.Der Mann mit der korrekten Stimmeund dem dreigeteilten Deutschlandhinterm Rücken spricht so unbeirrbar,wie er kann.Er sagt, es seien alle Schritteunternommen und es geberein statistisch erhebliche Chancen.Du bestellst ein Bier, der Kellnergeht ganz ruhigzur Theke hin undmacht der Wirtin versteckte Avancen.Der Mann mit der korrekten Stimmesagt, daß der Minister sagt, einjeder solle angesichts derLage alles tun,die Ruhe aufrecht zu erhalten.Und du siehst den Sprecher, der sichnicht wie sonst beherrscht und blicktwie ein verstörtes Huhn.Und dir schwant, daß da was im Busch ist,doch du siehst, daß sonst alles kusch ist.

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Du bezahlst, der Kellner wischt denTisch ab, und du gehst zur Drehtür.Du betrittst die Außenwelt miteinem Kloß im Bauch.

An den dünnen Fernsehantennenklebt wie vergessener Birnensaftdie Verteidigungsbereitschaft.Und am Himmel ist noch nichts zu erkennen.

Doch jetzt fängst du an zu rennendurch die eigentümlich leerenStraßen. In den Hauseingängensiehst du Polizeimit scheu verhaltenen Gewehren.Große Autos voll Soldatenstehen auf dem nassen Marktplatz,du gehst schnell vorbei.Zu Hause deine Frau empfängt dichmit so einem scheuen Lachen;und die Kinder essen Karotten.Und sie sagt: »Wir müssen etwasunternehmen«, und dann sagst du:»Pack auf jeden Fall die Klamotten«.Und der Fernehkasten dröhnt, derMann sagt milder jetzt, daß die un-mittelbare Kriegsgefahr mitnuklearem Schlagvorbei sei, aber dennoch sei dieLage unvermindert ernst undin zwei Wochen tage in Ber-lin der Bundestag.Und die neuen Gesetze zur Lageseien gültig mit heutigem Tage;notstandrechtlich werde jeder-mann verfolgt und inhaftiert, dersich den Weisungen derPolizei entgegenstellt.

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An den dünnen Fernsehantennenklebt wie vergessener Birnensaftdie Verteidigungsbereitschaft.Und am Himmel ist noch nichts zu erkennen.

Morgens bellt der Reise-Weckerdich aus deinen grauen Träumen;du ißt Frühstück, setzt den Hut aufund gehst zum Betrieb.Vor dem Stahlwerk, das an deinemWeg liegt, siehst du viele Männer,eine Kompanie rückt an, dieblindlings Feuer gibt.Du entfliehst in einen Hausein-gang, und dir wird schwarz vor Augen.Später hast du am Kopf eine Beule.Wenn du im Gefängnis aufwachst,siehst du an den welken WändenStahlnagelspuren der Langeweile.Du kriegst Zigaretten und dukannst dir Essen kommen lassen.Später kommst du vor den Unter-suchungsrichter hin.Du stehst im Verdacht, daß du aneinem Streik beteiligt bist, dernicht erlaubt war, und deswegensitzt du jetzt hier drin.Aber dann darfst du wieder gehen,allerdings nicht ganz unbesehen.Täglich auf die Polizeidienst-stelle mußt du in den nächstenWochen und beweisen, daß dunicht geflohen bist.Deine Frau erzählt dir abends,daß der neue Untermietervon Frau Jordan bei dem Streik er-schossen worden ist.Und die neuen Gesetze zur Lagebleiben gültig noch viele, viele Tage.

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Und du gehst an’s Küchenfenster, fragst dich,wie das Wochenende werden wird.An dieser Stelle bricht der Angsttraum ab.

An den dünnen Fernsehantennenklebt wie vergessener Birnensaftdie Verteidigungsbereitschaft.Und am Himmel ist noch nichts zu erkennen.

»Ja, so schlimm wird’s ja wohl nicht werden«, sagt der eingangs erwähnteHerr Michel, dreht sich etwas nach links (nur ganz wenig) und schläft wei-ter. Vielleicht erwartet er eine Zugabe. Frühstücke wie ein König; morgenwirst du füsiliert ... Doch siehe, das mit dem Zugeben ist nicht nach seinemGeschmack. Vielmehr fragt er etwas unwirsch: »Wer sind Sie eigentlich?«Aber, Herr Michel, das tut doch nichts zur Sache. Das steht so im Text. Sie ste-hen auch im Text. Wußten Sie nicht? Sie stehn in vielen Texten, manchmalfreilich nur zwischen den Zeilen – zum Beispiel in diesem Grundgesetz da,das bald waffenscheinpflichtig werden soll. Sie müssen jetzt aufstehen, heu-te ist Wahlsonntag! Alle Sonntagswähler stehen jetzt auf.

Da huscht er aus seinen frischgewaschenen Bettbezügen, wäscht sich mitder Hautaktiefenreinigenden, so glanzklar und bekömmlich, auch in der Pro-blemzone (na, die haben ja sowas nicht da drüben, denkt er, die Brüder ...).Danach die aktuelle Elektrovollrasur (Herr Ohnesichel). Fortsetzung: Mankann seinen Charakter so lassen ... festbinden ... oder einfach mit Kitt frisie-ren. Und jetzt: Der Schlips macht aus einem Untertanen einen angenehmenUntertanen. Herr Michel ist kein Muffel, kein Konsummuffel und kein Ver-teidigungsmuffel, alles hat seinen Preis, das hat er kapiert.

Frau Michel wirkt schon in der Küche, schmiert Gesundheit aufs Brot,kocht ein Ei für Pappi, damit’s ein Prachtkerl wird. Die Kinder sitzen amTisch. Der Vater tritt ein im neuen Anzug aus ›Konformtreu‹. »Eine vorteil-hafte Erscheinung«, denkt Frau Michel: »Mister Frauengoldfinger, ein Aus-Bond an Männlichkeit, etwas gesäßlastig allerdings«. Er nimmt Platz, greiftnach der Kaffeetasse, trinkt und spuckt wütend aus. Davor hat er schon im-mer Angst gehabt, sich den Mund zu verbrennen. Also nimmt er die Bildzei-tung von gestern. Große Überschrift: »War der Gotteslästerer in der Herz-Je-su-Kirche geistesgestört?« In den frühen Morgenstunden wurde in dem al-tehrwürdigen Gotteshaus ein 25jähriger Mann festgenommen. Er stand mittransportablem Bandgerät vor dem Altarbild, hielt dem Gekreuzigten dasMikrophon vor den Mund und fragte unablässig: »Was halten Sie von der

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Todesstrafe? Was halten Sie von der Todesstrafe?« Dabei sprach er so laut,daß er den Gottesdienst empfindlich störte. Die sofort herbeigerufene Polizei... Fortsetzung Seite 4 ... Tolles Lederangebot, Niedrigpreise, chic, sportlich,fesch ... Sei flott, spiel Gitarre ... Muskeln! Schnellkursus! ... Neu! Hypnoti-sieren! ... Radikal enthaart ... führte ihn ab und vernahm ihn auf der Wache.Er machte einen wohlerzogenen und gebildeten Eindruck. Aber er versuch-te wiederholt und heftig, mit den Vernehmungsbeamten zu diskutieren.Deswegen soll er zunächst auf seinen Geisteszustand untersucht werden!«

Herr Michel schüttelt den Kopf, dazu hat er ihn ja. Seine Frau pellt ihmdas Frühstücksei, dazu hat er sie ja. Anschließend entdecken sie zusammenden neuen Tabakgeschmack: Verdruß im Stil der neuen Zeit. Sind sie ein ge-selliger Typ, Herr Michel? Kennen Sie den Extraherben? »Ein Amerikanertrifft im Busch einen Vietcong. Er macht einen neuen Strich auf seineMaschinenpistole.« »Der ist aber wirklich ... also nein«, sagt Frau Michelkeusch, doch mit Sachverstand, »es wäre vielleicht am besten, Herbert, dugingst jetzt gleich wählen, du weißt, nachmittags kommen Schrautenmeiers,die sind immer pünktlich – ich wollte ja in dieser Saison eigentlich auch malmitgehen, aber ich muß den Tortenboden noch fertigmachen. Bring mir doch200 Gramm Schlagsahne mit und sieh zu, daß du um Viertel nach eins wie-der da bist.« Herr Michel nimmt den Hut. Die Kinder spielen Kaufladen, undum 12 Uhr dürfen sie dann den »Internationalen Frühschoppen« sehen.

An der Ecke Sternstraße-Breitestraße stehen riesenhafte Plakatwände. Derneue Slogan: »Hmm! – SPD!« Rechts daneben die Deutsche Reichspartei:»Auch einer?« Und vor der Kirche: »Der Dunst der Christlich DemokratischenUnterwelt«.

Hier wird Herr Michel getroffen, von seinem Abteilungsleiter. »Na, schongewählt? Oder müssen Sie noch? ... Da könnten wir ja zusammen ... kurzeStrecke gehe ich ganz gerne mal zu Fuß ... Na, was wählt man denn so? Ha-haha! Übrigens dem Schmelter von zwo A geht’s gar nicht gut. Seine Fraurief mich gestern an, schwere Herzgeschichte, liegt immer noch, versteh ichnicht, war sonst einer von den dynamischsten!« – Es folgt ein längerer sozialengagierter Monolog, der in der Wahlhalla halblaut verendet. »Also, dannbis morgen ...«

Es ist der Vettern alter Brauch: Nach jeder Wahl ein Gläschen. In einemAnfall von Demosynkrasie, geht Herr Michel nicht (wie sonst) ins Restau-rant, sondern in die Bierschwemme. Hier ist er wieder, der Duft der Filterzi-garetten, vermischt mit Bier, Dornkaat, Schweiß, Für Herren, Twist und soweiter. Wenn laute Reden sie begleiten, dann trinkt er einen Klaren und einExport.

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Er versucht ein Gespräch, aber der Mann neben ihm ist so nüchtern wieein ehemaliger Verteidigungsminister auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise,und der hinter dem Tresen hat keine Zeit. Er versucht etwas mitzuhören vomNebentisch, versteht nicht. »Ober, nochmal dasselbe!« Jetzt versteht er schonbesser, jedenfalls das Lied aus der Music-Box:

Fibag-Fibacke Kuchen,den Täter müßt ihr suchen.

Im Fallex eines Fallesverwischt sich wirklich alles.

Ein jeder wird dem Staat als Brautnotstandesamtlich angetraut.

Gaskammerdiener kommt ins Lochfür ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs Woch!

Er denkt, er versteht doch nicht recht, aber es gefällt ihm schon fast. »Ober,nochma dasselbe ...!« Sein jährlicher Pro-Kopf-Verbrauch liegt bei 152,3 Li-tern Bier und 93,1 Schnäpsen. Davon genehmigt er sich heute insgesamt 1,2Liter und 6 Kurze. Das löst die Zunge und alles, was darunter ist. *

»Also, Straußenei... Ober... also straußeneigentlich arbeitet der doch ent-schieden auf seine Wiedervereidigung hin, is ja immerhin drin, hm? DieSpiegelaffäre is inzwischen passé – die Alkoholspiegelaffäre war fürs Volkviel gravierender, aber damit hatterernichtszutun. Unn jetz hatter noch diePsychopathenschaft über diese Vertriebsalbläser ... quasi ... es muß doch ir-gendwie zu schaffen sein. Natürlich, er ist etwas außerhalb der deutschenParlamentalität, aber andererseits ... ich finde, der Mann hat was: er blickt somenschlich. Da is natürlich noch der Kompromister Germany, Konjunktou-ristenklasse, per Mittelmaßhalter. Erhebt sich die immer wieder alte Frage:wird Er hardt reagieren? Natürlich, Kapitalismußsein – aber recht hatterandererseits; wir werden uns alle noch unser eigenes Grab scheffeln, wir

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* An diesem Punkt könnte ich, falls jemand sich bis hierhin vorgearbeitet hätte, empfehlen: blät-tern Sie getrost weiter, wenn Sie nicht wissen wollen, was Herr Michel in seinem nun folgendenbesoffenen Kopp so alles labern wird, blättern Sie weiter, bis wieder stocknüchterne Poesie be-ginnt, die Sie mühelos daran erkennen, daß plötzlich die Zeilenenden ausgefranst sind. Daskönnte ich sagen. Eine solche Empfehlung verstieße indessen gegen die allgemeine Sperrmüll-konvention, deshalb werde ich sie nicht aussprechen, außer vielleicht im alleräußersten Notfall,von dem ich freilich nicht im voraus sagen kann, wie er denn beschaffen sein müßte.

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werden das Polizeitliche segnen, Mensch, sowas hab ich doch heute nachtgeträumt, ich sollte vielleicht doch Kabarettist werden. Hihihi! die Leute ha-ben alle Bretter vorm Kopf, läßt sich nur abschaffen durch die Anschaffungder Todesstrafe (höhöhö) Ober, nee nur Bier ...«

Was das kostet, diese atomare Gleichgewichttigtuerei! Wenn Sie mich fragen,es gibt keinen Krieg. Vietnamentlich die Amerikannibalen sind eine ungeheureFriedensgarantie. Selbstverständlich entsteht eine gewisse Ami-mosität, wo dasVölkerrecht seine Ledernackenschläge kriegt. Aber man muß eben alles von zweiSeiten sehen. Ja, noch zwei! – Mensch, wir haben sogar drei Parteien, die Hall-steindoktrinität, wenn ich mal so sagen darf: neben der Regierungspartei diegroße Subalternative mit ihren Bessermachenschaften, aber ohne die rechte Wahl-traute. Längst vom strammen Marx abgekommen, bevorzugt heutzutage die we-sentlich süßere Weimarmelade. Programm hart auf Gemütlichkeit kalkuliert,»das beste Per Sie, das es je gab«. (Ich bin fast so gut wie der Spiegel, was?) Kon-sultiert vor jeder Wahl die Göttliche Opportuna und fragt nach jeder Affäre, obPosition bezogen werden muß, große Koalinientreue, Blick auf die Wozukunft,immer notstandesgemäß ... und dann das Zünglein, das dritte Rad an der Waa-ge: eine kleine, aber schwankende Partei. Vorneweg eine Ritterkreuzung aus inEhren ergrautem Brillanteenager. Stets adrett in Gesamt und Seide, singt bei Nie-dertrachtenfesten immer schön die erste Strophe mit. Wenn Se mich frag’n, ichbin auch gegen die Verlängerung, führt doch zu nichts, istjaauchegal. Die machenmit uns ja doch, was sie wollen; das war früher so, das ist heute so, ich weiß nicht,was ich wählen soll. Nein, danke, ich hab schon, aber nur als Christ, die bolsche-wissenschaftliche Gefahr ... Sie verstehen! Andererseits Fibag, Abhör, OnkelAlois, dasisseseben: politisch Lied, ein garstig Lied. Oberzahlen! Ich hab Familie,ich kann mich um den Quatsch nicht auch noch kümmern«.

Sprachs, ging etwas schwerfällig zum angetrauten Sonntags-Sauerbraten,hatte die Sahne vergessen, schlief seinen Rausch aus, diskutierte bis spät indie Nacht mit Herrn Schrautemeier über Fußball, und wenn er nicht gestor-ben ist, dann – Sie werden sich wundern – hat eine große christliche Parteiauch beim nächsten Mal in Herrn Michel einen sicheren Wähler.

Steter Tropfen höhlt den Meister,Millich trinkt der Christ.Ein Demokrat ist Michel nur,wenn er besoffen ist.Und kommt es auch von Zeit zu Zeitzu einem größern Knall –die Zeit vergeht. Die Zeit ist weit,

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da war es grad der Fall.Wer an den Sieg des Guten glaubt,an Rechtsstaat etc.,benutzt nicht mehr die Straßenbahn,er kauft einen VW.Der macht auch gern mal einen Witzüber die Macht im Staatund träumt von geistigem Besitzund ähnlichem Salat.Der Michel läßt das Duckmausen nicht.Schlechtes Gewissen ist die Macht.Die Macht im Staat hat sein Gesicht.Im heiligen Schoß ist Nacht.Und wie geht das jetzt weiter?

Guckt den großen Meinungsmachernendlich mal in ihre Töpfe!In der Zeitung, die da »Bild« heißt,schreiben nicht die besten Köpfe.Seht die Völker kämpfen gegenihre aufgeblasenen Hüter.Ach, die großen Herren fürchtennichts so sehr wie »ihre Brüder«.Seht Ihr ihre frommen Mienen?Hört Ihr irgendwo nicht Schüsse?Glaubt nicht den Gesellschaftskrämern,daß die Welt so bleiben müsse!In der Zeit, wo bunte Schiffefröhlich durch den Weltraum schwenken,laßt euch doch nicht den Spaß nehmen,mit dem eignen Kopf zu denken.

Soweit dieses Stück! Es ist, was seinen Umfang betrifft, durchaus beträcht-lich, aber auch die anderen, zum Teil deutlich alerteren, werden, daran

hege ich keinen Zweifel, gewisser erklärender Hinweise bedürfen, nicht dieStücke selbst, sondern diejenigen, die dereinst an ihnen Interesse finden sol-len, aber das sagt man so, drum sage ich es auch, dabei, wenn ich ehrlich bin,muß ich zugeben, daß ich mir in Wirklichkeit etwas ganz anderes sage:

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Ach, diese Dame mit dem geschmackvollen Drop-Out-Look, sage ich mir,wahrscheinlich kommt sie überhaupt nicht vorbei. Warum auch? Aber viel-leicht verschlägt es stattdessen einen alten Mann auf Rollschuhen hierheroder einen jungen Sportler mit Einkaufstüten oder eine Schulklasse oderganz einfach niemanden. Trotzdem sollte ich vorbereitet sein. Hier, vor die-ser Kleindichtung etwa müßte ich sagen:

Ein Mehrzwecklied, das, indem es sein eigentliches Thema verfehlt, ver-schiedenerlei Interpretationen ermöglicht: Abwiegelnder Geschichtspessi-mismus, Realismus ohne Hoffnungslicht, Psychologie einer Erwartungs-Diät, Beitrag zum Genre Problemschlager, Exempel multipler Bedeutungsin-differenz ...

Gezielt war das Ding auf die »Aktion Eichhörnchen«, eine Regierungs-initiative Anfang der Sechziger Jahre, derzufolge jede Familie sich mit einemLebensmittelvorrat versorgen sollte, für vier Wochen, und für den Fall einerpolitisch-militärischen Katastrophe, die bei der Wiedervereinigungspolitikoffenbar ernstlich mitkalkuliert war. Sonst hätte der Bundestag nicht jenenSicherheitsbunker bei Bonn bauen lassen, in welchen Abgeordnete und Re-gierung sich hätten retten können, hier endlich einmal eindeutig in Vertre-tung des Volkes, das sich übrigens von alledem nicht sonderlich aufregenließ – abgesehen von ein paar Intellektuellen und vereinzelten Satirikern.

Der Landesvorratsong (1964)

Da steht man an der Maschine,da sitzt man zum Beispiel im Büro,man denkt an seine Sabine,man ist nur verhältnismäßig froh.Da hat man Ärger zu Hause,da schlägt man zum Beispiel auf den Tisch,da wünscht man sich eine Pause,man fühlt sich wie ein gefangener Fisch.

Und man weiß nicht, daß das das große Glück ist,gegen das, was einem noch blüht,denn obwohl diese Welt noch weit zurück ist,ist sie unerhört manierlich,sozusagen sehr possierlichgegen das, was einem noch blüht.

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Da denkt man an seine Kinder,da denkt man zum Beispiel an den Knall,da denkt man, es ist gesünder,man tut etwas für den schlimmsten Fall,da geht man in seinen Keller,da schafft man sich einen Vorrat an,Mehl, Erbsen und Muskatellerund was man noch sonst gebrauchen kann.

Und da ahnt man, daß das ein schwacher Trost ist,gegen das, was einem noch blüht.Und man fürchtet, daß man schon längst verlost ist,und da sagt man sich ergeben:jetzt genieße ich das Leben!Denn wer weiß, was einem noch blüht.

Dann steht man an der Maschine,dann sitzt man zum Beispiel im Büro,man denkt an seine Sabine,man ist nur verhältnismäßig froh,eben nur verhältnismäßig froh.

Ich gehe ein bißchen herum in dieser vielgestaltigen Einöde, betrachte die Be-tondecke über mir, schaue über Kästen, Bündel, Pakete, Koffer und Stapel, wer-

de aufmerksam auf einen blendend weißen Pferdehuf, der mir vorhin schon auf-gefallen ist, er ragt hervor unter einer aufgewölbten grauen Plane, die wahr-scheinlich den Gesamtgaul zudeckt, zu was gehört er eigentlich? Sosehr ich das zuergründen versuche, sowenig wird es mir klar, das macht mich übellaunig, ab-sichtsvoll trete ich dem Zossen vor sein marmornes Schienbein, es zuckt unauffäl-lig und zieht sich vorsichtig zurück. Entschuldigung! Offenbar ein Gehgips. Mit al-ler Behutsamkeit hebe ich die Plane an, darunter liegt noch ein zweites Bein, sonstnur ein Haufen Glasscherben, und der abgerissene Pferdekopf, das Maul weit auf-gerissen, die Zähne halten eine Glühbirne fest, achso, jetzt weiß ich wieder:

Die Befreiung vom Faschismus, 1945, kam bei der Bevölkerung nicht durchweggut an, vor allem nicht, solange das »Wirtschaftswunder« noch nicht getan war. Da-nach lernten die meisten schnell: Demokratie ist, wenn man alles kaufen kann, so-gar Urlaubsreisen ins Ausland. Beliebt war Spanien, das zwar noch nicht vom Fa-schismus befreit war, wo man aber trotzdem alles kaufen konnte, als Tourist.

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Der Touristenflamenco, ein rheinisches Mundartstück (1962)

Also, wissen Sie, wie wir neulich in Spanien waren,nein, war das schön!Ja, mein’ Frau hatte mir schonjahrelang in die Ohren gelegen.Jetzt sind wir hin!

Im Anfang war ein ziemliches Gekrabbel im Autobus.Aber nach einem Tag,als ein paar Fahrgäste wegen der Strapazenausgefallen waren,gab es dann Luft.

Und wie wir an die Grenze gekommen sind:Zwei, drei Maschinengewehre standen da rum.Und so komische Terroreros!Naja, ich sage immer: andere Länder, andere Sitten.Kurze Paßkontrolle. Und dann waren wir drin.

Und dann Granada.Eine Hitze, kann ich Sie sagen. Und ein Gestank.Und so viele Bettler um den Autobus herumund an jede Straßenecke ...Also, mein Frau und ich,wir sind schon jahrelang in der SPD.Aber das war selbst uns zuviel!!!

Wir hatten so ‘nen Durstund da sind wir mal schnell mit Gebrüllein eine Destille, so eine Bodega y Gasset.Mein’ Frau will was essen.Ich sage zu ihr, wer weiß, wie das schmeckt, sag ich ...Laß es!Man soll ja im Ausland immer erst mal kucken,wie es den anderen schmeckt.

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Und da kamen Spanier mit Gitarren. Es heißt ja, der einfache Spanier nimmtseine Armut gar nicht so schwer, der ist trotzdem glücklich. Vielleicht weil eres gar nicht anders kennt. Ja, und da sollten wir auch was singen. Ja, was soll-ten wir singen? Hab’n wir gesungen »Fern bei Sedan« und »Die Fahne hoch«.An sich ist der Südländer ja sehr gastfreundlich. Gottseidank war gleich Mi-liz da mit diese komische Hüte. Die sehn ja alle aus wie Armin der Klerusker.

Und dann waren wir noch mal kurz an der Costa Brava. Da war was los!Ein Rummel! Fast nur Deutsche und Franzosen. Das ist ja nix für mich. Abereins muß ich anerkennen: Da gab es Bier! Wir haben ein nettes, also ganz rei-zendes Ehepaar aus Duisburg kennengelernt. Er ist Zahnarzt. Er sagte mir, esgibt zwei Sorten von Spanier: die Francophilen und die Francophilatelisten.Das kann ja sein. Aber ich kann mich doch nicht auch noch im Urlaub um diePolitik kümmern! Och, was der mir alles erzählt hat. Zum Beispiel Garotta.Kennen Sie das? Ich hab immer gedacht, das wär son älteres Musikstück.Nix! Das ist mehr sone Art Daumenschraube, aber für dem Hals – und für diePolitischen. Ist ja irgendwie unschön, so barbarisch. Aber andererseits istSpanien ja allgemein etwas zurück. Und das macht ja auch für unsereinemdie ganze Romantik aus. Ich möchte da nicht leben.

Aber im Urlaub ist Spanien ein sehr schönes Land.Und eines Abends saßen wir da am Strand,die Sonne war am Untergehn.Also, mein’ Frau findet das immer so besonders schön ...ich bin dadrin ja mehr Realist,ich finde, die Sonne war rot,fies rot!Aber gottseidank am Untergehn.

Doch am letzten Tag, weil in die Gegend grad eine Fiesta war,sag ich für mein’ Frau:»Ich geh erst noch zum Stierkampf hin, bevor ich fahr«.

Ein farbenprächtiges Bild, aber mir isses fast schlecht geworden! Diese herr-liche Tiere – und so grausam abgestochen. Also, ich denke mir das so: Wiewir uns in der verlängerten Vergangenheit ausgelassen haben, ich sage ha-ben, so läßt sich der Spanier heute noch aus, aber eben an die Stiere. Nu sa-gen Sie bloß, das System ist nicht human!

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Wie wir dann wieder nach Hause fahren wolltenund ich sitzen schon im Autobus,ja, was soll ich Sie sagen, stellen ich auf einmal fest:Mein Portemonnaie ist weg!Ich frag mein’ Frau. – Nix!Liegengelassen haben konnt ich es nicht.Blieb nur eins: geklaut.

Ich meine, ich bin inzwischen drüber weg; ich haben mir gesagt, Gelegenheitmacht Diebe und Geld allein macht ja auch nicht glücklich. Aber Sie könnenmir glauben, ich war sauer. Schwer sauer!

Und ich haben schon für mein’ Frau gesagt:Nächst’ Jahr fahren wir wieder im Sauerland! Olé !!!

H ier ist alles phonetisiert auf Normal-Deutsch, im Original und auf demTonträger klingt es rheinisch-kleinbürgerlich. Gerd Semmer hat mir

den Text wieder zugänglich gemacht, im Zug während der Rückfahrt ausFrankfurt am Main. Abends zuvor waren wir dort zusammen aufgetreten:Lieder aus der Französischen Revolution 1789-95 und unsere gemeinsam her-gestellten Chansons; Semmer kommentierte die Historie, las später eigeneProsa; ich sang. Eingeladen hatte uns der SDS, der damals noch mit der SPDverheiratet war. Nach der Vorstellung wurde in einem Keller gefeiert; es wim-melte von Soziologen und Adorno-Studenten. Zur Belebung der Diskussionmußte ich singen, das ganze Programm noch einmal. Als das zu Ende war, be-gann ich zu improvisieren, Jazz, Blues, Zeichentrickfilmgequatsche und, sogut ich konnte, Flamenco; zunächst instrumental, dann aus voller Kehle und,in Ermangelung eines spanischen Textes, im Tonfall deutschsprachiger Reise-berichte. Unauffällig, wenn auch nicht absichtslos hatten die Genossinne-nundgenossen mich zuvor einem schleichenden und lockernden Einfluß vonWhisky ausgesetzt, und da ich nicht zu Abend gegessen hatte, siehe oben ...

Aber wen interessiert das heute noch? Für die kommunikative Suggesti-onskraft, die Sperrmüll angeblich haben soll, interessiert sich ja auch keineSau, wie es scheint, jedenfalls habe ich bis jetzt noch niemanden hier gesehn,aber vielleicht ist das gar nichts Besonderes, vielleicht ist das immer so imComputer, vielleicht ist Keiner hier schon viel, Niemand schon Full House, weilsowieso alles nur virtuell geschieht, abstrakt, der Möglichkeit nach vorhan-den, aber sonst nicht, selbst wenn man mitten in einer sich selbst um-und-um-

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wühlenden Menschenmenge stünde, man würde es gar nicht bemerken, manbliebe völlig unbehelligt, könnte entspannt und völlig in sich gekehrt über dieentlegensten Dinge nachdenken, etwa eine falangistische Opus-Dei-Kircheim neugotischen Stil und ganz aus unzerbrechlichem Glas in der Form einerteuren goldverzierten Whiskyflasche, oder über die Weltgeschichte und ihreBeziehung zum Uniformknopf, oder ganz allgemein über die Lage jungerMenschen heutzutage und über unerkannt brachliegende Berufsaussichten:

General ist doch ein ordentlicher Beruf. Man gilt etwas, wird allenthalbenehrerbietig gegrüßt, kriegt ein gutes Gehalt, hat alle Chancen, einen Krieg un-versehrt zu überstehen, auch wenn er schief geht; und hinterher kann man dar-auf rechnen, in der Nachfolge-Armee seinen militärischen Karrierefaden wei-terspinnen zu dürfen. Das bewiesen die meisten deutschen Generäle nach 1945.

General ist wirklich ein attraktiver Beruf, nur: die meisten Menschen schei-nen das noch nicht bemerkt zu haben, sonst hätten sie sich wohl längst fürdiesen Beruf entschieden. Und wir hätten endlich eine echte Friedensarmee,in welcher es niemanden mehr gäbe, der den realen Krieg real realisierenkönnte. Nur noch Generäle. Das würde zwar die Personalkosten enorm in dieHöhe treiben, aber die noch viel höheren Materialkosten fielen dafür weg,und am Ende käme die Sache bedeutend billiger. Leider sehen das sowohlGroßbanken und Rüstungsindustrie als auch SPD und Bündnisgrüne ganzanders. Warum eigentlich? Das Lied hat übrigens nichts Nennenswertes zurallgemeinen Friedensentwicklung beigetragen, wenn man davon absieht, daßes bei unerwarteter Gelegenheit einen anwesenden General bewog, seinerEhefrau zuzuraunen: Komm, wir gehn jetzt! – Und sie gingen tatsächlich.

Der General (1961)

Was macht der General am Feierabend?Er grüßt seine Familie,er gibt einem jeden die Hand.Und er ißt etwas Petersilie,weil das so gesund ist,besonders, wenn man ein ganzes Bund ißt.Was macht der General, wenn er die Zeitung liest?Er träumt von einem anderen Land.

Was macht der General in der Nacht?Er liegt um elf unterm Daunenpfühl

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und er schläft seinen freundlichen Schlaf.Und er schätzt das allnächtliche Gefühl,das ein jeder im Leib hat,der zwei Kinder, Brot und ein Weib hat.Was macht der General, wenn er nicht schlafen kann?Er träumt von einem anderen Land.

Was macht der General am nächsten Morgen?Er grüßt seine Paraden,er gibt aber keinem die Hand.Denn das sind ja seine Kameraden,weil das so gesund ist,besonders, wenn man ein ganzes Bund ist.Was macht der General in trüber Morgenluft?Er spricht von einem feindlichen Land.

Was macht der General nach der Schlacht?Er grüßt die Hinterbliebenen,er gibt natürlich keinem die Hand:Er macht es mit etwas Geschriebenem,weil nichts anderes drin ist,und weil, was hin ist, hin ist.Was macht General, wenn er das unterschreibt?Er denkt an sein eigenes Kind.

Was macht der General nach dem Krieg?Er schreibt an seine Familieund er schreibt nicht über den Rand.Später kriegt er von der Frau den Begrüßungskuß,weil er wieder da ist,und weil er ja schließlich der Papa ist.Was macht der General, wenn er nach Hause kommt?Ja, dann ist er halt wieder im Land!

I ch habe mich zum Ausruhen niedergelassen und sitze nun auf einem mitOrden und Ehrenzeichen geschmückten Kotzbecken, einst hat es ihm für

seine Ansprachen als Gedankenstütze gedient, nun steht es hier, ein Gegen-stand des Gedenkens, zwischen anderem Belastungsmaterial, zur Seite ge-

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bracht, auf sich beruhend, wartend, wie in einer Ausstellung die Gegenstän-de warten, auch die Bilder, ich sehe da nämlich gerade so etwas, dessentwe-gen ich drauf komme: Neunzehnhundertdreiundsechzig gab es eine großeAusstellung der Künstlergruppe »Junge Realisten« in der DüsseldorferKunsthalle, und zwar in der alten. Das sag ich nur, weil weiter hinten dieneue Kunsthalle vorkommt. Die alte nämlich war im Zweiten Weltkrieg aus-gebrannt. Im Parterre allerdings konnte noch ausgestellt werden, solange dasBauwerk nicht abgerissen war.

Eine Kunstausstellung muß eröffnet werden, denn wenn sie zubleibenwürde, könnte niemand hinein und die Bilder blieben unbetrachtet. Um ebendas zu vermeiden, betreibt man eine solche Eröffnung gewöhnlich mit etwasAufwand; es gibt kostenlos Getränke, Reden und möglichst auch Musik. Indiesem Falle sollte ich singen. Gerne. Aber nach welchem Text?

Seit Beginn der Fünfziger Jahre galt realistisches Malen als ästhetisch eherminderwertig oder wenigstens als unzeitgemäß. Darum sorgte sich eine blü-tenreich schwadronierende Kunstkritik. In Mode hingegen war die Neuerer-fraktion. Und die malte abstrakt und fand offizielle Zuwendung. In den mei-sten Ausstellungen traf man ihre Werke und keine anderen sonst. Des öfterenschon war es mir vergönnt gewesen, Vernissagen der ungegenständlichen Artmitzuerleben. So kam ich auf die Idee, einfach darüber zu berichten, mög-lichst naturgetreu. Solches war mein Beitrag zum Realismus, an jenem Abend.

Wie man in Düsseldorf eine Kunstausstellung eröffnet (1963)

Wer Sorgen hat, hat auch Likör,wer Haare hat, muß zum Friseur,wer christlich denkt, ist auch gekämmt,noch wenn die ganze Welt verbrenntund alles, was da kreucht und tritt,mit.Beispielsweise:Gelbe Tulpen und Neurosen,Uniformen, Herbstzeitlosen,zarte Birken und Napalmen,Säufer an schwankenden Halmen,Elektronengehirne,die Nachbargestirne(jetzt auch in Dosen)

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nebst anderen Chosen.Cogito: ergo consum.Heimat, wie bist du so dumm!

Aber lassen wir Fleischsalat und Streusalkuchen weit hinter uns,werfen wir einen zeitgenießerischen Blick auf die Kunst,auf die ganz moderne!Neonbeleuchtung: wie Buttercremetorte.Rheinische Spätavantgarde.Stirnseite des Saales ein zentrales Werk,ganz in Zartweiß gehalten.Uni.Die Wirkung des reinen Lichtes.Ein erlesenes Publikum, bereit, sich dahinter führen zu lassen,ebenfalls uni. Aber nicht ganz. Wir leben ja nicht in der sogenannten ...Wir alle zahlen Freiheitsungskosten ... Sie verstehen ...Der Herr trägt in dieser Saison »Mercedes-Benzyniker«,»Wandaktionährstand«,die Dame gibt sich interessiert, aber nicht zu sehr;sie weiß, was andere nicht wissen:in jedem Fremdwort lauern Gefahren.Seriosität seriell.Das muß man einfach wissen! Verwechslungen mit»sehr reell« oder gar »Sellerie«sind erst ab 40% Marktanteil verzeihlich!Ein gegenstandsloser Intellektueller behält den Mantel an.Im Gesicht: Sektierischer Ernst, im Glas: Obstschaumwein.Aber sonst monomanierliches Betragen.Unvermittelt fragt er seine Nachbarin, Op-Art Pop-Art sei.Die Dame scheint verwirrt und errötet;übrigens eine ungemein zobelaussehende, schwer bestoladene Dame,ganz in Zartblond gehalten, uni.Der Künstler ist noch nicht erschienen.Der immense Auftragsbestand! Die gesellschaftlichen Verpflichtungen!An besonders harten Tagen läßt er einen streichen,einen Lohn-Schüler. Das Engagement in der Kunst.Aber jetzt erscheint er doch. Waschbärtig, abgegriffen, askesebleich.Ein offenes Gespräch wird inszeniert,

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ein Monoloquium in freiheitlicher Assoziationstechnik:Kremserweisheiten.Zur gleichen Zeit wird auf der südlichen Hemisphäreein Vietnamese von amerikanischem »Tränengas« getroffen –und verbrennt.Darauf spielt der Künstler an,ganz wie das Leben so anspielt:»Angesichts solcher Zufälligkeiten in der modernen Weltdarf ich als Künstler einfach nicht ins Gegenständliche abrutschen!Ich male, was ich fühle.Ich konfrontiere das Publikum mit dem reinen Nichts.Das möchte ich als Protest verstanden wissen.Gegen die pluralistische Gesellschaft.Gegen die politischen Fragen, wenn Sie so wollen«.Verschlissene Traurigkeit senkt sich über die Anwesenden.Aber irgendwie gemütlich!Anschließend gehts in die »Neurotica«.Kleine Feier mit der Presse.Ein wenig rustikalauern, Substanzvergnügen.Der Meister und seine Klemptomanschaft mitten im Ikonoklastenkampf.»Gerade in der Asche finden sich Formen, die es sonst nirgendwo ...«»Alles Dekorativstapler!Eben is er aus dem Kitschen raus, gleich fängt er wieder an ...«Gemeinsames Schlußkommunique:Der Marx unbewohnbar fuisse dicitur.

Wer Staaten lenkt, der hat es schwer,wer Sorgen hat, braucht Militär,gesetzt den Verteidigungsfall.Wer nicht gern stirbt, wird General.Und alle gehen ohne Tritt:mit.BeispielsweiseSchnapsvertreter, blaue Bohnen,Feldhaubitzen, Diakonen,Oberförster und Faschisten,Informelle und Tachisten.Und wenn er fällt, dann beißt erdie halbgroßen Geister,

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jetzt auch in Tütenmit eisernen Hüten.Subito, ergo bummbumm.Heimat, wie liegst du so krumm!

M oment mal, ich höre Schritte, da geht doch jemand, sehr vorsichtigund leise, die Schritte kommen näher, das könnte der erste Besucher

sein, oder auch eine Besucherin, es klingt fast, als wären es die Schritte einerDame, in Joggingschuhen, die ihr zu weit sind, sie muß schlurfen, sieschlurft näher, schlurft langsamer, bleibt stehn, ich horche angestrengt, siebleibt stehn, das wird spannend, warum geht sie nicht weiter, ob sie etwasgefunden hat, das sie interessiert, ich höre nichts mehr von ihr, absolutnichts, aber plötzlich ist da etwas anderes; ein unterdrücktes Keuchen, auseiner ganz anderen Richtung, und es kommt ebenfalls näher, sollten hier et-wa zwei Personen auftauchen, das wäre ja nach spannender, soll ich ihnenvorsichtshalber entgegengehn, oder soll ich hier warten, natürlich muß ichwarten, einfach sitzen bleiben, und wenn sie da sind, so tun, als würde michihr Erscheinen kaum interessieren, was sollen sie denn auch von mir den-ken, was soll man denken von einem, der in kindische Spannung gerät, nurweil irgendwelche Leute womöglich vorbeikommen könnten, was objektivvöllig gleichgültig wäre, also langweilig, weil Warten grundsätzlich lang-weilig ist, aber warum bringe ich soviel Langeweile nicht auf, warum höreich nicht einfach auf zu warten, früher habe ich das doch schon sehr gut ge-konnt, besonders auf der Kruppstraße, unter Bedingungen, die objektiv auf-regender waren:

Also, man sitzt in seiner Wohnung am Tisch, man arbeitet oder träumt, daßman arbeitet; da wird unvermittelt die Türe aufgerissen und ein Unsichtbarersagt: »Viertel nach«. Sonst sagt er nichts. Man läßt sich davon nicht stören, weilman es schon kennt, man überläßt sich dem Fluß des Tages, arbeitet oder träumtkontinuierlich weiter, auch wenn die Tür sich wiederum öffnet und der Unsicht-bare sagt: »Halb«. Seine nächste Mitteilung wird lauten: »Viertel vor«, dieübernächste »Vierviertel, und zwar Drei«, die überübernächste: »Viertel nach«.Und so weiter, nach einem leicht zu durchschauenden Prinzip , bis zum spätenAbend, die ganze Nacht hindurch bis in den frühen Morgen, den ganzen kom-menden Tag, die ganze folgende Woche, den Monat, das Jahr, das nächste Jahr.

Ganz gleich, in welchem Teil der Wohnung man sich gerade aufhält, im-mer wieder geht die Tür auf und der Unsichtbare sagt »Viertel nach« oder»Halb« oder »Viertel vor«. Es ist nichts dagegen zu machen, es läßt sich nicht

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reden mit ihm, er ist unbelehrbar, unaussperrbar, unerschießbar, unzerstör-bar, nicht einmal strafrechtlich kann man ihn verfolgen lassen. Man kann fürein paar Stunden weggehen, für ein paar Wochen verreisen; wenn manzurückkommt und wieder in seiner Wohnung ist, geht auch bald wieder dieTür auf und der Unsichtbare sagt »Viertel nach« oder »Halb« oder »Viertelvor« oder »Viertelviertel, und zwar ...«.

Ballade von der Kirchturmuhr (1962)

Ich wohne unter einer Kirchturmuhr.Ich wurde schon als Kind daselbst geboren.Und seit ich denke, schlägt die Uhr mir sturjedwede Viertelstunde um die Ohren.

Im Stadtteil, der nach toten Seelen riecht,da steht mein Bett, ich hör die Glocke schlagen.Wie grauer Nebel in die Häuser kriecht,zieht in mein Herz ein feuchtes Unbehagen.

Ich kenne mich nicht aus in Dynamiten,ich kenne nicht die Aufgangstür zur Uhr.Da müßte ich den Küster wieder bitten,der schon einmal so herb mit mir verfuhr.

Am dritten Sonntage nach Trinitatisvor vierzehn Jahrn, ich weiß es noch wie heut,da nahm ich mir die Freiheit Attentatis.Ich hab es in der Folge oft bereut.

Zwei Kilo Dynamit (für zwölf Mark achtzig),zehn Meter Zündschnur (die nicht billig war).Der Scherzartikeleinzelhändler macht sichnoch heute guten Lenz – ich zahlte bar!

Zehn Jahre Zuchthaus, die ich schier verschmollte(das Auge trüb, die müde Seele Blei)nur weil der Küster mir nicht glauben wollte,daß ich der Mann vom Straßenbauamt sei.

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Zu Weihnachten, nach voll verbüßter Strafe,entließ man mich, ich wurde wieder frei.Ich fand ein Herz, bei dem ich nächtens schlafe,und ich verdiente leidlich nebenbei.

Dann kam das Kind, wir wurden Eheleute.Das mußte sein, denn Wohnungen sind rar.Wir hatten Glück, und ich kann sagen: heuteist alles wieder wie es früher war.

Ich wohne unter einer Kirchturmuhr.Zwei Häuser weiter hat man mich geboren.Hier werd ich alt, es schlägt die Uhr mir sturjedwede Viertelstunde um die Ohren.

Im Stadtteil, der nach toten Seelen riecht,da bin ich krank; ich höre auf zu fragen.Wie grauer Nebel in die Häuser kriecht,zieht in mein Herz ein feuchtes Unbehagen.

Stille läßt sich nicht beschreiben, ebensowenig wie das Nichts, wenn mannichts hört, hört man eben nichts, und sonst nichts; in schalltoten Räumen,

wie es sie in Tonstudios gibt, hört man wenigstens seinen eigenen Herzschlag,das Rauschen seines eigenen Blutes, manche hören ihr Handy, aber hier imvirtuellen Raum nichts von alledem, nicht einmal die Schritte von eben, siewaren irgendwann weg und sind nicht wiedergekommen, jetzt ist Stille,nichts als Stille, nur ganz unvermittelt ein Poltern, mehr ein Scheppern, ir-gendetwas muß umgefallen sein, vermutlich hinten bei den kleinen Häuser-modellen und Puppenstuben, ich geh mal kucken, eine Haustüre steht offen,ich gehe mehrere Treppen hoch, durch lange kahle Flure, gerate in einscharfriechendes Männerpissoir, von dort über ein dunkles unwegsamesTrümmergrundstück auf blanke Straßenbahnschienen zwischen festgefügtenPflastersteinen, fahre ein Stückchen, springe wieder ab, es war die falscheRichtung, gehe lieber zu Fuß und stehe dann frierend vor einer Hausfassade,die ich sehr gut kenne, aus frühester Jugend, weil ich oft da war, oft davorge-standen habe, alte uralte Bilder flimmern auf, ich falle gerührt ins Präteritum:

Ein deutsches Kino im Winter, Anfang der l96oer Jahre. Irgend so einFilm, der zeigte, wie barbarisch, wie brutal die Russen unsere braven deut-

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schen Soldaten behandelt haben, die doch nur zu ihnen gekommen waren,um ein bißchen Ordnung zu machen ... Die Tragik der Deutschen Wehr-macht! Zum Heulen.

Der Film war aus, die ersten Kinobesucher drängten ergriffen ins Freieund sahen auf der Straße einen Mann vorbeigehen – der schämte sich nicht,eine typisch russische Pelzmütze zu tragen. In Düsseldorf! Auf der Graf-Adolf-Straße, die früher Adolf-Hitler-Straße hatte heißen dürfen. Ja, ist es einWunder, daß ihm diese Mütze vom Kopf geschlagen wurde? – Damals gabes noch eine wehrhafte Demokratie in unserem Lande, und jedermann wuß-te, wo ihre Feinde waren, offen oder versteckt.

Erschröckliche Moritat vom Kryptokommunisten (1965)

Wenn die Sonne bezeichnenderweise im Ostenund rot hinter Wolken aufgeht,das ist seine Zeit, da er flach wie ein Tigeraus härenem Bette aufsteht.Er wäscht sich nur ungern und blickt in den Spiegelmit seinem Mongolengesicht,er putzt sich die Zähne mit Branntwein und trinkteinen Wodka – mehr frühstückt er nicht.Dann zieht der Kommunistdie Unterwanderstiefel anund dann geht er an sein illegalesUntertagwerk ran.Huhu, huhu ...!

Und dann fletscht er die Zähne, die Hand hält er vor,denn das darf ja kein Mensch niemals sehn.Um neun Uhr zehn frißt er das erste Kind (blauäugig,blond) aus dem Kindergarteen.Um elf brennt die Kirche, es drängen sich hilfsbereitFeuerwehr, Bürger und Christ.Derweil diskutiert er mit Schwester Theres’,bis die auch für den Weltfrieden ist.Der Kommunist ist so geschickt,dagegen kann man nicht!Und zu Mittag schreibt er gar noch

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ein politisches Gedicht.Huhu, huhu ...!

Er verstellt sich, spricht rheinisch statt sächsischund infiltriertmeuchlings und nur hinterrücks.Und wenn du bis heute verschont bliebst, ist daseine Frage persönlichen Glücks.Am Nachmittag schleicht er zum Herrenfriseurin dem Hinterhof-Ladenlokal.Er zieht die Pistole, nimmt Platz und befiehlt:»Einmal Haarschnitt – und zwar radikal!«Und wer ein Kommunist ist, kriegt man niemals richtig raus,so ein Kryptokommunistsieht immer agitproper aus.Huhu, huhu ...!

Zumeist kommunistet er dort in der Hütte,die gleich hinterm Bahndamm versteckt liegt.Da übt er sich heimlich in Philosophie,Analyse sowie Dialektik.Müd kommt er nach Hause, er küßt seine Frau und erspielt mit den Kindern Verstecken.Die Kinder sind auch durch und durch infiziert, dennsie kennen im Haus alle Ecken.Dann hört er sich die Platte mit der h-moll Messe an,weil er nicht einmal privat mehrvöllig unverstellt sein kann.Dann zieht der Kommunistdie Unterwanderstiefel ausund dann ruht er sich von seinem schlimmenUntertagwerk aus.Huhu ...! Huhu is hu???

Unterdessen bin ich in den alten Kinosaal geraten, original Frühe Sechzi-gerjahre, schwere Seidentapeten aus Ölpapier, dunkles Holz mit ge-

malter Maserung, rote Plüschsitze, roter Samtvorhang, eine riesige quallen-förmige Deckenleuchte, es riecht nach verbrauchter Schokolade, Pfefferminz,

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kaltgewordener Heizungsluft, altem Parfüm, vornean gibt es das Kassen-häuschen, Schiebefenster mit chromblitzendem Metallrahmen, kreisrundeSprechmembrane, unmittelbar neben dem Eingang das Garagentor, früherließ es sich von der Kasse aus elektrisch öffnen, der Kinobesitzer im Opel Ad-miral kam in die Einfahrt, drehte das Autofenster herab, gab dem Kassen-fräulein ein knappes Signal, der schwere wohlgenährte Wagen schwebte laut-los ein, schweigend sahen es, die nach Eintrittskarten anstanden, aber jetzt istdie Garage wie das ganze Kino leer und düster, aus ihrer hinteren Ecke kol-lert ein Geräusch heran, ein grollendes Knurren, ein herzergreifendes Win-seln, ich sehe, die ganze Rückwand ist ein Gitter aus schweren Eisenstäben,und auf dem Boden liegt ein vergammeltes Liederblatt, kaum leserlich, dochich kann es wiedererkennen:

Manche Kanzonen laufen einem zu. Diese fand sich eines Tages auf mei-nem Schreibtisch zwischen verstreuten Papieren, Zeichnungen und Büchern,rein zufällig, genau in jenen Tagen, da der Bundeskanzler Ludwig Erhardt,der dem Kanzler Adenauer auf dem Fuße gefolgt war, ein paar deutschspra-chige Literaten und Intellektuelle als »Pinscher und Banausen« einzustufensich gezwungen gesehen hatte. Denn sie hatten sich angemaßt, nicht nur sei-ne Politik zu kritisieren, sondern auch unmißverständlich durchblicken zulassen, daß ihnen die ganze Richtung nicht passe, der ganze fette verlogeneWohlstandspudding, unter dem so viel unerledigter Nazikram versteckt war.

Klempes Hund (1965)

Der seelenvolle Hund von Klempner Klempebellt nicht vor jedem Schmeißreaktionär,er frißt ihn schweigend auf mit Hut und Krempe.Gott sei’s geklagt! Er ist kein Pinscher mehr.Am Lagerplatz von Schraubenberg und Schrunden,wo sich der Lenz an Eisenteilen schabt,da hat ihn Klempe krumm und naß gefunden.Mit Hunden hat er nie viel Glück gehabt.Wau wau wau wau ...

So gilt uns Klempes Hund als blanker Nichtsnutz.Das heißt, man urteilt oftmals allzu schnell.Erst neulich fraß er einen Herrn vom Luftschutz.(Womit ich diesem Herrn nichts unterstell!)

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Der Tierarzt spricht von einem Seelentrauma,das noch aus alten Schrottplatztagen rührt.Ein warmgenährter Hund kriegt so was kaum, aaa-ber Klempes Hund, dem ist es doch passiert.Wau wau wau wau ...

Bald in Bayreuth, bald bei Vertriebenentreffen,wo Turnerhemd und blasse Fahnen wehn,da reißt ins Fleisch, eh noch die Pinscher kläffen,der graue Hund, und keiner hat’s gesehn.Es heißt, daß mancher Staatsanwalt vom Bieream Freitag nie zurückgekommen ist.Ganz selten sterben hohe Offiziere,weil auch ein Hund, weiß Gott, nicht alles frißt.Wau wau wau wau ...

Seit einem Jahr war er nicht mehr bei Herrchen.Ist sehr gewachsen und neun Zentner schwer.In die Garage muß man ihn schon pferchen.Gott sei’s geklagt, er ist kein Pinscher mehr.Landauf, landab, obwohl er doch so schwer ist,streunt Klempes Hund alswie ein Schnee so leis.Und keiner zittert, der reaktionär ist,weil man das ja meist selber gar nicht weiß.

A n der Seitenwand des Kinosaales gibt es drei große Ausgangstüren, siestehen offen, davor präsentiert sich die Straße, schöne glatte Steinplat-

ten, Bürgersteig, die üblichen kleinen Wegwerfungen liegen herum, Zigaret-tenkippen, Zigarrenstummel, Bonbonpapiere, abgegessene Kinokarten, zer-knüllte Programmzettel, Pralinenstanniol, und zwischendrin, vor meinenFüßen, winzige Spielzeugfiguren, lichterloh brennende, schreiende Men-schen, Frauen mit Säuglingsbündeln, Kinder und Männer auf Krücken, allerennen im Kreis, aber nicht wirklich, sie stehen nur in dieser Haltung, starreMenschen, die um ihr Leben rennen, ohne vom Fleck zu kommen, hinter mirklopft es an eine Glasscheibe, ich drehe mich um, da ist ein leerer Schauka-sten, früher hingen darin die kolorierten Szenenfotos, jetzt enthält er nichts,nur tote Fliegen und ein paar Zettel, mit Reißzwecken befestigt auf demrückwärtigen Holzbrett, Texte, die ich lange nicht mehr gesehn habe:

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Es gibt nur noch die Verse. Die dazugehörige eingestreute Prosa ist verlo-rengegangen; sie enthielt Daten und Informationen zu Wirtschaftsimperia-lismus, Militär-Industrie-Komplex und dergleichen, also zu lauter Dingen,die man inzwischen längst weiß, wenn man sie zu wissen weiß. Damalswirkten diese Mitteilungen noch schockierend, jedenfalls soweit sie zurKenntnis genommen wurden.

Das Werkchen ist so explizit auf Massenwirkung angelegt, daß es nur we-nige politisch und literarisch interessierte Menschen erreichen konnte.

Vietnam-Zyklus (1966)

l. Wirtschaftsberichtbei der Nirgendwer AG im Nirgendwoland(Die Herren trinken aus Gesundheitsgründen Orangensaft)

Meine Herrn, ohne Zweifelhat die Industrieein vitales Interessedaran, daß sich dieArbeitslosigkeit in Grenzenhält.

Demzufolge, meine Herren,hat die Industriein vitales Interessedaran, daß sich dieWaffen, die sie produziert,von Zeit zu Zeit verschleißen.

Drittens aber, meine Herren,muß die Industrie,um im harten Konkurrenzkampfzu bestehen, dieWaffen immer besser machen.Und dazu braucht sieeinen kleinen Kriegsschauplatz, wo manden ganzen Kram in Ruhe ausprobieren kann.

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2. Hexenverbrennungnach einem alten Holzschnitt

Es zog ein Brandgeruch ums Gotteshaus,ein junges Weib starb kreischend in den Flammen.Das Weib war als ein Teufelsweib bekannt.Den Gott der Liebe haben sie genannt,zu dessen Lob sie ihr das Leben nahmen.Der Pfaff spendierte einen Extra-Segen.Daran war allen kolossal gelegen.Nach dem Gewitter braucht es etwas Regen.

Und viele wurden auf den Tod geschundengrad wie die angebliche Teufelsmagd.Kein Bürger nicht hat nichts dabei gefunden,und wenn, dann hat er es nicht laut gesagt.Die Theologen konnten schlau beweisen,daß so eine der Teufel selber sei.Man ging, erbaut, im Ratsherrnkrug zu speisen,und fühlte sich von allen Sünden frei.

Das war im Jahre Fünfzehnhundertzehn.Wir denken heute, wie man weiß, humaner.Wir ließen sowas niemals nicht geschehnund bauen fest auf die Amerikaner.Wir haben ein empfindliches Gewissen.Wenn was von schmutzigem Krieg im Tagblatt steht,dann möchten wir zumindest, bitte, wissen,daß er gegen den Kommunismus geht.

3. Rein Technisches

Täglich starten vom Inselflugplatzeinige hundert Bomber, beladenmit Giftgas und Napalm.

Denn das Land Vietnam ist verseucht,die Menschen dort sind befallen

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vom grenzenlosen Zorngegen ihre Unterdrücker.

Der strategische Aufwand ist beträchtlich.Der Kommandeur äußert sich befriedigtüber den reibungslosen Ablaufdes Völkermords.

4. Partisanenbekämpfung

Er hieß Dai-Min-Shuwar so jung wie du.Sohn eines Bauern in Südvietnam.Hatte nie genug zu essen.Gestern hat man ihn vergessen.Und zwei grinsende Ledernackenfressenschaun dich aus der Morgenzeitung an.

Früh um vieresang der Knabe,weil da auch ein Vogel sang,sang so froh unddeshalb wurdensie entdeckt. Das Militärhat ein Ohr für solchen Klang.

Um halb neunelagen sie schönaufgereiht im Sonnenschein,waidgerecht undfromm erlegt. Essollt auch noch in diesem Kriegeine kleine Ordnung sein.

Er hieß Dai-Min-Shuwar so jung wie du.Sohn eines Bauern in Südvietnam.Hatte nie genug zu essen.

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Gestern hat man ihn vergessen.Und zwei grinsende Ledernackenfressenschaun dich aus der Morgenzeitung an.

5. Western-Ballade

Jimmy Gray bekam im vergangenen Jahreinen roten Kopf wegen der Marie.Daran sahn die Nachbarn, wie verliebt er war.Und er hatte einen Job bei der Erdöl-Company.

Jimmy Gray bekam am Tag daraufeinen Brief von der Armee,und er mußte nach Vancouver rauf.Und im Urlaub fiel zu Hause Schnee.

Jimmy Gray bekam einen Extra-Soldund er mußte nach Vietnam.Und die Sonne war blank wie ein Dollar aus Gold,als das Schiff in den Hafen schwamm.

Jimmy Gray bekam eine Woche draufeinen Bombensplitter in den Bauch.Und er lag und schrie und er hörte nicht auf.Und den Sergeant störte das auch.

Erst als es Tag geworden war,und als Jimmy Gray nicht mehr schrie,und sein Stöhnen auch nicht mehr zu hören war,kamen zwei Sanitäter von der Kompanie.

Und sie nahmen ihm das Soldbuch abund sie flogen ihn ins Tal.Und spendierten ihm ein sehr solides Heldengrab,ein ganz alltäglicher Fall.

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6. Vertrauliches Gespräch mit den Herren Müller

Das Wirtschaftssystem und das Staatssystemdes Freien Westens istim Prinzip natürlich ...Natürlich! !!... völlig unvernünftig.Aber das bleibt unter uns,Herr Müller!Wenn ein Greis bei lebendigem Leibe verrottet,hat ja auch er seinen fröhlichen Schwachsinn.Natürlich!!!Aberwitzige Freßlust quält ihn,Blähungen, Jähzorn, Stuhltrockenheit,Kreislaufstörungen, Habgier.Natürlich!!!Sehn Sie, Herr Müller, genau so ist dasmit uns Kapitalisten:unsre Profite sind groß,davon nehmen wir reichlich,so gut wir können.Aber das meiste stecken wir lächelndzurück ins Geschäft.Prima!!!Danke für Ihr Vertrauen, Herr Müller!Allerdings wäre zu sagen:wir machen, versteht sich, nur solche Geschäfte,die lohnen. Das heißt:Rüstungsgeschäfte sind hochprofitabel,außerdem nützlich der Konjunktur,wirkend auf ihre Verdauung.In zwei Jahren eine Millionneuer Arbeitsplätze durch Rüstung –ist das denn nichts, Herr Müller?Produktion schafft Wohlstand!Freilich wird nur produziert,wenn genügend verbraucht wird.Aber:Wie eine Blähung ins Freie

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drängt eine Rüstung zum Krieg.Scheiße ! ! !Sag’n Se das nich, Herr Müller!Schließlich ist ja der Krieg unser bester Verbraucher.Deshalb mußten wir uns Ihren Staat,Herr Müller,leider so einrichten, daß er entsprechende Vorkehrungtrifft.Wählen Sie trotzdem, wen sie nur wollen,uns sind beide Parteien recht.Das ist die Freiheit:Hier kann jederkaufen, was er will,verkaufen, was er will.Das gilt auch für Sie, Herr Müller,wenn Sie ein bißchencleversind.

Kriege sindVerschwendung... natürlich.Rüstung istVerschwendung... natürlich.Aber Verschwendung muß sein,denn es wird leider viel zuviel produziert!Und wenn Verschwendung nicht wäre?Gäbe es gleichen Lohn für weniger Arbeit,hätten die Leute mehr Freiheit,kämen sie nur auf dumme Gedanken,wäre unsre Herrschaft gefährdet,was wir nicht wolln.Versteht sich!Sechzig Prozentder Bodenschätze dieser Weltkontrollieren wir Amerikaner.Offiziell sind wir ohne Kolonien.Aber wir haben doch

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durch Investitionen,Bündnisse oderStützung der jeweilsherrschenden Ausbeuterin den verschiedenen Ländernunser Imperium aufgebaut:Denken Sie nur anLateinamerika,Griechenland,Persien oder die Bundesrepublik Deutschlandoder zum Beispiel an Viet-Nam!Warum, meinen Sie, spielen wir sonstdie Polizei der Ersten und der Dritten Welt?Aus Idealismusund Sinn für Gerechtigkeit! ! !Sie sind ganz schön blöde, Herr Müller!Hörn Sie mal, wenn es uns nicht gelingt,am Beispiel Vietnam zu beweisen,daß wir die Größten sind,werden sich allevon uns in obgenannter WeiseAusgebeutetenmöglicherweise in Bäldeerheben.Sehn Sie, Herr Müller, auch Ihre verehrte Bundesrepublikfunktioniert nach unserm System.Wir verhinderten: die Verstaatlichung der Ruhrindustrie.Wir verlangten: den Aufbau der Bundeswehr, dennWir beherrschen: die NATO.Wir verdienen: an Ihrer Krise.Wir verhindern: in Ihrem Lande den Sozialismus.Wir importieren die Stagnation.Wir hätten keineswegs nichts gegen einen neuen Faschismus,wenn er vonnöten wäre.Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren!

Chor der Herren MüllerOffenbar ist etwas schiefgelaufen.Offenbar bedeutet das doch dies:

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Offenbar wäre besser für mich,die Revolution würde siegen.Offenbar stünd ich besser auf seiten des Vietcongoder so.Offenbar sollte ich mich dementsprechend äußern.Offenbar ist da auf meine Regierungnicht mehr zu rechnen.Offenbar müssen wir die Sachenun selbst in die Hände nehmen:Demonstrieren, agitieren,Sprüche an die Wände schmieren,boykottieren, sabotieren:AFN und NATO-Basen.Sprengstoffsatz in Blumenvasenexplodiert mit großem Dampf.Aber das bedeutet freilich ...Aber das bedeutet freilich ...schon beinahe, schon beinahe ...schon beinahe ...Klassenk...

Ä ngstlich habe ich um die Schreienden einen Bogen gemacht und michin die nächste Seitenstraße gedrückt, nun latsche ich an so einer eu-

charistisch strahlenden gläsernen Hochhausfront entlang, ein Halteverbots-schild, an seinem Pfosten ein kleiner Abfallbehälter, im Vorbeigehn klopfe ichdagegen, eine geballte Faust reckt sich heraus, ich gehe zurück, das muß ichmir ansehn, da öffnet sich die Faust, vollführt ein paar nichtssagende Bewe-gungen, höfliche Leergesten, verschwindet hastig und schmeißt Inhalte nachdraußen: Kleinabfälle, Spaziergangsrelikte und, damit hatte ich schon fastgerechnet, ein etwas heruntergekommen aussehendes Werkchen:

Ein Stückchen Agitprop in eigener Sache – das heißt; eigentlich auch wie-der nicht, denn es macht ja gemeinsame Sache mit der gemeinsamen Sache,wie sich leicht erkennen läßt. Eine gewisse Selbstüberhebung des Autorskann man, bei viel gutem Willen, als Zeitkolorit einordnen. Das Ganze ist eintypisches Stück Erinnerungslyrik.

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