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EPISTEMATA WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN Reihe Philosophie Band 385 — 2005 Sylvia Zirden Theorie des Neuen Konstruktion einer ungeschriebenen Theorie Königshausen & Neumann

Sylvia Zirden_Theorie Des Neuen_Konstruktions Einer Ungeschriebenen Theorie Adornos_2005

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E P I S T E M A T A

WÜRZBURGER WISSENSCHAFTLICHE SCHRIFTEN

Reihe Philosophie

Band 385 — 2005

Sylvia Zirden

Theorie des Neuen

Konstruktion einer ungeschriebenen Theorie

Königshausen & Neumann

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Printed in Germany ISBN 3-8260-2920-8 w w w , koeniKshausen-neumann.de

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I N H A L T S V E R Z E I C H N I S

Einleitung 7

Das Neue als Kategorie der Moderne bei Benjamin 23

I. Die Ant inomie des Immergleichen und des Neuen 27 1. Ähnlichkeit und der Ursprung von Verschiedenheit und Gleichheit 27 2. Das Gleiche 37 3. Ewige Wiederkehr des Gleichen und ewige Neuheit 47 4. Das Neue 54

II. Das wahrhaft Neue 69 1. Das Richtige am falschen Neuen: Aktualität 71 2. Das „wahrhaft Neue" als „wahrhafte Aktualität" 76

Adornos Theorie des Neuen 88

I. Das Neue auf dem Markt 97

II. Der Begriff des Neuen 108

III. Das Neue in der Geschichte 126

IV. Das Neue in der Kunst 148 1. Neuheit als Objektivierung von Freiheit 151

a) Neues und Gesellschaft 151 b) Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Neuen 169 c) Ii faut continuer 187

2. Das Andere im Neuen 195 a) Neuheit und Rationalität 196 b) Erscheinen und Verschwinden des Anderen im Neuen 201 c) Die Notwendigkeit des immer wieder Neuen 209

3. Neuheit als historische Kritik 216 a) Utopie in Gestalt von Negativität 216 b) Der Antagonismus von Statik und Dynamik im Kunstwerk 234

c) Vergänglichkeit des Neuen 255

Von Benjamin zu Adorno: Radikalisierung der Dialektik 268

Abkürzungen 282

Literatur 283

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EINLEITUNG

„Wenn ich mich nicht irre, liegt eine der Hauptschwierigkeiten für das Ver-ständnis dessen, was ich so treibe, genau bei diesem Begriff des Neuen."1 Mit dieser Äußerung aus seiner Ästhetikvorlesung im Sommersemester 1961 räumt Adorno dem Neuen eine zentrale Stellung nicht nur in seiner Ästhetik, sondern in seinem gesamten Denken ein - und er weist auf die Probleme hin, die mit diesem Begriff verbunden sind. Daß das Neue ein wichtiges Thema in der Äs-thetik des profiliertesten und einflußreichsten Vertreters der philosophischen Ästhetik im 20. Jahrhundert ist, verwundert nicht. Denn die Kategorie des Neuen als zentrales Motiv der klassischen Moderne ist auch heute noch un-zweifelhaft gegenwärtig, und die grundlegende Bedeutung des Neuen für die Kunst ist unbestritten. Neuheit als ein positives Merkmal von Kunst aufzufas-sen, ist selbstverständlich, das Urteil, etwas sei „nichts Neues", für zeitgenössi-sche Kunst immer noch vernichtend. Folgerichtig ist das Neue auch ein zen-traler Gegenstand moderner Ästhetik, wenngleich es meist im Rahmen spezifi-scherer Diskussionen (etwa über den Avantgardebegriff2 oder den Begriff der Moderne3, der Modernität4 oder des Modernismus5) thematisiert wird oder im Zusammenhang mit historischen Kategorien wie Fortschritt6, Revolution bzw.

1 V o 6443. - Häufig zitierte Schriften Adornos und Benjamins werden abgekürzt. Ein A b -

kürzungsverzeichnis befindet sich im Anhang. - Offensichtliche Tippfehler in den Tonband-

nachschriften (Vo und V A ) wurden stillschweigend korrigiert. 2 Z. B. Peter BÜRGER: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main 1974. - Hannes

BÖHRINGER: Avantgarde - Geschichte einer Metapher. In: Archiv für Begriffsgeschichte 22

(1978), S. 9 0 - 1 1 4 . - Johannes STRUTZ und Peter V. ZlMA (Hg.): Europäische Avantgarde.

Frankfurt am Main u. a. 1987. - Manfred HARDT: Zu Begriff, Geschichte und Theorie der lite-

rarischen Avantgarde. In: ders. (Hg.): Literarische Avantgarden. Darmstadt 1989, S. 145—71. 3 V o r allem Jürgen HABERMAS: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorle-

sungen. Frankfurt am Main 1985. Das Neue wird dort von Habermas zwar in der Einleitungs-

vorlesung „Das Zeitbewußtsein der Moderne und ihr Bedürfnis nach Selbstvergewisserung"

(S. 9 - 3 3 ) eingeführt und u. a. mit Bezug auf Hegel und Baudelaire diskutiert, nicht jedoch in der

Vorlesung über Adorno und Horkheimer (S. 130—157). 4 Z. B. Hans Gerd RÖTZER: Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur.

Ein Uberblick vom Attizismus-Asianismus-Streit bis zur „Querelle des Anciens et des Moder-

nes". Darmstadt 1979. 5 Z. B. Hans Robert JAUSS: Der literarische Prozeß des Modernismus von Rousseau bis

Adorno. In: Ludwig von FRIEDEBURG und Jürgen HABERMAS (Hg.): Adorno-Konferenz 1983.

Frankfurt am Main 1983, S. 9 5 - 1 3 0 . 6 Z. B. Hans Robert JAUSS: Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der Querelle

des Anciens et des Modernes. In: Helmut KUHN und Franz WIEDMANN (Hg.): Die Philoso-

phie und die Frage nach dem Fortschritt. VIII. Deutscher Kongreß für Philosophie (München

1962). München 1964, S. 5 1 - 7 2 . - Ernst H. GOMBRICH: Kunst und Fortschritt. Köln 1987. -

Heinz-Klaus METZGER und Rainer RLEHN: Was heißt Fortschritt? Musik-Konzepte 100. Mün-

chen 1998.

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Paradigmi-nwech-sel7 oder Epochenwechsel8 seinen Plat/, f indet. Eher selten wird das Neue als Neues selbst thematisiert, so insbesondere in dem 1992 er-schienenen Essay Über das Neue von Boris Groys9 , der die Frage nach dem Neuen als Grundlage seines Entwurfs einer allgemeinen Kulturökonomie untersucht, und von Harald Fricke, der in seiner im Jahr 2000 erschienenen Schrift Gesetz und Freiheit10 Innovation als Konstante der Kunst- und Litera-turgeschichte beschreibt. Auch einige wenige Untersuchungen zur allgemeinen Ästhetik11 bzw. spezif isch literaturwissenschaftliche12 , kunsthistorische13 und

7 Gianni VATTIMO: Die Struktur künstlerischer Revolutionen. In: ders.: Das Ende der Moderne. Stuttgart 1990, S. 9 8 - 1 1 9 .

" Vgl. Hans Ulrich GUMBRECHT (Hg.): Epochenschwelle n und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Unter Mitarbeit von Friederike HASSAUER. Frank-furt um Main 1985. - Reinhart HERZOG und Reinhart KOSELLECK (Hg.): Epochenschwelle und l'.pochenbewußtsein. Kolloquium der Forschungsgruppe Poetik und Hermeneutik XII. Mün-chen 1987.

' Boris GROYS: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München/Wien 1992. 10 Harald FRICKE: Gesetz und Freiheit. Eine Philosophie der Kunst. München 2000. - Vgl.

auch: Harald FRICKE: Das Neue - (K)eine Denkfigur der Moderne: Zur Historizität des Abweichungsprinzips. In: Maria MOOG-GRÜNEWALD (Hg.): Das Neue - Eine Denkfigur der Moderne. Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Band II. Heidelberg 2002, S. 3 1 1 - 2 2 . - Harald FRICKE: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981 . - N. RATH: Artikel „Neu, das Neue II.". In: Joachim RITTER und Karlfried GRÜNDER (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 6. Darmstadt 1984, Sp. 727 -31 .

" Wolfgang WELSCH: Tradition und Innovation in der Kunst. Philosophische Perspekti-ven der Postmoderne. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 30 (1985) I, S. 79 - 100 . - Hans RobertJAUSS: Aus alt mach neu? Tradition und Innovation in ästhetischer Krfahrung. In: Wolfgang KLUXEN (Hg.): Tradition und Innovation. XIII. Deutscher Kongreß für Philosophie (Bonn 1984). Hamburg 1988, S. 393 -4 13 . - Rüdiger BUBNER: Wie alt ist das Neue? In: MOOG-GRÜNEWALD (Hg.), a. a. O., S. 1 - 1 2 .

12 Vgl. Günter KUNERT, Jürgen MANTHEY und Delf SCHMIDT (Hg.): Literaturmagazin 13: Wie halten wir es mit dem Neuen? Innovation und Restauration im Zeichen einer vergange-nen Zukunft. Reinbek 1980. - Wolfram KINZIG: Die Kategorie des Neuen in alter Literatur. In: Arcadia - Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 25 (1990) 2, S. 1 1 3 - 2 6 . - Vgl. auch die Sammelbände: Walter HAUG und Burghart WACHINGER (Hg.): Innovation und Ori-ginalität. Tübingen 1993. - MOOG-GRÜNEWALD (Hg.), a. a. O.; darin z. B. Bernhard GREINER: Genie-Ästhetik und Neue Mythologie - Versuche um 1800, das Neue als Neues zu denken, S. 39 -53 .

13 Vgl. Heinrich LÜTZELER: Die Tradition des Traditionsbruches in der bildenden Kunst.

In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 21 (1976) 2, S. 160 -86 . - Roland SlMON-SCHAEFER: Innovation und Kanonbildung oder das Ende der modernen Kunst. In: Stu-dia Philosophies 43 (1984) , S. 42 -57 . - Michael LANGER: Innovation und Kunstqualität. Die

Kategorien des Neuen in der Kunst. Worms 1989.

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musikwi.sscnschalilic.lH'14 Abhandlungen beschäftigen sich mit dem Neuen in verschiedenen Zusammenhängen.

Auffäll ig ist, daß auch, wenn das Neue Gegenstand der Untersuchung ist, der B e g r i f f Acs Neuen kaum reflektiert wird; das gilt beispielsweise für die Bei-träge auf dem Deutschen Kongreß für Philosophie von 1984, der unter dem Thema „Tradition und Innovation"15 stand. Auch Fricke, der das Neue als Inva-riante der Kunst auffaßt, definiert es nur ganz formal als Abweichung und kapituliert damit vor der Allgemeinheit dieses Begriffs. Hier wird unkrit isch von dem allgemeinen, unspezifizierten Begriff des Neuen ausgegangen, den es selbstverständlich nicht erst seit der Moderne gibt. Seine Bedeutung ist indes-sen keineswegs fraglos oder selbstverständlich, und sie ist auch nicht unwan-delbar. Bei Adorno ist das Neue eine Kategorie, die variabel, aber nicht beliebig ist. Sie ist allgemein, aber nicht ohne Bestimmungen, die sich durchaus struktu-rieren lassen und mit denen auch das Spezifische der modernen Neuheit in der Kunst ausgemacht werden kann. Allerdings hat auch Adorno keine explizite Theorie des Neuen ausgeführt. Das Neue wird jedoch nicht nur in der Ästheti-schen Theorie und anderen Schriften zur Ästhetik (z. B. Philosophie der neuen Musik), sondern auch in erkenntnistheoretischen (u. a. Negative Dialektik, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie), gesellschaftstheoretischen (u. a. Dialektik der Aufklärung, Minima Moralia) und geschichtsphilosophischen (u. a. Die Idee der Naturgeschichte, Fortschritt, Negative Dialektik) Zusammenhängen immer wie-der thematisiert. Meine Recherchen im Theodor W. Adorno Archiv in Frankfurt am Main haben gezeigt, daß der Begriff des Neuen vor allem in der Ästhet ik eine noch wichtigere Rolle spielt, als die Ästhetische Theorie und andere veröf-fentlichte Schriften zeigen. In seinen Ästhetik-Vorlesungen hat Adorno das Neue ausgiebig thematisiert. Besonders im Rahmen der Vorlesung vom Som-mersemester 1961 widmet er mehrere Stunden dem Neuen, das er — bei allen Vorbehalten gegen Invarianten - als eine Invariante seiner Ästhet ik auffaßt.

Neuheit ist für Adorno zunächst kein Wertungskriter ium, sondern seit dem Hochkapital ismus Mitte des 19. Jahrhunderts ein Erkennungsmerkmal der modernen Kunst. Schon bei Edgar Allan Poe, „wahrhaft einem der Leucht-

14 Z. B. Hans-Peter REINECKE (Hg.): Das musikalisch Neue und die Neue Musik. Mainz 1969. - Hans Heinrich EGGEBRECHT: Der Begriff des „Neuen" in der Musik von der Ars nova bis zur Gegenwart. In: Kongreß-Bericht New York. Hg. von Jan LARNE. 2 Bände. Kassel u. a. 1962, Bd. I, S. 1 95 -202 . - Christoph von BLUMRÖDER: Der Begriff „neue Musik" im 20. Jahr-hundert. In: Freiburger Schriften zur Musikwissenschaft. Bd. 12. Hg. von Hans Heinrich EGGEBRECHT. München/Salzburg 1981 . - Vgl. auch Woldemar BARGIEL: Ueber das Neue und den Fortschritt in der Musik. O. O. 1882.

15 Vgl. KLUXEN (Hg.), a. a. O. Eine Ausnahme ist der Beitrag von Günter Wohlfart , des-sen Analyse des Augenblicks des Neuen in der Kunst eine große Nähe zu den Konsequenzen der Adornoschen Theorie des Neuen aufweist. (Günter WOHLFART: Das alte Neue. Die ästhe-tische Präferenz des Neuen und dessen Präfiguration im Alten. In: KLUXEN [Hg.], a. a. O., S. 448-56 . )

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türme Baudelaires und aller Moderne"16, ist nach Adorno im Schauer vor dem unerforschten Abgrund des Maelstroms die Faszination des Neuen beschrie-ben17 - analog dem „frisson nouveau", den Baudelaire nach einer Bemerkung Victor Hugos der Dichtung geschenkt hat.18 Explizit macht Adorno den Be-griff des Neuen zuerst an exponierter Stelle bei Baudelaire aus: am Ende des letzten Gedichtes der zweiten Ausgabe der Fleurs du Mal von 1861 im Zyklus La Mort. Die letzten beiden Strophen des Gedichts Le voyage vermitteln eine Aufbruchstimmung, in der unter der Devise „trouver du nouveau" der Auf-bruch ins Ungewisse gewagt wird. Für Adorno ist diese Aufforderung zur Su-che nach dem Neuen die Parole der Moderne schlechthin: „Das Neue erscheint diso hier als eine Parole, und zwar als die Parole, der zuzustreben ist", und da-durch gewinnt das Neue „normativen Charakter"19. Baudelaire ist für Adorno — darin folgt er Walter Benjamin — Apologet des Neuen, das Neue wird hier zur Devise der Moderne, umgekehrt faßt er den Satz von Rimbaud: „Ii faut etre ab-solument moderne" als Beleg für den normativen Charakter des Neuen in der Moderne auf.20 Seitdem ist die Forderung nach Neuheit für Adorno nicht mehr aus der Kunst wegzudenken, auch über die „heroischen Zeiten der neuen Kunst [...] um 1910, die des synthetischen Kubismus, des deutschen Frühexpressio-nismus, der freien Atonalität Schönbergs und seiner Schule"21 hinaus. Das bedeutet für die Ästhetik, daß sie nicht mit traditionellen Invarianten operieren darf, wenn sie die zeitgenössische Kunst angemessen beschreiben und offen für neue Entwicklungen sein will. Deswegen sieht Adorno sich veranlaßt, eine Äs-thetik zu entwerfen, die dem Neuen in der Kunst einen adäquaten Stellenwert zumißt:

„Die sehr dringliche, völlige Umorientierung des ästhetischen Gedankens, die mir in eins mit einer Umwendung des philosophischen Gedankens überhaupt fällig erscheint, nämlich die Wendung gegen das erste, das deduktive System, ebenso wie gegen den Empirismus ähnlichen Stils, erscheint mir dem Begriff des Neuen [...] eine besondere Bedeutung zu geben, eben weil dieser Begriff naturgemäß der Gegenbegriff zu jenen invarianten Lehren ist [ . . . ] . ""

Adorno grenzt seinen Entwurf einer dialektischen Ästhetik damit ab von der traditionellen philosophischen Folgerungsästhetik, der Ästhetik als einer blo-

16 AT, S. 38. 17 MM, S. 270. 18 Brief Victor Hugos an Baudelaire vom 6.10.1859. In: Charles BAUDELAIRE: Sämtliche

Werke/Briefe. In acht Bänden. Hg. von Friedhelm KEMP und Claude PlCHOIS in Zusammenar-beit mit Wolfgang DROST. Frankfurt am Main o. J. (Lizenzausgabe des Hanser Verlages), Bd. 5, S. 301.

" VÄ, S. 51. 20 Vgl. ebd. 21 ADORNO: Jene zwanziger Jahre. In: GS 10.2, S. 499. 22 Vo 6443.

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ßen Ableitung aus der Philosophie, wie bei Kant und Hegel. Denn wird Kunst nachträglich in das philosophische System eingereiht und mit dem dort festge-schriebenen Vokabular induktiv interpretiert, bleibt wenig Raum für das Kunstspezifische und für das Neue der Kunst. Es wird im Extremfall ausge-schlossen, daß es überhaupt etwas gibt, was sich nicht unter die vorgegebenen Begriffe subsumieren läßt: „Etwas Neues gibt es aber eigentlich im absolut ge-wordenen Idealismus überhaupt nicht mehr."23 Ebenso unzulänglich wie eine in diesem Sinne normative philosophische Ästhetik sind für Adorno die empiristi-schen Kunstwissenschaften, deren Invarianten aus der Analyse der älteren Kunstwerke selbst gewonnen wurden, wie zum Beispiel Gattungsbegriffe. Diese Invarianten einer Ästhetik, die sich auf ewige Ideale beruft, sind authentischen Kunstwerken der Moderne inadäquat, die sich nicht mehr an vorgegebenen Normen orientieren, sondern sich autonom und individuell or-ganisieren. Diese Tendenz beschreibt Adorno als fortschreitenden Nominalis-mus, das heißt, „daß die Kunstwerke immer weniger sich orientieren, sich im-mer weniger messen an dem Allgemeinbegriff der Gattung, in der sie sich be-finden, und daß sie stattdessen immer mehr die Tendenz haben, ein jedes in sich selbst als ein hic et nunc möglichst konkret auszuformen."24

Angesichts des Nominalismus ist das Festhalten der Ästhetik an Invarian-ten für Adorno ein Zurückweichen vor der Gegenwart in die Vergangenheit, ein Historismus im negativen Sinn. Ihm entspricht ein „Bedürfnis nach einer Struktur von Invarianten"25, das nach Adorno

„Reaktion auf die ursprünglich von der konservativen Kulturkritik seit dem neunzehnten Jahrhundert entworfene und seitdem popularisierte Vorstellung von der entformten Welt [ist]. Kunstgeschichtliche Thesen wie die vom Erlö-schen der stilbildenden Kraft speisen sie; von der Ästhetik her hat sie als An-sicht vom Ganzen sich verbreitet."26

Für die traditionellen Normen der Kunst gilt Adorno zufolge das gleiche wie für alle philosophischen Begriffe, nämlich daß sie im Hegeischen Sinne aufzu-heben sind: „Man muß sich fragen, wozu sie [die Begriffe, SZ] geworden sind und worin ihr Kern gleichsam überlebt; aber es handelt sich um einen Kern, den man nun nicht als etwas Invariantes herausschälen und gegenüber seinen wechselnden geschichtlichen Gestalten festhalten kann."27 Der Historismus übernimmt jedoch blindlings die präskriptiven und deskriptiven traditionellen Normen der Ästhetik wie z. B. die, daß ein Kunstwerk stimmig und geschlos-sen zu sein habe oder daß ein Drama entweder tragisch oder komisch ist. Das

23 PT 2, S. 72. 24 Vo 6376. 25 ND, S. 100. 26 ND, S. 100 - 1 . 27 PT 1, S. 198-9 .

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Falsche an dieser „historischen Gesinnung, dem Absud Hegels"28, ist nach Adorno, daß die ewigen Werte identifiziert werden mit den alten, bewährten, das Alte also nicht nur das Vergangene, sondern das Bleibende sein soll.29 Dar-aus resultiert die prinzipielle Ablehnung der modernen Kunst, deren Werke den traditionellen Wertungskriterien nicht mehr entsprechen, weil sie z. B. eben nicht stimmig und geschlossen sind. Alles Neue wird nach dem Maßstab des Alten beurteilt, das - zumal es im Gegensatz zum Neuen „durch Prestige gedcckt"30 ist - als das Bessere unterstellt wird; was davon abweicht, hat von vornherein keine Chance. „Je nach Belieben kann er [der Historismus, SZ] mit Argumenten aus der Rumpelkammer das Neue abwehren."31 Eine andere Vari-ante des Historismus beschreibt die zeitgenössische Kunst mit alten Begriffen und versucht, Ubereinstimmungen mit alten Kategorien und älterer Kunst zu finden. Das geschieht zum Beispiel durch die Subsumtion der Moderne unter den Manierismus, der für Gustav Rene Hocke eine Invariante der europäischen Kunst ist: „Dieser Stil, ein Stil, der das Irreguläre dem Harmonischen vorzieht, läßt sich nicht nur in der gesamten europäischen Literaturgeschichte nachwei-sen. Er beherrscht auch Epochen der bildenden Kunst vom Hellenismus bis zu den heutigen verschiedenen ,Deformations'-Tendenzen."32 Damit wird zwar formell die moderne Kunst akzeptiert, jedoch begreift dieses Verfahren sie noch weniger als die Haltung, die die neue Kunst rundweg ablehnt, denn es nimmt das, was anders und neu ist, gar nicht wahr. Daher ist nach Adorno „nichts der theoretischen Erkenntnis moderner Kunst so schädlich wie ihre Reduktion auf Ähnlichkeiten mit älterer. Durchs Schema .Alles schon dagewe-sen' schlüpft ihr Spezifisches".33 Während die Zurückweisung der modernen Kunst diese unangetastet läßt, nivelliert das Pseudoverständnis des falsch ver-standenen Empirismus von Literatur- und Kunsthistorikern sie auf das Immer-gleiche, das von der modernen Kunst gerade negiert wird. Die Stücke Becketts beispielsweise sind nicht nur keine Komödien und keine Tragödien - bezeich-net man sie, „wie es einem Schulästhetiker wohl in den Kram paßte", als „Mischformen vom Typus der Tragikomödie"34, ignoriert man ihre spezifische Form, die diese Kategorien überhaupt negiert und auf die diese Unterschei-dung daher nicht anwendbar ist. Doch ist dieses Nichterkennen des Gegenwär-tigen und Neuen nicht die einzige Konsequenz dieser Herangehensweise, son-dern die „geisteswissenschaftliche Manie, Neues aufs Immergleiche, etwa den

28 ADORNO: Kriterien der neuen Musik. In: GS 16, S. 179. "Vgl . Vo 6421. 30 ADORNO: Schwierigkeiten II. In der Auffassung neuer Musik. In: GS 17, S. 289. 31 ADORNO: Kriterien der neuen Musik. In: GS 16, S. 180. 32 Gustav Ren£ HOCKE: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische

Kombinationskunst. Hamburg 1959, S. 301. 33 ÄT, S. 36. 34 ÄT, S. 505.

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Surrealismus auf den Manierismus zu reduzieren"", endet zwangsläufig in ab-strakten Analogien und wird damit auch der älteren Kunst nicht gerecht.

Eine andere extreme Reaktion auf den Nominalismus in der Kunst ist für Adorno das völlige Verwerfen von Invarianten, also Relativismus. Einen relati-vistischen Umgang mit moderner Kunst, der die Entmächtigung der Invarian-ten, d. h. der beständigen Allgemeinbegriffe mit Universalitätsanspruch, nicht leugnet, hat Benedetto Croce vorgeschlagen. Seine Erfahrung, daß jedes Kunst-werk „on ist own merits" zu beurteilen sei, hat Adorno zufolge die historische Tendenz des vordringenden radikalen Nominalismus in der Kunst in die theo-retische Ästhetik hineingetragen.36 Danach muß dem Nominalismus in der Kunst mit einem philosophischen Nominalismus in der Ästhetik begegnet wer-den, der Erkenntnis einzig der Wahrnehmung von Einzeldingen zuspricht. Die-se Auffassung entspricht einem „ästhetischen Relativismus", „der Kunst als un-verbundenes Nebeneinander der Kunstwerke vorstellen muß"37. Zwar stimmt Adorno Croces Erkenntnis zu, daß die Kunst nicht durch Allgemeinbegriffe und Invarianten erfaßt werden kann, doch muß er den bei Croce daraus resul-tierenden Relativismus aus zwei Gründen ablehnen. Zum einen, weil er die ahistorische Betrachtungsweise für falsch hält. Wer Kunst als unmittelbar ver-ständlich ansieht und ein Kunstwerk abgelöst von der Geschichte der Kunst insgesamt und unabhängig von seinem Charakter als fait social betrachtet, kann seinen Problemzusammenhang nicht erkennen. Damit entgeht ihm ein We-sentliches an Kunst, nämlich daß sie Antwort auf bestimmte Fragen ist. Damit entgeht ihm auch - und das ist der zweite Kritikpunkt am Relativismus - ge-rade das Neue am Kunstwerk, das eben nicht einfach irgendein anderes ist, sondern eine qualitative Veränderung beinhaltet, die nur in Beziehung auf das Bestehende zu realisieren ist. Als vereinzelte betrachtet, bleiben Kunstwerke völlig unverstanden, die relativistische Sichtweise bewegt sich unkritisch an ih-rer Oberfläche; der Wahrheitsanspruch der Werke, der allein nach Adorno Kunst überhaupt legitimiert, bleibt unkommentiert, weil ihre Eigenbewegung und Vermitteltheit mit Geschichte nicht realisiert wird. Daher ist der ästheti-sche Relativismus für Adorno ebenso falsch wie die Invariantenlehren.

Das Problem jeder Ästhetik liegt Adorno zufolge darin, Besonderes mit allgemeinen Begriffen beschreiben zu müssen, während mit dem fortschreiten-den Nominalismus der Kunst dieser allgemeine Begriffe immer unangemesse-ner werden. Andererseits wohnt der Kunst ein allgemeines Element inne, so daß sich ein Kunstwerk nicht auf eine vereinzelte Individualität reduzieren läßt:

„Jedes Kunstwerk impliziert, vermöge dessen, daß es sich überhaupt einer Sprache bedient, und auch die Malerei und die Musik haben Sprache, damit ein

35 ÄT, S. 504. 36 ÄT, S. 297 und 494. 37 ÄT, S. 532.

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Moment von Allgemeinheit. Auf der anderen Seite gilt, daß die Sehnsucht und

Utopie von Kunst das Besondere, das Neue, das nicht Erfaßte zeigt.'08

Adorno versucht, der Dialektik des Allgemeinen und Besonderen in der Kunst Rechnung zu tragen, indem er erstens auf die Besonderheit des einzelnen Kunstwerks verweist, jedoch dieses Besondere selbst als historisch geworden auffaßt und damit auf allg emeine Begriffe bringt, und indem er zweitens Inva-rianten in der Kunst nicht leugnet, sie aber „im Kontext ihrer Veränderung" sieht, statt sie „aus der dynamischen Komplexion der Geschichte wie des ein-zelnen Werks"3 9 herauszulösen. Voraussetzung einer solchen Ästhet ik ist, daß sie anders als die Ursprungsphilosophie nicht vom Älteren auf das Jüngere schließt, sondern umgekehrt vom Jüngsten auf das Ältere, denn viele vergan-gene Kunstwerke „führen einen hartnäckigen Schein des spontan Zugänglichen mit sich", während sie in Wahrheit nicht mehr erfahrbar sind, weil die histori-sche Situation sich seit ihrem Entstehen grundlegend geändert hat: „Die Grenze der Erfahrbarkeit [...] nötigt dazu, von der Moderne auszugehen. Sie allenfalls wirft Licht aufs Vergangene, während der akademische Usus, weithin auf Vergangenes sich zu beschränken, davon abprallt und zugleich, durch Ver-letzung der Distanz, am Unwiederbringl ichen sich vergeht."40

Das Neue als Parole der Moderne wird für Adorno zum Ausgangspunkt einer aktuellen Ästhet ik , in der vom Gegenwärtigen auch neues Licht auf das Vergangene fällt. Das „kategoriale oder qualitative Verhältnis der Kunst zum Neuen" scheine ihm, so sagt Adorno in seiner Ästhet ikvorlesung vom Som-mersemester 1961, „dem Begriff der Kunst selber innezuwohnen"4 1 . Der Be-griff des Neuen bezeichnet das nach Adorno Beste an den Kunstwerken, das Unerfaßte, das, für das es noch keinen Begriff gibt. Paradoxerweise ist aller-dings die Identif iz ierung des Neuen als Neues bereits eine unzulässige Redu-zierung dieses Besonderen; das, was gerade noch nicht erfaßt sein soll, wird damit identif iziert . Insofern ist bereits Adornos Konstatierung einer „Kategorie des Neuen" widersprüchlich. Der Begriff des Neuen ist für ihn deswegen nur eine Hi lfskonstrukt ion. „Neu" heißt immer etwas anderes, das - aus Not -immer mit dem gleichen Wort bezeichnet wird. Das betr ifft auch die Dif ferenz zwischen dem Neuen in der Moderne und dem Neuen in der vorangegangenen Geschichte der Kunst, das zwar als neu bezeichnet wurde, jedoch keineswegs identisch mit dem in der Moderne geforderten Neuen ist. Für Adorno ist es deshalb auch unzulässig, die moderne Proklamation des Neuen mit dem Hin-weis zu relativieren, daß es die Forderung nach Neuheit immer schon gegeben habe, auch wenn die Forderung nach Neuheit in der Geschichte der Kunst nicht erst in der Moderne hervortritt - „schon das späte Mittelalter spielte eine

!8 VÄ, S. 27. 39 ÄT, S. 239. 40 ÄT, S. 518. Vgl. auch ÄT, S. 67 und Vo 6428. 41 Vo 6422.

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Urs nova gegen die ar.i aniu|iiu aus"4 ; . Trotz oder gerade wegen seiner Vieldeu-tigkeit, Allgemeinheit und Abstraktheit hält Adorno explizit am Begriff des Neuen fest.43 Die Zwiespältigkeit dieses extrem allgemeinen Begriffs, der mit wenigen ebenfalls extrem allgemeinen Best immungen eine Vielzahl von völlig verschiedenen Dingen erfaßt, macht ihn interessant für Adorno, der für seine Beschreibung der Kunst einerseits keine der üblichen unhistorischen und nor-mativen Invarianten heranziehen, andererseits aber auch nicht relativistisch ver-fahren und das Vorhandensein von Invarianten in der Kunst überhaupt abstrei-ten möchte: „Kritik an den Invarianten verleugnet diese nicht einfach sondern denkt sie in ihrer eigenen Varianz."44 Entsprechend versteht Adorno den Be-griff des Neuen als variable Invariante der Kunst.

In seiner Kritik am Gebrauch des Begriffs bei Adorno bezeichnet Peter Bürger in der Theorie der Avantgarde den Begriff des Neuen wegen seiner Viel-deutigkeit und Abstraktheit als unbrauchbar für die Beschreibung des Spezif i-schen der Moderne (ebenso wie der Avantgarde) : „Der Begriff des Neuen ist zwar nicht falsch, aber zu allgemein und unspezifisch".45 Für Adorno ist dage-gen gerade diese Abstraktheit wichtig und inhaltlich entscheidend, nur so kann die Kategorie des Neuen überhaupt zu einer Invariante seiner Ästhet ik werden. Der Begriff des Neuen bezeichnet nämlich keine best immte Qualität . „Neu" wird etwas genannt, was verschieden ist von einem Bestehenden. Das Neue selbst kann nicht positiv best immt werden, sondern nur negativ, wie Horkhei-mer in einer Diskussion mit Adorno anmerkt46 , nämlich aus dem, wovon es ab-weicht. Eine historizist ische Position wie etwa die von Groys, die versucht, dem Neuen in der Kunst eine best immte Qualität zuzusprechen und sein Auf-treten auf best immte Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, wird weder der alten noch der neuen Kunst gerecht.47 Diese Versuche, einen best immten Begriff des Neuen als Invariante zu installieren, die für Vergangenheit , Gegenwart und Zu-

42 ADORNO: Musik und neue Musik. In: GS 16, S. 487. 43 In der Ästhetik verwendet Adorno „neu" oft etwas unpräzise als Synonym für „mo-

dern", häufig in der Verbindung „neue Kunst" („neue Literatur", „neue Kunst"; zur Bezeich-nung „neue Musik" vgl. BLUMRÖDER, a. a. O.), Im Einzelfall ist jedoch leicht zu entscheiden, ob. „neu" beiläufig, in rein temporaler Bestimmung benutzt wird oder ob das Neue im emphati-schen Sinne gemeint ist.

44 ÄT, S. 522. 45 BÜRGER: Theorie der Avantgarde, a. a. O., S. 85. 46 DP, S. 466 (Zusammenfassung der Protokollantin Gretel Adorno). 47 Groys vertritt die These, daß Innovation in der zeitgenössischen Kunst einzig einer An-

passung der Kunstproduktion an die Gesetze des Marktes zu verdanken sei, indem nämlich das Neue als Tauschwert fungiert. Für Groys ist das neu, was vom profanen Bereich in den künstle-rischen Bereich wechselt. Aus Adornos Sicht ist das allerdings nur ein Teilaspekt dessen, was Neuheit ausmacht. So schließt Groys' Theorie die Möglichkeit innerästhetischer Innovation nicht ein. Zudem bleibt das, was vom profanen Bereich in den künstlerischen aufgenommen wird, dort nicht unverändert, so daß seine Neuheit nicht nur darin besteht, für die Kunst neu zu sein.

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kimll gleichermaßen gellen soll, müssen nach Adorno fehlschlagen.'1" Der Be-griff des Neuen ist indessen bei Adorno kein völlig beliebiger, ungenauer, un-spezifischer, sondern ein Terminus technicus, dessen Bestimmungen sich unter verschiedenen theoretischen Aspekten beschreiben und systematisieren lassen.

Die grundlegende und für Adornos Verständnis der Kategorie des Neuen wesentliche Charakterisierung betrifft die Unterscheidung von temporalem und qualitativem Aspekt des Neuen, die Adorno von Walter Benjamin über-nimmt. Das deutsche Adjektiv neu umschließt zwei Bedeutungen, für die es im griechischen zwei verschiedene Wörter gibt: KOIWÖ^, das ein qualitativ Neues, Verschiedenes meint, und veoc,, das ein der Zeit nach Neues: das Jüngste, Fri-sche bezeichnet, wobei sich die Bedeutungen zum Teil überschneiden und bei-des wie das deutsche neu auch „unbekannt, unerwartet, überraschend, uner-hört, wunderbar" bedeuten kann.49 Hinzu kommt noch ein zweiter temporaler Aspekt, der der Augenblickhaftigkeit, auch im Sinne des KOapö<; des entscheidenden bzw. richtigen Augenblicks.51 Die Berücksichtigung dieser ver-schiedenen Aspekte des Neuen hat zur Folge, daß als Gegensatz zum Neuen nicht - wie allgemein üblich52 - allein das Alte gelten kann, sondern ebenso das Gleiche und das Dauernde. Bei Benjamin und Adorno ist deswegen ein zweiter Gegenbegriff zum Neuen im Begriff des Immergleichen zusammengefaßt, in

48 Weil das Neue variabel gedacht werden muß, ist die z. B. von Simon-Schaefer geäußerte Auffassung, damit, daß das Neue zur Norm geworden sei, widerspreche es sich selber, falsch. Seine Behauptung „Alles, was in Zukunft an Innovation noch auftreten könnte, ist damit im Prinzip schon formuliert" (SIMON-SCHAEFER, a. a. O., S. 51.) faßt das Neue als die Invariante auf, die es der Allgemeinheit seiner Bestimmungen nach gar nicht sein kann.

49 Jürgen MOLTMANN: Artikel „Neu, das Neue." in: RITTER/GRÜNDER (Hg.), a. a. O., Bd. 6., Sp. 725-7 , hier: Sp. 725 f. - Zur Unterscheidung von veog und KCClVÖq vgl. auch Johan-nes BEHM: Artikel „KOCtVÖq". In: Gerhard KITTEL (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Bd. 3. Stuttgart 1938, S. 450-6. - Zum Begriff des Neuen in der Bibel vgl.: Günter BADER: Alles neu - eine poetisch-theologische Reflexion über Schöpfung und Neu-schöpfung. In: MOOG-GRÜNEWALD (Hg.), a. a. O., S. 159-71 . - Zum Begriff des Neuen vgl.: Artikel „Neu" bis „Neuzeit". In: Jacob und Wilhelm GRIMM: Deutsches Wörterbuch. München 1984, Bd. 13, Sp. 644-89. - Artikel „Neu", „Neuen". In: Moritz HEYNE: Deutsches Wörter-buch. Leipzig 1906, Bd. 2, Sp. 983-7. - Artikel „neu". In: Joh. Christ. Aug. HEYSE: Handwörterbuch der deutschen Sprache. Hildesheim 1968, Bd. II, S. 274-6 . - Artikel „neu". In: Ruth KLAPPENBACH und Wolfgang STEINITZ (Hg.): Wörterbuch der deutschen Gegenwarts-sprache. Berlin (DDR) 1974. - Ferdinand Ludewig von HOPFFGARTEN: Ueber das Besondere und die Neuheit. Leipzig 1772.

50 Vgl. Gerhard DELLING: Artikel „KCCipoq". In: Gerhard KITTEL (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament. Bd. 3. Stuttgart 1938, S. 456-65.

51 Daher erscheint die Vermutung, daß etymologisch die Begriffe „neu" und „Nu" den gleichen Ursprung haben, wie im Grimmschen Wörterbuch (a. a. O., Bd. 13, Sp. 644) angedeu-tet, plausibel.

52 Vgl. z. B. den Titel eines philosophischen Symposions und der daraus hervorgegangenen Publikation: „Die Furie des Verschwindens. Uber das Schicksal des Alten im Zeitalter des Neuen". Hg. von Konrad Paul LIESSMANN. Wien 2000.

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dem der qualitative Aspekt (gleich) und der temporale der Dauer ( immer) laß-bar werden.

Adorno setzt sich mit seiner Auffassung vom qualitativ Neuen explizit ab von Jauß, der, so Adorno, „den Begriff des Modernen überhaupt als eine Art ewige oder natürliche Kategorie betrachtet, gewissermaßen als ein Generations-verhältnis"53, und der das Neue nur deshalb als Invariante der Kunst installieren kann, weil er es vor allem temporal auffaßt. Adorno hingegen hält „die Katego-rie des Neuen nicht für eine bloss temporale und insofern ganz leere und will-kürliche",54 mit der schlicht das jeweils Jüngste gemeint ist, sondern besteht auf einer qualitativen, emphatischen Neuheit, wie sie etwa in der Neuen Musik zum Ausdruck kommt:

„Die neue Musiksprache, die sich als positive Negation der überlieferten for-miert, ist aber nicht auf die Trivialität zu bringen, man habe etwas Neues und anderes gewollt - eine kunstwissenschaftliche Konstatierung, die auf alles zu-trifft und darum auf nichts, und die auf die bloße Tautologie hinausläuft, in der Entwicklung folge Späteres auf Früheres. [...] Der Widerwille gegen das Einschmeichelnde, sich Anbiedernde, das noch in die große Produktion hin-einreicht, hat Teil am Pathos eines qualitativ Neuen."55

Eine vorwiegend temporale Auffassung des Neuen erfaßt die aus der Negation des Vorangegangenen bzw. Immergleichen entstehende Qualität des Neuen nicht und versäumt damit, „gerade das zu erklären, was allein zu erklären wich-tig wäre, nämlich das, wodurch neue, avancierende Produkte von all dem [Ver-trauten, SZ] sich wesentlich unterscheiden"56. Nur durch seine Differenz vom Alten und Immergleichen wird das Neue zu einem Gegenwärtigen, zum gerade erst erschienenen Jüngsten. Wesentlich für die Bedeutung des Neuen ist für Adorno aber auch der temporale Aspekt des Nicht-Dauerns und Alterns, die Integration seines eigenen Untergangs, aus dem die immanente Dynamik des Neuen resultiert, die das Neue von den verwandten relationalen Begriffen des Fremden und Anderen unterscheidet.

Wie bereits gesagt, spielt das Neue bei Adorno nicht nur im Zusammen-hang der Ästhetik, sondern auch in seiner Erkenntnis- und Gesellschaftstheorie

53 V Ä , S. 59. - Jauß spricht in einem 1965 erstmals erschienenen Aufsatz der Moderne das „Eigenrecht am Neuen" ab und erklärt das Neue „zur .literarischen Konstante' [...] und für die Geschichte der abendländischen Bildung so gewöhnlich und natürlich [...] wie der Generations-wechsel in der Biologie." (Hans Robert JAUSS: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: ders: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt am Main 1970, S. 13.) Entsprechend nennt er im Anschluß an Curtius die Querelle des Anciens et des Modernes ein „konstantes Phänomen der Literaturgeschichte und Literatursoziologie". (JAUSS: Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der Querelle des Anciens et des Modernes, a. a. O., S. 52.)

54 Vo 6443. 55 ADORNO: Musik und neue Musik. In: GS 16, S. 485-6 . 56 VÄ, S. 23.

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sowie seiner Geschichtsphilosophie eine große Rolle. Die verschiedenen Be-st immungen, die das Neue dort hat, werden im Neuen der Kunst ref lekt iert . Umgekehrt ist das Neue in der Kunst empirisches Korrelat von Adornos theo-retischer - nicht nur ästhetischer - Konzeption des Neuen. Wenn mit dieser Arbeit versucht werden soll, aus Adornos Äußerungen zum Neuen eine Theo-rie des Neuen zu konstruieren und dabei die Ursachen für die zentrale Bedeu-tung des Neuen in der Moderne zu benennen, muß deshalb die Betrachtung des Neuen in Adornos Ästhet ik mit seinen erkenntnis- und gesel lschaftstheo-retischen sowie geschichtsphilosophischen Best immungen in Beziehung gesetzt werden. Weil eine solche Fokussierung auf das Neue bei Adorno bisher noch nicht durchgeführt wurde, erscheint es mir notwendig, Adorno mit seinen maßgeblichen Aussagen zum Neuen ausführl ich selber zu Wort kommen zu lassen, besonders — soweit möglich - in den bislang unveröffent l ichten Ton-bandtranskriptionen der Vorlesungen. Durch Klärung des jeweil igen Kontexts, in dem das Neue bei Adorno erörtert wird, sollen die einzelnen Momente des im Begriff des Neuen Gedachten best immt und der Zusammenhang dieser Mo-mente gezeigt werden. Dabei soll die Bedeutung des Begriffs des Neuen auf dem Hintergrund seiner Gegenbegriffe des Alten und des Immergleichen dar-gestellt und von verwandten Begriffen wie denen der Mode, der Sensation, des Fremden, des Anderen usf. abgegrenzt werden. Diese Untersuchung will vor allem die Komplexität des Begriffes erfassen und seine verschiedenen Best im-mungen darlegen, also einen Einblick in die wichtigsten Geltungsbereiche des Begriffes bei Adorno geben. Die Gliederung richtet sich nach den philosophi-schen Disziplinen der Erkenntnistheorie, Gesellschaftstheorie, Geschichtsphi-losophie und Ästhet ik . Daß sich Überschneidungen dabei nicht vermeiden lie-ßen, versteht sich angesichts der Amalgamierung dieser Bereiche in Adornos Theorie von selbst.

Für Adorno war Benjamins Passagen-Werk die einzige Arbeit , die sich bis dahin mit dem Begriff der Moderne selbst beschäftigt hatte - und in diesem Zusammenhang auch mit dem Begriff des Neuen:

„[D]er Plan des Buches ,Pariser Passagen' visiert ebenso ein Panorama dialek-tischer Bilder wie deren Theorie. Der Begriff dialektisches Bild war objektiv gemeint, nicht psychologisch: die Darstellung der Moderne als des Neuen, des schon Vergangenen und des Immergleichen in Einem wäre das zentrale philo-sophische Thema und das zentrale dialektische Bild geworden."57

Da Adornos Theorie des Neuen zentrale Begriffe und Theoreme der Benjamin-schen Konzeption der Moderne, seiner Interpretation Baudelaires und seiner Auffassung über das Phänomen des Neuen übernimmt, ist den Ausführungen über Adorno eine Untersuchung über den Begriff des Neuen bei Walter Benja-min vorangestellt .

57 ADORNO: Einleitung zu Benjamins Schriften. In: GS 11, S. 575. Vgl. auch V Ä , S. 52.

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In seinem Passagen-Werk ist nicht nur der oft kommentierte Begriff des Im-mergleichen, sondern auch der wesentlich weniger beachtete des Neuen ein Terminus technicus, dessen Genese sich auf dem Hintergrund der Benjamin-schen Erfahrungslehre rekonstruieren läßt. Immergleiches und Neues gehen aus den qualitativen Kategorien der Gleichheit und der Verschiedenheit hervor, die aus einer Fehlentwicklung der menschlichen Erkenntnis und aus dem Ver-fall von Erfahrung entstanden sind: dem Verlust des mimetischen Vermögens als Fähigkeit, Ähnlichkeiten wahrzunehmen. Der an dessen Stelle getretene Dual ismus von qualitativer Gleichheit bzw. Verschiedenheit tritt im 19. Jahr-hundert als Konstrukt ion des Bewußtseins zutage. In der Anwendung der fal-schen Kategorien der Gleichheit und Verschiedenheit auf die Geschichte wird aus dem Gleichen das Immergleiche, wie es bei Blanqui und bei Nietzsche in der Lehre von der ewigen Wiederkehr als antagonist ischem Pendant zum ver-selbständigten Fortschrit tsoptimismus formuliert ist, und aus dem Verschiede-nen wird das Neue als Element des Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts , der auf der Hypostas ierung des Neuen beruht. In seiner Geschichtsphilosophie verfolgt Benjamin den Begriff eines „wahrhaft Neuen" als Kategorie histori-scher Erkenntnis, deren Qualität Ähnlichkeit und deren Temporal i tät die vom falschen Neuen abgeleitete Aktual i tät ist. Damit verbindet er die moderne Ka-tegorie des Neuen mit einer Reaktivierung der qualitativen mimet ischen Wahr-nehmung zu einer neuen Art der Erkenntnis und Konstruktion von Geschich-te. Das „wahrhaft Neue" ist der erfüllte Augenbl ick der Erkenntnis als Erfah-rung der utopischen universalen Erkenntnis des Vergangenen in der Synchroni-sierung aller Momente.

Adornos Theorie des Neuen ist Benjamin insofern verpfl ichtet, als er die Kategorien des Neuen und des Immergleichen und ihre Best immung als tem-porale und qualitative Kategorien von ihm übernimmt. Der von Benjamin in-tendierten Uberwindung dieser falschen Kategorien durch Versöhnung ihrer qualitativen Momente der Gleichheit und Verschiedenheit in der Ähnlichkeit kann Adorno hingegen nicht folgen. Er hält die Benjaminsche Geschichtsphilo-sophie für aff irmativ und kritisiert ihr undialektisches Verhältnis zur Vergan-genheit. Für Adorno kann Erkenntnis nur kritisch zur Geschichte sein, deswe-gen geht er von einem dialektischen Verhältnis zwischen Neuem und Immer-gleichem aus, in dem das Neue zunächst als Antithese fungiert . So ist für ihn das wahre Neue nicht das Ähnliche, sondern das Verschiedene, das sich auf das (Immer-) Gleiche bezieht, durch Integration selber zum Immergleichen wird und damit zum Bezugspunkt für neues Verschiedenes. Damit beinhaltet die Adornosche Konzeption des Neuen eine dem Neuen inhärente Dialekt ik und Dynamik , während Benjamins Auffassung von der Ähnlichkeit des wahrhaft Neuen diesem keine dynamische Funktion zuspricht.

Die zentrale These dieser Arbeit ist, daß das Neue als Angelpunkt negativer Dialektik auch Kern der dialektischen Ästhetik Adornos sein muß bzw. daß umge-kehrt für Adorno die Anwesenheit des Neuen in der Kunst nicht nur Indiz für die Widersprüchl ichkeit der rationalistischen Weltsicht und Negat ion der herr-

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sehenden Verhüll nisse ist, sondern daß Kunst in ihrem spezifischen, anderen, je-weils qualitativ neuen Austrag der Antagonismen auch Ausdruck der Möglichkeit von Veränderung, von Freiheit und wirklichem Fortschritt ist. Die Frage nach der Möglichkeit des Neuen ist bei Adorno daher nicht die Frage, ob es überhaupt Neues geben kann, und erst in zweiter Linie ist es die Frage nach der Möglich-keit der Herstellung von (historisch) Neuem. Seine Philosophie zielt vielmehr auf die Beantwortung der Frage, wie es möglich und warum es anscheinend notwendig ist, daß es Neues (in der Kunst) gibt. Betrachtet man die Kunst als Vorbild für die Realität, gewinnt man Adorno zufolge auch Anhal tspunkte für eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des Eintretens von (histo-risch) Neuem. Auf diese Weise läßt sich auch der Adorno am häufigsten vor-geworfene Widerspruch entkräften. Dieser betrifft die Unmögl ichkei t , die Ge-schlossenheit des Immanenzzusammenhangs und der absoluten Negativität des Bestehenden zu überschreiten bzw. aus dem vorgezeichneten katastrophischen Verlauf der Geschichte auszubrechen. Das Neue kann bei Adorno als ein Indiz für die Durchlässigkeit der Grenze zwischen dem Identischen und dem Nicht-identischen, zwischen dem Bestehenden und der Utopie gelesen werden. Daß diese Grenze durchlässig ist, heißt damit nicht, daß man über die Grenze hin-aussehen könnte, sondern daß man etwas sehen kann, das diese Grenze gerade überschritten hat. Damit wäre auch die Frage nach dem Überschrei ten der Grenze falsch gestellt . Weil das Neue diesseits der Grenze liegt, wäre nicht mit Schmidt zu fragen: „Wie ist das .Heraustreten' aus dem Bann zu denken?"58 , sondern „Wie ist das .Hereintreten' in den Bann zu denken?" Danach käme es weniger darauf an, aus einem Geschlossenen hinauszutreten als vielmehr etwas von außen hineinzulassen, ohne es von vornherein zu unterwerfen. Damit be-käme auch die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis eine andere Bedeutung. Vielleicht besteht die richtige Praxis weniger darin, etwas zu tun, als etwas zu lassen.59

Da die Schriften Adornos eine große Konstanz aufweisen6 0 - das gilt auch für die Dialektik der Aufklärung, Adornos „schwärzeste [s] Buch"61 - , kann auf eine Berücksichtigung der Chronologie in Adornos Denken in dieser Arbeit

58 Alfred SCHMIDT: Begriff des Materialismus bei Adorno. In: FRIEDEBURG/HABERMAS (Hg.), a. a. O., S. 19.

59 Jede A r t von Praxis wäre eine Form von Herrschaft. Daher muß Adorno sie ablehnen. 60 Das zeigt für den Bereich der Ästhetik z. B. ein Vergleich zwischen den Aufzeichnungen

zur Ästhetik-Vorlesung von 1931/32 (in: Frankfurter Adorno Blätter. Bd. I. Hg. vom Theodor W. Adorno Archiv. München 1992) und der Ästhetischen Theorie bzw. den Ästhetik-Vorlesun-gen von 1961/62 bzw. 1967/68. - Ähnlich äußert sich auch Wellmer, der „die Kontinuität seines Denkens von den frühen Frankfurter Arbeiten zur Philosophie und Musiksoziologie bis hin zu seinen Spätwerken, der Negativen Dialektik und der Ästhetischen Theorie" hervorhebt. (Albrecht WELLMER: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. Frank-furt am Main 1985, S. 139.)

" HABERMAS: Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 130.

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weilgehend zugunsten einer Orientierung an der Logik der Sache verzichtet werden. Bei Adornos Bestimmungen des Begriffs des Neuen ließen sich keine grundlegenden Veränderungen feststellen, spätere Arbeiten sind auch in bezug auf das Neue in der Regel Ergänzung der vorangegangenen bzw. Entfaltung früher angelegter Zusammenhänge.

Es läge nahe, die Wirksamkeit des Begriffs des Neuen als Wertungskr i te-rium anhand von Beispielen überprüfen zu wollen. Jedoch kann aus einer Be-st immung des Neuen, wie sie sich in der Ästhet ik Adornos darstellt , gerade kein al lgemeiner Maßstab für die Bewertung von Kunst gewonnen werden. Das mag auch ein Grund dafür sein, daß Adorno den Begriff des Neuen in seinen Interpretationen einzelner Werke kaum verwendet, sondern dort die diversen Best immungen des Neuen zum Zuge kommen, wie Negat ion des Immerglei-chen, Augenbl ickhaft igkeit oder utopischer Charakter . Umgekehr t würde eine beispielhafte Analyse nichts über die allgemeine Wirksamkeit oder St immigkeit des Begriffs des Neuen aussagen. Deshalb dienen die verwendeten Beispiele ausschließlich der Illustration, und es handelt sich in der Regel um Adornos ei-gene Beispiele.

Adornos Konzeption des Neuen ist bisher nicht ausführl ich analysiert worden. Neben dem bereits genannten Essay von Groys, der sich auf Adornos Ästhet ik bezieht, wenn er sich von der emphatischen Idee des Neuen in der Moderne absetzt , und dem soeben von Tilo Wesche vorgelegten Versuch einer Interpretation des Begriffs des Neuen in Adornos Ästhetischer Theoriebl sind noch zu nennen die 1990 erschienene Untersuchung von Hauke Brunkhorst Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne, die als einzige die Bedeutsamkeit des Neuen innerhalb der gesamten Theorie Adornos hervorhebt.63 Außerdem beschäftigen sich Peter Bürgers Theorie der Avantgarde von 197464 und die Dissertation von Norbert Zimmermann Der ästhetische Augenblick von 19 8965

mit einzelnen Aspekten des Neuen. Diese Arbeiten berücksicht igen wie bisher alle Untersuchungen zur Ästhet ik Adornos die Kategorie des Neuen jedoch nicht in ihrer von Adorno gedachten Komplexität, woraus dann - wenn der Be-griff überhaupt thematisiert wird - die jeweils nur aspektbezogene Kritik an dieser Kategorie resultiert. So ist Bürgers Feststel lung: „Für Adorno ist die Ka-tegorie des Neuen in der Kunst notwendige Verdoppelung dessen, was die Wa-

62 Tilo WESCHE: Adornos Engführung von Kunst und Moderne - Zum Begriff des Neuen

in der Ästhetische (n) Theorie. In: MOOG-GRÜNEWALD (Hg.), a. a. O., S. 73 -89 . 63 Allerdings geht Brunkhorst davon aus, daß es Adorno bei der Frage nach der Möglich-

keit des Neuen immer bereits um die Herstellung eines historisch Neuen geht (Hauke BRUNK-

HORST: Theodor W. Adorno. Dialektik der Moderne. München, Zürich 1990, z. B. S. 32, 36).

Die diesem Schritt vorangehende Analyse des bereits vorhandenen Neuen - des Neuen auf dem

Markt ebenso wie des Neuen in der Kunst - berücksichtigt er nicht. 64 A. a. O. 65 Norbert ZIMMERMANN: Der ästhetische Augenblick. Theodor W. Adornos Theorie der

Zeitstruktur von Kunst und ästhetischer Erfahrung. Frankfurt am Main u. a. 1989.

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rengesellschaft beherrscht"66 , zum Beispiel eine einseitige Reduzierung des Be-griffs.67 Auch die These von Groys ist zu eng gefaßt, da die Bedeutung des Neuen in der Kunst sich nicht auf ökonomische Aspekte beschränkt. Im Hin-blick auf diverse Teilaspekte hingegen, die sich um den zentralen Begriff des Neuen gruppieren (z. B. Individualität, Besonderheit, Sensation, Mode, Nega-tion, Nichtidentisches, Fortschritt , Utopie, Augenbl ick) , kann auf zahlreiche die Theorie Adornos kritisch rekonstruierende Untersuchungen bzw. auf sol-che, die einen philosophiehistorischen Zusammenhang aus der Perspektive Adornos herstellen, rekurriert werden.

" BÜRGER: Theorie der Avantgarde, a. a. O., S. 84. 6 Darauf hat auch Lüdke hingewiesen. Vgl. W. Martin LÜDKE: Die Aporien der materia-

listischen Ästhetik - kein Ausweg? Zur kategorialen Begründung von P. Bürgers Theorie der Avantgarde. In: ders. (Hg.): Theorie der Avantgarde. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt am Main 1976, S. 61 f.

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D A S N E U E A L S K A T E G O R I E D E R M O D E R N E BEI B E N J A M I N

Benjamin stellt in seinem Passagen-Werk die Moderne der Ant ike , also das Ge-genwärtige dem Vergangenen und das Neue dem Immergleichen gegenüber. Dabei sind das Neue und das Immergleiche der Moderne zugeordnet : „Die phi-losophische Rekognoszierung der Moderne ist dem dritten Teil zugewiesen, wo sie unter dem Begriff des Jugendst i ls angebahnt, in der Dialekt ik des Neuen und Immergleichen abgeschlossen wird."1 Die Neuheit als nouveaute erhält nach Benjamin nämlich erst mit Beginn der Moderne im Hochkapita l i smus des 19. Jahrhunderts ihre Bedeutung und wird dort ebenso bedeutsam wie die Alle-gorie im 17. Jahrhundert : „Wie im XVII. Jahrhundert die Allegorie der Kanon der dialektischen Bilder wird, so im XIX. Jahrhundert die Nouveaute."2

Sichtbar und interessant wird die Kategorie des Neuen dabei zusammen mit ihrem dialektischen Gegenstück: der Immergleichheit , die einerseits als qualitative Kategorie der Gleichheit der Masse und andererseits als historische Kategorie der ewigen Wiederkehr relevant wird. Sowohl das Neue als auch das Immergleiche sind für Benjamin der Realität nicht angemessene Kategorien, denn die Ideen der Gleichheit und der Verschiedenheit — also die qualitativen Aspekte des Neuen und des Immergleichen - entstehen aus einer Fehlentwick-lung der menschlichen Erkenntnis und Erfahrung. Entsprechend falsch sind die darauf beruhenden geschichtsphilosophischen Konzeptionen des Fortschritts-denkens und der Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Grundlage der Theorie des Neuen ist bei Benjamin also seine Erfahrungslehre. Sie gibt Aufschluß über den Ursprung der Kategorie des Neuen. Die Benjaminsche Ge-schichtsphilosophie ist der Erfahrungslehre insofern nachgeordnet, als be-st immte geschichtsphilosophische Schlüsselbegriffe wie Konstellation, Aktual i -tät und Diskontinuität nur dann richtig verstanden werden können, wenn Ben-jamins erfahrungs- und erkenntnistheoretische Begriffe der Ähnl ichkeit und Individualität, der Gleichheit und der Nivellierung, der Verschiedenheit und der Vereinzelung geklärt wurden. In seiner Geschichtsphilosophie verfolgt Benjamin einen Begriff des Neuen, der von dem des falschen Neuen, der Anti-nomie des Immergleichen, verschieden ist. Er nennt es das „wahrhaft Neue".

Gerade für eine präzise Klärung dieses Begriffs des Neuen wäre es abträg-lich, sich al lzusehr auf die ideologiegeprägte Benjamindiskussion (vor allem der 70er und frühen 80er Jahre) einzulassen. Folgt man dem Hauptinteresse dieser Diskussion, nämlich der Frage, ob Benjamin nun eher theologisch oder eher marxistisch zu deuten sei, läuft man Gefahr, das Neue allzuleicht mit einer der beiden zur Diskussion stehenden Theorien zu identif izieren: das wahre Neue als das messianische Moment oder aber als Erfüllung der marxist ischen Utopie

1 Brief Benjamins an Adorno vom 9.12.1938. In: Briefe 2, S. 793. 2 PW, S. 56.

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zu begreifen. J Vielversprechender für die Rekonstrukt ion der Bedeutung des Begriffs des Neuen bei Benjamin ist eine Lektüre der Benjaminschen Ge-schichtsphilosoph le auf dem Hintergrund seiner Erfahrungslehre, wie sie auch Gagnebin, Greffrath, Schwarz, Wehling4 u. a. vornehmen. Wehl ing kann ich da-bei insofern folgen, als er eine Entgegensetzung von Benjamins auf seiner Er-fahrungslehre beruhenden Konzeption der Moderne zu Adornos Theorie der Moderne und anderen Theorien, die in Anschluß an Max Weber die zuneh-mende Rationalisierung als das wichtigste Kennzeichen der Moderne ansehen, vornimmt. Dagegen wird von Benjamin „die industriekapital ist ische Moderne als eine scheinhafte .Dialektik des Neuen und Immergle ichen' analysiert , die mit einer .Krise der Erfahrung' in der entfalteten industriel len Warenproduk-tion einhergeht."5 So steht nach Wehling bei Benjamin die Kategorie des Neuen in eindeutigem Zusammenhang mit seiner Erfahrungslehre, während bei Ador-no das „echte" Neue vor allem als Gegengewicht zu Rational is ierungstenden-zen etabliert wird.

Zur Klärung des Begriffs des Neuen selbst - also z. B. zu der Frage der Gewichtung von temporalem und qualitativem Aspekt des Neuen oder zum Problem der verschiedenen Best immungen und Bewertungen des Neuen bei Benjamin - tragen die genannten Autoren ebenso wie alle anderen wenig bei. Der Begriff des Neuen wird auch von den Benjamin-Interpreten unkrit isch be-nutzt und bald als positiver, bald als negativer Begriff gesehen, ohne dieser Be-deutungsverschiebung nachzugehen oder sie zu kommentieren. Nach Wehl ing „definiert Benjamin die Moderne als ,Dialektik des Neuen und Immerglei-chen'",6 und da Wehling eine neue Theorie der Moderne auf der Grundlage der frühen krit ischen Theorie entwickeln will, stellt er diese Konzeption in den Mittelpunkt seines Buches. Jedoch geht er den Begriffen des Neuen und des Immergleichen selbst nicht weiter nach - abgesehen davon ist die Formulie-rung, nach Benjamin sei die Moderne die Dialektik des Neuen und Immerglei-

3 Diese beiden Alternativen stellt z. B. Engelhardt zur Debatte, wenn er über die Thesen zur Geschichte schreibt, „der Fluchtpunkt von Benjamins Geschichtsphilosophie [sei], je nach-dem, welche der Methoden, deren Interferenzen den Text so interpretabel machen, man wählt, die Erlösung durch den Messias oder durch die Revolution". (Hartmut ENGELHARDT: Der historische Gegenstand als Monade. Zu einem Motiv Benjamins. In: Peter BULTHAUP [Hg.]: Materialien zu Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte. Beiträge und Interpretationen. Frankfurt am Main 1975, S. 304.)

Jeanne-Marie GAGNEBIN: Zur Geschichtsphilosoph ie Walter Benjamins. Erlangen 1978. - Krista R. GREFFRATH: Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbe-griff Walter Benjamins. München 1981. - Ullrich SCHWARZ: Rettende Kritik und antizipierte Utopie. Zum geschichtlichen Gehalt ästhetischer Erfahrung in den Theorien von Jan Muka-rowsty, Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. München 1981. - Peter WEHLING: Die Moderne als Sozialmythos. Zur Kritik sozialwissenschaftlicher Modernisierungstheorien. Frank-furt am Main 1992.

5 WEHLING, a. a. O., S. 11. ' Ebd., S. 78.

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chen, nicht zutreffend. Meine Untersuchung der Ableitung der Kategorie des Neuen aus Benjamins Erfahrungslehre und ihrer Funktion in der Geschichts-philosophie muß also etwas ausführl icher ausfallen. Daß es bei Benjamin eine positive und eine negative Best immung des Neuen gibt, steht außer Zweifel. So nennt Benjamin es einmal „die Quintessenz des falschen Bewußtseins"7 , ein anderes Mal wird es zum Ort des wirklichen Fortschritts, der eben „nicht in der Kontinuität des Zeitverlaufs sondern in seinen Interferenzen zu Hause [ is t ] : dort wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht."8 Das schlechte Neue ist die Ant inomie des schein-haften Immergleichen. Das „wahrhaft Neue" bezeichne ich zunächst als den er-füllten Augenbl ick. Diesen beiden Best immungen wird in den folgenden beiden Kapiteln nachgegangen.

Bei meinen Untersuchungen stütze ich mich vor allem auf die Texte Benja-mins zur Mimesis und Ähnlichkeit , seine Sprachtheorie, das Passagen-Werk und die Thesen zur Geschichte, die von Benjamin als methodologische Klärung für die Fortsetzung des Baudelaire-Aufsatzes geplant waren. Benjamins Äußerun-gen zur Person Baudelaires und zu seinen literarischen und theoretischen Wer-ken spielen in meiner Untersuchung eine besondere Rolle. Auf der Suche nach der Urgeschichte der Moderne muß Benjamin sich zunächst der Zeit des frü-hen Hochkapita l ismus annehmen, die nach einer Not iz im Passagen-Werk von Adorno als „Moderne im strikten Sinn"9 definiert wird. Baudelaire ist als „Lyri-ker im Zeitalter des Hochkapita l ismus" - so der Untert i te l des Benjaminschen Baudelaire-Buches - für Benjamins Konzeption einer Theorie der Moderne wichtigster Zeuge der neuen Erfahrungswelt der Moderne. Darin sieht er sich in Übere inst immung mit Verlaine, der in seinem Buch über Baudelaire schreibt:

„La profonde originalite de Baudelaire c'est ... de representer puissamment et essentiellement l'homme moderne ... Je n'entends ici que l 'homme physique moderne ... l 'homme moderne, avec ses sens aiguises et vibrants, son esprit douloureusement subtil, son cerveau sature de tabac, son sang brüle d'alcool. . . Cette individuality de sensitive, pour ainsi parier, Ch. Baudelaire ... la repre-sente ä l'etat de type, de Heros, si vous voulez bien. Nulle part, pas meme chez Henri Heine, vous ne la retrouverez si fortement accentuee."10

Die Schriften Baudelaires kann Benjamin zum einen als Zeugnisse für die Er-fahrungswelt der Moderne lesen, denn:

„Die historischen Erfahrungen, die Baudelaire als einer der ersten machte [...] sind seither nur allgemeiner und nachhaltiger geworden. Das Kapital hat die

7 PW, S. 55 f. 8 PW, S. 593.

' PW, S. 479. - Brief Adornos an Benjamin vom 5.6.1935. In: BW, S. 123. 10 Paul VERLAINE: Le cinquantenaire de Charles Baudelaire. Paris 1917, S. 18. Zitiert nach

PW, S. 367.

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Ziigo die es im Juni 1848 zeigte, seither nur schärfer den Herrschenden einge-graben. Und die besonderen Schwierigkeiten, sich der Dichtung von Baude-laire zu bemächtig en, sind die Kehrseite von der Leichtigkeit, sich dieser Dichtung zu überlassen. U m es in aller Kürze zu formulieren: es ist an dieser Dichtung noch nichts veraltet."11

Zum anderen untersucht Benjamin an Baudelaires Werk beispielhaft die Mög-lichkeiten der Literatur in der Moderne. Dabei kann er einerseits die Abhängig-keit der Kunst von den gesellschaftlichen Bedingungen und vom Stand der Möglichkeiten von Erfahrung konstatieren und für die Moderne beschreiben. Dies betrifft zum Beispiel die Annäherung von Kunst an den Markt. Anhand von Baudelaires Kunsttheorie kann Benjamin auch dessen Verhaftetsein an den modernen Kategorien des Neuen und Immergleichen zeigen, das für Baude-laires spieen konstitutiv ist. Andererseits lassen sich an Baudelaires Werk kunst-spezifische Inanspruchnahmen der modernen Erfahrungsmodi nachweisen, die auf eine rettende Funktion der Kunst jenseits ihrer Abhängigkeit von gesell-schaftlichen Bedingungen hindeuten.

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11 PW, S. 425.

I. DIE ANTINOMIE DES IMMERGLEICHEN UND DES NEUEN

1. Ähnlichkeit und der Ursprung von Verschiedenheit und Gleichheit

Für Benjamin ist „die Ähnlichkeit das Organon der Erfahrung"1. Erfahrung vollzieht sich mimetisch, im Ähnlichwerden, Erkenntnis ist nur in Erfahrungs-zusammenhängen möglich. Ebenso beruht die historische Erkenntnis auf der Fähigkeit zur Wahrnehmung von Ähnlichkeiten. Insofern hat Schwarz recht, wenn er davon ausgeht, daß die Geschichtstheorie „ohne die Erfahrungstheorie gar nicht zu verstehen" sei.2 Dabei besteht die Originalität der Theorie Benja-mins nach Gagnebin „tatsächlich in dem Entwurf einer Geschichte des mimeti-schen Vermögens."3 Und genau dort ist auch die Grundlage der Benjaminschen Theorie des Neuen zu suchen.

Benjamins komplexe Mimesistheorie ist für die Bestimmung der Qualitä-ten des Neuen und des Immergleichen schon aus formal-begrifflicher Sicht in-teressant, weil sie mit der Kategorie des Ähnlichen einen relationalen Begriff beansprucht, der zwischen den qualitativen Bestimmungen des Neuen und des Immergleichen, nämlich der Verschiedenheit und der Gleichheit, steht bzw. sie vermittelt. Ähnlichkeit benennt eine Übereinstimmung zwischen zwei Gegen-ständen, ohne ihre Individualität zu vernachlässigen.

Die ursprüngliche Erkenntnis der Dinge vollzieht sich nach Benjamin mi-metisch, nicht in Sprache und Denken. Die Sprache ist ein abgeleitetes Verhal-ten, das nicht der sinnlichen Erfahrung des Besonderen, Einzelnen dient, son-dern unsinnliche, abstrakte Beziehungen zwischen den Dingen herstellt. Die mimetische Fähigkeit des Menschen ist für Benjamin eine entscheidende Bega-bung des Menschen: „Ja, vielleicht gibt es keine seiner höheren Funktionen, die nicht entscheidend durch mimetisches Vermögen bestimmt ist."4 Dieses Ver-mögen wohnt dem Menschen seit Urzeiten inne, es hat jedoch im Laufe der Zeit eine grundlegende Veränderung erfahren. Benjamins These ist, „jene mi-metische Begabung, welche früher das Fundament der Hellsicht gewesen ist, sei in jahrtausendelangem Gange der Entwicklung ganz allmählich in Sprache und Schrift hineingewandert und habe sich in ihnen das vollkommenste Archiv unsinnlicher Ähnlichkeit geschaffen."5

Zur Erklärung seiner These entwirft Benjamin eine phylogenetische Ge-schichte des mimetischen Verhaltens. Danach war „der Lebenskreis, der ehe-mals von dem Gesetz der Ähnlichkeit durchwaltet schien, viel größer"6 als

1 PW, S. 1038. 2 SCHWARZ: Rettende Kritik und antizipierte Utopie, a. a. O., S. 103-4. 3 GAGNEBIN, a. a. O., S. 108. 4 BENJAMIN: Lehre vom Ähnlichen. In: GS II, S. 204. 5 Ebd., S. 209. 6 Ebd., S. 205.

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heule. Was wir heute bewußt noch als Ähnlichkeit sehen, ist nur ein Bruchteil des gesamten Ähnlichkeitsbereichs, der Rest der „natürlichen Korresponden-zen"7 wird nicht wahrgenommen. Das mimetische Vermögen besteht jedoch nicht nur in der Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und darin, sich ähnlich zu verhalten, sondern auch darin, Ähnliches hervorzubringen, zu produzieren. Die „natürlichen Korrespondenzen" sind „Stimulantien und Erwecker jenes mimeti-schen Vermögens"8 , der Mensch ahmt also nicht einfach Natur nach, sondern auch Ähnlichkeit. Wenn man nun davon ausgeht, daß deren Bereich ehemals viel umfassender war als heute, muß man annehmen, daß die ursprüngliche mimetische Fähigkeit des Menschen ausgeprägter gewesen ist. Offensichtlich gibt es also in der Entwicklung des menschlichen mimetischen Vermögens eine Tendenz, die „in der wachsenden Hinfälligkeit dieses mimetischen Vermö-gens"9 liegt. Die Frage ist, ob es sich dabei „um ein Absterben des mimetischen Vermögens oder aber vielleicht um eine mit ihm stattgehabte Veränderung"10

handelt. Wenn letztere, in welche Richtung geht sie?

Das wichtigste Beispiel Benjamins für Mimesis ist die Astrologie, die sich über Jahrtausende hinweg als Lehre erhalten hat und von deren heutiger Form Benjamin Rückschlüsse auf ihren Ursprung und damit auf die allgemeine Welt-auffassung und - W a h r n e h m u n g der Menschen aus lange vergangenen Zeiten ziehen kann. Für Benjamin waren „Vorgänge am Himmel von früher Lebenden [...] nachahmbar"11, und er glaubt, „daß diese Nachahmbarkeit die Anweisung enthielt, eine vorhandene Ähnlichkeit zu handhaben."12 Die Zusammenhänge zwischen Gestirnkonstellationen einerseits und dem Schicksal des Menschen und Geschehnissen auf der Erde andererseits sind dem heutigen Menschen nicht einsichtig. Die Astrologie setzt aber solche voraus, wenn sie aus dem Ge-stirnstand Vorgänge auf der Erde vorhersagt und deutet. Der Verlauf eines Menschenlebens richtete sich zunächst nach der Gestirnkonstellation zur Zeit der Geburt, d. h. das Neugeborene war bereits in der Lage, sich mimetisch zu verhalten und somit Ähnlichkeiten zu sehen und hervorzubringen, wo sie heute für uns nicht mehr wahrnehmbar sind. In der heutigen Astrologie gibt es dage-gen nur noch das, was Benjamin „unsinnliche Ähnlichkeit" nennt. Dieses ist ein privativer Begriff, „er besagt, daß wir in unserer Wahrnehmung dasjenige nicht mehr besitzen, was es einmal möglich machte, von einer Ähnlichkeit zu spre-chen"13. Die Veränderung des mimetischen Vermögens liegt also in der Ver-änderung der Wahrnehmung. Uns fehlt ein Sinn, der einmal vorhanden war.

7 Ebd. «Ebd. ' Ebd., S. 205-6 . 10 Ebd., S. 206. 11 Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 207.

29

Der Kanon, „nach drin die Unklarheit, die dem Begriff von unsinnlicher Ähn-lichkeit anhaftet, sich einer Klärung näher bringen läßt"14, ist für Benjamin die Sprache. Ähnlichkeit in der Sprache wurde bis dahin nur im sinnlichen Bereich gesucht, im onomatopoetischen Element. Diese „roheste, primitivste" Erklä-rungsart soll „ausgebildet und schärferer Einsicht angepaßt werden".15 Dem Satz Leonhards „Jedes Wort ist - und die ganze Sprache ist - onomatopoe-tisch"16 soll, von der unsinnlichen Ähnlichkeit ausgehend, ein neuer Sinn beige-legt werden.

Wie das Leben des Menschen sich nachahmend zu Gestirnkonstellationen vollzog, so war auch die Sprache in ihrem Ursprung Teil des mimetischen Ver-haltens. Dabei war für Benjamin die Ursprache nicht allein von den Lauten her mimetisch, sondern von den Stimmgebärden als Fortsetzung und Ergänzung der Ausdrucksgebärden des übrigen Körpers. Damit schließt Benjamin an die Theorie von Richard Paget an: „Dieser Forscher geht von einer zunächst recht überraschenden Definition der Sprache aus. Er faßt sie als eine Gestikulation der Sprachwerkzeuge. Primär ist hier der Gestus, nicht der Laut. [.. .] Nach Paget ist das phonetische Element ein auf dem mimetisch-gestischen fundier-tes."17 Im Laufe der Zeit rückt dann das Phonetische des Sprachprozesses in den Vordergrund, als „Träger einer Mitteilung, deren ursprüngliches Substrat eine Ausdrucksgebärde war"18.

Diese Entwicklung des sprachlich-mimetischen Verhaltens vollzieht sich mit der Veränderung der Funktion von Sprache. Diese erklärt Benjamin inner-halb seiner zunächst theologischen19 Interpretation von Sprachgeschichte in dem Aufsatz Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen-.

„Aber die Rhythmik, nach der sich die Schöpfung der Natur (nach Genesis 1) vollzieht, ist: Es werde - er machte (schuf) - Er nannte. [...] In diesem ,Es werde* und in dem ,Er nannte' am Anfang und Ende der Akte erscheint jedes-mal die tiefe deutliche Beziehung des Schöpfungsaktes auf die Sprache. Mit der schaffenden Allmacht der Sprache setzt er ein, und am Schluß einverleibt sich gleichsam die Sprache das Geschaffene, sie benennt es."20

14 Ebd. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 BENJAMIN: Probleme der Sprachsoziologie. In: GS III, S. 476-7. 18 Ebd., S. 478. 19 „Wenn im folgenden das Wesen der Sprache auf Grund der ersten Genesiskapitel be-

trachtet wird, so soll damit weder Bibelinterpretation als Zweck verfolgt noch auch die Bibel an dieser Stelle objektiv als offenbarte Wahrheit dem Nachdenken zugrunde gelegt werden, son-dern das, was aus dem Bibeltext in Ansehung der Natur der Sprache selbst sich ergibt soll auf-gefunden werden". (BENJAMIN: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. In: GS II, S. 147.)

20 Ebd., S. 148.

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Die Schaffung des Menschen aber geschieht nicht durch die Sprache, statt des-sen heißt es dreimal „Er schuf": „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bil-de, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und er schuf sie als Mann und Weib"21 . Dem Menschen gibt Gott die Sprache und entläßt ihn in diese, „die ihm als Medium der Schöpfung gedient hatte, frei aus sich"22: „Und Gott der Herr machte aus Erde alle die Tiere auf dem Felde und alle die Vögel unter dem Himmel und brachte sie zu dem Menschen, daß er sähe, wie er sie nennte; denn wie der Mensch jedes Tier nennen würde, so sollte es heißen."23 Der Mensch benennt die Dinge, die im Wort geschaffen wurden, „das menschliche Wort ist der Name der Dinge"24 , seine Sprache ist „Reflex des Wortes im Namen"2 5 , denn „Gott hat die Dinge geschaffen, das schaffende Wort in ihnen ist der Keim des erkennenden Namens"26 . Der Name und damit die menschliche Sprache in ih-rem Ursprung verhält sich also keinesfalls zufäll ig zum benannten Ding. Be-nennung ist Erkenntnis des Benannten, die Namen sind identisch mit dem We-sen der Dinge, das Namengeben unmittelbares Erkennen und Erfahren in ei-nem.

Mit dem Sündenfall ändert sich die Funktion der Sprache und ihr Verhält-nis zu den Dingen. „Das Wissen um gut und böse verläßt den Namen, es ist eine Erkenntnis von außen, die unschöpferische Nachahmung des schaffenden Wortes. Der Name tritt aus sich selbst in dieser Erkenntnis heraus: Der Sün-denfall ist die Geburtsstunde des menschlichen Wortes".27 An die Stelle des schöpferischen Namengebens tritt die urteilende Sprache als „unschöpferische Nachahmung". Während die erkennende Sprache im Namen das Wesen der Dinge erfaßt und ausspricht, ist die Sprache nach dem Sündenfall urteilende Sprache, die sich den Dingen entfremdet. Indem sie über die Dinge spricht, nimmt sie ihnen ihre Individualität, der Eigenname wird zum Allgemeinbegriff . Uber die unmittelbare Welterkenntnis legt sich die struktur ierende Sprache. Die ursprüngliche Welterfahrung teilt sich in rationale Erkenntnis und sinnli-che Erfahrung.

Die Sprachentwicklung vollzieht sich zusammen mit der Entwicklung des mimetischen Vermögens. Es handelt sich offenbar um ein und dieselbe Ge-schichte des menschlichen Verhaltens zu den Dingen. Das mimetische Vermö-

21 1. Mose 1,27. 22 BENJAMIN: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, a. a. O

S. 149. 23 1. Mose 2,19. 24 BENJAMIN: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, a. a. O.,

S. 150. 25 Ebd., S. 149. 26 Ebd., S. 151. 27 Ebd., S. 152-3 .

31 101

gen verschiebt sich vom Blick als anähnelndem Verhalten2" zum Produzieren von Ähnlichem in der Sprache:

„Darf man annehmen, daß der Blick der erste Mentor des mimetischen Ver-mögens war? daß die erste Anähnlichung sich dem Blick vollzieht? [...] Es ergäbe sich in diesen Zusammenhängen eine Polarität der Zentren des mimeti-schen Vermögens im Menschen. Es verlagert sich vom Auge auf die Lippen, dabei den Umweg über den gesamten Leib nehmend".29

Die Sprache ist im identischen, paradiesischen Zustand best immt von Rezepti-vität und Spontaneität: indem der Mensch die göttl iche Sprache in den Dingen erkennt, um sie dann im Namen schaffend in seine eigene Sprache zu überset-zen. Das Sprechen über Dinge, das Urteil , nimmt die Dinge nicht so, wie sie sind, wie sie geschaffen sind, es fügt etwas hinzu. Dadurch, daß der Mensch die Sprache von den Dingen trennt, findet eine Verdoppelung der Wirkl ichkeit statt, d. h. neben den Dingen gibt es dann die Zeichen für sie, neben der Welt der Dinge eine Welt der Zeichen. Waren diese den Dingen ursprüngl ich sinn-lich ähnlich, erlangen sie mit ihrer eigenständigen Entwicklung eine völlig ver-schiedene Gestalt. Sinnliche Ähnlichkeit eines Wortes mit dem Bezeichneten ist heute kaum mehr vorzufinden, die Sprachgeschichte verläuft in einer zuneh-menden Entsinnlichung der sprachlichen Zeichen. Während die Ursprache des Menschen mit der direkten, ungestörten Erfahrung und vol lkommenen Er-kenntnis der Welt verbunden ist, wird mit der zunehmenden Abstrakt ion der Sprache die Ähnlichkeit zwischen Sprache und Welt immer unsinnlicher, je-doch bleibt sie nach Benjamin durchaus wahrnehmbar, wenn auch nicht in der direkten Anschauung.

Es vollzieht sich „die Abkehr von jenem Anschauen der Dinge, in dem de-ren Sprache dem Menschen eingeht"30. Die Natur wird s tumm, der Mensch ist nicht mehr fähig, im Buch der Natur zu lesen, die Sprache wird das „Medium [.. .] , in dem sich die Dinge [.. .] begegnen und zueinander in Beziehung tre-ten"31. Die Sprache wirkt als geschlossenes System, abgelöst von ihrem Ur-sprung und dessen Grundlagen, sie ist ein Symptom für die Entfremdung des Menschen von der Natur . Gleichzeitig wird es immer schwieriger, Erfahrungen zu machen - deren Organon ja Ähnlichkeit ist, d. h. Mimesis als anähnelndes Verhalten, sei es durch den Blick oder durch Körperbewegung - , d. h. sich di-rekt mimetisch zur Natur zu verhalten.

28 Es handelt sich dabei nicht um bewußte Wahrnehmung von Ähnlichkeit, diese ist „ein

spätes, abgeleitetes Verhalten, ursprünglich ist gegeben ein Ergreifen von Ähnlichkeiten, das in

einem A k t des Ähnlichwerdens sich vollzieht." (BENJAMIN: Der Augenblick der Geburt. In: GS

II, S. 956.) 25 BENJAMIN: Das Ornament. In: GS II, S. 958. 30 BENJAMIN: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, a. a. O.,

S. 154. 31 BENJAMIN: Lehre vom Ähnlichen, a. a. O., S. 209.

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War im paradiesischen Siand noch alles in der Welt aufeinander bezogen, wer-den mit der urteilenden Sprache nach dem Sündenfall vom Menschen neue Be-züge hergestellt, er organisiert die Welt in seinen Sprachsystemen und stellt eine subjektive, jedoch von ihm als objektiv erachtete Ordnung her. Die ur-sprünglichen Namen sind nur noch Bruchstücke dieser Ordnung, die die „na-türlichen Korrespondenzen" nicht mehr berücksichtigt. Statt dessen werden die Ähnlichkeiten differenziert - das ergibt sich folgerichtig aus der Benjamin-schen Theorie - in Verschiedenheit und Gleichheit.

Die Elementarform der Verschiedenheit ist die zwischen erkennendem Sub-jekt und Erkanntem, also zwischen Mensch und Natur32. Indem der Mensch der Natur als Erkennender gegenübertritt, entfremdet er sich der Natur, er kehrt sich vom mimetischen Verhalten ab, verliert das Gefühl für seine Ähn-lichkeit mit der Natur. Dieser Prozeß beginnt bereits damit, daß der Mensch die Dinge mit Namen benennt, denn: „Erst dem, wovon wir scheiden, geben wir einen Namen."33 Damit ist der Grundstein gelegt für den Verlust an Erfah-rung, denn je mehr die von den Dingen abgetrennte Sprache ein Eigenleben der menschlichen Erkenntnis vorantreibt, desto weniger fühlt sich der Mensch in den Naturzusammenhang integriert; er ist weniger und weniger in der Lage, den Zusammenhang von allem mit allem, auch der eigenen Person, zu erfahren. Ähnlichkeit drückt nach Benjamin die Beziehung zwischen zwei Dingen aus oder stellt sie her, ohne daß sie ihre jeweilige Individualität verlieren. „Wenn wir sagen, ein Gesicht sei dem andern ähnlich, so heißt das, gewisse Züge dieses zweiten Gesichts erscheinen uns in dem ersten, ohne daß das erste aufhört zu sein, was es war"34. Dabei war ursprünglich alles mit allem vergleichbar und ge-wann erst aus diesem Vergleich und dem Zusammenhang der verschiedenen Ähnlichkeitsbeziehungen seine individuelle Bedeutung.

Ontogenetisch ist das ursprüngliche mimetische Vermögen, das alles als ähnlich auffaßt, noch nachweisbar. Der Mensch ist hineingeboren in eine Welt von Ähnlichkeitsbeziehungen, die er sich als Kind mimetisch aneignet. „Durch die Entstehung von Ähnlichkeiten und Korrespondenzen zwischen sich und der Welt wird die Welt dem Kind vertraut; es beheimatet sich in ihr."35 Der Kindheit kommt damit für Benjamin auch die Aufgabe zu, „die neue Welt in

32 Mit „Natur" als Erkenntnisobjekt meint Benjamin nicht Natur im Gegensatz zur Tech-nik, sondern diese ist als Erkenntnisobjekt der Natur gleichgestellt. Für Benjamin gibt es „keine seichtere, hilflosere Antithese als die reaktionäre Denker wie Klages zwischen dem Symbolraum der Natur und der Technik sich aufzustellen bemühen." (PW, S. 493) Vielmehr geht es um das reale Gegenüber des erkennenden Menschen, sei es Natur, sei es Technik, sei es ein anderer Mensch.

35 BENJAMIN: Gespräch mit Andrd Gide. In: GS IV, S. 506. 34 PW, S. 526. 55 Gunter GEBAUER und Christoph WULF: Mimesis. Kultur - Kunst - Gesellschaft. Rein-

bek 1992, S. 384 -5 .

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den Symbolraum einzubringen."3 ' ' Das Kind nimmt die aus der Sicht der Er-wachsenen ungewohnten und unbekannten Entwicklungen als selbstverständli-che Bestandteile seiner Welt an. Damit wird ein Ausgleich zwischen der Ding-welt und der Sprachwelt geschaffen: Die Dinge, die von denen, die sich in der Sprachwelt, dem Symbolraum auf einem bestimmten Stand eingerichtet haben, nicht mehr erfahren werden, werden dadurch, daß sie von Kindern erfahren werden, dem Symbolraum einverleibt. Auf diese Weise hat die Entwicklung der natürlichen Welt Einfluß auf die der darübergelegten Sprachwelt: „Jeder wahr-haft neuen Naturgestalt - und im Grunde ist auch die Technik eine solche, ent-sprechen neue .Bilder'. Jede Kindheit entdeckt diese neuen Bilder, um sie dem Bilderschatz der Menschheit einzuverleiben."37 Gebauer und Wulf beschreiben die mimetische Sprach- und Weltaneignung des Kindes mit Gehlen als eine Reihe mimetischer Ursituationen:

„In ontogenetischer Hinsicht vollzieht sich der Spracherwerb in Aufbruchsi-tuationen (Gehlen), in denen in der Auseinandersetzung mit äußeren Gegen-ständen ein Bedürfnis entsteht. Dieser Prozeß wird sprachlich dargestellt. In seiner Repräsentation erfolgt ein Hineinwachsen in die semantische und prag-matische Seite der Sprache. Zugleich wird das Innere des Menschen sprachlich faßbar, ausdrückbar und interpretierbar. Erfahrungen werden möglich und handlungssteuernd. Wünsche und Bedürfnisse werden nur an äußeren Gegen-ständen greifbar und sprachlich bestimmbar. Als sprachlich erfaßte gehen sie auf reale Erfahrungen zurück, können zugleich aber neue Erfahrungen herbei-holen. So erhalten die lebensgeschichtlich erworbenen Dispositionen eine zu-kunftsgestaltende Bedeutung."38

Damit ist die Situation des Übergangs von mimetischer Erfahrung zu sprachli-chem Ausdruck der Grundstein für einen späteren Rückgriff auf die mimeti-schen Fähigkeiten.

Mit dem Verlust der Erfahrung von sinnlicher Ähnlichkeit durch die Eta-blierung der logozentrischen Sprachauffassung verliert der Mensch auch die Er-fahrung der Individualität, bei der es sich ursprünglich nicht um etwas mona-disch Geschlossenes handelte, sondern die sich aus der Relation des Einzelnen zu dem mit ihm Ähnlichen und aus der Konstellation der Ähnlichkeitsbezie-hungen ergab. Die Erfahrung der Dinge, die darin besteht, die Dinge zueinan-der und zu der eigenen Person in Beziehung zu setzen, d. h. Ähnlichkeitsbe-ziehungen, Korrespondenzen herzustellen, wird mit dem Verlust der Fähigkeit, Ähnlichkeit herzustellen und wahrzunehmen, immer schwieriger. Dieser verlo-renen Fähigkeit gilt es nach Benjamin nachzuspüren. Für das wache Bewußt-sein, den analysierenden Geist, hat Ähnlichkeit eine sehr eingeschränkte Be-deutung, denn ihm erscheint nicht alles mit allem vergleichbar, und „die im

" PW, S. 493. 57 Ebd. 38 GEBAUER/WULF, a. a. O., S. 382.

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strengsten Sinne nüchterne, von jedem Vor-Urteil freie Wahrnehmung stieße im äußersten Falle immer nur auf ein Ähnliches"3". Die Wahrnehmung von Ähnlichem unterliegt also großen Einschränkungen, die aber zum Teil aufge-hoben werden können, wie zum Beispiel im Rausch. In ihm „ist nämlich alles: Gesicht, hat alles den Grad von leibhafter Präsenz, der es erlaubt, in ihm wie in einem Gesicht nach erscheinenden Zügen zu fahnden. Selbst ein Satz bekommt unter diesen Umständen ein Gesicht"40. Dabei handelt es sich nicht um Täu-schungen, sondern um eine erweiterte Wahrnehmung, in der die unsinnlichen Korrespondenzen wieder sinnfällig werden. Daß Ähnlichkeiten unsinnlich sind, heißt nach Benjamin, daß sie nicht mehr unserer Wahrnehmung entsprechen, nicht unmittelbar erkennbar sind, sondern erst entziffert werden müssen.

Das Sinnlich-wahrnehmbar-Werden von Ähnlichkeiten kann es für Benja-min auch in der Sprache geben. Die Sprache ist für ihn der einzige noch mögli-che Zugang zur unmittelbaren Erkenntnis. Diese Auffassung ist zum einen theologisch begründet: da die Sprache sich aus der göttlichen Sprache ent-wickelt hat, in der eine Identität zwischen Bezeichnetem und Sprache bestand, muß in der heutigen Sprache dort zumindest noch eine Ähnlichkeitsbeziehung bestehen. Zum anderen kann ontogenetisch die Sprache als Trägerin der Er-innerung an das ursprüngliche Verhältnis von Sprache und Welt angesehen wer-den: „In der Sprache bleibt die Erfahrung der Aufbruchssituation erhalten, ohne daß sie dadurch ihre Möglichkeiten der Mimesis an das Neue und Fremde verlöre. Der Korrespondenzerfahrung der Aufbruchssituationen entspricht das mimetische Verhältnis des Menschen zur Welt."41 Nach Benjamin sind in der Sprache die Ähnlichkeitsbeziehungen der Welt als unsinnliche Ähnlichkeiten aufgehoben: Die Laute und Schriftzeichen versteht er als „Depositen von Welt-zusammenhängen"42. Die Sprache ist als zweite Welt das Medium, in dem sich die Dinge „in ihren Essenzen, flüchtigsten und feinsten Substanzen, ja Aro-men"43 begegnen. Die Konstellation, in die die Bestandteile der Sprache treten, ist dabei von großer Bedeutung, erst in ihr kann Ähnlichkeit - weil sie relatio-nal ist - überhaupt erkannt werden. Daher plädiert Benjamin auch für ein „ma-gisches" Lesen, das sich der Wahrnehmung im Rausch annähert. Dabei kann der Sinn eines Satzes nicht aus den einzelnen Lauten oder Worten erschlossen, sondern nur aus der Konstellation der Worte bzw. Laute erkannt werden. „So ist der Sinnzusammenhang, der in den Lauten des Satzes steckt, der Fundus, aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vor-schein kommen kann."44 Dadurch würde die Entfremdung des Menschen von

59 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 805 (Hervorhebung von SZ). 40 PW, S. 526. 41 GEBAUER/WULF, a. a. O., s. 382 . 42 Brief Benjamins an Gerhard Scholem vom 24.10 .1935. In: Briefe 2, S. 694. 43 BENJAMIN: Lehre vom Ähnlichen, a. a. O., S. 209. 44 Ebd.

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der Naiur und ihren Älinliclikeitsbezielumgen au! doppelle Weise aulgehoben: Er erkennt die Ähnlichkeil der Sprache - der Ideen, nicht der Worte - , die sein entfremdetes Dasein konstituiert, mit den Dingen. Damit geht er über die Sprache den Weg zurück zu den Dingen, denen er selbst als unmittelbar Er-kennender ähnlich wird.45

Durch die andere Seite der Sprache, die urteilende, mitteilende, mit Allge-meinbegriffen operierende Sprache, wird eine Gleichheit des unter den Begrif-fen Befaßten suggeriert, die in Wirklichkeit nicht gegeben ist. Da die nivellie-rende Sprachwelt, die nur ein systematisches, oberflächliches und unvollständi-ges Muster tieferer Zusammenhänge ist, als Erkenntnisobjekt an die Stelle der Wirklichkeit tritt, wobei die Fähigkeit zur Wahrnehmung der Individualität als spezifische Position in Ähnlichkeitsbeziehungen verloren geht, sieht man Gleichheit, die es nach Benjamin in Wirklichkeit überhaupt nicht gibt. Die Gleichheit ist für Benjamin eine „Halluzination"46. Erst mit der urteilenden Sprache ist der Begriff der Gleichheit relevant geworden, und dieser wird nun auch auf die Natur projiziert, auch die Wahrnehmungen und Erlebnisse werden als gleich angesehen.

Bei dieser Entwicklung handelt es sich um das, was Benjamin „Verfall der Aura"47 nennt. Stoessel bestimmt den Begriff der Aura mit Hilfe der psycho-analytischen Theorie Freuds. Sie geht davon aus,

„daß das Phänomen der Aura sich nicht in eine festumrissene Definit ion ein-grenzen läßt, weil sie die grenzüberschreitende Bewegung des Wunsches sel-ber ist, deren Ursprung in der individuellen und kollektiven Vorgeschichte liegt, deren Quelle, als Vermögen der Phantasie, die unwillkürliche Erinne-rung, deren Medium Bild und deren Sehnsucht Heimweh ist."48

Heimweh versteht Stoessel hier als dem Wunsch Verwandtes, der nach Freud „Erinnerung an einmal erfahrene Befriedigung"49 ist. Es handelt sich um das von Benjamin bei Proust konstatierte „Heimweh nach der im Stand der Ähn-lichkeit entstellten Welt"50, die Welt der frühen Kindheit, in der Ähnlichkeit er-fahren werden konnte. Während „Erfahrung der Verwandtschaft mit einem

45 In dieser „Figur der Rettung" sieht Schwarz die „Verbindung zwischen Sprach- und Ge-

schichtsphilosophie" Benjamins: „Sie ist auch terminologisch greifbar, denn auch in den Thesen

über den Begriff der Geschichte wird es heißen, daß das wahre Bild der Vergangenheit blitzartig

erscheint und vorbeihuscht." (SCHWARZ: Rettende Kritik und antizipierte Utopie, a. a. O.,

S. 104.) 46 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 806. 47 BENJAMIN: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In:

GS I, S. 479. 48 Marken STOESSEL: Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei

Walter Benjamin. München/Wien 1983, S. 149. 49 Ebd., S. 141 . 50 BENJAMIN: Zum Bilde Prousts. In: GS II, S. 314.

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.Anderen', Mensch cider Natur, eine Ent-Grenzung des Ich und seiner Identität bedeutet"51 , wird mit der Ich-Konstituierung dieses Andere ausgeschlossen, denn damit

„konstituiert sich jene Identität des Einen und Gleichen, die als [...] Logik des [...] ausgeschlossenen Dritten [...] zugleich all unsere Denkformen, die gesamte abendländische Logik und Philosophie und unsere gesellschaftliche Ordnung bestimmt, die im Kapitalismus ihren bislang vollendetsten Ausdruck gefunden hat. [...] Was in dieser Logik nicht aufzugehen vermag, was nicht bereit oder fähig ist, diese Verdrängungsleistung zu vollbringen, überdauert in den Berei-chen der Phantasie, des Traums, in der Erfahrung des Schönen, in der Kunst und in der Liebe und ebensosehr in allen Formen des Wahnsinns und der Schizophrenie - alles in allem in der Erfahrung der Aura."51

Aura kommt also einem Gegenstand zu, dessen natürliche Ähnl ichkeitsbezie-hungen nicht als Gleichheiten oder Verschiedenheiten wahrgenommen werden, sondern die noch sinnlich erfaßbar sind und als seine Individualität erfahren werden. Der Verfal l der Aura - die Benjamin auch als anderes Wort für „Ein-zigkeit" bezeichnet53 - ist auf die veränderte Wahrnehmung zurückzuführen, die die Individualität des Gegenstandes, die Gesamtheit der Beziehung mit an-deren Gegenständen, die er eingeht, vernachlässigt: „Die Entschälung des Ge-genstandes aus seiner Hülle , die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ,Sinn für das Gleichartige in der Wel t ' so gewach-sen ist, daß sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt."54

Daher ist beispielsweise die Gleichheit der Reproduktion eines Kunstwerks mit dem Original für Benjamin immer eine nur scheinbare, denn:

„Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks - sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet. An diesem einmaligen Dasein aber und an nichts sonst vollzog sich die Geschichte, der es im Laufe seines Bestehens unterworfen gewesen ist. Dahin rechnen sowohl die Veränderungen, die es im Laufe der Zeit in seiner physischen Struktur erlitten hat, wie die wechselnden Besitzverhältnisse, in die es eingetreten sein mag."55

Die Verschiedenheit des Originals von seiner Reprodukt ion mag auf den ersten Blick nicht sichtbar sein, denn es handelt sich um eine unsinnliche Verschie-denheit: die nicht mehr wahrnehmbare und deshalb unsichtbar gewordene -und nicht verschwundene - Aura.

51 STOESSEL, a. a. O., S. 147. 52 Ebd., S. 148. 53 BENJAMIN: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a. a. O.,

S. 480. 54 Ebd., S. 479-80 . " Ebd., S. 475-6 .

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Wenn sta l l Ähnlichkeit Gleichheit erkannt wird, wird dein, was gleich genannt wird, sein individueller Aspekt abgesprochen. Für Benjamin wäre auch bei der Korrektur der falschen Wahrnehmung von Gleichheit wieder eine Ähnlich-keitswahrnehmung anzustreben, bei der ein Zusammenhang der Dinge gesehen wird, ohne daß von ihrer Individualität abgesehen werden muß. In der schein-baren Gleichheit soll Verschiedenheit gesehen werden wie in der scheinbaren Verschiedenheit Gleichheit.

2. Das Gleiche

Die „natürlichen Korrespondenzen" als Zusammenhang der Dinge werden nach dem Verlust an Erfahrung und Wahrnehmung von Ähnlichkeit nur noch nach dem Dual ismus von Gleichheit und Verschiedenheit beurteilt und wahrgenom-men. Der Erfahrungsverlust nimmt nach Benjamin im 19. Jahrhundert mit den vor allem von der fortschreitenden Industrialisierung best immten, umwälzen-den, raschen Veränderungen der Erfahrungswelt dramatische Ausmaße an. Da-her erhalten Gleichheit und Verschiedenheit bzw. Immergleiches und Neues ei-nen besonderen Stellenwert. Zunächst soll es hier um die qualitative Bestim-mung der Gleichheit im 19. Jahrhundert gehen.

In dieser Zeit der völligen Ablösung des Tauschwerts vom Gebrauchswert und von der Warenprodukt ion gipfelt die Nivell ierung der Gegenstände zu Gleichheiten in der Universalität des Warenbegriffs.56 Dazu tritt die Erfahrung der Gleichförmigkeit der Zeit im Produktionsprozeß. In Benjamins Interpreta-tion der Situation im 19. Jahrhundert wird daher seine theologisch-erkenntnis-kritische Analyse der Geschichte menschlicher Erkenntnis mit Hi lfe der marxi-stischen Sichtweise der vom Warencharakter geprägten Gesellschaft konkret i -siert. Die Gleichheitswahrnehmung im kapitalistischen System erscheint dabei als Kulminationspunkt der schon vorher negativen Entwicklung. Während der Verfall der Erfahrung sich über Jahrtausende erstreckt, ist die Etablierung der bürgerl ichen Gesellschaft ein markanter historischer Einschnitt.

Die rasanten Entwicklungen im Verkehr (Eisenbahn) und die damit er-möglichten Reisen, die Innovationen in der Kommunikat ionstechnik, die Um-strukturierungen in der Wirtschaft , die steigende industrielle und auch land-wirtschaftl iche Produktion, damit also Massenproduktion von Verbrauchsgü-tern, und das damit verbundene Wachstum der Städte und ihrer Bevölkerung -dies alles bedeutete für die Menschen des 19. Jahrhunderts eine permanente Veränderung und nie gekannte Ausweitung des Bereichs möglicher Erfahrun-gen. Den massenhaft auftretenden Menschen, Dingen und Ereignissen wird nun nach dem Muster des Tauschwerts, der die unterschiedlichsten Waren zu vergleichbaren Größen macht, eine Gleichheit unterstellt , die zwar il lusorisch

56 Vgl. Karl MARX: Kapitel „Die Ware", in: Das Kapital. In: ders. und Friedrich ENGELS:

Werke, Band 23. Berlin 1979, S. 49-98.

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ist, jedoch die Phänomene für das Bewußtsein handhabbar macht. Diese Gleichheit ist für Benjamin eine Konstruktion des Bewußtseins, das nicht mehr in der Lage ist, alle Dinge zu erfahren, weil es mit der Schnelligkeit der Verän-derungen nicht Schritt halten kann und der Massierung der Dinge und Men-schen nicht gewachsen ist.57 Gleichzeitig erweist sich das Bewußtsein als vom Tauschwert kodifiziert. Denn das Schema der Gleichheit, das dem nicht mehr Erfahrbaren übergestülpt wird, ist eine reale Erfahrung: der Tauschwert der Waren als nivellierendes Prinzip. „Die Einfühlung in den Tauschwert der Ware, in ihr Gleichheitssubstrat - darin besteht das Entscheidende."58 Diese gelun-gene unbewußte Einfühlung macht die Gleichheit dadurch, daß von der Her-kunft dieser Kategorie aus dem Tauschwert der Waren abstrahiert, das Wissen über ihre Genese unterdrückt und sie selbst als tatsächlich angesehen wird, zum falschen, von der Vernunft konstituierten Schein: „Die Gleichheit ist eine Kategorie des Erkennens; sie kommt in der nüchternen Wahrnehmung streng genommen nicht vor."59 Erschienen Waren zunächst erst nach der Abstraktion vom Produktionsprozeß und vom Gebrauchswert als vergleichbar, nähern sich die massenproduzierten Waren im Industriezeitalter einer realen Gleichheit an: „das Immerwiedergleiche erscheint sinnfällig in der Massenproduktion zum ersten Mal".60 Auch die Arbeit wird in der Massenproduktion mit Hilfe von Maschinen und Fließbändern mehr und mehr auf wenige, immer wiederkeh-rende Bewegungen reduziert. Die Gleichförmigk eit der Massenprodukte ent-spricht der Gleichförmigkeit der Arbeit im Herstellungsprozeß. Das Gleiche ist damit eine Kategorie, mit der nun wirkliche Erscheinungen und die Erfah-rungen immer mehr übereinstimmen, was dazu beiträgt, daß die Gleichheit zu-nehmend als Realität aufgefaßt werden kann.

Zeugnisse für die Veränderungen in der Wahrnehmung von Gleichheit als scheinbare oder wirkliche sieht Benjamin bei Cervantes und im 19. Jahrhundert bei Daumier, Poe und Baudelaire.61 Baudelaire ist dabei derjenige, der im 19. Jahrhundert den Zusammenhang des gesellschaftlichen Bewußtseins mit der Entwicklung der Warenwirtschaft am eindringlichsten repräsentiert, indem er zum einen Kategorien des Kapitalismus, wie z. B. die der Ware und der Masse, unhinterfragt übernimmt, zum anderen versucht, das im Begriff des spieen zu-sammengefaßte Unbehagen an der gesellschaftlichen Situation in seiner Lyrik zu bannen bzw. Gegenentwürfe zu den als falsch erkannten Philosophemen -z. B. zum Fortschrittsdenken - zu finden. Die Symptome für die Veränderung

57 Benjamin sieht dabei auch den von Freud als Funktion des Bewußtseins ausgemachten Reizschutz am Werk. (Vgl. BENJAMIN: Über einige Motive bei Baudelaire. In: GS I, S. 613 f f )

58 PW, S. 488. 59 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 805. 60 BENJAMIN: Zentralpark. In: GS I, S. 680. Eine völlige Gleichheit gibt es nach Benjamin

nicht, weswegen auch die reproduzierten Kunstwerke ihre Einzigkeit nur scheinbar verlieren. 61 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 806.

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von Erfahrung ini 19. Jahrhundert sind bei Baudelaire so deutlich repräsentativ, daß Benjamin von seiner Baudelaire-Arbeit als „Miniaturmodell" des geplanten Passagen-Werkes sprechen konnte.62

Während Benjamin bei Cervantes und bei Daumier die Gleichheit noch als Halluzination betrachtet findet, sieht er sie bei Poe und vollends bei Baudelaire unkritisch als Faktum akzeptiert. Don Quijote ist eine lächerliche Figur, weil er in allem das Gleiche sieht: „Dem kann das verschiedenste begegnen: er nimmt darinnen immer das Gleiche wahr - das Abenteuer, das des fahrenden Ritters harrt."63 Nach Benjamin macht Cervantes hier die ritterliche Welt dadurch lä-cherlich, daß er sie als „einförmig und einfältig präsentiert"64 - womit für Ben-jamin andererseits „die Ehre der Bürgerwelt"65 gerettet wird.

Der Karikaturist Honore Daumier gibt mit Hilfe der Gleichheit umge-kehrt das Bürgertum der Lächerlichkeit preis:

„Daumier stößt auch immer wieder aufs Gleiche; er nimmt in allen den Köp-fen der Politiker, Minister und Advokaten das Gleiche wahr - die Gemeinheit und Mediokrität der Bürgerklasse. [...] er durchschaut die Gleichheit, mit der sie prunkt: nämlich als die windige egalite, wie sie sich im Beinamen Louis Philippes [„Bürgerkönig", SZ] breitmachte."66

Adornos Auffassung, daß der „physiognomische Blick [Daumiers], der das un-terscheidende Detail gegenüber der Uniform maßlos heraustreibt, [...] keine andere Bedeutung [hat,] als das Besondere im Allgemeinen zu retten"67, weist Benjamin zurück: Die „Halluzination der Gleichheit [wird] von der Karikatur nur durchbrochen [...], um sich alsbald wieder herzustellen; denn je weiter eine groteske Nase von der Norm entfernt ist, desto besser wird sie als Nase schlechthin das Typische des benasten Menschen zeigen"68. Die bürgerliche Idee der Gleichheit selbst wird hier dadurch diskreditiert, daß Daumier zwar Gleichheit feststellt, jedoch nicht im Sinne der hehren Idee der egalite, sondern in Form grotesk typisierter Gestalten. Für Benjamin interessant ist an diesen beiden Beispielen, daß sie die Gleichheit - dadurch, daß sie sie als komisch dar-stellen - als scheinbare entlarven: „Im Gelächter räumen sowohl Cervantes wie Daumier mit einer Gleichheit auf, die sie als geschichtlichen Schein dingfest machen."69 Sie tragen damit der Kehrseite der Gleichheitsidee Rechnung, die Horkheimer - wie Benjamin notiert - als Gefahr bezeichnet: „,Die Verkündi-gung der Gleichheit als Prinzip der Verfassung bildete von Anfang an für das

62 Brief Benjamins an Max Horkheimer vom 16.4.1938. In: Briefe 2, S. 750. 63 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 806. 64 Ebd. 65 Ebd. " Ebd. 67 Brief Adornos an Benjamin vom 1.2.1939. In: BW, S. 394. 68 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 806.

" Ebd.

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Denken nicht bloß einen Fortschritt, .sondern auch eine Gefahr.' [...J In der Zone dieser Gefahr liegen die ungereimten Gleichförmigkeiten in der Beschrei-bung der Menge bei Poe".70

Poe und Baudelaire durchschauen den „gesellschaftlichen Schein [...], wel-cher sich in der Menge niederschlägt"71, nicht.

„Im .Mann der Menge' blitzt wohl noch die Möglichkeit eines komischen Ex-orzismus auf. Bei Baudelaire ist davon keine Rede. Er kam vielmehr der histo-rischen Halluzination der Gleichheit, die mit der Warenwirtschaft sich einge-nistet hatte, künstlich zu Hilfe. Und die Figuren, in welchen der Haschisch72

sich bei ihm niederschlug, sind in diesem Zusammenhang dechiffrierbar."73

Poes Erzählung ist ein Beispiel für die Kategorisierung und Typisierung von Ähnlichem in Gleiches und Verschiedenes. Während zunächst nur die Ent-deckung des Massenmenschen als Pointe der Story erscheint, interessiert aus Benjamins Perspektive genausosehr die Wahrnehmung des Beobachters. Denn „die Masse" ist für Benjamin nur Schein.74 Daß sie als homogen wahrgenom-men wird, wirft nur Licht auf den Betrachter, dessen Wahrnehmung von dem Dualismus Gleichheit und Verschiedenheit korrumpiert ist.

Die Erzählung beginnt damit, daß der Ich-Erzähler und Beobachter, ge-rade von einer schweren Krankheit genesen, am Fenster eines Kaffeehauses sitzt. Seine Stimmung ist „precisely the converse of ennui"75 - womit er im Ge-gensatz zum vom spieen und ennui geplagten Baudelaire steht - , er befindet sich im Zustand „of the keenest appetency" und fühlt „a calm but inquisitive interest in everything".76 So schaut er aus dem Fenster und sieht Menschenmas-sen vorbeifluten. Es ist für ihn eine ganz ungewohnte Erfahrung, die ihn schnell gefangennimmt:

„At this particular period of the evening I had never before been in a similar situation, and the tumultuous sea of human heads filled me, therefore, with a delicious novelty of emotion. I gave up, at length, all care of things within the hotel, and became absorbed in contemplation of the scene without."77

Seine Wahrnehmung der Menschenmenge reicht von der Gleichheit der Perso-nen über Ähnlichkeit und Individualität zur extremen Verschiedenheit einer

70 PW, S. 488. (Zitat von Max HORKHEIMER: Materialismus und Moral. In: Zeitschrift für Sozialforschung 2 [1933], S. 188.)

71 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. In: GS I, S. 569. 72 Nach Benjamin erhöht der Rausch die Fähigkeit, Gleichheit wahrzunehmen. 73 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 806. 74 Vgl. PW, S. 469. 75 Edgar Allan POE: The Man of the Crowd. In: Tales of Mystery and Imagination. Lon-

don 1981, S. 101. 7t Ebd. 77 Ebd., S. 102.

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einzelnen Person. Zunächst sieht er die vorbeigehenden Menschen als homoge-ne Menge:

„At first my observation took an abstract and generalising turn. I looked at the passengers in masses, and thought of them in their aggregate relations. Soon, however, I descended to details, and regarded with minute interest the innumerable varieties of figure, dress, air, gait, visage, and expression of coun-tenance."78

Diese Wahrnehmung von Einzelheiten bezieht sich noch nicht auf Individuel-les, vielmehr geht es um die Wahrnehmung von Gleichheiten, woraufhin er be-ginnt, die Menge nach bestimmten Merkmalen in Klassen einzuteilen. Nach Benjamin wird von Poe an dieser Stelle die Kategorie der Gleichheit dadurch als illusorisch entlarvt, daß er den Beobachter in übertriebenem Maße Typisierun-gen vornehmen läßt: „Auf den unmittelbaren Augenschein ist Poe in seiner Schilderung nicht aus gewesen. Die Gleichförmigkeiten, denen die Kleinbürger durch ihr Dasein in der Menge unterworfen werden, sind übertrieben; ihr Auf-zug ist nicht weit davon entfernt, uniform zu sein."79 Dadurch, daß die Gleich-heit der Personen beschrieben wird, zeigt Poe nach Benjamin genau das Gegen-teil von Homogenität, nämlich Vereinzelung.

„Sein Meisterzug in dieser Schilderung besteht darin, daß er die hoffnungslose Isoliertheit der Menschen in ihrem Privatinteresse nicht [...] in der Verschie-denheit ihres Gebarens sondern in ungereimten Gleichförmigkeiten, sei es ih-rer Kleidung, sei es ihres Benehmens zum Ausdruck bringt. Die Servilität, mit der sich die, die Püffe einstecken, obendrein noch entschuldigen, läßt erken-nen, woher die Mittel , welche Poe an dieser Stelle einsetzt, stammen. Sie stammen aus dem Repertoire der Klowns."80

Hier ist der Ort bei Poe, an dem nach Benjamin der „komische [...] Exorzis-mus"81 möglich gewesen wäre. Jedoch hat Poe die Typisierung nicht so weit getrieben wie Daumier, so daß die Beschreibung nicht ins Komische umschlägt. Zudem bleibt er nicht bei dieser Betrachtung der Masse stehen, sondern die grellflackernden Lichtkegel der Gaslaternen bringen den Beobachter bei Poe schließlich dazu, die Gesichter der einzelnen Personen zu betrachten. Dabei scheint es ihm, „in my then peculiar mental state, I could frequently read, even in that brief interval of a glance, the history of long years"82. Mit einem Blick glaubt er diese Personen als Individuen verstehen, erkennen zu können. Diese Auffassung wird jedoch gleich darauf in Frage gestellt: Plötzlich sieht er näm-lich ein Gesicht, in dem er nichts lesen kann, das ihm nicht nur etwas unge-

78 Ebd. 79 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 554. 80 Ebd., S. 555-6 . 81 Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 806. 82 POE: The Man of the Crowd, a. a. O., S. 105.

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wöhnlich, sondern gleich völlig verschieden von allen anderen und rätselhaft er-scheint und deshalb „at once arrested and absorbed m y whole attention, on account of the absolute idiosyncrasy of its expression. Anyth ing even remote ly resembling that expression I had never seen before."85 Aus Neugier - „I felt singularly aroused, startled, fascinated"84 - geht er dem Mann nach, verfolgt ihn überallhin, um herauszubekommen, wohin er geht, was er tut, wer er ist. Die-ser steuert zunächst kein Ziel an, sondern wechselt ohne erkennbaren Grund mehrmals die Straßenseiten, kehrt unvermittelt um und geht den gleichen Weg zurück usf. Schließlich hält er sich anderthalb Stunden auf einem Basar auf, wo er die ausl iegenden Waren betrachtet. Als der Basar schließt, eilt der Mann wei-ter durch die Stadt. Er mischt sich vor einem Theater unter das die Vorstel lung verlassende Publ ikum und läßt sich vom Strom tragen, bis die Menge sich ver-läuft. Sein Ziel ist nun „one of the huge suburban temples of Intemperance ~~ one of the palaces of the fiend, Gin."85 Am Ende stellt der Erzähler sich ihm in den Weg. Doch der Mann nimmt ihn gar nicht zur Kenntnis, sieht an ihm vor-bei und geht weiter. „He refuses to be alone. He is the man of the crowd."36

Zwar sah der Beobachter inmitten der Masse den Einzelnen, doch weil es ihm nicht gelingt, seine Individualität zu ergründen, kommt er zu dem Schluß, daß es sich um den Massenmenschen handelt. Damit wird die Person, die ihm so verschieden und besonders erschien, zurückgeworfen in den Status der extre-men Nivell ierung: Er ist der Massenmensch, ein „badaud", wie Fournel 1858 dieses Phänomen beschreibt, dessen Individualität „von der Außenwel t aufge-sogen" wird.87 Für den Beobachter wird er als beliebiger Bestandteil der Masse auf einen Schlag uninteressant. Der Unbekannte, den Poe schließlich als Mas-senmenschen identif iziert , ist für Baudelaire und auch für Benjamin88 der Fla-neur, mit dem Baudelaire sich in gewissem Sinn identif iziert . „Aber Poes Be-schreibung dieser Figur ist frei von der Konnivenz, die Baudelaire ihr entge-genbrachte. [. . .] Den Unterschied zwischen dem Asozialen und dem Flaneur verwischt Poe vorsätzlich."89 Während Poe so eine moralische Differenz zwi-schen dem Beobachter und dem Unbekannten etabliert, sieht Benjamin diesen

83 Ebd. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 108. 84 Ebd., S. 109. 87 Victor FOURNEL: Ce qu'on voit dans les rues de Paris. Paris 1858, S. 263. Zitiert nach

BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 572. 88 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, S. 550. An anderer Stelle aller-

dings hat Benjamin diese Auffassung zurückgewiesen. Der Mann der Menge ist eher das, „was aus dem Flaneur werden mußte, wenn ihm die Umwelt, in die er gehört, genommen ward". (Über einige Motive bei Baudelaire. In: GS I, S. 627.)

89 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 550.

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Unterschied nicht: Der Beobachter ist ebenso wie der Mann der Menge „der Konsument, der namenlose, der ins Kaffeehaus eintritt""0.

Bei Baudelaires Interpretation der Erzählung liegt der Schwerpunkt auf der Position des Beobachters. Die Masse ist für Baudelaire eine Selbstverständ-lichkeit. Für ihn ist die Frage relevant: Wie reagiert der Beobachter auf die Masse? Mit Neugier , und dann wird er - wegen dieser Neugier - selber Teil der Masse. „Zuletzt stürzt er sich in die Menge, einem Unbekannten nach, dessen flüchtig wahrgenommenes Gesicht ihn unversehens in Bann geschlagen hat. Die Neugier ist zu einer schicksalhaften, unwiderstehlichen Leidenschaft ge-worden!"91 Bei dieser Interpretation Baudelaires bezieht sich das Motto, das Poe der Erzählung vorangestellt hat: „Ce grand malbeur, de ne pouvoir etre seul"92 auch auf den Beobachter, während es bei Poe nur das Ung lück der Mas-senmenschen ist, nicht allein sein zu können. Der Beobachter bei Poe steht dem Sich-Verlieren in der Masse ablehnend gegenüber - wobei er nicht merkt , daß er selbst es tut - , während es für Baudelaire ein legit imes Mittel ist, wenn nicht das einzige, der Langeweile zu entkommen. Neugier ist die Leidenschaft des Flaneurs und die Menschenmenge sein Lebensraum:

„Die Menge ist sein Bereich, wie die Luft der des Vogels, das Wasser der des Fisches ist. Seine Leidenschaft und sein Beruf ist es, sich mit der Menge zu ver-mählen. Für den vollendeten Flaneur, den leidenschaftlichen Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, Aufenthalt zu nehmen in der Vielzahl [...]. Der Beob-achter ist ein Fürst, der überall sein Inkognito genießt."93

Daß Baudelaire das Phänomen der Masse als natürlichen Lebensraum be-schreibt, ist ein Indiz dafür, daß bei ihm die „Einfühlung in die Warenseele"94

vollzogen ist. Er akzeptiert die vom Tauschwert der Waren abstrahierte Kate-gorie der Gleichheit als Merkmal der entindividualisierten Massenmenschen, die die Menschenmenge bilden. Nach Benjamin ist jedoch

„dieses Kollektiv durchaus nichts als Schein. Diese .Menge', an der der flaneur sich weidet, ist die Hohlform, in die siebenzig Jahre später die Volksgemein-schaft gegossen wurde. Der flaneur, der sich auf seine Aufgewecktheit, auf seine Eigenbrötelei viel zu gute tut, war auch darin seinen Zeitgenossen voran-geeilt, daß er als erster einem Trugbild zum Opfer fiel, das seitdem viele Mil-lionen geblendet hat."95

Baudelaire durchschaut die Falschheit des auf der Kategorie der Gleichheit be-ruhenden Eindrucks der Uniformität der Menge nicht, er versucht aber des-

90 Ebd., S. 551. 91 BAUDELAIRE: Der Maler des modernen Lebens, a. a. O., Bd. 5, S. 220. 92 POE: The Man of the Crowd, a. a. O., S. 101. 93 BAUDELAIRE: Der Maler des modernen Lebens, a. a. O., Bd. 5, S. 222. 94 Brief Benjamins an Adorno vom 6.8.1939. In: Briefe 2, S. 824. 95 PW, S. 436.

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halb, dem Massendasein etwas entgegenzusetzen. Es geht nach Benjamin dem Flaneur Baudelaire nicht zuletzt darum, der „amorphe [n] Menge der Passan-ten"96 „eine Seele zu leihen. [...] Die Begegnungen mit ihr sind ihm das Erleb-nis, das er unermüdlich zum Besten gibt. Aus Baudelaires Werk sind gewisse Reflexe dieser Illusion nicht hinwegzudenken."97 Dies ist einer der Versuche Baudelaires, die von ihm als Faktum aufgefaßte Uniformität der Menschenmas-sen aufzubrechen. Da er sich als Flaneur nur dadurch an der ihm Asyl bieten-den Menge berauschen kann, daß er sich in die scheinbare Gleichheit der Mas-senmenschen und damit in die Warenseele einfühlt, die „alle Spuren des Einzel-nen" „verwischt",98 nimmt Baudelaire, um den Verlust der Individualität rück-gängig zu machen, die Rolle des Heros ein.

Für heroisch hält es Baudelaire, sich anders zu verhalten als die Masse, der er einen Verlust an Individualitätsbewußtsein zuschreibt: „Aber die Welt be-steht aus Leuten, die nur gemeinsam, nur als Herde, denken können."99 Die Gleichheit, Oberflächlichkeit und Mittelmäßigkeit der so beschriebenen Men-schen, als deren Inkarnation Baudelaire Voltaire ausmacht, ist ein Grund für seinen ennui-. „Ich langweile mich in Frankreich, vor allem weil alle Welt dort Ähnlichkeit mit Voltaire hat", der für ihn ,Repräsentant[...] des Menschenge-schlechts" ist, „der Anti-Poet, der König der Faselhänse, der Fürst der Ober-flächlichen, der Anti-Künstler, der Prediger für Hausmeister".100 Wer selber nicht in diesen Strom der Entwicklung hineingezogen werden, nicht den glei-chen Weg wie die Masse gehen will, muß ein Held sein. Die Offenheit für alle Eindrücke und Erfahrungen erhebt Baudelaire in seinen Augen über die Masse und ist Bedingung für seine künstlerische Betätigung: „Das Empfindungsver-mögen eines Menschen ist sein Genie."101 Die beste Voraussetzung für die Aus-bildung der Sensibilität ist das Nichtstun:

„Was mich groß gemacht hat, war zum Teil der Müßiggang. Zu meinem großen Nachteil; denn ohne Vermögen vermehrt der Müßig-

gang die Schulden und die Schmählichkeiten, die das Schuldenmachen mit sich bringt.

Zu meinem großen Vorteil jedoch, was die Reizbarkeit der Empfindung, die Meditation und die Begabung zum Dandy und Dilettanten betrifft.

Die anderen Schriftsteller sind zum größten Teil sehr tinwissende Lum-pen und Streber."102

" BENJAMIN: Über einige Motive bei Baudelaire, a. a. O., S. 618. 97 Ebd., S. 618, Anm. 98 PW, S. 559. 99 BAUDELAIRE, a. a. O., Bd. 6, S. 228. Auch in diesem Punkt gibt es eine direkte Parallele

zu Nietzsche, der an vielen Stellen ähnliches äußert. 100 Ebd., S. 235. 101 Ebd., S. 206. 102 Ebd., S. 246.

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Der Müßiggänger Baudelaire nimmt keine Arbeil an, übt kein Amt aus. Er lehnt es ab, Teil der von ihm kritisierten Gesellschaft zu sein. Er widmet sich der Beobachtung und der literarischen Verarbeitung seiner Eindrücke, begibt sich als Flaneur auf die Suche nach immer wieder neuen Sensationen. Die Lan-geweile vertreibt er sich dadurch, daß er sich den beliebigen Eindrücken über-läßt, die ihm flanierend begegnen, sei es inmitten der entseelten Menschenmas-se, die er als vereinsamtes Individuum sucht, in den Passagen, wo sich das groß-städtische Leben abspielt, in den Salons, Wirtshäusern, Bordellen. Weil weder Zukunft noch Vergangenheit für ihn von Bedeutung sind, stürzt er sich auf die Erfahrung der aktuellen, alltäglichen Ereignisse, mit deren Vergänglichkeit und Belanglosigkeit nur eine heroische Einstellung fertig werden kann.

Er verhält sich dabei wie der Beobachter in Poes Mann in der Menge, der mit Zigarre und Zeitung im Cafe sitzt, die vorbeiziehende Menge beobachtet und nach Individuellem Ausschau hält - nur daß der Beobachter bei Poe „a calm but inquisitive interest in everything" und „keenest appetency" bei sich feststellt, die er als „precisely the converse of ennui" beschreibt,103 während für Baudelaire die Aufmerksamkeit und Sensibilität mit der Langeweile nicht nur vereinbar sind, sondern geradezu zusammengehören.

Mit dem Bild des Heros, der über der Menge steht, setzt sich Baudelaire von der Position Victor Hugos ab, der als citoyen unter dem Banner von Laizis-mus, Fortschritt und Demokratie das Massendasein verklärt. Hugo mißachtet dabei die Schwelle,

„die den Einzelnen von der Menge trennt. Diese Schwelle hütete Baudelaire; das unterschied ihn von Victor Hugo. Er ähnelte ihm jedoch darin, daß auch er den gesellschaftlichen Schein nicht durchschaute, welcher sich in der Men-ge niederschlägt. Er setzte ihr darum ein Leitbild entgegen, so unkritisch wie die Hugosche Konzeption von ihr. Der Heros ist dieses Leitbild."104

Sowohl Hugo als auch Baudelaire unterliegen wie Poe mit ihrer Akzeptanz des Bildes der Masse dem falschen Schein des Immergleichen. Baudelaire setzt ihm das Bild des ganz Besonderen, von allem Verschiedenen, des Heroen entgegen, das als das dialektische Gegenstück zum Gleichen allerdings ebenso falsch ist.

Von einem Heroismus Baudelaires ist nach Benjamin jedoch in der Tat deswegen zu sprechen, weil er sich - und darin gleicht seine heroische Haltung der Nietzsches - gegen die normative Macht des von ihm als real Angesehenen stellt. Diese Realität ist bei Nietzsche die ewige Wiederkehr des Gleichen, die deshalb ebenso falscher Schein ist wie „die Erfahrung des Immergleichen, in de-ren Bann der spieen den Dichter [Baudelaire, SZ] geschlagen hat"105, weil sie von der Idee der Gleichheit konstituiert wird. Problematisch für Baudelaire ist,

103 POE: The Man of the Crowd, a. a. O., S. 101. 104 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 569. 105 Brief Benjamins an Max Horkheimer vom 16.4.1938. In: Briefe 2, S. 752.

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daß die Gleichheit nicht nur den Menscliemrassen und den Waren zukommt, sondern daß die Gleichheitswahrnehmung auch die Bedingungen für die künst-lerische Produktion ändert.

„Diese Veränderungen bestanden darin, daß am Kunstwerk die Warenform, an seinem Publikum die Massenform unmittelbarer und vehementer als jemals vordem zum Ausdruck kam. Eben diese Veränderungen führten späterhin ne-ben andern Veränderungen im Bereiche der Kunst vor allem den Untergang der lyrischen Dichtung herauf."106

Ernst Robert Curt ius bemerkt in seinem Balzac-Buch, wie Benjamin im Passa-gen-Werk zitiert: „Die moderne Massenfabrikation zerstört den Kunst- und Wertsinn der Arbeit: ,nous avons des produits, nous n'avons plus d'ceuvres"'.107

Kunstwerke werden mehr und mehr mit einem von Gleichheitswahrnehmung korrumpierten Blick eher als Waren denn als singuläre Werke gesehen. Umge-kehrt gleicht sich das Publikum der Käufermenge im Warenhaus an. „Baude-laire wußte, wie es um den Literaten in Wahrheit stand: als Flaneur begibt er sich auf den Markt; wie er meint, um ihn anzusehen, und in Wahrheit doch schon, um einen Käufer zu finden."108 Sein Heroismus besteht nach Benjamin darin, daß er sich von den für Kunst nach ihrem traditionellen Verständnis un-günstigen Bedingungen nicht beirren läßt. Daß er sich dabei vom Schein des Gleichen täuschen läßt, trägt zur Authentizität seiner Werke bei, die gerade wegen der Spannung zwischen der in ihnen aufgehobenen Erfahrungswelt des 19. Jahrhunderts und ihrem eher traditionellen Ausdruck109 in lyrischen Wer-ken und nicht in Massenkunst die Zäsur in der Entwicklung der menschlichen Erfahrung deutlich machen und den Beginn der Moderne markieren: „Es macht die einmalige Signatur der Fleurs du mal, daß Baudelaire auf diese Veränderun-gen mit einem Gedichtbuche erwidert. Das ist zugleich das außerordentlichste Exempel heroischer Haltung, das in seinem Dasein zu finden ist."110 Diese Art des Heroismus ist ein Phänomen, das erst dem modernen Menschen auf dem Hintergrund seiner veränderten Erfahrungsweise zukommt: „Der Heros ist das wahre Subjekt der modernite. Das will sagen - um die Moderne zu leben, be-darf es einer heroischen Verfassung."111

104 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 676. 107 Ernst Robert CURTIUS: Balzac. Bonn 1923, S. 260. Zit. nach PW, S. 926. 108 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 536. 109 So war'die Sonettform zu seiner Zeit bereits eher altmodisch, freie Formen dagegen gab

es durchaus vorher schon. 110 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 676. 111 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 577.

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3. Ewige Wiederkehr dei Gleichen und ewige Neuheit

Die Idee der Gleichheit wird im 19. Jahrhundert nicht nur für die synchron wahrgenommenen Erscheinungen, sondern auch in diachroner Betrachtung der Geschehnisse verwendet.112 Mit der Projektion der Kategorien des Immerglei-chen und des Neuen auf die Geschichte überblendet „der Fetischcharakter der Ware die echten Kategorien der Geschichte."113 Sie wird damit selber phan-tasmagorisch, wie Bolz bemerkt: „Die Phantasmagorie kat exoehen hat sich in Blanquis und Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft [...] ausgespro-chen."114 Benjamin erläutert diesen Mechanismus in einem Vergleich von Bau-delaires Vorstellung, daß sich immer dasselbe ereigne, mit den geschichts-philosophischen Konzeptionen Blanquis und Nietzsches. In allen drei Theorien widerfährt den Ereignissen dasselbe wie den Erscheinungen: „Der Gedanke der ewigen Wiederkunft macht das historische Geschehen selbst zum Massenarti-kel".115 Die Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen entsteht als Gegenent-wurf zum Fortschrittsdenken, das - wie es bei Nietzsche heißt - „der Welt das Vermögen zur ewigen Neuheit auf dekretieren"116 möchte. Nietzsches Herois-mus, der die grauenerregende Idee der unausweichlichen ewigen Wiederkehr des Gleichen mit Fassung aushalten will, und Blanquis Resignation angesichts

112 Vgl. Brief Benjamins an Adorno vom 23.2.1939. In: Briefe 2, S. 807. Benjamin wollte

diese beiden Applikationsformen des Begriffs des Immergleichen getrennt in den Kapiteln 2

und 3 des geplanten Buches über die Passagen verhandeln. 113 PW, S. 1166. 114 Norbert BOLZ: Statt eines Vorworts II. Hauptstadt Paris. In: ders. und Bernd WITTE

(Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München 1984, S. 15. - Benjamin versteht die Phantasmagorie als Resultat der falschen Anwendung eines aus Fetischisierung abgeleiteten Prädikats: „Die Eigenschaft, die der Ware als ihr Fetischcha-rakter zukommt, haftet der warenproduzierenden Gesellschaft selber an, nicht zwar so wie sie an sich ist, wohl aber so wie sie sich stets dann vorstellt und zu verstehen glaubt, wenn sie von der Tatsache, daß sie eben Waren produziert, abstrahiert. Das Bild, das sie so von sich produ-ziert und das sie als ihre Kultur zu beschriften pflegt, entspricht dem Begriffe der Phantasmago-rie," (PW, S. 822.) Der Begriff der Phantasmagorie bleibt jedoch bei Benjamin - wie auch Kittsteiner zu Recht feststellt - nicht „auf die kapitalistisch produzierten Dinge" beschränkt, sondern Benjamin weitet ihn auf die Geschichte selbst aus. (Heinz-Dieter KITTSTEINER: Walter Benjamins Historismus. In: BOLZ/WITTE [Hg.]: Passagen, a. a. O., S. 163-97.) Als Beleg dafür kann z. B. eine Stelle im Passagen-Werk dienen, an der Benjamin den Fortschritt als „Phantas-magorie der Geschichte" (S. 1257) bezeichnet.

115 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 663. 116 Dieses Zitat steht in BENJAMINS Passagen-Werk, S. 173, und ist dort zitiert nach Fried-

rich NIETZSCHE: Der Wille zur Macht. Drittes und viertes Buch. In: Gesammelte Werke. Mu-sarionausgabe. Bd. 19. München 1926. Es ist wörtlich aus den nachgelassenen Fragmenten Nietzsches entnommen, nach denen ich es hier zitiere: Friedrich NIETZSCHE: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio COLLI und Mazzino MONTINARI. Mün-chen/Berlin/New York 1980, Bd. 11, S. 556.

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dieser Aussicht s iehl lür Benjamin mit Baudelaire eine dri l le Möglichkeil , diese Idee zu verarbeiten, entgegen: die Suche nach dem Neuen.

Das Fortschrittsdenken ist eine Konsequenz der Aufklärung, die aus den Erkenntnissen der Naturwissenschaften, den Entdeckungen und Erfindungen seit dem 16. Jahrhundert optimistisch auf die unbegrenzte Leistungsfähigkeit der menschlichen Vernunft und auf eine sich mit besseren Lebensbedingungen einstellende moralische Entwicklung des Menschen schloß. Die Fortschritts-gläubigkeit des Leibniz-Wolffschen Rationalismus - der seit dem 17. Jahrhun-dert bis ins 19. Jahrhundert hinein uneingeschränkt als gültig anerkannt wurde - beruht darauf, daß die Welt als vermeintlich „beste aller möglichen Welten", als prinzipiell vernünftig eingerichtet betrachtet wird. Ihre Mängel werden im wesentlichen auf menschliche Fehler zurückgeführt, die es zu korrigieren gilt. Fortschritt besteht darin, daß Unzulänglichkeiten aufgespürt und überwunden werden, daß es also eine stetige Veränderung hin zum Besseren gibt. Voraus-setzung für diese Fortschrittsidee ist das Vorhandensein eines Telos, auf das sich die Entwicklung zubewegt, dem sich die Verhältnisse angleichen sollen. Dabei verläuft die Entwicklung so, daß in einer kontinuierlichen Abfolge das schlechte Alte durch das bessere Neue abgelöst wird. Das Neue hat also auch hier einen qualitativen und einen temporalen Aspekt: den der Unterschieden-heit - wobei diese optimistisch in eine Richtung interpretiert ist: es ist stets besser als das Alte, nie schlechter - und den der größeren Nähe zur Gegenwart bzw. zur Zukunft, zum Telos: es ist das Jüngste.

Die Idee des Fortschritts hat nach Benjamin allerdings ihre Bedeutung ver-ändert. Der Fortschrittsideologie im 19. Jahrhundert ist für ihn die ehemals in-härente kritische Funktion des Begriffs des Fortschritts, die noch einen qualita-tiven Vergleich zwischen dem Neuen und dem Alten für nötig befand, abhan-den gekommen. „Bei Turgot hatte der Fortschrittsbegriff noch kritische Funk-tionen. Er ermöglichte es vor allem, die Aufmerksamkeit der Menschen auf rückläufige Bewegungen in der Geschichte zu lenken."117 Diese Veränderung kann aus Benjamins Sicht so interpretiert werden, daß im 19. Jahrhundert der Fortschritt - nicht zuletzt auf dem Hintergrund der Darwinschen Theorie - als von selbst ablaufend angesehen wird118 - eine Auffassung, die zur Folge hat, daß das Jüngste, das Neuere automatisch als das Bessere gilt und damit der qualitative Aspekt des Neuen gegenüber dem temporalen an Bedeutung ver-liert. Dies ist der Fortschrittsbegriff, den Benjamin in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte auch der Sozialdemokratie zuschreibt; nach Kaisers Inter-pretation ist „die Kategorie des Fortschritts im Gebrauch der früheren Sozial-demokratie [...] säkularer Erlösungsersatz in pseudoreligiöser Drapierung"119.

117 PW, S. 596. 118 Ebd. 119 Gerhard KAISER: Walter Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen". In: BULT-

HAUP (Hg.), a. a. O., S. 73.

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Eine Folge des im 19. Jahrhundert veränderten Fiirisehriusvcrständnisses ist es, daß - obwohl wegen der immer deutlicher zutage tretenden Kehrseiten des angeblichen sozialen und materiellen Fortschritts die Entwicklung immer weni-ger als Veränderung zum Besseren hin gesehen werden kann - von Fortschritt gesprochen und an der Fortschrittsideologie festgehalten wird. Erst dieses fal-sche Fortschrittsverständnis, das durch die „Korrumpierung des Fortschritts-glaubens zum Element einer mythischen Denkweise"120 entstanden ist, bildet den der Ansatzpunkt für die Kritik, die nach Benjamin Baudelaire, Nietzsche und Blanqui üben. Auffällig daran ist, daß erst die Vernachlässigung des quali-tativen Aspekts des Neuen bei Nietzsche und Blanqui zu einer Infragestellung des gesamten geschichtsphilosophischen Konzepts der linearen teleologischen Entwicklung führt.

„Im Glauben an den Fortschritt behauptet sich der alte Schicksalsglau-be",121 und genau deswegen lehnt Baudelaire die Idee eines von selbst ablaufen-den Fortschritts ab: Das „düstere Fanal" des Fortschrittsglaubens ist für ihn

„eine Erfindung unserer jetztzeitigen Philosophaster, welcher weder die Natur noch die Gottheit ein Garantiezeugnis ausgestellt hat, diese moderne Laterne wirft ihre Finsternisse über alle Gegenstände der Erkenntnis; die Freiheit löst sich in Dunst auf, die Strafe verschwindet. Wer sich Licht verschaffen will über die Geschichte, muß vor allem dieses Fanal der Arglist auslöschen."122

Die Fortschrittsgläubigkeit ist für Baudelaire eine Ideologie, mit der die Verlu-ste, die der „zivilisierte" gegenüber dem „wilden" Menschen erfährt, kompen-siert werden sollen. Tatsächlich gibt es für ihn keinen Fortschritt. Er ist eine Il-lusion, die darüber hinwegtäuschen soll, daß es gerade keinen Fortschritt gege-ben hat. „Welcher Begriff wäre törichter als der des Fortschritts, da doch der Mensch, wie jeder Tag aufs neue beweist, immer dem Menschen ähnlich und gleich, das heißt immer ein Wilder bleibt"123 - allerdings ohne dessen „enzyklo-pädische" Fähigkeiten zu behalten, wäre hier im Sinne Baudelaires hinzuzufü-gen, so daß es sich nicht nur um keinen Fortschritt, sondern um eine Entwick-lung zum Schlechteren handelt. Wohl sind für ihn gewisse Fortschritte im materiellen Bereich nicht zu leugnen. Jedoch erscheinen ihm diese Fortschritte eher als zufällig und nicht notwendig oder gar teleologisch begründbar:

„Wo aber, ich bitte euch, ist die Garantie des Fortschritts für morgen? Denn so verstehen es die Schüler der Philosophen der Dampfkraft und der chemi-schen Zündhölzer: der Fortschritt erscheint ihnen nur in Gestalt einer unend-

120 WEHLING, a. a. O., S. 8. 121 Rolf-Peter JANZ: Mythos und Moderne bei Walter Benjamin. In: Karl Heinz BOHRER

(Hg.): Mythos und Moderne. Frankfurt am Main 1983, S. 364. 122 BAUDELAIRE, a. a. O., Bd. 2, 232-3 . 123 Ebd., Bd. 6, S. 208.

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liehen Reihe. Wo ist diese Garantie? Nirgendwo anders, sage ich, als in eurer Leichtgläubigkeit und eurem Dünkel."'2,1

Die Uberschätzung der materiellen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts als Fortschritte geht für Baudelaire einher mit der Unterschätzung und Vernach-lässigung des intel lektuellen und spirituellen Bereichs. Dadurch, daß Fort-schritt ausschließlich an materiellen Werten gemessen wird, verlieren religiöse und andere s innstiftende Ideen, an denen sich ein Fortschritt teleologisch aus-richten könnte, an Geltung und führen zu einer Sinnleere des Daseins:

„Die Welt geht ihrem Untergang entgegen. [...] Als neues Beispiel und neuer-liches Opfer der unerbittlichen Gesetze der Moral werden wir an dem zugrun-de gehen, von dem wir uns Leben versprachen. Die Mechanik wird uns derart amerikanisiert haben, der Fortschritt die Verkümmerung unseres geistigen Teiles so vollkommen gemacht haben, daß auch der blutrünstigste, ruchlose-ste und widernatürlichste aller Träume der Utopisten harmlos erscheinen wird im Vergleich zu solchen positiven Ergebnissen. Ich fordere jeden denkenden Menschen auf, mir zu zeigen, was denn vom Leben noch übriggeblieben ist. Was die Religion angeht, so halte ich es für überflüssig, sie auch nur zu erwäh-nen und nach ihren Uberresten zu forschen, denn daß sich einer noch die Mühe macht, Gott zu leugnen, ist das einzige Ärgernis auf diesem Gebiet."125

Trotz seiner Kritik am Fortschrittsdenken übernimmt Baudelaire die Katego-rien aus diesem Geschichtsbild, nämlich die Vorstel lung, daß sich die histori-sche Entwicklung als lineare, kontinuierl iche Abfolge von Veränderungen voll-zieht, an der er lediglich kritisiert, daß es sich nicht um eine Entwicklung zum Besseren handelt. Auch die Idee des Telos entnimmt er dieser Vorstel lung. Da es ein solches offensichtl ich nicht gibt, jedenfalls keines feststel lbar ist, läuft für ihn die historische Entwicklung ins Leere. Damit hat Baudelaire nach Ben-jamin zwar recht, wenn er die Idee des von selbst ablaufenden Fortschritts kri-tisiert, jedoch übersieht er den richtigen Ansatzpunkt der Kritik, den Benjamin in seinen Thesen Uber den B e g r i f f der Geschichte beschreibt, nämlich die dem Fortschrittsdenken zugrundel iegende Idee einer kontinuierl ichen, chronologi-schen Zeit:

„Die Vorstellung eines Fortschritts des Menschengeschlechts in der Ge-schichte ist von der Vorstellung ihres eine homogene und leere Zeit durchlau-fenden Fortgangs nicht abzulösen. Die Kritik an der Vorstellung dieses Fort-gangs muß die Grundlage der Kritik an der Vorstellung des Fortschritts über-haupt bilden."126

Benjamin versteht diese leere Zeit als Gegensatz zur erfül lten Zeit, wie zuerst Greffrath treffend beschrieben hat: Die völlig gleichförmig verlaufende Zeit ist

124 Ebd., Bd. 2, S. 233-4 . 125 Ebd., Bd. 6, S. 211 . 124 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte. In: GS I, S. 701.

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„die Zeit der Hrfihrungslosigkeit. [...] Als Zeit des Produktionsprozesses kennt sie keine qualitativen Veränderungen. [...] Benjamin spricht von dieser Zeit als von der .höllischen, in der sich die Existenz derer abspielt, die nichts, was sie in Angriff genommen haben, vollenden dürfen'. Er setzt ihr mit einem Zitat von Joubert die Zeit der Erfüllung und der Vollendung entgegen [...]. So deutlich die höllische Zeit der Erfahrungslosigkeit als die Zeit der großen In-dustrie zu erkennen ist, so unsicher wird die historische Bestimmung ihres Gegenstücks, der Zeit der Erfahrung."127

Nach Benjamin ist der Eindruck der ,,völlige[n] Leere des Zeitverlaufes"128 eine Ursache des spieen, dem nicht nur Baudelaire verfallen ist: „Es ereignet sich , immer dasselbe'. Der spieen ist nichts als die Quintessenz der geschichtl ichen Erfahrung."129 Ein Symptom des spleens ist das Gefühl von unheilbarer Lange-weile, die nach Benjamin seit den vierziger Jahren als „epidemisch empfunden" wurde.130 Die Langeweile ist Resultat aus dem verlorenen Glauben an Fort-schritt und Telos: „Langeweile haben wir, wenn wir nicht wissen, worauf wir warten."131 Wenn es kein Ziel der Geschichte mehr gibt, dann gibt es auch kei-nen Sinn des Daseins. Deshalb versteht Benjamin den spieen als „Erkrankung des geschichtl ichen Bewußtseins."132

„Das Bewußtsein des dem spieen Verfallenen gibt ein Miniaturmodel l des Weltgeistes ab, dem der Gedanke der ewigen Wiederkunft zuzurechnen wä-re."133 Baudelaires Wahrnehmung, daß immer das Gleiche geschehe, ist nach Benjamin bei Nietzsche radikalisiert in der Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Nietzsche lehnt das Fortschrittsdenken vor allem deshalb ab, weil es kein Telos mehr gibt, auf das die Entwicklung zulaufen könnte. Dabei ist die Idee des Telos selbst für ihn schon falsch. Fortschrittsglaube ist für ihn nichts als das krampfhafte Festhalten an einer Theorie, der dadurch, daß niemand mehr an Gott glaubt, die Grundlage entzogen ist, die deshalb unsinnig gewor-den ist:

„Die Welt, wenn auch kein Gott mehr, soll doch der göttlichen Schöpferkraft, der unendlichen Verwandlungs-Kraft fähig sein; sie soll es sich willkürlich ver-wehren, in eine ihrer alten Formen zurückzugerathen, sie soll nicht nur die Absicht, sondern auch die Mittel haben, sich selber vor jeder Wiederholung zu bewahren; sie soll somit in jedem Augenblick jede ihrer Bewegungen auf die Vermeidung von Zielen, Endzuständen, Wiederholungen hin controlieren -und was Alles die Folgen einer solchen unverzeihlich-verrückten Denk- und Wunschweise sein mögen. Das ist immer noch die alte religiöse Denk- und

127 GREFFRATH, a. a. O., S. 47-8 . 128 PW, S. 444. 129 BENJAMIN: [Konspekt zur Baudelaire-Arbeit], In: GS I, S. 1151 . 150 Vgl. PW, S. 165. 131 PW, S. 161. 132 BENJAMIN: [Notizen zum Baudelaire]. In: GS VII.2, S. 766. 133 PW, S. 693.

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Wunschweise, eine Art Sehnsucht zu glauben, daß irgendworin doch die Welt dem alten geliebten, unendlichen, unbegrenzt-schöpferischen Gotte gleich sei - daß irgendworin doch ,der alte Gott noch lebe'".134

Deshalb gilt es für ihn, sich an den Gedanken der Ziellosigkeit und damit an das Fehlen einer zielgerichteten Entwicklung zu gewöhnen, wobei er die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, wohl sieht: „Die alte Gewohnhei t aber, bei al lem Geschehen an Ziele und bei der Welt an einen lenkenden schöp-ferischen Gott zu denken, ist so mächtig, daß der Denker Mühe hat, s ich selber die Ziellosigkeit der Welt nicht wieder als Absicht zu denken."135 — Seine Ab-lehnung der Lehre vom unaufhaltsamen, ewigen Fortschritt ist ebenso kom-promißlos wie seine Ablehnung der von den „Freidenkern", den ,JSlivellirernaXib

propagierten Idee von der Gleichheit aller Menschen:

„Wir neuen Philosophen aber, wir beginnen nicht nur mit der Darstellung der thatsächlichen Rangordnung und Werth-Verschiedenheit der Menschen, son-dern wir wollen auch gerade das Gegentheil einer Anähnlichung, einer Aus-gleichung: wir lehren die Entfremdung in jedem Sinne, wir reißen Klüfte auf, wie es noch keine gegeben hat".137

Nietzsches Gegenentwurf zum Fortschrittsdenken ist - und das wi rd aus der Benjaminschen Perspektive interessant - genau dessen antagonist isches Pen-dant. Diese diametrale Opposit ion ist von Nietzsche nachdrückl ich intendiert : Er redet keiner Relativierung der Fortschrittsidee das Wort , sondern propagiert eine radikale Abwendung. Nach Nietzsche „fehlt der Welt [ . . . ] das Vermögen zur ewigen Neuheit"138 , deshalb wird er zum „Lehrer der ewigen Wiederkunf t . Das ist: ich lehre, daß alle Dinge ewig wiederkehren und ihr selber mit und daß ihr schon unzählige Male dagewesen seid und alle Dinge mit euch"139 . Der geschichtsphilosophische Entwurf Nietzsches ist von Benjamins Standpunkt aus gesehen als mit rationalistischer Konsequenz erdachtes Negat des Fort-schrittsdenkens ebenso falsch wie dieses.

Das gleiche gilt für die Theorie Blanquis, die Benjamin als dr i t ten ge-schichtsphilosophischen Entwurf neben Baudelaire und Nietzsche diskut iert . Ähnlich wie Nietzsche beschreibt Blanqui in seinem Buch L'etemite par les astres140 den Fortschritt als il lusorisch:

„Das ganze Universum besteht aus Sternsystemen. Um sie zu schaffen, hat die Natur nur hundert Elemente zur Verfügung. Trotz aller Erfindungskunst

1 ,4 NIETZSCHE: Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 11, S. 556-7. 135 Ebd., S. 556. 134 Ebd., S. 558. 137 Ebd., S. 559. 158 Ebd., S. 557. 139 Ebd., S. 10. 140 Auguste BLANQUI: L'£ternit€ par les astres. Hypothese astronomique. Paris 1872.

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und trotz der unendlichem Anzahl von Kombinationen, die ihrer Fruchtbar-keit zur Verfügung suchen, ist das Resultat notwendig eine endliche Zahl gleich der Zahl der Elemente selbst. Um den Raum auszufüllen, muß die Na-tur ihre ursprünglichen Kombinationen und Typen ad infinitum wiederho-len."141

Für Blanqui ist nichts im ganzen Kosmos einmalig, alles, jedes Ding, jeder Mensch hat unzählige Doppelgänger, und die „sind keine Phantome sondern verewigte Wirkl ichkeit . Eines freilich fehlt daran: Fortschritt."142 Nichts verän-dert sich, d. h. es kann nichts Neues geben. „Das Universum wiederholt sich unendlich und tritt auf der Stelle. Unbeirrt spielt die Ewigkeit im Unendl ichen stets und immer das gleiche Stück."143 Für Benjamin entsteht dieses Bild des Universums aus der Resignation des „Revolutionärs" Blanqui angesichts der Tatsache, daß das 19. Jahrhundert „den neuen technischen Mögl ichkeiten nicht mit einer neuen gesellschaftl ichen Ordnung zu entsprechen vermocht"144 hat. Es ist ähnlich wie Baudelaire auf dem Hintergrund des fehlenden „wahren" Fortschritts zu verstehen. In Blanquis beklemmender Vision gibt sich nach Benjamin der Fortschritt „als die Phantasmagorie der Geschichte selbst zu er-kennen".145 Wei l Blanqui „der mechanistischen Naturwissenschaft seine Daten entnimmt"146 , ist sein Buch für Benjamin „die furchtbarste Anklage gegen eine Gesellschaft, die dieses Bild des Kosmos als ihre Projekt ion an den Himmel wirft."147

Für Benjamin ist die Lehre von der ewigen Wiederkehr komplementär zum Fortschrittsdenken. In ihrer rigorosen Ausprägung wie bei Nietzsche und Blanqui, die nach Benjamin die Möglichkeit von Neuheit völlig ausschließen,148

ist sie allerdings „eben der .platte Rationalismus' als der der Fortschrittsglaube verrufen ist", wie umgekehrt der Fortschrittsglaube „der mythischen Denk-weise ebenso angehörend [ ist] wie die Vorstel lung von der ewigen Wieder-kehr."149 In Abgrenzung von dieser Antinomie will Benjamin seinen „dialekti-

141 BLANQUI, a. a. O. Zitiert nach: PW, S. 1257. 142 Ebd. 143 Ebd. 144 PW, S. 1257. 145 Ebd. 146 Brief Benjamins an Max Horkheimer vom 6.1.1938. In: Briefe 2, S. 741. 147 Ebd., S. 742. 148 Das trifft für Nietzsche nur bedingt zu: „Ich fühle mich im Gegensatz zur Moral der

Gleichheit", heißt es in einem Fragment. Seine Philosophie vertritt zwar geschichtsphilosophisch die Lehre von der ewigen Wiederkehr, stellt dieser aber eine Ungleichheitslehre gegenüber, die vor allem die Unterschiede zwischen Menschen betrifft (z. B. „Führer und Herde", „Gerathene und Missrathene" usf.), und bejaht damit zumindest den qualitativen Aspekt des Neuen, näm-lich die Verschiedenheit. (NIETZSCHE: Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 11 , S. 212-3 . )

149 PW, S. 178.

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•seilen BegrilI iler historischen Zeil" entwickeln,1 ,0 in dem auch ein anderes, wahrhaft Neues seinen Platz hat.

4. Das Neue

Während Nietzsche Benj amin zufolge mit „heroischer Fassung" der ewigen Wiederkunft des „Immerwiedergleichen" entgegensieht151 und Blanqui ange-sichts der von jedem Fortschritt unberührten „Monotonie" und „Unbeweglich-keit" des gesamten Universums in „hoffnungslose Resignation" verfällt152, liegt bei Baudelaire „der Akzent auf dem Neuen, das mit heroischer Anstrengung dem .Immerwiedergleichen' abgewonnen wird"153.

Baudelaires Zweifel am Fortschritt verschaffen ihm nach Benjamin die für seine Kunst notwendige „Reserve ihrem Sujet gegenüber".154 Wie er sich als Heros von den Massenmenschen abheben möchte, so versucht er gegen die Gleichheit der Dinge und die leere Zeit ein Neues zu propagieren, von dem er selber nicht weiß, wie es aussehen könnte, und an das er auch nicht wirklich glaubt. Diese Sehnsucht nach einem unbestimmten ganz Anderen gegenüber der eintönigen Welt kommt in dem Gedicht Le voyage zum Ausdruck. Die Rede ist dort von Reisenden, die vor einer als unerträglich empfundenen Reali-tät flüchten. Die einen versprechen sich von einer Reise zu einem bestimmten Ziel eine Verbesserung ihrer Lebensumstände und die Erfüllung ihrer spezifi-schen Wünsche. Das sind die Fortschrittsgläubigen, die sich von einem Fort-schritt zum nächsten hangeln. Die anderen sind die eigentlichen, wahren Rei-senden, „qui partent / Pour partir [...] / Et, sans savoir pourquoi, disent tou-jours: Allons!"155. Diese Reisenden - zu denen Baudelaire sich selber zählt, denn er spricht im folgenden von „nous" - träumen vom Unerhörten, Wech-selnden, Unbekannten, „dont l'esprit humain n a jamais su le nom!"156. Sie wer-den getrieben von einer unbestimmten Neugier, ihr Ziel ist unbekannt, es ver-schiebt sich, ist nirgends und überall. In jeder Insel, die sie am Horizont auf-tauchen sehen, vermuten sie, verblendet von ihrer sehnsüchtigen Phantasie, ein Eldorado, um beim Näherkommen dann zu ihrer großen Enttäuschung doch nur abweisende Klippen zu erkennen: „O le pauvre amoureux des pays chimeri-ques!"157 Obwohl ihre diffuse Sehnsucht ständig enttäuscht wird, träumen sie weiter von nicht vorhandenen Ländern. Daß man auf dieser Reise wirklich et-

150 Ebd. 151 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 673. 152 PW, S. 1257. 153 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 673. 154 PW, S. 437. 155 BAUDELAIRE, a. a. O., Bd. 3, S. 330. 156 Ebd. 157 Ebd., S. 332.

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was Neues erfahren könnte, ist für Baudelaire eine Schimäre. Die einzige Er-kenntnis ist die, daß es nichts Neues gibt:

„Amer savoir, celui qu'on tire du voyage! Le monde, monotone et petit, aujourd'hui, Hier, demain, toujours, nous fait voir notre image: Une oasis d'horreur dans un desert d'ennui!"158

Daher kann es auch keine allgemeingültige Antwort auf die Frage geben, wie der Langeweile zu entfliehen sei, wie der Feind, die Zeit, zu täuschen sei: „Faut-il partir? rester? Si tu peux rester, reste; / Pars, s'il le faut."159 Baudelaire reist nicht, sondern bleibt in Paris. Dieser „Verzicht auf den Zauber der Ferne ist ein entscheidendes Moment in der Lyrik von Baudelaire. Es hat in der ersten Strophe von ,Le voyage' seine souveräne Formulierung gefunden."160 Wer zu Hause bleibt, erspart sich die Desillusionierung der Reise, denn daß die Art von Neuheit, die von einer Reise erwartet werden kann, nicht das wahre Neue ist, dem seine Sehnsucht gilt, hat Baudelaire erkannt:

„Pour l 'enfant, amoureux de cartes et d'estampes L'univers est egal ä son vaste appetit. Ah! que le monde est grand ä la clarte des lampes! Aux yeux du souvenir que le monde est petit!"161

Den Widerspruch zwischen dem Glauben an das Immerwiedergleiche und der Sehnsucht nach Anderem, Neuen, hat Baudelaire erkannt, ohne ihn lösen zu können:

„Singuliere fortune oü le but se deplace, Et, n'etant nulle part, peut etre n'importe oü! Oü l 'Homme, dont jamais l'esperance n'est lasse, Pour trouver le repos court toujours comme un fou!"162

Für Benjamin liegt dieser Widerspruch darin, daß Baudelaires Begriff des Neuen nur das antagonistische Gegenstück zum Immergleichen ist. Dann stimmt Baudelaire mit Blanqui überein, für den das Neue nichts anderes ist als das Altbekannte. Seine Formulierung „,C'est du nouveau toujours vieux, et du vieux toujours nouveau' entspricht auf das strengste der bei Baudelaire nieder-gelegten Erfahrung des spieen."163 Da für Baudelaire das Neue ein möglichst radikal Verschiedenes, absolut Neues sein muß, ergibt sich als Ziel seiner Sehn-sucht der Tod als absolute Negation des Lebens. Deshalb konstatiert Benjamin:

158 Ebd., S. 336. 159 Ebd. 160 PW, S. 417 . 161 BAUDELAIRE, a. a. O., Bd. 3, S. 328. 162 Ebd., S. 330. 163 PW, S. 457. Das Blanqui-Zitat stammt aus: BLANQUI, a. a. O., S. 74.

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„Ei gibt I itt" die Menschen wie sie heule sind nur eine radikale Neuigkeit — und das ist immer die gleiche: der Tod."""4 Der Tod bzw. das Sich-an-den-Tod-Uberlassen ist der radikalste, verzweifelte Versuch, die Eintönigkeit und Lan-geweile des Lebens aufzubrechen. In Baudelaires Dichtung gibt es deshalb nach Benjamin an vielen Stellen den Ausdruck einer „Mimesis des Todes"165 . So auch in Le voyage. Die Suche nach dem Neuen gleicht darin der Reise auf einem Schiff, dessen Kapitän der Tod ist. So schließen das Gedicht und damit die Fleurs du Mal mit den Versen:

„O Mort, vieux capitaine, il est temps! levons l'ancre! Ce pays nous ennuie, o Mort! Appareillons! Si le ciel et la mer sont noirs comme de l'encre, Nos coeurs que tu connais sont remplis de rayons!

Verse-nous ton poison pour qu'il nous reconforte! Nous voulons, tant ce feu nous brule Ie cerveau, Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? Au fond de l 'Inconnu pour trouver du nouveau!"U6

Darin, daß Baudelaire der Immergleichheit doch noch Neuheit abgewinnen will , l iegt rationalist isch gesehen eine Inkonsequenz, die aus Benjamins Per-spektive allerdings der Unzulängl ichkeit des Rational ismus selbst zuzuschrei-ben ist, dessen auf den Begriffen von Identität und Widerspruch beruhende lo-gische Axiome der Realität nicht gerecht werden. Der Dual ismus von Gleich-heit und Verschiedenheit verstellt den Blick auf die nach Benjamin vorhande-nen „natürlichen Korrespondenzen" der Dinge. Deshalb kann auch der Beob-achter in Poes The Man of the Crowd den, den er verfolgt, nur entweder als völ-lig vereinzelt oder als Massenmenschen, d. h. als völlig gleich wie die unzähligen anderen Massenmenschen ansehen. Individualität, die nach Benjamin in der Einzigartigkeit der Ähnlichkeitsbeziehungen einer Person liegt, kann er nicht erkennen, weil er gar keine Ähnlichkeiten sieht. Aus dieser Unangemessenheit des Denkens an die Dinge resultiert schließlich auch das in Baudelaires Schrif-ten dokumentierte Di lemma des modernen Menschen, der diese Unzulängl ich-keit des Rational ismus spürt, ohne ihr entrinnen zu können. Aus Benjamins

164 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 668. 165 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 587. 166 BAUDELAIRE, a. a. O., Bd. 3, S. 338. - Das kursiv gedruckte „nouveau", ist das letzte

Wor t der Fleurs du Mal, deren Aufbau, wie Baudelaire betont, besondere Bedeutung hat. So schreibt er in einem Brief von 1861 über die zweite Fassung der Fleurs du Mal\ „Das einzige I.ob, das ich für dieses Buch erbitte, besteht in der Anerkennung, daß es sich nicht um ein blo-ßes Album handelt und daß es einen Anfang und ein Ende besitzt. Al le neuen Gedichte [dazu gehört auch das Gedicht Le voyage, SZ] wurden geschrieben, um in einen eigens von mir ge-wählten Rahmen eingefügt zu werden." (Brief an Alfred de Vigny vom Dezember 1861 , a. a. O., Bd. 3, S. 46.)

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dialektischer Sicht isi das Pendeln zwischen den Antinomien Gleichheit und Verschiedenheit , ewiger Wiederkehr und ewigem Fortschritt sowie Immerglei-chem und Neuheit notwendig, solange sie nicht als Konstruktionen des Den-kens entlarvt werden. Dabei schlägt das Pendel nach beiden Seiten immer stär-ker aus: Mit der extremen Gleichheit, wie sie im 19. Jahrhundert - bedingt durch die Adaption der Logik der Warenökonomie durch das Bewußtsein — auftaucht und sowohl in den Massenprodukten als auch in der Produkt ions-weise manifest wird, entsteht auf der anderen Seite die extreme Neuheit . Weh-ling versteht die Etablierung des Neuen als Reaktion darauf, daß immer das Gleiche geschieht: „In der modernist ischen Fetischisierung des Neuen verdeckt die bürgerl iche Gesellschaft sich selbst, daß nur das ,Immergleiche' geschieht: die Verwertung des Werts."167 Allerdings faßt diese Ident if iz ierung des „Im-mergleichen" mit der permanenten „Verwertung des Werts" den Begriff des „Immergleichen" zu eng. Es handelt sich dabei nicht um eine rein ökonomi-sche, sondern um eine auch erkenntnistheoretische, soziologische und ge-schichtsphilosophische Kategorie, die im 19. Jahrhundert zusammen mit der des Neuen entsteht. Immergleiches und Neues bedingen sich Benjamin zufolge wechselseit ig; es kann deshalb nicht die Rede von einer einfachen linearen Ab-folge oder einer Kette von Ablösungen des einen durch das andere sein.

Daß das Hervortreten des Neuen nicht zufäll ig ist, sondern notwendig, zeigt sich unter anderem darin, daß die Suche nach Neuem als Zwang, das Neue als Droge empfunden wird. So z. B. von Valery 1930, dessen Standpunkt Benjamin im Rahmen seiner Arbeiten für das Passagen-Werk exzerpiert :

„Nouveaute. Volonte de nouveaute. Le nouveau est un de ces poisons exci-tants qui finissent par etre plus necessaires que toute nourriture; dont il faut, une fois qu'ils sont maitres de nous, toujours augmenter la dose et la rendre mortelle ä peine de mort. Ii est etrange de s'attacher ainsi ä la partie perissable des choses qui est exactement leur qualite d'etre neuves."168

Wegen des scheinbaren Vorrangs der Neuheit macht Benjamin die nouveaute als „Kanon der dialektischen Bilder" im 19. Jahrhundert aus.169 Neuheit setzt sich dabei qualitativ von der scheinbaren oder wirkl ichen Gleichheit der Dinge ah, temporal von der Gleichförmigkeit des Zeitverlaufs in der Produkt ion. Ge-schichtsphilosophisch ist das Neue als ein Gegensatz zur Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen und damit als Konsolidierung des Fortschrittsden-kens zu verstehen.

In der zunehmenden Vereinzelung der Menschen zeigt sich eine Ausprä-gung des Scheins der Verschiedenheit , der die qualitative Seite des Kults des

167 WEHLING, a . a . O . , S. 19. 168 Paul VALERY: Choses tues. Cahier d'impressions et d'idöes. Paris 1930, S. 14 -5 . Zitiert

nach PW, S. 696. 169 BENJAMIN: Expos«. Paris. Die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: GS V.2, S. 1246.

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Neuen ausmacht. Verschiedenheit heißt dabei, daß die Ähnlichkeitsbeziehun-gen, in denen eine Person nach Benjamin steht, nicht zur Kenntnis genommen, also ihre Verbindungen zu anderen Personen als nicht vorhanden wahrgenom-men werden. In diesem Sinne kann auch Baudelaires Heroismus verstanden werden. Auf dem Hintergrund der Erscheinung der „großstädtischen Massen" erst erlangt seine Idee des Heros Bedeutung: „Diese Bevölkerung ist der Hin-tergrund, von dem sich der Umriß des Heros abhebt. [.. .] Der Heros ist das wahre Subjekt der modernite. Das will besagen - um die Moderne zu leben, be-darf es einer heroischen Verfassung."170 Entscheidend dabei ist, daß dieser He-roismus ebenso falscher Schein ist wie die Masse. Der moderne Heros ist kein Held, sondern Heldendarsteller.

Für Benjamin ist zwar die völlige Verschiedenheit ebenso scheinhaft wie die völlige Gleichheit, doch liegt in der Negation der Gleichheit ein Schritt in die richtige Richtung, nämlich die der Individualität. Dieses Gegengewicht zur Masse ist vor allem deshalb nötig und wird von Benjamin auch bejaht, weil die Bildung von Massen mehr und mehr zunimmt:

„Die Masse als solche hat abgesehen von den verschiednen Klassen, die sie zu-sammensetzen, keine primäre gesellschaftliche Bedeutung. Ihre sekundäre hängt von den Verhältnissen ab, durch die sie sich jeweils von Fall zu Fall erst zusammenfindet. Das Publikum eines Theaters [,] eine Armee, die Einwohner-schaft einer Stadt [bilden] Massen die als solche nicht einer bestimmten Klasse zugehören. Der freie Markt vermehrt diese Massen rapid und in unübersehba-rer Menge, indem nunmehr jede Ware die Masse ihrer Abnehmer um sich sammelt." m

Individualität ist jedoch für Benjamin nicht als so monadisch zu verstehen, wie Baudelaire es nahelegt, sondern gemäß seiner Lehre von den natürlichen Korre-spondenzen als Besonderheit, die in der einmaligen Konstellation der Ähnlich-keitsbeziehungen, in denen etwas oder eine Person sich befindet, besteht.

Als ebenfalls rein qualitativ Neues lassen sich die Spezialitäten bezeichnen, die Benjamin zufolge erst mit den massenproduzierten Waren Bedeutung erlan-gen: „Mit der Herstellung von Massenartikeln kommt der Begriff der Speziali-tät auf."172 Die Spezialität kann als Negation der Gleichheit und Massenhaftig-keit der Massenprodukte gelten. Sie ist das ganz Besondere, das nicht Alltägli-che, etwas, das deswegen nicht massenhaft, sondern vereinzelt auftritt , das sel-ten ist. Ihre scheinbar extreme Verschiedenheit von der Masse ist das Gegen-stück zur völligen Gleichheit der massenproduzierten Artikel, ihre Seltenheit ist eine Anleihe an die Einzigkeit von Individualität.

170 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 577. 171 PW, S. 468-9 . 172 PW, S. 93.

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Bei den mmveanth ditgrgni Imt der qualitative Aspekt des Neuen eine etwas andere Bedeutung, und hinzu kommt eine temporale Komponente. Die non-veautis haben ihren Reiz nicht darin, daß sie verschieden von der Masse und einzig sind, sie sind selber Massenprodukte. Ihre Verschiedenheit ist nur relativ zu anderen Massenprodukten, sie sind das, was es noch nie gab. Damit kommt der temporale Aspekt ins Spiel: Die nouveautes sind das Jüngste, das, mit dem sie verglichen werden, ist dagegen das Alte.

Für Benjamin ist auch dieser temporale Aspekt der Wichtigkeit des Neuen in der Logik der Warenökonomie begründet. Wie bereits gezeigt, ist die Gleichheit ein Merkmal der Ware, das ihr durch ihre Vergleichbarkeit im Tauschwert zukommt. Genauso wie diese Gleichheit ist die Neuheit nach Ben-jamin ein konstitutives Merkmal des Kapitalismus: „Die Dialektik der Waren-produktion im Hochkapitalismus: die Neuheit des Produkts bekommt — als Stimulans der Nachfrage [ - ] eine bisher unbekannte Bedeutung. Gleichzeitig erscheint das Immerwiedergleiche sinnfällig in der Massenproduktion."173 Die Warenökonomie, die dafür verantwortlich ist, daß die Gleichheit nicht nur den Waren zugesprochen wird, sondern sich als Wahrnehmungskategorie über-haupt endgültig etabliert und in den Massenprodukten manifest wird, ist auf der anderen Seite darauf angewiesen, daß die Waren gerade nicht als gleich an-gesehen werden, sondern daß sich ein Massenprodukt vom anderen eindeutig unterscheidet: Nach der Logik des Kapitalismus muß die scheinbare Immer-gleichheit der Waren aufgebrochen werden, um die Zirkulation des Kapitals si-cherzustellen. Die Geldzirkulation als Selbstzweck muß, um in Gang gesetzt zu werden, an die Warenzirkulation als Bedürfnisbefriedigung angeschlossen werden, denn die „Warenzirkulation ist der Ausgangspunkt des Kapitals"174. Die sicherste Methode, die Zirkulation in Gang zu halten und gleichzeitig Ge-winn zu erzielen ist daher, den Mehrwert an die Befriedigung von Bedürfnissen zu koppeln. Deshalb wendet der Kapitalismus die Immergleichheit ins Nega-tive, um die Neuheit als das Positive und Begehrenswerte herausstellen zu kön-nen. Dabei wird der qualitative Aspekt mit dem temporalen konfundiert: Das Jüngste scheint zugleich das Bessere als das Alte zu sein. Deshalb besteht nach Haug die Innovation auch eher in der künstlichen Alterung des Früheren als in der qualitativen Neuheit des Jüngsten.175

Den auf die Wahrnehmung von Gleichheit gedrillten Konsumenten er-scheint das Neue als das Begehrenswerte, das scheinbare Gebrauchswertquali-täten hat, indem ihm die Qualitäten, die das Neue im Fortschrittsdenken hat -nämlich Verbesserung der Lebensbedingungen —, zugesprochen werden. In die-sem Sinne läßt sich auch die Praxis, Waren mit dem Etikett „neu" anzupreisen, verstehen: Dabei wird entweder explizit auf Verbesserung der Qualität (durch

173 PW, S. 417. 174 MARX: Das Kapital, S. 161. 175 Wolfgang Fritz HAUG: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt am Main 1980, S. 52.

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angeblichen wissenschaltlich-medizini.schen oder technischen Fortschritt) hin-gewiesen oder darauf vertraut, daß allein der Hinweis „neu" als Ausweis einer qualitativen Verbesserung aufgefaßt wird.

Damit, daß die Neuheiten als Fortschritte ausgegeben werden, also als Verbesserung, werden sie zur Projektionsfläche für gewünschte Veränderun-gen, z. B. Verbesserung der Lebensbedingungen, Hebung des Lebensstandards, damit unter Umständen Aufstieg in eine höhere soziale Klasse, Hervorhebung aus der Masse durch Luxus. Eine ähnliche Funktion erfüllt die Mode.176 Für Benjamin ist die Neuheit der Waren jedoch falscher Schein:

„Das Neue ist eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität. [.. .] Es ist die Quintessenz des falschen Bewußtseins, dessen nimmermüde Agen-tin die Mode ist. Dieser Schein des Neuen reflektiert sich, wie ein Spiegel im andern, im Schein des immer wieder Gleichen."177

Neuheit ist die „Aureole der Ware"178. Die nouveaute auf dem Markt ist nicht so radikal verschieden, d. h. qualitativ neu gegenüber dem Alten, wie sie vor-gibt, sondern sie spiegelt diese Verschiedenheit, die mitunter als Fortschritt ausgegeben wird, nur vor. Die nouveautes suggerieren den Fortschritt, zu dem sie jedoch nur scheinbar beitragen. Sie tun so, als wäre inmitten des — für Ben-jamin als scheinbar erkannten, von Nietzsche und Blanqui jedoch als wirklich angesehenen - Immergleichen doch noch ein Fortschritt möglich. Die in der Warenwelt durchweg positive Konnotation des als Fortschritt ausgegebenen Neuen läßt die kritische Sicht auf den qualitativen Aspekt der nouveautes ver-kümmern. Neuheit wird automatisch als Attribut des Besseren verstanden, ohne diese Attributierung zu überprüfen.

Schließlich wird die Neuheit selber zum Werl . Der Begriff „neu" bezeich-net dann eine qualitätslose Neuheit, d. h. allein daß etwas das Jüngste ist, ge-nügt für seine Wertschätzung; ob es besser oder schlechter ist als das Alte oder ihm zum Verwechseln ähnlich ist, spielt dabei keine Rolle. Die nouveaute ist als das jeweils Jüngste für einen kurzen Moment aus dem Massenangebot der Wa-ren herausgehoben, bis das nächste Neue ihr diese Position streitig macht.

Benjamins Paradebeispiel dafür, daß rein temporale Neuheit zum Eigen-wert ohne weitere Qualitäten, zum Selbstzweck geworden ist, ist die Mode, ,,[e]ine Art Wettrennen um den ersten Platz in der gesellschaftlichen Schöp-

176 So beschreibt sie auch Simmel. Die „neue Mode" kommt demnach immer „nur den oberen Ständen zu. Sobald die unteren sich die Mode anzueignen beginnen und damit die von den oberen gesetzte Grenzmarkierung überschreiten, die Einheitlichkeit in dem so symboli-sierten Zusammengehören jener durchbrechen, wenden sich die oberen Stände von dieser Mode ab und einer neuen zu, durch die sie sich wieder von den breiten Massen differenzieren und an der das Spiel von neuem beginnt." (Georg SlMMEL: Philosophie der Mode. In: Gesamtausgabe. Hg. von Otthein Rammstedt. Bd. 10. Frankfurt am Main 1995, S. 13.)

177 PW, S. 55. 178 Brief Benjamins an Max Horkheimer vom 16.4.1938. In: Briefe 2, S. 752.

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fung" l7v . Die Qualität, die Frage, ob die jüngsten Modelle in irgendeiner Weise besser oder schleehlcr sind als die vom vergangenen Jahr, ist für die Bewertung der Mode irrelevant. Das einzige, was zählt, ist, was zuletzt herausgekommen ist. Besonders auffällig ist bei der Mode auch der zweite temporale Aspekt: der der verkürzten Dauer, der auch für die Neuheit der anderen Waren gilt: „Das Rennen wird jeden Augenblick von neuem gelaufen."180 Die Mode oder die nouveaute ist so lange das Jüngste, bis etwas anderes diesen Platz einnimmt. Deshalb bemerkt Benjamin, die Mode sei „die ewige Wiederkehr des Neuen"181, und sie gilt ihm — wohl auch wegen der Regelmäßigkeit in der Abfolge von Mo-den - als „Zeitmaß"182. Weil die Verfallsdauer der nouveautes, d. h. der Zeit-raum von ihrem Erscheinen bis zu ihrer Ablösung durch die nächste Neuheit nach der Logik des Kapitalismus möglichst kurz sein muß (denn je schneller die Zirkulation der Waren und des Geldes, desto höher der Gewinn), verläuft die Entwicklung so, daß die Abstände mehr und mehr verkürzt werden, es gibt also eine Beschleunigung. Der Zeitraum, während dessen etwas das Jüngste ist, wird so weit wie möglich reduziert. In der Mode ist die Abfolge der Neuheiten zu einem Ritual geworden, das sich in festen Abständen wiederholt, die kaum weiter verkürzt werden können.

Vergleichbares gilt nach Benjamin für die Entwicklung der Zeitungen und Zeitschriften: „Den magasins de nouveaute[s] treten die Zeitungen an die Seite. Die Presse organisiert den Markt geistiger Werte".183 Sie bedient die Nachfrage nach Neuigkeiten, damit sie aufgrund hoher Leser- und Auflagenzahlen grö-ßere Einnahmen durch Anzeigen erzielen kann.184 Die Information ist die nou-veaute der Presse. Sie „verhalf dem Blatt zu dem tagtäglich neuen, im Umbruch klug variierten Aussehen, in dem ein Teil seines Reizes lag. Sie mußte ständig erneuert werden: Stadtklatsch, Theaterintrigen, auch .Wissenswertes' gaben ihre beliebtesten Quellen ab."185

Die größtmögliche Verkürzung der Dauer der Aktualität ist der Augen-blick: Das Neue ist einen Augenblick lang neu, bevor es als veraltet und wertlos erscheint. Danach richtet sich die Information. „Die Information hat ihren Lohn mit dem Augenblick dahin, in dem sie neu war. Sie lebt nur in diesem Augenblick. Sie muß sich gänzlich an ihn ausliefern und ohne Zeit zu verlieren sich ihm erklären."186 Die Information, deren Hauptmerkmale nach Benjamin „Neuigkeit, Kürze, Verständlichkeit und vor allem Zusammenhanglosigkeit der

1 7 ' P W , S . 1036. 180 Ebd. 181 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 677. 182 PW, S. 997. 183 BENJAMIN: Expos£. Paris. Die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: GS V, S. 1246. 184 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 531 . 185 Ebd., S. 529. 186 BENJAMIN: Kleine Kunst-Stücke. Kunst zu erzählen. In: GS IV, S. 437.

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einzelnen Nachrichten untereinander'""7 sind, paßt sich den Rezeptionsmög-lichkeiten des dem spieen verfallenen modernen Menschen an. „Der spieen legt Jahrhunderte zwischen den gegenwärtigen und den eben gelebten Augenblick. Er ist es, der unermüdlich ,Antike' herstellt."188 Diese Vorstellung des schlag-artigen Veraltens von Dingen entsteht auf dem Hintergrund der raschen tech-nischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des Industriezeitalters, in dem „die Zahl der .ausgehöhlten' Dinge in vorher ungekanntem Maß und Tempo zunimmt, da der technische Fortschritt immer neue Gebrauchsgegenstände au-ßer Kurs setzt."189 Bei Baudelaire wird das Veraltete zum Antiken radikalisiert. Die Dinge „veralten ihm schneller als der Modistin ein neuer Schnitt. [...] Und in der Tat ist bei Baudelaire die Moderne nichts anderes als die neueste An-tike'."190

Das „Arrangement" der Sensation, nämlich „die Neuheit und die sie chockartig befallende Entwertung"191, ist das engste Zusammentreten des Neuen und seines Veraltens. Sie ist ein temporal Neues, dessen einzige Qualität darin besteht, daß es sich vom Immergleichen irgendwie unterscheidet. Wäh-rend in der Spezialität die Idolatrie des Verschiedenen gegenüber den Massen-artikeln sichtbar wird, resultiert die Sensation aus der Verdichtung des Augen-blicks gegenüber der gleichförmig verlaufenden Zeit. Nach Benjamin erlangt als solche Kultivierung des Augenblicks auch der Schock im 19. Jahrhundert große Bedeutung. So ist es für ihn kein Zufall, daß Mitte des 19. Jahrhunderts

„eine Reihe von Neuerungen auf den Plan [treten], die das eine gemeinsam haben, eine vielgliedrige Ablaufsreihe mit einem abrupten Handgriff auszulö-sen. Die Entwicklung geht in vielen Bereichen vor sich; sie wird unter anderm am Telefon anschaulich, bei dem an die Stelle der stetigen Bewegung, mit der die Kurbel der älteren Apparate bedient sein wollte, das Abheben eines Hörers getreten ist. Unter den unzähligen Gebärden des Schaltens, Einwerfens, Ab-drückens usf. wurde das .Knipsen* des Photographen besonders folgenreich. Ein Fingerdruck genügte, um ein Ereignis für eine unbegrenzte Zeit festzuhal-ten. Der Apparat erteilte dem Augenblick sozusagen einen posthumen Chock. Haptischen Erfahrungen dieser Art traten optische an die Seite, wie der Inse-ratenteil einer Zeitung sie mit sich bringt, aber auch der Verkehr in der großen Stadt. Durch ihn sich zu bewegen, bedingt für den einzelnen eine Folge von Chocks und von Kollisionen. An den gefährlichen Kreuzungspunkten durch-zucken ihn, gleich Stößen einer Batterie, Innervationen in rascher Folge."192

187 BENJAMIN: Über einige Motive bei Baudelaire, a. a. O., S. 610. 188 PW, S. 423. 18' PW, S.'582. 1 .0 PW, S. 423. 1 .1 PW, S. 695. 1 .2 BENJAMIN: Über einige Motive bei Baudelaire, a. a. O., S. 630.

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Die „technische Funktion im Mechanismus" ist nach Benjamin die eine Seite des Schocks, die andere ist „seine sterilisierende [Funktion] im Erlebnis"1". Die Sensationen und Schocks lösen die Erfahrungen ab: Das flüchtige, bezie-hungslose Erlebnis tritt an die Stelle der kontinuierlichen Erfahrungen: „Durch den Einbruch des Chockmoments in die menschliche Wahrnehmungs- und Verhaltensweise sieht Benjamin einen historischen Umschlag markiert, den er als Wandel der Erfahrung zum Erlebnis beschreibt. Erlebnis ist das moderne Äquivalent der Erfahrung."194 Es ist gekennzeichnet durch den Verlust an Ähn-lichkeitswahrnehmung:

„Das Erlebnis ist die Form der Wirklichkeitswahrnehmung im Stande der Ent-fremdung; konnte in der Erfahrung der Erfahrende an den Gegenständen ein Ähnliches finden, so sind dem Erlebnis die Momente der Wirkl ichkeit nichts als raumzeitlich fixierbare Ereignisse und positive Tatsachen (.Faktizität ') , die dem Subjekt als solche fremd gegenüberstehen.

Die Erlebnisstruktur der Wahrnehmung führt zum Verfall der auratischen Erfahrung, zur Zerrüttung des Vermögens, Ähnlichkeiten wahrzunehmen, in deren Folge sich die individuelle Vergangenheit verdinglicht zu einer Samm-lung von Andenken".195

Abgeschnitten von der Ähnlichkeitswahrnehmung ist dabei nicht nur das syn-chrone Geschehen, sondern auch das vergangene. Das auf dieser Wirklichkeits-wahrnehmung beruhende Neue - die Information, die Mode, die Sensation - , dem nur einen Augenblick lang Relevanz zukommt, ist im nächsten Augen-blick vergessen oder erscheint zumindest als veraltet. „Veralten heißt aber: fremd werden."196 Im Gegensatz zur Erfahrung steht das Erlebnis in keinem Zusammenhang mit der Vergangenheit. Wie das Bedeutendwerden des Beson-deren, der Spezialität nur auf dem Hintergrund der'Erfahrung der Gleichheit der Massenprodukte zu verstehen ist, so ist die Fetischisierung des Augen-blicks nach Benjamin nur auf dem Hintergrund des gleichförmigen Zeitverlaufs zu verstehen: „Die absolute qualitative Gleichheit der Zeit, in der die den Tauschwert herstellende Arbeit verläuft, ist der graue Fond, von de[m] die schreienden Farben der Sensation sich abheben."197 Der Ausfall der Vergangen-heit ist dabei die Voraussetzung für beides: für das augenblickhafte Erlebnis, das zum Objekt das scheinbar Neue hat, ebenso wie für den Eindruck der Gleichförmigkeit der Zeit: „Die Zerstörung der Kontinuität und Tradition von Erfahrungsprozessen drängt das Bewußtsein in der Moderne in die Phantasma-gorien des Neuen und Immergleichen ab."198

1 ,5 PW, S. 846. 1 .4 GREFFRATH, a. a. O., S. 42. 1 .5 SCHWARZ: Rettende Kritik und antizipierte Utopie, a. a. O., S. 1 18 -9 .

" ' P W . S . 423. 1 ,7 PW, S. 488. "" WEHLING, a. a. O., S. 83.

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Dem aul (.lie Qualität von Dingen bezogenen Dualismus von Verschiedenheit und Gleichheit entspricht in der temporalen Abfolge von Geschehnissen der Dualismus von Sensation und Tradition, der nach Benjamin an die Stelle der Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung treten muß, um den Realitäten des modernen Lebens gerecht zu werden: „Bis ins letzte aus dem Bild der Ge-schichte .Entwicklung' herauszutreiben und das Werden durch dialektische Zerreißung in Sensation und Tradition als eine Konstellation im Sein darzu-stellen, ist auch die Tendenz dieser Arbeit."199 Diese Dialektik ist die Grundan-nahme, die Benjamins Geschichtsphilosophie bestimmt.

In den antagonistischen Begriffen des Neuen und des Immergleichen sind diese beiden Gegensätze Gleiches/Verschiedenes und Sensation/Tradition ent-halten: Das Neue ist qualitativ gesehen das Verschiedene, temporal die Sensa-tion; das Immergleiche ist entsprechend das Gleiche bzw. Traditionelle. Die Vermischung der beiden Ebenen, der qualitativen und der temporalen, führt al-lerdings zu Problemen. Weil der qualitative Aspekt des Neuen dem temporalen untergeordnet wird, indem das Jüngste automatisch als das Verschiedene oder gar Bessere gilt, ohne daß seine spezifische Qualität überhaupt wahrgenommen wird, kann Neuheit selbst im 19. Jahrhundert zum Massenartikel werden. Die Qualität des einzelnen Neuen wird nicht mehr erfahren, und das hat zur Folge, daß Neuheit nur noch als immergleiches formales Merkmal wahrgenommen wird; es ist das Jüngste, das vom Immergleichen irgendwie und möglichst stark abweicht. Diese Art von Neuheit trat im 19. Jahrhundert im Alltagsleben infla-tionär in Erscheinung: In den magasins de nouveautes lagen immer wieder neue Waren in bis dahin nicht gekannter Vielfalt aus. Die nouvelles der Zeitungen sorgen für einen Überfluß an Informationen, „deren Reizwirkung um so stär-ker ist, je mehr sie irgendwelcher Verwertung entzogen sind"200. Die auffäl-ligste Erscheinung der Inflation des Neuen ist wiederum die Mode. Sie ist nach Benjamin „die ewige Wiederkehr des Neuen"201. Das massierte Auftreten von Veränderungen, die immer neuen Reize, sind nach Benjamin nicht mehr einzeln als qualitative Veränderungen erfahrbar, wahrgenommen wird nur noch, daß es immer wieder Neues gibt. An dem Ereignis oder Ding wird nach Benjamin die Neuheit unabhängig von ihrer spezifischen Qualität nur noch als Irritation wahrgenommen. Die „Einfühlung", die nach Benjamin Voraussetzung der Er-fahrung ist, findet nicht statt. Sie wäre eine „Gleichschaltung im intimen Sinn"202 - ein „Pendant zum Element des Chocks in der Sinneswahrneh-mung"203 - , die in einem Umschlag die Erkenntnis des Objektes vollzieht.

m PW, S. 1013-4 . Mit „dieser Arbeit" ist wohl die geplante Passagenarbeit gemeint. 200 PW, S. 560. 201 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 677. 202 PW, S. 967. 203 Ebd.

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Doch dieser „d^clic""11'4 findet nicht statt. Der Grund dafür ist, wie Greflrath richtig beschrieben hat, daß das Bewußtsein eine Strategie zur Bewältigung von Schocks entwickelt hat, die die Erkenntnis der qualitativen Seite des Schockie-renden nicht zuläßt:

„Das Bewußtsein, das Erlebnisse statt Erfahrungen hat, sucht durch einen Zu-stand höchster Geistesgegenwart, in dem Reize wie Schläge pariert werden, das Eindringen von Chocks in jene Schichten des psychischen Organismus zu verhindern, in denen das Gedächtnis lokalisiert ist und die Assimilierung der Wahrnehmung an die Erfahrung vonstatten geht."205

Die Schocks des Neuen werden daher nicht als qualitative Unterschiedenheit erkannt, sondern nur als immergleiche Reize wahrgenommen, so daß schließ-lich das Neue gar nicht mehr als neu erscheint. „Das, was ,immer wieder das-selbe' ist, ist nicht das Geschehen sondern das Neue an ihm, der Chock, mit dem es betrifft."206 Für die Erfahrung der Menschen des 19. Jahrhunderts ist nach Benjamin „das Chockerlebnis zur Norm geworden".207 Deswegen wird auch das Neue, das die Schocks auslöst, als das Immergleiche angesehen. Das heißt aber nicht, daß die Scheinhaftigkeit seiner Neuheit erkannt worden wäre. Statt dessen wird die Kategorie der Immergleichheit auf die angebliche Neuheit angewandt, womit für eine authentische Erfahrung, die nach Benjamin in der Wahrnehmung der natürlichen Korrespondenzen besteht, nichts gewonnen ist, sondern sich nur die Verdinglichung des Neuen zeigt. Das Neue wird damit selbst zum Immergleichen.

Daß im 19. Jahrhundert die Immerwiedergleichheit zu einer neuen, d. h. erst seitdem auftretenden Erfahrung wurde und daß auch das antinomische Neue als Immergleiches empfunden wurde, kommt Benjamin zufolge in Bau-delaires Schriften zum Ausdruck. „Baudelaires Dichtung bringt das Neue am Immerwiedergleichen und das Immerwiedergleiche am Neuen in Erschei-nung."208 An seinem Werk sind auch die Veränderungen der Situation der Kunst, die aus den schnellen Entwicklungen in der Technik, den veränderten Erfahrungsmöglichkeiten und der Verselbständigung der Neuheit zum Wert resultieren, ablesbar. Die Kunst hat nicht nur ihre kultische Funktion verloren; mit dem Verfall der Aura nähert sie sich in ihrer Funktion und Rezeption mehr und mehr der Ware an. Als Ware muß sie einem Massenpublikum und der Be-friedigung seiner Bedürfnisse dienen, darunter der Sensationslust. Darin tritt die Literatur in Konkurrenz mit den Zeitungen. Der Erneuerungszwang der Mode schickt sich an, auch die Kunst zu beherrschen. Die Voraussetzung dafür

204 Ebd. 205 GREFFRATH, a. a. O., S. 43. 206 PW, S. 1038. 207 BENJAMIN: Über einige Motive bei Baudelaire, a. a. O., S. 614. 208 BENJAMIN: Zentralpark, a. a. O., S. 673.

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ist, daß die Entwicklung in der Kunst im 19. Jahrhundert erstmals langsamer ist als die der Technik. Daher unterliegt sie nicht mehr allein ihrer eigenen Dyna-mik, sondern wird von der bis dahin kunstfremden Idee der Neuheit ergriffen: Nach Benjamin

„ging im Mitte la l ter und bis zum Beginn des 19"° Jahrhunderts die Entwick-lung der Technik viel langsamer vor sich als die der Kunst. Die Kunst konnte sich Zeit nehmen, die technischen Verfahrungsweisen mannigfach zu umspie-len. Der Wandel der Dinge, der um 1800 einsetzt, schrieb der Kunst das Tempo vor und je atemberaubender dieses Tempo wurde, desto mehr griff die Herrschaft der Mode auf alle Gebiete über."2 0 '

Eine nonkonformistische Reaktion der Kunst auf diese Situation ist das Fest-halten an den alten Werten und Formen. So ist auch Baudelaires hilfloser Ver-such, in seiner Kunsttheorie tradierte Werte der Kunst zu übernehmen, indem er den Anspruch auf Unsterblichkeit der Kunst verteidigt und die Vorbildlich-keit der Antike betont, als Reaktion auf die sich der Kunst aufdrängende Be-schleunigung der Entwicklung lesbar. Allerdings ist die Widersprüchlichkeit und Schwäche seiner Theorie symptomatisch dafür, daß das Dilemma der Kunst innerhalb des Dualismus von Neuheit und Immergleichheit bzw. von Moderne und Antike nicht lösbar ist. Durch die Polemik, die in Baudelaires Theorie an die Stelle einer eindimensionalen, eindeutigen Argumentat ion tritt, hebt er sich aber „von dem grauen Fond des Historizismus ab, von dem aka-demischen Alexandrinertum, das mit Villemain und Cousin im Schwange war."210

Eine andere Möglichkeit, auf die veränderten Bedingungen für die Kunst zu reagieren, war das Propagieren einer von den gesellschaftlichen Bedingungen völlig getrennten Kunst: „Die Nonkonformisten rebellieren gegen die Ausliefe-rung der Kunst an den Markt. Sie scharen sich um das Banner des ,1'art pour l'art'. Dieser Parole entspringt die Konzeption des Gesamtkunstwerks, das ver-sucht, die Kunst gegen die Entwicklung der Technik abzudichten."211 Die Kunst des l'art pour l'art versteht sich als von allen außerkünstlerischen Zwecken befreite Kunst. Sie ist autonom, hat ihr Ziel nur in sich selbst, in der Vollendung ihrer Form, und ist frei von moralischem, sozialem oder politi-schem Engagement. Baudelaires Kunsttheorie radikalisiert diese Position zu ei-ner monadologischen Konzeption:

„Im Bereich der Dichtung und der Künste hat, wer etwas Neues offenbart , nur selten einen Vorläufer. Jedesmal sind Blüte und Frucht spontan, individu-ell. [ . . .] Der Künstler hängt nur von sich selbst ab. Er verspricht den kom-

209 PW, S. 232. 210 BENJAMIN: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, a. a. O., S. 585. 211 PW, S. 56.

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menden Jahrhunderten nur «eine eigenen Werke. Er bürgt nur für sich selbst. Er stirbt ohne Nachkommen. Kr war sein König, sein Priester und sein Gott."212

So möchte Baudelaire sich selber sehen. Sein von Benjamin diagnostiziertes „Leiden am Verfall der Aura"213, d. h. an der Verkennung der Einzigartigkeit von Kunstwerken, bewegt ihn dazu, eine neue, augenfälligere Art von Einzigar-tigkeit zu suchen. Sein Konzept folgt der Poeschen „Theorie des exceptionnel und des etrange"214. Das Außergewöhnliche und Fremde ist für ihn das Neue. Daß auf diese Weise das Neue, das im 19. Jahrhundert zum eigenen Wert wird, schließlich auch die Kunst ergreift, ist nach Benjamin zwangsläufig: „Die Kunst, die an ihrer Aufgabe zu zweifeln beginnt und aufhört, .inseparable de l'utilite* zu sein (Baudelaire), muß das Neue zu ihrem obersten Wert ma-chen."215 Mit dem Neuen wendet sich Baudelaire gegen die Einverleibung der Kunst durch den Markt, ihre Wahrnehmung unter der von der Ware abstrahier-ten Kategorie der Gleichheit:

„A l 'avil issement singulier des choses par leur signification, qui est caracteristi-que de l 'al legorie du XVII 'm r siecle, correspond l 'avil issement singulier des choses par leur prix comme marchandise. Cet avil issement que subissent les choses du fait de pouvoir etre taxees comme marchandises est contrebalance chez Baudelaire par la valeur inestimable de la nouveaute. La nouveaute repre-sente cet absolu qui n'est plus accessible ä aueune interpretation ni ä aueune comparaison. Elle devient l 'ult ime retranchement de l 'art."216

Daher wird das Neue im 19. Jahrhundert zum beherrschenden Element wie die Allegorie im 17. Jahrhundert. Wirklich neu an Baudelaires Dichtung ist nach Benjamin, „daß er in ihr das Beispiel des heroisme dans la vie moderne auf-stellt."217 Baudelaires Begriff des Neuen ist jedoch der des falschen Neuen:

„Von der Überwäl t igung durch den spieen kann nichts aufgeboten werden als das Neue , das ins Werk zu setzen die wahre Aufgabe des modernen Heros ist. [ . . .] Entscheidend ist aber, daß das Neue, in dessen Namen der Dichter dem Trübsinn Ha l t z u gebieten denkt, selber im höchsten Maße das Stigma derje-nigen Realität trägt, gegen welche der Dichter revoltiert. Das Neue als bewuß-tes Ziel künst ler ischer Produkt ion ist selbst nicht älter als das neunzehnte Jahrhundert . Es handelt sich bei Baudelaire nicht um den in allen Künsten maßgebenden Versuch, neue Formen ins Leben zu rufen oder den Dingen eine neue Seite abzugewinnen, sondern um den von Grund auf neuen Gegen-

212 BAUDELAIRE, a. a. O . , Bd. 2 , S. 234 . 213 PW, S. 433. 214 PW, S. 306. 215 PW, S. 55. 216 PW, S. 71. 217 BENJAMIN: [Konspekt zur Baudelaire-Arbeit]. In: GS I, S. 1151 .

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stand, dessen Kraft darin ullain besteht, daß er neu ist, er mag so abstoßend und so trostlos sein wie er will."2"

Interessant für Benjamin ist, daß bei Baudelaire der Zusammenhang zwischen der veränderten Erfahrungswelt und der künstlerischen Produktion besonders deutlich nachzuvollziehen ist, der Verfall der Erfahrung und der Aura sind spürbar. Baudelaires Leiden an diesen Verfallserscheinungen wird in seiner Dichtung zum einen direkt thematisiert - in der Langeweile, die durch die Im-mergleichheit verursacht w i r d - , zum anderen kommt es dadurch zum Aus-druck, daß Baudelaires Lösungsversuche - die Suche nach Neuem - zum Schei-tern verurteilt sind, weil sie auf den gleichen Phantasmagorien beruhen, die sein Leiden verursachen. Daher führt die Verabsolutierung dieses Neuheitsan-spruchs auch zur Assimilierung der Kunst an die Marktgesetze, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im Jugendsti l vollendet, als dessen Vorreiter Baudelaire gelten kann: Er „hat vielleicht als erster die Vorstellung von einer marktgerech-ten Originalität gehabt, die eben darum damals origineller war als jede an-dere."219 Die bloße Originalität, das scheinbar ganz Neue, ist für Benjamin, wie er am Beispiel des Dramas beschreibt, der Gegensatz dessen, was er als „die echte, die produktive Intensität"220 bezeichnet:

„Erfindung schlechtweg ist gerade im Dramatischen die Passion des Dilettan-ten. Der glaubt in ihr die .Orig inal i tät ' verbürgt. Sie aber liegt, ihrem Begriffe nach, außerhalb des Kraftfeldes der historischen Spannungen, die das eigenste Leben des großen Dramas best immen."2 2 1

Der Jugendstil , der sich die Ablösung aller herrschenden Stile durch den neuen Stil, der in keiner Beziehung zu allem Vorangegangenen steht, aufs Banner ge-schrieben hat, stellt sich außerhalb der historischen Zusammenhänge. Er möch-te das ganz Neue sein. Jedoch gilt für ihn nach Benjamin „das Gesetz der das Gegenteil bewirkenden Anstrengung".222 Er ist keine „echte Ablösung von ei-ner Epoche", sondern „eine falsche Ablösung; deren Zeichen ist die Gewalt-samkeit. Sie hat den Jugendstil von vorn herein zum Untergang verurteilt."223

218 Ebd., S. 1151-2. 219 PW, S. 420. 220 BENJAMIN: Hugo v. Hofmannsthal: Der Turm. In: GS III, S. 30. 221 Ebd. 222 PW, S. 234. 225 Ebd.

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II. DAS WAHRHAFT NEUE

Benjamin zufolge ist es dasselbe, ob von ewiger Neuheit oder ewiger Gleichheit der Ereignisse gesprochen wird. Beide Vorstellungen sind Phantasmagorien der Geschichte: „Das träumende Kollektiv kennt keine Geschichte. Ihm fließt der Verlauf des Geschehens als immer nämlicher und immer neuester dahin. Die Sensation des Neuesten, Modernsten ist nämlich ebenso Traumform des Ge-schehens wie die ewige Wiederkehr alles gleichen."1 Die historische Erfahrung wird von Benjamin dagegen wiederholt als „Erwachen" beschrieben, im Passa-gen-Werk spricht er von seiner Arbeit als „Versuch zur Technik des Erwa-chens"2. Die Tätigkeit des Historikers ist für ihn vergleichbar mit der des Traumdeuters. Er parallelisiert die ontogenetische Entwicklung, die mit der un-reflektiert erlebten Kindheit beginnt, mit der phylogenetischen:

„Das Erwachen als ein stufenweiser Prozeß, der im Leben des Einzelnen wie der Generation sich durchsetzt. Schlaf deren Primärstadium. Die Jugenderfah-rung einer Generation hat viel gemein mit der Traumerfahrung. Ihre ge-schichtl iche Gestalt ist Traumgestalt . Jede Epoche hat diese Träumen zuge-wandte Seite, die Kinderseite. [. . .] Während aber die Erziehung früherer Ge-nerat ionen in der Tradit ion, der religiösen Unterweisung, ihnen diese Träume gedeutet hat, läuft heutige Erziehung einfach auf die .Zerstreuung* der Kinder hinaus."3

Für die Erkenntnis der Gegenwart kommt es zunächst darauf an, die Wachwelt von der Traumwelt zu unterscheiden und die Träume zu deuten: Die Träume müssen als Träume identifiziert und ihre Beziehung zum wachen Bewußtsein muß geklärt werden. Dazu gilt es für den Historiker, „mit der Intensität eines Traumes das Gewesene durchzumachen, um die Gegenwart als die Wachwelt zu erfahren, auf die der Traum sich bezieht! (Und jeder Traum bezieht sich auf die Wachwelt. Alles frühere ist historisch zu durchdringen.)"4 Ausgangspunkt und Ziel der historischen Erkenntnis ist also die Gegenwart. Jedoch muß die Vergangenheit in ihrem Verhältnis zur Gegenwart richtig gedeutet und die Überreste vergangener Erfahrungen in der Gegenwart müssen identifiziert werden.

Während die Traumdeutung als Herstellung von Korrespondenzen zwi-schen Vergangenem und Gegenwärtigem nach Benjamin in früheren Zeiten selbstverständlich in der Erziehung vollzogen wurde, wird sie in der Moderne versäumt. Einen kontinuierlichen Prozeß der Vergangenheitsdeutung gibt es nicht mehr. Den Grund dafür sieht Benjamin darin, daß das mimetische Vermögen, das für die Wahrnehmung von Korrespondenzen nötig ist, ver-

1 PW, S. 1023. 2PW, S. 1006. 3 Ebd. 4 Ebd.

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kümmert ist. Jede Gegenwart erscheint damit als selbständig, von der Vergan-

genheit abgeschnitten. Korrespondenzer fahrungen sind nur noch in geringem

Umfang möglich, nur vereinzelt tauchen sie auf, bl i tzhaft und unerwartet .

War bereits die Idee der ewigen Wiederkehr des Gleichen nach Nietzsches Ansicht unerträgl ich, weswegen er es für heroisch hielt, sich ihr gestellt zu ha-ben, ist für Benjamin die Traumwelt der Moderne, in der selbst das Neue als das Immergleiche erscheint, anstatt die Idee der ewigen Wiederkehr zu konter-karieren,

„die Zeit der Höl le . [. . .] Es handelt sich nicht darum, daß , immer wieder das-selbe' geschieht, geschweige daß hier von der ewigen Wiederkunf t die Rede wäre. Es handelt sich vielmehr darum, daß das Gesicht der Wel t gerade in dem, was das Neueste ist, sich nie verändert, daß dies Neues te in allen Stücken immer das Nämliche bleibt. - Das konstituiert die Ewigkeit der Hölle . Die Total i tät der Züge zu best immen, in denen das .Moderne ' sich aus-prägt, hieße die Höl le darstellen."5

Der Grund dafür, daß die Moderne als Zeit der Hölle erscheint, ist damit der Erfahrungsverlust, mit dem die Etablierung der Scheinkategorien des Neuen und des Immergleichen einhergeht und der dafür verantwortl ich ist, daß Dinge und Geschehnisse nicht mehr in ihrer individuellen, von Ähnl ichkeitsbeziehun-gen konstituierten Qualität betrachtet werden. Diese aus der Fetischisierung der Waren result ierenden Kategorien rücken nicht nur vor die Erfahrungen, sondern prägen auch das Geschichtsbewußtsein. Die „Antinomie zwischen dem Neuen und Immergle ichen" ist die „Antinomie, die den Schein hervor-bringt, mit dem der Fetischcharakter der Waren die echten Kategorien der Ge-schichte überblendet."6 Die Kategorien des Neuen und Immergle ichen verstel-len den Blick auf die Geschichte.

Auffäl l ig ist an der antinomischen Konstellation des Neuen und Immer-gleichen, daß am Ende das Immergleiche überwiegt, indem das Neue selber ein Immergleiches ist. Dadurch, daß es als qualitätslos empfunden wird, erscheint es als Immergleiches. Dagegen hat Benjamins Konzeption von historischer Er-kenntnis als zentrale Figur die eines wirklichen Neuen, das allerdings nur bei richtiger Betrachtung erkennbar ist. Das wahrhaft Neue muß für Benjamin -und darin st immt er mit Adorno überein - qualitativ aufgeladen sein. Weil sich der „modische Wechsel , das Ewig-Heutige [...] der .historischen' Betrachtung" überhaupt entzieht, kann die „modische Betrachtung, die aus der schlechten Heutigkeit hervorgeht", nicht „an jeder aktualen Konstellation das Echt-Ein-malige, Niewiederkehrende" erkennen.7 Dem „Ewig-Heutigen", d. h. dem im-mergleichen, dem schlechten Neuen, stellt Benjamin in dieser Formulierung

5 PW, S. 676. 6 Brief Benjamins an Max Horkheimer vom 3.8.1938. In: GS V, S. 1166. 7 PW, S. 674-5.

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das „Echt-Einmalige" einer „aktualen Konstellation" entgegen. Hier wird das positive Neue vorgestellt, das nicht allein das Jüngste ist, sondern eine qualitati-ve Best immung hat. Während in der Idee des schlechten Neuen die Abge-schnittenheit von historischer Erkenntnis enthalten ist, ist das echte Neue das, was historische Erkenntnis konstituiert .

1. Das Richtige am falschen Neuen: Aktualität

Am falschen Neuen kann Benjamin die Aktual i tät als positiven Aspekt ausma-chen, der auch dem „wahrhaft Neuen" zukommt. Die Betonung der Aktual i tät , des Heute , der Veränderl ichkeit von Geschichte und Vergänglichkeit von Ge-schichtsschreibung steht im Gegensatz zu den Geschichtsauffassungen, die die Geschichte vom invarianten Standpunkt eines externen Beobachters aus als ab-gelaufene, einmal festgeschriebene und invariante sehen. Das gemeinsame Fal-sche, das Benjamin an den Konzeptionen des Fortschrittsdenkens, das ver-sucht, die gesamte Geschichte unter ein Prinzip zu fassen, und des relativisti-schen Histor ismus kritisiert, ist, daß die Geschichte in einer abstrakten Zeit verläuft und die jeweilige Gegenwart nichts als ein verschwindend kleiner Punkt auf der unendlichen Zeitachse ist, der kaum ins Gewicht fällt, egal ob sie als Durchgangsstadium eines unendlichen Progresses, als das Immergleiche oder als Etappe einer wie auch immer gerichteten Entwicklung gesehen wird, die das gleiche Gewicht hat wie alle anderen bereits vergangenen oder noch kommenden Zeitabschnitte.

Die Idee des Fortschritts wird für Benjamin in dem Moment falsch, wo sie nicht mehr einzelne Ereignisse - und zwar gegenwärtige - krit isch beleuchtet, sondern als Paradigma des gesamten Geschichtsverlaufs gelten soll. Denn da-mit wird die Beurtei lung der einzelnen Geschehnisse zugunsten der Idee einer einheitlichen, kontinuierl ichen Entwicklung vernachlässigt und die Erfahrung der Gegenwart dadurch relativiert, daß auch Rückschritte als Durchgangsphase einer al lgemeinen Entwicklung zum Besseren mißinterpretiert werden, wobei gleichzeitig eine vielversprechende Zukunft unterstellt wird:

„Der Fortschrittsbegriff mußte von dem Augenbl ick an der kr i t ischen Theorie der Geschichte zuwiderlaufen, da er nicht mehr als Maßstab an best immte hi-storische Veränderungen herangebracht wurde, sondern die Spannung zwi-schen e inem legendären Anfang und einem legendären Ende der Geschichte ermessen sollte. Mi t andern Worten : sobald der Fortschritt zur Signatur des Geschichtsverlaufes im ganzen wird, tritt der Begriff von ihm im Z u s a m m e q ^ y ' hange einer unkri t ischen Hypostas ierung statt in dem einer kr i t ischen F e s t -stellung auf."8

1 PW, S. 598-9.

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Auch der relativistische Historismus wertet die Gegenwartserfahrung dadurch ah, daß er die Gegenwart als nicht mehr und nicht weniger relevant als die Ver-gangenheit und auch die Zukunft erachtet. Nachdem die christl iche Schöp-fungslehre und Eschatologie nicht mehr als verbürgt angesehen werden und auch der auf der Entwicklung der Naturwissenschaften basierende Glaube an die Perfektibi l i tät des Menschen sich als trügerisch erwiesen hat, wird die histo-rische Entwicklung im Histor ismus insofern neutralisiert, als Vergangenheit , Gegenwart und Zukunft als gleichwertig dargestellt werden. Diese Auffassung hat insbesondere Ranke vertreten, dem es dabei vor allem darum ging, der mit dem Fortschrittsglauben verbundenen Abwertung der Vergangenheit ent-gegenzutreten:

„Wollte man im Widerspruch mit der hier geäußerten Ansicht annehmen, die-ser Fortschritt bestehe darin, daß in jeder Epoche das Leben der Menschheit sich höher potenziert, daß also jede Generation die vorhergehende vollkom-men übertreffe, mithin die letzte die bevorzugte, die vorhergehenden aber nur die Träger der nachfolgenden wären, so würde das eine Ungerechtigkeit der Gottheit sein. Eine solche gleichsam mediatisierte Generation würde an und für sich eine Bedeutung nicht haben. Sie würde nur insofern etwas bedeuten, als sie die Stufe der nachfolgenden Generation ist und würde nicht in unmit-telbarem Bezug zum Göttlichen stehen. Ich aber behaupte: jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem, was aus ihr her-vorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst. [...] Die Gottheit - wenn ich diese Bemerkung wagen darf - denke ich mir so, daß sie, da ja keine Zeit vor ihr liegt, die ganze historische Menschheit in ihrer Ge-samtheit überschaut und überall gleich wert findet. Die Idee von der Erzie-hung des Menschengeschlechtes hat allerdings etwas Wahres an sich, aber vor Gott erscheinen alle Generationen der Menschheit gleichberechtigt, und so muß auch der Historiker die Sache ansehen."9

Das Verfahren der Universalgeschichte, in der der Histor ismus gipfelt , ist für Benjamin „additiv: sie bietet die Masse der Fakten auf, um die homogene und leere Zeit auszufüllen."1 0 Der „Historismus begnügt sich damit, einen Kausal-nexus von verschiedenen Momenten der Geschichte zu etablieren."11 Diese Ge-schichtsauffassung ist eine statische: „das ,ewige' Bild der Vergangenheit"1 2 ist danach aus einer Summe von Einzelbefunden zusammengesetzt .

Nach Benjamin ist es völlig falsch, als Histor iker versuchen zu wollen, die Position der Gottheit einzunehmen, der die gesamte Menschheitsgeschichte

' Leopold von RANKE: Über die Epochen der neueren Geschichte. In: ders.: Aus Werk und Nachlaß. Hg. von Walther Peter FUCHS und Theodor SCHIED ER. Bd. II. München/Wien 1971, S. 59-63 .

10 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte. In: GS I, S. 702. 11 Ebd., S. 704. 12 Ebd., S. 702.

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auf einmal vor Augen liegt, denn damit wird das Einbeziehen der eigenen Per-son und Erfahrungen theoretisch ausgeschlossen und damit der subjektive Blick des Histor ikers verleugnet. Dagegen möchte Benjamin die Geschichte nicht von einem externen Standpunkt her betrachten, von dem aus die Zeit in regelmäßige Strukturen eingeteilt wird, sondern ihm geht es darum, sein Au-genmerk zunächst auf das Nächste, d. h. das Aktuel le zu legen - ohne dabei allerdings die Erinnerung an Vergangenes und den Blick in die unmittelbare Zukunft zu vernachlässigen. Damit trägt er der Realität der Geschichtsschrei-bung Rechnung und versucht nach Gagnebins Diagnose gleichzeitig, den relati-vierenden Blick eines Historisten zu vermeiden: „Weil Geschichte in der Ge-genwart geschrieben und gemacht wird, ist ihre enge Defini t ion als Geschichte der Vergangenheit abzulehnen. Sie muss Geschichte der Gegenwart werden, will sie nicht in den antiquarischen Relativismus des Histor ismus geraten."13

Die falschen Geschichtsauffassungen des Histor ismus und des Fort-schrittsdenkens sammeln ein Wissen an, das, weil es unabhängig von der Ge-genwart zu sein vorgibt, diese Gegenwart auch nicht tangiert . Diese Geschichte ist statisch, unveränderbar, eine ein für allemal in ein Kontinuum gestel lte Ab-folge von Ereignissen. Dieses Kontinuum ist für Benjamin zwar auch deshalb inakzeptabel, weil es eine Geschichte der Sieger ist, wie Kaiser schreibt: „Er [der historische Materialist Benjamin, SZ] bricht aus dem Kontinuum aus, das für ihn ein schlechtes Kontinuum ist, indem es die Geschichte prozeßhaft auf die Herrschenden der Gegenwart hin stilisiert und sie ihnen damit übereig-net."14 Jedoch ist dies nicht der einzige Grund, weshalb sich Benjamin gegen eine solche Geschichtsschreibung wehrt. Seine Hauptkr i t ik richtet sich gegen die Kategorie eines Kontinuums überhaupt, das phantasmagorisch ist - ebenso wie die Idee einer str ikten Diskontinuität der Geschichte. Deswegen wendet sich Benjamin mit Engels auch gegen die Idee einer in sich kohärenten und kontinuierl ichen Kulturgeschichte, die abgetrennt von der gesel lschaftl ichen Realität ihren eigenen Gesetzen folgt:

„Engels wendet sich gegen zweierlei: einmal gegen die Gepflogenheit, in der Geistesgeschichte ein neues Dogma als Entwicklung eines früheren, eine neue Dichterschule als Reaktion auf eine vorangegangene, einen neuen Stil als Uber-windung eines älteren darzustellen; er wendet sich aber offenbar implizit zu-gleich gegen den Brauch, solche neuen Gebilde losgelöst von ihrer Wirkung auf die Menschen und deren sowohl geistigen wie ökonomischen Produkti-onsprozeß darzustellen."15

Eine einmal historist isch festgeschriebene Vergangenheit wird von der Gegen-wart nicht berührt . Aber genau darauf kommt es für Benjamin an: „Auf den

13 GAGNEBIN, a. a. O. , S. 101. 14 KAISER: Walter Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen", a. a. O., S. 53. 15 BENJAMIN: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker. In: GS II, S. 467.

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Begriff einer Gegenwart , die nicht Übergang ist sundern in der die Zeit einsteht und zum Stil lstand gekommen ist, kann der historische Materialist nicht ver-zichten. Denn dieser Begriff definiert eben die Gegenwart , in der er für seine Person Geschichte schreibt."16 Geschichtsschreibung muß also nach Benjamin nicht nur auf die Gegenwart bezogen sein, sondern auf die einzelne Person des Geschichtsschreibers. So schließt sich Benjamin insofern Nietzsches Auffas-sung an, daß „die Historie dem Lebendigen" gehöre17 , als hiermit der Aus-gangspunkt für die Konstruktion der Geschichte benannt ist. Entsprechend be-schreibt er die Grundvoraussetzung für ein adäquates Geschichtsverständnis im Passagen-Werk:

„Es kann als eines der methodischen Objekte dieser Arbeit angesehen werden, einen historischen Materialismus zu demonstrieren, der die Idee des Fort-schritts in sich annihiliert hat. Gerade hier hat der historische Materialismus alle Ursache, sich gegen die bürgerliche Denkgewohnheit scharf abzugrenzen. Sein Grundbegriff ist nicht Fortschritt sondern Aktualisierung".18

Das bedeutet, daß die Vergangenheit , wenn sie von Bedeutung für die Gegen-wart sein soll, in einen Zusammenhang mit dieser Gegenwart gestellt werden muß, der nicht allein in einer Fortschreibung der begonnenen Kontinuitätsge-schichte besteht, sondern abhängig von der konkreten gegenwärt igen Situation des Geschichtsschreibers neu gewichtet wird. Der Geschichte gerecht zu wer-den heißt damit zweierlei : zum einen soll die konstruierte Geschichte den In-teressen der erkennenden Person entsprechen, zum anderen soll die Individua-lität des historischen Augenbl icks gewürdigt werden. Beide Individualitäten werden — entsprechend dem Benjaminschen Konzept von Individualität — durch Ahnlichkeitsbeziehungen definiert. Gleichzeitig wird die Individualität des historischen Augenbl icks jeweils durch das erkennende Indiv iduum mit-konstituiert und umgekehrt .

Wenn die historische Betrachtung ihrem Gegenstand gerecht werden will, muß es ihr nach Benjamin auch darum gehen, „der konkret-geschichtl ichen Si-tuation des Interesses für ihren Gegenstand gerecht zu werden".19 Und auch dieses Interesse ist immer ein in der Gegenwart motiviertes, wie Benjamin mit einem Lotze-Zitat bekräft igt :

„Ein Wort, das zu denken gibt: ,Zu den bemerkenswerthesten Eigenthümlich-keiten des menschlichen Gemüths gehört ... neben so vieler Selbstsucht im Einzelnen die allgemeine Neidlosigkeit jeder Gegenwart gegen ihre Zukunft. ' Diese Neidlosigkeit deutet darauf hin, daß die Vorstellung von Glück, die wir haben, aufs tiefste von der Zeit tingiert ist, die die unsres Lebens ist. Das

" BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 702. 17 NIETZSCHE: Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 1, S. 258. 18 PW, S. 574. " PW, S. 1026.

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Glück ist im» nur vorsiicllbiir in der Luft, die wir geatmet, unter den Men-schen, die mit uns gelebt haben. [...J Unser Leben ist, anders gesagt, ein Mus-kel, der Kraft genug hat, die ganze historische Zeit zu kontrahieren."20

Die Geschichte ist nach Benjamin also immer auf die Gegenwart bezogen, im-mer subjektiv und wird jeden Augenblick neu geschrieben. Das heißt auch, daß die Zukunft nicht determiniert wird. „Der wissenschaftl iche Fortschritt ist -wie der geschichtl iche — immer nur der jeweilig erste Schritt, niemals der zweite dritte oder der n + 1". Der Grund dafür ist, daß „jede Etappe im Prozesse der Dialektik (— gleich jeder in dem der Geschichte selbst —) wie auch immer be-dingt von jeder vorhergegangenen, eine gründlich neue Wendung zur Geltung bringt, die eine gründlich neue Behandlung fordert."21 Sich auf die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft zu konzentr ieren heißt damit auch, offen zu sein für das Gegenwärtige, Neue, dessen Erkenntnis Voraussetzung für eine aktual i-sierte Erkenntnis des Vergangenen ist, denn: „der echte Gedanke ist neu. Er ist von heute. Dies Heute mag dürft ig sein, zugegeben. Aber es mag sein wie es will, man muß es fest bei den Hörnern haben, um die Vergangenheit befragen zu können."22

Die nach Benjamin richtig verstandene Arbeit des Histor ikers muß sich an den Erfahrungen der Gegenwart , der aktuellen Situation orientieren. Dazu ge-hört auch der aktuel le Stand der Möglichkeit von Erfahrung, auf den Rücksicht genommen werden muß. Nach dem Vorbild der Kunst, die sich den „Verände-rungen des Apperzeptionsapparates" anpaßt,23 versucht Benjamin in seiner Ge-schichtsphilosophie einen Vorschlag für eine positive Wendung der Erfah-rungslosigkeit der Moderne zu machen. Er will die Moderne mit ihren eigenen Mitteln schlagen, um die Möglichkeit einer adäquaten Geschichtsschreibung zu retten. Auch für Wehling sind

„die Möglichkeiten zur Überwindtalg dieser Krise der Erfahrung nach Benja-min nirgendwo anders zu suchen als in der .Erfahrungsarmut' der Moderne selbst. [...] So gibt es für Benjamin kein Zurück zu den Zeiten auratischer Er-fahrung und unversehrter Tradition - seine Kritik der kapitalistischen Mo-

20 PW, S. 599-600 . Das Zitat ist von Hermann LOTZE: Mikrokosmos. Ideen zur Naturge-

schichte und Geschichte der Menschheit. Bd. III. Leipzig 1864, S. 49. 21 PW, S. 593. 22 BENJAMIN: Wider ein Meisterwerk. In: GS III, S. 259. 23 BENJAMIN: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, a. a. O.,

S. 503, Anm. - So ist für ihn der Film eine folgerichtige Entwicklung, die auf die modernen Er-fahrungsmöglichkeiten zugeschnitten ist: „Die Rezeption in der Zerstreuung, die sich mit wachsendem Nachdruck auf allen Gebieten der Kunst bemerkbar macht und das Symptom von tief-greifenden Veränderungen der Apperzeption ist, hat am Film ihr eigentliches Übungsinstrument." (Ebd., S. 505.)

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dorne ist nicht .aniimoclcrnistisch', »eine I luffnung auf Rettung der Vergan-genheit ist nicht konservativ."24

Für Benjamin liegt sowohl im Schock als auch in der Suche nach Neuem und nach Sensationen ein Richtiges, weil sie den Augenblick, die Aktual i tät und da-mit die Gegenwart hervorheben. Deshalb kann der Schock als die moderne Möglichkeit der Erfahrung der Gegenwart für ihn eine Kategorie der Theorie historischer Erfahrung und Erkenntnis sein. Die Möglichkeit des Schockerleb-nisses wird dabei insofern positiv verstanden, als Benjamin die Ähnl ichkeits-wahrnehmung ebenfalls als nur augenblickskurz, damit schockhaft wahrnehm-bar versteht. Der Schock, der in der Zeit der Erfahrungslosigkeit durch das qualitätslose Neue ausgelöst wird, wird bei Benjamin zur Form der bl i tzhaften Erkenntnis vor allem diachroner, aber auch synchroner Ähnlichkeit . Sie ist da-durch möglich, daß sich das moderne, auf Schocks eingestellte Bewußtsein in einem Zustand größter Geistesgegenwart befindet, der für die historische Er-fahrung, die Erfahrung „wahrhafter Aktualität", genutzt werden kann.

2. Das „wahrhaft Neue" als „wahrhafte Aktualität"

In der Ankündigung seiner geplanten Zeitschrift Angelus Novus beschreibt Benjamin bereits 1922 sehr deutlich, was er unter „wahrhafter Aktual i tä t" ver-steht. Diese Zeitschrift sollte

„unerbittl ich im Denken, unbeirrbar im Sagen und unter gänzl icher Nichtach-tung des Publ ikums, wenn es sein muß, sich an dasjenige [. . .] halten, was als wahrhaft Aktuel les unter der unfruchtbaren Oberf läche jenes Neuen oder Neuesten sich gestaltet, dessen Ausbeutung sie den Zeitungen überlassen so l l . ""

Die Aktualität richtet sich also nicht nach den Wünschen des Publ ikums, son-de rn alleine nach den Vorstel lungen des Herausgebers, der eine subjektive Aus-wahl vornimmt, die für ihn aber die einzig authentische ist, wobei er sich über die Grenzen seines Blickfelds im klaren ist:

„Er erhebt in der Tat nicht den Anspruch, von hoher Warte aus den geist igen Hor izont seiner Tage zu beherrschen. Und wenn er im Bilde fortfahren darf, so wird er das eines Mannes vorziehen, der des Abends nach getaner Arbeit und ehe er an sein Werk geht des Morgens, vor die Schwelle tretend, den ge-wohnten Hor izont mit den Augen eher umfaßt als absucht, um, was in dieser Landschaft Neues ihn begrüßte, festzuhalten. Als seine eigene Arbeit sieht der Herausgeber die philosophische an, und jenes Gleichnis sucht es auszuspre-chen, daß nichts schlechthin Fremdes in den folgenden Blättern als unmaßgebl i -che Anregung dem Leser begegnen soll, daß dem, was in ihnen sich f indet, in

24 WEHUNG , a. a. o . , s. 83 . 25 BENJAMIN: Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus. In: GS II, S. 241-2.

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irgendeinem Sinne der 1 lerausgcber sich verwandt fühlen wird. Noch nach-drücklicher aber Hei ea jenem Bilde entnommen, daß Art und Grad dieser Ver-wandtschaft zu ermessen nicht beim Publikum liegt und daß nichts in deren Gefühl ist, was die Mitarbeiter jenseits ihres eigenen Willens und Bewußtseins einander verbinden könnte."26

Die wahre Aktual i tät konstituiert sich also aus der Wahrnehmung eines Indivi-duums, das nichts Fremdes, sondern nur Verwandtes - und das heißt: Ähnli-ches - als relevanten Bestandteil seiner persönlichen Gegenwart gelten läßt, wobei auch das „wahrhaft Neue" zu diesem Verwandten gehört. Und deshalb hat Gagnebin mit ihrer Diagnose ganz recht, wonach „Jetztzeit und Aktual i tät [...] im Benjaminschen Denken nicht mit [absoluter, SZ] Neuheit und Einma-ligkeit, sondern mit Ähnlichkeit und Wiederholung ineinander verflochten"27

sind. Ein spezif isches Merkmal dieser wahren Aktual i tät ist es, daß sie nicht all-gemeingültig sein kann, weil jede Person ein eigenes Zentrum von Ähnlich-keitsbeziehungen bildet.

Diese Struktur , die Gruppierung von Dingen, Ereignissen, Wahrnehmun-gen und Erinnerungen um ein Individuelles, ist nach Benjamin die Grundlage historischer Erkenntnis. Nur damit wird man historischen Ereignissen gerecht, daß man sie als Teil der Ähnlichkeitsbeziehungen, die ihre Individualität kon-stituieren, auffaßt . Das mimetische Vermögen des Menschen ist nach Benjamin für die historische Erkenntnis zu reaktivieren. Das heißt, wie Gagnebin sagt: „Die Konstitution vom historischen Gedächtnis gründet also in der menschli-chen Fähigkeit , Ähnlichkeiten wahrzunehmen."2 8 Damit folgt Benjamin der von Proust adaptierten Theorie Bergsons, nach der die Ähnlichkeit des Vergan-genen mit dem Gegenwärt igen Voraussetzung für die Erinnerung ist.

Die Grundlage des verlorenen Modus der mimetischen Erfahrung, die Fä-higkeit zur Wahrnehmung von Ähnlichkeiten, wird von Benjamin umgemünzt zur Strategie der historischen Erkenntnis. Da es nach Benjamin mimetische Korrespondenzerfahrung unter den modernen gesellschaftl ichen Bedingungen nicht mehr geben kann, müssen sie „auf synthet ischem Wege" hergestellt wer-den, wie von Proust in seiner Recherche.19

Das Vergessen der Vergangenheit ist für Benjamin eine Voraussetzung für das Hervortreten eines scheinbar absolut Neuen. Dagegen wird die Gegenwart erst durch Erinnerung an Vergangenes zur wahren Aktual i tät . Und zwar indem vergessenes Vergangenes dadurch aktualisiert wird, daß es in Beziehung zum Gegenwärtigen gesetzt wird. Der durch diese Konstell ierung mit Vergangenem erfüllte Augenbl ick ist nicht nur der jüngste Augenblick, der temporal neueste Moment der Geschichte, sondern die damit hergestellte neue Konstellation ist

26 Ebd., S. 245. Hervorhebungen von SZ. 27 GAGNEBIN, a. a. O . , S. 103 . 28 Ebd., S. 107. 29 BENJAMIN: Über einige Motive bei Baudelaire, a. a. O., S. 609.

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ein qualitativ Neues. Im Gegensatz zum laischen Neuen, das der Vergangen-heit inkommensurabel ist, weil es ganz qualitätslos ist, gewinnt dieses „wahr-haft Neue" als jüngste Konstellation historischer Momente, e inschl ießl ich des aktuellen, durch den Bezug auf Vergangenes erst seine Qualität . Der Einschluß des jeweils aktuel len Moments macht die temporale Neuheit der Konstel lat ion aus. Hinter dieser Konzeption steht die Vorstel lung der Einmaligkeit jedes hi-storischen Augenbl icks, die gerade darin liegt, daß er das Zentrum eines Netzes von Ähnlichkeitsbeziehungen bildet. Die historischen Daten und Ereignisse müssen entsprechend als an dem jeweils aktuellen Augenbl ick ausger ichtet be-trachtet werden: „Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt kraft eines Hel iotropismus geheimer Art , das Gewesene der Sonne sich zuzu-wenden, die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist."30 Damit jeder neue Augenblick als ein solches Zentrum erkannt werden kann, müssen seine spezi-fischen Korrespondenzen aufgedeckt werden. Gleichzeitig verändern sich ver-gangene Momente dadurch, daß sie in immer mehr, immer neue Konstel lat io-nen mit historisch späteren Momenten treten können. Lehrstücke für diesen Prozeß sind nach Benjamin Kunstwerke: Sie

„integrieren für den, der sich als historischer Dialektiker mit ihnen befaßt, ihre Vor- wie ihre Nachgeschichte - eine Nachgeschichte, kraft deren auch ihre Vorgeschichte als in ständigem Wandel begriffen erkennbar wird. Sie leh-ren ihn, wie ihre Funktion ihren Schöpfer zu überdauern, seine Intentionen hinter sich zu lassen vermag; wie die Aufnahme durch seine Zeitgenossen ein Bestandteil der Wirkung ist, die das Kunstwerk heute auf uns selber hat, und wie die letztere auf der Begegnung nicht allein mit ihm, sondern mit der Ge-schichte beruht, die es bis auf unsere Tage hat kommen lassen."31

Benjamin wendet sich mit dieser Idee der Veränderlichkeit der Vergangenheit gegen die Konservierung des Vergangenen, die der Histor ismus seiner Ansicht nach betreibt. Harth und Grzimek beschreiben die von Benjamin intendierte Aktualisierung des Vergangenen deshalb mit seiner Unterscheidung von histo-rischem und polit ischem Blick auf die Geschichte:

„Der historische Blick aufs Gewesene beläßt dieses bei sich selbst und impliziert eine konservierende Haltung gegenüber der Vergangenheit. Ihre Gegenstände werden zu Veraltetem. Nicht eigentlich wahrgenommen, finden sie keinen Be-zug zur Gegenwart. Der politische Blick hingegen bezeichnet eine Technik, die es erlaubt, die Dingwelt zu bewältigen und das Vergangene in eine konstruk-tive, erhellende Verbindung zur Gegenwart zu setzen."32

30 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 694-5 . 31 BENJAMIN: Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker, a. a. O., S. 467. 32 Dietrich HARTH und Martin GRZIMEK: Aura und Aktualität als ästhetische Begriffe. In:

Peter GEBHARD, Martin GRZIMEK, Dietrich HARTH, Michael RUMPF, Ulrich SCHÖDLBAUER,

Bernd WITTE: Walter Benjamin - Zeitgenosse der Moderne. Kronberg/Ts. 1976, S. 131 .

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In der zeitgenössischen Kunst sieht Benjamin 1929 den Surreal ismus als Avant-garde für diesen Blick auf die Vergangenheit: „Er hat sich einer erstaunlichen Entdeckung zu rühmen. Er zuerst stieß auf die revolutionären Energien, die im .Veralteten' erscheinen".'" Die Beziehung Vergangenhei t -Gegenwart ist für Benjamin eine wechselseit ige: Während vom Späteren aus die Rückschau auf das Frühere möglich ist, enthält das Frühere bereits eine Erwartung des späte-ren, die Benjamin in seiner II. These zur Geschichte „messianische Kraft" nennt. Deshalb ist für ihn „nichts was sich jemals ereignet hat, für die Ge-schichte verloren zu geben"34. Wahre Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, daß sie, wie Breton es ausdrückt , „von Reflexen der Zukunft durchzittert"35

sind, d. h. daß ihre Ähnlichkeit mit Zukünft igem bereits vor Eintritt dieser Zu-kunft fühlbar ist: „In jedem wahren Kunstwerk gibt es die Stelle, an der es den, der sich dareinversetzt, kühl wie der Wind einer kommenden Frühe anweht."36

In diesen jeden Moment neu möglichen Konstellationen geht es „nicht etwa um eine beliebige Verbindung, sondern um ganz spezif ische Aff ini täten zwischen Vergangenem und Gegenwärt igem, die zu einem plötzl ichen Zusam-menhaken führen."37 Daß diese „qualitative Gleichzeitigkeit von chronologisch Ungleichzeit igem", die „an die Stelle der historischen Diachronie tritt", als „konstruktive Synchronic"38 plötzlich erkennbar wird, liegt an der von Benjamin vorausgesetzten Diskontinuität von Geschichte: „Damit ein Stück Vergangen-heit von der Aktual i tät betroffen werde, darf keine Kontinuität zwischen ihnen bestehen".39 Die Aktual is ierung von Vergangenem setzt also voraus, wie Leh-mann bemerkt , daß das Vergangene zuvor vergessen wurde.40 U n d dies, das Vergessen, ist auch eine Voraussetzung für das Auftreten des falschen Neuen. Vergessen ist das, was nicht in die Geschichtsschreibung - die persönliche oder die universalgeschichtliche - eingegangen ist. Nur die historischen Momente , die nicht in eine Kontinuitätsgeschichte eingefügt sind, d. h. die bis dahin un-terdrückten oder vergessenen Vergangenheitsmomente", können mit den ge-genwärtigen Augenbl icken blitzhaft zusammentreten. Deshalb ist es folgerich-tig, wenn Benjamin feststel lt : „Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst."41 Weil die Geschichte der Herrschen-den schon geschrieben ist, gilt es die unterdrückten Momente der Geschichte

33 BENJAMIN: Der Surrealismus. In: GS II, S. 299. 34 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 694. 5S Zitiert nach BENJAMIN: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-

barkeit, a. a. O., S. 500 Anm. 36 PW, S. 593. 37 SCHWARZ: Rettende Kritik und antizipierte Utopie, a. a. O., S. 116. 38 GREFFRATH, a. a. O., S. 57. 39 PW, S. 587. 40 Hans-Thies LEHMANN: Die Kinderseite der Geschichte. Zu Walter Benjamins Passa-

gen-Werk. In: Merkur 37 (1983) , S. 193. 41 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 700.

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wiederzulinden. Das kann nur von denen unternommen werden, die selber un-terdrückt werden. Sie haben nach Benjamin die Aufgabe, das Geschichtskonti-nuum der Herrschenden zu durchbrechen, und zwar betrifft das sowohl die Geschichtsschreibung als auch die Fortschreibung der Geschichte in der Ge-genwart. Daß das Bewußtsein dafür vorhanden ist, steht für Benjamin fest:

„Das Bewußtsein, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen, ist den revo-lutionären Klassen im Augenblick ihrer Aktion eigentümlich. Die Große Re-volution führte einen neuen Kalender ein. Der Tag, mit dem ein Kalender ein-setzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer. Und es ist im Grunde genommen derselbe Tag, der in Gestalt der Feiertage, die Tage des Eingedenkens sind, immer wiederkehrt."42

Das Ziel historischer Erkenntnis ist Benjamin zufolge nicht, sich kontemplativ in vergangene Zeiten einzufühlen: „Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen ,wie es denn eigentlich gewesen ist'."43 Vielmehr geht es um die Bewältigung gegenwärtiger Aufgaben; der Widerstand gegen die herrschen-de Klasse soll dadurch motiviert werden, daß die Erinnerung an die Hoffnun-gen der Verlierer der Vergangenheit wachgerufen wird; diese Hoffnungen sollen nicht vergeblich gewesen sein. Damit hält sich Benjamin an die Theorie Bergsons, nach der das Gedächtnis wie die Wahrnehmung „auf die Tat gerich-tet"44 sind. Während die Wahrnehmung die Handlungsoptionen vorgibt, kommt dem Gedächtnis die Aufgabe zu, durch Erinnerung an ähnliche Situa-tionen unter der „immer größere[n] Zahl möglicher Taten"45 in der Gegenwart die richtige Wahl zu ermöglichen: „Und was das Gedächtnis betrifft, so ist des-sen erste Funktion, alle vergangenen Wahrnehmungen, welche der gegenwärti-gen Wahrnehmung ähnlich sind, wachzurufen, an das Vorhergehende und Nachfolgende zu erinnern und uns damit die nützlichste Entscheidung ein-zugeben."46

Während Benjamin die Unterdrückten als Subjekt historischer Erkenntnis einsetzt, kommt dem Geschichtsschreiber des historischen Materialismus die konservatorische Aufgabe zu, „ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens ein-stellt".47 Man könnte Benjamin vorwerfen, daß es sich bei dieser Art von Ge-schichtsschreibung ebenfalls um die Konstruktion von Kontinuitäten handelt. Es handelt sich jedoch um keinen Widerspruch, da Benjamin die Vorstellung ei-ner strikten Diskontinuität der Geschichte ebenso ablehnt, wie er die schein-

42 Ebd., S. 701 . 43 Ebd., S. 695. 44 Hen ri BERGSON: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwi-

schen Körper und Geist. Hamburg 1991 , S. 226. 45 Ebd., S. 226 -7 . 46 Ebd., S. 227. 47 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 695.

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bare Kontinuität für falsch belindet. In der Moderne als „Well strikter Diskon-tinuität" ist das, was als „das Immer-Wieder-Neue" erscheint, „nicht Altes, das bleibt, noch Gewesenes, das wiederkehrt, sondern das von zahllosen Intermit-tenzen gekreuzte Eine und Selbe."48 Völlige Diskontinuität ist also der Schein, den das falsche Neue hervorbringt. Weil es diese strikte Diskontinuität nicht geben kann, muß Benjamin paradox von diskontinuierlichen Kontinuitäten aus-gehen. Die Diskontinuität kommt der Vergangenheit zu, während die Gegen-wart Kontinuität stiftet: „Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Ver-gangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild[,] sprunghaft."49 Das heißt für die Geschichtsphilosophie: Die von der Gegenwart ausgehende Arbeit ist eine auf Kontinuitäten gerichtete, der Versuch, Ähnlichkeiten aufzudecken und da-mit Kontinuität herzustellen. Umgekehrt betrifft das Vergangene das Gegen-wärtige jedoch blitzhaft. Die hergestellte Konstellation ist nicht kontinuierlich im Sinne einer kausalen Entwicklung, sondern Benjamin möchte sie als bildhaft, synchron sehen, ohne den Aspekt der zeitlichen Aufeinanderfolge: „Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. Mit anderen Worten: Bild ist die Dialektik im Stillstand."50 Wie Greffrath schreibt, meint Benjamins „Rede von Bild der Geschichte, vom wah-ren Bild des Vergangenen [...] nicht Verbildlichung eines Abstrakten oder des-sen Veranschaulichung, sondern die Abkehr von der Eindimensionalität der Li-nie"51. Die Vorstellung eines stillgestellten Prozesses ist auch enthalten in Ben-jamins Idee des dialektischen Bildes, wie sie Ansgar Hillach beschrieben hat. Danach ist das dialektische Bild „eine Konfiguration im historischen Prozeß, die dadurch aus dem Fluß des Geschehens sich als Bild heraushebt, daß sie ei-nem aktiv fixierenden Moment des Erkennens unterliegt und damit auf eine Wirklichkeit ungelebten Lebens verweist."52 Es ist für Hillach bei Benjamin konzipiert „als Einheit von .Dialektik im Stillstand' (die aufzunehmen bzw. herzustellen ist) und dialektischer Lösung [...] im Modus von traumversetzter, erinnerungsgeschärfter Realität im Erwachen."53 Benjamin faßt das dialektische Bild als das auf, was sich der historischen Erkenntnis als qualitative Bestim-mung des historischen Augenblicks erschließt. Dabei ist das dialektische Bild zwar ein vom Zeiwerlauf befreiter Prozeß, doch ist es nicht ohne zeitliche Be-stimmung. Sein temporales Moment betrifft neben seiner Augenblickhaftigkeit auch den Zeitpunkt seiner Wahrnehmbarkeit, also seine Gegenwärtigkeit:

48 PW, S. 10 1 1 . 49 PW, S. 577. so PW, S. 576 -7 . 51 GREFFRATH, a. a. O., s. 56. 52 Ansgar HILLACH: Dialektisches Bild. In: Michael OPITZ und Erdmut WlZISLA (Hg.):

Benjamins Begriffe. Frankfurt am Main 2000, S. 187. 53 Ebd., S. 210 .

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„Gun/, läßt sich das Zeitmomeni im dialektischen Bilde nur mittels der Kon-frontation mit einem andern Begriffe ermitteln. Dieser Begriff ist das J e t z t der Erkennbarkeit ' ."54 Das heißt, daß es nur einen Augenbl ick der Erkennbarkeit gibt. Jedes dialektische Bild wird entweder jetzt, in diesem Augenbl ick, oder gar nicht erkannt, denn im nächsten Moment haben sich die Konstellationen verschoben, andere Bilder werden potentiell erkennbar. Umgekehr t gibt es nach Benjamin für jedes Jetzt best immte erkennbare Bilder. Jede Gegenwart bildet einen eigenen Fluchtpunkt, in dem die Linien solcher historischen Bilder zusammenlaufen. In der besonderen Konstellation von Dingen und Ereignissen in einem best immten Augenbl ick der Geschichte besteht die Individualität des gegenwärtigen historischen Augenblicks. Die durch Kristallisation des dialekti-schen Bildes bl i tzhaft erfüllte Gegenwart ist das, was Benjamin unter dem „wahrhaft Neuen" versteht. Während das falsche Neue wegen fehlender Syn-thesis des Jüngsten mit dem Vergangenen nichts zur Erkenntnis beiträgt, wird das wahre Neue, das in einer Konstell ierung des Gegenwärt igen mit dem Ver-gangenen besteht, eben durch diese Synthese zur Erkenntnis.

Diese Konstellation des Vergangenen mit Gegenwärt igem erscheint un-willkürlich oder wird durch Konstruktion hergestellt . Die memoire involontaire, der Proust in seiner Recherche nachgeht, hat auch Benjamin als Kategorie histo-rischen Bewußtseins in seine Geschichtsphilosophie aufzunehmen versucht. Je -doch widerspricht der Proustsche Begriff Benjamins Theorie der Geschichte in mehreren Hinsichten, weshalb die Adaption dieses Begriffes nur teilweise ge-lingen kann. Was von ihm in Benjamins Auffassung historischer Erkenntnis erhalten bleibt, ist das Moment der Unbeeinflußbarkeit und des plötzlichen Auftretens. Das allerdings kann nach Benjamin vorbereitet werden, indem möglichst viele Momente der Vergangenheit im Gedächtnis gespeichert und ab-rufbar gemacht werden. Deshalb ist die Aufgabe jeder Geschichtsschreibung die Uberl ieferung und nicht die Einfühlung. Es kommt für sie nicht darauf an zu systematisieren und zu interpretieren, sondern allein darauf, zu sammeln. Die vom Histor iker zusammengetragenen historischen Angaben und Befunde sind die Bestandteile, aus denen in einer bl itzhaften Akt ion ein Bild der Er-kenntnis geformt werden kann. Nicht die Daten alleine bilden die Erkenntnis, sondern die aus ihnen immer wieder neu zusammengesetzten Bilder. Dabei handelt es sich nicht um beliebige Bilder, und sie erscheinen nicht zufäll ig, aber plötzlich.

Engelhardts Kritik an Benjamin, wonach dieser „die Schwierigkeit , die Maßstäbe, nach denen das historische Material konstruiert wird, anzugeben"55 , nicht gelöst habe, ist nach Greffrath nicht ganz richtig, wie sie mit Bezug auf Benjamins Kunstverständnis schreibt:

54 PW, S. 1038. 55 ENGELHARDT, a. a. O., S. 293.

114

„Richtig ist: ein Kriterium kann Benjamin nicht angehen. [...] Die Spezifizie-rung des historischen Augenblicks erfolgt sowohl nach der Seite des erken-nenden Subjekts als auch nach der des zu erkennenden Objekts . Benjamin denkt [...] eine Art Anteilnahme des Werks an seiner eigenen Nachgeschichte : eine Art Synchronic, derzufolge Entwicklungen der späteren Geschichte mit einer Entwicklung im Werk selbst korrespondieren. [. . .] Paradox bleibt, daß mit dieser quasi myst ischen Korrespondenz zwischen Veränderungen der Nachgeschichte und Veränderungen im Werk selbst, gerade der Wi l lkür des Subjekts begegnet und die Objektivität der historischen Erfahrung gesichert werden soll."56

Benjamin kann also deshalb keine Maßstäbe für die Konstrukt ion von Ge-schichte angeben, weil die Konstruktion jeweils neu vom aktuel len historischen Augenblick des Geschichtsschreibers abhängt und von dem danach aktualisier-ten vergangenen Moment der Geschichte. Weil sowohl die Perspektive des Be-trachters als auch die Bestandteile der Geschichte sich laufend verändern, kann er keine al lgemeingült ige Formel für die Konstruktion von Geschichte vorge-ben. Allerdings geht er davon aus, daß dialektische Bilder objektive Gesetzmä-ßigkeiten der Geschichte sind. So läßt sich auch Benjamins Äußerung verste-hen, mit der er das dialektische Bild als „Urphänomen der Geschichte" be-zeichnet.57

Ein wesentl iches Kriterium für die Wahrheit der Erkenntnis ist der Schock, mit dem sie betrifft . Der Schock der Erkenntnis bürgt für die Diskon-tinuität zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart, weil er nur aus ihr re-sultieren kann, und er entzieht damit das dialektische Bild, das nach Benjamin „identisch mit dem historischen Gegenstand" ist,58 dem Verdacht, ein Teil der Siegergeschichte zu sein. Er ist erfahrbar nur aufgrund des Vergessens der Ver-gangenheit - was gleichzeitig Grund für die Erfahrungslosigkeit der Moderne ist - , und er ist Garant für die Objektivität der Erkenntnis, denn er ist nicht ak-tiv herbeizit ierbar, sondern betr ifft unvermittelt . Insofern hat Zons recht, wenn er sagt, das Erwachen bei Benjamin habe sein Modell an der schockhaften Erfahrung des Neuen.5 9 Die Erfahrung des Schocks, mit dem das wahrhaft Neue betr ifft , wurde eingeübt mit dem Schockerlebnis, das auch das scheinbare Neue hervorruft .

Was die unwil lkürl iche Erinnerung, wie Proust sie versteht, stark von Ben-jamins Theorie der Erkenntnis unterscheidet, ist, daß sie die vergangenen Mo-mente in einem Dejä-vu-Erlebnis nur wiederholt, während Benjamin die Ver-gangenheit durch historische Erkenntnis aktualisieren und damit verändern

56 GREFFRATH, a. a. O., S. 60-1. 57 PW, S. 592. 58 PW, S. 595. 59 Raimar Stefan ZONS: Annäherungen an die Passagen. In: BOLZ/WITTE (Hg.): Passagen,

a. a. O., S. 50.

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möchte. Während Proust mit seiner Recherche versucht, der Gegenwart zu ent-rinnen und dagegen die verlorene Zeit wiederzufinden, liest Benjamin die Ver-gangenheit von dem im Verhältnis zu ihr Späteren, zuletzt von der Gegenwart her. Sein Interesse ist ein gegenwärtiges, wie die Diagnose Szondis deutlich macht: „Proust horcht auf den Nachklang der Vergangenheit, Benjamin auf den Vorklang einer Zukunft, die seitdem selbst zur Vergangenheit geworden ist."60

Während Prousts Anstrengungen nach Greffrath „der restaurativen Wiederge-winnung des dem Gedächtnis Entfallenen gelten wie der erstmaligen, neuen Ansicht einer Sache", das Vergessene also wiederholt und das Gegenwärtige als ganz Neues gesehen wird, erscheint bei Benjamin das Vergangene und Erin-nerte selbst als ein Neues; bei ihm schlägt „Erinnerung von einer Figur der Wiederholung in eine Kategorie des Neuen" um.61 Durch die Konstellierung mit Vergangenem erhält der gegenwärtige Augenblick eine neue Qualität: Der .Jungbrunnen der Geschichte wird von der Lethe gespeist. Nichts erneuert so wie Vergessenheit."62 Die mit der Gegenwart in Ähnlichkeitsbeziehung gesetz-ten, bis dahin vergessenen Augenblicke werden gleichzeitig selbst erneuert, ak-tualisiert. Aktualisierung heißt hier für Benjamin zunächst Vergegenwärtigung, d. h. der historische Gegenstand erscheint dem Historiker „aus seinem Sein von damals in die höhere Konkretion des Jetztseins aufgerückt"63 . Diese höhere Konkretion als eine qualitative Veränderung, d. h. Erneuerung des historischen Gegenstandes resultiert allein aus seiner Versetzung in die Jetztzeit :

„Wieso dies Je tz tse in (das nichts weniger als das Jetztse in der Jetztze i t ist) an sich schon eine höhere Konkret ion bedeutet - diese Frage kann die dialekti-sche Methode frei l ich nicht innerhalb der Ideologie des Fortschrit ts sondern nur in einer diese in allen Tei len überwindende Geschichtsphilosophie erfas-sen. In ihr wäre von einer zunehmenden Verdichtung (Integrat ion) der W i rk -lichkeit zu sprechen, in der alles Vergangene (zu seiner Zeit) einen höheren Aktual i tätsgrad als im Augenbl ick seines Existierens erhalten kann."64

Der höhere Grad an Aktualität besteht in einer bewußteren, wacheren Wahr-nehmung: Die in dem vergangenen Moment liegenden Möglichkeiten und Ver-weise auf die Zukunft, die in der Vergangenheit nicht wahrgenommen werden konnten, werden bewußt. Damit bringt die Erinnerung nach Greffrath

„ein Neues z u m Vorschein, das gleichwohl im Gedächtnis enthalten war. [. . .] so interessiert sich der Histor ische Materialist nicht dafür, wie es eigentl ich gewesen ist, sondern sucht die einmalige, neue Erfahrung mit der Vergangen-

40 Peter SZONDI: Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin. In: ders.: Satz und Gegensatz. Frankfurt am Main 1976, S. 89.

" GREFFRATH, a. a. O., s. 77. 62 BENJAMIN: Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft. In: GS III, S. 287. " PW, S. 1026 . 64 Ebd.

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heit, aufgrund deren d»a IJnentdeckie, verkannt Gebliebene, in den Doku-menten der Uberlieferung Verborgene zum ersten Mal zur Ansicht gelangt."65

Das „wahrhaft Neue" hat bei Benjamin also mehrere Bedeutungen. Zum einen sind die jeden Augenblick neu (temporal) auftretenden Konstellationen neu (qualitativ), zum anderen sind auch ihre Bestandteile, die Momente der Vergan-genheit und der Gegenwart, qualitativ neu bzw. erneuert. Dieses qualitativ Neue, das in der „Jetztzeit" erkannt wird, ist dadurch, daß es nur in Ähnlich-keitsbeziehungen auftaucht, niemals etwas absolut Neues. D. h. das wahrhaft Neue ist bei Benjamin geradezu dadurch definiert, daß es nicht wie das falsche Neue etwas ganz anderes, Verschiedenes als das Vorangegangene zu sein scheint bzw. sein will, sondern das Neue ist etwas, das ähnlich ist; durch Ähn-lichkeit erst erhält es seine Qualität. Das Neue ist dann kein immergleiches Neues mehr, wenn es seinen Absolutheitsanspruch aufgibt; es kann dann nicht mehr in Immergleichheit umschlagen, wenn die Neuheit nicht mehr abstrakt ist, sondern auf bestimmte historische Momente bezogen und dadurch selber historisch individuell.

Die Aspekte der Aktualität und der Augenblickhaftigkeit haben das fal-sche Neue und das „wahrhaft Neue" gemeinsam. Diese temporalen Bestim-mungen des Neuen sind auch etymologisch ableitbar: Es kann davon ausgegan-gen werden, daß die Wörter neu, nun, Nu und veot; (neu) und VUV ( jetzt) glei-chen Ursprungs sind.66 Da das falsche Neue keine qualitative Bestimmung hat, kann es nur Gegenwärtiges betreffen. Die Traumwahrnehmung der Moderne vergißt das Vergangene und kann deshalb weder Korrespondenzen des Gegen-wärtigen mit dem Vergangenen noch ein Neues am Vergangenen ausmachen. Der Erfahrungsmodus für die Wahrnehmung dieser Aspekte des wahrhaft Neuen, der Schock, ist eine Funktion des an der Wahrnehmung der nouveaute geschulten modernen Bewußtseins, womit dieses die Voraussetzungen für die Erfahrung des wahrhaft Neuen schafft. So ist Benjamins Äußerung zu verste-hen, daß im 19. Jahrhundert die nouveaute „Kanon der dialektischen Bilder wird".67

Das „wahrhaft Neue" ist für Benjamin ein Moment der Erkenntnis. In die-sem wahrhaft Aktuellen, dem in der Jetztzeit aufblitzenden Bild der Geschich-te, wird mehreres erkennbar: Erstens wird in ihm der gegenwärtige Augenblick als Zentrum von Ähnlichkeitsbeziehungen in seiner Individualität wahrgenom-men; zweitens werden vergangene Augenblicke aktualisiert; drittens kann die Kontinuität der Geschichte als scheinbare entlarvt werden, d. h. mit Aktualisie-rung bisher verdrängter historischer Momente wird die Diskontinuität der Ge-

65 GREFFRATH, a. a. O., S. 73. 66 Artikel „neu" und „nun". In: Duden. Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen

Sprache. Bearbeitet von Günther DROSDOWSKI, Paul GREBE und weiteren Mitarbeitern der Dudenredaktion. Mannheim u. a. 1963, S. 467 und 473.

67 PW, S. 56 .

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schichte .sichtbar; schließlich winl die Möglichkeit der Herstellung neuer Kon-tinuitäten aus den bisher unterdrückten oder vergessenen Elementen der Ge-schichte durch ihre aktuelle Realisierung erfahren. Die Kunst als Avantgarde jeder neuen Erkenntnis ist der Ort, „wo ein wahrhaft Neues zum ersten Mal mit der Nüchternheit der Frühe sich fühlbar macht."68

Paradoxerweise ist Benjamins „wahrhaft Neues" als Moment der verknüp-fenden Erkenntnis des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen qualitativ von der Vergangenheit bestimmt. Entsprechend ist seine Utopie auch ein Zustand von allumfassender, universaler Erkenntnis des Vergangenen. Er beschreibt sie meist mit Erlösungsbegriffen und -metaphern der jüdischen Theologie als „messianische Zeit", als Rettung, als Erlösung. Diese Zeit der Erlösung hat zwei Aspekte: Zum einen ist die „messianische Welt [...] die Welt allseitiger und integraler Aktualität"69 , die zum anderen die Möglichkeit des Zugriffs auf alle vergangenen historischen Momente beinhaltet, d. h., wie Benjamin in seiner dritten These zur Geschichte schreibt, „erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden"70. Allerdings han-delt es sich bei diesen beiden Momenten der Erkenntnisutopie Benjamins nicht um „theoretische Extreme", wie Greffrath meint,71 sondern zur Aktualität, ge-nauer zur „wahrhaften Aktualität", gehört für Benjamin die Aktualisierung von Vergangenem untrennbar dazu. Diese Erlösungsvorstellung, deren „Modell" die „Jetztzeit" ist,72 muß beinhalten, daß jeder Augenblick der Erkennbarkeit eines „wahren Bildes der Vergangenheit"73 genutzt wird, daß also kein „unwiederbringliches Bild der Vergangenheit"74 unerkannt verschwinden kann. Voraussetzung dafür ist, daß alles Gewesene potentiell erkennbar ist, d. h. daß kein Moment der Vergangenheit unterdrückt wird. Das wiederum setzt voraus, daß es keine Siegergeschichte gibt, daß es keine Herrschenden und also auch keine Unterdrückten gibt, kurz: Die klassenlose Gesellschaft wäre Vorausset-zung für das Eintreten der messianischen Zeit.75 Gibt es aber keine unterdrück-ten und daher vergessenen Momente der Geschichte, ist strenggenommen das Entstehen dialektischer Bilder nicht mehr möglich, denn diese haben zur Vor-aussetzung, daß sie aus vergessenen Momenten der Geschichte bestehen und die scheinhafte Kontinuität der Siegergeschichte durchbrechen. Die messiani-

68 PW, S. 593 (Hervorhebung von SZ).

" BENJAMIN: GS I, S. 1235, 1238, 1239. 70 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 694. 71 GREFFRATH, a. a. o . , S. 50.

2 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 703. 73 Ebd., S. 695. 74 Ebd. 75 Nachdem Benjamin von Seiten der materialistischen Kritik nicht ganz zu Unrecht zu-

nehmende Praxisferne vorgeworfen wird, scheint mir diese Lesart eine stimmige und Benjamins

Intentionen gerecht werdende Möglichkeit zu sein, seine Erkenntnisutopie gleichzeitig als poli-tische Utopie zu verstehen.

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sehe Zeil kann deshalb keine .Jetztzei l" als augenblickhahe kennen, denn in der messianischen Zeit liegen alle Momente der Vergangenheit immer offen zu-tage, die gesamte Vergangenheit ist in der „allseitigen und integralen Aktuali-tät" enthalten. Von Geschichte als einer Abfolge von Ereignissen kann dann nicht mehr die Rede sein, alle historischen Momente werden synchronisiert, deshalb spricht Benjamin von der „messianischen Stillstellung des Gesche-hens"76.

Die Erfahrung eines solchen Stillstands der Geschichte bzw. der Zeit ist bis dahin nur augenblickhaft möglich. Benjamin versteht diese Momente „wah-rer Aktualität", d. h. des „wahrhaft Neuen", als messianische Botschaften, die die Möglichkeit einer künftigen Erfüllung alles Gewesenen ahnen lassen.77 Die Augenblickhaftigkeit und Vergänglichkeit dieser von der messianischen Zeit kündenden Momente ist für Benjamin Ausweis ihrer Wahrhaftigkeit. Sie glei-chen darin den Engeln, die bekanntlich die Boten Gottes sind: „Werden doch sogar nach einer talmudischen Legende die Engel - neue jeden Augenblick in unzähligen Scharen - geschaffen, um, nachdem sie vor Gott ihren Hymnus ge-sungen, aufzuhören und in Nichts zu vergehen."78

76 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 703. 77 Marxistische Inanspruchnahmen dieser utopischen Augenblicke, wie die von Sauerland,

der Benjamins „erfüllte Augenblicke" versteht als „Augenblicke, in denen die unterdrückten

Massen einen Sieg davongetragen haben, wo die Gerechtigkeit über das Leid und Leid-Antun

triumphiert hat oder zu haben scheint", werden der Benjaminschen Konzeption einer Utopie als

Erkenntnisutopie nicht gerecht. (Karol SAUERLAND: Benjamins Revision der bisherigen mate-

rialistischen Geschichtsbetrachtung. In: Neue Rundschau 93 [1982], S. 62.) Mir scheint bezo-

gen auf die Frage nach ihrer aktuellen gesellschaftspolitischen Bedeutung Hubberts Interpreta-

tion treffend, nach der „jeder mögliche politische Gehalt des utopischen .Augenblicks' nur in

einer anarchistischen Qualität zu suchen ist. Jede realpolitische oder gesellschaftssystematische

ist auszuschließen." (Joachim HUBBERT: Der Augenblick des Schönen: philosophisch-literari-

sche Untersuchungen. Bochum 1996, S. 95.) 78 BENJAMIN: Ankündigung der Zeitschrift: Angelus Novus, a. a. O., S. 246.

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A D O R N O S THEORIE DES N E U E N

Kaum lassen sich gegensätzlichere Äußerungen formulieren als der Benjamin-sehe Satz, daß „nichts was sich jemals ereignet hat, für die Geschichte verloren zu gehen"1 sei, und Adornos „Das Ganze ist das Unwahre".2 Während sich bei Benjamin aus allem, was sich jemals ereignet hat, in dem messianisch-utopi-schen Zustand „allseitiger und integraler Aktualität"3 ein universalhistorisches Bild formt, ist für Adorno die Menschheit verstrickt in einen allumfassenden Verblendungszusammenhang, dessen Negation die Utopie des absolut Neuen ist. Weil sich der Schwerpunkt der Benjaminschen Theorie immer mehr von der Idee der revolutionären Veränderung zur Utopie der universalen Erkenntnis verlagerte, ist seiner Geschichtsphilosophie nicht nur von Adorno ihre Vergan-genheitsbezogenheit und ihr Konservatismus4 vorgeworfen worden. Während die marxistische Kritik aus ihrer Perspektive die fehlende Praxisbezogenheit der Benjaminschen Theorie beanstanden muß, ist es ihm auch aus jüdisch-iheologischer Sicht nicht gelungen, den Schritt „vom jüdischen Fokus der Ver-gangenheitsbetrachtung zur jüdischen Hoffnung auf zukünftige Erlösung"5

nachzuvollziehen. Robert Alter zufolge stellten Benjamins Thesen über den Begriff der Geschichte „einen letzten verzweifelten Versuch dar - immer noch weit von einer befriedigenden Lösung entfernt - , eine gewisse Vorstellung von Zukünftigkeit mit der Fixierung auf die Vergangenheit zu versöhnen."6 Äbge-sehen davon, daß die Vorstellung der messianischen Stillstellung des Gesche-hens, die von der Gleichwertigkeit aller historischen Ereignisse ausgeht, die Benjaminsche Geschichtsphilosophie in die Nähe des von ihm abgelehnten rela-tivistischen Historismus rückt,7 stellt sich Benjamins Geschichtstheorie in ihrer Konsequenz als affirmativ dar. Seine Utopie ist nicht die von besseren Verhält-nissen, sondern die vom Glück der möglichst aktuellen und umfassenden sub-jektiven Erkenntnis,8 der sich die historischen Ereignisse im nachhinein als

1 BENJAMIN: Über den Begriff der Geschichte, a. a. O., S. 694. 2 MM, S. 55. 3 BENJAMIN: GS I, S. 1235, 1238, 1239. 4 Zuerst: Jürgen HABERMAS: Bewußtmachende oder rettende Kritik - die Aktualität Wal-

ter Benjamins. In: Siegfried UNSELD (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt am Main 1972, S. 173 -223 . - KAISER: Walter Benjamins „Geschichtsphilosophische Thesen", a. a. O.

5 Robert ALTER: Unentbehrliche Engel. Tradition und Moderne bei Kafka, Benjamin und Scholem. Berlin 2001 , S. 124.

6 Ebd., S. 117. 7 Insofern, als die messianische Welt bei Benjamin als „Einlösung einer wirklichen Vorstel-

lung von .Universalgeschichte'" dient, wie Kittsteiner zu Recht bemerkt. (Heinz-Dieter KlTT-

STKINER: Die „Geschichtsphilosophischen Thesen". In: BULTHAUP [Hg.], a. a. O. , S. 171.) 1 Diese Tatsache faßt Hubbert treffend zusammen als „Reduktion utopischer Inhalte und

Ziele auf die Innerlichkeit eines utopisch gestimmten Subjekts." (HUBBERT, a. a. O., S. 54.)

sinnvoll darstellen. Es handelt sich deswegen weniger um eine Rettung als viel-mehr eine Umwertung des Vergangenen.

Das hat auch Adorno kritisiert.9 Er konstatiert ein affirmatives, „undialek-tisches" Verhältnis Benjamins zur Vergangenheit.10 Seine eigene Theorie dage-gen ist negativ und zukunftsorientiert. Während für Benjamin die Erkenntnis bereits das Ziel ist, ist sie für Adorno erst der Anfang historischer Kritik und schließlich verändernder Praxis. Seine eigene Idee von Rettung beginnt mit der Kritik der Mechanismen von Vergesellschaftung und Totalisierung und der Aufdeckung der Beziehungen zwischen dem gesellschaftlichen Zustand und dem Stand des Bewußtseins. Die daraus resultierende Erkenntnis ist aber noch nicht die Rettung, sondern Voraussetzung für die Veränderung der Verhältnis-se. Die Utopie, der Zustand einer besseren Gesellschaft liegt in der Zukunft.11

Adorno hält am Fortschrittsbegriff fest, den Benjamin aufgehoben wissen möchte zugunsten einer Utopie der allumfassenden Erkenntnis. Rettung ist Benjamin zufolge „eine zyklische Form"12, weil in der messianischen Stillstel-lung des Geschehens alle historischen Momente synchronisiert werden, indem die zeitliche Sukzession irrelevant wird13 — und ebenso irrelevant muß für ihn die zeitliche Sukzession in dem sein, was auf die Utopie hindeutet. Sie wird nicht durch Veränderung in kleinen Fortschritten erreicht, sondern in augen-blickhaften, dem Zeitverlauf enthobenen Erkenntnismomenten vorweggenom-

14 men.

' Zu Adornos Benjamin-Kritik vgl. vor allem Susan BUCK-MORSS: The Origin of Negative Dialectics. Theodor W. Adorno, Walter Benjamin and the Frankfurt Institute. Hassocks, Sus-sex, 1977. - Außerdem: Rolf WIGGERSHAUS: Die Frankfurter Schule. Geschichte. Theoretische Entwicklung. Politische Bedeutung. München 1986.

10 Seine Kritik am affirmativen Charakter der Benjaminschen Philosophie hatte Adorno bereits in bezug auf Benjamins unter dem Einfluß Brechts vollzogene Wendung von der kriti-schen Negation zu revolutionärer Affirmation geäußert. (Vgl. auch BUCK-MORSS, a. a. O., S. 145.)

11 Bolz hat die Benjaminsche „Erlösung als ob", also die Reduktion der Erlösung auf Er-kenntnis, auch als gnostische bezeichnet und die messianische Utopie als „Apokatastasis", also Wiederherstellung einer ursprünglichen Einheit verstanden. (Norbert BOLZ: Erlösung als ob. Über einige gnostische Motive der Kritischen Theorie. In: Jakob TAUBES [Hg.]: Gnosis und Politik. München u. a. 1984, S. 272 ff., S. 288.) So treffend die Analyse von Bolz in vielen Punkten ist, so problematisch ist sie doch insofern, als sie diese Strukturen der „Kritischen Theorie" im Allgemeinen zuschreibt und die Differenzen zwischen Adorno und Benjamin nicht deutlich macht. Adorno geht es nicht um versöhnende Erkenntnis von Vergangenem, sondern um die Veränderung der Geschichte, um eine bessere Zukunft.

12 Brief Benjamins an Adorno vom 19.6.1938. In: BW, S. 337. 13 Daß diese zyklische Form der Rettung leicht als regressiv verstanden werden kann, gibt

Benjamin in seinem Brief an Adorno vom 19.6.1938 zu bedenken: „Das Bestimmende in der Rettung - nicht wahr? - ist niemals ein Progressives; es kann dem Regressiven so ähnlich sehen wie das Ziel, das bei Karl Kraus Ursprung heißt." (BW, S. 337.)

14 Auch daraus resultiert die marxistische Kritik an Benjamin: Seine Idee des erfüllten ge-genwärtigen Augenblicks, das Momentane, Flüchtige daran „sind der marxistischen Konstruk-

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Eine unkritische und allirmative Haltung Benjamins sieht Adorno auch in be-zug auf das Erkenntnissubjekt. Er faßt seine Benjamin-Kritik zusammen „unter dem Titel eines anthropologischen Materialismus, dem ich die Gefolgschaft nicht leisten kann."15 Adorno selbst hält auf dem Hintergrund seines eigenen Ver-suchs zur kritischen Rettung der Rationalität auch Benjamins undialektisches Verhältnis zur Erkenntnis für falsch, das sie als von der Erfahrung des Subjekts abhängig versteht, ohne ihre aus der Subjekt-Objekt-Dialektik resultierende Allgemeingültigkeit zu erfassen.16 Benjamins Lösungsversuch angesichts der an die Stelle der natürlichen Korrespondenzen getretenen Antinomie von Immer-gleichem und Neuem ist, die nicht mehr sinnlich wahrgenommenen Ähnlich-keitsbeziehungen wieder erfahrbar zu machen bzw. solche Ähnlichkeit synthe-tisch herzustellen und für ihre Wahrnehmung die Schockerfahrung des Neuen nutzbar zu machen. Dagegen geht es Adorno nicht nur in bezug auf die Kritik des Neuen auf dem Markt darum, die Verflechtungen zwischen Rationalität und den Herrschaftsverhältnissen in der realen gesellschaftlichen Entwicklung durch Kritik und Reflexion sichtbar zu machen. Er lehnt es ab, die für ihn ob-jektive Möglichkeit des Erkennens des Verblendungszusammenhangs verloren-zugeben.17 Das Einziehen der kritischen Distanz dagegen führt letzten Endes zu einer affirmativen Position. So ist auch das dialektische Bild für Adorno ein Bild, das erst noch entziffert werden muß, und nicht wie für Benjamin die qualitative Bestimmung des subjektiv erkannten historischen Augenblicks, also nicht bereits das Produkt eines auf den Erfahrungsmodi des modernen Sub-jekts beruhenden Erkenntnis- und Integrationsprozesses. Für Adorno sind dia-lektische Bilder, wie er in einem Brief an Benjamin schreibt, „keine gesell-schaftlichen Produkte, sondern objektive Konstellationen, in denen der gesell-schaftliche Zustand sich selbst darstellt. Infolgedessen kann dem dialektischen Bild niemals eine ideologische oder überhaupt soziale .Leistung' zugemutet werden."18 Daß das Benjaminsche Subjekt überhaupt noch in der Lage sein kann, die nötige Distanz zu dem dialektischen Bild als objektivem Abbild der universalen Vermittlung einzunehmen, bezweifelt Adorno. Denn wenn Er-kenntnis allein in den subjektiven Erfahrungen des Subjekts bestünde, das seine Erfahrungsmöglichkeiten den veränderten gesellschaftlichen Mechanismen an-

tion eines naturgeschichtlich zur Revolution führenden Geschichtsgangs entgegengesetzt." (HUBBERT, a. a. o . , s. 49.)

15 Brief Adornos an Benjamin vom 6.9.1936. In: BW, S. 193. 16 Wehling sieht darin die zwei Hauptrichtungen der Theorie der Moderne: zum einen die

Position, der es um den Rationalitätsanspruch der Moderne geht (Weber, Adorno), zum ande-ren die, der es um die gesellschaftlichen Erfahrungsformen von Modernität geht (Baudelaire, Simmel, Benjamin). (WEHLING, a. a. O., S. 17 ff.)

17 Vgl. auch Adornos Kritik daran, daß Benjamin an der Solidarität mit dem empirischen Bewußtsein der Arbeiter festhielt, was er dem Einfluß Brechts zuschrieb. (Vgl. auch BUCK-MORSS, a. a. O., S. 151.)

18 Brief Adornos an Benjamin vom 2.-4 . und 5.8.1935. In: BW, S. 145.

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gepaßt hätte, wäre die Einnahme einer kritischen Distanz von vornherein aus-geschlossen. Daraus resultiert nach Buck-Morss Adornos Hauptkritik:

„The constant theme of Adorno's criticism had been that Benjamin tended to eliminate the role of the active, critically reflective subject in the cognitive Process. [...] The problem, expressed in philosophical terms, meant that the subject was incapable of sufficient distance from the object to experience it dialectically".15

Die von Adorno geforderte „Radikalisierung der Dialektik"20 verlangt einen kritischen Umgang mit der Vergangenheit21 ebenso wie mit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit und eine Reflexion auf die Vermitteltheit der ei-genen Erkenntniskategorien mit ebendieser Realität22, und das betrifft auch den Begriff des Neuen. Denn gerade die aus der Erfahrung des Neuen resultierende Geistesgegenwärtigkeit war für Benjamin ja der Ausgangspunkt seiner Vorstel-lung von einer an den Erfahrungsmöglichkeiten der Moderne und damit an der Aktualität orientierten Erkenntnis.

In der Bewertung des falschen Neuen stimmen Adorno und Benjamin überein. Für Adorno ist das falsche Neue ähnlich wie für Benjamin ein von der Neuheit der Waren abgezogener Begriff, und es ist auch für ihn eine falsche Kategorie der Geschichtsschreibung. Das eigentlich Schlechte an ihm ist für Adorno aber, daß es nicht zum Fortschritt beiträgt, sondern die Verhältnisse konsolidiert, also ein Immergleiches ist und den Fortschritt behindert, während es so tut, als wäre es Fortschritt. Dagegen gilt für Adorno das als richtiges Neues, was zu einem gesellschaftlichen Fortschritt beiträgt.

Ähnlich wie Benjamin geht Adorno davon aus, daß das Neue als Gegenbe-griff zum Immergleichen entstanden ist. Das Neue ist qualitativ das Verschie-dene gegenüber dem Gleichen. Dabei übernimmt er zwar den Begriff des Im-mergleichen von Benjamin, dieser hat für ihn aber eine andere Bedeutung und einen anderen Stellenwert. So ist das Immergleiche für ihn auch eine objektive Tatsache und nicht wie für Benjamin vor allem ein Erkenntnisproblem und sub-jektive Projektion. Es gibt Immergleiches für Adorno erstens real in der Gesell-schaft, es ist zweitens auch eine Erkenntniskategorie, und drittens betrifft die Immergleichheit auch die Geschichte, allerdings nicht wie bei Benjamin in der Figur der ewigen Wiederkehr, sondern als Fortschrittslosigkeit, als Stagnation.

19 BUCK-MORSS, a. a. O. , S. 171. 20 Brief Adornos an Benjamin vom 2.-4 . und 5.8.1935. In: BW, S. 143. 21 So kritisiert Adorno an Benjamins Manuskript zur Passagenarbeit das „Aussparen der

Theorie" und die „staunende Darstellung der bloßen Faktizität". (Brief Adornos an Benjamin

vom 10 .11 .38 . In: Briefe 2, S. 786.) 22 So ist z. B. der „Fetischcharakter der Ware [...] keine Tatsache des Bewußtseins, son-

dern dialektisch in dem eminenten Sinne, daß er Bewußtsein produziert." (Brief Adornos an Benjamin vom 2.-4 . und 5.8.1935. In: BW, S. 139.)

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Immerglcichheit ist l i ir Adorno zunitcli.il ein Merkmal der Produkte und Pro-duktionsweisen der modernen Industrie. So sind für ihn im Gegensatz zu Ben-jamin die Massenprodukte real gleich, ebenso gibt es reale Gleichheit in der Or-ganisation der zeitl ichen Abläufe ihrer Produktion. Das Bedeutendwerden des Neuen ist entsprechend verknüpft mit der beginnenden Industrial is ierung und der Zunahme der Gleichheitserscheinungen in den Massenprodukten und Pro-duktionsbedingungen:

„Vom nachdrücklichen ästhetischen Begriff des Neuen sind die industriellen Verfahrungsweisen nicht wegzudenken, welche die materielle Produktion der Gesellschaft zunehmend beherrschen [...] Die industriellen Techniken jedoch, Wiederholung identischer Rhythmen und wiederholte Hervorbringung von Identischem nach einem Muster, enthalten zugleich ein dem Neuen konträres Prinzip."23

Die Hervorbringung von Neuem und die Suche nach Neuem sind Reaktionen auf diesen Zustand: „Im Kultus des Neuen und damit in der Idee der Moderne wird dagegen rebelliert, daß es nichts Neues mehr gebe."24 Die totale Durch-strukturierung der Gesellschaft führt dazu, daß jedes Individuum der Hetero-nomic der Gesellschaft mehr und mehr unterworfen ist. Die zunehmende Vor-herrschaft des Gleichen geht einher mit einer Verfest igung der Herrschaft des Allgemeinen.

Adornos zweite Best immung des Immergleichen ist eine erkenntnistheo-retische und entspricht weitgehend der Benjaminschen. Sie bezeichnet die scheinbare Gleichheit von Dingen und Ereignissen, die durch die Begriff l ich-keit der Sprache unterstel lt wird. Ein wichtiges Merkmal der Identitätsphiloso-phie, die auch noch die Hegeische Dialektik beherrscht, ist, daß sie ein ge-schlossenes System ist, das für Neues nicht offen ist, das nichts anderes zuläßt, das so tut, als stellte es ein ausreichendes Instrumentar ium zur Welterklärung zur Verfügung. Dieser Irrtum führt dazu, daß alles, was nicht in dieses System paßt, ausgeschlossen bleibt. Für das Andere kann das Identi tätsdenken keine Sprache haben.

Eine reale Gleichheit sieht Adorno aber nicht nur synchron, sondern auch diachron, und das ist die dritte Bedeutung von Immergleichheit bei Adorno: Es gibt keinen gesellschaftl ichen Fortschritt . Dabei ist die Fortschritts losigkeit der Gesellschaft vermittelt mit der Rationalitätsentwicklung, die in der idealisti-schen Identitätsphilosophie terminiert, die eine Veränderung, wirkl ichen Fort-schritt nicht zuläßt. Im „endlos Gleichen" ist nichts anderes zu sehen als der „Mythos selber", nämlich die mythisch gewordene Aufklärung.2 5

23 ÄT, S. 405. 24 MM, S. 269.

" ADORNO: Charakteristik Walter Benjamins. In: GS 10.1, S. 250. - Diese Auffassung des Immergleichen, die Adorno Benjamin zuschreibt, ist eine Bewertung in der Sprache der

93

Die Wahrheit in der Idee des Neuen ist für Adorno zu sehen in ihrer Erschei-nung als positiver Ausdruck des Ungenügens an den verschiedenen Gleich-heitserscheinungen. Das Neue hat sein Recht in seiner Funktion als krit ischer Impuls, sofern es als Korrektiv der Entwicklung hin zu immer mehr Gleichheit und Vergesel lschaftung verstanden werden kann:

„Die Immergleichheit der maschinenproduzierten Güter, das Netz der Verge-sellschaftung, das die Objekte und den Blick auf diese gleichermaßen einfängt und assimiliert, verwandelt alles Begegnende zum je Dagewesenen, zum zufäl-ligen Exemplar einer Gattung, zum Doppelgänger des Modells. Die Schicht des nicht schon Vorgedachten, des Intentionslosen, an der einzig die Inten-tionen gedeihen, scheint aufgezehrt. Von ihr träumt die Idee des Neuen."26

In diesen verschiedenen Negationen des Neuen sind auch die Vermitt lungen des Begriffs zu suchen. Wer vom Neuen spricht, muß seine Funkt ion im Ver-hältnis von Individuum und Gesellschaft, seine erkenntnistheoret ische Bedeu-tung und seine geschichtsphilosophischen Implikationen mitdenken. Dabei kommt es für Adorno nicht darauf an, die Antinomie zwischen dem Immer-gleichen und dem Neuen erkenntnistheoretisch aufzulösen, wie es Benjamin versucht hat, indem er eine dritte, zwischen diesen beiden Begriffen angesiedel-te Erkenntniskategorie, nämlich die der Ähnlichkeit propagierte. Statt dessen ist die Entwicklung und Entstehung des Neuen und des Immergle ichen zu un-tersuchen und ihre dialektische Beziehung zu klären. Das betr ifft auch die Au-genblickhaft igkeit des falschen Neuen, die Adorno zufolge nicht unkrit isch übernommen werden darf, sondern in ihrem dialektischen Verhältnis zur Dauer untersucht werden muß, das nicht ohne weiteres zugunsten des Augen-blicks entschieden werden kann.

Das Falsche am falschen Neuen ist für Adorno wie für Benjamin sein anta-gonistischer Charakter , der es schließlich zum Immergleichen macht. Sein Richtiges ist aber nicht seine Aktual ität , sondern daß es Ausdruck von Unge-nügen, von Kritik und Negation ist. Dieser Kritik, die alle drei Formen von Im-mergleichheit betr ifft , gilt es nachzugehen.27 Entsprechend unterscheidet sich

Dialektik der Aufklärung und bezeichnet nicht Benjamins Verständnis des Immergleichen, denn

für ihn war dies - wie in den vorangegangenen Kapiteln gezeigt - bezogen auf die Geschichte

keine der Realität entsprechende Kategorie, sondern die Phantasmagorie der Wiederkehr des

Gleichen. 26 MM, S. 269. 27 Den unterschiedlichen Umgang mit dem Neuen hat auch Bürger mit Bezug auf die

Kunstauffassungen Benjamins und Adornos gesehen: „Während Brecht und Benjamin beim

.schlechten Neuen' ansetzen und die vorwärtsweisenden Momente einer durch die Dynamik des

Kapitalismus (Brecht) bzw. der technischen Entwicklung (Benjamin) erzwungenen Verände-

rung im Bereich der Kunst aufzusuchen sich bemühen, geht es Adorno zunächst einmal um die Kritik eben dieser Entwicklung." (Peter BÜRGER: Kunstsoziologische Aspekte der Brecht-Ben-

jamin-Adorno-Debatte der 30er Jahre. In: ders. [Hg.]: Seminar: Literatur- und Kunstsoziologie. Frankfurt am Main 1978, S. 18.)

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mich Adornos wahrhaft Neues von dem wiilirlmli Neuen Benjamins. Während es für Benjamin eine Kategorie der richtigen Erkenntnis ist, das Bild der aktuel-len, für den gegenwärtigen historischen Augenblick geltenden Ähnlichkeitsver-hältnisse, ist es für Adorno richtige Negation. Im Gegensatz zu Benjamin hält er aber auch an dem Begriff eines absolut Neuen, den er von Baudelaire über-nimmt, fest. Es ist für ihn als Negation der Totalität des Bestehenden die Uto-pie, an der auch das wahrhaft Neue als Element des wahren Fortschritts teilhat. Benjamins wahrhaft Neues ist ein von der Vergangenheit bestimmtes Neues, dessen Neuheit temporal in seiner Aktualität und qualitativ in seiner neuen Konstellation besteht. Seine Funktion ist die Rettung des Vergangenen, histori-sche Erkenntnis. Für Adorno hingegen ist das wahrhaft Neue bestimmte Nega-tion des Gegenwärtigen und Vergangenen sowie Methexis an der Utopie (eines absolut Neuen). Es steht qualitativ zwischen dem falschen Bestehenden und der Utop le. Sein temporaler Aspekt ist bei Adorno abhängig vom qualitativen und nicht an den Zeitablauf gebunden; auch Vergangenes kann neu sein. Seine Funktion ist Kritik und - in der Kunst - negative Darstellung der Möglichkeit eines Anderen.

Dagegen ist Benjamins Kunstbegriff aus Adornos Sicht ebenso affirmativ wie seine Erkenntnistheorie. Während Kunst für Adorno ein Gegenprogramm, immer (negative) Negation des Bestehenden ist, stellt sich Benjamin zufolge die Kunst auf die Veränderungen der Erfahrungswelt ein. So hatte er in dem Aufsatz Erfahrung und Armut vom 1933 sogar versucht, das falsche Neue posi-tiv zu wenden und für die Kunst fruchtbar zu machen, indem er aus dem Er-fahrungsmangel der Moderne die Notwendigkeit eines „positiven Barbaren-tums"28, eines absoluten Neuanfangs in der Kunst ableiten wollte, in dem an die Stelle von Erfahrung ein von der Vergangenheit unabhängiges Neues treten sollte:

»Erfahrungsarmut: das muß man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten. Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizu-kommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt , in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen kön-nen, daß etwas Anständiges dabei herauskommt."29

Von diesem Neuanfang in der Kunst ist später keine Rede mehr. Im Kunst-werkaufsatz will Benjamin die Kunst aber noch insoweit an die Erfahrungs-möglichkeiten des modernen Menschen angepaßt sehen, als sie sich an der am Neuen geschulten Geistesgegenwart der Rezipienten orientiert, und bewertet

21 BENJAMIN: Erfahrung und Armut. In: GS II, S. 215. - Vgl. dazu Burkhardt LINDNER: Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie. Benjamins „Positives Barbarentum" im Kontext. In: ders. (Hg.): „Links hatte noch alles sich zu enträtseln...". Walter Benjamin im Kontext. Frankfurt am Main 1978, S. 180-223.

29 Ebd., S. 218.

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entsprechend die neuen Techniken wie den Film positiv. Der Grund dafür ist, daß er „in den technologischen Veränderungen der Produktions- und Apper-zeptionsbedingungen ein Widerspruchspotential sieht, das der Indienstnahme der neuen Medien durchs Kapital entgegengesetzt werden kann."30 Während Adorno Benjamin in der Beschreibung der veränderten Rezeptionshaltung fol-gen kann31 - er nennt sie bezogen auf die Musik beispielsweise „Regression des Hörens" 3 2 - , ist ihm zufolge eine Anpassung an diese Wahrnehmungsmög-lichkeiten der Beginn der massenbeherrschenden Kulturindustrie, die nicht zur Veränderung, sondern zur Konsolidierung der gesellschaftlichen Verhältnisse beiträgt. Auch die in Benjamins späteren Schriften mehr und mehr zutage tre-tende Auffassung von der Kunst als Rettung des Vergangenen - analog zur Ar-beit des Historikers - kann nicht Adornos Zustimmung finden. Wie Lindner plausibel darlegt, ist an Benjamins Schriften zur Kunsttheorie die Objektivität der seit dem 19. Jahrhundert auftretenden „Spaltung zwischen dem Innovati-onszwang der Kunstproduktion und der historischen Musealisierung der über-lieferungswürdigen Kunstgüter" ablesbar: „einerseits formuliert er Thesen-Texte, die den Traditionsbruch der Avantgarden radikal weitertreiben; anderer-seits stellt er dem Historismus eine emphatische Aktualisierung des Besonde-ren entgegen, die sich in subtilen Essays artikuliert."33 In den späteren Schriften Benjamins liegt das Augenmerk eindeutig auf der zwar aktualisierenden, jedoch vor allem bewahrenden Intention der Kunst. Außer in den Werken Prousts hatte Benjamin bereits im Surrealismus mit dem Prinzip der Rettung des Ver-gangenen durch aktualisierte Neukonstellierung in der Montage und mit den Techniken der Sichtbarmachung des Unbewußten, Vergessenen, Verdrängten seine Idee der Struktur historischer Erkenntnis realisiert gefunden. Auch diese Übereinstimmung zwischen seinen eigenen und künstlerischen Techniken, die Gleichstellung der Arbeit des Historikers mit der des Künstlers war einer der Kritikpunkte Adornos in seinem Kommentar zum Konstruktionsprinzip des Baudelaire-Aufsatzes.34 Für Adorno muß die Theorie über die Ansammlung von Fakten hinausgehen, indem sie sie dialektisch durchdringt, und in der Äs-thetik muß das kritische Potential der Kunst hervorgehoben werden.

In seiner eigenen Dechiffrierung der Kunst der Moderne zielt Adorno nicht darauf ab, konkrete gesellschaftliche oder historische Bestimmungen

30 LINDNER: Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie, a. a. O., S. 200. 31 Vgl. dazu: BÜRGER: Kunstsoziologische Aspekte der Brecht-Benjamin-Adorno-Debatte

der 30er Jahre, a. a. O., S. 16 ff. 32 ADORNO: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In:

GS 14, S. 14 -50 . 33 LINDNER: Technische Reproduzierbarkeit und Kulturindustrie, a. a. O., S. 190. 34 Indem er davon ausging, daß Proust und surrealistische Techniken Vorbilder der Benja-

minschen Verfahrensweise waren, die für ihn ihren Gegenstand zu wenig reflektierte, zu wenig kritisch war: „Es werden Motive versammelt aber nicht durchgeführt." (Brief Adornos an Ben-jamin vom 10.11 .1938. In: Briefe 2, S. 783.)

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sichtbar zu machen. Vielmehr geht es ihm durum, das dialektische Verhältnis offenzulegen, das zwischen den Polen von Individuum und Gesellschaft, Frei-heit und Herrschaft, Besonderem und Allgemeinem, Rationalität und Mimesis, Identischem und Nichtidentischem, Statik und Dynamik usw. besteht. Inner-halb dieser verschiedenen dialektischen Beziehungen hat das richtige Neue als zentrale Kategorie der negativen Dialektik, nämlich als Kategorie des Um-schlags und des Ubergangs, eine wichtige Funktion. Es ist zum einen Kritik bzw. Negation eines Bestehenden, zum anderen verbürgt es die Möglichkeit ei-nes Anderen. Das betrifft sowohl die gesellschaftlichen Verhältnisse als auch das herrschende Bewußtsein und die Geschichte. So negiert es das ganze Un-wahre einschließlich seiner Ganzheit und hält die Möglichkeit des utopischen absolut Neuen offen. Es ist Negation und Utopie in einem. Ob dabei nun -wovon Werckmeister35 ausgeht — die Negativität entscheidend ist oder ob — wie Osterkamp36 annimmt - die Negativität der Utopie nachgeordnet ist, im Neuen trifft beides zusammen.

Im folgenden soll zunächst ausgeführt werden, wie Adorno das richtige vom falschen Neuen unterscheidet, inwiefern Neuheit zentraler Begriff seiner Dialektik ist und warum er am Begriff des absolut Neuen festhält. Auf diesem Hintergrund kann dann sein Verständnis des Neuen in der Kunst - dem „Mi-krokosmos der antagonistischen menschlichen Verfassung"37 — differenziert be-schrieben werden.

35 Ot to Karl WERCKMEISTER: Das Kunstwerk als Negation. Zur geschichtlichen Bestim-

mung der Kunsttheorie Theodor W . Adornos. In: ders.: Ende der Ästhetik. Frankfurt am Main

1971, S. 7 -32 . 54 Ernst OSTERKAMP: Utopie und Prophetie. Überlegungen zu den späten Schriften Wal-

ter Benjamins. In: Gerd UEDING (Hg.): Literatur ist Utopie. Frankfurt am Main 1978, S. 104. 37 PM, S. 124.

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I. D A S N E U E A U F D E M M A R K T

In der bisherigen Forschung zur Gesellschaftstheorie Adornos wurden zwar die Kategorien von Totalität und Gleichheit in ihrem Bezug zur Marxschen Aquivalenztheorie und dem Identitätsprinzip bei Hegel ausgiebig beschrieben und diskutiert,1 erstaunlicherweise wurde das Neue in diesem Zusammenhang aber bisher so gut wie gar nicht berücksichtigt, obwohl es der Gegenbegriff zum Immergleichen ist.2 Auch wenn es um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geht, bleibt das Neue ausgespart, was deswegen verwunderlich ist, weil das Neue für Adorno explizit Ausdruck der Spannung zwischen Indivi-duum und Gesellschaft ist.3 Das gilt sowohl für das Neue als Sensation und nouveaute auf dem Markt als auch für das Neue in der Kunst. Das Neue fun-giert dabei zunächst als Korrektiv der gesellschaftlichen Immergleichheit, d. h. des immer engmaschiger werdenden Netzes der Vergesellschaftung. Es dient damit den Interessen des Individuums, das sich der Ubermacht des Allgemei-nen zu erwehren sucht. Diese Macht des Allgemeinen liegt in seiner unerbittli-chen Geltendmachung des Gleichheitsprinzips. Was Adorno darunter versteht, sei hier — soweit es Voraussetzung für die Beschreibung der Funktion des Neuen ist - zunächst noch einmal kurz skizziert.

Die Kategorie der Gleichheit ist nach Marx Voraussetzung für das Entste-hen einer Warenwirtschaft, in der „die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiedenen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit"4 erhalten. Diese Gleichheit ist natürlich nur eine scheinbare. Problematisch ist jedoch, daß die Scheinhaftigkeit von den Produ-

1 Z. B. Hermann SCHWEPPENHÄUSER: Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation. Über Adornos soziale Individuationstheorie. In: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 57 (1971) 1, S. 9 1 - 1 1 5 . - Matthias TLCHY: Theodor W. Adorno. Das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in seiner Philosophie. Bonn 1977. - Hans-Hartmut KAPPNER: Adornos Refle-xionen über den Zerfall des bürgerlichen Individuums. In: Heinz Ludwig ARNOLD (Hg.): Theodor W. Adorno. Sonderband der Reihe Text + Kritik. München 1977, S. 44 ff. - Burkhardt LINDNER: Herrschaft als Trauma. Adornos Gesellschaftstheorie zwischen Marx und Benjamin. In: ARNOLD (Hg.): Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 72 ff. - Christel BEIER: Zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Erkenntnistheorie. Untersuchungen zum Totalitätsbegriff in der kritischen Theorie Adornos. Frankfurt am Main 1977. - A lo ALLKEMPER: Rettung und Utopie. Studien zu Adorno. Paderborn u. a. 1981. - Ute GUZZONI: Identität oder nicht. Zur Kritischen Theorie der Ontologie. Freiburg, München 1981 , S. 2 9 - 1 2 7 . - SCHMIDT: Begriff des Materia-lismus bei Adorno, a. a. O., S. 1 4 - 3 1 . - Carl BRAUN: Zentrale philosophiegeschichtliche Vor -aussetzungen der Philosophie Theodor W. Adornos. In: Jürgen NAEHER (Hg.): Die negative Dialektik Adornos. Opladen 1984, S. 3 1 - 5 8 . - Anke THYEN: Negative Dialektik und Erfah-rung: zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno. Frankfurt am Main 1989.

Vage Andeutungen in diese Richtung finden sich bei BRUNKHORST: Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 15—36.

3 ÄT, S. 38. 4 MARX: Das Kapital, a. a. O., S. 87.

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/.einen nicht nur nicht erkannt wird, sondern auch auf ihre eigene Arbeit über-tragen wird. Das universale Tauschprinzip der Warengesellschaft ist die Entfal-tung des Identitätsprinzips - des maßgeblichen Kennzeichens der Aufklärung (im Sinne der Dialektik der Aufklärung) - , das ebenfalls nichts außerhalb seiner zuläßt. In ihm ist jedes Individuum gefangen, es beherrscht die politischen und die Machtstrukturen der Gesellschaft. Darin wird jedes Individuum reduziert auf seine Funktion in der Gesellschaft, die in austauschbarer Arbeitsleistung gemessen wird. Das, was an ihm unverwechselbar ist, was seine Individualität ausmacht, ist gesellschaftlich gesehen uninteressant. Gesellschaftliche Hetero-nomie unterdrückt das Individuum, das dadurch nicht nur nicht als Besonderes wahrgenommen wird, sondern gezwungen ist, sich in einer bestimmten, gesell-schaftlich präformierten Weise zu verhalten, und damit real gleichgeschaltet wird.

Die anhaltende Herrschaft des Gruppengeistes ist für Adorno „Memento dessen, wie wenig in der Geschichte an der Gewalt des Allgemeinen sich än-derte, wie sehr sie stets noch Vorgeschichte ist."5 Das Prinzip der Herrschaft selbst wird nach der Dialektik der Aufklärung erst mit der Emanzipation des Subjekts virulent.6 Indem sich der Mensch außerhalb der Natur stellt, die Na-tur als zu beherrschendes Objekt auffaßt, entfremdet er sich nicht nur von dem, worüber er Macht ausübt, sondern läuft Gefahr, selber zum Objekt zu werden. Diese Entfremdung war nach Benjamin die Grundlage für die Fehl-entwicklung der Erkenntnis und den Erfahrungsverlust. Diesem Argument folgt auch Adorno: „Der eine Unterschied zwischen eigenem Dasein und Reali-tät verschlingt alle anderen."7 Die allererste Annahme einer Verschiedenheit zieht das Denken in nivellierenden Aquivalenzkategorien, mit denen die Ob-jekte belegt werden, nach sich. Dabei ist die Idee des Subjekts selber bereits eine nivellierende Reduktion der Aufklärung: „Die vielen mythischen Gestalten lassen sich der Aufklärung zufolge alle auf den gleichen Nenner bringen, sie re-duzieren sich auf das Subjekt."8 In Wahrheit ist nach Adorno das, „was als Ich sich selber setzt [...] bloßes Vorurteil, die ideologische Hypostase der abstrak-ten Zentren von Beherrschung"9. Aber erst dadurch können die Subjekte zu analysierbaren Objekten werden. Die daraus resultierende Vertretbarkeit und Austauschbarkeit der Menschen untereinander, die tendenziell zur Liquidation von Individualität führt, läßt im Gegenzug das Subjekt erstarken. Damit steigt die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, die darin besteht, daß

5 ND, S. 303. 6 DA, S. 25. 7 DA, S. 24. 8 DA, S. 22 -3 ' M M , S. 71.

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beide einander bedürfen und sich doch widersprechen.10 Ohne das Individua-tionsprinzip ist die Tauschgesellschaft nicht denkbar, „weil das Prinzip der Tauschgesellschaft nur durch die Individuation der einzelnen Kontrahenten hindurch sich realisierte"11. Gleichermaßen braucht in der arbeitsteiligen Welt das Individuum die Gesellschaft. Umgekehrt aber wehrt sich das Individuum dagegen, auf seine Funktion in der Gesellschaft reduziert zu werden, will also mehr sein, während es von der Gesellschaft aus gesehen nur in seiner Funktion für das Ganze interessant ist. Diese Spannung findet einen Ausgleich im „Schein der individualistischen Gesellschaft"12.

Im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft gebührt dem Individuum der Vorrang, denn allein das Individuum

„bewahrt in wie immer auch entstellter Weise die Spur dessen, was aller Tech-nifizierung ihr Recht verleiht, und wovon diese doch zugleich selber das Be-wußtsein sich abschneidet. Indem der losgelassene Fortschritt als nicht unmit-telbar identisch mit dem der Menschheit sich erweist, vermag sein Gegenteil dem Fortschritt Unterschlupf zu gewähren."13

Dem „historisch veralteten" Individuum14 kommt gegen den zunehmenden Kollektivismus das Attribut des wirklichen Fortschritts zu. „Nur durch dies Extrem von Differenzierung, Individuation hindurch, nicht als umfangender Oberbegriff ist Menschheit zu denken."15

Zu seinem Recht kommt das Besondere, das Individuelle im Neuen. Quantitativ und damit auch qualitativ ist das Neue seiner Idee nach das Beson-dere, das sich von dem Allgemeinen unterscheidet. Es vertritt das individuali-stische Prinzip, das die Antinomie zu der universalen Verallgemeinerungs- und Vergesellschaftungstendenz bildet. Deswegen ist das Neue von Adorno zu-nächst auch uneingeschränkt positiv bewertet. In der Suche nach dem Neuen zeigt sich die Sehnsucht nach Differenz, Unaustauschbarkeit, Individualität. So ist Adornos Auffassung zu verstehen, daß die „Spannung des Individuums zur Gesellschaft [...] einmal die Kategorie des Neuen zeitigte"16. Neues steht inso-fern für die Rettung des Individuellen, für die „Rettung der Qualitäten"17 ein,

10 Darin unterscheidet sich Adorno von Hegel, wie u. a. Schmidt konstatiert hat: Während Hegel das Individuum hypostasiert, „möchte Adorno die Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft voll austragen." (Alfred SCHMIDT: Adorno - ein Philosoph des realen Humanis-mus. In: Hermann SCHWEPPENHÄUSER [Hg.]: Theodor W. Adorno zum Gedächtnis. Eine Sammlung. Frankfurt am Main 1971, S. 52-75.)

11 ND, S. 336. 12 ND, S. 278. 13 MM, S. 147. 14 Ebd. 15 F, S. 627. 16 MM, S. 272. , 7 MM, S. 271.

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ills cs die Idee der Möglichkei l , sich der Nivellierung zu entziehen, vertritt. Nach Adorno ist das Neue der Ort , in dem die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft unmittelbar zum Vorschein kommt: Für ihn „schürzt im Neuen sich der Knoten von Individuum und Gesellschaft"18 .

Die Konjunktur des Neuen als Statthalter des Individuellen, Besonderen beruht auf dem gleichen Mechanismus, den Adorno für die Entstehung der Idee der Echtheit beschrieben hat:

„Die Entdeckung der Echtheit als letzten Bollwerks der individualist ischen Ethik ist ein Ref lex der industriel len Massenprodukt ion. Erst indem unge-zählte standardisierte Güter um des Profi ts willen vorspiegeln, ein Einmaliges zu sein, bildet sich als Antithese dazu, doch nach den gleichen Kriterien, die Idee des nicht zu Vervielfält igenden als des eigentlich Echten. Vorher dürfte geistigen Gebilden gegenüber die Frage nach Echtheit so wenig gestellt wor-den sein, wie die nach Original ität , welche noch der Ära Bachs unbekannt war. Der Trug der Echtheit geht zurück auf die bürgerl iche Verblendung dem Tauschvorgang gegenüber."19

Qualitativ versteht Adorno das Neue also zunächst ganz al lgemein als ein im Gegensatz zum Immergleichen und Allgemeinen Verschiedenes, Besonderes. Wie Benjamin begreift er die zunehmende Schätzung von Besonderem, das Aufkommen von „Spezialitäten" und nouveautes als notwendige Reakt ion auf die Nivel l ierungstendenzen in der Warenproduktion, die, je mehr die Logik der Warenökonomie die gesellschaftl ichen Strukturen best immt, auch das Indivi-duum immer stärker erfassen und unterordnen. Ähnliches gilt für die Flucht in das „Glücksversprechen im Luxus", der die „Utopie des Qual i tat iven" vertritt , dessen, „was vermöge seiner Differenz und Einzigkeit nicht eingeht ins herr-schende Tauschverhältnis."20

Während für Benjamin Neuheit ebenso wie Immergleichheit nur ein Zei-chen für Verblendung und Anpassung an die Verhältnisse der Warenwirtschaft ist, ist die Idee des Neuen für Adorno auch Verweis auf die Utopie einer herr-schaftslosen Gesellschaft, eines von Heteronomie befreiten Subjekts. Dabei trägt die nouveaute selber freil ich nichts zur Realisierung eines solchen utopi-schen Zustandes bei. Im Gegenteil :

„Zweideutig ist das Neue seit seiner Inthronisierung. Während in ihm alles sich verbindet, was über die Einheit des immer starrer Bestehenden hinaus-drängt, ist es die Absorpt ion durchs Neue zugleich, die unterm Druck jener Einheit den Zerfall des Subjekts in konvulsivische Augenbl icke , in denen es zu

18 ÄT, S. 38. " MM, S. 177. - Den von Adorno hergestellten Zusammenhang zwischen den nivellieren-

den Äquivalenzkategorien und der Restitution der Echtheit hat auch Schweppenhäuser gesehen. Daß die Konjunktur des Neuen eine ähnliche Funktion hat, ist ihm aber entgangen. (SCHWEPPENHÄUSER: Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation, a. a. O., S. 106, 110 f.)

20 MM, S. 136.

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leben wähnt, aiitmliculond befördert, und damit schließlich die totale Gesell-schaft, die neumodinch das Neue austreibt."21

Die nouveauti bestärkt das, was sie negiert, nämlich das Äquivalenzprinzip des Tausches und die daraus resultierende Vorherrschaft des Al lgemeinen gegen-über dem Besonderen. Die Neuheit , ihrer Idee nach die Negat ion der Gleich-heit und damit des Tausches, wird selber in den Tauschprozeß hineingenom-men und instrumental isiert . Die kapitalistische Warenwirtschaft profit iert von der Dynamik des Neuen, die nach der ihr zugrundel iegenden Idee der Gleich-heit des Tausches gar nicht möglich wäre. Sie braucht die Ungerecht igkei t des Tauschs.22 Diese ist nach der Logik der Warenökonomie für die dynamische Entwicklung der Wirtschaft notwendig und befördert die Verfest igung der Pro-duktionsverhältnisse.

„Nouveaute ist [...] die [...] Marke der Konsumgüter , durch welche sie v o m immergle ichen Angebot sich unterscheiden, anreizen, fügsam dem Verwer-tungsbedürfnis des Kapitals, das, wofern es sich nicht expandiert, in der Zirku-lationssprache: etwas Neues bietet, ins Hintertreffen gerät. Das Neue ist das ästhetische S ignum der erweiterten Reproduktion, auch mit deren Verspre-chen ungeschmälerter Fülle."23

Mit der Konsumtion von Neuem wird die ökonomische Entwicklung in Gang gehalten. Neues, das das Versprechen von Einzigkeit ist, dient in Wahrheit da-durch, daß es den Prozeß der Warenzirkulat ion in Gang hält und beschleunigt , der Ausweitung des Tauschprinzips und der Total is ierung der Gesellschaft und damit der Unterdrückung des Individuums.

Das Neue auf dem Markt mag seine Wahrheit darin haben, daß es eine hi-storische Tendenz zeigt: das Bedürfnis nach Neuem, Anderem, Unabgegr i f fe-nem — unabhängig davon, ob es sich wirklich von der Massenprodukt ion unter-scheidet - ; daß es sich jedoch keinesfalls um etwas wirkl ich Anderes, außerhalb des immergleichen Tauschzusammenhanges Stehendes handelt, zeigt sich dar-an, daß es weder seinen Warencharakter leugnen kann noch außerhalb des Zu-sammenhanges der Zweckrationalität steht. Es ist nicht für sich selbst, sondern für anderes, es unterl iegt der Zweckmäßigkeit und damit der Heteronomie.

Es ist für Adorno deswegen falsch, weil es den Verwertungsgesetzen des Kapitals unterl iegt und das kapitalistische System gerade darin stützt , daß es die Möglichkeit von Neuheit vorspiegelt. Zum Falschen wird es durch seine In-strumental is ierung und Verdinglichung, die gerade dem Individuellen zuwider-

21 MM, S. 270-1. 22 Im Tauschgeschäft wäre Adorno zufolge die Gleichheit richtig und gerecht. Doch ge-

rade im Tausch, von dem die Kategorie der Gleichheit abgeleitet ist, gibt es die Gleichheit nicht. Vgl. dazu: Helga GRIPP: Theodor W. Adorno. Erkenntnisdimensionen negativer Dialektik. Pa-derborn u. a. 1986, S. 109 f.

23 ÄT, S. 39.

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liuilt: „Zum bloß Bösen wird das Neue erst durch die totalitäre Zurichtung, in der jene Spannung des Individuums zur Gesellschalt sich ausgleicht, die einmal die Kategorie des Neuen zeitigte."24 Für Adorno falsch an dieser Konstruktion ist, daß in diesem Spannungsausgleich die Gesellschaft als das allgemeine Prin-zip den Sieg davonträgt. Denn das Individuelle kommt nur scheinbar zu seinem Recht. Das Neue auf dem Markt ist in seiner abstrakten und verdinglichten Form eine Scheinbefriedigung des individualistischen Bedürfnisses. In Wahr-heit dient es als kollektiver Mechanismus dem Ausgleich der Spannung zwi-schen Individuum und Gesellschaft, indem es am Ende das Individuum dem „Gruppengeist" und den Verwertungsmechanismen der kapitalistischen Pro-duktion unterwirft. Als scheinbares Gegengewicht zum Immergleichen schafft das Neue die Illusion von Individualität, funktionalisiert diese jedoch. Das gilt für die Produkte der Kulturindustrie genauso wie für alle anderen nouveautes auf dem Markt:

„Was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt, das unablässig Neue, das sie offeriert, bleibt die Umkleidung eines Immergleichen; überall verhüllt die Abwechslung ein Skelett, an dem so wenig sich änderte wie am Profitmotiv selber, seit es über Kultur die Vorherrschaft gewann. [...] Jedes Produkt gibt sich als individuell; die Individualität selber taugt zur Verstärkung der Ideolo-gie, indem der Anschein erweckt wird, das ganz Verdinglichte und Vermittelte sei eine Zufluchtsstätte von Unmittelbarkeit und Leben."25

Das Unbehagen an der Gesellschaft, am Allgemeinen ist in der nouveaute zur konformistischen Scheinbefriedigung des Individuationsbedürfnisses, zum fal-schen Genuß umgewandelt. Daß sich die Menschen mit dieser Scheinbefriedi-gung zufriedengeben, zeigt, wie sehr die Idee des Individuellen, die Vorstellung von der eigenen Besonderheit, bereits verkümmert ist. Die Stärkung des Indivi-duationsprinzips, die steigende Betonung der Selbstbehauptung gegenüber dem Allgemeinen verläuft parallel mit der Unterdrückung der eigenen inneren Na-tur und damit der Möglichkeit, individuelle Erfahrungen zu machen - für Adorno eine regressive Entwicklung. Das Gefühl dafür, was wirklich individu-ell, persönlich, einzig wäre, ist verlorengegangen. Der Grund dafür liegt darin, daß auch die Individuation dann, wenn sie zu einem Prinzip erhoben wird, wie-der umschlägt in die Herrschaft des Allgemeinen. Das Individuationsprinzip selber ist als Prinzip falsch. In seiner Totalisierung fällt es mit dem Allgemein-heitsprinzip zusammen.

„Die Individuen, das alte Substrat der Psychologie, sind vermöge des Indivi-duationsprinzips selbst, der monotonen Beschränkung jedes Einzelnen aufs partikulare Interesse, auch einander gleich und sprechen demgemäß auf die herrschende abstrakte Allgemeinheit an, als wäre sie ihre eigene Sache. [...]

24 MM, S. 272. 25 ADORNO: R6sum£ über Kulturindustrie. In: GS 10.1, S. 339.

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Umgekehrt im iU» Allgemeine, dem sie sich beiiKen, ohne on noch /.vi spüren, derart auf sie '/.ugonchniuen, appelliert so wenig mehr an das, was ihm in ihnen nicht gliche, daß sie sich frei und leicht und freudig binden."26

Zum Funktionieren dieses Mechanismus trägt das Neue auf dem Markt bei. Es ist auf die Individuen insofern zugeschnitten, als es als Erfüllung der partikula-ren Interessen und Bedürfnisse auftritt. In dieser Funktion ist es selber zum Allgemeinen geworden, so daß das Subjekt, das sich von dem auf dem Markt angebotenen Neuen täuschen läßt, sich selbst um das Individuelle betrügt und dem Allgemeinen unterwirft:

„Heute ist das Ansprechen aufs Neue, gleichgültig gegen seine Art, wofern es nur archaisch genug ist, universal geworden, das allgegenwärtige Medium der falschen Mimesis. Die Dekomposition des Subjekts vollzieht sich durch des-sen sich Uberlassen ans immer andere Immergleiche. Von diesem wird alles Feste aus den Charakteren gesaugt."27

Darin stimmt das Neuheitsprinzip als Rettungsversuch des Besonderen mit dem Individualitätsprinzip überein. Auch das Neue muß scheitern, wenn es hypostasiert wird. Die Abstraktheit des Neuen läuft dem, was nach Adorno wahr am Neuen wäre, nämlich eine qualitative Differenz vom Immergleichen zu bieten, völlig entgegen. „Die gewalttätige Rettung der Qualitäten im Neuen war qualitätslos."28 Das Neue, das angetreten war, die Qualitäten des Indivi-duums gegenüber der nivellierenden Heteronomie der Gesellschaft zu retten, ist selber dem Verwertungszwang der Warenökonomie unterlegen, es wurde verdinglicht, entqualifiziert. Doch es scheitert dabei nur halb. Denn von den Konsumenten wird es so weit akzeptiert, daß es die Spannung zwischen Gesell-schaft und Individuum aufheben kann.

Der Verlust der Qualität bedeutet den Verlust von Urteilsmöglichkeit. Das abstrakt Neue wird nicht als qualitative Differenz wahrgenommen, d. h. es ist nur wichtig, daß es irgendwie anders ist, was anders daran ist und wie dieses andere zu beurteilen wäre, ist uninteressant. Das „kometenhaft ferngerückte, extrem Neue"29 ist nichts als eine Sensation, deren Inhalt gleichgültig ist:

„Alles kann, als Neues, seiner selbst entäußert, Genuß werden, so wie abge-stumpfte Morphinisten wahllos schließlich zu allen Drogen, auch zu Atropin, greifen. Mit der Unterscheidung der Qualitäten geht in der Sensation jedes Urteil unter: das eigentlich läßt diese zum Agens der katastrophischen Rück-bildung werden."30

26 ND, S. 342. 27 MM, S. 272. 28 MM, S. 271. 29 Ebd. 30 MM, S. 271 -2 .

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In .seiner verdinglichten Form kann es als Werl uui i re len und massenhaft pro-duziert werden. Das Neue als Konsumgut wird „um seiner selbst wil len ge-sucht" und zur Befriedigung dieser Suche „gewissermaßen im Laboratorium hergestellt", es ist „zum begriffl ichen Schema verhärtet"31 und wird zum Schlagwort der Reklame. Dabei bietet das Neue nur eine Scheinbefr iedigung, es täuscht das Individuum über seine Unfähigkeit , Erfahrungen zu machen, hin-weg. Das Neue setzt sich „anstelle des gestürzten Gottes im Angesicht des er-sten Bewußtseins vom Verfall der Erfahrung. Aber sein Begriff bleibt im Bann ihrer Erkrankung, und davon legt seine Abstraktheit Zeugnis ab, ohnmächtig der entgleitenden Konkretion zugekehrt."32 Und darin liegt eine weitere Wahr-heit des Neuen. Es spiegelt nicht nur das Spannungsverhältnis von Indiv iduum und Gesellschaft, sondern ist in seiner verdinglichten abstrakten Form ein Symptom für die Veränderungen menschlicher Erfahrungsfähigkeit .

In diesem Punkt adaptiert Adorno die Benjaminsche Theorie, wie der Ab-schnitt „Extrablatt" in Minima Moralia zeigt. Als Sensation ist das Neue zu der „Formel"33 geworden, unter der überhaupt noch ein sinnlicher Reiz, im Extremfall als Schock, wahrnehmbar ist:

„Überhaupt noch etwas wahrnehmen können, unbekümmert um die Qualität, ersetzt Glück, weil die allmächtige Quantifizierung die Möglichkeit von Wahrnehmung selber weggenommen hat. Anstelle der erfüllten Beziehung der Erfahrung auf die Sache ist ein bloß Subjektives und zugleich physikalisch Iso-liertes getreten, Empfindung, die sich im Ausschlag des Manometers er-schöpft."34

Wie für Benjamin geht für Adorno die Menschheitsentwicklung als Fortschritt in der Herrschaft der Menschheit über die Natur, der Gesellschaft über die In-dividuen und des einzelnen über seine innere Natur einher mit einer Entfrem-dung des jeweils Herrschenden vom Beherrschten. Das hat zur Folge, daß das verdinglichte Bewußtsein den Unterschied zwischen dem, was das Beherrschte ist, und dem, was es aus ihm gemacht hat, nicht mehr erkennen kann. Dies ist der Ursprung des Fetischcharakters: „Selbstgemachtes wird zum An sich, aus dem das Selbst nicht mehr hinausgelangt; im dominierenden Glauben an Tatsa-chen als solche, in ihrer positiven Hinnahme verehrt das Subjekt sein Spiegel-bild."35 Auch im Fetisch des Neuen spiegelt sich das Subjekt. Das Neue ist nach dem Muster der Ware ein Fetisch, der „die Sterilität des Immergle ichen" mit sich führt36 und dessen Qualität irrelevant ist. Als ebenso abstrakte Idee wie die des Individuums ist sein Bezug zum Einzelsubjekt rein quantitativ, und

51 MM, S. 270. 32 MM, S. 269. 33 Ebd. " MM, S. 269-70 . 55 ND, S. 339.

MM, S. 178.

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es kann deswegen kollektiv wirken: Das extrem Neue „überwältigt das Publi-kum, das unterm Schock sich windet und vergißt, wem das Ungeheure angetan ward, einem selbst oder anderen."37 Wichtig ist das Neue allein als Reiz. Von seinen krit ischen Möglichkeiten und seiner gesellschaftl ichen Wahrheit nimmt die Masse, die es allein als Reiz auffaßt, nichts wahr. Da bei der Reizwirkung nur die Intensität eine Rolle spielt, kann auch das Bedrohliche, Schauerliche diese Wirkung haben.

Wie ein solches zum Reiz wird, hat Poe in seiner Story A Descent into the Maelstrom beschrieben. Der Maelstrom ist gleichzeitig großartig und grausig und wirkt auf den Betrachter als etwas schlechthin Neues :

„The ordinary account of this vortex had by no means prepared me for what I saw. That of Jonas Ramus, which is perhaps the most circumstantial of any, cannot impart the faintest conception either of magnificence, or of the horror of the scene — or of the bewildering sense of the novel which confounds the beholder."38

Wie genau der Strudel zustande kommt, ist in Poes Geschichte nicht bekannt, ebenso weiß niemand, wie der Meeresboden unter dem Maelstrom aussieht und was mit den Dingen geschieht, die — in seine Nähe geraten — unweigerl ich in ihn hineingerissen werden und nach einiger Zeit gänzlich zerstört wieder auf-tauchen. Trotzdem oder gerade deshalb weicht die Furcht bei dem Erzähler der Geschichte der Neugier , als er in den Strudel selbst gerät:

„It may appear strange, but now, when we were in the very jaws of the gulf, I felt more composed than when we were only approaching it. Having made up my mind to hope no more, I got rid of a great deal of that terror which un-manned me at first. [...] After a little while I became possessed with the keen-est curiosity about the whirl itself. I positively felt a wish to explore its depths, even at the sacrifice I was going to make; and my prinicipal grief was that I should never be able to tell my old companions on shore about the mysteries I should see."39

Das Unbekannte am Neuen ist es, was es zum Reiz werden läßt. Bei Poe ist es nach Adorno

„eine unbekannte Drohung, der das Subjekt sich anvertraut, und die in schwindelndem Umschlag Lust verheißt. Das Neue, eine Leerstelle des Be-wußtseins, gleichsam geschlossenen Auges erwartet, scheint die Formel, unter der dem Grauen und der Verzweiflung Reizwert abgewonnen wird. Sie macht das Böse zur Blume. Aber ihr kahler Umriß ist ein Kryptogramm der eindeu-

37 MM, S. 271. 38 Edgar Allan POE: A Descent into the Maelstrom. In: Tales of Mystery and Imagination,

a. a. O., S. 246. 35 Ebd., S. 253.

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tigsten Reak lions weise. Er umschreibt den prä/isen Bescheid, den das Subjekt der abstrakt gewordenen Welt, dem industriellen Zeitalter erteilt."40

Das Neue ist für Adorno also inmitten der verwalteten Welt der einzige Reiz, der - auch wenn es sich um etwas Bedrohliches handelt - in Lust umschlagen kann. Das Individuum, das sich in der Maschinerie der Vergesellschaftung befindet, versucht nach Adorno, dem Schrecken des ganz Negativen, Abstrak-ten dadurch zu entkommen, daß es sich der Abstraktion mimetisch überläßt -so wie der Erzähler bei Poe, dessen von Resignation ermöglichte Neugier ihn schließlich rettet: Er beobachtet die Mechanismen des Maelstroms und stellt fest, welcher von allen Gegenständen dem Strudel den größten Widerstand bie-tet, schließlich bindet er sich an einem Faß fest, ändert sozusagen seine Form, um sich zu retten, und stürzt sich ins Wasser.

Das Neue ist eine Erscheinungsform des nicht mehr Erfahrbaren. Seine Bedrohlichkeit erhält es gerade dadurch, daß es nicht erfahrbar ist. Daß ihm unabhängig von seiner Qualität ein Reizwert abgewonnen wird, ist nach Adorno zum einen Symptom für den Verfall der Erfahrung: „Schauer ist die Form der Adaption des Grauens der nicht mehr erfahrbaren Welt."41 Zum anderen aber ist der Schauer, wie ihn z. B. ein Neues auslöst, für Adorno ein Wahres darin, daß er die Diskrepanz zwischen den Dingen und ihrer Wahr-nehmung bzw. dem Denken über sie erfahrbar macht. Mit dem Schauer würde diese Wahrheit verschwinden:

„Denn mögen einst die Menschen den Schauer in ihrer Ohnmacht vor der Natur als Wirkliches gefürchtet haben, nicht geringer und grundloser nicht ist ihre Furcht davor, daß er sich verflüchtige. Alle Aufklärung wird begleitet von der Angst, es möge verschwinden, was sie in Bewegung gebracht hat und was von ihr verschlungen zu werden droht, Wahrheit."42

Die Neuheit auf dem Markt, die nouveaute, ist nichts wirklich Neues, sie spie-gelt ihre Besonderheit nur vor. In Wahrheit ist sie in die Verwertungszusam-menhänge der kapitalistischen Gesellschaft integriert und trägt zum „Schein der individualistischen Gesellschaft"43 bei. Von den Massen wird es als Reiz aufgefaßt, der dazu dienen soll, die individuellen Interessen des einzelnen zu befriedigen. Wie nach Marx aus dem „falschen Bewußtsein" gleichzeitig Wahr-heit erkennbar wird, indem es „Ausdruck des wirklichen Elendes" ist,44 so sieht

40 MM, S. 269. 41 VÄ, S. 79. 42 ÄT, S. 124. 43 ND, S. 278. 44 Karl MARX: Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Marx-Engels,

Studienausgabe, hg. v. I. FETSCHER. Bd. I. Frankfurt am Main 1966, S. 17. - Auch Theunissen hat darauf hingewiesen, daß es eine Prämisse des Adornoschen Denkens ist, daß auch „dem Unwahren selbst die Wahrheit zu entnehmen" ist. (Michael THEUNISSEN: Negativität bei Adorno. In: FRIEDEBURG/HABERMAS [Hg.], a. a. O., S. 49.)

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Adorno im Neuen und seiner kollektiven Rezeption als Reiz mehrere Wahrhei-ten: Im Neuen zeigt sich erstens die Spannung von Individuum und Gesell-schaft. Zweitens legt die Abstraktheit des Neuen Zeugnis von dem von Benja-min konstatierten Verfall der Erfahrung ab, ist Symptom für die Veränderung von Erfahrung. Drittens zeigt die Idee des Neuen selber die Falschheit des Äquivalenzprinzips. Allerdings ist das Neue nicht in der Lage, die Herrschaft des Äquivalenzprinzips, des Allgemeinen und Immergleichen zu brechen, denn es wird immer wieder von diesem okkupiert, nivelliert, instrumentalisiert: „alles Neue ist schwächer als das akkumulierte Immergleiche und bereit, dorthin zu regredieren, woher es kam."45 Sofern es sich für die Zwecke des Allgemeinen instrumentalisieren läßt, ist das Neue wie das Individuum „Agent des Allgemei-nen"46.

45 ÄT, S. 353. 44 ND, S. 336.

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II . D E R BF.GKII'F DES N E U E N

Der epistemologische Status des Neuen wurde in den Untersuchungen zur Er-kenntnistheorie Adornos bislang nicht berücksichtigt - in der Regel f indet das Neue nicht einmal Erwähnung.1 Das ist deshalb ein Versäumnis, weil das Neue als dynamische Kategorie für Adorno zum einen ein entscheidendes Bindeglied zwischen den Bereichen des Identischen und des Nichtidentischen, des Allge-meinen und des Besonderen darstellt, zum anderen insofern ein Gegenbegriff zum Bestehenden ist, als es das statische Verhältnis zwischen den Antagonis-men in Bewegung bringen kann und ein Indiz für die Möglichkeit der Grenz-überschreitung ist. So glaube ich auch zeigen zu können, daß Thyens Bestim-mung des Nichtidentischen bei Adorno als „Grenzbegriff des Begriffl ichen"2

eher dem Neuen zusteht.

Für Adorno ist das Tauschprinzip, auf dem die moderne kapital ist ische Gesellschaft beruht und das ihre Herrschaftsverhältnisse stärkt und erhält, zugleich das Erkenntnisprinzip der Aufklärung:

„Das Tauschprinzip, die Redukt ion menschlicher Arbeit auf den abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnitt l ichen Arbeitszeit , ist urverwandt mit dem Identif ikat ionsprinzip. A m Tausch hat es sein gesel lschaftl iches Model l , und er wäre nicht ohne es; durch ihn werden nichtidentische Einzelwesen und Lei-stungen kommensurabel , identisch. Die Ausbreitung des Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen, zur Totalität."3

Die gesellschaftl iche Entwicklung der Machtverhältnisse verläuft parallel zur Rationalitätsentwicklung. Die Degradierung des Individuellen zum Zufäll igen und Unwesentl ichen ist in der abendländischen philosophischen Tradit ion von Platon bis hin zu Hegel üblich.4 Für Adorno und Horkheimer sind daher

1 Zu nennen sind hier u. a. BEIER, a. a. O. - TlCHY, a. a. O. - Werner BEIERWALTES: Adornos Nicht-Identisches. In: ders.: Identität und Differenz. Frankfurt am Main 1980, S. 269—J14. — GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O. - Herbert SCHNÄDELBACH: Dialektik als Vernunftkritik. Zur Konstruktion des Rationalen bei Adorno. In: FRIEDEBURG/HABERMAS (Hg.), a. a. O., S. 66-93. - GRIPP, a. a. O. -THYEN, a. a. O. - Bei Brunkhorst wird dem Neuen gelegentlich Erkenntnischarakter zugesprochen, in der Regel geht es ihm aber um historische Neuheit, um die Möglichkeit der Hervorbringung von Neuem. Die beiden Ebenen werden nicht differenziert. (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O.) - In bezug auf die Hegeische Auf-fassung Uber den richtigen Umgang mit dem Neuen ist Küppers Rekonstruktion der Geschichte der Verarbeitung des Neuen der neuen Welt interessant. (Joachim KÜPPER: Tradierter Kosmos und Neue Welt - Die Entdeckungen und der Beginn der Geschichtlichkeit. In: MOOG-GRÜNEWALD [Hg.], a. a. O., S. 185-207.)

2 THYEN, a. a. O., z. B. S. 198. 3 ND, S. 149. 4 So auch Ottmann (Henning OTTMANN: Nicht-Identität versus Identität [Th. W.

Adorno]. In: ders.: Individuum und Gemeinschaft bei Hegel. Bd. I: Hegel im Spiegel der Inter-pretationen. Berlin/New York 1977, S. 116), der auch auf die entsprechende Untersuchung von

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Macht und Erkenntnis synonym. 3 Die angebliche l inmergle ichhei l in der vom Äquivalent beherrschten bürgerlichen Gesellschaft ist für Adorno ähnlich wie für Benjamin eine Erkennmiskategorie des von dem eingefangenen und assimi-lierten Blick geprägten falschen Bewußtseins.6 Dabei kommt Gleichheit nicht nur den Erkenntnisobjekten zu, sondern Adorno zufolge ist das gefesselte Be-wußtsein selber ein unveränderliches Immergleiches. Es hat die Gleichheit von Anfang an nicht nur durch die Subsumtion von Verschiedenem unter Begriffe den Dingen unterstel lt , sondern - und das ist für Adorno der wicht igere Kri-t ikpunkt - durch die Annahme einer zeitlosen Gült igkeit der Begriffe auch die Unveränderlichkeit des Denkens zementiert : Die „Idee eines Unveränderl ichen, sich selbst Gleichen [.. .] leitet von der Herrschaft des Begriffs sich her, der konstant sein wollte gegenüber seinen Inhalten, eben der .Materie ' , und darum gegen diese sich abblendete".7 Die Konstanz der Begriffe und ihre Funkt ion als Al lgemeinbegriffe sind also nur plausibel durch eine Verselbständigung der Begriffe, d. h. des Denkens über die Dinge, gegenüber den Dingen selbst. Die-ser Chorismos, die platonische Trennung von Ideensphäre und Welt der Wirk-lichkeit, ist die Voraussetzung für die Absolutsetzung des Geistes im Idealis-mus, die jeden Gedanken an ein Nichtidentisches rationalistischer Gesetzmä-

Haag hinweist: Karl-Heinz HAAG: Philosophischer Idealismus. Untersuchungen zur Hegel-schen Dialektik mit Beispielen aus Hegels Wissenschaft der Logik. Frankfurt am Main 1962.

5 DA, S. 20. - Zum Themenkomplex von Erkenntnis, Herrschaft, Macht und Selbsterhal-tung vgl. z. B. GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 55 ff. - SCHNÄDELBACH, a. a. O., S. 71 ff. - Eine ausführliche Darstellung des Zusammenhangs bei GRIPP, a. a. O., S. 84 ff. -Ebenso: THYEN, a. a. O., S. 65 ff. - Gegen Adornos Gleichsetzung des Identitätsdenkens mit Herrschaft hat sich u. a. Beierwaltes ausgesprochen, weil damit „jeder Form von Metaphysik pauschal die Tendenz zu Regression und Repression unterschoben" und damit „auch der Tran-szendentalphilosophie jegliches kritische Potential abgesprochen" werde. (BEIERWALTES, a. a. O., S. 279.) Ähnlich die beispielhaft von Lüdke angeführte Kritik von Bubner (Rüdiger BUBNER: Was ist kritische Theorie? In: Karl-Otto Apel u. a. [Hg.]: Hermeneutik und Ideolo-giekritik. Frankfurt am Main 1971, S. 160-209), die darauf zielt, daß unter diesen Bedingungen auch Adorno und Horkheimer keine Theorie formulieren können, die ohne Identitätsprinzip und damit ohne Herrschaft auskommen. Lüdkes richtige Antwort darauf ist, daß für Adorno und Horkheimer die Herrschaft über die Natur eine notwendige Begleiterscheinung der „Eman-zipation des Menschen von der Herrschaft der Natur" ist, die „weder irreversibel noch umstandslos aufhebbar" ist, was aber nicht daran hindern darf, sie in Frage zu stellen. (W. Mar-tin LÜDKE: Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls": Adorno - Beckett. Frankfurt am Main 1981 ,41 -2 . )

6 Adorno unterscheidet nicht zwischen Identität, Gleichheit und Äquivalenz. So auch SCHNÄDELBACH, a. a. O., S. 70 f. - Zum Zusammenhang von Identifikation und Tauschprinzip vgl. auch GRIPP, a. a. O., S. 108 ff.

7 ND, S. 141. - Horkheimer hatte diesen Hauptunterschied zwischen traditioneller und kritischer Theorie an der Philosophie Descartes' festgemacht: „Die Annahme der wesentlichen Unveränderlichkeit des Verhältnisses von Subjekt, Theorie und Gegenstand unterscheidet die cartesianische Auffassung von jeder Art dialektischer Logik." (Max HORKHEIMER: Traditio-nelle und kritische Theorie. In: Zeitschrift für Sozialforschung 6 [1937], S. 265.)

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ßigkeii imicrwirf i : „Aul welche Mythen der Widerstand |gegen die Aulklärung, SZ) sich immer berufen mag, schon dadurch, daß sie in solchem Gegensatz zu Argumenten werden, bekennen sie sich zum Prinzip der zersetzenden Rationa-lität, das sie der Aufklärung vorwerfen. Aufklärung ist totalitär."8

Erkauft wird die Herrschaft der Vernunft über die Natur mit dem Verlust der Fähigkeit, das Andere als Anderes zu erkennen: „Je dichter die Menschen, was anders ist als der subjektive Geist, mit dem kategorialen Netz übersponnen haben, desto gründlicher haben sie das Staunen über jenes Andere sich abge-wöhnt, mit steigender Vertrautheit ums Fremde sich betrogen."9 Wie Benjamin plädiert Adorno für einen kritischen Umgang mit Sprache, mit den Begriffen, die Einheiten suggerieren, wo in Wirklichkeit keine sind, mit den Verallgemei-nerungen und dem Aquivalenzdenken. Das „System der Begriffe" nennt er ei-nen in „der Sprache kodifizierten Abguß der Welt"10. So ist der Idealismus11

auch bei Hegel, für den das Ganze das Wahre ist, Adorno zufolge „ein einziges gigantisches analytisches Urteil"12, von dem aus gesehen auch die Welt als sol-ches erscheinen muß, weil sie nichts enthält, was nicht bereits in seinen Begrif-fen liegt. Die Möglichkeit von Neuem ist damit ausgeschlossen: „Etwas Neues gibt es aber eigentlich im absolut gewordenen Idealismus überhaupt nicht mehr."13 Das heißt nicht nur, daß das Nichtidentische ausgeschlossen oder zum Identischen erklärt ist,14 sondern was auch immer geschehen wird, alles Neue, muß mit Hilfe der bestehenden Systeme aus Begriffen und logischen Opera-

8 D A , S. 22. ' ÄT, S. 191 . - Seine Nichterkennbarkeit bzw. Unbeschreibbarkeit ist bei Adorno gera-

dezu die logische Definition des Nichtidentischen. So auch Ottmann: „Nicht-Identität ist der logische Or t des Individuellen und Qualitativen, dessen, was nicht mit Anderem überein-stimmt." (OTTMANN, a. a. O., S. 116.) Deswegen kann das Nichtidentische, auch wenn man es *ls „Grenzbegriff des Begrifflichen" (THYEN, a. a. O., S. 198) verstehen will, nur jenseits der Grenze liegen.

10 ME, S. 115. 11 Braun zufolge zielt Adornos Hauptkritik am Idealismus auf Fichte, weil sich in dessen

Philosophie am prägnantesten die Herrschaft des Subjekts über das Objekt manifestiere. (BRAUN, a. a. O., S. 41.) Beierwaltes hat zu Recht darauf hingewiesen, daß Adornos Auffassung der Identitätsphilosophie nicht nur den Idealismus betrifft, sondern die „prima philosophia", unter deren Begriff er „rhapsodisch-autoritär sowohl die .Vorsokratiker' und mit ihnen Piaton samt nachfolgender Metaphysik (Heideggers .Ursprungsphilosophie' eingeschlossen) als auch die Transzendentalphilosophie Husserls" subsumiere. (BEIERWALTES, a. a. O., S. 270.) Ich gehe mit Schnädelbach davon aus, daß Adorno nicht einzelne philosophische Richtungen oder Schu-len, sondern Vernunft überhaupt kritisiert und dazu „das Kantische Programm der Vernunft-kritik mit einem positiven Dialektikkonzept verbindet". (SCHNÄDELBACH, a. a. O., S. 6 7 f.)

12 PT 2, S. 72. - Zu Adornos Hegel-Kritik vgl. GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 36 ff. - GRIPP, a. a. O., S. 94 ff. - THYEN, a. a. O., S. 162 ff.

13 Ebd. ' 14 Wie bei Hegel, dessen Idee einer Identität von Identischem und Nichtidentischem

Adorno das Konzept einer Dialektik von Identität und Nichtidentität gegenüberstellt. (Vgl. THYEN, a. a. O., S. 112.)

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tionen zur Wiederholung von Früherem erklärt werden: „Was anders wäre, wird gleichgemacht.""

Im Prozeß der Identifizierung gibt es allerdings eine kurze Zeit der Indifferenz. Sie ist durch den Begriff des Neuen markiert. Er ist eine Kon-struktion des Identitätsdenkens, das mit diesem Begriff alles das bezeichnet, was sich nicht sofort identifizieren und in das bestehende Netz von Begriffen, Gedanken und logischen Strukturen einordnen läßt. Das Neue wird zunächst identifiziert als nicht genauer Identifizierbares.16 Dabei ist es unwesentlich, ob es sich um etwas noch nie Dagewesenes oder um etwas wieder auftauchendes Verdrängtes handelt.

Das so definierte Neue hat seine Wahrheit darin, daß es auf die Lücken-haftigkeit des Systems hinweist. Es zeigt, daß es „Etwas" außerhalb des Begrif-fenen und Bekannten geben kann. Ohne ein solches „Etwas" kann man nach Adorno überhaupt nichts denken:

„Das Etwas als denknotwendiges Substrat des Begriffs, auch dessen vom Sein, ist die äußerste, doch durch keinen weiteren Denkprozeß abzuschaffende Ab-straktion des mit Denken nicht identischen Sachhaitigen; ohne das Etwas kann formale Logik nicht gedacht werden. Sie ist nicht zu reinigen von ihrem metalogischen Rudiment."17

Das Neue repräsentiert ein solches „Etwas", in ihm erscheint die Wahrheit des Anderen der Vernunft, des Nichtidentischen.18 Es ist die erste Identifikation des Nichtidentischen,19 es markiert eine Grenze zwischen Nichtidentität und

15 D A , S. 28. — Auch Horkheimer hatte bereits darauf hingewiesen, daß sich die traditio-nelle Theorie dadurch als Identitatsphilosophie auszeichnet, daß sie sich selber gleichbleibt, neue Erkenntnisse in ihr System einfügt, dieses System jedoch niemals grundlegend verändert: „Werden einzelne Gattungen dem System hinzugefügt oder sonstige Veränderungen vorge-nommen, so wird dies üblicherweise nicht etwa in dem Sinn aufgefasst, dass die Bestimmungen notwendig zu starr sind, sich als inadäquat erweisen müssen, da entweder das Verhältnis zum Gegenstand oder derselbe Gegenstand sich ändert, ohne dabei seine Identität zu verlieren. Än-derungen werden vielmehr als Mangel unserer früheren Erkenntnis oder als Ersetzung einzelner Stücke des Gegenstands durch andere betrachtet". (HORKHEIMER: Traditionelle und kritische Theorie, a. a. O., S. 276.)

16 Durch diese Identifikationsleistung ist das Neue bereits ein Begriffliches, während das Nichtidentische begriffslos bleiben muß.

17 ND, S. 139. 18 Theunissen zufolge muß Adorno jede „reale[...] Spur des Positiven im Negativen [...] als

Widerschein der Transzendenz deuten", d. h.: „Negative Dialektik geht in Metaphysik als Philo-sophie einer Transzendenz über, die .einzig von Erfahrungen in der Immanenz gespeist wird'." (THEUNISSEN, a. a. O., S. 57.) Man kann an dieser Stelle mit Theunissen den Ubergang Ador -nos zur Metaphysik sehen - der indessen notwendig zu sein scheint, will man überhaupt das Eintreten von Neuem, das nicht das Alte ist, erklären.

19 Deswegen handelt es sich für Brunkhorst beim Kunstwerk, sofern es „ästhetisch gelun-gene Identifikation des Nichtidentischen" ist, um einen „Spezialfall einer zwanglosen Identifi-kation von etwas als etwas Neuem". (BRUNKHORST: Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 31.)

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Identität. Während (.las Nichucli-ntimIu- eine Konstruktion bleiben muß, gibt das Neue einen tatsächlichen Anhaltspunkt lür die Existenz des Nichtidenti-schen, die nach Adorno auch ein geschlossenes System wie das Hegeische auf-bricht: „Die Wahrheit des unauflöslich Nichtidentischen erscheint im System, nach dessen eigenem Gesetz, als Fehler, als ungelöst im anderen Sinn, dem des Unbewältigten; als seine Unwahrheit; und nichts Unwahres läßt sich verstehen. So sprengt das Unverständliche das System."20 Das Neue ist eine Störung des Identitätsprinzips, für Adorno ist Neuheit deshalb als Negation von Identität eine Erscheinungsform des Nichtidentischen. Indem es eine Syntheseleistung der Vernunft verlangt, negiert es die Idee von der „Welt als gigantisches analytisches Urteil"21.

Spezifisch für das Neue ist, daß es eine vorübergehende Bezeichnung für etwas ist. Darin unterscheidet es sich von den Begriffen des Anderen und des Fremden, die ebenfalls eine qualitative Differenz bezeichnen, und das macht es besonders dafür geeignet, die Mechanismen des Denkens zu offenbaren. Das Andere ist für Adorno das Andere der Vernunft. In der erkenntnistheoreti-schen Tradition ist das Andere das, dessen Erkennbarkeit nicht vorausgesetzt werden kann. Es ist das, was nicht unmittelbar gewußt ist, was Erkenntnis überhaupt erst fraglich macht. Ohne das Andere ist Erkenntnis tautologisch. In der Platonischen Tradition des Dualismus von Erkennendem und Erkanntem ist das Andere alles, was sich außerhalb des Subjekts befindet: die Außenwelt -dazu gehört als Objekt auch der andere, die zweite Person, das Gegenüber, das nicht das Selbst ist. Das Wort „ander"22 beinhaltet die Bedeutungen der beiden lateinischen Worte „alius" (ein anderer von mehreren) und „alter" (ein anderer von zweien). „Hauptregel ist: nach dem bestimmten Artikel hat ander noch den sinn von alter, ohne Artikel den von alius."23 „Ein anderes" ist also ganz allge-mein ein von einem oder mehreren zuerst angesprochenen Dingen oder Perso-nen etc. Verschiedenes. ,J)as andere" dagegen bedeutet „das Zweite".24 Erhal-ten hat sich diese Bedeutung noch dort, wo von Dualitäten die Rede ist. Also z. B. „das andere Ufer", „die andere Hand", „das andere Geschlecht" und „das Andere der Vernunft".25 Für die Qualität des in einem dualen Verhältnis Ande-ren ist durch dieses feststehende Verhältnis bereits ein best immter Rahmen

20 ADORNO: Drei Studien zu Hegel. In: GS 5, S. 375. 21 DA, S. 44. 22 „Ander" ist ursprünglich eine Komparativbildung zu dem indogerm. Demonstrativparti-

kel „an-" ( = dort) oder zum indogerm. Pronominalstamm „eno-" (=jener). Vgl. Artikel „ander" und „jener". In: Duden. Etymologie, a. a. O., S. 24 und 295. - Artikel „ander". In: GRIMM, a. a. O., Bd. 1., Sp. 305 - 10 .

2J Artikel „ander". In: GRIMM, a. a. O., Bd. 1., Sp. 306. 24 Während man im 16. und 17. Jahrhundert noch zählte „der erste, der ander, der dritte"

und „zum ersten, zum anderen, zum dritten", wurde „ander" in diesem Sinn in neuerer Zeit von „zwei" verdrängt. S. Artikel „ander". In: GRIMM, a. a. O., Bd. 1, Sp. 307.

" Ebd., Sp. 305 - 10 .

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vorgegeben, seine Qtmlitiil ist durch Negation bestimmt. Insolem ist das Neue für Adorno erkcniunistheoreiisch gesehen nicht selbst das Andere, sondern nur ein Verweis auf das Andere der Vernunft, das durch seinen abstrakten Ge-gensatz zur Vernunft von dieser mitbestimmt wird und daher schlicht als uner-kennbar gilt. Das, was als neu bezeichnet wird, ist jedoch nicht als einfache Ne-gation faßbar, denn es ist ja als Neues bereits erkannt, es befindet sich in einer Zwischenposition von Unerkanntheit und Erkanntheit und verlangt der Ver-nunft eine Reaktion, eine Leistung ab.

Im Gegensatz zum Neuen verweist der Begriff des Fremden, mit dem man einen unbekannten Gegenstand belegt, nicht auf eine vorläufige, sondern auf prinzipielle Unerkennbarkeit . Fremdes ist ebenfalls ein Zweites, das in Relation auf ein Gesetztes nur negativ bestimmbar ist: „Wer etwas .fremd' nennt, hat immer schon die Relation zum Eigenen mitbedacht. Die Theorie des Fremden ist per se Differenztheorie."26 Das Fremde ist zunächst eine Kategorie, die so-ziale Verhältnisse, d. h. die Zugehörigkeit von Personen zu bestimmten sozia-len Einheiten beschreibt und von dieser Zugehörigkeit abhängig auch Gegen-stände benennt.27 Der Fremde ist der, der nicht zu einer fraglos für gegeben gehaltenen sozialen Gruppe gehört, fremd ist ein Gegenstand, über den eine fremde Person verfügt. Als Bezugspunkte führt das Grimmsche Wörterbuch an: das eigene Land, in dem der Ausländer ein Fremder ist und alle ausländische Kultur als fremd bezeichnet wird; die eigene Religion gegenüber der fremden und den fremden Göttern; fremde Könige, Völker, Sitten stehen den eigenen gegenüber; wer nicht im gleichen Dorf wohnt, ist fremd; wer nicht zur Familie gehört, ist fremd.28 Zugespitzt auf die kleinste soziale Einheit, die einzelne Per-son, heißt das: Das, was nicht Ich ist, ist fremd. Hier überschneiden sich die Bedeutungen von „ander" und „fremd". „Fremd" in übertragener, abstrakter Bedeutung bezeichnet — zunächst in den Formen „befremdend, befremdlich" -das, was unvertraut, ungewöhnlich, seltsam ist. Die Zugehörigkeit spielt hier keine Rolle, sondern die Frage, ob etwas der Gewohnheit entspricht, ob etwas vertraut ist oder bekannt. Etwas „fremd" oder „anders" zu nennen ist einerseits eine Kapitulation der Erkenntnis, die Unzugänglichkeit wird eingestanden. An-dererseits beläßt es den fremden oder anderen Gegenstand in seiner Fremdheit bzw. Andersheit, anstatt ihn durch Erkenntnis in Besitz zu nehmen. Allerdings ist damit auch alles Fremde wie das Andere für die Erkenntnis grundsätzlich

26 Rolf-Peter JANZ: Einleitung. In: ders. (Hg.): Faszination und Schrecken des Fremden. Frankfurt am Main 2001, S. 8.

27 So wird „fremd" auch vor allem in soziologischer Hinsicht untersucht: Der Fremde als Ausländer. Z. B. Georg SlMMEL: Exkurs über den Fremden. In: ders.: Soziologie. Untersuchun-gen über die Formen der Vergesellschaftung (1908). Berlin 1968. - Alfred SCHÜTZ: Der Fremde. In: ders.: Gesammelte Aufsätze. Den Haag 1972, S. 53-69. - Zygmunt BAUMAN: Mo-derne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Hamburg 1992.

28 Artikel „fremd". In: GRIMM, a. a. O., Bd. 4, Sp. 125-28.

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gleich, nämlich ul.s Unerkennbares, tnul inmlcrn gleichgültig, es tangiert sie nieht. ;v

Ganz anders das Neue. Was als neu bezeichnet wird, wird damit einerseits als unbekannt identifiziert, andererseits wird ihm bereits eine prinzipielle Er-kennbarkeit zugesprochen bzw. die Bereitschaft, es zu erkennen, signalisiert. Ohne es zu kennen, wird es vom Subjekt von Anfang an darauf festgelegt, in Besitz genommen zu werden, und wird zu diesem Zweck erst einmal mit dem Etikett „neu" versehen. Insofern ist die „Kategorie des Neuen" für Adorno „die subjektive Seite des Phänomens der neuen Welt."30 Ob Adorno mit dieser Be-merkung auf die Hegeische „neue Welt" anspielt, konnte aus dem Kontext nicht geklärt werden. Eine Gegenüberstellung des Begriffs der neuen Welt in den verschiedenen Zusammenhängen bei Hegel einerseits und Adornos Theo-rie des Neuen andererseits kann jedoch die Adornosche Vorstellung von den epistemologischen Bestimmungen des Neuen profilieren.

Die „neue Welt" bezeichnet bei Hegel zum einen historisch die neue Zeit, in der das Subjekt zu sich selbst kommt. Sie beginnt mit Descartes und der Philosophie, „welche weiß, daß sie selbständig aus der Vernunft kommt und daß das Selbstbewußtsein wesentliches Moment des Wahren ist"; Hegel nennt sie „Periode des denkenden Verstandes"31. Für Adorno ist diese neue Zeit indessen keineswegs neu in dem Sinne, daß sie etwas Altes ablöst, sondern nur die Radikalisierung der vorangegangenen Entwicklung,32 die ihr Ziel eher in der Abschaffung von der die Integrität des Subjekts bedrohenden Neuheit hatte. Daß diese vorangegangene Entwicklung für Hegel in einer Reihe von Integra-tionsprozessen bestanden hatte, ist ablesbar an seiner Vorstellung von der As-similierung der „neuen Welt" in geographisch-historischer Bedeutung.33 Schon

29 Dabei verbirgt sich für Adorno hinter dem Fremden und Anderen etwas durchaus nicht Unerkennbares, sondern etwas Verdrängtes, Unterdrücktes: „Die von Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge erst an manchen Gesten und Verhaltenswei-sen, die ihnen bei anderen begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut." (ADORNO: Elemente des Antisemitismus, in: D A , S. 206.)

30 V Ä , S. 69. 31 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. In:

Werke. Bd. 20. Frankfurt am Main 1971 , S. 120. 32 Auf diese Tatsache hat auch Lucas hingewiesen: „Jedes Neue hat in diesem Zusammen-

hang für Hegel daher die fundamentale Bedeutung einer Konkretisierung, Erneuerung, Kom-plettierung. Das Modell des Übergangs, des Hervortretens von Neuem [...] ist bei Hegel stets zurückzuführen auf den ontologisch vorrangigen Zusammenhang." (Hans-Christian LUCAS: Kontinuität, Einheit und das Neue. Überlegungen zu Hegel und Thomas S. Kuhn. In: ders. und Guy PLANTY-BONJOUR [Hg.]: Logik und Geschichte in Hegels System. Stuttgart/Bad Cann-statt 1989, S. 290.)

33 Kein Zufall ist wohl, daß der Zeitpunkt der Entdeckung der „neuen Welt" mit der Epo-chenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit (der historischen „neuen Welt") zusammenfällt. (So auch HABERMAS: Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 13.)

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daß die spät entdeckten Kontinente nicht als „fremde Welt" bezeichnet wur-den, zeigt, daß ihnen von Anfang an keine Eigenständigkeit zugesprochen wur-de. Die neue Welt war seit ihrer Entdeckung dazu bestimmt, unterworfen und ausgebeutet zu werden. Die Hegeische Beschreibung der von ihm als richtig und selbstverständlich verstandenen Unterwerfung der neuen Welt durch die alte Welt zeigt eine deutliche Parallele zur idealistischen Unterwerfung alles noch nicht Identifizierten. Neben der „geographischen Unreife", die sich z. B. darin zeige, daß man dort „ungeheure Ströme, die noch nicht dazu gekommen sind, sich ein Bett zu graben"34, finde, ist für Hegel vor allem die kulturelle Rückständigkeit ein Merkmal der neu entdeckten Kontinente: „Von Amerika und seiner Kultur, namentlich in Mexiko und Peru, haben wir zwar Nachrich-ten, aber bloß die, daß dieselbe eine ganz natürliche war, die untergehen mußte, sowie der Geist sich ihr näherte."35 Die neue Welt ist keine fremde Welt, die man so beläßt, wie sie ist, und zu erforschen, zu verstehen versucht, sondern ein aus der Sicht der alten Welt unstrukturiertes Etwas, das es zu kultivieren, d. h. mit den Strukturen der alten Welt zu überziehen gilt, die ihrerseits keiner Veränderung bedürfen. Neu heißt für Hegel wild und unstrukturiert und auf Kultivierung geradezu wartend. Dafür spricht für ihn vor allem auch die „krie-chende Unterwürfigkeit" und die „Inferiorität dieser Individuen"36, das heißt der Ureinwohner, die nach Hegel von den Europäern durch Anpassung an die abendländischen Sitten und Kultur zu dem, was Hegel unter wirklichen Men-schen versteht, erzogen werden sollten.37 Bei diesen Umerziehungsmaßnahmen blieb allerdings ein großer Teil der Ureinwohner wegen der „Schwäche des amerikanischen Naturells"38 auf der Strecke, was dazu führte, daß die gesamte neue Welt von den Bewohnern der alten umso besser okkupiert und deren Kul-tur angepaßt werden konnte: „Da nun die ursprüngliche Nation geschwunden oder so gut wie geschwunden ist, so kommt die wirksame Bevölkerung meist von Europa her, und was in Amerika geschieht, geht von Europa aus."39 Die neue Welt ist zum Teil der Welt geworden, sie ist integriert - freilich unter der Ägide der sogenannten alten Welt. In einigen Punkten ist die ehemalige Neu-

34 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke. Bd. 12. Frankfurt am Main 1986, S. 107.

35 Ebd., S. 107 -8 . 36 Ebd., S. 108. 37 „Als die Jesuiten und die katholische Geistlichkeit die Indianer an europäische Kultur

und Sitten gewöhnen wollten (bekanntlich haben sie einen Staat in Paraguay, Klöster in Mexiko und Kalifornien gegründet), begaben sie sich unter sie und schrieben ihnen, wie Unmündigen, die Geschäfte des Tages vor, die sie sich auch, wie träge sie auch sonst waren, von der Autorität der Väter [!] gefallen ließen. Diese Vorschriften (mitternachts mußte eine Glocke sie sogar an ihre ehelichen Pflichten erinnern) haben ganz richtig zunächst zur Erweckung von Bedürfnissen geführt, den Triebfedern der Tätigkeit des Menschen überhaupt." (Ebd.)

38 Ebd., S. 108 -9 . 39 Ebd., S. 109.

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heil tier neuen Wel l noch erkennbar, so /.. B. lür Hegel in der mangelnden Ein-heil der religiösen Vorstel lungen und des Staates/0 Hegels Zielvorstellung bleibt aber die völlige Angleichung der Lebensverhältnisse an die europäischen, die von ihm als zweckmäßig und natürlich angesehen werden. Eine Alternative ist für ihn nicht denkbar.

Aus Adornoscher Perspektive kann davon ausgegangen werden, daß die Unterdrückung des Neuen, wie sie sich im Umgang mit der neuen Welt zeigte, zur Stärkung des Subjekts beitragen mußte, seiner Selbstvergewisserung dien-te.41 In die gleiche Richtung zielt die Analyse von Küpper, die die Hegeische Auffassung, „daß es letztl ich der Monotheismus ist, ideologisch: der damit ein-hergehende Universal ismus, der die Europäer zu dieser bemerkenswert rei-bungslosen geistigen Assimilation des Neuen befähigt hat", durch die These er-weitert, „daß den in den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts beginnenden sy-stematischen Versuchen der abendländischen Zivilisation, die Neuen Welten dem eigenen Denken kommensurabel zu machen, ein Moment vorausliegt, wel-ches man als kondit ionierte Ausblendung der konkreten Material ität bezeich-nen könnte."42 Die Folge davon ist, daß die Erfahrung des Neuen nichts zu einer Veränderung der bestehenden Welterklärungsmodel le beigetragen hat, sondern daß vielmehr „am Ende der geistigen Bewältigung der Entdeckungen wieder jene aus Tradit ionsgewißheit erwachsende Selbstsicherheit steht, in de-ren Zeichen sich schon die spontanen ersten Kontakte der Europäer mit dem Neuen vollzogen."43

Diese Diagnose st immt überein mit der Hegeischen Auffassung der epi-stemologischen Bedeutung des Neuen. Ahnlich wie er die historische Unter-werfung der neuen Welt versteht, beschreibt er den Umgang der Vernunft mit dem Neuen in der Phänomenologie des Geistes: Die neue Welt ist epistemolo-gisch das plötzl iche erste Auftauchen einer als „qualitativer Sprung"44 emp-

40 Ebd., S. 113. 41 So auch HABERMAS: Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 27. Darauf,

daß das historisch in der Tat der Fall war, hat auch Sting hingewiesen: „Die Allgemeinheit der christlichen Werte und der eigenen Vorstellungen wurde durch die Erfahrung des Neuen nie an-gezweifelt. Entweder erschien das Neue als von gleicher A r t wie das Bekannte, oder es war min-derwertig bis nichtig und damit zu assimilieren oder zu vernichten. [...] Die Andersartigkeit der Neuen Welt verbarg sich vor der schriftgeleiteten Erfahrung des Subjekts. Die Außenwelt er-schien ihm als .offenes Land', als unbeschriebenes Blatt, das ihm zur Beschriftung und zur Ein-richtung subjektiver Anordnungen überlassen blieb. Kolumbus führte diese vom Subjekt ausge-hende Beschriftung' durch, indem er den Gegebenheiten der Neuen Welt Namen gab. [...] Das in sich gefestigte Subjekt trat aus der Distanz der schriftlichen Vermittlung heraus einem .Ande-ren' gegenüber, das Objekt seiner Projektionen wurde." (Stephan STING: Der Mythos des Fort-schreitens. Zur Geschichte der Subjektbildung. Berlin 1991 , S. 110.)

42 KÜPPER, a. a. O., S. 186 -7 . 43 Ebd., S. 206 Anm. 44 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main

1981, S. 18.

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fundenen, jedoch im Verborgenen lange vorbereiteten Veränderung der Well im Bewußtsein, Das „Gebilde der neuen Welt", das blitzartig erscheint, hat indessen für Hegel noch keine „vollkommene Wirklichkeit".45 Es existiert zu-nächst als Begriff: „Das erste Auftreten [des Neuen, SZ] ist erst seine Unmit-telbarkeit oder sein Begriff"46, der noch nicht spezifiziert ist. Das Bewußtsein „vermißt an der neu erscheinenden Gestalt die Ausbreitung und Besonderung des Inhalts; noch mehr aber vermißt es die Ausbi ldung der Form, wodurch die Unterschiede mit Sicherheit best immt und in ihre festen Verhältnisse geordnet werden"47 .

Genau das, was der neuen Welt durch die Okkupat ion, Unterwerfung und Kolonisierung durch die Europäer widerfährt, ist das Schicksal jedes Neuen, das der erkennenden Vernunft des Subjekts begegnet, und das ist für Hegel ein notwendiger und legit imer Vorgang, denn:

„Erst was vollkommen bestimmt ist, ist zugleich exoterisch, begreiflich und fähig, gelernt und das Eigentum aller zu sein. Die verständige Form der Wis-senschaft ist der allen dargebotene und für alle gleichgemachte Weg zu ihr, und durch den Verstand zum vernünftigen Wissen zu gelangen, ist die ge-rechte Forderung des Bewußtseins, das zur Wissenschaft hinzutritt; denn der Verstand ist das Denken, das reine Ich überhaupt; und das Verständige ist das schon Bekannte und das Gemeinschaftliche der Wissenschaft und des unwis-senschaftlichen Bewußtseins, wodurch dieses unmittelbar in jene einzutreten vermag."48

Die Erwartung dieser identif ikatorischen Aneignung liegt bereits im Begriff des Neuen. Neu nennt man das anders noch nicht zu Bezeichnende, von dem si-cher ist, daß es in kurzer Zeit ins System der Begriffe und in die Geschichte in-tegriert werden wird. Mit der Identif ikation als „neu" wird das Neue an die Ge-setzmäßigkeit der Identif ikat ion angepaßt. Die Rede vom Neuen ist der erste Schritt, von etwas zu sprechen, von dem man vorher nicht sprechen konnte. Damit ist Neuheit erkenntnistheoretisch der Beginn eines Prozesses, während sie historisch — wovon z. B. Brunkhorst ausgeht — das Ende eines Prozesses ist,

45 HEGEL: Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 19. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 20. - Diesen auf Herrschaftswillen und Ignoranz beruhenden Aneignungsvor-

gang hat bereits Nietzsche als allein der Selbsterhaltung und nicht der Erkenntnis dienend kriti-siert: „Die Kraf t des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das gänzlich Wider-sprechende zu übersehen oder wegzustossen: ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück ,Aussenwelt' willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zu-recht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer .Erfahrungen', auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, - auf Wachsthum also; bestimmter noch, auf das Gefühl des Wachsthums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft." (NIETZSCHE: Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 5, S. 167.)

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d e r e i n e „ r e l I c k l i e r o n d e A b s t r a k t i o n " v o m l i e N t e h e n d e n v o r a u s s e t z t . 4 ' ' D e r B e -

g r i l l d e » N e u e n i s t i n d e s s e n w i e a l l e B e g r i f f e „ f u s i o n i e r t m i t d e m U n w a h r e n ,

d e m u n t e r d r ü c k e n d e n P r i n z i p " 5 0 . I n d e m e s s o b e z e i c h n e t w i r d , b e g i n n t d a s

N e u e s e l b s t z u a l t e r n , u n d d u r c h w e i t e r e S u b s u m t i o n e n u n t e r B e g r i f f e u n d Z u -

s c h r e i b u n g v o n E i g e n s c h a f t e n w i r d e s s c h l i e ß l i c h s o d e m I m m e r g l e i c h e n e i n -

v e r l e i b t , d a ß e s s o e r s c h e i n t , a l s w ä r e e s i m m e r s c h o n d a g e w e s e n . D e s h a l b

m e i n t A d o r n o , „ d a s J ü n g s t v e r g a n g e n e s t e l l e a l l e m a l s i c h d a r a l s o b e s d u r c h K a -

t a s t r o p h e n v e r n i c h t e t s e i " 5 1 . M i t d e r b e g r i f f l i c h e n I n b e s i t z n a h m e a l s N e u e s

w i r d d a s U n b e k a n n t e m e h r o d e r w e n i g e r g e w a l t s a m k o m m e n s u r a b e l g e m a c h t .

D e s h a l b i s t d a s N e u e n i c h t d a s N i c h t i d e n t i s c h e , s o n d e r n b e r e i t s a u f d e r b e -

g r i f f l i c h e n S e i t e d e r G r e n z e z w i s c h e n I d e n t i s c h e m u n d N i c h t i d e n t i s c h e m . 5 2

D i e B e z e i c h n u n g „ n e u " i s t e i n R e f l e x d e r n a t u r b e h e r r s c h e n d e n V e r n u n f t , m i t

d e m s i e s i c h d a s U n b e k a n n t e v o r l ä u f i g u n t e r w i r f t . 5 3 D a s N e u e i s t e i n e Z w i -

s c h e n s t u f e z w i s c h e n d e m g a n z F r e m d e n , g a n z A n d e r e n u n d d e m B e k a n n t e n ,

„ z w i s c h e n s t u m m e m E r s t a u n e n e i n e r s e i t s u n d i n s t a n t a n e r , k o m p l e t t e r K o m -

n i e n s u r a b i l i s i e r u n g a n d e r e r s e i t s " 5 4 . E s i s t e r f a h r b a r , j e d o c h n o c h n i c h t s i c h e r e r -

k a n n t . S e i n e I n d i f f e r e n z m a c h t e s u n h e i m l i c h , j e d o c h a u c h r e i z v o l l . F ü r

A d o r n o l i e g t e i n e W a h r h e i t d e s N e u e n i n d i e s e r U n b e s t i m m t h e i t , d e n n s i e o f -

f e n b a r t d i e M e c h a n i s m e n d e s a u f k l ä r e r i s c h e n D e n k e n s u n d s e i n e U r s p r ü n g e .

S o f e r n d a s N e u e a l s K o n s t e l l a t i o n i m E r k e n n t n i s p r o z e ß v e r s t a n d e n w e r d e n

k a n n , b e g r e i f t A d o r n o e s a l s M e c h a n i s m u s , d e r s o a l t i s t w i e d i e A u f k l ä r u n g

49 BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 34. 50 ND, S. 57. 51 Brief Adornos an Benjamin vom 2.-4. und 5.8.1935. In: BW, S. 141. 52 Insofern haben Guzzoni und Thyen Recht, wenn sie in ihrer Aufzählung von Adorno-

schen Ausdrücken für das Nichtidentische das Neue nicht aufnehmen, wohl aber das Fremde und Andere, das Verschiedene, das Unidentische. (GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 105. - THYEN, a. a. O., S. 204.) Wenn man einmal den Begriff des Neuen in den Blick ge-nommen hat, erstaunt um so mehr, daß auch diese Untersuchungen, die sich gerade explizit mit der Möglichkeit, das Nichtidentische zu denken, befassen, den Begriff des Neuen nicht als den Grenzbegriff zwischen Identität und Nichtidentität ausmachen.

53 Auffällig ist hier wieder die Parallele zum Umgang mit der Neuen Welt, die, wie Küpper beschreibt, erst mit einer „frappierenden Selbstverständlichkeit" in Besitz genommen wurde, bevor der Blick aufs Detail überhaupt Fragen aufwarf. „Die tiefgreifende Irritation angesichts des Neuen der entdeckten Welten ist ein Moment sekundärer Ordnung, gedanklich und zeit-lich." (KÜPPER, a. a. O., S. 189.) - Guzzoni hat den Beginn der Identifikation wie folgt be-schrieben: „Die erste Zurichtung des Gegenstandes besteht darin, daß er als ein Gegenüber für das Ergreifen und Begreifen fest-gestellt wird, daß er aus seinen genuinen Bezügen herausge-nommen und in den bestimmenden Bezug zum Menschen gesetzt wird." (GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 53.) Insofern ist die Identifikation als „neu" „die erste Zurichtung des Ge-genstandes", zumal Neuheit als relationaler Begriff erkenntnistheoretisch nur als subjektive Neuheit verstanden werden kann (im Gegensatz zur objektiven Neuheit, die allerdings gleich-zeitig immer auch subjektive Neuheit ist).

54 So Küpper über die Wahrnehmung der neuen Welt in der ersten Phase der Entdeckun-gen. (KÜPPER, a. a. O., S. 189.)

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s e l b s t u n d a l s e i n T e i l d r s V e r h l e n d u n g s z u s a m m e n h a n g s a n g e s e h e n w e r d e n

k a n n . 5 5 D a s N e u e l ö s t e i n e d o p p e l t e R e a k t i o n a u s : A l s F r e m d e s , U n b e h e r r s c h -

t e s s c h o c k i e r t e s u n d w e c k t d e n W u n s c h , e s z u u n t e r w e r f e n , b e h e r r s c h b a r z u

m a c h e n , e s s o l l k e i n e A n g s t m e h r e i n f l ö ß e n . D e r S c h o c k , d e n d a s N e u e a u s l ö s t ,

i s t d i e a l l e r ä l t e s t e R e a k t i o n s w e i s e d e s M e n s c h e n a u f d i e N a t u r , d e r e n B e d r o h -

l i c h k e i t i n d e r v o r g e s c h i c h t l i c h e n Z e i t z u e i n e r M i m i k r y r e a k t i o n f ü h r t e . M i t

B e g i n n d e r M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e w i r d d i e s e s m i m e t i s c h e V e r h a l t e n s u b l i -

m i e r t :

„ A n s t e l l e d e r l e ib l i chen A n g l e i c h u n g an N a t u r t r i t t d ie . R e k o g n i t i o n i m B e -

g r i f f ' , d ie B e f a s s u n g des V e r s c h i e d e n e n u n t e r G le i ches . D i e K o n s t e l l a t i o n

aber , u n t e r de r G l e i c h h e i t s i ch hers te l l t , d ie u n m i t t e l b a r e de r M i m e s i s w i e d ie

v e r m i t t e l t e de r S y n t h e s i s , d ie A n g l e i c h u n g ans D i n g i m b l i n d e n V o l l z u g des

L e b e n s w i e d ie V e r g l e i c h u n g des V e r d i n g l i c h t e n in de r w i s s e n s c h a f t l i c h e n Be -

g r i f f sb i l dung , b l e ib t d ie des Sch reckens . " 5 6

D e r S c h o c k , m i t d e m d a s N e u e b e t r i f f t , u n d d e r S c h a u e r , d e n e s a u s l ö s t , s i n d

i m m e r d i e g l e i c h e n u n d e n t s p r e c h e n e i n e r u r a l t e n E r f a h r u n g :

„Die E r f a h r u n g des S c h a u e r s u n d die E r f a h r u n g des N e u e n s i nd w e s e n t l i c h

m i t e i n a n d e r i d en t i s ch . I m S c h a u e r des N e u e n k e h r t de r a l t e m i m e t i s c h e

S c h a u e r w i e d e r , j e n e s S t r ä u b e n de r H a a r e , d u r c h das in de r V o r w e l t d ie g e r e i z -

t e n T i e r e s i ch d e m G e g n e r , d en sie f r e s s en w o l l t e n , g l e i ch m a c h t e n . S c h a u e r

ist d ie F o r m de r A d a p t i o n des G r a u e n s der n i ch t m e h r e r f a h r b a r e n W e l t . " 5 7

D e s w e g e n i s t f ü r A d o r n o g e n a u g e n o m m e n w e n i g e r d a s N e u e s e l b s t a l s v i e l -

m e h r d i e N e u h e i t z u s c h r e i b e n d e R e a k t i o n d a r a u f d a s Ä l t e s t e . 5 8 F ü r i h n s i n d d i e

55 Guzzoni beschreibt den Prozeß der Identifikation als Unterwerfung, allerdings ohne die Funktion der Zuschreibung von Neuheit darin zu berücksichtigen: „Identität setzen zu wollen, heißt, Gleichheit zwischen sich und dem jeweils Anderen herstellen zu wollen. Es heißt, das Andere zwar zunächst als schlechthin Andersartiges zu sehen, als Grenze, als potentiell Unver-stehbares und als etwas, das von sich aus etwas Befremdliches zu sagen, aufzuzwingen oder zu verweigern haben könnte, es aber nicht als solches stehen zu lassen. Für Adorno spielt dabei das Aufzwingen und Beherrschen die entscheidende Rolle." (GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 51 -2 . ) Gegen diese Beschreibung muß man einwenden, daß das vom Denken erfaßte Andere zwar zunächst fremd und unheimlich erscheinen kann, jedoch nicht als Unverstehbares, sondern sobald es denkend irgendwie erfaßt ist - nämlich als Neues - , als potentiell Verstehba-res gedacht werden muß. Es ist bereits diesseits der Grenze. Indem es bewußt geworden ist, ist es bereits auf dem Weg, durch Identifikation gebannt zu werden.

54 DA, S. 205. 57 V Ä , S. 78-79. ss Wenn, wie Brunkhorst richtig konstatiert, „für Adorno die mythische Wiederkehr des

ewig Gleichen das urgeschichtliche Paradigma identifizierenden Denkens ist" (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 230), dann ist entsprechend das Neue als erster Schritt der Identifikation ebenso urgeschichtlich. So ist Adornos gegen die Benjaminsche Auffassung des Neuen gerichtete Bemerkung zu verstehen: „Nicht wird darin [im Neuen, SZ] aufs Alte zu-

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„Sensationell, in denen der Musochist dem Neuen sich preisgibt, [...J ebenso-v i e l Regressionen", das Neue „wird im jähen Erscheinen zur zwanghaften Rückkehr des Alten".51' Der Wunsch, das Neue zu beherrschen, ist ein Reflex auf nicht Erfahrbares, und damit liegt sein Ursprung beim Beginn der Aufklä-rung. Der Preis des Fortschritts der Naturbeherrschung ist das Anwachsen der Furcht vor dem, was immer weniger erfahrbar ist. Die qualitative Seite des Neuen ist das von der identifizierenden Vernunft nicht Erfaßte. Genauer ge-sagt, das noch nicht Erfaßte, denn daß Neuheit nicht von Dauer ist, ist ein Aspekt ihrer temporalen Bestimmung. Es ist für Adorno insofern mythisch, als sich in ihm qualitativ das verbirgt, was in der „Entzauberung der Welt"60 durch die „Zerstörung von Göttern und Qualitäten"61 von der Vernunft ausgeschlos-sen wurde:

„Das Neue wäre also demnach das Unbekannte. [...] Das Neue als Unbe-kannte [s] erregt Grauen. Das Unbekannte, das vielleicht die Erfüllung wäre, erscheint innerhalb des Bestehenden und Gewohnten, innerhalb des ganzen Umkreises jener Erfahrung, auf die wir nun einmal geeicht sind, gerade als das unaussprechbar Furchtbare."62

Je mehr sich die Vernunft einverleibt, desto bedrohlicher und gleichzeitig reiz-voller erscheint das, was sie nicht fassen kann. Insofern erfährt die Idee des Neuen eine ähnliche Entwicklung wie der Begriff der Sensation; aus diesem „exoterischen Synonym fürs Baudelairsche Nouveau", das ursprünglich „die einfache, unmittelbare Wahrnehmung, den Gegensatz zur Reflexion" meint, wird mit dem Fortschreiten der Rationalisierung zunächst „das große Unbe-kannte", schließlich „das massenhaft Erregende, destruktiv Berauschende, der Schock als Konsumgut".63 Die Radikalisierung im Ausschluß des noch nicht Identifizierten ist das „kometenhaft ferngerückte, extrem Neue"64. Wahr an dieser Entwicklung ist nach Adorno, daß das Neue als Inkommensurables emp-funden wird. Dagegen hat Hegel die Reaktion aufs Neue als konstitutive Ope-ration des sich selbst gleichbleibenden Geistes beschrieben. Das Neue ist für ihn eine Konstruktion des Geistes, ein Unmittelbares, an dem er seine Mecha-nismen erproben kann; in Wirklichkeit ist es ein Verdrängtes, Vergessenes, das unvermittelt wieder hervorkommt:

rückgegriffen, sondern das Neueste ist, als Schein und Phantasmagorie, selber das Alte." (Brief Adornos an Benjamin vom 2.-4. und 5.8.1935. In: BW, S. 145.)

59 MM, S. 270. 60 DA, S. 19. 61 DA, S. 24. " V Ä , S. 73.

" MM, S. 269. 64 MM, S. 271.

121 101

„Indem »eine |dr« (immex, S/| Vollendung darin besieht, das, was er ist, seine Substanz, vollkommen y.u wissen, so ist dies Wissen sein Insichgehen, in wel-chem er sein Dasein vorläßt und seine Gestalt der Erinnerung übergibt. In sei-nem Insichgehen ist er in der Nacht seines Selbstbewußtseins versunken, sein verschwundenes Dasein aber ist in ihr aufbewahrt; und dies aufgehobene Da-sein - das vorige, aber aus dem Wissen neugeborene - ist das neue Dasein, eine neue Welt und Geistesgestalt. In ihr hat er ebenso unbefangen von vorn bei ihrer Unmittelbarkeit anzufangen und sich von ihr auf wieder großzuzie-hen, als ob alles Vorhergehende für ihn verloren wäre und er aus der Erfah-rung der früheren Geister nichts gelernt hätte."65

Diese Beschreibung Hegels kann nach Adorno als Offenbarungseid des Identi-tätsdenkens gelesen werden. Weil die Identifizierung als Vermittlung des Be-sonderen mit den allgemeinen Begriffen „im zum Absoluten stilisierten identi-schen Selbstbewußtsein konstitutiver Subjektivität"66 stattfindet, in dem in der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem immer das Allgemeine die Ober-hand gewinnt, kann die Identitätsphilosophie als System kein Neues zulassen: „Die gedankliche Bewegung, der Eintritt des Neuen, fügt nicht Kantisch dem grammatischen Subjektbegriff etwas hinzu. Das Neue ist das Alte."67 Versteht man das Neue hier als Statthalter des Besonderen, Nichtidentischen, während das Alte das Allgemeine, (nur scheinbar) Identische ist, so ist der Adornosche Satz, daß es darauf ankomme, „das Neue des Alten zu sehen anstatt einzig das Alte des Neuen"68, als Plädoyer für die Wahrnehmung der „Asymmetrie im Modus der Vermittlung"69 zwischen Identischem und Nichtidentischem zu verstehen.70

Falsch an der regressiven Reaktion auf das Neue sind für Adorno einer-seits die Radikalität in der Trennung von Bekanntem und Unbekanntem und andererseits der Versuch, auch noch das Unbekannteste als Altes, Gleiches, Bekanntes zu verstehen und seine Schockwirkung allein als eine von der Ver-nunft sich selbst gestellte Aufgabe zu begreifen. Diese Vorgehensweise ist je-doch dem Identitätsdenken immanent. Es definiert das Unbekannte, Unerfaßte als neu und nimmt es damit bereits in sich hinein. Denn das, was ganz anders als die Vernunft sein soll, wird mit einem ganz abstrakten Begriff belegt, der nichts über die Qualität dessen, was neu sein soll, aussagt. Deshalb erscheint das Neue auch plötzlich. Es taucht unvermittelt auf und wird erst dann nach

65 HEGEL: Phänomenologie des Geistes, a. a. O., S. 590-1 .

"THYEN, a. a. O., S. 163. 67 ADORNO: Drei Studien zu Hegel. In: GS 5, S. 363. 68 ME, S. 46. 69 THYEN, a. a. O., S. 169. 70 Das ist Thyen zufolge ein zentraler Ansatzpunkt der Adornoschen Hegelkritik: „War

nach Hegel Dialektik das konsequente Bewußtsein von Identität der Identität und Nichtidenti-

tät, so zielt Adornos negative Dialektik auf das .konsequente Bewußtsein von Nichtidentität' der .Identität von Identität und Nichtidentität'." (Ebd., S. 175-6.)

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und nach identifiziert. 1st das Neue erst einmal als solches bezeichnet, unter diese Kategorie subsumiert, ist es für das Identitätsdenken nur noch eine Frage der Zeit, bis es vollständig integriert ist. Bei diesem Integrationsprozeß bleibt -wie Nietzsche, dessen Vernunftkritik Adorno in vielen Punkten zustimmen konnte, anschaulich beschrieben hat — von den sinnlichen Qualitäten des Er-kenntnisobjekts das meiste unberührt. Der Einfachheit halber erklären wir das Neue mit Hilfe des bereits Bekannten:

„Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig; fremde Musik hö-ren wir schlecht. Unwil lkürl ich versuchen wir, beim Hören einer andren Spra-che, die gehörten Laute in Worte einzuformen, welche uns vertrauter und hei-mischer klingen: so machte sich zum Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort Armbrust zurecht. Das Neue findet auch unsre Sinne feindlich und widerwillig [...]. So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich abliest — er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und ,erräth' den zu diesen fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn —, eben so wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phan-tasiren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso: wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, nicht als .Erfinder' irgend einem Vorgange zuzuschauen. Dies Alles will sagen: wir sind von Grund aus, von Alters her - ans Lügen gewöhnt."71

Für Adorno ist durch diese Art von Lüge das Denken überhaupt konstituiert. Sein Logik- und Begriffssystem ist nicht das geeignete Instrument, um das, was dem eigentlichen Sinn des Neuen entspräche, zu erfassen, denn das Neue ist ja gerade das, was per definitionem noch außerhalb des dem Denken Assimilier-ten liegt. „Das bis heute gefesselte Bewußtsein ist wohl des Neuen nicht einmal im Bilde mächtig: es träumt vom Neuen, aber vermag das Neue selbst nicht zu träumen."72 Deshalb muß der Hegeische Versuch, auch noch das Neue zu inte-grieren, fehlschlagen. Das, was er das Neue nennt, ist alt und bekannt. Um-gekehrt zielt die Kantische Idee des synthetischen philosophischen Urteils nach Adorno zwar in die richtige Richtung, ist jedoch im Rahmen der Identi-tätsphilosophie nicht denkbar: „Auf das Neue zielt nach Kant das philosophi-

71 NIETZSCHE: Sämtliche Werke, a. a. O., Bd. 5, S. 1 13 -4 . 71 ÄT, S. 354-5 . - Hierin liegt auch der Grund dafür, daß Adorno nicht einzelne Schulen

kritisiert, sondern Rationalität überhaupt. Allerdings ist er, wie Gripp zu Recht bemerkt hat, da-von überzeugt, daß die Unangemessenheit des Denkens an die Wirklichkeit - auch wenn bzw. gerade weil sie aus der historischen Herkunft und Entwicklung der Rationalität resultiert - keine notwendige ist: „Alles Denken bewegt sich in der Spannung, in den Widersprüchen, daß es et-was erfassen will, das es auf Grund seiner eigenen Insuffizienz nicht erkennen kann. Diese In-suffizienz aber, und dies ist für die Position Adornos entscheidend, ist nicht eine dem Denken transzendental vorgegebene, sondern eine gleichsam historisch zu verantwortende Beschränkt-heit." (GRIPP, a. a. O., S. 112.)

123 101

sehe Urteil ab, und doch erkennt es nichts Neues, da es stets bloß wiederholt, was Vernunft schon immer in den Gegenstand gelegt."75

Die Kategorie des Neuen selbst ist wie alle Kategorien für Adorno bereits ein Vermitteltes. Sie beinhaltet außerdem keine qualitative Bestimmung dessen, was unter ihr zusammengefaßt wird.74 Alle Kategorien sind für Adorno mit Kant

„Regeln für einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschau-ung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet. "75

Der Begriff des Neuen ist eine ganz abstrakte Bezeichnung für das Allerkon-kreteste. Deswegen bezeichnet Adorno ihn als „Kryptogramm" oder als „X", ein Platzhalter für etwas noch nicht Bestimmtes.76 Er kategorisiert das Beson-dere, indem er von allen Qualitäten des Besonderen absieht und es auf die Tat-sache reduziert, daß es gerade erst ins Bewußtsein gelangt ist, und setzt es auf die Liste dessen, was noch mit bekannten Begriffen qualifiziert werden muß. Sobald es qualifiziert und integriert wurde, verliert es seine Neuheit, wird zum schon immer Dagewesenen, zum Alten.

Für Adorno interessant ist der Augenblick der Neuheit des Neuen, der Moment, in dem es noch als das Abstrakteste erscheint:

„In der Abstraktheit des Neuen aber verkapselt sich ein inhaltlich Entschei-dendes. Der alte Victor Hugo hat es in dem Wort über Rimbaud77 getroffen, er habe der Dichtung einen frisson nouveau geschenkt. Der Schauer reagiert auf die kryptische Verschlossenheit, die Funktion jenes Moments des Unbe-stimmten ist. Es ist aber zugleich die mimetische Verhaltensweise, die auf Ab-straktheit als Mimesis reagiert. Nur im Neuen vermählt sich Mimesis der Ra-tionalität ohne Rückfall: ratio selbst wird im Schauer des Neuen mimetisch: mit unerreichter Gewalt bei Edgar Allan Poe, wahrhaft einem der Leucht-

73 DA, S. 43. - Vgl. zum Begriff der Synthesis bei Adorno: Josef FRÜCHTL: Mimesis. Konstellation eines Zentralbegriffs bei Adorno. Würzburg 1986, S. 222-40.

74 Die Abstraktheit des Neuen ist auch der Grund dafür, daß die Hervorbringung von Neuem keine allgemeinen Regeln kennen kann. So auch Brunkhorst: „Keine Deduktion kann es [das Neue, SZ] ableiten, keine induktive Generalisierung kann etwas strukturell Neues erschlie-ßen." (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 33.)

75 Immanuel KANT: Kritik der reinen Vernunft. In: ders.: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm WEISCHEDEL. Bd. III und IV. Frankfurt am Main 1984, S. 144-5 (bei ADORNO zitiert in: Drei Studien zu Hegel. In: GS 5, S. 369).

76 Vgl. ÄT, S. 55 und Vorlesung im Sommersemester 1961, z. B. V o 6374, V o 6457. 77 Hier irrt Adorno, es handelt sich um eine Äußerung Hugos über Baudelaire in seinem

Brief an Baudelaire vom 6.10.1859. In: BAUDELAIRE: Sämtliche Werke/Briefe, a. a. O., Bd. 5, S. 301.

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l l irme HU Hilda ires und aller Moderne. DUM Neue ist ein blinder Fleck, leer wie da» vollkommene Dies da .""

Weil das ganz. Neue selbst „das vollkommene Dies da", das Unvermittelte, Konkrete ist, muß jeder Versuch, es adäquat zu beschreiben, fehlschlagen. Die Abstraktheit des Neuen, mit dem Adorno zufolge dennoch der Erkenntnispro-zeß beginnt, ist deshalb insofern wahr, als sie Symptom für die Abstraktheit der gesamten Erkenntnis79 ist. Weil unmittelbare Erfahrung von begrifflicher Erkenntnis abgelöst wurde, ist der Begriff des Neuen nur noch ein letzter Ab-glanz dessen, was nicht mehr erfahren werden kann:

„Die Schicht des nicht schon Vorgedachten, des Intentionslosen, an der einzig die Intentionen gedeihen, scheint aufgezehrt. Von ihr träumt die Idee des Neuen. Selber unerreichbar, setzt es sich anstelle des gestürzten Gottes im Angesicht des ersten Bewußtseins vom Verfall der Erfahrung. Aber sein Be-griff bleibt im Bann ihrer Erkrankung, und davon legt seine Abstraktheit Zeugnis ab, ohnmächtig der entgleitenden Konkretion zugekehrt."80

Der Begriff des Neuen ist abstrakt, weil er nichts über das, was er bezeichnen soll, aussagt. In der Hilflosigkeit, die darin sichtbar wird, liegt seine erkenntnis-theoretische Wahrheit. Sie repräsentiert das allgemeine Dilemma des Begriffs, zugleich „Organon des Denkens und gleichwohl die Mauer zwischen diesem und dem zu Denkenden"81 zu sein, auf das Adornos Erkenntnistheorie zielt.82

Richtige Erkenntnis wäre die, in der Neuheit nicht der Beginn der Integration des gerade ins Bewußtsein Gelangten in ein vorhandenes Erkenntnissystem wäre, sondern in der das vorhandene System sich mit jedem Neuen verändern83

78 ÄT, S. 37 -8 . 79 Von Guzzoni wie folgt beschrieben: „Die Aufhebung der ursprünglichen Fremdheit und

Andersheit durch die Hineinnahme in den Immanenzbereich des Subjekts führt zu einer neuen Fremdheit von ganz anderer Qualität [...]. Zwischen erkennendem Subjekt und zu erkennen-dem Objekt ist jedes .subjektive' Teilnahmeverhältnis von vorneherein ausgeschlossen. Der Er-kenntnisbezug abstrahiert wesentlich vom natürlichen Umgang, von persönlicher Nähe oder Ferne, von Betroffenheit und Engagement. Subjekt und Objekt treffen sich auf einer Ebene, auf der sie immer schon absolut voneinander getrennt sind". (GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 54.)

80 MM, S. 269. 81 ND, S. 27. 82 Der z .B . von Beierwaltes (a .a .O. , z .B . S. 280, 303, 314) vorgetragene Vorwurf ,

Adorno stehe für seine Kritik an der Vorherrschaft des Allgemeinen kein anderes Mittel als das kritisierte, nämlich Sprache und Allgemeinbegriffe, zur Verfügung, diskreditiert seine Theorie nicht. Selbstverständlich kann Adorno nicht auf Begriffe verzichten, ihm geht es um kritische Bewußtmachung der Aporien des Begriffs. Schnädelbach hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Adornos Vernunftkritik auch die dialektische Vernunft nicht ausnimmt. (SCHNÄDELBACH, a. a. O., S. 68.)

83 Das entspricht dem Kuhnschen Modell wissenschaftlicher Revolutionen, die allerdings erst dann stattfinden, wenn es nicht gelungen ist, etwas Neues in das vorhandene System zu in-

125 101

. UlilPPiU . *

und damit als llexible* System erweisen" oder letztlich gar aul seine von Herr-schaft geprägte Systemhultigkeit verzichten würde,85 so daß Neuheit keine Irri-tation mehr darstellte, es genaugenommen gar nichts Neues (als Noch-nicht-Integriertes) mehr gäbe, sondern höchstens Fremdes, das in seiner Fremdheit belassen wird: „Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der ge-währten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen."86 Daß es Neues gibt, ist insofern für Adorno Beweis des unzu-länglichen und hypothetischen Charakters rationaler Erkenntnis, aber auch Indiz für die Möglichkeit, das zu ändern. So läßt sich die Frage nach der Mög-lichkeit des Neuen erkenntnistheoretisch so beantworten, daß es das Neue gibt (in der Kunst), weil es Nichtidentisches gibt - das potentiell systemverändernd ist. Deshalb ist der Möglichkeitsgrund von bestehender Neuheit Vorausset-zung für die Möglichkeit historischer Neuheit.

tegrieren. Die Integration ist also für ihn die erste Option. (Thomas S. KUHN: Die Struktur

wissenschaftlicher Revolutionen. Zweite, revidierte und um das Postskriptum von 1969 er-

gänzte Auflage. Frankfurt am Main 1976.) 84 Sprache und damit Denken ist für Adorno durchaus flexibel (sonst wäre auch Dichtung

als Kunst nicht möglich). Das Immanenzsystem der Begriffe ist für ihn unproblematisch, im

Gegenteil, es macht das Denken überhaupt erst möglich, und Rationalität wird bei Adorno zwar

kritisiert, soll aber keinesfalls gänzlich verworfen werden. Zwar bleiben die einzelnen Wörter

gleich, doch können sie je nach Situation, historischem Zusammenhang und Konstellation völlig

Verschiedenes ausdrücken, und diese Flexibilität gilt es nicht nur zu erkennen, sondern ebenso

zu nutzen wie ihre Allgemeinheit. Im übrigen bestehen für Adorno Sprache und Denken nicht

aus Wörtern und Begriffen, sondern aus Gedanken. Der Vorwurf des performativen Wider-

spruchs der Theorie Adornos, wie ihn neben vielen anderen Habermas äußert (HABERMAS: Der

philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 144), versteht Sprache als viel zu statisch und

überbewertet Adornos Kritik an der Identifikation gegenüber seiner Kritik an der Statik der

Begriffe. - Vgl. zu diesem Thema Rolf TLEDEMANN: Begriff Bild Name. Über Adornos Utopie

von Erkenntnis. In: Michael LÖBIG und Gerhard SCHWEPPENHÄUSER (Hg.): Hamburger

Adorno-Symposion. Lüneburg 1984, S. 67-78 . 85 Denn: „Wahrhafter Vorrang des Besonderen wäre selber erst zu erlangen vermöge der

Veränderung des Allgemeinen." (ND, S. 307.) 86 ND, S. 192.

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III. D A S NF.UF. IN DER GESCHICHTE

Der Begriff des Neuen hm in den Geschichtsphilosophien aller Zeiten eine große Rolle gespielt, und die Bedeutungen, die ihm dabei zugesprochen wur-den, sind ihm bis heute inhärent. Das Neue ist sowohl eine Kategorie des f ina-len oder teleologischen wie auch des kausalen Denkens. Es wird zur Beschrei-bung einer kontinuierl ichen, determinierten Entwicklung ebenso benutzt wie für nicht determinierte Ereignisse. Dabei schwankt die Bedeutung zwischen der Idee eines qualitativ absolut Neuen und eines nur temporal Neuen, des Jüng-sten, dessen qualitativer Unterschied vom Vorangegangenen irrelevant ist. Die jeweilige Bedeutung des Begriffs des Neuen ist von der jeweil igen Konstellation der geschichtsphilosophischen Grundideen von Determinat ion und Indetermi-nation, Telos und Ursprung, Fortschritt und Dynamik abhängig.

Für Adorno ist das Neue geschichtsphilosophisch das, was Geschichte überhaupt ausmacht. Geschichte ist dadurch definiert, daß in ihr Neues er-scheint:

„Geschichte besagt jene Verhaltensweise des Menschen, jene tradierte Verhal-tensweise, die charakterisiert wird vor allem dadurch, daß in ihr qualitativ Neues erscheint, daß sie eine Bewegung ist, die sich nicht abspielt in purer Identität, purer Reproduktion von solchem, was schon immer da war, sondern in der Neues vorkommt und die ihren wahren Charakter durch das in ihr als Neues Erscheinende gewinnt."1

Dabei lassen sich in Adornos Geschichtsphilosophie drei Bedeutungen des Be-griffs des Neuen unterscheiden. Neues ist für ihn zum einen ein strukturel les Merkmal von Dynamik überhaupt. Es bezeichnet die Veränderungen im zeitli-chen Verlauf. Es kann ein wahres oder falsches Neues sein, je nachdem, ob es das Strukturmerkmal von wahrem oder falschem Fortschritt ist. Zum anderen muß für ihn ein Neues gedacht werden, das über die kontinuierl iche Bewegung und auch über das dialektisch produzierte Neue hinausgeht, ein Neues, das mit allen Traditionen bricht, ein „absolut Neues"2 . Absolute Neuheit käme der eingetretenen Utopie des ganz Anderen zu.

Daß Adornos Theorie die Möglichkeit zu historischer Veränderung, also ein wahres Neues, zuläßt, ist immer wieder bestritten worden. Unter den in der Adorno-Rezept ion immer wiederkehrenden Themen ist die Ant inomie vom „Verblendungszusammenhang" auf der einen Seite und der Utopie auf der an-deren Seite zentral.3 So wird - meist mit Bezug auf die Dialektik der Aufklärung - Adorno analog zur Ausweglosigkeit des Verblendungszusammenhangs von Herrschaft und Rationalität eine apokalyptische Geschichtsauffassung unter-

1 IN, S. 346. 2 Vgl. z. B. ME, S. 46. 3 Auch innerhalb der Frankfurter Schule, z. B. HABERMAS: Der philosophische Diskurs

der Moderne, a. a. O., S. 130 -57 . -WELLMER, a. a. O., S. 9 -47 .

127 101

stellt, nach der die „l.ngik der Grsehic luc die des Zerlalls"4 ist und Ge-schichte zwangsläufig auf ihr katastrophisches Ende zuläuft.5 Umgekehrt stellt sich Adornos Utopie aufgrund ihrer absoluten Negativität zum Bestehenden zunächst einmal als ebenso geschlossen dar wie dieses. Die Frage ist nun, ob und wie zwischen beidem zu vermitteln ist, ob die „Unermeßl ichkeit des Ab-standes zwischen Wirkl ichkeit und Utopie"6 überhaupt Hoffnung auf Vermitt-lung zuläßt.7 Daß die Kunst Adorno zufolge Anhaltspunkte für eine Vermitt-lung bietet, indem sie das Mögliche als Schein herstellt, wird nicht bestritten, doch löst das nicht das Problem, wie genau diese Vermitt lung stattf indet und wie sie vom Schein der Kunst in die Realität umgesetzt werden kann.

Versuche, die Aporie aufzulösen, setzen an verschiedenen Stellen an. Weil der Chor ismos zwischen Realität und Utopie nicht als absolut gedacht werden darf, wenn denn die Möglichkeit bestehen soll, ihn zu überschreiten, muß ent-weder die absolute Negativität der Realität verneint oder aber die Utopie an-ders gedacht werden. So wird versucht, die Negativität des Bestehenden und den katastrophischen Verlauf der Geschichte zu relativieren, indem Adorno unterstellt wird, er habe es zwar so gesagt, aber nicht so gemeint8 bzw. sein

4 W . Martin LÜDKE: Zur „Logik des Zerfalls". In: ders. und Burkhardt LINDNER (Hg.): Materialien zur ästhetischen Theorie Th. W. Adornos. Konstruktion der Moderne. Frankfurt am Main 1980, S. 439. - Entsprechend hat Geyer den Begriff einer „Inversion der Geschichts-philosophie" eingeführt. (Carl-Friedrich GEYER: Aporien des Metaphysik- und Geschichtsbe-griffs der kritischen Theorie. Darmstadt 1980, S. 133.) - Schmid Noerr spricht von „negativer Geschichtsphilosophie". (Gunzelin SCHMID NOERR: Unterirdische Geschichte und Gegenwart in der Dialektik der Aufklärung. In: Harry KUNNEMANN und Hent DE VRIES [Hg.]: Die A k -tualität der Dialektik der Aufklärung. Zwischen Moderne und Postmoderne. Frankfurt am Main/New York 1989, S. 69.)

5 Einer verbreiteten Auffassung zufolge, die z. B. Schmid Noerr vertritt, ist die Interpreta-tion der Geschichte, wie sie sich in der Dialektik der Aufklärung darstellt, eine Projektion aus der Gegenwart des Faschismus in die Vergangenheit, die damit verfälscht wird, und in die Zukunft, die damit determiniert wird. „Die Anatomie des Faschismus bildet einen Schlüssel zur Anato-mie der Geschichte als ganzer." (SCHMID NOERR, a. a. O. , S. 78.)

' WELLMER, a. a. O., S. 20. 7 Analog zu den Fragen, ob und wie es möglich sein kann, aus dem Immanenzzusammen-

hang der Vernunft herauszutreten bzw. innerhalb der totalen Gesellschaft Freiheit zu realisie-ren. Angesichts der Tatsache, daß jeder in den Verblendungszusammenhang verstrickt ist, tritt dazu dann noch die Frage nach dem Subjekt der Veränderung.

8 Z. B. Allkemper: „Die Totalitätsaussagen, die sich in der Philosophie Adornos, wenn auch häufig eingeschränkt, finden, sind nicht ä la lettre zu nehmen". (ALLKEMPER, a. a. O.,

S. 117.) - Oder Brunkhorst: „Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebro-chen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein' [DA, S. 29]. Der letzte Satz unter-

stellt eine metaphysische Ausweglosigkeit. Er kann freilich so nicht gemeint gewesen sein."

(BRUNKHORST: Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 278.)

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Negativismus sei „methodische Übertreibung",' ' Oder aber die negativistische Auffassung Adornos wird schlicht als falsch angesehen, weil er der Realität nicht gerecht werde, die so negativ nicht sei.10 Was Adornos Auffassung von der Utopie betr ifft , so wird sie beispielsweise von Wel lmer als theologisches Motiv und seine Geschichtsphilosophie entsprechend als eschatologisch aufge-faßt,11 Theunissen sieht hier die Transzendierung in Metaphysik,1 2 und Bohrer macht den Vorschlag, die Utopie - im Anschluß an Benjamin - in den Augen-blick der ästhetischen Erfahrung zu verlegen.13

Ich bin mit Theunissen der Auffassung, daß man, gerade wenn man Adorno beim Wort nimmt, ihm keinen absoluten Negat iv ismus vorwerfen kann, sondern „daß er an der Möglichkeit eines Anderen festhält und daß er die-sem darüber hinaus auch Wirklichkeit zuspricht, und zwar Wirkl ichkei t in der bestehenden Welt"14 . Zu fragen wäre, wie diese Konstruktion sich innerhalb der Logik seiner Theorie denken läßt, und dabei kann - so glaube ich zeigen zu können - das Neue als Kategorie, die temporal und qualitativ zugleich ist, eine wichtige Rolle spielen, denn in der Adornoschen Geschichtsphilosophie kommt es maßgeblich darauf an, die Geschichte nicht als statisch aufzufassen, sondern als dynamisch mit der Option auf qualitativen Fortschritt . Adornos Satz „Die Defini t ion dessen, was Kunst sei, ist allemal von dem vorgezeichnet , was sie einmal war, legitimiert sich aber nur an dem, wozu sie geworden ist, of-fen zu dem, was sie werden will und vielleicht werden kann"15, tr ifft auch auf Geschichte zu. In bezug auf die Negativität des Bestehenden scheint mir der Hinweis Theunissens entscheidend zu sein, daß nicht alles, was ist, negativ ist, daß auch Einheit Adorno zufolge nicht durchaus negativ zu denken ist, son-

' SCHMID NOERR, a. a. O., S. 79. So will Schmid Noerr versuchen, „die Horkheimer-Adornosche Geschichte des .Grauens' [...] auf ein heuristisches Prinzip herunterzuschrauben." (Ebd., S. 69 -70 . )

10 So z. B. Habermas: „Die Dialektik der Aufldärung wird dem vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne, der in den bürgerlichen Idealen festgehalten (und mit ihnen auch instru-mentalisiert) worden ist, nicht gerecht. [...] Der Leser gewinnt mit Recht das Gefühl , daß die nivellierende Darstellung wesentliche Züge der kulturellen Moderne nicht berücksichtigt." (HABERMAS: Der philosophische Diskurs der Moderne, a. a. O., S. 137-8 . )

11 „In seinen Thesen zur Geschichtsphilosophie hatte Benjamin postuliert, die .Puppe historischer Materialismus/ müsse die Theologie in den Dienst nehmen. Adornos Philosophie ließe sich als Versuch verstehen, dieses Postulat zu erfüllen." (WELLMER, a. a. O., S. 19.)

12 Adornos Philosophie ist für ihn „eine Dialektik, die sich transzendiert, indem sie in Metaphysik übergeht." (THEUNISSEN, a. a. O. , S. 46 . ) Und: „In der Metaphysik soll der Negati-vismus den Halt gewinnen, den er anders nicht findet." (Ebd., S. 57.)

13 Für Bohrer ist die „Utopie des .Augenblicks' [...] Variante der negativen Utopie". (Karl Heinz BOHRER: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt am Main 1981 , S. 218.)

14 THEUNISSEN, a. a. o . , s . 50. 15 ÄT, S. 11-2.

128

dern: „Das Negative ist das Ganze nur in dem Sinne, daß es herrscht. Und hinsichtlich der Utopie halte ich Bolz' Diagnose für richtig, wonach Adorno Hoffnung nicht als Prinzip hypostasiert, sondern „als Sinn für die Möglich-keit"17 versteht. Fortschritt würde sich also dort ereignen, wo im Bewußtsein der Möglichkeit von Veränderung Herrschaft nicht stattfände. Dieser Fort-schritt wäre ein wahrhaft Neues in der Geschichte, das die Immanenz der Ge-schichte sprengte, indem es sich negativ zu ihren totalitären Prinzipien verhält und teilhat an der gesellschaftl ichen Utopie eines völlig herrschaftslosen Zu-standes. Wie sich das im einzelnen darstellt und welche Funkt ion der Begriff des Neuen in dieser Konstruktion hat, möchte ich im Folgenden zeigen.

Adorno hat als Ausgangspunkt für seinen Vortrag über Fortschritt1S, den er 1962 auf dem Münchener Philosophenkongreß gehalten hat,19 die Geschichts-philosophie des August inus gewählt, weil dort der Grundstein für alle folgen-den geschichtsphilosophischen Konzeptionen gelegt wurde und insbesondere die Fortschritts idee ihre grundlegende Prägung erfahren hat.

Mit der alttestamentl ichen Prophetie wird innerhalb der christl ich-jüdi-schen Tradition20 zum ersten Mal der Blick von der Vergangenheit in die Zu-kunft gewendet.21 Dort22 und in der spätjüdischen und christl ichen Apoka lyp-tik23 ist das Neue das ganz Andere, Wunderbare der Endzeit, ein absolut Neues, das negativ best immt wird durch die Abgrenzung vom Gegenwärtigen. Weder resultiert dieses Neue aus der vorangegangenen Geschichte, noch ist die Geschichte an dem erwarteten Neuen als Telos ausgerichtet. Verantwortl ich für das Eintreten des Neuen ist allein der Schöpfergott, der creator ex nihilo. Bei Paulus24 wird das Neue zu einem gegenwärtigen. Durch den Glauben, der mit der durch den Tod Jesu vollzogenen Weltenwende zum Menschen gekom-menen ist, wird das Neue ein bereits erkanntes und mit Gewißheit erwartetes, jedoch noch nicht eingetretenes Neues. Entsprechend wird die Geschichte als an diesem Ziel teleologisch orientiert aufgefaßt . Der Beitrag des Menschen zum Erreichen des Ziels ist sein Glaube. Die Theologie nach Paulus sieht sich nun mit einer Frage konfrontiert , die die gesamte christliche Geschichtstheolo-

16 THEUNISSEN, a. a. O., S. 49. 17 BOLZ: Erlösung als ob, a. a. O., S. 268. 18 F, S. 6 1 7 - 3 8 . 19 KUHN/WIEDMANN (Hg.), a. a. O. 20 Zur christlich-jüdischen Geschichtsphilosophie vgl. MOLTMANN: Artikel „Neu, das

Neue I.", a. a. O., Sp. 725 -7 . - Ders.: „Das Kommen Gottes". Christliche Eschatologie. Gü-tersloh 1995. - Zum Begriff des Neuen in der christlich-jüdischen Tradition: Karl PRÜMM: Christentum als Neuheitserlebnis. Freiburg Br. 1939. - BEHM, a. a. O.

21 Wolfgang PANNENBERG: Neuer Wein in alte Schläuche. Eschatologie und Geschichte im frühen Christentum. In: HERZOG/KOSELLECK (Hg.), a. a. O., S. 571 f.

22 Vgl. besonders Jes. 43 , 18 - 9 . 23 Vgl. vor allem Apk. 21 , 1 , 4 und 5. 24 Vgl. 2. Kor. 5 ,17; 2. Kor. 6,2; Rom. 13 ,11 ; Rom 8 ,22-4 .

101

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gie prägt und mit fortschreitender Zeit immer schwieriger zu lösen ist, nämlich warum die Wiederkunft Christ i und damit die Erlösung des Leibes ausbleibt und wie der ständig länger andauernde Zustand der Halberlöstheit theologisch zu erklären sei. Hier setzt nun die Idee des Fortschritts an.

Für August inus , der mit De civitate dei die erste „Weltgeschichte" über-haupt verfaßt hat, ist die Geschichte die Zeit zwischen der Wel tschöpfung und dem letzten Gericht Gottes, die linear in einer kontinuierl ichen, zielgerichteten Entwicklung durch sechs Altersstufen der Menschheit verläuft. Daß damit Gott über seine eigene Schöpfung Gericht hält, führt zu theoretischen Proble-men. So stellt sich die Frage, wie überhaupt Geschichte, die von August inus als Kampf zwischen den beiden Reichen der „civitas dei" und der „civitas diaboli" bzw. „civitas terrena" gesehen wird, entstand, wie das Böse in die Welt kam. Dieses Problem wird mit Hilfe des Sündenfalls gelöst. Mit ihm beginnt die Menschengeschichte als Kampf zwischen den beiden Reichen. Ohne einen Sün-denfall als Beginn der Geschichte ist weder Geschichte noch Erlösung denkbar. Und erst dadurch, daß im Chris tentum ein Teil der Erlösung als bereits ge-schehen gilt und die weitere Geschichte als teleologisch ausgerichtete Hei lsge-schichte verstanden wird, kann nach Adorno die Idee des Fortschritts über-haupt gedacht werden:

„Geschichte [wird bei Augustinus] zur Heilsgeschichte unmittelbar. Das war der Prototyp der Vorstellung von Fortschritt bis zu Hegel und Marx. In der Augustinischen civitas dei ist sie gebunden an die Erlösung durch Christus, als an die geschichtlich gelungene; nur eine bereits erlöste Menschheit kann be-trachtet werden, als bewege sie sich, nachdem die Entscheidung fiel, vermöge der Gnade, die ihr zuteil wurde, im Kontinuum der Zeit auf das himmlische Reich zu."25

Während der Begriff der Erlösung in der jüdisch-christl ichen Apoka lypt ik die Idee eines Bruchs mit allem bis dahin Dagewesenen einschließt, also die Idee eines absolut Neuen, versteht August inus die Erlösung zwar auch als einen sol-chen Bruch, jedoch geht ihr mit der Heilsgeschichte eine allmähliche Annähe-rung an die Erlösung, ein Fortschreiten der Menschheit durch die sechs Weltal-ter in diese Richtung voraus. Die Idee der Totalität, der qualitativen Andersheit des erlösten Zustandes wird dadurch beibehalten, daß sie als Bruch mit dem Bestehenden gedacht wird, indem Erlösung in einem jenseitigen Reich Gottes lokalisiert und damit aus der irdischen Menschheitsgeschichte verbannt wird, während das allmähliche Fortschreiten der diesseitigen Welt zugewiesen werden muß. Nach Adorno lag deshalb

„schon im Augustinischen Theologumenon einer immanenten Bewegung der Gattung auf den seligen Stand hin das Motiv unwiderstehlicher Säkularisation. Die Temporalität des Fortschritts selber, sein einfacher Begriff, verklammert

25 F, S. 620.

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ihn mit der empirUclian Well An Augustin läßt die innige Konstellation der Ideen Fortichritt, Erlönung und immanenter Geschichtsgang sich ablesen, die doch nicht ineinander aufgehen dürfen, wenn sie nicht wechselseitig sich vernichten sollen. [...] Sie [die Augustinische Lehre, SZ] hat alle Abgründe der Fortschrittsidee in sich und trachtete, sie theoretisch zu bewältigen. [...] Während Erlösung bei Augustin das Telos der Geschichte bildet, mündet diese weder unmittelbar in jene, noch ist jene zu dieser gänzlich unvermittelt. Sie ist der Geschichte eingesenkt durch den göttlichen Weltplan, ihr entge-gengesetzt nach dem Sündenfall. Augustin hat erkannt, daß Erlösung und Ge-schichte nicht ohne einander sind und nicht ineinander, sondern in einer Spannung, deren gestaute Energie schließlich nicht weniger will als die Aufhe-bung der geschichtlichen Welt selber."26

Mit August inus wird also die Idee des Fortschreitens hin zur Erlösung, zum höchsten Glück, wie es bei August inus heißt, säkularisiert.27 Gleichzeit ig wird der erlöste Zustand nicht mehr als novum., sondern als restitutio in integrum ver-standen, entsprechend den wichtigsten Eigenschaften Gottes, nämlich Einheit und Unwandelbarkeit . Nach August inus kann es Veränderung und Fortschritt daher nur im Geschaffenen geben. Diese Möglichkeit von Veränderung ist von Gott, der selber unwandelbar ist, mitgeschaffen. Er hat den Lebewesen Ver-nunftkräfte mitgegeben, die sich selbständig entwickeln und dem Menschen die Möglichkeit geben, sich zu entscheiden, auch gegen Gott. Indem sich jeder nur um seinen persönlichen Glauben, sein persönliches Heil sorgt, wird die Verant-wortung für die äußere Geschichte, also die gesellschaftliche Entwicklung, an den unerkannt waltenden Gott delegiert. Das Verhalten des einzelnen gegen-über der diesseitigen Realität kann also nicht anders als fatalistisch sein. Dieser Fatal ismus ist für Adorno in der Idee des Fortschritts erhalten geblieben:

„Schon bei Augustin jedoch gestattet [...] die Verinnerlichung des Fort-schritts, die Welt den Mächten zuzuweisen und darum, ähnlich wie dann Luther, das Christentum als staatserhaltend zu empfehlen. Die Platonische Transzendenz, die bei Augustin mit der christlichen Idee von Heilsgeschichte

26 F, S. 6 2 1 - 2 . 27 Blumenberg zufolge wurde nicht die Eschatologie säkularisiert, indem die Fortschritts-

idee aus ihr übernommen wurde, sondern umgekehrt hat sich die Eschatologie selber säkulari-

siert, indem sie die Fortschrittsidee in sich hineingenommen hat: „Die Fortschrittsidee als eine

der möglichen Antworten auf die Frage nach dem Ganzen der Geschichte wurde, so könnte

man sagen, in die Bewußtseinsfunktion der Eschatologie hineingezogen. Sie wurde dabei für eine Erklärungsleistung in Anspruch genommen, die ihre Rationalität überforderte. [...] Die Entste-

hung der Fortschrittsidee und ihr Einspringen für die religiöse Geschichtsdeutung sind also zwei

völlig verschiedene Vorgänge." (Hans BLUMENBERG: „Säkularisation". Kritik einer Kategorie hi-

storischer Illegitimität. In: KUHN/WIEDMANN [Hg.], a . a . O . , S. 240 -65 . ) Für A d o r n o ent-

scheidend ist allerdings, daß die Fortschrittsidee ihre für alle darauffolgende Geschichtsphiloso-

phie entscheidende Prägung in ihrer heilsgeschichtlichen Interpretation erhalten hat, ganz gleich

ob es sie vorher bereits als säkulare Kategorie gab oder ob sie erst in der jüdisch-christlichen

Geschichtsphilosophie entstanden ist.

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verschmolzen wird, ermöglicht es, das Diesseits an das Prinzip zu zedieren, gegen welches der Fortschritt gedacht ist, und erst am Jüngsten Tag, aller Ge-schichtsphilosophie zum Trotz, die unverstörte Schöpfung jäh wiederherstel-len zu lassen. Dies ideologische Mal blieb der Verinnerlichung von Fortschritt bis heute eingegraben."28

Etwas wirkl ich Neues kann es in der Augustinischen Konzeption der Heilsge-schichte nicht geben. Er erwartet zwar vom letzten Gericht fakt isch einen Bruch mit der Geschichte, der erlöste Zustand ist aber keineswegs absolut neu. Das vom siebten Weltzeitalter erwartete Neue ist für die, die im letzten Ge-richt als die Guten, Gerechten, Gläubigen eingestuft wurden, nichts anderes als die Wiederherstel lung des ursprünglichen Schöpfungszustandes vor dem Sün-denfall.

Etwas ganz Neues, bis dahin Unbekanntes wartet hingegen auf die Un-gläubigen, nämlich die ewigen Höllenstrafen. Das ewige Feuer, in dem die Lei-ber der Verdammten ewig brennen, ohne sich je zu verzehren, wird von Augu-stinus sogar als ein Wunder Gottes beschrieben. Es ist etwas nie Dagewesenes, das auf bis dahin nicht bekannte Weise wirkt, es ist wie alle Wunder „nicht wider die Natur , sondern nur wider die uns bekannte Natur."2 9 Das Neue ist bei August inus also zwar aus der Heilsgeschichte verbannt, doch wird damit bei ihm die Kategorie des Neuen nicht abgeschafft , sondern umgewertet .3 0 Das in der Apokalypse neu genannte Reich Gottes ist in der Theorie des August i -nus nicht wirkl ich neu. Das, was absolut neu ist, sind die von August inus ange-drohten Strafen für alle Ungläubigen.

Mit dem Verlust der religiös begründeten Hei lsgewißheit zu Beginn der Neuzeit wird die Vorstel lung des letzten Gerichts obsolet und mit ihr die Idee einer Rückkehr zum heilen Ursprung ebenso wie die Androhung von Höllen-strafen und damit die Idee eines absolut Neuen. Was bleibt, ist die bei August i -nus angelegte Idee des irdischen Fortschritts, die nun auf die gesamte Mensch-heit ausgedehnt wird. Diese Fortschrittsidee bedient sich allerdings nur des ein-geschränkten Begriffs des Neuen. Ein absolut Neues, das es in apokalypt ischen

28 F, S. 631. 29 Aurelius AUGUSTINUS: V o m Gottesstaat. München 1985, Bd. 2, S. 694. 30 Die von Moltmann diagnostizierte Domestizierung des Begriffs des Neuen bei den Kir-

chenvätern ist deshalb nur die halbe Wahrheit: „Die antignostischen Kirchenväter haben [...] die

Selbigkeit des Deus creator et salvator und die Identität der einen Schöpfung im Wechsel ihrer

Bestimmungen betont und auf die Eschatologie des Neuen fast ganz verzichtet. Sie haben das

Neue mit Hilfe der Kategorie ,re-' und die Hoffnung mit Hilfe der Anamnesis des heilen Ur-

sprungs domestiziert. Als restitutio in integrum und recapitulatio mundi gedacht, steht das

Neue nur noch in Kontrast zum Abfall und zum Vergessen und ist in Wahrheit Wiederholung

und Wiederkehr des Ursprünglichen. Als Novum gegenüber der Schöpfung gilt im Heil nur

noch die Verunmöglichung weiteren Abfalls." (MOLTMANN: Artikel „Neu, das Neue I.",

a. a. O., Sp 726.) Etwas Neues gibt es nach dem jüngsten Gericht durchaus, aber nicht für die

Gläubigen. Das Neue liegt außerhalb des Heilsweges, den die von Got t Erwählten einschlagen.

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Vorstellungen gab, «bei bereits bei Augustinus ganz, negativ besetzt war, wird nun theoretisch ausgeschlossen. Mit der „Rehabilitierung der theoretischen Neugierde"31 wird in den Wissenschaften die alte Kategorie des Neuen erneut umgewertet . Ren£ Descartes und Francis Bacon fordern neue Methoden der Erkenntnis und des wissenschaftl ichen Argumentierens, die eine Herrschaft des vernünft igen menschlichen Subjekts über die statische Natur als Objekt voraussetzen. Erstmals wird die Zukunft als nicht mehr durch göttl iche Vorse-hung best immt, sondern als offen erfahren, damit auch als kontingent , unbe-st immt, unsicher, allerdings auch als gestaltbar. Subjekt des individuellen wie des Fortschritts der Menschheit ist nun der Mensch selber. Er nimmt sein Schicksal in die Hand. Mit der Aufklärung wird der Ort des Fortschritts von einer unbest immten, fernen Zukunft in die Gegenwart verlegt. Ausgehend von der Annahme der Perfektibil ität des Menschen erscheint ein kontinuierl icher Fortschritt möglich. Das Neue tritt als positives die Nachfolge des apokalypt i-schen Novum an. Nach Adorno „setzt es sich anstelle des gestürzten Gottes"32 . Allerdings nicht als absolut Neues, sondern als Element von Fortschritt . Das Verschwinden des religiösen Glaubens an eine an Erlösung ausgerichtete Ge-schichte hat nicht zum Glauben an eine kontingente Entwicklung geführt . Statt dessen wurde die Idee der Kontinuität der Geschichte und der Glaube an eine automatische Verbesserung in der Aufklärung beibehalten, ohne den Glauben an das Telos zu übernehmen.33 Dieser Fortschrit tsoptimismus hat mit der religiösen Hei lserwartung gemeinsam den Glauben an eine unaufhaltsame Wei-terentwicklung. Was ihm jedoch fehlt, ist die Idee einer schließlichen Erlösung, die bei August inus noch untrennbar mit der Fortschrittsidee verbunden war.34

Während die August inische Geschichtsphilosophie ein schlüssiges Sys tem bil-dete, wird die Fortschrittsidee durch ihre Säkularisierung unstimmig.3 5 Das Fehlen eines Telos führt nach Adorno dazu, daß der Fortschri t tsopt imismus der Aufklärung immer mehr zu einer leeren Idee wird und der Fortschritt

31 Hans BLUMENBERG: Der Prozeß der theoretischen Neugierde. Frankfurt am Main

1973, S. 11 . 32 MM, S. 269. 33 Das betrifft auch die Wissenschaften. Darauf, daß das Fehlen eines rationalen Ziels an

der Geschichte der Naturwissenschaften selber ablesbar ist, die eine eigene Dynamik entwickelt

haben, hat Kuhn hingewiesen. (KUHN, a. a. O.) Das mußte ihm entsprechend die Kritik ratio-

nalistischer Philosophie einbringen, wie die von Stegmüller: „Kuhns Wissenschaftsauffassung

hat die meisten Philosophen, die von seinen Ideen Kenntnis genommen haben, mit sprachlosem

Entsetzen erfüllt. Denn diese Auffassung scheint auf eine Bestreitung der Grundvoraussetzung

aller Wissenschaftstheorien hinauszulaufen, nämlich, daß die Naturwissenschaften ein rationales

Unterfangen darstellen." (Wolfgang STEGMÜLLER: Theoriedynamik und logisches Verständnis.

In: Werner Diederich [Hg.]: Theorien der Wissenschaftsgeschichte. Frankfurt am Main 1974,

S. 167.) 34 So auch Hans BLUMENBERG: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt am Main 1966,

S. 23 f. 35 F, S. 6 2 0 - 1 .

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schließlich in sein Gegenteil umschlügt. Dus Ergebnis ist eine historische Ent-wicklung, deren Prinzip nach Adorno in einer Verquickung von Fortschritt und Regression bzw. Barbarei besteht. Fortschritt ist dabei immer nur ein ober-flächlicher, scheinhafter.

Das Dilemma der nachchristlichen Geschichtsphilosophie ist für Adorno, daß sie die Möglichkeit wirklichen Fortschritts selber abschneidet. Indem sie die christliche Idee der Erlösung und damit eines Telos streicht, müßten Ge-schichte und Fortschritt statt als teleologisch ausgerichtet von ihrem Ursprung her und damit konsequenterweise als determiniert gedacht werden. Indem dagegen - um die Idee von Freiheit zu retten - Geschichte und der säkulari-sierte Fortschritt als vom Menschen bestimmter Gegenentwurf zur statischen und determinierten Natur aufgefaßt wird, also der Mensch bzw. die Rationali-tät dieser Ursprung der Geschichte und des Fortschritts ist, hängt deren Dy-namik von der Dynamik des Denkens ab und ist in der Folge als Resultat des Rationalismus genauso statisch wie dieser als statischer Gegensatz zur Natur ist.

So beruht nach Adorno die Geschichtsphilosophie bis hin zur Idee einer dialektischen Entwicklung bei Hegel und Marx auf der strikten Trennung von Natur und Geist und faßt die Geschichte als dynamische Antithesis zur stati-schen Natur auf. „Die Dynamik, die sie [Hegel und Marx, SZ] lehrten, wird nicht als Dynamik schlechthin gedacht, sondern in Einheit mit ihrem Gegen-satz, einem Festen, an dem allein Dynamik überhaupt abzulesen ist."36 Zwar stimmt er der Auffassung, nach der die Geschichte das dynamische Prinzip ver-tritt, zu, jedoch sieht er sie erstens nicht in einem starren Gegensatz zur Natur, die für ihn zweitens nicht als statisch aufgefaßt werden darf, und drittens will er auch die Dynamik der Geschichte anders verstanden wissen. Gerade die Starrheit der Trennung zwischen Natur und Geist bzw. Geschichte oder zwi-schen dem statischen und dem dynamischen Prinzip führt dazu, daß Geist und Geschichte eben nicht dynamisch sind, sondern genauso statisch wie die Natur angeblich ist; sie sind am Ende ein Immergleiches, so daß dann von Fortschritt keine Rede mehr sein kann: „Jede Aussonderung naturhafter Statik aus der hi-storischen Dynamik führt zu falschen Verabsolutierungen, jede Absonderung der historischen Dynamik von dem in ihr unaufhebbar gesetzten Naturalen führt zu schlechtem Spiritualismus."37 Auf der Grundlage der undialektischen Beziehung von Natur und Geschichte konnten auch Hegel und Marx keine schlüssige Theorie des Fortschritts entwickeln. So ist es für Adorno mehr „denn bloßer Zufall, daß Hegel [...] keine ausgeführte Theorie des Fortschritts enthält, und daß Marx selbst das Wort gemieden zu haben scheint".38

36 F, S. 637. 37 IN, S. 354 38 F, S. 638.

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Bereits in seinem frühen Aul.«tat/. Die hlea der Naturgeschichte verlolgt Adorno die Idee einer dialektischen Verknüpfung von Natur und Geschichte, die er später in der Ntgttivtn Dialektik wieder aufnimmt:

„Festzuhalten bleibt, daß das Auseinanderfallen der Welt in Natur- und Geist-sein oder Natur- und Geschichtesein, wie es gebräuchlich ist vom subjektivi-stischen Idealismus her, aufgehoben werden muß und daß an seine Stelle eine Fragestellung zu treten hat, die die konkrete Einheit von Natur und Ge-schichte in sich bewirkt."39

Der angebliche Fortschritt, der für Adorno nur Fortschritt der Naturbeherr-schung ist, verdrängt scheinbar immer mehr den Einfluß der Natur, verstärkt die Starrheit der Trennung und ist doch gerade durch diese Leugnung der Na-tur immer mehr unterworfen. Geschichte ahmt das nach, was die Vernunft als Naturgeschichte identifiziert hat. Sie bedeutet keinen Fortschritt weg von blin-der Naturgewalt, sondern verhält sich mimetisch zu ihr.

Indem die Vernunft die Natur identifiziert, domestiziert, mit festen Be-griffen belegt, in Naturgesetzen festschreibt und schon bei den Vorsokratikern möglichst auf ein zugrundeliegendes Prinzip zu reduzieren versucht, faßt sie sie mehr und mehr als gleichbleibenden, unveränderlichen Faktor auf, dessen Bewegungen und Entwicklungen noch mit Kausalitätsgesetzen als Regelhaftig-keiten und Normen ausgelegt werden. Jedoch müssen nach Adorno diese Zu-schreibungen als Projektionen der Vernunft verstanden werden, die der Natur-beherrschung dienen sollen: „Die Statik des Naturbegriffs ist Funktion des dy-namischen Vernunftbegriffs; je mehr dieser vom Nichtidentischen an sich reißt, um so mehr wird Natur zum residualen caput mortuum, und das gerade erleichtert es, sie mit den Qualitäten von Ewigkeit auszustaffieren, die ihre Zwecke heiligen."40

Das Statische, was der Natur zugesprochen wird, ist in Wirklichkeit ein Merkmal des Denkens, das ihm in seiner falschen Form mehr zukommt als die ihm nach Adorno mögliche Dynamik. Diese Statik und Immergleichheit resul-tieren für Adorno aus der strikten Trennung von Geist und Natur; die absolut gesetzte, hypostasierte Vernunft ist ihrem Ursprung und ihrem Prinzip nach unveränderlich. Die Trennung von Geist und Natur ist statisch, und deshalb verfällt der Geist selbst um so mehr dem statischen Prinzip, das er der Natur zuschreibt, auch wenn er sich selbst als dynamisch versteht. Die Dynamik, die der Geschichte unterstellt wird, ist eine auf statischen Prinzipien beruhende Dynamik, d. h. eine unveränderliche, gleichbleibende Entwicklung, eine konti-nuierliche Bewegung ohne Brüche. Dynamik, die etwas anderes wäre als Natur und die eine wirkliche Überwindung der Naturverfallenheit bedeuten würde, muß nach Adorno über die bisherige Geschichtsphilosophie hinausgehen. Das,

39 IN, S. 354. 40 F, S. 624.

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was in tier Geschiehtsphilosophie Hegels ills Neues erscheint/1 steht in dem Zusammenhang mit der zielgerichteten dialektischen Evolution des Weltgei-stes, der die Geschichte nach dem Vorbild der Dynamik der Natur als konti-nuierlich erscheinen läßt.

Durch die Schematisierung der Geschichte, d. h. ihre Unterwerfung unter einen feststehenden Dynamikbegriff , und sei es den der dialektischen Entwick-lung, erscheint sie als vorhersehbar. Ein wirklich Neues kann es unter diesen Bedingungen nicht geben:

„Die Subsumtion des Tatsächlichen, sei es unter die sagenhafte Vorgeschichte, sei es unter den mathematischen Formalismus, die symbolische Beziehung des Gegenwärtigen auf den mythischen Vorgang im Ritus oder auf die abstrakte Kategorie in der Wissenschaft läßt das Neue als Vorbestimmtes erscheinen, das somit in Wahrheit das Alte ist. Ohne Hoffnung ist nicht das Dasein son-dern das Wissen, das im bildhaften oder mathematischen Symbol das Dasein als Schema sich zu eigen macht und perpetuiert."42

Je mehr die Natur als konsistent und von Kausalitätsbeziehungen best immt er-klärt und damit beherrschbar gemacht wird, desto mehr wird auch der Ge-schichte die Möglichkeit von diskontinuierlichen Momenten und von Nicht-Determiniertheit abgesprochen. Diese ist aber Voraussetzung für Veränderung, für die Möglichkeit eines Anderen. Denn wenn alles Neue aus dem Vergange-nen resultiert, kann die Zukunft nicht anders oder gar besser sein als die Ver-gangenheit. Das Fortschrittsmodell der Aufklärung mußte scheitern, denn Ra-tionalismus und wirklicher Fortschritt schließen einander aus. Rationalistischer Fortschritt bedeutet Unterdrückung der Natur, und dieser Fortschritt war ohne den Preis einer Regression nicht zu haben.

Der Fortschrittsoptimismus der Aufklärung trat die Nachfolge der jü-disch-christlichen Heilserwartung an, ohne deren Lösung für das Problem der Determiniertheit und der Kontingenz übernehmen zu können. Bei Augustinus wird mit Hilfe der Zwei-Welten-Lehre die gleichzeitige Prädestiniertheit und Freiheit des Menschen plausibel; dadurch, daß die Erlösung im Jenseits statt-findet, kann sie t rotz der Idee einer kontinuierlich verlaufenden Geschichte als Bruch gedacht werden. Beides ist nach dem Verlust des Glaubens an eine jen-seitige, göttliche Welt nicht mehr möglich. Die kantische Lösung, nämlich die Annahme eines kosmologischen Determinismus auf der einen Seite und eines sittlichen Indeterminismus auf der anderen Seite, wurde nach Adorno im histo-rischen Materialismus in eine temporale Abfolge umgedeutet:

41 Vgl. Gotthard GÜNTHER: Die historische Kategorie des Neuen. In: Wilhelm-Raimund BEYER (Hg.): Hegel-Jahrbuch 1970. Meisenheim am Glan 1971, S. 34 -61 . - LUCAS: Kontinui-tät, Einheit und das Neue, a. a. O., S. 259-92.

42 DA, S. 44.

137 133

„Die Kaniische llntvnulumluug eines Reichs der Freiheit von einem der Not-wendigkeit wird, (Kirch Mobilisierung der Hegelschen vermittelnden Ge-schichtsphilosophie, auf die Folge der Phasen übertragen. [...] Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, setzt die bewußtlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden, fort."43

Damit erscheint die Geschichte als Fortsetzung der Naturgeschichte, anstatt mit ihr zusammengedacht zu werden. Geschichte setzt für Adorno jedoch nicht die bewußtlose Naturgeschichte fort, löst sie nicht ab, ebensowenig exi-stieren Geschichte und Natur unabhängig voneinander, sondern Natur bleibt in der Geschichte präsent: „Natur und Naturgewalt als Modelle der Geschichte [...] behaupten sich [...] in der Philosophie, weil der identitätssetzende Geist identisch ist mit dem Bann der blinden Natur dadurch, daß er ihn verleugnet."44

Während die Annahme, die Geschichte setze notwendig die Naturgeschichte fort, theoretisch falsch ist, hat die historische Entwicklung der Gesellschaft doch genau diese Richtung genommen: „Die Naturgesetzlichkeit der Gesell-schaft ist Ideologie, soweit sie als unveränderliche Naturgegebenheit hyposta-siert wird. Real aber ist die Naturgesetzlichkeit als Bewegungsgesetz der be-wußtlosen Gesellschaft".45 So ist von dem in der Aufklärung unterstellten Fort-schritt nichts übrig geblieben und kann rationalistisch auch nichts anderes ge-dacht werden als „der utilitaristisch verkrüppelte Fortschritt"46, eine von selbst ablaufende Betriebsamkeit und Innovationswut, die nur noch dazu dient, die gesellschaftlichen Verhältnisse dadurch zu festigen, daß der Produktions- und Verwertungsapparat in Gang gehalten wird. Neues kann unter diesen Bedin-gungen nur Variation des Immergleichen sein. Die Idee des Neuen wurde zu einem formalen, abstrakten Wert, der beliebig besetzt werden konnte. Die der Natur unterstellte Unveränderlichkeit erfaßt die Geschichte, die doch gerade als das dynamische Prinzip gedacht war. Anstatt fortzuschreiten, reproduziert die Geschichte die zu der absoluten Naturbeherrschung gehörende Naturver-fallenheit. Der „losgelassene Fortschritt"47 konvergiert schließlich mit dem „losgelassenen Produktionsprozeß"48 . Seine leere Dynamik ist für Adorno ein „anthropologischer Reflex der Produktionsgesetze"49 . Fortschritt wird in den Dienst von Kapitalinteressen genommen. Das Resultat ist eine zunehmende Technifizierung der Welt, die als Fortschritt der Menschheit ausgegeben wird.

43 ND, S. 348-9 . 44 ND, S. 350. 45 ND, S. 349. 46 ÄT, S. 102. 47 MM, S. 147. - Zur Verselbständigung des Fortschritts vgl. Reinhart KOSELLECK: „Fort-

schritt" als Leitbegriff im 19. Jahrhundert. In: Otto BRUNNER, Werner CONZE, Reinhart KOSELLECK (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 407 ff.

48 MM, S. 134. 49 MM, S. 178.

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Die technische Entwicklung verläuft nach technikimmanenten Möglichkeiten und Kriterien, nach dem, was machbar ist, nicht nach dem, was nötig wäre — und genauso realisierbar. Die Umerziehung der Menschen dahingehend, daß sie sich ihre Bedürfnisse von dem technisch Machbaren diktieren lassen, hat die logische Folge, daß als beste Befriedigung der Bedürfnisse immer die neueste, d. h. jüngste Technik gilt.50 In den Produkten der Kulturindustrie zeigt sich die Verfilzung von Fortschritt und Barbarei ebenso wie in den jeweils neuesten technischen Errungenschaften. Da aber nichts davon auf die wirklichen Bedürf-nisse der Menschen eingeht, kann hier nicht von wirklichem Fortschritt ge-sprochen werden. Vielmehr dient er dazu zu verbergen, daß kein echter Fort-schritt stattfindet:

„Die Immergleichheit des Ganzen, die Abhängigkeit der Menschen von der Lebensnot, den materiellen Bedingungen ihrer Selbsterhaltung, versteckt sich gleichsam hinter der eigenen Dynamik, dem Anwachsen des vorgeblichen ge-sellschaftlichen Reichtums [...]. Die Realität produziert den Schein, sie ent-wickle sich nach oben, und bleibt au fond, was sie war."51

Der Mechanismus der Reproduktion des Immergleichen hat sich verselbstän-digt und ist in seiner Unkontrolliertheit und Blindheit statisch, mehr regressiv als progressiv. Er nimmt damit die Naturbeherrschung durch den Geist, die für Adorno durchaus zu den Errungenschaften der Aufklärung gehört52, zurück. Der Mensch wird vom Herrschenden wieder zum Beherrschten. Statt der Na-tur hat die Maschinerie der unendlichen Reproduktion des Immergleichen ihn in ihren Bann gezogen. Diese Dynamik zielt nicht auf den Fortschritt der Menschheit, sondern: „Das Telos der Dynamik des Immergleichen ist einzig noch Unheil".53

50 Das hat Auswirkungen auf die Rezeption von Neuem überhaupt: „Der faszinierte Eifer, die jeweils neuesten Verfahren zu konsumieren, macht nicht nur gegen das Übermittelte gleich-gültig, sondern kommt dem stationären Schund und der kalkulierten Idiotie entgegen. Sie be-stätigt den alten Kitsch in immer neuen Paraphrasen als haute nouveaute. Auf den technischen Fortschritt antwortet der trotzige und bornierte Wunsch, nur ja keinen Ladenhüter zu kaufen, hinter dem losgelassenen Produktionsprozeß nicht zurückzubleiben, ganz gleichgültig, was der Sinn des Produzierten ist. Mitläufertum, das sich Drängeln, Schlange Stehen substituiert allent-halben das einigermaßen rationale Bedürfnis. Kaum geringer als der Haß gegen eine radikale, allzu moderne Komposition ist der gegen einen schon drei Monate alten Film, dem man den jüngsten, obwohl er von jenem in nichts sich unterscheidet, um jeden Preis vorzieht." (MM, S. 134.)

51 F, S. 633. 52 „Wo immer jedoch von dem fürsichseienden Geist mit Grund geurteilt werden kann, er

schreite fort, partizipiert er selbst an der Naturbeherrschung, eben weil er nicht, wie er sich ein-bildet, X°Pl?> sondern in jenen Lebensprozeß verflochten ist, von dem er nach dessen eigenem Gesetz sich schied. Alle Fortschritte in den kulturellen Bereichen sind solche von Materialbe-herrschung, von Technik." (F, S. 634.)

5 3 Ä T , S . 333.

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Wirklicher Fortschritt muß erst noch gedacht werden, denn die Idee des wirkli-chen Fortschritts ist dem falschen Fortschritt zum Opfer gefallen. Weil der Verblendungszusammenhang aus einer Verquickung der hypostasierten Ra-tionalität und der totalitären Gesellschaft besteht, muß der erste Schritt sein, die Vernunftimmanenz zu überwinden, indem Neuheit erst einmal als möglich gedacht wird. Bei dem Versuch, wirklichen Fortschritt und wahres Neues zu denken, steht aber auch die regressive Wirkung dessen, was als Fortschritt auf-gefaßt wird, im Weg, weil die unreflektierte Trennung von Natur und Rationa-lität der Freiheit des Geistes zuwiderläuft. Weil die Unterdrückung der Natur auch immer Unterdrückung der Rationalität ist, ist sie schließlich nicht in der Lage, etwas Anderes und Neues überhaupt zu denken. Die Unterdrückung der Natur mit dem Ziel, den Geist zu befreien, bewirkte genau ihr Gegenteil: „Ab-solute Naturbeherrschung ist absolute Naturverfallenheit"54. Diese Naturver-fallenheit zu durchbrechen wäre wirklicher Fortschritt. Die Chance liegt darin, daß die gleiche Vernunft, die für die Naturbeherrschung und den falschen Fortschritt verantwortlich ist, dessen Negativität erkennen und einen wahren Fortschritt denken kann: „Dialektisch, im strengen unmetaphorischen Sinn, ist der Begriff des Fortschritts darin, daß sein Organon, die Vernunft, Eine ist; daß nicht in ihr eine naturbeherrschende und eine versöhnende Schicht neben-einander sind, sondern beide all ihre Bestimmungen teilen."55 Deshalb ist für Adorno der „Fortschritt der Naturbeherrschung [...] doch nicht ohne alle Hoffnung."56 Die Vernunft wird durch die reale Negativität und Hoffnungslo-sigkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Reflexion gedrängt: „Die Mög-lichkeit des sich Entringenden wird vom Druck der Negativität gezeitigt."57

Damit hat auch der falsche Fortschritt darin etwas Richtiges, daß er zum einen eine Entwicklung der Vernunft ermöglichte und zum anderen den Verblen-dungszusammenhang so weit trieb, daß er für das kritische Bewußtsein evident werden mußte: „Der Fortschritt, den das Immergleiche erzeugte, ist, daß end-lich einer beginnen kann, in jedem Augenblick."58

54 F, S. 628. 55 F, S. 627 -8 . - Dagegen kann Wellmers Annahme „partikularer Rationalitäten" nicht mit

der Adornoschen Theorie vereinbart werden. Seine Unterstellung, der postmodernistische Ge-

danke einer „Aufhebung der einen Vernunft in einem Zusammenspiel pluraler Rationalitäten",

sei „Adorno fremd und doch nicht fremd. Um ihn aber klar zu formulieren, müßten wir über

Adorno hinausgehen" ist nicht haltbar. (WELLMER, a. a. O., S. 164.) 56 F, S. 630. 57 F, S. 627. - Das beschreibt auch das Programm der Adornoschen Philosophie insge-

samt. Nach Schmidt bewegt sie sich „in der historisch noch unausgefochtenen Spannung zwi-schen dem objektiv Möglichen und der schmählichen Gestalt der Gegenwart. Die Sache der

Menschheit, für welche die Gott-Hypostase einstand, ist weder schon gewonnen noch endgültig

verloren. Eine Unausgemachtheit, die in jedem Satz Adornos zutage tritt." (SCHMIDT: Adorno

- ein Philosoph des realen Humanismus, a. a. O., S. 75.) S ! F, S. 625.

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Basiert die Auffassung von einer Dialektik der Aufklärung, wie Baumeister und Kulenkampil es formulieren, auf der „Erfahrung des Widerspruchs zwischen den ungemessenen Möglichkeiten wissenschaftl icher und technischer Zivilisa-tion und der Unmenschl ichkeit und Unvernunft der bestehenden Wirkl ich-keit"59, so kommt es für Adorno darauf an, die Mögl ichkeit eines Anderen of-fenzuhalten und die Negativität des Bestehenden offenzulegen. Die Möglich-keit eines Anderen und wirkl icher Fortschritt sind nur denkbar, wenn eine praktische Gestaltbarkeit der Welt , der Gegenwart und der Zukunft durch den Menschen gedacht werden kann, wenn ihm Freiheit zugesprochen werden kann, also Unabhängigkeit von Determinismus und dem Kausalitätsprinzip:

„Nur wenn es anders hätte werden können; wenn die Totalität, gesellschaft-lich notwendiger Schein als Hypostasis des aus Einzelmenschen herausge-preßten Allgemeinen, im Anspruch ihrer Absolutheit gebrochen wird, wahrt sich das kritische gesellschaftliche Bewußtsein die Freiheit des Gedankens, einmal könne es anders sein. Theorie vermag die unmäßige Last der histori-schen Nezessität zu bewegen allein, wenn diese als der zur Wirklichkeit ge-wordene Schein erkannt ist, die geschichtliche Determination als metaphy-sisch zufällig."60

Für Adorno ist es nur deshalb möglich, wirklichen Fortschritt zu denken, weil die „lückenlose Totalität des Weltgeists"61 scheinhaft und vom Menschen selber gemacht ist. „So undurchdringl ich der Bann, er ist nur Bann."62 Es kommt für ihn darauf an, das Geflecht aus Naturbeherrschung und Naturverfal lenheit zu zerreißen.

Die Möglichkeit von historischer Neuheit zu denken heißt anzunehmen, daß es etwas nicht Ausdenkbares gibt, das anders als das Bestehende ist und das eintreten kann. Dieses absolut Andere ist denkbar, aber nicht best immbar, weil der Geist aus seinem Immanenzzusammenhang nicht heraus kann:

„Der Geist, der ein Neues meint, soweit er nicht selber nur ein Stück Appara-tur ist, stößt sich im hoffnungslos wiederholten Versuch den Kopf ein wie ein Insekt, das gegen die Scheibe nach dem Licht fliegt. Geist ist nicht, als was er sich inthronisiert, das Andere, Transzendente in seiner Reinheit, sondern auch ein Stück Naturgeschichte."63

" T h o m a s BAUMEISTER und Jens KULENKAMPFF: Geschichtsphilosophie und philosophi-sche Ästhetik. Zu Adornos Ästhetischer Theorie. In: neue hefte für philosophie 5 (1973) , S. 79.

60 ND, S. 3 1 7 . - Vgl. auch ND, S. 262 f. 61 Vgl. F, S. 632. " ADORNO: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? In: GS 8, S. 370. 63 F, S. 633.

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Adorno muß etwa« absolut Anderes annehmen,''* wenn er an der Möglichkeit historischer Neuheit , also des Eintretens eines Anderen,' '5 festhalten will. Daß es Neues gibt, beispielsweise in der Kunst, zeigt umgekehrt , daß die Grenze zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, durchlässig ist. Das hat auch Al lkemper bei Adorno so gesehen:

„Der Schnitt zwischen Altem und Neuem, der Wirklichkeit des Bestehenden und der Möglichkeit des Anderen, zwischen Immanenz und Transzendenz ist nicht absolut; seine Verabsolutierung widerspricht sich selbst nach der Hegel-schen Einsicht, daß eine Grenze setzen zugleich heißt, diese schon überschrit-ten haben."66

Hinzuzufügen ist aber, daß das eingetretene und erkennbar gewordene Andere bereits das Neue und nicht mehr das Andere ist, daß deshalb nicht von der Möglichkeit des Anderen, sondern besser von der Möglichkeit von Neuheit ge-sprochen werden muß, wenn man die Möglichkeit von Veränderung denken will.67 Es geht Adorno daher nicht um die „Möglichkeit des Unmöglichen"6 8 , sondern um die Möglichkeit des Möglichen. Wenn Utopie für Adorno „Be-wußtsein der Möglichkeit"69 ist, dann zielt sie auf das Neue als eingetretenes Anderes. Historischer Fortschritt wäre dann jeweils ein wahres Neues als reali-siertes Anderes. Die Differenzierung zwischen dem Anderen und dem Neuen ist deshalb entscheidend, weil das Neue als das bereits eingetretene Andere diesseits des Chor i smos von Möglichkeit und Wirkl ichkeit liegt. Die Frage, wie die Grenze überschritten werden kann, stellt sich beim Neuen nicht mehr. Deshalb ist es aber auch nicht möglich, Neues herbeizuzit ieren. Denn was für

64 Das ist nach Tiedemann auch die Voraussetzung für Adornos Philosophie: „Schwerlich

hätte negative Dialektik die Ontologie des falschen Zustands nachzeichnen können ohne den

utopischen Gedanken". (TIEDEMANN, a. a. O., S. 68.) 65 Daß es auch anders sein könnte, bezeichnet für Adorno keineswegs, wie z. B. von Kaiser

unverständlicherweise interpretiert, die „Möglichkeit des Nichtstattfindens von Geschichte".

(Gerhard KAISER: Theodor W . Adornos Ästhetische Theorie. In: ders.: Benjamin. Adorno. Zwei

Studien. Frankfurt am Main 1974, S. 103.) Adorno hält am Begriff der Geschichte ebenso wie

am Begriff des Fortschritts fest. Ihm geht es im Gegenteil um die Möglichkeit des Stattfindens

von Geschichte. Sie hat noch gar nicht begonnen, weil die Dynamik der bisherigen Geschichte

statisch war. (Vgl. BOLZ: Erlösung als ob, a. a. O., S. 269.) 66 ALLKEMPER, a. a. O., S. 118. 47 Analog zur erkenntnistheoretischen Neuheit, die die Möglichkeit von Erkenntnis bereits

einschließt, muß man das historische absolute Neue als etwas betrachten, dem die Möglichkeit

der Realisierung innewohnt. Der Unterschied ist, daß das erkenntnistheoretische Neue real ist

(es gibt Neues, dem allerdings immer das gleiche Schicksal der Integration widerfährt), während

das historische Neue noch unrealisiert ist. 68 BOLZ: Erlösung als ob, a. a. O., S. 275.

" ND, S. 66. - So ist auch seine vielfach als theologisch interpretierte (z. B. BOLZ: Erlö-

sung als ob, a. a. O., S. 275) Äußerung zu verstehen, man müsse „alle Dinge so [...] betrachten,

wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten." (MM, S. 283.)

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das Neue in der Kunst gilt, trifft auch für das historisch Neue zu: „Velleität kettet es ans Immergleiche [. . .] . Es intendiert Nichtidentität , wird jedoch durch Intention zum Identischen".70 Der Fortschritt läßt sich nicht erzwingen, das liegt in seinem Begriff:

„Fortschritt heißt: aus dem Bann heraustreten, auch aus dem des Fortschritts, der selber Natur ist, indem die Menschheit ihrer eigenen Naturwüchsigkeit in-newird und der Herrschaft Einhalt gebietet, die sie über Natur ausübt und durch welche die der Natur sich fortsetzt. Insofern ließe sich sagen, der Fort-schritt ereigne sich dort, wo er endet."71

Die Voraussetzung für das Heraustreten der Menschheit aus dem Bann ist also, daß sie „Einhalt gebietet", nicht, daß sie im bisherigen Sinne durch Auswei tung der Herrschaft fortschreitet . Die Grenzüberschreitung, von der Al lkemper mit Bezug auf Hegel spricht, erfolgt deshalb - und das ist das Entscheidende, das Adorno selber nicht explizit beschrieben hat — nicht von innen nach außen, sondern von außen nach innen. Es kommt also weniger darauf an, einem Ziel zuzustreben als vielmehr offen zu sein für neue Entwicklungen, anstatt alles, was anders wäre, von vornherein auszuschließen. Voraussetzung dafür ist, daß der Geist als das „dynamische Prinzip"72 offen ist für das, was seine Fassungs-kraft zunächst übersteigt , denn: „Offenes Denken weist über sich hinaus"73 , anstatt alles auf sein Maß zu reduzieren. Wenn es Freiheit gibt, dann muß sie irgendwo „den geschlossenen Kreis der Welt sprengen"74 , wie es auch in einer Formulierung von Jakob Taubes heißt. Deswegen muß die Angst vor dem Neuen verschwinden, sie ist Zeichen der Unfreiheit , eine archaische Furcht, die der Weiterentwicklung der Menschheit im Wege steht.

Absolut neu wäre für Adorno die realisierte Utopie , jedoch nicht wegen ihrer absoluten Andersheit,75 sondern deswegen, weil sie das Ganze erfaßte. Diese Utopie ist für Adorno eine reine Denknotwendigkeit , „wirksam als kontrafaktische Kraft krit ischer, negativer Vernünft igkeit und als regulative Idee"76, wie Brunkhorst sagt, die für die verändernde Praxis keine Funkt ion hat. Sie ist Platzhalterin des möglichen Besseren, ohne hypostasiert werden zu dür-fen. Sie vertritt die vakant gewordene Stelle des Telos, ohne selber ein solches

70 ÄT, S. 41. 71 F, S. 625. 71 F, S. 633. 73 ADORNO: Resignation. In: GS 10.2, S. 798. 74 Jakob TAUBES: Abendländische Eschatologie. München 1991 , S. 6. 75 Ebensowenig wie Adorno die Rationalität an sich aufgeben will, zielt seine Utopie auf

Abschaffung der Gesellschaft überhaupt. Etwas absolut Anderes zu wollen, wäre gleichbedeu-tend mit sterben wollen: „die Schimäre des nie gekannten Dinges [...] gleicht dem Tode. Sie weist auf den Untergang einer Gesamtverfassung, die virtuell ihrer Angehörigen nicht mehr be-darf." (MM, S. 272.)

76 BRUNSHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 126.

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Telos zu sein. Weiler ist mir brschreibbar, noch kann sie als Ziel anvisiert wer-den. Weil jeder Versuch, das Neue positiv zu best immen, scheitern m u ß , " kann auch die Utopie als eintretendes Anderes nicht beschrieben werden. Sie ist aber nicht qualitätslos. Das heißt, daß man sie nicht als inkommensurabel zum Bestehenden und auch nicht als beliebig auffassen darf, ebenso wie ihr Eintreten nicht als absolute Neuheit im Sinne von völliger Unvermitte l theit verstanden werden darf:

„Erstes und absolut Neues sind komplementär, und der dialektische Gedanke müßte beider sich entäußern. Wer dem Bann der Ursprungsphilosophie den Gehorsam verweigerte, hat seit der Vorrede der Hegeischen Phänomenologie mit der Vermitteltheit des Alten auch die des Neuen erkannt und es als je schon in der älteren Form enthalten bestimmt, als die Nichtidentität seiner Identität."78

Die Utopie ist nicht die Summe alles dessen, was verschieden wäre, sie ist näm-lich nicht identisch mit dem ganzen Transzendenten.7 9 Die Utopie ist auch nicht in allen Elementen anders als das Bestehende. Das Verhältnis zwischen Realität und Utopie ist zwar symmetrisch, t rotzdem ist die Utopie nicht das Gegenteil dessen, was ist, keine Totalität, die an die Stelle des Bestehenden tre-ten würde. Die der Utopie unterstel lten Qualitäten ergeben sich aus dem Ne-gativen (Nichtseinsol lenden) der jeweils gegenwärtigen Realität,80 vor allem ih-rer einheits- und unwahrheitsst iftenden Totalität. Als Utopie bezeichnet

77 So auch Horkheimer in einer Diskussion mit Adorno zu dem Thema. Die Protokollan-tin des Gesprächs, Gretel Adorno, schreibt: „Horkheimer schließt ab, indem er den Versuch ei-ner .Bestimmung' des Neuen selber auflöst. Neu und alt, man kann zwar das Al te bestimmen, aber nicht das Neue. [...] Es ist nicht zufällig, daß alle positiven Aussagen über die klassenlose Gesellschaft entweder unmöglich oder dem revolutionären Bewußtsein geradezu widerstrebend sind." (DP, S. 465-6 . )

78 ME, S. 46. 79 Gustafsson hat auf die Differenzen im Begriff der Negation hingewiesen, wonach „echte

negative Aussagen nicht festgelegt sind", d. h. auch nicht durch dialektische Opposition. Des-wegen kann eine Utopie für ihn nur durch bestimmte Negationen konstituiert werden: „Die grundlegende Bedingung einer Utopie besteht darin, daß sie sich von der uns bekannten Wel t unterscheiden muß. Wenn dieser Unterschied aber gänzlich negativ formuliert ist, bleibt für uns kein Bild, das wir begreifen können." (Lars GUSTAFSSON: Negation als Spiegel. Utopie aus epistemologischer Sicht. In: Wilhelm VOSSKAMP [Hg.]: Utopieforschung. Interdisziplinäre Stu-dien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Frankfurt am Main 1985. Bd. 1, S. 281.) Adorno könnte wohl darin zustimmen, daß die Utopie nicht gänzlich negativ ist; daß man aber ein positives Bild von ihr formen könnte, kann er auch unter diesen Bedingungen nicht zugestehen.

80 Insofern herrscht das von Grenz konstatierte „Gleichgewicht zwischen latenter Positivi-tät und aktueller Negativität". (Friedemann GRENZ: Adornos Philosophie in Grundbegriffen. Auflösung einiger Deutungsprobleme. Frankfurt am Main 1974, S. 136.) A n dieser Stelle wäre auf Theunissens Differenzierung des Begriffs der Negativität hinzuweisen. (THEUNISSEN, a. a. O.) Die Utopie wäre demnach negativ als das, was (noch) nicht ist, positiv aber als das, was sein soll, während das Negative in der Realität das ist, was nicht sein soll.

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Adorno einen besseren Zustand, dessen Einireien als möglieh angesehen wird und der nicht das Bestehende als Ganzes ersetzen würde, sondern das Einzelne, das die Einheit des Bestehenden konstituiert, in anderer Konstellation enthal-ten würde - das entspricht der von Adorno im Gespräch mit Horkheimer formulierten Idee, „daß das Neue nicht in den Elementen, sondern in deren Konfiguration besteht"81. Das heißt aber nicht, daß die Utopie gedanklich vor-weggenommen oder ein Bild von ihr entworfen werden könnte. Es ist zwar ein Vermögen des Denkens, solche Konfigurationen herzustellen: „Das Denken vermag aus endlichen Elementen eine unendliche Konfiguration zu schaffen."82

Zur Formulierung einer Utopie taugt dieses Vermögen jedoch nicht. Das Pro-blem ist, „daß bei einer solchen Fassung des Neuen das .Leisten' dem Denken unabhängig von den Elementen als eine Art freier Tätigkeit zufiele, als ob nicht der Gedanke und Konfiguration von den Elementen selbst gefordert würden."83

Es ist deswegen nach Adorno „in der Tat unmöglich, das Neue als .Leistung' des Denkens zu bestimmen",84 das sich nach bestimmten Regeln ableiten ließe, vielmehr kann es dem Denken nur zufallen, indem es zwar offen ist für Neues, sich im übrigen aber mit der Kritik des Bestehenden befaßt: „Das Neue kann nur negativ bestimmt werden, indem man sich kritisch zum Alten verhält."85

Weil die Utopie wie jedes noch nicht eingetretene Neue nur ausgehend von dem, was ist, bestimmt werden kann, ist sie eine Konstruktion, kein Ziel der Geschichte, sondern als Projektion der Negation, und zwar der Negation des Leidens,86 nachgeordnet. Die Realisierung des wahren Fortschritts und des wahren Neuen kann sich deshalb nur aus dem Ungenügen am Gegenwärtigen, aus der kritischen Betrachtung des Vorhandenen und der entsprechenden Pra-xis speisen.87 Und genau darin unterscheiden sich die Möglichkeiten der Ge-schichte von jenen der Naturgeschichte. Ein historisch Neues, das aus dem Verblendungszusammenhang herausführen soll, ist nicht von dem Vorange-

81 DP, S. 464 (Adorno). 82 DP, S. 465 (Adorno). 83 Ebd. 84 Ebd. 85 DP, S. 466 (Zusammenfassung der Protokollantin Gretel Adorno). 86 Dieser materialistische Rekurs auf die Körperlichkeit und das Leid des Menschen ist für

Adorno unerläßlich, für Schmidt liegt darin der entscheidende Fortschritt seiner Philosophie -der „in Profanität geflüchteten Metaphysik" (ND, S. 395) - gegenüber dem Idealismus, denn: „Dadurch daß der traditionelle Idealismus das Bewußtsein aufs Erkennen reduziert, entgeht ihm eine entscheidende Dimension menschlicher Wirklichkeit." (SCHMIDT: Begriff des Materialis-mus bei Adorno, a. a. O., S. 27.)

87 Brunkhorst geht davon aus, daß das dialektische Entwicklungsmodell die Entstehung des Neuen erklären kann. (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 256.) Das mag re-trospektiv auf viele Neuerungen zutreffen, wenn auch der Augenblick des unvermittelten Eintretens des Neuen damit noch nicht erklärt ist. Vor allem jedoch gilt es dabei zu beachten, daß dieses Entwicklungsmodell nicht ohne weiteres als Anweisung für die Hervorbringung von Neuem dienen kann.

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gangenen determiniert und nicht kausal aus ihm resultierend. Es kann Traditio-nen brechen und Tradition als solche negieren. Das aber gilt nur für ein Neues aus Freiheit, nicht für ein Neues in der Natur. Während Natur und Geschichte im Vergehen konvergieren, unterscheiden sie sich im Werden. Das Neue in der Geschichte ist, abgesehen davon, daß es ebenso altert und vergeht, strukturell anders als das Werden in der blinden Natur. In einer Diskussion im Jahr 1939 versuchen Adorno und Horkheimer, den Begriff des Neuen zu klären:

„Was ist nun aber das Neue eigentlich selber? Ist es etwas, was vom Himmel fällt, etwa wie ein Meteor aus einer andern Welt auf die Erde käme, der aus Elementen bestünde, die sich nicht im periodischen System unterbringen las-sen? Ist nicht im Neuen vielmehr notwendig tatsächlich die Beziehung auf das Gewesene mitgesetzt, und zwar im Allerneuesten die Beziehung aufs Alleräl-teste?"88

Der Meteor schlägt von außerhalb in das irdische, bekannte System der Natur ein und ist daher ein Neues. Aber er kann nicht mit dem Neuen in der Ge-schichte verglichen werden. In der Geschichte ist Neuheit von Geist, Freiheit und Phantasie abhängig. Das geschichtlich Neue entsteht aus einer kritischen Haltung zum Bestehenden bzw. Alten und unterscheidet sich darin von dem Naturneuen, das bestenfalls zufällig erscheint. Damit ist das historisch Neue al-lerdings auch immer irgendwie auf das Altere bezogen. Etwas absolut Neues im Sinne von völlig Unvermitteltem kann es also in der Geschichte noch viel weni-ger als in der Natur geben. Das wahre Neue tritt zwar plötzlich und unvermit-telt auf, es ist aber nicht zufällig oder beliebig, sondern „nur zu fassen als die Antwort auf bestimmte Fragen, nicht freischwebend, sondern nur als der Mo-ment des dialektischen Umschlags."89

Ob und wann das Neue eintritt, läßt sich nicht vorhersagen. Adorno geht zunächst einmal davon aus, daß es irgendwo in der Zukunft liegt — daher auch die Projektion der Utopie. Wahrhaft Neues ist möglich, auch sofort, es kann jedoch nicht als Ziel ins Auge gefaßt oder planmäßig umgesetzt werden. Und es kann auch nicht schrittweise angestrebt werden, wie Ernst Bloch vor-schlägt.90 Für ihn ist die Utopie ein Ultimum, eine Kategorie, die „die letzte, also höchste Neuheit darstellt" und in der zugleich „die Wiederholung (die un-ablässige Repräsentiertheit des Tendenzziels in allem progressiv Neuen) sich zur letzten, höchsten gründlichsten Wiederholung: der Identität steigert."91

88 DP, S. 464 (Adorno). 89 DP, S. 465 (Adorno). 90 Vgl. Werner KOEPSEL: Die Rezeption der Hegeischen Ästhetik im 20. Jahrhundert.

Bonn 1975, S. 257-69 . - Peter J. BRENNER: Aspekte und Probleme der neueren Utopiediskus-sion in der Philosophie. In: VOSSKAMP (Hg.), a. a. O., Bd. 1, S. 1 1 -63 . - Virginio MARZOCCHI: Utopie als „Novum" und „letzte Wiederholung" bei Ernst Bloch. In: Heinz-Ludwig ARNOLD (Hg.): Ernst Bloch. Sonderband der Reihe Text + Kritik. München 1985, S. 194-207 .

91 Ernst BLOCH: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt am Main 1985, S. 233.

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Bloch geht also von der Möglichkeit der allmählichen Entwicklung hin zu ei-nem absolut Neuen aus. Für ihn besteht das absolut Neue in der Summe von Verbesserungen, die Schritt für Schritt zu ihm hinführen. Das logische Pro-blem daran ist, daß wenn es vom Gegenwärtigen hin zur Utopie eine stufen-weise Veränderung gibt, diese Utopie immer mit dem Gegenwärt igen ver-knüpft bleibt und nicht wirkl ich über es hinausgeht.92 Diese Inkonsistenz in Blochs Theorie resultiert aus seiner Hypostas ierung des Begriffs des absolut Neuen.

Während Benjamin die Idee des Fortschreitens selbst als falschen Schein ansieht, hält Adorno an der Wünschbarkeit und Möglichkeit von Fortschritt fest. Dieser geschieht aber nicht hin zu einem Besseren, sondern fort von ei-nem Schlechten im Bewußtsein der Möglichkeit des Eintretens eines besseren Neuen. Al lgemeine Anweisungen, wie eine solche Praxis auszusehen hat, kann Adorno gerade nicht geben93 - was das Richtige oder vielmehr das Falsche wäre, muß sich aus den konkreten Situationen erschließen.94 Entscheidend ist dabei nicht der Blick auf eine konkrete Utopie, sondern der nächste Schritt. „Wie wird aus dem nächsten Schritt ein neuer? — Einfach dadurch, daß die Lo-gik des nächsten Schrittes vom Bann des .Vorgegebenen' abgelöst wird."95 Die-ser Feststel lung Brunkhorsts müßte man hinzufügen, daß die Richtung des Fortschritts freil ich nicht beliebig ist. Der Leitgedanke ist für Adorno die Ab-schaffung des Leidens. Als „Organon des Neuen" machen Adorno und Hork-heimer neben der Phantasie die krit ische Theorie aus.96 Kritische Praxis kann genausogut in einem Tun wie in einem Unterlassen bestehen.

Das historisch Neue wird ermöglicht durch Kritik und Negat ion und ist Methexis an der Utopie. Denn wenn der Fortschritt „Antwort auf den Zweifel und die Hoffnung , daß es endlich besser werde, daß die Menschen einmal auf-

92 „So wenig das antizipierte konkret-utopische Telos im Intentionalen bisheriger Historie

aufgehen dürfte, um wirkliches Novum zu sein, so sehr müßte das Prinzip der Naturbeherr-

schung konkreter Korrektur unterworfen werden". (KOEPSEL, a. a. O., S. 262.) 93 Man könnte wohl mit Brunkhorst vom produktiven Widerspruch sprechen, wenn auch

seine Diagnose, „die Logik produktiver Widersprüche [sei] das missing link, das die Dynamik

gesellschaftlicher und kultureller Entwicklungsprozesse mit den nie realisierten, utopisch nega-

tiven, wie man heute sagt, kontrafaktischen Strukturen der Vernunft und Freiheit verbindet"

(BRUNKHORST: Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 261) , etwas zu optimistisch ist, denn das Ein-

treten des Neuen kann letztlich nicht zielstrebig erreicht oder erzwungen werden. Das hatte

Brunkhorst selber einige Seiten früher angemerkt, wo er vom Neuen spricht, „das allein Resultat

unserer Praxis ist und sich doch der Verfügung des Subjekts entzieht." (Ebd., S. 234.) 94 Adorno setzt dabei voraus, daß auch aus dem Unwahren das Wahre, aus dem Falschen

das Richtige ablesbar ist. Entsprechend verfährt er in seiner der „Lehre vom richtigen Leben"

gewidmeten Minima Moralia, indem er davon ausgeht, daß wer „die Wahrheit übers unmittel-

bare Leben erfahren will, [...] dessen entfremdeter Gestalt nachforschen" müsse. (MM, S. 13.) 95 BRUNKHORST: Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 36. 96 DP, S. 465 -6 .

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atmen dürfen, '"" verheißt, kann er als Vorbereitung auf den Eintritt der Uto-pie, des das Ganze erfassenden absolut Neuen, verstanden werden. Auch deren Eintritt kann nur erwartet, nicht erzwungen werden. Bis dahin muß an der Ne-gativität des gesellschaftl ichen Zustandes festgehalten werden, weil nur da-durch das Eintreten der Utopie vorbereitet werden kann.

Diese Erwartung des Eintretens eines Neuen, das einen Bruch mit dem Be-stehenden bedeutet , erinnert an die heilsgeschichtliche Erlösungserwartung. Sie beruht jedoch nicht auf dem Glauben an eine erlösende göttl iche Macht oder der Hoffnung aufs Jenseits,98 sie ist kein irrationales Element in Adornos Theo-rie, sondern die Gewißheit , daß Neues unter best immten Bedingungen eintritt, stammt für Adorno aus der Erfahrung, nämlich der der Kunst — und diese zeigt auch, daß krit ischer Umgang mit dem Bestehenden und die Offenheit für Neues Voraussetzungen für sein Eintreten sind, daß aber das wahrhaft Neue selbst nicht geplant oder erzwungen werden kann, sondern nur so vorbereitet, daß es sich im Verborgenen „wie unter einem Keimblatt" bildet, bevor es „schlagend, überwält igend sichtbar wird"99.

97 F, S. 617. 98 Wie z. B. von Bolz in seiner stark Benjamin-orientierten Interpretation der Geschichts-

philosophie der Kritischen Theorie behauptet: „Negative Dialektik ist theologischer als positive

Religionen - sie forciert die immanenten Erfahrungen gerade im Namen der Hoffnung aufs Jen-

seits". (BOLZ: Erlösung als ob, a. a. O., S. 275.) 99 ADORNO: Das Erbe und die neue Musik. In: GS 18, S. 686.

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I V . D A S NEUE IN DER K U N S T

„In der Unabdingbarkeit der For-derung des Neuen ist die Kunst der Philosophie voraus.

Den relationalen Begriff des Neuen bezeichnet Adorno als „Kryptogramm [.. .] , eine Art X, in das sich dann all das zusammenzieht , was diese Kunst als krit isch gegenüber der Tradit ion von sich abgestoßen und negiert hat".2 Mit anderen Worten, im Neuen der Kunst kommt die Negation des Bestehenden und Tra-dierten - einschließlich der tradierten Kunst - zum Ausdruck. Daß es Neues in der Kunst gibt, ist für Adorno Beweis für die Möglichkeit eines Anderen,3 denn das, was als neu in den Kunstwerken erscheint, ist gleichzeitig das durch Nega-tion des Immergle ichen ermöglichte Hervortreten eines Anderen. Darin, daß dieser Prozeß deutlich wird, besteht nach Adorno die raison d'etre der Kunst. Weil Kunst kein von der Realität abgekoppelter Bereich, kein Reservat ist, in dem andere Spielregeln gelten,4 sondern eine auf die außerkünst ler ische Realität bezogene Verhaltensweise, ist sie auch nicht gänzlich funktionslos, sondern hat ihre Funkt ion als krit ischer Widerpart zum Falschen. Darauf zielt auch die Dia-gnose von Schwarz: „Die allgemeine Funkt ionsbest immung der Kunst leitet sich konsequent aus Adornos gesellschaftstheoretisch fundierter Vernunftkr i -tik ab."5 Das ist zwar in gewisser Weise richtig, jedoch zu einseitig gedacht. Das Verhältnis zwischen Kunst und Vernunftkr i t ik ist ein wechselseit iges. Während Kunst das erfüllt , was Vernunftkr i t ik fordert, ist diese Vernunftkr i t ik doch umgekehrt nur dann möglich, wenn etwas Anderes gedacht werden kann, und

1 V Ä , S. 82. 2 V o 6374. - Adorno spricht an der Stelle von Baudelaire und Rimbaud als ersten Protago-

nisten der Moderne. 3 Entsprechend geht Brunkhorst davon aus, daß Adornos „negativistischer Blick auf die

moderne Gesellschaft" sich einer „konsequenten Affirmation ihres kulturellen Modernismus" verdankt: „Im Modernismus der Kultur sind nämlich die reflexiven Potentiale eines methodi-schen Negativismus längst institutionalisiert. [...] Adorno besteht deshalb in der Ästhetischen Theorie ausdrücklich darauf, daß in der modernen Kunst auch schon ein Stück Freiheit realisiert sei." (BRUNKHORST, Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 129.)

4 Das entspräche dem von Menke vertretenen Begriff der Autonomie, die er als „geltungsrelativ" versteht und von der umfassenderen, absolut geltenden Souveränität der Kunst abgrenzen will. (Christoph MENKE-EGGERS: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfah-rung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main 1988, S. 10.) Dagegen kann man meines Er-achtens davon ausgehen, daß Adornos Begriff der Autonomie der Kunst bereits diesen absolu-ten Geltungsanspruch beinhaltet, d. h. daß das Neue in der Kunst als Kritik nicht eigenen, kunstimmanenten Regeln folgt, sondern immer auf Außerkünstlerisches bezogen bleibt und dieses dadurch kritisiert.

5 Ullrich SCHWARZ: Entfesselung der Produktivkräfte und ästhetische Utopie. Zu Ador -

nos geschichtsphilosophischer Fundierung der ästhetischen Theorie. In: LlNDNER/LÜDKE (Hg.), a. a. O., S. 460.

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dafür stein die Kunst ein.1' Aus ihrer Aversion gegen das Festsiehende bringt die Kunst notwendig Neues hervor. Sie verbürgt die Möglichkeit der Negation des Falschen und die Möglichkeit des Eintretens des Neuen,7 dessen die Philosophie bedarf, weil sie „gänzlich ohne Sprung, in eigener Bewegung, [. . . .] aus ihrem Traum nicht erwacht"8 . Man kann wohl annehmen, daß Adorno das Neue in der Kunst als Vorbild für die Entstehung des Neuen in der gesell-schaftlichen Realität und auch im Denken, in der Philosophie gedacht hat.9

Die dynamischen Prozesse, aus denen Neues in der Kunst entsteht, lassen sich inhaltlich in drei Bereichen feststellen: Kunst setzt sich ins Verhältnis zur Gesellschaft, zum herrschenden Bewußtsein und zur herrschenden Geschichte bzw. Geschichtsauffassung. Formal wird diese Dynamik auf drei Ebenen ausge-tragen: zwischen Kunst und außerkünst ler ischem Bereich (exogene Dynamik ) , davon abhängig innerhalb des Kunstwerks ( immanente Dynamik ) und inner-halb der Kunstgeschichte, die sich aus dem Verhältnis der Kunstwerke zum außerkünstler ischen Bewußtsein, zueinander und zu ihrer Rezeption ergibt (historische Dynamik ) .

Die exogene Dynamik der Kunst entsteht aus ihrem Verhalten als Negation der gesellschaftl ichen Herrschaftsverhältnisse, der identif iz ierenden Vernunft und der statischen Geschichte. Das Neue in der Kunst vertritt das noch nicht Besetzte, Beherrschte, zeigt das noch nicht Erkannte, das noch nicht realisierte Mögliche. Kunstwerke negieren Immergleichheit und Statik, sie reagieren dar-auf mit Dynamik und Neuheit . Deswegen provozieren die Tendenz zu Nivel-lierung und Statik im Denken und gesellschaftliche Totalität ein immer größe-res Bestreben nach Neuheit in der Kunst.

„Q]edes Kunstwerk ist ein System von Unvereinbarkeit ."10 Das heißt, Kunstwerke sind Kraftfelder, in denen sich objektive Kräfte aneinander abar-beiten, das ist ihre immanente Dynamik. Die in ihnen enthaltenen einander wi-dersprechenden Elemente „reiben sich aneinander oder ziehen einander herbei, eines will das andere, oder eines stößt das andere ab."11 Die immanenten Span-nungsfelder der Kunst gehören ihr seit jeher an und entstehen aus ihrem dialek-

' So auch Schwarz: „Die Erfahrung, die bewußtseinsverändernd die Grenze des Wissens überschreitet, ist nun die ästhetische." (Ebd., S. 458-9 . )

Daß in der Kunst verwirklicht ist, was Adorno theoretisch fordert, hat auch Werck-meister gesehen: „Allein in der Kunst kann also Negation vollzogen werden: sie erscheint als der einzige Bereich des objektiven Geistes, in dem konsequente Revolutionen stattgefunden haben. [...] Kunst wird zum Reservat der Revolution". (WERCKMEISTER, a. a. O., S. 16.) Allerdings hat Werckmeister darin Unrecht, daß Kunst für Adorno der einzige Bereich ist und bleibt, in dem Neues stattfinden kann. Selbstverständlich können für Adorno die Veränderungen in der Kunst nicht die nötigen Veränderungen in der Realität ersetzen.

8 ND, S. 184.

' Vgl. dazu BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 237. 10 ÄT, S. 274. 11 ÄT, S. 275.

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tischen Verhältnis zum Bestehenden, das sie negieren und zu dem sie sich gleichzeitig mimetisch verhalten. So setzt sich ihr Widerspruch gegen die na-turbeherrschende Rationalität in den Werken als Aporie zwischen ihren mime-tischen und ihren rationalen Aspekten, zwischen Kunst als Naturnachahmung und Kunst als Naturbeherrschung fort. Insofern „tragen die Kunstwerke zu ih-rem Teil Dialekt ik der Aufklärung aus."12 Zu diesen kontrast ierenden Kräften gehört aber auch die Dynamik selber, die im Widerspruch zum statischen Prin-zip der Kunstwerke steht: „Eine der Paradoxien der Werke ist, daß sie, dyna-misch in sich, überhaupt fixiert sind, während sie nur durch Fixierung zu Kunstwerken objektiviert werden."13

Das Neue entsteht aus der Negation, und es entsteht immer wieder neu, weil das, was negiert wird, sich verändert. Je weiter die Verhärtung des Den-kens fortschreitet , je totaler die Vergesel lschaftung wird, desto rigoroser be-gehrt die Kunst dagegen auf. Unter anderem daraus resultiert die historische Dynamik der Kunst. Die Kunstgeschichte verläuft daher notwendigerweise pa-rallel zur Gesellschaftsgeschichte und zur Aufklärung. Deswegen ist für Ador-no die Kategorie des Neuen historisch notwendig: „Bis ins Innerste ist die Kunst in die geschichtliche Bewegung anwachsender Antagonismen verf loch-ten."14 Zum einen trägt Kunst damit der Anforderung nach Zeitgenossenschaft Rechnung, zum anderen muß sie sich immer mehr gegen ihre eigene Verein-nahmung durch Identif ikat ion und Integration in den gesellschaftl ichen Zu-sammenhang wehren.

Während sich an vergangenem Neuem zeigen läßt, inwiefern es sich vom bis dahin Bestehenden unterschied, kann das Neue al lgemein nur negativ be-st immt werden, man kann nur sagen, was es nicht mehr ist bzw. sein wird. Da-her muß die Beschreibung des Neuen bei Adorno ansetzen bei dem, was es ne-giert, sie muß sich an den Inhalten orientieren. Das betr ifft das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft (Kap. 1), zur Rationalität (Kap. 2) und zur Geschichte (Kap. 3), das im folgenden jeweils in seiner exogenen, immanenten und histori-schen Dynamik untersucht werden soll.

12 ÄT, S. 453. 13 ÄT, S. 274. 14 ÄT, S. 309.

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/. Neuheit all Objektivierung von Freiheit

Das Neue in der Kunst ist aus der gesellschaftstheoretischen Perspektive Re-flex des dynamischen Verhältnisses zwischen dem Individuum und der über-mächtig erscheinenden zweiten Natur, nämlich der Gesellschaft, die auf den einzelnen als Nichtidentisches, als Zwang wirkt.15 Das Neue ist Objekt ivierung von Freiheit, Ausdruck der Möglichkeit eines versöhnten Verhältnisses von In-dividuum und Gesellschaft, das durch das Verhältnis von Al lgemeinem und Be-sonderem im Werk reflektiert wird.16 Weil die Gesellschaft im Gegensatz zur ersten Natur von Menschen selber konstituiert wird, ist es auch möglich, sie zu verändern. Deshalb erscheint Freiheit im Neuen nicht allein negativ, sondern auch positiv. Das Neue ist nicht nur durch seine externe, das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft betreffende Autonomie Negation der gesellschaftl ichen Herrschaftsverhältnisse, sondern durch seine interne, formimmanente Auto-nomie positiver Ausdruck der Möglichkeit der Freiheit des Individuums ebenso wie der befreiten Gesellschaft.17 Weil das Neue wegen seiner Unst immigkei t weder als Negation noch als Bild der Versöhnung von Indivi-duum und Gesellschaft dauern kann, bringt Kunst immer wieder Neues hervor.

a) Neues und Gesellschaft

Das Neue ist in der Kunst der Moderne entstanden als Widerspruch zur Vor-herrschaft des Allgemeinen, die mit einer Verfest igung der Herrschaft der Ge-sellschaft über das Individuum einhergeht. Das Neue in der Kunst stellt sich als das qualitativ und quantitativ Besondere, das Individuelle dem Allgemeinen als Korrektiv und krit ischer Impuls entgegen. Es tritt ein für das Individuum, ge-gen Heteronomie, Vertretbarkeit und Austauschbarkeit der Menschen, gegen die Tendenz zur Liquidation von Individualität, gegen Totalität und Durch-strukturierung der Gesellschaft. Dabei ist das Neue in der Kunst zum einen Nachfolgekategorie der Originalität, zum anderen ist es mit der nouveaute auf dem Markt verknüpft , in der die Spannung zwischen Individuum und Gesell-schaft zugunsten der Gesellschaft aufgehoben ist.

Die Forderung nach Neuheit in der Kunst ist ebenso wie die nouveaute hi-storisch notwendig: „Die Autorität des Neuen ist die des geschichtl ich Unaus-weichlichen."18 Es geht Adorno aus diesem Grund nicht darum, Neuheit als Norm zu etablieren, sondern die de facto vorhandene Normativität der Neu-

15 ADORNO: Gesellschaft. In: GS 8, S. 12. 14 Denn „die theoretische Dichotomie von Allgemeinem und Besonderem reflektiert exakt

den Antagonismus von Individuum und Gesellschaft." (ALLKEMPER, a. a. O., S. 75.) 17 Auch Lindner unterscheidet zwischen „externer" und „interner" Autonomie. Burkhardt

LINDNER: „Ii faut etre absolument moderne". Adornos Ästhetik: ihr Konstruktionsprinzip und ihre Historizität. In: ders./LÜDKE (Hg.), a. a. O., S. 290.

18 ÄT, S. 38.

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heit zu beschreiben, ihrer Entstehung nachzugehen, ihre Herkunft und Bestim-mung zu klären und den „eigentümlich normativen Charakter , der diesem Neuen innewohnt",19 zu verstehen.

Die Bedeutung des Neuen in der Kunst ergibt sich aus der Entwicklung der Gesellschaft und dem sich damit ändernden Verhältnis der Kunst zur Ge-sellschaft. Adorno betrachtet die retrospektiv als Einheit erscheinende Ge-schichte der Kunst als „Entfaltung der Kunst zu ihrem eigenen Begriff"20 . Das betrifft auch das Neue als Statthalter des Besonderen und Negat ion von Hete-ronomie. Die Geschichte der Kunst besteht im Fortschritt ihrer Autonomie 2 1

und, als Folge aus der Negat ion der zunehmenden Vergesel lschaftung, in im-mer radikalerer Besonderung des einzelnen Werks. Die Entwicklung geht in der Produkt ion vom „Zwang des Kollektivbewußtseins"22 in archaischen Wer-ken über das Originalgenie bis zum vereinzelten Künstler der Moderne. Kunst wird unabhängig von Kult, Magie, Religion, Philosophie, schließlich auch von jeder Tradit ion einschließlich der künstlerischen. Sie gibt sich selbst das Ge-setz, bis im Zeitalter des Nominal ismus jedes einzelne Kunstwerk sein eigenes Gesetz hat und monadischen Charakter annimmt. Kunst entledigt sich gleich-zeitig zunehmend jeder kultischen, moralischen und überhaupt gesellschaftl i-chen Funktion.23

19 V Ä , S. 50. 20 ÄT, S. 392. 21 ÄT, S. 17. 22 ÄT, S. 257. 23 Die Vagheit in den historischen Bestimmungen Adornos macht es schwer, genaue Zeit-

punkte zu benennen (Vgl. KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 135). Werckmeisters Differenzierung von magischer, mythischer, feudaler und bürgerlicher Phase (WERCKMEISTER, a. a. O., S. 13) beschränkt sich ebenso wie der von Jauß (JAUSS: Der literari-sche Prozeß des Modernismus, a. a. O., S. 99 ff.) unternommene Versuch, den genauen Beginn der Moderne zu bestimmen (Baudelaire bzw. in seiner Revision dieser Auffassung auf der Grundlage der Dialektik der Aufklärung Rousseau, der als erster die „Entzauberung der Welt" erkannt habe), auf Teilaspekte einer komplexen Entwicklung. Man kann wohl davon ausgehen, daß Adorno zum einen gerade wegen dieser Komplexität der Geschichte und damit vermittelt der Kunstgeschichte und der damit nicht synchron verlaufenden Ästhetik keine Epochengren-zen festschreiben wollte, zum anderen, weil für ihn die Entwicklung der Kunst keine kontinu-ierliche Fortschrittsgeschichte ist, Früheres durchaus fortschrittlicher als Späteres sein kann und deshalb rein zeitliche Bestimmungen nichts über die Avanciertheit von Kunst aussagen. Be-stimmbar ist aber wohl der Zeitpunkt, zu dem bestimmte Phänomene zum ersten Mal auftraten oder verbindlich wurden, bzw. die Künstler, mit denen diese Phänomene verbunden sind, bzw. die zeitgenössischen ästhetischen Reflexionen über diese Phänomene. Goethe als das Original-genie par excellence ist auch für Adorno Beispiel für die Vorstellung von Originalität in der Äs -thetik seiner Zeit (während Goethes Werke für Adorno aus moderner Sicht bereits über die subjektivistische Originalität hinausgingen). Das Neue der Moderne erscheint zum ersten Mal in Baudelaires Werk.

153 133

Die Autonomisierung in der Kunst verläuft parallel zum Erstarken des Sub-jekts.24 Sie betrifft zunächst die Person des Künstlers, erst später die Kunst sel-ber, die zunehmend unabhängig von der Tradition, von kollektiven Zwängen und sozialen Funktionen w i rd . " Die Möglichkeit der Forderung nach Neuheit ist abhängig von der Autonomie des Künstlers und der Kunst und des Kunst-werks. Deshalb ist die moderne Neuheit auch die Nachfolgekategorie der Originalität und nicht mit dieser gleich.

Der modernen Neuheit vorangegangen ist nach Adorno die individualisti-sche Neuheit der beginnenden Autonomiephase der Kunst, die Originalität . Was davor als neu galt oder gefordert wurde, konnte sich nur innerhalb der vorgeschriebenen Grenzen der noch nicht autonomen Kunst bewegen. Es las-sen sich demnach drei historische Stufen der Bedeutung des Neuen in der Kunst ausmachen.2 6 Entscheidend für die Differenzierung dieser drei Phasen ist jedoch weniger die Gestalt der Kunstwerke, sondern der jeweilige Blick auf das Neue bzw. der Begriff des Neuen. Neuheit vor der im 18. Jahrhundert begin-nenden Phase der Autonomie2 7 der Kunst wurde, wenn überhaupt, von der Re-zeption bzw. Wirkung von Kunst aus gedacht.28 Das gilt sowohl für die Pro-pagierung des Neuen als auch für seine Ablehnung. Die Originalität der Genie-zeit hingegen wurde vom Produktionsprozeß aus gesehen. Die Neuheit eines Kunstwerks wird mit der Autonomie des Künstlers dem subjektiven Ausdruck seiner Individualität zugeschrieben. Erst mit der Autonomie der Kunst selber, ihrer realen Unabhängigkeit von außerkünstlerischen Zwecken, ihrer Funk-tionslosigkeit, und der Aufgabe der Idee des Kunstwerks als subjektivist ischer Ausdruck kann der Begriff des Neuen vom Werk aus charakterisiert werden, das im Neuen das negative Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft nach außen kehrt.29 Bei der Neuheit im einzelnen Kunstwerk ist eine Zunahme von Kom-plexität zu verzeichnen. Die Qualität seiner Verschiedenheit reicht von der par-tiellen Neuheit der vorautonomen Phase über den Ausdruck des einzelnen Ori-

24 Vgl. dazu BAUMEISTER/KULENKAMPFF, a. a. O., S. 77. 25 Vgl. Rolf-Peter JANZ: Autonomie und soziale Funktion der Kunst. Studien zur Ästhetik

von Schiller und Novalis. Stuttgart 1973. 26 Diese drei Stufen sind freilich nicht säuberlich voneinander abgrenzbar und lösen sich

nicht gegenseitig ab, sondern überschneiden sich. Was die Reflexion auf den Begriff des Neuen betrifft, sind alle drei Auffassungen heute noch präsent, wobei Adorno zufolge allein die dritte das avancierte Kunstwerk auszeichnet.

27 Theoretisch zuerst bei Kant als Zweckmäßigkeit ohne Zweck formuliert, während Schil-ler noch versucht, „Autonomie und soziale Funktion der Kunst in einer Theorie zusammenzu-denken" (JANZ: Autonomie und soziale Funktion der Kunst, a. a. O., S. 65.). - Vgl. NL 427 f. (Engagement).

28 Das dürfte der Grund dafür sein, daß Adorno sich nicht dafür interessierte. Die rezepti-onsorientierte Neuheit findet sich in der Kulturindustrie wieder.

29 Daß diese Phasen nicht ohne weiteres klar voneinander abzugrenzen sind, zeigt sich z. B. darin, daß Kant zwar bereits von der gesellschaftlichen Autonomie der Kunst ausging, je-doch gleichzeitig am Geniebegriff festhielt.

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ginalgenies innerhalb vorgegebener Gauungen bis zur individuellen Durch-formung jeden Werks.30 Diese Differenzierung der verschiedenen Bedeutungen bzw. der Komplexität des Neuen hat keiner der Autoren, die sich bisher theo-retisch mit dem Neuen beschäftigt haben, berücksichtigt. In der Regel wird von einem Begriff des Neuen ausgegangen.31 Deshalb sei hier auch die erste Phase kurz skizziert, obwohl sie in Adornos Theorie des Neuen keine große Rolle spielt.

Kunst in der vorautonomen Zeit war vor allem fait social.32 Sie stand zwar - retrospektiv betrachtet - an sich bereits im Widerspruch zu den gesellschaft-lichen Herrschaftsverhältnissen, ihre Aufgabe war es jedoch, außerhalb ihrer selbst liegende Interessen zu vertreten und zu bedienen, also die Machtverhält-nisse zu festigen, die Autorität von Religion, Moral oder Politik zu stärken oder zu unterhalten. Deswegen war der Künstler gezwungen, sich der Zustim-mung durch das Kollektiv zu versichern. Er arbeitete nicht selbständig, sondern im Auftrag der Machthab enden, des Adels oder der Kirchen, mehr oder weni-ger anonym innerhalb der institutionellen Autorität von Werkstätten, Bauhüt-ten und Schulen. Er wurde nicht als Individuum wahrgenommen. „Erst mit der Verfestigung von Subjekt zum Selbstbewußtsein verselbständigt sich der Aus-druck zu dem eines solchen Subjekts".33

Weil sich die Forderung nach Neuheit und Originalität zwangsläufig gegen die jeweils geltenden Ansichten richtet34, stellte sich unter den Bedingungen der Heteronomie und Abhängigkeit des Künstlers und der Kunst die Frage nach Originalität oder Neuheit in der Kunst nicht, sie war laut Adorno noch der Ära Bachs, also bis Mitte des 18. Jahrhunderts, nicht bekannt35 . Neuheit konnte es, wenn überhaupt, nur innerhalb vorgegebener Formen und Gattun-gen geben, z. B. in der Malerei als Variation des Portraits oder des Land-schaftsbildes. Ästhetisch wichtig war vor allem Perfektion der Formen, Orien-tierung an den geltenden Schönheitsidealen. Wenn vor der Geniezeit von Neu-heit oder Originalität die Rede ist, dann geht es meist um eine ganz äußerliche Form der Neuheit, um Neuheit als Mittel, die Aufmerksamkeit der Rezipien-ten zu erregen und so den außerhalb der Kunst liegenden Funktionen zu die-nen. Dieser Begriff von Neuheit als Reizwirkung, der z. B. von Breitinger 1740

30 Obwohl auch Blumröder die Autonomie als Voraussetzung für Neuheit ansieht, ver-steht er die Geschichte des Neuen in der Musik seit der „Ars nova" im 14. Jahrhundert allein als Steigerung der Emphase, also rein quantitativ. (BLUMRÖDER, a. a. O., S. 7 -12 . )

31 Z. B. FRICKE: Gesetz und Freiheit, a. a. O. - Gert MATTENKLOTT: Metamorphosen des Neuen. In: Daidalos 52 (1994), S. 29-35. - UwejAPP: Literatur und Modernität. Frankfurt am Main 1987, S. 28 ff., 298-300 , 3 1 8 - 2 1 . - BUBNER: Wie alt ist das Neue?, a. a. O., S. 3 -5 .

32 ÄT, S. 334. 33 ÄT, S. 486. 34 ÄT, S. 291. 35 MM, S. 177.

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in seiner Critischn» l)nhtkiiwit*'\ in der er das Neue in den Dienst der Intentio-nen der Aufklärung «tei l t ," und auch von Baumgarten3" vertreten wird, ist noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts verbreitet und wird schon damals wegen seiner Oberflächlichkeit kritisiert. So beschreibt z. B. der Ästhetiker Johann Georg Sulzer 1779 im Artikel „Neu" seines Kunstlexikons Allgemeine Theorie der schönen Künste die Funktion des Neuen in der Kunst:

„Aus dieser allgemeinen Betrachtung des Neuen kann der Künstler die Regel ziehen, daß es nothwendig sey in jedem Werk des Geschmaks das Bekannte, Gewöhnliche, mit dem Neuen zu verbinden. Nicht eben darum, wie so ofte gelehrt wird, damit man überrascht und in Verwundrung gesetzt werde. Wir wollen eben nicht immer überrascht seyn; sondern weil dieses ein nothwendi-ges Mittel ist, die Aufmerksamkeit zu reizen, ohne welche es nicht möglich ist, die ganze Kraft eines Werks zu fühlen. [...] Die Begierde neu zu seyn, kann leicht auf Ausschweifungen führen. Man muß bedenken, daß nicht die Ueberraschung durch das Neue, sondern die lebhafte Vorstellung des Nützl i-chen der Zwek der schönen Künste sey. Das Neue ist deswegen nur da nöthig, wo das Alte nicht lebhaft oder kräftig genug ist. [...] Es kommt also bey Werken des Geschmaks nicht darauf an, wie neu, sondern wie kräftig, wie eindringend ein Gegenstand sey; weil das Neue nicht der Zwek, sondern nur eines der Mittel ist."39

Das Neue kann für Sulzer also nur ein Akzidentelles sein und darf gerade des-halb nicht zum Selbstzweck werden, sondern muß dem eigentlichen - morali-schen - Zweck der Kunst untergeordnet werden. Sulzer gibt im Anschluß auch konkrete Hinweise darauf, wie Neues aussehen könnte, wobei er davon aus-geht, daß die Werke zum Zweck der Aufmerksamkeitsgewinnung innerhalb der vorgegebenen Grenzen beliebig gestaltbar sind:

„So findet man, daß ein Tonsetzer einem sehr gewöhnlichen melodischen Satz durch eine etwas fremde Harmonie, einem andern durch mehr Ausdehnung, oder durch eine veränderte Cadenz das Ansehen des Neuen giebt. Der Mahler kann leicht auf eine neue Art eine Geschichte behandeln, die schon tausend mal vorgestellt worden. Er wählt einen andern Augenblik, andre Nebenum-

36 Johann Jakob BREITINGER: Critische Dichtkunst. In: ders. und Johann Jakob BODMER: Schriften zur Literatur. Hg. von Volker MEID. Stuttgart 1980, S. 83-204 . Vgl. vor allem den fünften Abschnitt: „Von dem Neuen", S. 120-134 .

37 Vgl. zum Begriff des Neuen bei Breitinger: Bernd HÜPPAUF: Das große Neue und das kleine Neue. Bemerkungen über Veränderungen der gesellschaftlichen Produktion des Neuen in der Literatur. In: KUNERT/MANTHEY/SCHMIDT (Hg.), a. a. O., S. 27-32 .

38 Alexander Gottlieb BAUMGARTEN: Aesthetica. Hildesheim 1961. Besonders Sectio XXXXVIII: „Thaumaturgia Aesthetica".

39 Johann Georg SULZER: Artikel „Neu (Schöne Künste)". In: ders.: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. III. Leipzig 1779, S. 311 .

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sütu le , stellt die Sachen einfacher, oder in einem andern Ges ichtspunkt vor

u. s. w."40

Wegen dieser verbreiteten Auffassung von der Oberflächl ichkeit , Kurzlebigkeit und damit Unwahrhaft igkeit des Neuen als sinnlichem Reiz wurde es von eini-gen Autoren ganz abgelehnt, wie z. B. von Hopffgarten:

„Die Neuheit ist das Ziel, wornach so viele in ihren Unternehmungen streben, öfters der einzige Reiz ihrer Arbeit, und dasjenige, was die Gewohnheit be-kannt und gemein gemacht hat, wäre es auch gut und vortrefflich, suchet man öfters dem herrschenden Geschmacke zu Liebe, so viel als möglich zu vermei-den. Der Geschmack ist ein Tyrann, der seinen Scepter von der Neuheit ver-langet; seine Herrschaft, so gebietend sie ist, dauert nur eine kurze Zeit, und er ist bald genöthiget, seine Gewalt nieder zu legen, und sich der Gewohnheit, seinem Feinde, zu ergeben, der ihm hinterlistig nachschleicht, seine Bezaube-rung unkräftig, und seine Reize verächtlich machet. Da uns dieser Trieb zur Neuheit natürlich ist, und unsern Begierden schmeichelt, so gefällt sie zwar auch dem großen Geiste; allein sie nimmt ihn nicht völlig ein, und verblendet ihn nicht wie den kurzsichtigen Pöbel."41

Für Adorno war das Neue in der Kunst indessen von jeher Negat ion des Beste-henden und Freistatt des Besonderen, Individuellen: „Seit unvordenklichen Zeiten trachtete sie [die Kunst, SZ], das Besondere zu erretten; fortschreitende Besonderung war ihr immanent. Von je waren die gelungenen Werke die, in de-nen die Spezif ikat ion am weitesten gediehen war."42 Auch in der vorautonomen Zeit gab es Neues in diesem Sinne - und nicht nur im Sinne des bloß Interes-santen, Aufmerksamkei t erregenden. Es war zwar nicht das Geforderte , läßt sich aber retrospektiv als solches identifizieren:

„Allbekannt ist, daß die Kategorie der Originalität vor der Geniezeit keine Autorität ausübte. [...] Immerhin beweist, daß ehedem auf Originalität nicht kritisch reflektiert ward, keineswegs, daß nichts dergleichen in den Kunstwer-ken vorhanden gewesen wäre; ein Blick auf die Differenz Bachs von seinen Zeitgenossen reicht hin. [...] Gleichwohl wird älteren, gar archaischen Werken gegenüber die Frage nach ihrer Originalität sinnlos, weil doch wohl der Zwang des Kollektivbewußtseins, in dem Herrschaft sich verschanzt, so groß war, daß Originalität, die etwas wie emanzipiertes Subjekt voraussetzt, anachroni-stisch wäre."43

Weil Originalität abhängig ist von Subjektivität und Autonomie des Künstlers, konnte in der vorautonomen Phase nichts qualitativ Neues entstehen. Neues gab es nur, um Aufmerksamkei t zu erregen für die außerhalb l iegenden Zwecke

40 Ebd., S. 3 14 . 41 HOPFFGARTEN, a. a. O., S. 1 1 3 - 4 . 42 ÄT, S. 299. 43 ÄT, S. 257.

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der Kunst. Kunst wm /wm bereits das Andere zur Gesel lschal l , negierte diese aber nicht bewulit , rbensu war Neuheit nicht als Negation gedacht.

Adorno benutzt die Begriffe von Neuheit und Originalität gelegentlich synonym. Jedoch versteht er unter Originalität im engeren Sinn den Individual-stil, mit dem man Originalität, seit sie in den Blick genommen wurde, nämlich mit Beginn der bürgerl ichen Kunst, verband.44 Die Originalität ist abgeleitet von der Kategorie des Individuums, sie setzt ein emanzipiertes Subjekt voraus. Ihr Organon ist die Phantasie, die „im Bann des Glaubens an das Subjekt als den Nachfolger des Schöpfers, für soviel wie die Fähigkeit , best immtes künst-lerisches Seiendes gleich wie aus dem Nichts hervorzubringen"45 galt. Der Be-griff des Originalgenies ist verknüpft mit der Annahme der Unverwechselbar-keit des Künstlers, der in „absoluter Erfindung"46 ebenso unverwechselbare Kunst, Originale, d. h. Urbilder, hervorbringt.47 Kunst gilt darin als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Künstlers, ihre Wahrheit hat sie wie die „bürgerliche Ideologie [...] in der Substantialität des Einzelnen"48 . Seine spezif i-sche Originalität ist sein Markenzeichen. Diese Originalität ist die Kategorie, aus der nach Adorno die Kategorie des Neuen in der Moderne abgeleitet ist. Nur durch die Subjektivierung der Kunst im Individualstil ist die in der Mo-derne stattf indende Objektivierung durchs Subjekt möglich. Originalität hebt sich insofern ab von dem bis dahin gängigen Begriff der Neuheit , als sie als Ausdruck des künstler ischen Subjekts und nicht mehr als auf die Wirkung zie-lendes Akzidentel les verstanden wird.

Originalität ist Negat ion der Herrschaft des Allgemeinen und Immerglei-chen im Rahmen des Möglichen. Indem Kunst auf Originalität und Individuali-tät pocht, lehnt sie die Herrschaft des Allgemeinen, die Heteronomie ab und führt die Möglichkeit der Freiheit und Unabhängigkeit des Individuums vor.

44 ÄT, S. 258. - Vgl. Immanuel KANT: Kritik der Urteilskraft. In: ders.: Werkausgabe. Hg. von Wilhelm WEISCHEDEL. Bd. X. Frankfurt am Main 1983, S. 242.

45 ÄT, S. 258. 46 Ebd. 47 Greiner, der nicht zwischen Originalität und Neuheit unterscheidet, versteht die Genie-

lehre als „eine Theorie absoluter Innovation", deren Forderung nach „doppeltefr] creatio ex ni-hilo: Schaffen des Neuen, indem zugleich die Bedingung der Möglichkeit der Regelhaftigkeit dieses Neuen hervorgebracht wird", auch noch in den von Adorno beschriebenen Produktions-problemen der modernen Kunst lebendig ist. (GREINER, a. a. O., S. 45 f.) Aus Adornoscher Perspektive ist dagegen einzuwenden, daß erstens das Neue in der Moderne nicht intendiert ist, daß es zweitens nicht als creatio ex nihilo verstanden wird und daß drittens die Produktions-probleme der Moderne nicht in der subjektiven Hervorbringung, sondern in der Vermeidung von Subjektivismus bestehen. (Vgl. die von Greiner zitierte Stelle aus der Philosophie der neuen Musik, PM, S. 101.)

48 Hartmut SCHEIBLE: Die Kunst im Garten Gethsemane. Ästhetik zwischen Konstruk-

tion und Theologie. In: LLNDNER/LÜDKE (Hg.), a. a. O., S. 350. Allerdings sieht Scheible dieses

Prinzip bis in die Moderne fortwirken: „Insofern bedeutet also die neue Musik gerade keinen

Abbruch der bürgerlichen Tradition, sondern, im Gegenteil, deren Vollstreckung." (Ebd.)

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Richtig daran ist für Adorno, daß die Subjektivität des Künstlers im Produkti-onsprozeß hervorgehoben wird. Falsch ist es jedoch, das Subjekt als Genie ab-solut zu setzen und die Originalität des Werkes als rein subjektiv zu verstehen, denn das macht die darin ausgedrückte Möglichkeit von Freiheit zur individuel-len Ausnahme. Indem das Neue als Originelles an die Person des Künstlers ge-bunden bleibt und dieser als Originalgenie zur Ausnahmeerscheinung stilisiert wird, berührt diese Neuheit als Ausdruck von Individualität die Gesellschaft nicht: „Dem privilegierten Genie wird stellvertretend zugesprochen, was die Realität den Menschen allgemein verweigert."49 Die Autonomie des Künstlers ist zunächst eher etwas wie Narrenfreiheit des Außenseiters als wirkliche künstlerische Autonomie, die keine gesellschaftlichen Rücksichten zu nehmen bräuchte und sich selber das Gesetz gäbe. Das Allgemeine herrscht weiter in den Normen des klassizistischen Kunstwerks, das möglichst dem Ideal ewiger Schönheit entsprechen soll, und steht damit der wirklichen Autonomie des Kunstwerks entgegen:

„Während im Klassizismus ästhetisch das Subjekt sich aufrichtet, wird ihm, dem gegen das stumme Allgemeine beredten Besonderen, Gewalt angetan. In der bewunderten Allgemeinheit der klassischen Gebilde perpetuiert sich die verderbliche der Mythen, die Unausweichlichkeit des Bannes, als Norm der Gestaltung. Im Klassizismus, dem Ursprung der Autonomie von Kunst, ver-leugnet diese erstmals sich selber."50

Allerdings ist die Idee der Genialität als eines ganz Subjektiven, das einem ein-zelnen Individuum zugesprochen wird, selber nicht nur ideologisch und falsch, weil sie „den Einzelnen verabsolutiert"51, sondern sie ist als Idee auch unstim-mig. Denn der Künstler ist in seinem Ausdruck nie ganz subjektiv, individuell. In der Kunst ist immer ein Allgemeines enthalten - weshalb sie für Adorno bei aller Autonomie immer fait social bleibt:

„Das spontane Subjekt ist, kraft dessen, was es in sich aufspeichert nicht min-der als durch den eigenen Vernunftcharakter, der auf die Logizität der Kunst-werke sich überträgt, ein Allgemeines, als das Jetzt und Hier Hervorbringende ein zeitlich Besonderes. In der alten Lehre vom Genie war das registriert, nur, zu Unrecht, einem Charisma gutgeschrieben. Diese Koinzidenz geht in die Kunstwerke ein. Mit ihr wird das Subjekt zum ästhetisch Objektiven."52

Umgekehrt ist Ausdruck nur durch das Subjekt möglich. Wenn überhaupt Kunst Ausdruck sein kann, auch eines Objektiven, dann nur über das Subjekt, das selber allerdings ein Vermitteltes ist, nicht reine Subjektivität. Falsch am Geniebegriff ist die Identifizierung des Genies mit dem künstlerischen Subjekt.

49 ÄT, S. 256. 50 ÄT, S. 243. 51 ÄT, S. 255. 52 ÄT, S. 288.

159 133

Das Genie ist y.war ein Individuum, seine Subjektivität ist jedoch vermittelt. Ebenso ist das Kunatwcrk zwar ein Besonderes, jedoch durch das Allgemeine vermittelt. Der Begriff der Genialität darf deswegen nicht reduziert werden auf reine Subjektivität, das Kunstwerk nicht als Geschöpf seines Schöpfers verstan-den werden: „Der Geniebegriff wäre, wenn irgend etwas an ihm zu halten ist, von jener plumpen Gleichsetzung mit dem kreativen Subjekt loszureißen, die aus eitel Überschwang das Kunstwerk ins Dokument seines Urhebers verzau-bert und damit verkleinert."53 Vielmehr ist es für Adorno gerade das Objektive, das Genialität ausmacht: „Das Moment des Ichfremden unterm Zwang der Sa-che ist wohl das Signum dessen, was mit dem Terminus genial gemeint war."54

Das Originale als Ausdruck der Individualität des Ausnahmekünstlers, des Originalgenies ist für Adorno kein Ausweis für avancierte Kunst. „Subjektivi-tät, notwendige Bedingung des Kunstwerks, ist aber nicht als solche die ästheti-sche Qualität. Sie wird es erst durch Objektivation".55 Und diese Objektivation besteht nicht in der Unterordnung unter tradierte Formen. Bereits Hegel wen-det sich gegen die reine Subjektivität des Künstlers. Er fordert Objektivität und Aufgehen im Stoff:

„Die echte Originalität des Künstlers wie des Kunstwerks liegt nur darin, von der Vernünftigkeit des in sich selber wahren Gehalts beseelt zu sein. Hat der Künstler diese objektive Vernunft ganz zur seinigen gemacht, ohne sie von in-nen oder außen her mit fremden Partikularitäten zu vermischen und zu verun-reinigen, dann allein gibt er in dem gestalteten Gegenstande auch sich selbst in seiner wahrsten Subjektivität, die nur der lebendige Durchgangspunkt für das in sich selber abgeschlossene Kunstwerk sein will."56

Auf diesem Hintergrund entwickelt Adorno sein Programm der Moderne, in dem er allerdings im Gegensatz zu Hegel nicht von einer Konvergenz von Sub-jektivem und Objektivem im Kunstwerk ausgeht, sondern auf dem dialekti-schen Verhältnis zwischen beidem besteht. Die Rettung der Objektivität er-folgt bei ihm durch Mimesis des Subjekts an das Andere. „Form muß nach den Necessitäten des Objekts subjektiv gezeitigt werden".57 Diese aufs Werk bezo-gene Forderung nach Objektivität steht im Gegensatz zur romantischen Ver-klärung des schöpferischen Ichs. Deswegen verhielt sich für Adorno Goethe mit seiner Iphigenie „moderner als die Hainbündler, Stürmer und Dränger und frühen Romantiker. Er sah, daß, wer überhaupt den Vertrag honoriert, den je-des Kunstwerk ihm unterbreitet, dessen immanenter Gesetzlichkeit, der Ob-jektivation sich verpflichtet."58 In seiner Iphigenie fungiert Sprache als

53 ÄT, S. 254. 54 Ebd. s 5 Ä T , S . 253. 56 Georg Wilhelm Friedrich HEGEL: Ästhetik. Berlin 1985, Bd. I, S. 291 . 57 ÄT, S. 248. 58 NL, S. 498 (Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie).

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objektivierendes Moment. Sic wird un die Suche entäußert, untcrwirl i sich kei-nen Konventionen:

„Erstmals in der deutschen Literatur ist beim mittleren Goethe das dichteri-sche Ideal das vollkommener desinvolture. Der naturbeherrschende Gestus, der Krampf des Wortes löst sich. Sprache findet ihre Autonomie nicht länger durch Selbstbehauptung sondern durch Entäußerung an die Sache, der sie in-nig sich anschmiegt."5 '

Sprache wird von mitteilender zu ausdrückender. Damit erhebt Goethe Ein-spruch gegen die formalen Gestaltungsvorgaben des Klassizismus. Umgekehrt ist bei Eichendorff die „Preisgabe an die Impulse der Sprache" antisubjekti-vistisch, „Einspruch gegen das dichterische Subjekt".60 Bei Goethe wie bei Eichendorff wird die Dialektik zwischen Subjektivität und Objektivität im Werk ausgetragen. Sprache erhält Autonomie, ihr dient die Ablehnung von Konventionen ebenso wie die Zurücknahme des Subjekts.

Was sich bei Goethe und Eichendorff bereits abzeichnet, wird in der Mo-derne seit Baudelaire zur Norm. Das Spezifische eines Kunstwerks ist nichts rein Subjektives mehr, deshalb ersetzt Adorno den Begriff der Originalität, in dem die Idee des rein aus sich selbst schöpfenden Originalgenies mitschwingt, durch den Begriff des Neuen. Sein Programm des Neuen in der Moderne for-muliert er 1957 noch unter dem Namen der Originalität in dem Aufsatz Krite-rien der neuen Musik:

„Fällig wäre die Formulierung eines objektiven, von der Zufälligkeit der kom-positorischen Person wie von den sachfremden Desideraten des Marktes gleich tinabhängigen Begriffs der Originalität. Diese wäre dem Namen zu ver-gleichen, den das Komponierte wortlos, unausdrücklich trägt und den seine Konfiguration schreiben soll. Enträt eine Komposition solchen geheimen Namens des Unterscheidenden, das ihr Allgemeines birgt, so ist sie schlecht und vorkünstlerisch".61

Neuheit ist die Nachfolgekategorie der Originalität: „Das Neue ist Erbe des-sen, was vordem der individualistische Begriff der Originalität sagen wollte"62. Im Gegensatz zur Originalität ist Neuheit auf das Werk bezogen, nicht in er-ster Linie Ausdruck der Individualität des Künstlers. Möglich wird Neuheit in diesem Sinne erst in der Moderne. Erst in der Zeit der Autonomie nicht nur des Künstlers, sondern auch der Kunst, in der sie sich also ihre Gesetze selbst gibt und weder durch ihre gesellschaftliche Funktion heteronom bestimmt wird noch allein von den Intentionen des Künstlers abhängig ist, kann sie im Neuen nach außen kehren, was sie immer schon war: das Andere zur Gesell-

59 Ebd., S. 504. 60 NL, S. 79 (Zum Gedächtnis Eichendorffs).

" ADORNO: Kriterien der neuen Musik. In: GS 16, S. 202. " ÄT, S. 402.

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schaft.61 Im Neurit dec Moderne kommt die Kunst zu sich selbst. Originalität hat sich - als Neuheit -

„in die Werke zurückgezogen, in die Rücksichtslosigkeit ihrer Durchbildung. Betroffen bleibt sie vom geschichtlichen Schicksal der Kategorie des Indivi-duums, von der sie abgeleitet war. Nicht länger gehorcht Originalität dem, womit man sie assoziierte, seit man darüber nachdachte, dem sogenannten In-dividualstil."64

Ebensowenig ist moderne Neuheit abhängig von außerkünstlerischen Zwecken, sie orientiert sich an der Sache, nicht mehr an außerkünstlerischer Funktion oder Rezeption - wenn überhaupt, dann nur negativ, indem sie sich der Rezep-tion verweigert. Sowohl die Zweckbezogenheit des Kunstwerks als auch der Ausdruck von Individualität haben sich in das Werk verlagert. Das Kunstwerk selbst ist nur in sich, in seiner Form und Durchbildung zweckbezogen - nicht mehr außerkünstlerischen Zwecken unterworfen - , nur noch Ausdruck seiner selbst, nicht eines künstlerischen Subjekts. Entsprechend ist Neuheit unabhän-gig von der Wirkung des Werks und von den Intentionen des Künstlers:

„Die Wahrheit des Neuen, als des nicht bereits Besetzten, hat ihren Ort im Intentionslosen. Das setzt sie in Widerspruch zur Reflexion, den Motor des Neuen, und potenziert sie zur zweiten. Sie ist das Gegenteil ihres philoso-phisch üblichen Begriffs, etwa der Schillerschen Lehre vom Sentimentalischen, die darauf hinausläuft, Kunstwerke mit Intentionen aufzuladen."65

Erst durch diese Unabhängigkeit wird Neuheit zur objektiven Kritik: „Das Neue ist keine subjektive Kategorie, sondern von der Sache erzwungen, die an-ders nicht zu sich selbst, los von Heteronomie, kommen kann.66 [...] durchs Neue wird Kritik, der Refus, zum objektiven Moment der Kunst selbst."67 Die

63 Für Brunkhorst sind Moderne und Neues schlicht identisch: „Die Moderne ist das Neue, der Bruch mit dem Bestehenden, Kritik und Zerstörung des autoritär Vorgegebenen." (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 131.)

64 ÄT, S. 258. 65 ÄT, S. 47.

" Unter völliger Mißachtung dieses Unterschieds des Neuen von subjektivistischer Pro-duktion verurteilt Scheible Schönbergs musikalische Neuerungen als aus „Machtvollkommen-heit" und „Herrschaftsanspruch" des Subjekts resultierend, bei Loos diagnostiziert er ein aus „radikale [r] Zerstörung überlieferter Ornamente und Formen" resultierendes „rauschhaft ge-steigertes Selbstgefühl". Damit will er die Gefahren der Adornoschen Ästhetik „ohne Leitbild", die er als „auf die vollendete Autonomie des Subjekts" zielend mißversteht, entlarven. (Hartmut SCHEIBLE: Wahrheit und Subjekt. Ästhetik im bürgerlichen Zeitalter. Bern/ München 1984, S. 499.) An anderer Stelle spricht er im Zusammenhang mit der Negation tradierter Formen von einer „Ersetzung des Scheins, der seine Legitimation bezog aus einer dem einzelnen Werk über-geordneten Weltordnung, durch das substantielle, nicht länger scheinhafte Sein des Indivi-duums." (SCHEIBLE: Die Kunst im Garten Gethsemane, a. a. O., S. 352.)

67 ÄT, S. 4 0 - 1 . Vgl. auch V o 6449-50.

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Unabhängigkeil des Neuen von den Intentionen des Künstlers zeigt sich deut-lich gerade bei Baudelaire, dem ersten Protagonisten der Moderne. Bei ihm tritt zum ersten Mal das Neue nicht mehr als akzidentelles Merkmal des Werkes oder als subjektiver Ausdruck hervor, sondern als durchs Subjekt hindurchge-gangene Objektivität im Werk. Interessant an Baudelaire ist für Adorno zum einen, daß er als erster das Neue gefordert hat, zum anderen aber, daß er es auf eine ganz andere Weise hervorgebracht hat als intendiert und daß er sich auf-grund seiner künstlerischen Erfahrung und nicht aufgrund theoretischer Refle-xion einer dialektischen Position annähert. Gefordert hat Baudelaire das Neue theoretisch als das ganz Andere, hervorgebracht jedoch durch eine neue mime-tische Verhaltensweise. Theoretisch ist Neues für ihn das schlechthin Fremde, zum Immergleichen Inkommensurable. Deswegen nennt Adorno es als Uner-kennbares „eine Leerstelle des Bewußtseins"68. Das absolut Neue, von dem Baudelaire träumt, wäre das, was weder mit dem Alten noch mit dem Immer-gleichen vergleichbar ist. Er setzt „das Neue dem Unbekannten gleich, dem verborgenen Telos sowohl wie dem um seiner Inkommensurabilität zum Im-mergleichen willen Grauenhaften, dem goüt du neant".69 Im Hinblick auf eine Analyse des Neuen ist aber die von Baudelaire theoretisch geforderte Neuheit weniger relevant als die spezifisch modernen Erfahrungen, die in seinen Wer-ken zum Ausdruck kommen. Die Baudelairesche Verfahrensweise konnte ob-jektiv werden, weil er nicht versuchte, seine eigene Forderung nach Neuem po-sitiv umzusetzen, sondern von seinem degoüt ausging, der durch Mimesis ge-rade an das Negierte zum objektiven Ausdruck gebracht wurde. Neues ent-stand bei Baudelaire nicht aus seiner Forderung nach Neuheit, sondern war be-reits Folge aus seiner mimetischen Aneignung der Realität, die Adorno als un-intendierte Identifikation mit dem Angreifer versteht.70 Durch diese negative Mimesis, nicht durch die Intention, Neues zu produzieren, bringt Kunst not-wendig Neues hervor: „Durch diesen eigentümlichen Akt der Preisgabe an das Andere folgt bei Baudelaire die Kategorie des Neuen"71. Aus der Suche nach dem ganz Anderen wurde die Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete, die den qualitativen Umschlag zur Moderne bedeutet. Bei Baudelaire entsteht das Neue, auch wenn es theoretisch positiv gefordert ist, weniger aus dieser Forde-rung als aus der Ablehnung des Bestehenden. So ist auch seine Suche nach Neuem nach Adorno Ausdruck seines ,,Ekel[s] vor dem Abgestandenen"72 , des „degoüts"73, des Leidens am Immergleichen. Weil Neuheit nicht positiv formu-liert werden kann, ist die Forderung nach Neuheit nur negativ zu verstehen:

68 MM, S. 269. Vgl. auch ÄT, S. 38. " ÄT, S. 40. 70 Vgl. Ä T , S . 201 . 71 V Ä , S. 69. 72 ÄT, S. 286. 73 ÄT, S. 333.

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„Die Krfahrung von Mntlerne sugt mehr, obwohl ihr Begriff, wie immer auch qualitativ, in seiner Abstraktheit laboriert. Er ist privativ, von Anbeginn mehr Negation dessen, was nun nicht mehr sein soll, als positive Parole. Er negiert aber nicht, wie von je die Stile, vorhergehende Kunstübungen sondern Tradi-tion als solche [...]. Darum hat Moderne, wo sie erstmals theoretisch sich arti-kuliert, bei Baudelaire, sogleich den Ton von Unheil . Das Neue ist dem Tod verschwistert. Was bei Baudelaire als Satanismus sich gebärdet, ist die sich selbst als negativ reflektierende Identifikation mit der realen Negativität des gesellschaftlichen Zustandes."74

Auch die Norm des Rimbaudschen il faut etre absolument moderne richtet sich letzten Endes „an ein in gewissem Sinn Bewußtloses, an die Innervation, den Ekel vorm Abgestandenen."75 Deshalb ist die Forderung nach Neuheit in der Moderne keine positive Anweisung, sondern negativ: die Ablehnung dessen, was nicht mehr sein soll. Modernität „involviert einen negativen Kanon, Ver-bote dessen, was solche Moderne in Erfahrung und Technik verleugnet; und solche bestimmte Negation ist beinahe schon wieder Kanon dessen, was zu tun sei."76

Weil das Neue in der Moderne unwillkürlich erscheint und nur negativ ge-fordert werden kann, trifft auch Valerys Kritik an der „Anbetung des Neuen"77

authentische Kunstwerke ebensowenig wie Lukäcs' Ablehnung der „Sensati-onslüsternheit", die er in der „Sehnsucht nach dem Neuen um des Neuen wil-len"78 in avantgardistischer Kunst zu sehen glaubt. Entsprechend trifft auch der z. B. von Figal vorgetragene Gedanke der Widersprüchlichkeit des Neuen, das sich schließlich auch gegen eine tradierte Forderung nach Neuheit und damit gegen sich selbst wenden müsse,79 das von Adorno gemeinte Neue nicht. Die-ser Widerspruch weist aber auf die Gefahr hin, die mit einer Hypostasierung des Neuen einherginge. Die intendierte Neuheit, die Valery und Lukäcs kriti-sieren, kann nach Adorno in der Tat nur die Neuheit der Kulturindustrie sein. Sie darf nicht mit dem unintendierten Neuen der Kunst verwechselt werden.80

7 4 Ä T , S. 3 8 - 9 . 75 ÄT, S. 286. 76 ÄT, S. 57 -8 . 77 NL, S. 193 (Val£rys Abweichungen). 78 Zitiert nach NL, S. 270 (Erpreßte Versöhnung). 79 „Das Neue, konsequent vertreten und realisiert, müßte nicht nur gegen das Al te oder

Altgewordene, sondern gegen das Neue selbst kontrastiert sein, weil die ständige Überbietung des Gegebenen, die rastlose Dynamik der Innovation sich sonst als die Wiederkehr des Gleichen und als Verflachung, schließlich als Einebnung des Neuen offenbarte." (Günter FIGAL: Rück-bindungen des Neuen - Überlegungen zur Rettung einer Kategorie der Moderne. In: MOOG-GRÜNEWALD [Hg.], a. a. O., S. 101.)

80 Vgl. NL, S. 158 ff. (Valerys Abweichungen). - Auch Figal hat diese Zweischneidigkeit

des Neuen gesehen, ohne sie allerdings in Zusammenhang mit der Intendiertheit des Neuen zu

bringen. Er stellt fest, „daß man dem Denk- und Erfahrungsschema des Neuen nicht entgeht

und daß man sich ihm andererseits auch nicht ausliefern darf. Das ist, wie es scheint, die größte,

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Nominalismus in der Kunst heißt /.war, daß Kunst sich immer mehr ins Werk zurückzieht, das durch seine individuelle Durchbildung ein Vereinzeltes dar-stellt, doch bleibt Kunst, wie autark das einzelne Kunstwerk auch scheinen mag, mit einem Allgemeinen, der Gesellschaft verknüpft. Kunst ist autonom, d. h. sie ist zwar nicht heteronom bestimmt, aber auch nicht autark. Ihr Bezug zur Gesellschaft besteht auf drei Ebenen: durch die Herkunft ihres Stoffes, die Art ihrer Hervorbringung und insbesondere durch ihre Gegenposition zur Ge-sellschaft. Auf allen diesen drei gesellschaftsbezogenen Ebenen ist die Katego-rie des Neuen wirksam und nicht nur, wie Zimmermann81 und Bürger82 es bei Adorno zu sehen glauben, allein auf der Ebene des künstlerischen Materials. Die Reduktion auf das Material ist gerade der Grund für das Altern der neuen Musik. Autonomie der Kunst heißt nicht, daß sie sich außerhalb der Gesell-schaft stellt und in einer eigenen Welt ihr autarkes Eigenleben führt. Sie muß schon deshalb Stellung zur Gesellschaft beziehen, um nicht von dieser zur Er-bauung oder Dekoration vereinnahmt zu werden und damit zurückzufallen in alte Abhängigkeiten der vorautonomen Zeit. Im Gegenteil wird Kunst wirklich Gesellschaftliches erst als autonome, wenn sie als solche nämlich Position in der Gesellschaft beziehen kann.

Kunst wendet sich gegen die Gesellschaft nicht in manifesten Stellungnah-men, sondern durch ihr Verhalten. Indem sie funktionslos wird, lehnt sie die Indienstnahme durch die Gesellschaft ab. Daher ist auch der Rückzug der Kunst zu verstehen. Sie muß sich der Rezeption sperren, um nicht ohne weite-res instrumentalisiert werden zu können. Kritik übt sie nicht durch Engage-ment oder inhaltliche Stellungnahme, sondern durch ihre Durchbildung, durch den Rückzug auf sich selbst. Kritik wird in die Form verlagert: „Die hermeti-schen Gebilde üben mehr Kritik am Bestehenden als die, welche faßlicher So-zialkritik zuliebe formaler Konzilianz sich befleißigen und stillschweigend den allerorten blühenden Betrieb der Kommunikation anerkennen."83

Kunstwerke sind zwar tendenziell monadisch. Doch reichen sie gerade in ihrer Verschlossenheit über ihr Monadisches hinaus. Ihr Rückzug heißt nicht nur, daß die Kunst nicht zweckgebunden ist, sondern daß sie auch nicht affir-mativ ist. Kritisch gegen das Bestehende war Kunst immer schon: „Indem Kunstwerke da sind, postulieren sie das Dasein eines nicht Daseienden und ge-

die eigentliche Aporie der Moderne: auf die Kategorie des Neuen ist nicht mehr zu verzichten, und zugleich ist sie für die Kultur der Moderne die entscheidende, möglicherweise tödliche Ge-fahr." (FLGAL, a. a. O., S. 102.) Die befremdliche Konsequenz, die Figal aus diesem Dilemma zieht, ist die Suche nach einem die Innovationsdynamik retardierenden Moment. Das ist für ihn zunächst die Interpretation, die Neues auf Altes zurückführt. Daraus resultiert bei ihm eine Umdeutung des Neuen selbst zu einer Interpretation des Alten, das als Interpretation im Alten immer schon enthalten sein muß, womit schließlich das Neue gar nichts Neues mehr ist.

81 ZIMMERMANN, a. a. o . , S. 149 ff. 82 BÜRGER: Theorie der Avantgarde, a. a. O., S. 81 ff. 83 ÄT, S. 218 .

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raten dadurch in Konllikt mit dessen realem Nichtvorhandensein.""4 Das Neue ist positiver Auidruck für die Negation des Bestehenden. Im Neuen ist Kunst nicht einfach ein andere«, sondern übt Kritik, wie Baumeister und Kulenkampff feststellen: „das Neue |in der Moderne, SZ] ist nicht nur gemessen am Alten anders, sondern es sagt ,Nein', meint seine Andersheit"85. Als Neues in der Form hat Kunst in der Moderne qualitativ neue, andere Möglichkeiten, Gesell-schaft zu kritisieren. Entscheidend für den Aspekt der Gesellschaftskritik ist dabei die Neuheit der Konstellation,86 die individualisierte Form, nicht die Neu-heit einzelner Momente oder der explizite Bezug auf Gesellschaft. Ihre Neu-heit als Negation des Allgemeinen und Immergleichen ist dabei eine notwen-dige Bedingung für ästhetische Qualität, aber keine zureichende, und zwar des-halb, weil der Begriff des Neuen als allgemeiner nicht positiv bestimmt ist, ein leerer Begriff, dessen Bedeutung erst am spezifischen Kunstwerk Form gewin-nen kann.

Nicht ohne weiteres ein Qualitätsmerkmal ist Neuheit auch deshalb, weil die Kategorie des Neuen Doppelcharakter hat:

„Das Neue ist ja eben in Gottes Namen immer auch zugleich die nouveaute, also das, was sich von dem schon Dagewesenen als attraktiver Artikel gewis-sermaßen unterscheidet, so wie Ihnen aus der Vulgärsprache der Reklame das Wort Neuheit allen vertraut ist, und dieses negative Element des Neuen, die-ses also Heteronome, d. h. vom Markt Bezogene hat in dem Begriff des Neuen selbst Spuren hinterlassen."87

Falsch ist die von Haug vertretene Annahme, Adornos Kategorie des Neuen werde in der Logik der Warenökonomie aufgehoben. Nur für die nouveaute gilt, was Haug der ästhetischen Innovation zuschreibt: „Ihrem Antrieb nach ist die ästhetische Innovation also wesentlich ästhetische Veraltung, das Neue als solches interessiert sie nicht. Ihr bestimmender Zweck ist die Veraltung des Vorhandenen, seine Kündigung, Ausrangierung, Verdrängung."88 Diese Identi-fikation des Neuen in der Kunst mit dem Neuen der Kulturindustrie findet sich auch bei anderen Autoren. Groys will „die Unterscheidung zwischen wah-rer, authentischer Innovation und unwahrer, nicht authentischer Innovation"89

fallenlassen, die er als Teil ,,ideologische[r] Motivierungen und Rechtfertigun-gen" versteht. So ist ihm zufolge für Adorno, der angeblich nicht „zwischen

84 ÄT, S. 93. 85 BAUMEISTER/KULENKAMPFF, a. a. O., S. 76. 86 Die Fähigkeit der Neukonstellation verdankt die Kunst wiederum ihrer Autonomie, wie

Koepsel richtig beschreibt: „Antithetische Kraf t gewinnen die Kunstwerke erst durch ihre

Autonomie, indem sie von der Empirie zurücktreten und kraft ihrer Form deren Elemente, auf

die sie angewiesen sind, in eine neue Konstellation bringen." (KOEPSEL, a. a. O . , S. 297 . ) 87 V o 6378. 88 HAUG , a. a. O . , S. 52. 89 GROYS, a. a. O . , S. 12.

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zwei Ursprüngen des Neuen" unterscheidet, „ein solcher Unterschied /wischen Authentischem und Nicht-Authentischem immer nur strategisch und bedingt, wobei das Authent ische in gewissem Sinn als sekundär erscheint [ . . . ] . Damit bekommt auch die utopische Dimension der Kunst ihren Ursprung im Markt und wird zu einer Art pervertierter Marktstrategie."90 Wei l Groys ' Untersu-chung auf eine Ökonomie des Neuen zielt — und damit selber keineswegs vor-aussetzungsfrei ist —, muß er die Adornosche Unterscheidung verschiedener Qualitäten von Neuheit ablehnen, denn sie sind mit ökonomischen Begriffen nicht faßbar. Nur seine Einschränkung des Blickwinkels kann zu der Reduzie-rung des Neuen auf eine „ökonomische Operat ion" einer „Umwertung der Werte"91 führen. Für Zima hingegen besteht das Problem vor allem darin, daß angesichts der Innovationen der Kulturindustrie die Kunst den Anspruch auf Negativität ihrer Neuheit nur schwer aufrechterhalten kann:

„Aus der Sicht einer post-adornianischen Kritischen Theorie sieht das gegen-wärtige Dilemma wie folgt aus: Innovation als Negation des Bestehenden wird fragwürdig, sobald die den Kulturbetrieb organisierenden Gewalten das Inno-vationsprinzip für sich in Anspruch nehmen und dadurch der ästhetischen Kritik den Stachel ziehen."92

Aus Adornoscher Sicht ist dagegen einzuwenden, daß es nicht ein Innovations-prinzip gibt, das beliebig benutzt werden könnte. Sondern das Innovationsprin-zip der Kunst ist ein anderes — und hat auch einen anderen Ursprung — als das der Kulturindustrie und des Marktes. Das authentische Neue im autonomen Werk ist den Prinzipien der modernen Gesellschaft, so auch dem Prinzip des Für-anderes-Seins, in dem sich die Herrschaft über die Dinge verbirgt, entge-gengesetzt: „Kunstwerke sind die Statthalter der nicht länger vom Tausch ver-unstalteten Dinge".93 In der Kunst hat Neuheit nicht die Funktion, Kunst kon-sumierbar zu machen oder zum Kauf anzuregen, im Gegenteil . Sie ist gemessen an der nouveaute eine negative Neuheit . Kunst wehrt sich durch Neuheit gegen Konsumierbarkeit . Würde Neues in der Kunst mit Blick auf die Rezept ion pro-duziert, verlöre Kunst ihre Autonomie, wäre nur noch Ware, deren Neuheit Verkaufszwecken untergeordnet ist. Das bedeutete für das Neue in der Kunst die Regression in die vorautonome Phase, in der es allein als äußerl icher Reiz, der außerkünst ler ischen Zwecken dient, verstanden wurde.

Die Neuheit in der Kulturindustrie ist eine solche Regression.94 In der Kulturindustrie gibt Kunst ihre Autonomie auf und nimmt vollends Warencha-

50 Ebd., S. 1 72 -3 Anm. 51 Ebd., S. 14. 92 Peter V. ZLMA: Innovation als Negation - Peripetien des Subjekts zwischen Moderne

und Postmoderne. In: MOOG-GRÜNEWALD (Hg.), a. a. O., S. 91. 93 ÄT, S. 337. 94 Woldemar Bargiel wendet sich in seiner Schrift Ueber das Neue und den Fortschritt in der

Musik bereits 1882 gegen die oberflächliche, auf bloße Reizwirkung zielende Neuheit der „Con-

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rakter an. Ebenso werden Künstler erneut abhängig: als Angestel lte der Mas-senkultur. Neues in der Kulturindustrie ist ein falsches, scheinbares Neues, das dem Neuen auf dem Markt entspricht und nur als Reiz dient, kein qualitativ Verschiedenes ist: „Das Neue der massenkulturel len Phase gegenüber der spät-liberalen ist der Ausschluß des Neuen. Die Maschine rotiert auf der gleichen Stelle. Während sie schon den Konsum best immt, scheidet sie das Unerprobte als Risiko aus."95

Das Neue wird in der Kulturindustrie von der Rezeption her gedacht. Es ist ein falsches, auf die Wünsche und Bedürfnisse des Publ ikums ausgerichtetes Neues. Der sinnliche Reiz der Produkte, ihr Kulinarisches wird zum Selbst-zweck. Die Kulturindustr ie „fügt Altgewohntes zu einer neuen Qualität zu-sammen. In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder minder planvoll her-gestellt, die auf den Konsum durch Massen zugeschnitten sind."96 Indem sie sich dem Geschmack der Massen und den Gesetzen des Marktes anpaßt, an-statt das Individuelle im Neuen zur Geltung zu bringen, fügt sie sich dem All-machtsanspruch der Gesellschaft, die das Individuelle unterdrückt , um sich als totalitäre Gesellschaft zu erhalten. Falsch am Neuen der Kulturindustr ie wie am nicht-authentischen Neuen in der Kunst ist nicht, daß sie das Neue als Selbstzweck herstellt, sondern daß das Neue zum Erhalt des Bestehenden in-strumentalisiert ist:

„Was im schlechten Sinn ,neu' ist, im Sinne des Warencharakters ist nicht mit dem Hinweis auf das gewollt Neue abzufertigen, sondern ist immanent zu kri-tisieren. Man wird feststellen, daß neue Mittel zu alten Zwecken verwandt werden. Funde radikaler neuer Kunstwerke werden in den Dienst dekorativer Wirkungen gestellt. Allgemein kann man sagen, daß die bloße Jagd nach neuen Farben oder neuen Klängen, ohne strukturelle Konsequenzen für das Gesamtgebilde dieser Kritik verfällt. Als Mätzchen läßt sich das schlecht-Neue, unverbindlich Neue dort exemplifizieren, wo es sich darum handelt, eine Sache aufzumöbeln oder zu aktualisieren, in der die betreffenden Mittel nicht selber sinnimmanent sind. Das Schlechte der Neuerungen ist die Ohn-macht der Sache gegenüber. Das schlecht-Neue ist meist der Rettungsversuch an einem bereits Veralteten."97

Produkten der Kulturindustrie wird der Anschein von Neuheit gegeben, der nur so weit gehen darf, daß sie sich trotzdem widerstandslos unter altbekannte

certindustrie": Man wird „das massenhafte Musikmachen, das ungebührliche Gewichtlegen auf

Technik, das Geschwollene und Aufgeblasene neuester gepriesener Compositionen, die mo-

derne Concertindustrie mit ihrem Concertlärm gegen eine noch nicht lange vergangene Zeit als einen Rückschritt betrachten müssen." (A. a. O., S. 109.) Was ihm als „wertvolles" Neues vor-

schwebt, ist Originalität als subjektivistischer Ausdruck des Ausnahmetalents, das sich fern vom

Musikbetrieb ungestört entwickeln und entfalten kann. 95 D A , S. 156. 96 ADORNO: Rdsum£ über Kulturindustrie. In: GS 10.1, S. 337. 97 V Ä , S. 80.

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Erkenntnismusier einordnen lassen, weil sie im Kern das Wiedel-gleiche sind und bestehende Hierarchien befestigen, anstatt sie in Frage zu stellen. Innova-tionen in der Kulturindustr ie dienen sämtlich nur der Verbesserung der Mas-senproduktion und dem Verkauf der Produkte. Die Pseudoindividualität der Produkte der Kulturindustrie nutzt das legitime Bedürfnis nach Individualität aus und stellt es in den Dienst von Profit interessen:

„Was an der Kulturindustrie als Fortschritt auftritt, das unablässig Neue, das sie offeriert, bleibt die Umkleidung eines Immergleichen; überall verhüllt die Abwechslung ein Skelett, an dem so wenig sich änderte wie am Profitmotiv selber, seit es über Kultur die Vorherrschaft gewann. [...] Jedes Produkt gibt sich als individuell; die Individualität selber taugt zur Verstärkung der Ideolo-gie, indem der Anschein erweckt wird, das ganz Verdinglichte und Vermittelte sei eine Zufluchtsstätte von Unmittelbarkeit und Leben."98

Neues in der Kulturindustrie ist das Gegenteil des Neuen in der Kunst. Denn wenn Kunst überhaupt eine gesellschaftliche Funktion hat, dann die, „Gleichnis eines An sich [. . . ] , des Unbeherrschten und Unverschandelten"99 , des Besonde-ren und Individuellen zu sein. In der Individualität des authentischen Kunst-werks ist die Möglichkeit der Unabhängigkeit des Individuums von gesell-schaftlich vorgegebenen Normen aufgehoben.

Für Adorno drückt sich im Kunstneuen Freiheit aus, weil authentische Kunst im Neuen die Möglichkeiten von Freiheit so weit wie möglich ausnutzt . Waren diese Mögl ichkeiten in der vorautonomen Phase nur sehr begrenzt , er-strecken sie sich mit der Autonomie des Künstlers auf die Möglichkeit subjek-tiven Ausdrucks und können erst mit der Autonomisierung der Kunst selber schließlich das ganze Werk ergreifen. Wie Originalität vertritt das Neue die In-dividualität und Unabhängigkeit von Fremdherrschaft , jedoch nicht mehr als singulären Fall, sondern als objektives Recht jeder Person. Umgekehr t läßt sich aus der Ausprägung der Neuheit auf das aktuelle Potential von Freiheit schlie-ßen. Der Grad der Neuheit mißt den Grad der Möglichkeit von Freiheit, des-halb ist die Kategorie des Neuen in der Moderne nicht nur notwendig, sondern auch unwiderstehlich: „Von der bedrohlichen Kategorie des Neuen strahlt stets wieder die Lockung von Freiheit aus, stärker als ihr Hemmendes , Nivell ieren-des, zuzeiten Steriles."100

Abhängig ist das Potential von Freiheit paradoxerweise von der gesell-schaftlichen Repression und steigt mit dieser an. Denn erst die Repression macht die Reflexion über Freiheit nötig und damit auch möglich. Die Diskre-panz zwischen der Möglichkeit von Freiheit und der realen Unfreiheit erhöht sich in der Moderne. Das kommt in der Kunst als Widerspruch zum Ausdruck:

98 ADORNO: Risum£ über Kulturindustrie. In: GS 10.1, S. 339. 99 ÄT, S. 429. 100 ÄT, S. 404.

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Sie führt die Möglichkeit von Freiheit inmitten von Repression vor. Solern sie als Ausdruck der Möglichkeit von Freiheit, der Möglichkeit eines Anderen po-sitiv ist, ist sie auch falsch: blind gegen die reale Unfreiheit.101

b) Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft im Neuen

Das Spannungsverhältnis zwischen Vergesel lschaftung und individueller Frei-heit, das mit zunehmender Totalisierung der Gesellschaft immer ausgeprägter wird, ist in der Kunst aufgehoben. Kunst trägt den Prozeß zwischen Gesell-schaft und Individuum in sich aus. Kunstwerke sind Kristall isationen dieses Prozesses. In ihnen artikuliert sich diese dialektische Beziehung jeweils aktuali-siert in ihrem Neuen. Neuheit fordert dazu auf, die Trennung zwischen Gesell-schaft und Individuum, die Antinomie zwischen individueller Freiheit und Notwendigkeit der Organisat ion zu reflektieren. Das Kunstwerk ist als Neues ein qualitativ Besonderes, ein zunächst unabhängiges Individuelles - das aller-dings durch die Konstellation von Vorgefundenem konstituiert wird. Im Kunstwerk als Ganzem, als Konstellation von Mannigfalt igem zu einer Einheit, verbirgt sich durch seine Verschiedenheit von den Konstellationen des Mannig-faltigen in der Realität die Utopie einer neuen Gesellschaft. Allerdings darf das Neue, damit es nicht von vornherein der Herrschaft (des Künstlers) unterl iegt, nicht intendiert sein. Die Intentionslosigkeit des Neuen, mit der im Verhältnis des Kunstwerks zur Gesellschaft der Verzicht auf Wirkungsmechanismen des Marktes gemeint ist, bedeutet im Produktionsprozeß Zurücknahme des Sub-jekts, Verzicht aufs „Machen" überhaupt zugunsten der Eigengesetzl ichkeit des Objekts bzw. seiner Elemente. Insofern manifestiert sich im Neuen auch die Dialektik von Subjektivität und Objektivität des Produktionsprozesses.

Neuheit in authentischer Kunst ist für Adorno vor al lem positive Erschei-nungsform der Negation von Heteronomie. Weil Kunstwerke eine krit ische Distanz zur Gesellschaft einnehmen wollen, stehen sie „unter dem Zwang, mo-dern sein zu müssen und immer Neues, dem gesellschaftl ichen Gesetz nicht Subsumiertes, in den Blick zu bringen."102 Idealerweise ist deshalb in der Mo-derne jedes Kunstwerk ein von allem Bestehenden unabhängiges und verschie-denes Besonderes, ein nach seinen eigenen Gesetzen geformtes, nur mit sich selbst gleiches Individuelles. Authentische Neuheit ist radikal, sie erfaßt das ganze Werk, nicht Teile. Neuerungen, die sich auf Teilaspekte beschränken, um zwischen der Tradit ion und dem Neuen zu vermitteln, wie in der sogenannten „gemäßigten Moderne" in der Musik, sind keine.103 Darüber darf auch nicht die mit der Emanzipation der Form von vorgegebenen Mustern einhergehende Er-

101 ÄT, S. 9 - 10 . 102TlCHY, a. a. O., S. 126. 103 Vgl. ADORNO: Das Altern der Neuen Musik. In: GS 14, S. 164; Neue Musik heute. In:

GS 18, S. 125-6 .

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Weiterung der künstlerischen Mittel, der Materialien und Verfahrungsweisen, die mit der Veränderung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse verfüg-bar werden, hinwegtäuschen.104 Fortschritt in der außerkünst ler ischen Technik bedeutet für die Kunst eine Erweiterung ihrer Möglichkeiten, die Sache für sich sprechen zu lassen, sich ihr anzumessen. Umgekehrt verlangen die Freiheit der Form und die theoretisch umfassendere Verfügbarkeit ästhetischer Mittel , die größere Wahlmögl ichkeit , auch größere Konsequenz. Weil die Werke sich nicht mehr an vorgegebenen Mustern orientieren sollen, müssen sie bis ins kleinste durchgeformt werden. Die Auswahl der Materialien und Verfahrensweisen ist, gerade weil sie nicht mehr selbstverständlich sind, dabei zwar entscheidendes Moment der künstler ischen Produktion. Das bedeutet aber nicht, daß die Ver-wendung der neuesten Mittel und Verfahrensweisen bereits Avanciertheit des Werkes garantierte.105 Authentische Neuheit bemißt sich nicht nach der Neu-heit des Materials, sondern liegt in der Konstellation aller Elemente des Kunst-werks, d. h. sie liegt in der Beziehung zwischen den Elementen, durch die sie sich wechselseit ig verändern, ebenso wie in ihnen selbst. Das heißt aber auch, daß die Material ien nichts mehr für sich bedeuten, sondern als frei Verfügbares zum Für-Anderes degradiert sind.106 „Der Zerfall der Materialien ist der Tri-umph ihres Füranderesseins."107 Deshalb sind für Adorno neue Material ien al-lein, wie die dissonanten Akkorde der atonalen Musik, nur für kurze Zeit als Neues wirksam. An ihre Stelle mußte eine andere Art von Neuheit treten, eine

104 Gleichzeitig allerdings veralten tradierte Verfahrungsweisen und Materialien, so daß der

Vorrat an verfügbaren Materialien nicht kumuliert: „Von außen her wird jene Erweiterung [der

disponiblen Materialien, SZ] sehr überschätzt; die Refus, die nicht nur der Geschmack sondern

der Materialstand selber den Künstlern abnötigt, kompensieren sie." (AT, S. 223.) 105 Ebensowenig geht Adorno davon aus, daß ausschließlich die neuesten Materialien ver-

wendet werden müßten. Älteres darf jedoch nicht unreflektiert eingesetzt werden, sondern der

Bezug auf alles Spätere muß immer mitgedacht werden und im Werk enthalten sein. Dann kön-

nen aber gerade in der Konstellation von Jüngerem und Älterem Spannungsverhältnisse reflek-

tiert werden und kann Neues entstehen. Der von Bürger geforderte (Peter BÜRGER: Das Altern

der Moderne. In: FRIEDEBURG/HABERMAS [Hg.], a. a. O., S. 177 -97 ) und von Wellmer vertei-

digte „Pluralismus der Materialien und Verfahrensweisen" (WELLMER, a. a. O., S. 5 8 - 9 ) ist kei-

neswegs eine postmoderne Erfindung, sondern in Adornos Theorie der Konstellation bereits

enthalten. 106 Den Prozeß der Funktionalisierung der Materialien sieht Adorno in der Literatur be-

reits bei Eichendorff. Bei ihm werden sprachliche Bilder zu „Requisiten". Er „erreicht die außer-

ordentlichsten Wirkungen mit einem Bilderschatz, der bereits zu seiner Zeit abgebraucht gewe-

sen sein muß", und zwar „durch die Konstellation", in die diese „Requisiten" treten. (NL, S.

80 f. [Zum Gedächtnis Eichendorffs].) - Entsprechend werden bei Beckett Gedanken „Teilma-

terialien", „dinghafter Rückstand von Bildung", sie sind ähnlich wie die Philosopheme in Tho-

mas Manns Zauberberg und Doktor Faustus „eine A r t Stoff zweiten Grades". (NL, S. 283 [Ver-

such, das Endspiel zu verstehen].) 107 ÄT, S. 31 .

170

komplexere.10* Die im Kunstwerk versammelten Elemente werden erst durch ihre Wechselwirkung, durch die sie sich auch selber verändern und die in der Konstellation festgehalten ist, zu einem Besonderen und Anderen gegenüber dem Bestehenden:

„Bewußtlos muß ein jedes Kunstwerk sich fragen, ob und wie es als Utopie möglich sei: stets nur durch die Konstellation seiner Elemente. Es transzen-diert nicht durch die bloße und abstrakte Differenz vom Einerlei sondern da-durch, daß es das Einerlei rezipiert, auseinandernimmt und wieder zusammen-setzt; was sie ästhetische Schöpfung nennen, ist solche Komposition. Uber den Wahrheitsgehalt von Kunstwerken ist danach zu urteilen: wie weit sie das Andere aus dem Immergleichen zu konfigurieren fähig sind."109

Durch Verwandlung der allgemeinen Elemente zu Besonderem wird das Kunst-werk zum Individuellen. Seine Best immung ergibt sich aus der Konstellation von Allgemeinem, d. h. bereits identif iziertem und integriertem Vorgefunde-nem.110 Kunstwerke wollen das Individuelle und brauchen das Allgemeine.111

Individualität kann deshalb — wenn überhaupt — im Neuen nur vermittelt er-scheinen. Die Konstellationsprinzipien des Kunstwerks stammen ebenfalls aus der Gesellschaft. Wenn der Zusammenhang der Elemente durch die Einheit des

108 In seiner Vorlesung zur Ästhetik im Wintersemester 1958/9 beschreibt Adorno, wie er selbst zunächst davon ausgegangen war, daß bereits die Neuheit von dissonanten Klängen in der Musik ausreichte, um ein Werk zu etwas geistig Neuem zu machen. (Vo 3646.)

109 ÄT, S. 462. - Groys hat recht damit, daß Materialien der Kunst aus der Gesellschaft, dem profanen Bereich stammen. Seine Theorie, Neuheit in der Kunst entstehe ausschließlich aus der Umwertung profaner Gegenstände zu kulturellen Werten, ist jedoch zu reduziert, denn Neues kann ebenfalls durch die Konstellation von profanen und bereits in die Kunst integrierten Materialien und Verfahrensweisen bestehen. Groys' Auffassung mag für Ready-mades und das von Groys exemplarisch angeführte Pissoir/Fountain von Duchamp tendenziell zutreffen, aber selbst dort könnte man von einer Konstellation im weiteren Sinne sprechen, nämlich eines vor-gefundenen Profanen mit z. B. Präsentationskonventionen der Kunst, bzw. man kann es verste-hen als (fast) vollständige Negation von subjektiver Gestaltung.

110 Deshalb ist das Individuelle kein vereinzeltes Ansich. Vgl. TlCHY, a. a. O., S. 96, 99 f. 111 Das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft ist zunächst ein gleichrangiges,

wie Ottmann beschreibt: „Der Bezug ist ein wechselseitiger. Ohne die logische Gleichheit könnte die Beziehung des Einzelnen auf sich nicht als die verstanden werden, die sich von allem Gleichen abhebt; ohne die individuelle Identität des jeweiligen Bewußtseins wäre das Allge-

meine nicht erfaßbar. Entscheidend aber bei dieser noch nicht ungewöhnlichen Unterscheidung

ist die ,Gleichursprünglichkeit' beider Beziehungen, welche das eigentliche Scharnier der negati-ven Dialektik ausmacht. Die traditionelle Entscheidung für eine einfache Priorität des Allgemei-nen oder einen den Wechselbezug übergreifenden Vorrang des Allgemeinen möchte die nega-

tive Dialektik gerade vermeiden. Genauso wie das Individuelle des Allgemeinen bedarf das All-gemeine des Individuellen." (OTTMANN, a. a. O., S. 119.) Allerdings kann davon ausgegangen werden, daß für Adorno das Individuelle zwar der Gesellschaft bedarf, daß es aber immer um die Interessen des Individuums gehen muß, weil das Leiden, dessen Abschaffung das Ziel sein soll, zwar ein objektives ist, aber nur vom Individuum erfahren werden kann.

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Werks erzwungen, das Einzelne der Idee untergeordnet wird, ist die Konstella-tion des Kunstwerks Abbild der Heterononiie in der totalitären Gesellschaft -und das gilt für Adorno in gewisser Weise für jedes moderne Kunstwerk, das sich darin mimetisch zur Realität verhält. Das Kunstwerk ist kein Individuelles, das antinomisch zur Gesellschaft steht, sondern reflektiert in seiner Form den Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft: „Die ungelösten Antagonis-men der Realität kehren wieder in den Kunstwerken als die immanenten Pro-bleme ihrer Form. Das, nicht der Einschuß gegenständlicher Momente , defi-niert das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft."112 Entscheidend daran ist, daß die Form der Kunst nichts Äußerl iches mehr ist, sondern selber zum Inhalt wird. Das Verhältnis von Gesellschaft und Individuum, Al lgemeinem und Be-sonderem wird in dem Verhältnis von Elementen, Materialien und Konstruk-tion der künstler ischen Form reflektiert . Darin, in den Konstellationen, f indet Neuheit statt, d. h. Andersheit . Die Einheit des Kunstwerks soll anders konsti-tuiert sein als die der Gesellschaft, nämlich nicht durch Herrschaft . Deswegen ist die Konstellation des Kunstwerks als Vereinigung von Einzelnem zu einem Ganzen für Adorno doppeldeutig. Zum einen konstituiert sich in dieser Kon-stellation das Kunstwerk als individuelle Einheit. Zum anderen ist diese Einheit als Konstellation von Einzelnem lesbar als Modell einer anderen Gesellschaft, anderer Herrschaftsverhältnisse.

Das als klassisch bezeichnete immanente Gelingen, die Auf lösung des dia-lektischen Verhältnisses zwischen dem Einen und dem Mannigfalt igen in ein harmonisches Ganzes, ist nur eine scheinbare Versöhnung, weil das Einzelne dem Ganzen mehr oder weniger gewaltsam untergeordnet wird. Was die mo-derne Kunst der Harmonie der klassischen entgegensetzen möchte, ist „die ge-waltlose Synthesis des Zerstreuten, die es doch bewahrt als das, was es ist, in seiner Divergenz und seinen Widersprüchen, und darum tatsächlich eine Ent-faltung der Wahrheit."113 Sie entspräche dem Zustand einer Gesellschaft, in der das Interesse aller Individuen mit dem Gesamtinteresse der Gesellschaft über-einstimmte. Versöhnung soll deshalb im Kunstwerk nicht durch falsche Harmonie geschehen, sondern durch Mimesis an das unter der Einheit Befaßte, das so zu seinem Recht kommt.114 Die Konstellation, die eine Mit-sich-selbst-

112 ÄT, S. 16. 113 ÄT, S. 216 . 114 Der Mechanismus des Auffindens der richtigen neuen Konstellation im Kunstwerk

muß wohl ähnlich dem von Adorno beschriebenen in der Sprache verstanden werden. Dazu schreibt er in der Negativen Dialektik. „Als Konstellation umkreist der theoretische Gedanke den Begriff, den er öffnen möchte, hoffend, daß er aufspringe etwa wie Schlösser wohlverwahr-ter Kassenschränke: nicht nur durch einen Einzelschlüssel oder eine Einzelnummer sondern eine Nummernkombination." (ND, S. 166.)

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Gleichheit de* Kunstwerk* bezeugt, soll gleichzeitig die Darstellung einer bes-seren Gesellschaft »ein.

Weil nicht nur die Materialien, sondern auch die Formprinzipien aus der Gesellschaft stammen, werden Kunstwerke zu Kaleidoskopbildern der Gesell-schaft, als die sie die bestehende Gesellschaft gleichzeitig abbilden und durch Neukonstel lat ion der Momente negieren.116 Kunstwerke fordern als Modelle für eine andere Gesellschaft zur Veränderung gesellschaftl icher Verhältnisse auf, sie sind damit „bewußtlose Schemata"117 der Veränderung der empirischen Welt.

Eine in der Adorno-Rezept ion kontrovers diskutierte Frage ist, ob und in-wieweit in den Kunstwerken, die gleichzeitig Abbild und Vorbild gesellschaftl i-cher Praxis sind, Versöhnung zwischen Individuum und Gesel lschaft positiv enthalten ist. Während man sich weitgehend darüber einig ist, daß Herrschafts-losigkeit118 und Versöhnung von Einzelnem und Al lgemeinem von den Kunst-werken zwar intendiert ist, in ihnen jedoch nicht ohne weiteres stattf inden kann, wird auf der einen Seite das völlige Scheitern des Kunstwerks, seine Un-stimmigkeit als Herrschaft Wiederholendes betont119 , auf der anderen Seite auf eine, wenn auch scheinhafte, d. h. in der Kunst und nicht in der Realität statt-findende,120 Herstel lung von Versöhnung von Al lgemeinem und Besonderem121

bzw. auf eine partielle Versöhnung im Kunstwerk1 2 2 verwiesen.

Das Problem an der künstlerischen Darstel lung der Mögl ichkeiten der Utopie einer gewaltlosen Vermitt lung der Elemente ist, daß Kunstwerke ohne

115 Wellmer geht davon aus, „daß neue Formen der ästhetischen Synthesis in der moder-

nen Kunst auf neue Formen der psychischen und der sozialen .Synthesis' verweisen." (WELL-

MER, a. a. O., S. 28.) 116 Darin besteht der entscheidende Unterschied zur Lukäcsschen Widerspiegelungstheo-

rie. Mimesis an die Realität ist bei Lukäcs rein inhaltlich, bei Adorno ist es inhaltliche und for-

male Mimesis. Vgl. dazu LINDNER: Ii faut etre absolument moderne. - Dieter KLICHE: Kunst

gegen Verdinglichung. Berührungspunkte im Gegensatz von Adorno und Lukäcs. In: LIND-

NER/LÜDKE (Hg.), a. a. O., S. 2 1 9 - 6 0 . 117 ÄT, S. 264. 118 Das Kunstwerk ist „seiner Intention nach Sein ohne Herrschaft". (KAISER: Theodor W.

Adornos Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 109.) " ' Z . B . von KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, a . a . O . , S. 116 . -

BAUMEISTER/ KULENKAMPFF, a. a. O., S. 102. - Wolfgang WELSCH: Adornos Ästhetik: eine

implizite Ästhetik des Erhabenen. In: Christine PRIES (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenz-

erfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 192 ff. 120 Sofern die Scheinhaftigkeit der Versöhnung so verstanden wird, daß die Versöhnung

nur oberflächlich ist, während in Wahrheit die Elemente unversöhnt bleiben, konvergiert diese

Auffassung mit der von der Unstimmigkeit bzw. Unversöhntheit des Kunstwerks. Das betrifft

z. B. BOLZ: Erlösung als ob, a. a. O., S. 280. 121 So Allkemper: „Die Einheit des Kunstwerks, seine Identität mit sich selbst, gelingt nur

mittels ihrer Ablösung von der Wirklichkeit; sie zahlt den Preis ihrer Unwirklichkeit."

(ALLKEMPER, a. a. O., S. 130, vgl. auch S. 176.) 122 Z. B. TlCHY, a. a. O., S. 124.

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Einheit, die immer etwas Gewaltsames hat, nicht auskommen. Moderne Kunst kritisiert Herrschaft , ohne auf sie verzichten zu können. Das Verhältnis zwi-schen den Elementen des Kunstwerks ist durch Herrschaft best immt. Welsch geht deswegen davon aus, daß Adorno, nachdem er die Unmögl ichkei t der Ver-söhnung von Al lgemeinem und Besonderem im Kunstwerk festgestel lt hatte, die Idee der Versöhnung durch die Idee der Gerechtigkeit „als Anerkennung unaufhebbarer Heterogenität" ersetzte: „Versöhnung war ein unhaltbares, ein falsches Ideal. Es mußte in die Idee der Gerechtigkeit gegenüber Heterogenem umgebrochen werden."123 Diese Auffassung wird Adornos Theorie jedoch zum einen deshalb nicht gerecht, weil sie zu resignativ und aff irmativ ist, zum zwei-ten — und das ist viel wichtiger —, weil sie von einem zu statischen Begriff des Kunstwerks ausgeht. Adorno hat das Problem der immer gewollten und nie er-reichten Versöhnung - neben anderen Unst immigkei ten — nämlich als konst i tu-tiv für die Dynamik des Kunstwerks ebenso wie der Kunstgeschichte angese-hen. Diese gerade aus der Unversöhntheit result ierende Dynamik wird — bezo-gen auf das im Kunstwerk reflektierte Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft — repräsentiert durch die Neuheit der Konstellation. Sie besteht darin, daß eine Konstellation zum ersten Mal auftritt , qualitativ neu ist, ihr Al-tern und Zum-Immergle ichen-Werden bereits enthält und somit nur augen-blickhaft erscheint.

Was nur momenthaft1 2 4 positiv gezeigt wird, ist, daß anderes, Besseres möglich ist, daß sich aber kein anderer Zustand fixieren läßt, daß die f ixierte Einheit als statische falsch ist. Für Adorno ist deshalb weniger Herrschaft an sich, sondern als f ixiertes Verhältnis zwischen Einzelnem und Al lgemeinem problematisch. Wie es kein Kunstwerk ohne Einheit gibt, kann das Individuum ohne die Gesellschaft ebensowenig existieren wie ohne Naturbeherrschung. Problematisch wird Gesellschaft erst durch ihre Verselbständigung:

„Organisierte Gesellschaft, aus der später der Staat sich bildete, war notwen-dig, um der Menschheit das Uberleben gegen die Naturmächte, die äußeren sowohl wie die des Triebes, zu ermöglichen. [...] Stets war es für das Indivi-duum ungewiß, ob es als Einzelwesen durch seine Unterordnung unter die ge-sellschaftliche Organisation mehr zu gewinnen oder mehr zu verlieren hatte. [...] Aber der Individualismus beherrschte doch die ganze liberale Staatstheo-rie. Sie entspringt dem Bewußtsein der Notwendigkeit eines Ausgleichs zwi-schen den einander widerstreitenden Kräften von Staat und Individuen. [...]

123 WELSCH: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen, a. a. O., S. 197. 124 Die „zwanglose Synthesis" ist laut Baumeister und Kulenkampff ein für die Kunst

„prinzipiell unlösbares Problem". Deshalb kann man Adorno so verstehen, „daß diese Einheit

kein unmittelbares Vorhandenes ist und nicht den Zeitcharakter ständiger Präsenz besitzt, son-

dern sich nur in augenblicklicher Evidenz vollzieht. [...] Als Momentane ist sie gerade immer

schon vergangen oder im Begriffe einzutreten." (BAUMEISTER/KULENKAMPFF, a. a. O.,

S. 90 - 1 . )

174

das Problem (leu Veilitltnumea von Individuum und Staat existiert, seitdem sich die Organisation der Menschen als ein relativ Selbständiges ihrem unmit-telbaren Mitainanderleben entgegengesetzt hat."123

Die Utopie Adornos ist - und das entspräche dem wirkl ich von unten geform-ten Kunstwerk - , daß man die Natur nicht zu beherrschen bräuchte, daß Natur sich von selber, ohne daß man sie manipulierte, so verhielte, wie es den Men-schen entspräche. Während diese Utopie Utopie bleiben muß126 und auch vom Kunstwerk nicht positiv dargestellt werden kann, ist die Gesellschaft als von Menschen gemachte auch von Menschen veränderbar. Die Abwesenheit von Herrschaft ist utopisch, weil man sie braucht, weil die Natur feindlich ist}27

Naturbeherrschung als solche ist deswegen auch nicht richtig oder falsch. Es kommt darauf an, sie richtig einzusetzen. Falsch ist es aber, die Mechanismen der Naturbeherrschung auf die gesellschaftliche Organisat ion zu übertragen und damit die Menschen dieser wie einer zweiten Natur zu unterwerfen.1 2 8

125 ADORNO: Individuum und Staat. In: GS 20.1 , S. 287 -8 . 126 Daraus schließt Theunissen: „Die Negative Dialektik nimmt Utopie in Eschatologie zu-

rück, und zwar in eine platonisierte, die das Eschaton nicht mehr von der Geschichte erwartet, sondern als Inbegriff der .letzten Dinge' auffaßt. Der Anspruch einer rein säkularen Utopie zer-geht vor der Einsicht, daß keine innerweltliche Besserung ,ans Unrecht des Todes rührte'." (THEUNISSEN, a. a. O . , S. 59.) Man muß wohl eher davon ausgehen, daß Adorno hier eine Trennung vornimmt zwischen „möglicher" und „unmöglicher" Utopie, d. h. Veränderung des-sen, was vom Menschen selber gemacht ist, nämlich der Gesellschaft, und dessen, was er nicht verändern kann, nämlich der Natur einschließlich seiner eigenen. Deshalb ist auch Bürgers Dia-gnose zu undifferenziert: „Die Kunst ist das ganz andere, dessen Verwirklichung unmöglich ist. Adäquate Kunstrezeption ist die für das Individuum zerstörerische Einsicht, daß das andere, die humane Organisation des Daseins, denkbar und zugleich unrealisierbar ist." (Peter BÜRGER: Probleme der Rezeptionsforschung. In: Poetica 9 [1977], S. 455.)

127 „Ohne identifizierendes Denken gibt es überhaupt keine Freiheit, noch nicht einmal [...] ein der Freiheit Ähnliches." (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 293.) Das gilt auch für Herrschaft: Ohne Herrschaft kann es keine Freiheit geben. Wie Rationalität als „Herr-schaftsinstrument" gleichzeitig die einzige Möglichkeit des „Einspruchfs] gegen Herrschaft" ist, so ist Freiheit nur möglich durch „Beherrschung des Beherrschenden", also Naturbeherrschung. (KOEPSEL, a. a. O., S. 281.) Freiheit, wie Kaiser sie versteht - als „Verzicht auf den Herrschafts-bann über Natur wie Lösung vom Bann der Natur, vom archaischen Mythos, als der Gesell-schaft sich darbietet, vom Druck der naturhaften Bedürfnisse, die naturhafte Verhaltensweisen auslösen"—, muß uneinlösbare Utopie bleiben, denn eine Lösung von naturhaften Bedürfnissen ist für den Menschen, der auch Natur ist, nicht realisierbar. (KAISER: Theodor W . Adornos Äs-thetische Theorie, a. a. O., S. 98.)

128 Deshalb versteht Adorno Brunkhorst zufolge „Autonomie als eine intellektuelle Anstrengung, unter selbst gegebenen Gesetzen die Gewalt solch selbstgegebener Gesetze abzu-schaffen." (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 26.) - Für Welsch liegt in der un-aufhebbaren Spannung zwischen Herrschaft und Negation von Herrschaft bzw. in der Antino-mie von Einheit und Einzelheit das Erhabene des Kunstwerks - das er dann allerdings in der an-geblich von Adorno vorgebrachten Idee der Gerechtigkeit aufgehoben sehen will, anstatt die aus den Spannungsverhältnissen resultierende und Adorno zufolge weiterhin auf das Telos der Ver-

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Kunst ist (.las brüchige Abbild der lulschen Ausrichtung, der Unversöhiuheii der Gesellschaft:

„Wahr ist Kunst, soweit das aus ihr Redende und sie selber zwiespältig, unver-söhnt ist, aber diese Wahrheit wird ihr zuteil, wenn sie das Gespaltene synthe-tisiert und dadurch erst in seiner Unversöhnlichkeit bestimmt. Paradox hat sie das Unversöhnte zu bezeugen und gleichwohl tendenziell zu versöhnen; mög-lich ist das nur ihrer nicht-diskursiven Sprache. In jenem Prozeß allein kon-kretisiert sich ihr Wir. Was aber aus ihr redet, ist wahrhaft ihr Subjekt inso-fern, als es aus ihr redet und nicht von ihr dargestellt wird."129

Durch diese Paradoxie ist Kunst aufklärerisch, ist nicht nur Statthalterin des Individuums, sondern weist auch auf seine notwendige Abhängigkeit von Ge-sellschaft und Naturbeherrschung hin.

Das Problem der Herrschaft stellt sich auch in der Produktion von Kunst. Die Frage ist, wie in einer Situation, in der der Kunst zum einen keine Sprache mehr vorgegeben ist,130 zum anderen Kunst nicht mehr subjektiver Ausdruck des Künstlers sein soll, Kunstwerke individuell und dennoch verbindlich, d. h. objektiv organisiert werden können, ohne daß dabei das Objektive, Allgemeine über das Besondere und Individuelle die Herrschaft übernähme. Die Antino-mie des Nominalismus in der Kunst ist das Paradox der befreiten Form. Das wirklich Individuelle und Verschiedene müßte sich selber aus sich heraus for-men, während Kunst Artefakt, Gemachtes und damit von außen her Geformtes bleibt. Für Adorno „war die Geschichte der gesamten bürgerlichen Kunst hin-durch nichts möglich als die Anstrengung, die Antinomie des Nominalismus wenn nicht aufzulösen, so ihrerseits zu gestalten, Form aus deren Negation zu gewinnen."131 Während Baudelaire noch an tradierten Formen festhielt und durch die „Formapriorität"132 der nominalistischen Aporie der Unvereinbarkeit von Gemachtheit und Sich-der-Sache-Überlassen entging, forderte Rimbaud

söhnung zielende Dynamik weiterzudenken. (WELSCH: Adornos Ästhetik: eine implizite Äs-thetik des Erhabenen, a. a. O., S. 193 ff.)

129 ÄT, S. 2 5 1 - 2 130 So Ende der sechziger Jahre in der Musik: „Das große Erbe der alten, klassischen und

romantischen Musik ist aufgezehrt, die Tonsprache nicht nur in ihre Elemente zerfallen, son-dern buchstäblich atomisiert, und zwar so gründlich, daß von Tonsprache eigentlich gar nicht mehr gesprochen werden kann. Nichts ist mehr vorgegeben, kein Formschema, keine Satztech-nik, ja selbst allgemeine Vorstellungen und Begriffe, wie Motiv, Thema, Entwicklung, Steige-rung, Durchführung, Höhepunkt usf. sind der Sache in keiner Weise mehr angemessen. Wie aber sollen Töne und Geräusche, also Schallereignisse jeder Art , angeordnet werden, damit ein Hörer den Eindruck sinnvoller Komposition erhält? [...] Die Komponisten stehen heute buch-stäblich mit leeren Händen da. Es gibt nichts, woran sich anknüpfen ließe, ohne sogleich wieder dem Traditionalismus zum Opfer zu fallen." (Rudolf STEPHAN: Das Neue der Neuen Musik. In: REINECKE [Hg.]: a. a. O., S. 52-3 . )

131 ÄT, S. 330. 132 ÄT, S. 333.

176

ilie konsequente Durchsetzung des Modcrnitäisprin/.ips auch lür die Form. Die Suchc nach neuen Losungen in der Kunst bewegt sich seitdem zwischen den beiden Extremen des reinen, ungeformten Ausdrucks, des ganz Unwillkür-lichen mit der Gefahr des Zufälligen und Beliebigen auf der einen Seite und der reinen Konstruktion als subjektiv Gesetztem und damit ebenso Zufälligem auf der anderen Seite.

Authentische Kunst müßte für Adorno ebenso individuell wie verbindlich und ebenso geformt wie unwillkürlich sein. Die Antinomie zwischen Kunst als Artefakt und An-sich ist in dem Konflikt zwischen Intention und Intentionslo-sem enthalten. Kunst, die ein Anderes und Neues gegenüber der totalitären Gesellschaft sein will, ein Gewaltloses, darf nicht intendiert sein, weil Intention ihrem Begriff nach Herrschaft, Instrumentalisierung, Für-anderes und damit Immergleichheit bedeutet. Das Neue muß, wie Brunkhorst richtig feststellt, zunächst ganz abstrakt bleiben und kann allein als „Potential neuer Möglichkei-ten" bestimmt werden: „Keine Deduktion kann es ableiten, keine induktive Generalisierung kann etwas strukturell Neues erschließen. Dazu eben bedarf es der Negation und des Widerspruchs. Im Widerspruch macht sich die Vernunft des Neuen zunächst abstrakt, reflexiv und negativ geltend."133 Das Neue ist also gewollt und doch nicht gewollt. Der Künstler ist der Situation ausgesetzt, der Forderung nach Neuheit wegen ihres sachlichen Zwangs zustimmen und auf der anderen Seite diese Forderung ignorieren zu müssen, weil das Neue nicht positiv intendiert und hergestellt werden kann:

„Das abstrakt Neue vermag zu stagnieren, in Immergleichheit umzuschlagen. Fetischisierung drückt die Paradoxie aller Kunst aus, die nicht mehr sich selbstverständlich ist: daß ein Gemachtes um seiner selbst willen sein soll; und gerade jene Paradoxie ist der Lebensnerv neuer Kunst. Das Neue ist, aus Not , ein Gewolltes, als das Andere aber wäre es das nicht Gewollte. Velleität kettet es ans Immergleiche".134

133 BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 33. 134 ÄT, S. 41. - Deshalb kann zwischen dem von Groys konstatierten „außerideologischen

Innovationszwang" und den Innovationen selbst keineswegs der unmittelbare Zusammenhang bestehen, den Groys unterstellt: „Das Neue in der Moderne ist nicht mehr das Resultat einer passiven, unfreiwilligen Abhängigkeit vom Zeitwandel, sondern Produkt einer bestimmten For-derung und einer bewußten Strategie, die die Kultur der Neuzeit beherrschen." (GROYS, a. a. O., S. 10.) Zwar geht Groys davon aus, daß das Neue durch Negation des Alten entsteht, jedoch sieht er auch darin einen Zwang, der bei Adorno in dieser Form höchstens für das Neue in der Kulturindustrie gilt: „Die Schaffung des Neuen ist somit auch nicht Ausdruck der menschlichen Freiheit, wie es of t geglaubt wird. Mit dem Alten zu brechen ist keine freie Ent-scheidung, die die Autonomie des Menschen zur Voraussetzung hat, sie zum Ausdruck bringt oder sie sozial sichert, sondern lediglich die Anpassung an die Regeln, die das Funktionieren un-serer Kultur bestimmen." (Ebd., S. 10 -1 . ) Abgesehen davon, daß das Neue für Adorno nicht gegen das Alte, sondern gegen das Immergleiche und damit auch „die Regeln, die das Funktio-nieren unserer Kultur bestimmen", gerichtet ist, schließt für ihn - wie später zu zeigen sein wird

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Die Paradoxic besteht darin, daß das Erscheinen des Intentionslosen einer An-bahnung durch intentionale Gestaltung bedarf. Adorno löst das Problem, in-dem Kunst nicht Neues intendiert, sondern Bestehendes und Vergangenes ne-giert. Insofern hat Scheible recht, wenn er davon ausgeht, „daß .Idiosynkrasie ' bei Adorno an die Stelle des Begriffs der .Intuit ion' getreten ist".135 Es kommt für Adorno nicht darauf an, etwas Neues zu machen-, sondern nur in einem Kunstwerk, das authentisch ist, d. h. der Sache angemessen, von unten her und nicht nach vorgegebenen Mustern geformt, kann von selber etwas Neues her-vortreten. Intendiert kann Neuheit nur negativ sein: durch Ausschluß des Al-ten und Immergleichen:

„Das Neue steht gegen die Heteronomie des je schon Dagewesenen, gegen den Zwang der Wiederholung des Immergleichen. Und insoweit diese ausge-schlossen werden, findet eine geschichtliche Vermittlung statt, durch welche die Kunstwerke zu sich selbst kommen, das heißt zu ihrer reinen, durchge-formten, nicht durch vorgegebene Kategorien geprägte Gestalt kommen."136

Als Anweisung dazu läßt sich Baudelaires Parole des Neuen in Le voyage ver-stehen, denn darin heißt es: „trouver du nouveau", nicht „chercher du nou-veau". Es ist gewollt, aber nicht gesucht oder gar konstruiert , sondern es er-schließt sich erst im nachhinein, wenn man die Reise ins Ungewisse schon ge-wagt hat: „Das Neue erscheint also hier als eine Parole, und zwar als die Parole, der zuzustreben ist, es ist sozusagen die verschlossne Order , die dem Schiff beigegeben ist, das da lossegelt, und erst auf offener See geöffnet werden darf."137 Geg en die Subjektivierung der Kunst als Folge der Autonomie des Künstlers kommt damit in der Moderne eine neue Form von Allgemeinheit zum Zuge, die Adorno mit dem Begriff Authentizität belegt, der die an der Sa-che orientierte Objektivität der Kunst gegen die Zufäl l igkeit des subjektiven Ausdrucks hervorheben soll.138 Neuheit kann im Gegensatz zur Originalität nur durch Überlassen des Subjekts an die Sache entstehen. Für Valery ist der Künstler deshalb „Bergmann ohne Licht"139, Adorno sieht im immanenten Pro-zeß der Kunst „etwas Rutengängerisches. Dem folgen, wohin es die Hand zieht, ist Mimesis als Vollstreckung der Objektivität [. . .] . Mit verbundenen Augen muß ästhetische Rationalität sich in die Gestaltung hineinstürzen, an-

- die Freiheit, Neues hervorzubringen, die Freiheit, Vergangenes (welches nicht gleichbedeu-tend mit dem Immergleichen ist) zu lieben, ein.

135 SCHEIBLE: Die Kunst im Garten Gethsemane, a. a. O., S. 355. 136 V Ä , S. 78. 137 V Ä , S. 51 . 138 Vgl. NL, S. 231 (Wörter aus der Fremde): Authentizität „soll der Charakter von Wer-

ken sein, der ihnen ein objektiv Verpflichtendes, über die Zufälligkeit des bloß subjektiven

Ausdrucks Hinausreichendes, zugleich auch gesellschaftlich Verbürgtes verleiht." 135 NL, S. 188 (Val£iys Abweichungen).

179 133

statt sie von außen, als Krllexion über das Kunstwerk, zu steuern."140 Muster für wil lkürl iches Unwil lkürl iches, aus dem intentionsloses Neues resultiert, ist das Experiment:

„Wo dem Drang kein an Formen und Gehalt Sicheres vorgegeben ist, werden die produktiven Künstler objektiv zum Experiment gedrängt. [...] Der experi-mentelle Gestus, Name für künstlerische Verhaltensweisen, denen das Neue das Verbindliche ist, [...] bezeichnet [...] vielfach mit dem Ubergang des äs-thetischen Interesses von der sich mitteilenden Subjektivität an die Stimrmg-keit des Objekts, ein qualitativ Anderes [als zuvor, SZ]: daß das künstlerische Subjekt Methoden praktiziert, deren sachliches Ergebnis es nicht absehen kann."141

Man weiß vorher nicht, ob daraus wirklich ein Neues hervorgeht, und ebenso-wenig, wie das Neue dann aussehen wird.142 Die eigentliche Unsicherheit be-steht aber darin, daß der Künstler den Prozeß des Kunstwerks nicht mehr in der Hand hat.143 Die Zeit des Genies als des schöpferischen Helden ist in dem Moment passe, in dem das Werk nicht mehr subjektiver Ausdruck, sondern Bild gesellschaftl icher und geschichtlicher Konstellationen wird:

„Der wahre Grund des Risikos aller Kunstwerke aber ist nicht deren kontin-gente Schicht, sondern daß ein jedes dem Irrlicht der ihm immanenten Objek-tivität folgen muß, ohne Garantie, daß die Produktivkräfte, der Geist des Künstlers und seine Verfahrungsweisen, jener Objektivität gewachsen wären. Bestünde eine solche Garantie, so sperrte sie eben das Neue aus, das seiner-seits zur Objektivität und Stimmigkeit der Werke hinzuzählt. Was an der

140 ÄT, S. 175. Das erfordert vom Künstler Spontaneität als Fähigkeit der unintendierten

Hervorbringung: „.Spontaneität' heißt einerseits, und zunächst, die Fähigkeit zum Tun, Her-

vorbringen, Erzeugen; andererseits aber, daß diese Fähigkeit unwillkürlich, nicht mit dem be-

wußten Willen des je Einzelnen identisch sei." (NL, S. 230 [Wörter aus der Fremde].) 141 ÄT, S. 42 -3 . 142 So heißt es auch in Baudelaires Le Voyage „Nous voulons [...] / Plonger au fond du

gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe?" (BAUDELAIRE, a. a. O., Bd. 3, S. 338.) 143 Durch sein Überlassen ans Objekt macht sich das Subjekt selber zum Objekt. Sofern es

auf Beherrschung verzichtet, läuft es Gefahr, selber zum Beherrschten zu werden: „Die Anglei-

chung an das jeweilige Objekt wird damit bezahlt, daß das Subjekt selber Objekt wird".

(FRÜCHTL, a. a. O., S. 34.) Deshalb bedürfte Brunkhorsts Verständnis des Experiments bei

Adorno der Differenzierung. Er interpretiert in seiner wohl zu unkritischen Übertragung von

Kunstphänomenen auf die Wirklichkeit das Experiment der Kunst als Modell für Adornos „ex-

perimentelles Freiheitsverständnis": „Das Subjekt findet gerade darin seine Freiheit, daß es sich

in Gefahr begibt, sich dem Drang der eigenen Impulse ebenso überläßt wie einer Mannigfaltig-

keit prinzipiell unkontrollierbarer Situationen aussetzt. Modell eines solchen experimentellen

Freiheitsverständnisses sind ohne Zweifel die Aktionen und Antikunstwerke der Avantgarde

und Postavantgarde. Moderne ist experimentelle Freiheit". (Hauke BRUNKHORST: Kritik statt

Theorie. Adornos experimentelles Freiheitsverständnis. In: Gerhard SCHWEPPENHÄUSER und

Mirko WLSCHKE [Hg.]: Impuls und Negativität. Ethik und Ästhetik bei Adorno. Argument-

Sonderband. Hamburg/Berlin 1995, S. 122-3 .)

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Kunst ohne idealistischen Muff Ernst lioilicn kann, ist das Pathos der Objek-tivität, die dem kontingenten Individuum vor Augen stellt, was mehr und an-ders ist als es in seiner geschichtlich notwendigen Unzulänglichkeit . Das Ri-siko der Kunstwerke hat daran teil, Bild des Todes in ihrem Bereich."144

Die Utopie des von unten her sich selbst konstruierenden Kunstwerks ist aller-dings ebenso falsch wie die des reinen subjektiven Ausdrucks : „Das vollends objektivierte Kunstwerk fröre ein zum bloßen Ding, das seiner Objektivat ion sich entziehende regredierte auf die ohnmächtige subjektive Regung und ver-sänke in der empirischen Welt."145 Ebenso wie der Kunst als angeblich reinem Ausdruck des Subjekts der Rückfall ins Mythische droht,146 nähert sich die Ob-jektbezogenheit der reinen Dinghaft igkeit an. „Nicht ist generell darüber zu ur-teilen, ob einer, der mit al lem Ausdruck tabula rasa macht, Lautsprecher ver-dinglichten Bewußtseins ist oder der sprachlose, ausdruckslose Ausdruck , der jenes denunziert."147

Die Alternative von subjektivem Ausdruck oder vollendeter Objektbezo-genheit ist für Adorno falsch, weil die Entgegensetzung von Objekt und Sub-jekt bereits falsch ist.148 Sie sind für ihn weder strikt voneinander getrennt noch konvergieren sie wie bei Hegel im Geist, sondern stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander. Das Objekt wird durch Subjekte als Al lgemeingült iges konstituiert , existiert jedoch nicht ohne individuelle Erfahrung. Umgekehr t ist das empirische Subjekt nicht nur „als das Jetzt und Hier Hervorbringende ein zeitlich Besonderes"149 , sondern zugleich ein Allgemeines: „durch den eigenen Vernunftcharakter , der auf die Logizität der Kunstwerke sich überträgt"150 .

Bedingung für die Produktion des Neuen als intendierten Intentionslosen in der Kunst ist, daß die falsche Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben wird und beide in ein neues Verhältnis treten, das einen veränderten Begriff von Subjektivität wie Objektivität einschließt. Der Künstler ist als empirisches Subjekt gleichzeitig individuell Erfahrender und Teil der Gesellschaft, von der

144 ÄT, S. 64 f. 145 ÄT, S. 262. 146 Diesen Mechanismus des Rückschlags der autarken, reinen Subjektivität in blinde

Naturverfallenheit hat Adorno zufolge Kafka nachgezeichnet: „Was Kafkas Glaskugel umfängt, ist einstimmiger und darum gräßlicher noch als das System draußen, weil im absolut subjektiven Raum und in absolut subjektiver Zeit nichts Platz hat, was deren eigenes Prinzip stören könnte, das der unabdingbaren Entfremdung. [...] Der widerstandslos in sich kreisenden Innerlichkeit wird versagt und zum Rätsel, was immer der schlecht unendlichen Bewegung Einhalt geböte." (ADORNO: Aufzeichnungen zu Kafka. In: GS 10.1, S. 275.)

147 ÄT, S. 179. 148 Vgl. dazu GRIPP, a. a. O., S. 72-84. - GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 74 ff.

- Ute GUZZONI: Denken jenseits des Subjekt-Objekt-Verhältnisses. In: Hartmut SCHRÖTER (Hg.): Technik und Kunst. Heidegger - Adorno. Münster 1988, S. 54-62.

149 ÄT, S. 288. 150 Ebd.

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er umgekehrt geprägt ml, und hat durch seine Rationalität Teil am allgemeinen Subjekt. '51 Allgemeingült igkeit entsteht in der Kunst aber nicht allein durch diesen Vernunftchnrakler , sondern auch durch das subjektive Verfahren des Sich-ans-Objckt-Überlassens; individuelle Erfahrung, subjektiver Ausdruck und Konstruktion stellen Allgemeingült igkeit her.152 In der Kunst ist möglich, was der begriff l ichen Erkenntnis nicht gelingt: „daß durch subjektive Leistung ein Objektives sich enthüllt."153 Wie für Adorno dem „in seinen Qual i täten, in seiner Einmaligkeit und Einzigkeit erfahrenen Objekt [. . .] das allein zu solcher Erfahrung fähige .qualitative Subjekt'"154 entsprechen kann, d. h. wie es nur vom empirischen Subjekt erfahren werden kann, ist umgekehrt die Hervorbrin-gung eines individuellen Kunstwerks auf die Erfahrung eines Individuums an-gewiesen. Das gilt nicht nur für das originelle, sondern auch für das objektiv neue Kunstwerk. Nur durch die Erfahrung des einzelnen hindurch kann All-gemeingült igkeit hergestellt werden. Die Objektivität des Neuen besteht dabei in beidem: in der vom einzelnen geleisteten Überlassung an das Objekt und in der Veral lgemeinerung dieser Erfahrung durch Ausdruck und Konstrukt ion im Werk. Der schöpferische Anteil des Künstlers ist für Adorno zwar „ein Mini-males", aber für das Kunstwerk unabdingbar, „um sich zu kristallisieren"155 . Damit wird das empirische Subjekt, das durch Herrschaft des Allgemeinen zum Objekt geworden war, rehabilitiert. Deswegen ist das Kunstwerk Aus-druck von Freiheit, die notwendigerweise ein gewisses Maß an Herrschaft durch das empirische Subjekt einschließt.156 So ist auch das Experiment zwar ein Versuch, den Gesetzen des Objekts zu folgen; gleichzeitig kommt es aber darauf an, die Kontrolle darüber zu behalten: „Beim Experiment ist das Mo-ment des Ichfremden ebenso zu achten wie subjektiv zu beherrschen: Erst als Beherrschtes zeugt es fürs Befreite."157 Der subjektive Anteil , die durchs Sub-jekt ausgeübte Herrschaft , ist dabei einerseits negativ: Subjektivität heißt in der Moderne nicht Inspiration, Intuition oder subjektiver Ausdruck, sondern

151 Zu Adornos Kritik am Transzendentalsubjekt vgl. TlCHY, a. a. O., S. 53 -61 . 152 Für Schweppenhäuser ist entsprechend eine der wichtigsten Erkenntnisse der Adorno-

schen Ästhetik, „daß die beiden zentralen Kategorien der Kunst - Ausdruck und Bild-, also ein Naturhaft-Subjektives, Lebendiges, und ein Dinglich-Objektives, Stillgestelltes und Fixiertes-, sosehr sie X°P l ° s'nd und generisch verschieden scheinen, zuinnerst miteinander vermittelt sind; sie sind in gewisser Weise Funktionen, Ausdrücke voneinander." (Hermann SCHWEPPEN-HÄUSER: Aspekte eines aufgeklärten Kunstbegriffs. In: Frankfurter Adorno-Blätter II. Hg. vom Theodor W. Adorno Archiv. München 1993, S. 125.)

153 ÄT, S. 173. 154 GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 67. 155 ÄT, S. 250. 156 In dieser Freiheit tritt die „ursprünglich emanzipative Funktion" der Vernunft gegen-

über der Natur zutage. (Vgl. SCHWARZ: Entfesselung der Produktivkräfte und ästhetische Uto-pie, a. a. O., S. 455-6.)

157 ÄT, S. 64.

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tUgoilt, Ablehnung des Dagewesenen wie des Immergleichen, d. h. des Ge-machten. Andererseits ist das Kunstwerk doch ein Gemachtes, denn es stellt sich nicht von selber her. Auch wenn es nicht mehr vorgegebenen Formen un-terworfen wird, bedarf es doch des Subjekts, das die Prozesse vollzieht, die sich aus der Eigenart des in allen seinen Elementen gesellschaftl ich präformierten ästhetischen Gegenstands ergeben, die von ihm gefordert werden:

„Der Künstler vollbringt den minimalen Ubergang, nicht die maximale creatio ex nihilo. Das Differential des Neuen ist der Ort von Produktivität. Durch das unendlich Kleine des Entscheidenden erweist der Einzelkünstler sich als Exe-kutor einer kollektiven Objektivität des Geistes, der gegenüber sein Anteil verschwindet [...] Ihr [der Kunstwerke, SZ] Verlangen, so und nicht anders zu sein, arbeitet dem Charakter des Artefakts entgegen".158

Neues als noch nicht Dagewesenes und Unintendiertes erscheint zwischen Ne-gation, Konstruktion und Überlassen an die Sache. Es ist das, was nicht ge-

.macht ist, jedoch Machen voraussetzt. Es erscheint als nicht Intendiertes im Gemachten, als das noch nicht Dagewesene in der neuen Konstellation. Vor-aussetzung für die Hervorbringung von Neuem ist, daß das Verhältnis von Subjekt und Objekt in Bewegung gebracht und die str ikte Trennung zwischen beidem aufgehoben wird. Deswegen tritt im Neuen die Wechse lwirkung zwi-schen Subjekt und Objekt hervor. Das Neue ist jeweils eine neue Konstellation von Subjekt und Objekt , Subjektivem und Objektivem.

Die Freiheit des Künstlers wird im Neuen zur objektiven Demonstrat ion der Möglichkeit von Freiheit und Individualität. Die Objektivität der Möglich-keit von Freiheit f indet ihren individuellen Ausdruck in der Realisierung einer neuen Konstellation von Vorgefundenem. Das schließt jedoch Herrschaft ein. Indem das Kunstwerk als Ganzes zu einer feststehenden Einheit geformt wird, wird es, das doch Stellvertreter des befreiten Individuums sein soll, zum Ob-jekt gemacht. Kunst will positive Erscheinungsform von individueller Freiheit sein, sie will nach Adorno auf das Individuelle hinaus, das der totalen Gesell-schaft entrückt ist. Sie versucht, das noch nicht Zugerichtete in seiner eigenen Sprache sprechen zu lassen. Indem aber Individuelles im Kunstwerk als abge-schlossener Einheit ästhetisch realisiert wird, unternimmt Kunst den ersten Schritt zu seiner Beherrschung. Kunst versucht, das Individuelle im Neuen zu fixieren, als etwas, das sich der Beherrschung und Vereinnahmung durch die Gesellschaft verweigert , jedoch erscheint es gerade damit als potenziel l be-herrschbar. Die Individualität des Kunstwerks als Einheit demonstriert die Un-freiheit des verdinglichten Individuums. Neu wird das noch nicht Beherrschte und Verdinglichte genannt, deswegen kommt die Kunst im Neuen der Herr -schaft entgegen. Kunst bringt im Neuen das noch nicht Beherrschte in eine Form, die es der Gesellschaft ermöglicht, sich mit ihm - als Kunstwerk - aus-

158 ÄT, S. 402 -3 . - Vgl. auch NL, S. 122 und 126 (Der Artist als Statthalter).

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einanderzuset/.cn, es /u bewerten, zu vereinnahmen, abzulehnen oder zur ge-sellschaftlich irrelevanten Ausnahme zu erklären.15 ' Das Beherrschen des Indi-viduellen geschieht in seiner Fixierung in der Konstellation von Vorgefunde-nem. Wohlfart hat diesen Vorgang der Vergegenständl ichung treffend be-schrieben: „Das ästhetisch Bedeutende ist [...] gegenstandslos. [. . .] Die ästheti-sche Anschauung ist die Anschauung eines Gegenstandes im Augenbl ick seines zum Gegenstand-Werdens."1 6 0 Damit dient die Kunst, gerade weil sie selber nicht von der Dialekt ik der Aufklärung ausgenommen ist,161 der Aufdeckung der Mechanismen von Verdingl ichung in der Gesellschaft.162

Während das Kunstwerk seiner Form nach - auch durch seine Unst immig-keit - das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft krit isiert und die Anweisung dazu geben will , wie ein versöhntes Verhältnis zwischen Indivi-duum und Gesellschaft aussehen könnte, wird die Konstellation der Elemente durch ihre Fixierung zwangsläufig zum Statischen und damit Falschen. Weil Versöhnung ein dynamisches Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft bedeutet, kann sie im Kunstwerk nicht dargestellt werden; sie kann dort höch-stens augenblickhaft erscheinen. Entscheidend ist deshalb am Neuen sein tem-poraler Aspekt . Nur als zum ersten Mal Erscheinendes, Werdendes ist das Kunstwerk augenblickhaft unverfälschte Individualität und Bild einer Versöh-nung von Individuum und Gesellschaft. In der Dynamik des Neuen ist der Prozeß der Konstituierung des Individuellen aus dem Allgemeinen - der indi-viduellen Form gegen die vorgegebenen, schon dagewesenen Formen - ebenso aufgehoben wie der Prozeß der Vergesellschaftung des Individuellen - Ver-dinglichung des Individuellen durch Dinghaft igkeit des Kunstwerks. Das Dy -namische, Flüchtige, Unabgeschlossene dieser Prozesse kristall isiert sich in der Neuheit , die im Kunstwerk als Feststehendem die Singularität des Augenbl icks

15' Vgl. D A , S. 35. 160 WOHLFART: Das alte Neue, a. a. O., S. 453-4 . 161 Lindner hat zu Recht darauf hingewiesen, daß das Ignorieren dieser Tatsache einer der

Hauptgründe für Mißverständnisse in der Adorno-Rezeption ist: Jidomos Ästhetik ist darin konsequent, daß sie Kunst nicht von der Dialektik der Aufklärung, dem zirkelhaften Verhältnis von Naturzwang und Naturbeherrschung, ausnimmt. [...] Eine Philosophie, die ihre historisch-gesell-schaftliche Aktualität in der Katastrophik und im Schuldzusammenhang von Gesellschaft be-greift, und Herrschaft noch in der Gewaltförmigkeit von Vernunft aufspüren will, kann nicht plötzlich aus ihrer Systematik herausspringen, also Kunst qua philosophischer Ästhetik zur uto-pischen Insel im Unwahren Ganzen aufrücken lassen. Zu einem beträchtlichen Teil ist die Re-zeption Adornos, seiner Favorisierung wie seiner Ablehnung, diesem Fehler erlegen". (LIND-NER: „Ii faut etre absolument moderne", a. a. O., S. 287-8 . Vgl. auch S. 299.)

162 Und damit ist auch der erste Schritt zu einer Veränderung getan, denn: „Die auf-deckende Analyse des Verdinglichungscharakters der Gesellschaft, der in ihr vorprogrammier-

ten Verkehrung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses in eine falsche Versöhnung, das Durchschau-barmachen also des Entfremdungsphänomens ist die erste notwendige Stufe von Umkehr und Veränderung". (GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 89.)

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repräsentiert. und dessen Gewoidcnsein1"1 ebenso wie seine Vergänglichkeit einschließt.

Im fixierten Prozeß der Kunstwerke ist der Übergang vom Zustand der unbeherrschten Natur zur Naturbeherrschung, zu dem, was Gesellschaft nicht nur den Dingen, sondern auch den Menschen antut, festgehalten. Kunst bildet in der Konstellation des Neuen das Verhältnis von Individuum und Gesell-schaft nach. Die Entscheidung über das Verhältnis von Individuum und Gesell-schaft ist im Kunstwerk insofern bereits angelegt, als die Realisierung des Indi-viduellen im Neuen der erste Schritt zur Beherrschung bzw. Verdinglichung des Individuellen, d. h. des Kunstwerks in der Gesellschaft ist. Gleichzeitig al-lerdings gibt das Kunstwerk - von innen betrachtet - die positive Anweisung dazu, wie ein menschlicheres Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft auszusehen hätte.

Nach Valery ist der Schöpfungsakt das eigentliche Kunstwerk. „Kunst ist Nachahmung nicht von Geschaffenem, sondern des Aktes der Schöpfung sel-ber."164 Das entspricht der Adornoschen Auffassung, daß die Dynamik seines Werdens im Kunstwerk aufgehoben ist. Sofern die Produktion durchs Subjekt hindurch gesellschaftlich ist, sind die Dynamikgesetze der Gesellschaft, wie die Integration bzw. Konstitution und die Verdinglichung des Individuellen oder die Verselbständigung der gesellschaftlichen Einheit gegenüber den Ansprü-chen der sie konstituierenden Individuen, im Kunstwerk aufgehoben, auch wenn seine Intention dahin geht, diese zu negieren. Durch diese zwanghafte Mimesis wird die Negation zur negativen Negation einerseits, die andererseits den Anspruch des Kunstwerks, Bild einer besseren Gesellschaft zu sein, ent-hält.

Zwar ist die Objektivität des Kunstwerks in der in ihm aufgespeicherten Dynamik seiner Entstehung zu suchen, doch involviert die im Begriff der Ob-jektivität enthaltene Dauerhaftigkeit und Gültigkeit ein statisches Element. Ist deshalb das Neue Objektivation von Freiheit, so hat es gerade darin teil an Ver-dinglichung. Durch seine Fixierung gerät das für einen Moment neue Kunst-werk in eine ihm äußerliche Dynamik. Weil es mit der durch seine Objektiva-tion errungenen Verbindlichkeit dem Allgemeinen angeglichen wird, kann es als Objekt rezipiert, identifiziert, integriert und konventionalisiert werden. Es altert. Das Alte ist das dinghaft Verfestigte. Zum Alten zu werden, ist dem no-minalistischen Kunstwerk ebenso mitgegeben wie seine Neuheit. Es altert des-halb, weil es nicht mehr das ist, was es sein wollte, autonom. Im Neuen will Kunst ein unverfälschtes, lebendiges Individuelles realisieren und überläßt es gerade damit seinem Untergang. Deshalb ist das Erscheinen des Neuen als neu

163 Damit negiert das Neue als Dynamisches auch den ästhetischen Schein, der Kunst-werke Adorno zufolge im 19. Jahrhundert und bis in die Moderne zu Phantasmagorien machte: „Die Kunstwerke verwischten die Spuren ihrer Produktion". (ÄT, S. 156.)

164 NL, S. 198 (Vaterys Abweichungen).

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nur ein Augenblick, DAN Neue ist Beginn des Verdingliehungspro/.esscs und al-tert deshalb, sobald der Prozeß in Gang gesetzt ist. Im Augenblick der Neuheit des nominalistischen Kunstwerks ist Individualität mit Gesellschaft versöhnt. Sobald es als ganzes verdinglicht wird, ist es falsch. Deshalb verschwindet das Bild der Versöhnung mit der Neuheit. Kunst kann Versöhnung als fixierte nur für einen Augenblick darstellen. Das Neue ist die Momentaufnahme der ver-söhnten Gesellschaft. Die von Valery formulierte Paradoxie von Kunst: „Was nicht festgehalten wird, ist nichts. Was festgehalten wird, ist tot"165 trifft das im Neuen gerettete Individuelle ebenso wie die in ihm repräsentierte befreite Ge-sellschaft. Beide sind als festgehaltene falsch. Diese Antinomie der Kunst ist unlösbar, der Anschein des Falschen, nicht Dauernden und Verbindlichen ist der Wahrheit des Neuen mitgegeben: „Die Evidenz des Unwillkürlichen, der Zeitkern der Wahrheit als eines jeweils Neuen, die plötzlich erscheinende Wahrheit hat den Aspekt des Trügerischen und Hinfälligen. Das ist der Grund des Schmerzes, den die unwiderleglich jähe Einsicht Valery wie Proust berei-tet."166

Ihre Vergänglichkeit reduziert die Wahrheit des neuen, des nominalisti-schen Kunstwerks auf den Augenblick. Qualitativ ist das Neue in der Kunst Objektivation von Freiheit, in seiner Temporalität verbirgt sich der Prozeß des Verschwindens von Freiheit. Im Noch-nicht-Verdinglichten ist Freiheit ebenso präsent wie ihr Verschwinden programmiert ist. Das Neue ist damit Krypto-gramm des Untergangs von Freiheit. Als Übergangserscheinung von individu-eller Freiheit zu gesellschaftlicher Verfügbarkeit ist das Neue nur ein Um-schlag.167 Das Individuelle wird im Neuen der Verdinglichung übereignet.

Die Augenblickhaftigkeit, Umschlaghaftigkeit des Neuen ersetzt die klas-sische Wahrheit der Dauer. „Das Neue ist dem Tod verschwistert",168 weil es vergeht. Als Dinge unterscheiden Kunstwerke sich von außerkünstlerischen Dingen durch ihren augenblickhaft sichtbaren Ausdruck. Er ist das im Moment ihrer Neuheit Sprechende der Kunst.169

Die Wahrheit des Kunstwerks liegt in seiner Konstellation, in der Notwen-digkeit seiner Form, die nur im Augenblick seiner Neuheit aufleuchtet. Die In-tention der Kunst verschwindet mit ihrer Realisierung, wie Adorno mit einem Välery-Zitat feststellt: „,Wenn der Klang, der Rhythmus dem Sinn zum Be-wußtsein kommen, machen sie sich nur für einen Nu geltend: als eine sich im

145 Zitiert nach NL, S. 177 (Val£rys Abweichungen). 166 NL, S. 166 (Vaterys Abweichungen). 167 Das, was z. B. Allkemper als eine Aporie von Kunst ausgemacht hat, ihre aus dem

„Zugleich von Verdinglichung und deren Negation" (ALLKEMPER, a. a. O., S. 174) resultierende Spannung, muß als Prozeß betrachtet werden. Es handelt sich um ein dialektisches Verhältnis, das keineswegs eine statische und schlicht unlösbare Aporie ist, sondern eine immanente und beschreibbare Dynamik besitzt, die die Dynamik der Kunst mitbestimmt.

168 ÄT, S. 38.

" 'Vgl . ÄT, S. 125.

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Augenblick aufbrauchende Notwendigkeit , als Hilfsorgan der Sinnbedeutung, die sie herführen, und die sie dann unverzüglich aufzehrt ."" 7 0 Kunstwerke sind daher Bilder dialektischer Prozesse, in denen sich aus Bruchstücken der Reali-tät Wahrheit kristall isiert, die gerade dadurch der Verdingl ichung, d. h. ihrem Tod überantwortet wird. Dialektische Bilder sind „die geschichtl ich-objektiven Archetypen jener antagonistischen Einheit von Stil lstand und Bewegung".171

Der Augenbl ick der Neuheit ist der der zeitlichen Sukzession enthobene Mo-ment der Indifferenz zwischen dem Erscheinen der Wahrheit und ihrem Gerin-nen zum zeitlosen, statischen Archetyp der Verdingl ichung und Immergle ich-heit: „Dialektische Bilder sind Konstellationen zwischen entfremdeten Dingen und eingehender Bedeutung, innehaltend im Augenbl ick der Indifferenz von Tod und Bedeutung. Während die Dinge im Schein zum Neuesten erweckt werden, verwandelt die Bedeutungen der Tod in älteste."172

Die Fixierung des Vergesel lschaftungsprozesses im Neuen löst aber einen weiteren Prozeß aus: den zwischen der Prozeßhaft igkeit und der Fixierung des Kunstwerks, der sich in seiner Unst immigkei t oder Spannung äußert. Kunst-werke „überflügeln die Dingwelt durch ihr eigenes Dinghaftes, ihre artif iziel le Objektivation."173 Sie üben dadurch Kritik an sich selber. Kunstwerke sind Dinge, die die eigene Dinglichkeit negieren:

„Das ,11 faut continuer', der Schluß des Innommable, bringt die Antinomie auf die Formel, daß Kunst von außen her unmöglich erscheint und immanent fortgesetzt werden muß. Neu ist die Qualität, daß Kunst ihren Untergang sich einverleibt; als Kritik herrschaftlichen Geistes ist sie der Geist, der gegen sich selbst sich zu wenden vermag."174

Weil das Neue individuelle Freiheit vertritt , löst es Ablehnung aus. Es schockiert, weil es durch das Verschwinden der individuellen Freiheit in der Verdinglichung die erstarrte Gesellschaft ihrer Unfreiheit überführt . Aufgabe der Ästhet ik ist nach Adorno, die in den authentischen Werken aufgespeicher-ten Prozesse deutl ich zu machen, ihre Konstellationen zu lesen. Weil Kunst-werke sich selber zu Dingen machen müssen, bedürfen sie der philosophischen Reflexion. Geist

„macht die Kunstwerke, Dinge unter Dingen, zu einem Anderen als Dingli-chem, während sie doch nur als Dinge dazu zu werden vermögen, nicht durch ihre Lokalisierung in Raum und Zeit sondern durch den ihnen immanenten

170 Val£ry zitiert nach NL, S. 169 (Val£rys Abweichungen). 171 F, S. 637. 172 Brief Adornos an Benjamin vom 2.-4. und 5.8.1935. In: BW, S. 152. 173 ÄT, S. 125. 174 ÄT, S. 474.

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Prozeß von VartliiiglulutiiK. der sie zu einem sich selbst Gleichen, mit sich Identischen macht."1"

Dieser Prozeß zeigt zum einen, welche Mechanismen für das Verschwinden von Individualität und Freiheit verantwortlich sind. Zum anderen zeigt er aber auch, daß das vom Menschen gemachte, Gesellschaft als zweite Natur , gera-deso wie die Kunst vom Menschen beherrscht werden kann. Wenn Gesellschaft als zweite Natur fälschlicherweise als ebenso unveränderlich wie die erste Natur erscheint, zeigt Kunst, daß sie es — als vom Menschen selbst gemachte - nicht ist. Die Wahrheit des in die Dynamik des Neuen eingeschlossenen Todesprin-zips von Kunst ist, daß, was vom Menschen geschaffen ist, auch vom Menschen verändert werden kann, daß aber - auf die Gesellschaft übertragen - Herrschaft und Verdingl ichung als Prinzipien der Gesellschaft den Interessen des Indivi-duums widersprechen, weil sie seine Freiheit nicht bewerkstel l igen, sondern vernichten. Herrschaft müßte ersetzt werden durch herrschaftslose Organisa-tion. Die positive Wahrheit des Neuen im Augenbl ick seines Erscheinens ist die Möglichkeit solch anderer Organisation, die Mögl ichkeit der anderen Ge-sellschaft.

c) II faut continuer

Um ihrem Anspruch, Individualität, Freiheit und eine befreite Gesellschaft zu vertreten, gerecht zu werden, muß Kunst immer neue Kunstwerke hervorbrin-gen. Ihre Kritik am Immergleichen zwingt sie, selber anders zu sein, und da das Anderssein nur augenblickhaft möglich ist, also nicht dauert, muß es wieder-holt werden. Die Notwendigkei t der Neuheit tritt deshalb beim Blick auf die Geschichte der Kunst, auf die von Kritik und Negat ion konst i tuierte Sukzes-sion noch deutl icher zutage als am einzelnen Kunstwerk.

Kunst und damit der Verlauf ihrer Geschichte ist abhängig von den gesell-schaftlichen Verhältnissen. Indem Kunst jeweils für alles das spricht, was von der totalen Gesellschaft unterdrückt wird, verläuft ihre Geschichte parallel zur Entwicklung der Total ität der Gesellschaft. Wenn diese, d. h. die Gestalt des zu Negierenden, sich verändert, wird auch die Kunst, die sich zugleich krit isch und mimetisch dazu verhält, verändert darauf reagieren. Je schneller sich die außerkünst ler ische Wirkl ichkeit verändert, desto schneller muß auch die Kunst mit Neuerungen aufwarten. Der Zwang zum Neuen ist u. a. der Zwang zur Zeitgenossenschaft, die für Adorno eines der Qual i tätskriter ien von Kunst ist. Authentisch sind Kunstwerke, die durch ihre Kritik des Bestehenden - sowohl der außerkünst ler ischen wie der künstlerischen Realität - , die auch Mimesis daran beinhaltet, den jeweils avanciertesten Stand des Bewußtseins repräsentie-

175 ÄT, S. 134.

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rcn und damit die biis auf den ' lag ihrer Realisierung aktuellste Geschichts-schreibung betreiben.

Die Zunahme an Radikalität in der Kunst ist den Antagonismen der außer-künstlerischen Realität geschuldet. Das betrifft zum einen das Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft, die sie mit immer größerer Radikalität negiert. Durch ihre zunehmende Autonomisierung macht Kunst sich in der Gesellschaft im-mer mehr zur Außenseiterin. Sie wird in ihrer Gegenposition zur herrschenden Gesellschaft immer fragwürdiger, immer mehr zum Skandalon. Zum anderen ist auch die immanente Spannung der Kunst abhängig von den gesellschaftli-chen Verhältnissen. Je stärker die Beherrschung des Individuums durch die Ge-sellschaft ausgeprägt ist, desto spannungsvoller wird zum Beispiel das Verhält-nis zwischen konstruktiven und unwillkürlichen Elementen der Kunst. Solange es keine Versöhnung in der Realität gibt, gibt es auch keine in der Kunst. Ihre Geschichte stellt sich daher „als die Geschichte der Verschärfung des Gegen-satzes von notwendiger Herrschaft und möglicher Freiheit"176 dar. Das Kunst-werk antwortet auf den historischen Augenblick. Es nimmt ihn in Material und Technik in einer Art sekundärer Mimesis in sich auf und weist durch die Ver-änderungen, die es damit vornimmt, über den bestehenden Zustand hinaus. Nicht nur die veränderten Erfahrungsweisen schlagen sich so in den Kunstwer-ken nieder, sondern auch die technische Entwicklung. Fortschritt in der Kunst ist vor allem Fortschritt in der Naturbeherrschung, der analog zu dem der au-ßerkünstlerischen Welt verläuft und ebenso irreversibel wie dieser ist. Der wirkliche Fortschritt in der Kunst besteht jedoch darin, daß die Kunstwerke der gesellschaftlichen Realität im Augenblick ihrer Neuheit immer um ein Winziges voraus sind, ohne daß ihnen die gesellschaftliche Entwicklung folgen würde:

„Der gesellschaftlich fortgeschrittenste Stand der Produktivkräfte, deren eine Bewußtsein ist, das ist im Innern der ästhetischen Monaden der Stand des Problems. Die Kunstwerke zeichnen in ihrer eigenen Figur vor, worin die Antwort darauf zu suchen sei, die sie doch von sich aus, ohne Eingriff nicht zu geben vermögen; das allein ist legitime Tradition in der Kunst."177

Um diese Augenblicke zu retten, um der Kunst als Avantgarde der Verände-rung Dauer zu verschaffen, müssen sie in ständiger Aktualisierung wiederholt werden. Kunst läuft der Gesellschaft voraus, wird jedoch jeden Moment wieder von ihr eingefangen, aber nicht eingeholt. Das Fortschreiten der Kunst besteht zuallererst im Weitermachen, im Versuch weiterer Ausbrüche aus dem Immer-gleichen: „Weil es in der Welt noch keinen Fortschritt gibt, gibt es einen in der Kunst; ,il faut continuer'."178

174 GRENZ, a. a. O., S. 57. 177 ÄT, S. 59. 178 ÄT, S. 310.

189 133

Solange Kunstwerke scheitern, d. h. immer wieder vom Immergleichen einge-holt werden, zeigen sie, daß es inmitten des Falschen noch kein Richtiges ge-ben kann. Sie zeugen vom Fortbestand des Leidens, dem sie ihre Existenz ver-danken. So ist für Adorno der Hauptgrund für das Weitergehen der Kunst der „Fortbestand der Nöte selber, die auf jenen Ausdruck warten, den für die wort-losen stellvertretend die Kunstwerke vollbringen."179 Solange die Utopie der modernen Kunst, die befreite Gesellschaft und das befreite Individuum, nicht erfüllt sind, bleibt die Forderung nach immer wieder Neuem aktuell. Kunst muß als Gegenentwurf zur Welt, der sie selber angehört, immer wieder neu als Rebellion gegen das Bestehende mitsamt aller vorangegangenen Kunst entste-hen.

Die Entwicklung der Kunst ergibt sich nicht allein aus ihrer jeweiligen Stellungnahme zur außerkünstlerischen Realität, daraus, daß sich Kunst in ihrer Negation der Gesellschaft mimetisch zu dieser verhält und damit jeden Augen-blick aktualisieren muß. Die innerästhetische Entwicklung resultiert aus der Radikalisierung von Kunst im Nominalismus, in dem sich der moderne Stand der Konstellation von Gesellschaft und individueller Freiheit zeigt. Die Forde-rung nach Andersheit der Kunst, nach Individualität und damit nach Neuheit bedeutet erstens, daß jedes Kunstwerk durch seine Individualität alle vorange-gangene Kunst negiert. Zweitens weist jedes Kunstwerk durch seine immanente Unstimmigkeit über sich hinaus, und drittens provoziert das Altern der Kunst die Produktion von neuen Kunstwerken.

Kunst wehrt sich gegen Vereinnahmung, gegen Einverständnis mit der Ge-sellschaft. Deshalb negiert sie auch die offizielle Kultur, Kunst als Institution innerhalb der Gesellschaft. Kunst will nicht affirmativ sein und negiert deshalb alles, was affirmativ erscheint. Jedes Kunstwerk übt Kritik am scheinbaren Ge-lingen, an der Versöhnung, an dem Klassischen der vorangegangenen Werke.

„Die neue Kunst, mit ihrer Anfälligkeit, ihren Flecken, ihrer Fehlbarkeit ist die Kritik der in vielem stärkeren, gelungeneren der Tradition: Kritik am Ge-lingen. Sie hat ihre Basis in der Unzulänglichkeit dessen, was zulänglich er-scheint; nicht nur in seinem affirmativen Wesen sondern auch darin, daß es um seinetwillen nicht ist, was es sein will."180

Auf diese Weise verweigert sich Kunst mit dem Neuen dem bürgerlichen Ver-wertungsmechanismus, dem sie sich am Ende doch nicht entziehen kann. Durch ihren Widerwillen gegen das Glatte, Gefällige wird Kunst zu Neuem:

„Je mehr Kunst durch den Widerstand gegen die Apparatur des von Herr-schaftsmechanismen verhärteten und verdinglichten Lebens dazu gezwungen wird, von dessen Oberfläche zu differieren, sie zu durchbrechen und an das vielfach Chaotische zu erinnern, das zum Unheil gerade dann wird, wenn man

179 ÄT, S. 512. 180 ÄT, S. 240.

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es vergißt und durch scheinhafte Ordnung verdrängt, desto mehr nimmt jegli-che Gestalt der Abweichung von diesem verhärteten und verdinglichten Leben notwendig zugleich den Charakter des Neuen an."181

Je mehr Kunstwerke ihrem Anspruch an Individualität und Durchgeformtheit entsprechen, desto mehr kritisieren sie an allen vorangegangenen Werken deren unkritische Übernahme von vorgegebenen Formen. Jedes authentische Kunst-werk setzt neue Maßstäbe. Auf dem Hintergrund des jeweils aktuellen Standes der Reflektiertheit und Durchgeformtheit sowie der Bestimmtheit von Materialien und Techniken - die sich mit jedem Einsatz ändert - erscheint alles Vorangegangene als zufällig und beliebig, als ungeformt und zu wenig durch-dacht:

„Die mit der traditionellen Musiksprache verbundenen Verfahrungsweisen sind retrospektiv durch die danach entdeckten problematisch geworden, näm-lich schematisch. Man hört durchs Neuere einst verborgene Schwächen des Alteren, sehr vieles klingt schablonenhaft, das es zu seiner Zeit nicht war."182

Tradition erscheint so, nach einer Bemerkung von Mahler, als Schlamperei, mit der es aufzuräumen gilt.183 Die Konsequenz und Ernsthaftigkeit, mit der die authentische moderne Kunst vorgeht, läßt nicht nur vorangegangene Kunst alt erscheinen, sondern degradiert alle zeitgenössische Kunst, die nicht an dieses Niveau heranreicht, zur Belanglosigkeit. Ihre Radikalität in bezug auf Qualität, Durchgeformtheit, Angemessenheit macht die Unwiderstehlichkeit und Un-umkehrbarkeit der Moderne aus; Überbietung durch Neuheit und damit Fort-schreiten der Kunst wird zum Zwang: „Nirgends drückt das geschichtliche We-sen aller Kunst so emphatisch sich aus wie in der qualitativen Unwiderstehlich-keit der Moderne".184

Unübersehbar ist an diesem Zwang die Parallele zu den Mechanismen auf dem Markt. Durch ihre tendenzielle Abwertung der vorangegangenen Kunst spielt Kunst der Gesellschaft und ihren Verwertungsmechanismen in die Hän-de. Das ist bereits mit dem einzelnen Kunstwerk angelegt. Jedes weist durch seine Dinghaftigkeit, die in seiner unwillkürlichen Klassizität, d. h. ihrer Ver-söhntheit und Abgeschlossenheit, angelegt ist, über sich hinaus. Indem Kunst-werke das dialektische Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft in sich zum Stillstand bringen, spiegeln sie die Versöhnung vor, die sie gleichzeitig negieren. Je vollkommener sie als Kunstwerk sind, je mehr sie sich unwillkür-lich dem Ideal ihrer Klassizität annähern, gegen das sie sich sträuben, desto mehr entfernen sie sich von dem Ideal der Individualität, und damit provozie-ren sie ihre eigene Negation: „Jeder Schritt zur Vollkommenheit der Kunst-

181 Vo 6448. 182 ADORNO: Schwierigkeiten I. Beim Komponieren. In: GS 17, S. 257. 183 ADORNO: Über Tradition. In: GS 10.1, S. 319 -20 . 184 ÄT, S. 58.

191 133

werke ist einer y.u ihrer Selbsientfremdung, und das produziert dialektisch stets aufs neue jene Revolten, die man als Aufstand von Subjektivität gegen Forma-lismus welcher Art auch immer zu oberflächlich charakterisiert."185

Das Problem der Kunstwerke ist die ihnen mitgegebene Unstimmigkeit zwischen dem, was sie werden wollten, und dem, was sie sind. Sie wollten individuell sein, gleichen sich durch ihre Objektivation jedoch dem herrschen-den Allgemeinen an und legen damit den Grundstein für ihre eigene Verdingli-chung und Konventionalisierung, die sie gleichzeitig negieren. Am Ende richtet sich Kunst gegen sich selbst: „Inbegriff der bestimmten Negation, die sie [Kunst, SZ] übt, ist ihre eigene."186Daß jedes Kunstwerk über sich hinausweist, ist der eigentliche Kern der historischen Dynamik der Kunst: „Immanent dy-namisch sind aber nicht nur die einzelnen Werke; ebenso ihr Verhältnis zu ein-ander. Das der Kunst ist geschichtlich allein durch die einzelnen, in sich stillge-stellten Werke hindurch".187 Das verbindet sie auch mit der Mode:

„Mode ist das permanente Eingeständnis der Kunst, daß sie nicht ist, was sie zu sein vorgibt und was sie ihrer Idee nach sein muß. [...] Definierte Hegel , an einer der großartigsten Stellen der Ästhetik, es als Aufgabe der Kunst, das Fremde zuzueignen, so rezipiert Mode, an der Möglichkeit solcher Versöh-nung im Geist irre geworden, Entfremdung selbst."188

Kunstwerke wollen die individuelle Freiheit im Neuen zur Erscheinung bringen und übergeben sie gerade damit ihrem Untergang. Kunst versucht, sich dem bürgerlichen Verwertungsmechanismus zu entziehen und arbeitet ihm doch zu. Deshalb scheitert jedes Kunstwerk und weist so über sich hinaus. Wie die Mode kann die Aktualität von Kunstwerken nicht dauern, ihre Neuheit schließt die Notwendigkeit des Alterns ein. Durch den Prozeß des Verschwindens des Individuellen in ihnen geben moderne Kunstwerke zu verstehen, daß sie die Freiheit nicht haben, daß neue Kunst aufs neue versuchen muß, die Freiheit herbeizuzitieren. Die Kunstwerke zeigen die Möglichkeit der Versöhnung im Augenblick ihres Entstehens und gleichzeitig die Tatsache, daß deren Realisie-rung versäumt wurde.

Das Altern von Kunst ist nicht nur auf die Überbietung durch neue Kunstwerke und auf die Negation ihrer selbst, sondern auch auf die integrie-rende Rezeption zurückzuführen.189 Die den Kunstwerken einzig angemessene

185 ÄT, S. 261. 186 ÄT, S. 60. 187 ÄT, S. 263. 188 ÄT, S. 468. 189 Jauß hat darin ein Argument gegen Adornos Konstatierung der Negativität von Kunst

gesehen: „auch Werke negativen Charakters pflegen im Prozeß ihrer Rezeption ihre ursprüngli-

che Negativität in dem Maße einzubüßen, wie sie selbst wieder .klassisch' werden, durch Ein-verleibung in Institutionen kultureller Sanktionierung öffentliche Bedeutung erlangen und

schließlich als Bildungserbe gerade jene autoritative Tradition wieder befestigen können, deren

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authentische Rezeption ist die individuelle, aktualisierende, ihre immanenten Prozesse nachvollziehende. Sofern es von der Gesellschaft absorbiert und auf Standardinterpretationen reduziert wird, altert das Kunstwerk.

„Der Schock, den sie [die neue Musik, SZ] ausübt, ihr Befremdendes ist mit ihrem Gehalt verwachsen. [...] Bringt man das Neue [...] dem Bewußtsein der Menschen näher, so steht man auf dem Sprung, es ins Harmlose zu verbiegen und zu dem ohnehin allgemeinen Verhängnis beizutragen: auch aus dem noch ein Bildungsgut zu machen, was durch die Schroffheit seines Gebarens gerade davor einstweilen behütet war."190

Weil der Schock nicht dauert, altern Kunstwerke. Das bedeutet nicht, daß sie wirkl ich an Aktual i tät verlören, weil die in ihnen aufgespeicherten Probleme ge-löst worden wären, sondern sie werden mehr oder weniger gewaltsam in den Kanon eingefügt und verlieren damit ihre Außenseiterposit ion.191 So gilt nach Adorno neue Musik nicht mehr als Skandalon, weil durch die wiederholte Auf -führung eine Gewöhnung eingetreten ist, ihre Werke wurden in die Tradit ion integriert - wenn auch widerwill ig: „Quantitative Gewöhnung hat den qualitati-ven Bruch nicht ausgefül lt . Auch wenn vom Publ ikum mit Achtung oder Erge-bung einem offenbar Unvermeidl ichen gelauscht wird, geschieht es bestenfal ls unterm Aspekt bloßer orientierender Kenntnisnahme."192 Entscheidend ist, daß die neue Musik aller Widerstände, die sie leistet und die sehr wohl wahrgenom-men werden, zum Trotz und obwohl sie im Grunde immer noch abgelehnt wird, in die Musiktradit ion eingereiht wird. Die scheinbare Notwendigkei t und Unvermeidl ichkeit dieses Prozesses resultiert aus dem Zwang zur Beherr-schung dessen, was sich nicht von selber fügt . Den neuen Kunstwerken wird durch ihre Integrat ion in das Kontinuum der Kunstgeschichte der Stempel des Vorgezeichneten, des Notwendigen, des immer schon nicht Dagewesenen, aber

Geltung sie bei ihrem Erscheinen verneinten oder durchbrachen." (Hans Robert JAUSS: Negati-vität und ästhetische Erfahrung. In: LlNDNER/LÜDKE [Hg.], a. a. O., S. 143.) Dagegen ist ein-zuwenden, daß dieser Widerspruch kein Widerspruch in Adornos Theorie ist, sondern ein Wi-derspruch zwischen der Kunst und ihrer Rezeption, der zu ihrer Dynamik führt. Die von Jauß gezogene Konsequenz aus der von ihm geforderten Vermittlung von Negativität mit „Identifi-kation als ihrem rezeptionsästhetischen Gegenbegriff" (ebd., S. 146) ist, daß man „literarische Prozesse nicht auf eine Folge von Traditionsbrüchen vereinseitigt, sondern als eine Dialektik von bestimmter Negation und Institutionalisierung" (ebd., S. 153) begreift. Das ist indessen kein über Adorno hinausgehender Gedanke, sondern bereits in Adornos Theorie der Notwen-digkeit permanenter Erneuerung enthalten, wenn auch nur als ein Aspekt unter mehreren.

190 ADORNO: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: GS 15, S. 247 -8 . 1 , 1 Figal versteht die Interpretation als retardierendes, die Innovationsdynamik hemmen-

des Element: „Die Einsicht in die Notwendigkeit und Möglichkeit des Interpretierens gehört zum Wesen der Moderne, und wenn sich daraus wirklich eine Modifikation des Neuen ergibt, hat die Moderne in sich ein retardierendes Moment, eine Instanz zur Hemmung der für sie ebenso wesentlichen Innovationsdynamik." (FlGAL, a. a. O., S. 102.)

192 ADORNO: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: GS 15, S. 188.

192

Vorbest imnuen, damit de» Immergleichen, des Archaischen au lgedrückt : ,,[...] um seines Kernes, der Immergleichheit willen nimmt alles Moderne, kaum daß es veraltete, den Ausdruck des Archaischen an."193 Das scheinbar Selbstver-ständliche ist das Entfremdete.194 Durch Neuerung wehrt Kunst sich gegen diese Verdingl ichung, der sie sich immer weniger entziehen kann:

„Nun, dieser Absorptionsprozeß des Geistes durch seinen Widersacher, näm-lich durch die manipulierte und zu Ausbeutungszwecken angestellte Kultur nötigt aber nun negativ die Kunst, die ihrem Begriff genügt und mit der allein wir es hier ja zu tun haben, noch einmal zu jener Anstrengung der Neuerung, der Innovation, die in ihr ohnehin durch ihre eigenen Kraftlinien bereits auf-genötigt ist. Mit anderen Worten also, je mehr geschluckt wird von dem Be-trieb, um so mehr muß die Kunst, um überhaupt irgend so etwas wie ihres ei-genen Wortes mächtig zu sein, sich anstrengen um das Unentstellte, das nicht schon Vorverdaute, und um so mehr wird sie aus der objektiv ihr gesetzten Situation gezwungen zu der Kategorie des Neuen."195

Je stärker Kunst vereinnahmt wird, desto stärker versucht neue Kunst, sich ge-gen ihre Vereinnahmung zu wehren:196 Auf jede nur mögliche Art bemüht sie sich, ihr Außenseiterdasein zu bewahren, durch Dissonanz, Häßl ichkeit , Nega-tivität, Rückzug versucht sie, Widerstand zu leisten. Kunstwerke wollen nicht zum Bildungsgut werden.197 Neue Kunstwerke verteidigen gleichzeitig die Au-tonomie der Kunst, indem sie sich gegen die Alterung der vorangegangenen wehren:

„Der Satz Valerys, das Beste am Neuen in der Kunst entspreche stets einem alten Bedürfnis, ist von unabsehbarer Tragweite; er erklärt nicht nur die expo-nierten Regungen des Neuen, die man als Experimente diffamiert, als notwen-dige Antwort auf ungelöste Fragen, sondern zerstört zugleich den ideologi-schen Schein glückvoller Geborgenheit, den das Vergangene vielfach nur

193 MM, S. 270. 191 Der „falsche Ruhm" ist „die fatale Variante des Vergessens". (ADORNO: Aufzeichnun-

gen zu Kafka. In: GS 10.1, S. 255.) 195 V o 6449. 196 Für Adorno war die Angst vor Vereinnahmung durch Rezeption und Nachahmung, vor

Verlust der Individualität, vor der „eigenefn] Kollektivierung" auch der Grund dafür, daß Kafka

die Vernichtung seiner Werke anordnete. (ADORNO: Aufzeichnungen zu Kafka. In: GS 10.1, S.

265.) 197 ADORNO: Die gewürdigte Musik. In: GS 15, S. 184 ff. - Das schützt sie allerdings

nicht vor der Gefahr, daß gerade auch ihre negative Funktion akzeptiert und integriert wird:

„Die Identitätsstruktur von Gesellschaft, die sich alles selbst anzuverwandeln versucht, könnte

auch geradezu als snobistischer Zwang wirksam werden: die Gesellschaft akzeptiert in den ihr als

Ganzem gegenüber antithetischen Kunstwerken gerade das Antithetische, das Negierende, und

macht so die Wahrheitsfunktion der Antithese rasch zu eingeschliffener Kommunikation."

(BEIERWALTES, a. a. O., S. 294.)

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darum annimmt, weil das alte Leiden darin nicht unmittelbar mehr y.u lesen ist als Chiffre des Leidens der gegenwärtigen Welt."191

Kunst geht gegen das Unrecht an, das allen vorangegangenen Kunstwerken durch ihre Verdingl ichung angetan wurde, indem sie die in ihnen enthaltenen ungelösten Fragen wieder aufwirft , im Neuen aktualisiert und damit die Auto-nomie der Kunst behauptet und die Idee von Freiheit verteidigt.

ADORNO: Ohne Leitbild. In: GS 10.1, S. 295.

195 133

2. Dm Andere im Neuen

Daß für Adorno Kunst Kritik an Rationalität ist, ist ebenso unbestr i tten wie die Tatsache, daß im Kunstwerk in irgendeiner Weise etwas Anderes, Nicht-identisches anwesend ist. Die Rolle, die das Neue dabei spielt, ist jedoch bisher noch nicht gesehen worden.199 Dabei ist das Neue als Übergang zwischen Nichtidentität und Identität200 für die Präsenz des Nichtidentischen im Kunst-werk entscheidend. Kunst ist nicht das Nichtidentische, wie Beierwaltes meint,201 man kann in Kunst auch nicht das Nichtidentische selber sehen, es darf nicht hypostasiert werden. Was man bestenfalls sehen kann, ist das Neue -also das nicht mehr ganz Nichtidentische auf dem Weg zur Identifikation2 0 2 — bzw. den Identif ikat ionsprozeß: das Erscheinen, die Identif ikat ion und das Verschwinden des Anderen. Entscheidend am Begriff des Neuen ist, daß er gleichzeitig den qualitativen Unterschied des Nichtidentischen und die Dyna-mik der Aneignung des Nichtidentischen erfaßt, die den Geist als Tätigkeit , als Dynamisches und Werdendes vorstellt.

Wei l das Verhältnis von Identität und Nichtidentität im Kunstwerk ein prozessuales ist, kann von einem Kunstwerk auch nicht als von einem Ort der Versöhnung gesprochen werden, die etwas wie Einstand, d. h. Stil lstand ein-schließen würde. Versöhnung im Kunstwerk erscheint höchstens augenblick-haft als utopisches, nicht präsentes Moment. Auch der Satz Adornos „Nur im Neuen vermählt sich Mimesis der Rationalität ohne Rückfall"203 zielt nicht auf eine bereits stat tgefundene Versöhnung der beiden Momente, sondern auf ei-nen nicht-regressiven Prozeß, der diese Versöhnung zum Ziel hat.

159 Ohne sich auf Adorno zu beziehen, hat allerdings Wohlfart eine teilweise ähnliche

Funktion des Neuen beschrieben wie Adorno. (WOHLFART: Das alte Neue, a. a. O.) 200 Koepsel identifiziert fälschlicherweise das Neue mit dem Nichtidentischen: „Daß aber

,kein Nichtidentisches positiv da' sei, läßt der Kunst, die aufs nur mit sich selbst identische Be-sondere geht, nur die Möglichkeit der bestimmten Negation des Allgemeinen; das Neue geht in sie ein nur als .Sehnsucht nach dem Neuen'." (KOEPSEL, a. a. O., S. 284.) In dem zweiten Adorno-Zitat aus der Ästhetischen Theorie (S. 55) ist indessen nicht von dem Neuen als Nicht-identischem die Rede, sondern von der Utopie des absolut Neuen, von einer Versöhnung, die im Kunstwerk nur negativ erscheinen kann.

201 „Wenn Identität und Begriff voneinander untrennbar sind, so ist demgegenüber Kunst als Gestaltwerden des Begrifflosen, zumal die Musik, das Nicht-Identische schlechthin." (BEIER-

WALTES, a. a. O., S. 282.) Beierwaltes' im selben Text gebrauchte Formulierung von der Kunst als „Konkretion des Nicht-Identischen" trifft den Sachverhalt eher. (Ebd., S. 296.)

202 Brunkhorsts Rede vom „nichtidentischen Neuen" ist dagegen zu unpräzise. (BRUNK-HORST: Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 33.)

203 ÄT, S. 38.

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ii) Neuheit uml Ratiorhilität

Die Qualität des Neuen selbst ist nur bestimmbar im Verhältnis zu dem, wo-von es sich abhebt. In Adornos Ästhet ik können drei Relationen des Neuen in der Kunst zum außerkünst ler ischen Bewußtsein identif iziert werden, die in der Kunst der Moderne akkumuliert und in verschiedener Konstellation und Ge-wichtung erscheinen. Neuheit entsteht erstens aus der Negation von Rationali-tät an sich, sie will auf das Nichtidentische hinaus; zweitens entsteht sie aus der Negation des falschen Bewußtseins, also des falschen Verhältnisses zwischen Rationalität und Nichtidentischem; drittens ist sie negative Negat ion des fal-schen Bewußtseins.

Kunst will positive Erscheinungsform des Nichtidentischen sein und sich qualitativ dem Anderen annähern. Sie will nach Adorno auf das Unerfaßte hin-aus, auf das, was der naturbeherrschenden Vernunft nicht zugängl ich ist. Sie versucht, das noch nicht begriff l ich Erfaßte in seiner eigenen Sprache sprechen zu lassen. Für Adorno ist Kunst damit die Ergänzung204 zur begriff l ichen Er-kenntnis: Sie „komplettiert Erkenntnis um das von ihr Ausgeschlossene"205 , sie „berichtigt die begriff l iche Erkenntnis"206 , mit anderen Worten: „Das Kunst-werk [. . . ] vertr i tt , [ . . . ] was, kantisch gesprochen, Ding an sich wäre"207 . U m über die gleichmachende und identif izierende Vernunft , das gefesselte Bewußt-sein hinausweisen zu können, braucht Kunst das Andere, das durch seine Iden-tif ikation im Kunstwerk als Neues erscheint. Sie leistet das mimetische Weg-werfen an den Gegenstand, das nach Adornos Negativer Dialektik qualitative Erkenntnis ist208 und in der Philosophie theoretisch gefordert wird: „Kunst möchte, durch sichtbare, von ihr vollzogene Zession an krude Stoffe, etwas von dem wiedergutmachen, was Geist: Gedanke wie Kunst, dem Anderen antut, worauf er sich bezieht und was er sprechen lassen möchte."209 Sie löst die quali-tative Erkenntnis aus, die der begriff l ichen versagt bleibt: Der Schock, den das neue Kunstwerk hervorruft , entspricht dem Schock, dem Schwindelerregenden, das die Erkenntnis, die sich undogmatisch an ihre Gegenstände wegwirf t ,

204 Hermann Schweppenhäuser sah sich noch 1993 veranlaßt, Adorno gegen den Vorwurf des Irrationalismus in Schutz zu nehmen, wonach Adorno die begriffliche Erkenntnis durch die mimetisch-ästhetische Erfahrung ersetzen wollte. (SCHWEPPENHÄUSER: Aspekte eines aufge-klärten Kunstbegriffs, a. a. O., S. 1 12 -28 . )

205 ÄT, S. 87. 206 ÄT, S. 173. 207 ÄT, S. 99. 208 Vgl. ND, S. 53 -5 . - Vgl. Früchtls Untersuchung zur Mimesis, die den Begriff bei

Adorno als Korrektiv von Rationalität und als „nicht wissenschaftlich reglementierte Erkennt-nis" beschreibt. (FRÜCHTL, a. a. O., S. 3.)

209 ÄT, S. 383. - In der Literatur zeigt sich diese Sehnsucht nach dem Anderen z. B. in Bal-zacs „Beschwörung" des Konkreten. Der von ihm angestrebte Realismus ist übertriebene Kon-

kretion, die für Adorno als Ersatz für die unmöglich gewordene „reale Erfahrung" verstanden

werden muß: „Realismus aus Realitätsverlust". (NL, S. 147 ff. [Balzac-Lektüre].)

197 133

hervorruft. Nur Ktin»twriki\ die sinnvollerweise als neu bezeichnet werden können, sind al« Erkenntnis tauglich, denn sie erscheinen gerade deswegen als neu, weil sie etwa» anderes als das von Rationalität Erfaßte an sich haben. So-lange es noch Neues gibt, kann die Erkenntnis fortschreiten. Als das noch nicht Erkannte sperrt es sich der Identif izierung und stellt sie in Frage. Als neu in der Kunst erscheint das von ihr erfaßte bislang Unerfaßte , das vergegen-ständlichte Ungegenständl iche, das gebrochene Dasein des Nichtdaseienden. Mit dem Neuen erobert Kunst Terrains, die bisher nicht verfügbar waren, greift nach dem Anderen, von Rationalität Verdrängten und ist so ein Korrektiv der Rationalität.

Zwar „terminiert" das Neue, „ohne daß es jenes bereits hätte, das noch nicht Erfaßte [ . . . ] . Aber indem es ästhetisch realisiert wird, gerinnt es selber auch schon wieder zu einem Erfaßten [.. .] und widerspricht sich dadurch."210

Deshalb ist das Neue so wenig wie Kunst insgesamt oder ein Kunstwerk allein das Andere oder das Nichtidentische selbst. Es vertritt auch immer das andere Bewußtsein und ist damit nicht Negation von Rationalität an sich, sondern: „Formal ist das Neue in der Kunst die Negation falschen Bewußtseins. "2 U

Kunst hat ihre Wahrheit darin, daß sie allein durch ihre Existenz die verabsolu-tierte Rationalität kritisiert. Nachdem Mimesis von der begriff l ichen Erkennt-nis verdrängt und mit einem Tabu belegt wurde, überlebt sie - al lerdings nun funktionslos geworden - allein in der Kunst. Die ästhetische Verhaltensweise konserviert die mimetische, in ihr „versammelt sich, was seit undenkl ichen Zei-ten von Zivilisation gewalttätig weggeschnitten, unterdrückt wurde"212 . Weil Kunst das ästhetische Verhalten aufbewahrt , erscheint sie als zurückgebl ieben, regressiv, und daß Kunst überhaupt möglich bleibt, zeigt für Adorno, daß die herrschende Rationalität die falsche ist:

„Die Hartnäckigkeit des ästhetischen Verhaltens [...] bezeugt [...], daß keine Rationalität bis heute die volle war, keine, die ungeschmälert den Menschen, ihrem Potential, gar der .humanisierten Natur' zugute käme. [...] Ästhetisches Verhalten ist das ungeschwächte Korrektiv des mittlerweile zur Totalität sich aufspreizenden verdinglichten Bewußtseins."213

Insofern ist Kunst Symptom für die fehlgeleitete Aufklärung. Umgekehr t ließe sich sagen, daß Kunst nur durch ihre Gegenposition zum verdinglichten Be-

210 V Ä , S. 81. 211 V Ä , S. 78. 212 Ebd. - Scheibles gegen die Adornosche Ästhetik gerichtete Auffassung, daß „das

mimetische Verhalten eigentlich nicht theoriefähig ist", ist eine Fortschreibung dieser Unter-drückung - und eine fragwürdige Vorentscheidung im Sinne des von Adorno kritisierten Iden-titätsdenkens. (SCHEIBLE: Wahrheit und Subjekt, a. a. O. , S. 468.)

213 ÄT, S. 487 -8 .

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wußtsein ihre Existenzberechtigung hat."'14 Nur soweit sie der verabsolutierten Rationalität widerspricht und die Erkenntnis der identifizierenden und nivellie-renden Vernunft korrigiert, ist sie überhaupt Kunst: „Kunstwerke, die der Be-trachtung und dem Gedanken ohne Rest aufgehen, sind keine."215

Kunst ist allerdings von Anfang an auch an Rationalität als objektivieren-des und organisierendes Prinzip gebunden. Indem Anderes im Neuen erkenn-bar gemacht wird, unternimmt Kunst auch den ersten Schritt zu seiner Identi-fizierung. Kunst versucht, das Andere im Neuen zu fixieren, als etwas, das sich der Identifizierung verweigert; jedoch erscheint es damit bereits als potentiell erkennbar. Aber nur dadurch kann Kunst Erkenntnis sein. Sonst wäre sie das ganz Andere und damit unsichtbar. Neu wird das noch nicht Identifizierte ge-nannt, deswegen kommt die Kunst im Neuen der begrifflichen Erkenntnis ent-gegen. Kunst bringt im Neuen das noch nicht Erkannte in eine Form, die es der erkennenden Vernunft ermöglicht, sich mit ihm auseinanderzusetzen. Bereits die Bezeichnung „neu" für ein spezifisches Kunstwerk ist der erste Schritt der begrifflichen Erkenntnis.

Kunst kann nicht Rationalität an sich negieren, indem sie versucht, ihr rein Anschauliches entgegenzusetzen, sondern da sie selber auf Vernunft angewie-sen ist, kann sie das Nichtidentische nur zum Vorschein bringen, indem sie die starre Trennung zwischen der Rationalität und ihrem Anderen negiert und das Problem dieser starren Trennung in sich hineinnimmt. Das Neue kann nicht das Andere selbst sein, sondern dieses nur durch neue Konstellation von Seien-dem herbeizitieren. Das Beherrschen des bis dahin Nichtseienden geschieht in seiner Fixierung in der Konstellation von Seiendem. In der Fixierung wird der Prozeß zwischen der Rationalität und ihrem Anderen zum Stillstand gebracht und damit für die mimetische und rationale Erkenntnis faßbar. In dieser Kon-stellation ist der andere Geist der Kunst zu suchen, den sie dem falschen Be-wußtsein gegenüberstellt: Sie stellt das Andere in ein adäquateres Verhältnis zur Rationalität. Die neue Konstellation ist Ausdruck der anderen Konstella-tion von Rationalität und ihrem Anderen. Durch Verrückung des Verhältnisses zwischen beidem entsteht etwas ganz Anderes.

Neu an einem Kunstwerk kann also nicht ein einzelnes abtrennbares Ele-ment sein, sondern Neuheit betrifft immer das Kunstwerk als Ganzes, das Schwarz zufolge nicht als „abstrakte Negation des naturbeherrschenden Prin-zips etwa im Namen einer ,ganz anderen' ästhetischen Rationalität" angesehen werden kann. Im Gegenteil handelt es sich darum, „die Verdinglichung der Ra-tionalität der Aufklärung nicht durch eine ,andere' Vernunft oder gar ihre völ-lige Preisgabe zu überwinden, sondern durch eine zweite Reflexion der Ratio-nalität (und ihren Vollzug in der ästhetischen Erfahrung) die ihr immanente,

211 Sie ist - so Wellmer - wie die Philosophie „von ihrem utopischen Begriff her antithe-tisch zur Welt des instrumentellen Geistes". (WELLMER, a. a. O., S. 13.)

215 ÄT, S. 184.

199 133

geschichtlich jedoch inhibierte raison d'Stre wieder aufzudecken und zur Gel-tung zu bringen,"'1* Während das Andere selbst nicht positiv dargestellt wer-den kann, versucht Kunst, den Zustand eines versöhnten Verhältnisses von Ra-tionalität und Mimesis zwar nicht darzustellen, aber dieser selber zu sein. In der Form des Kunstwerks zeigt sich ein anderes Verhalten der Rationalität.217

Das Andere erscheint aber nur noch vermittelt durch die Konstellation. Die dritte Form von Neuheit, in der die Neuheit als Negation von Ratio-

nalität und als Negation von falschem Bewußtsein aufgehoben ist, ist die spezi-fisch moderne: Das Neue negiert das verdinglichte Bewußtsein, ohne ihm ein anderes Bewußtsein positiv entgegenzustellen. Kunst wehrt sich dagegen, als Kompensation der verabsolutierten Vernunft in den Naturschutzpark der rei-nen Anschaulichkeit verbannt zu werden oder als Musterbeispiel für die Ver-söhnung zwischen Rationalität und ihrem Anderen zu fungieren. In der Mo-derne zeichnet sich Kunst dadurch aus,

„daß sie das Prinzip der bürgerlichen Rationalität nicht einfach, indem sie in eine [...] erweiterte Schäferwelt sich begibt, von sich abwehrt, sondern daß sie ihre Antithetik zu dieser bürgerlichen Zweckrationalität dadurch zu bewälti-gen trachtet, daß sie diese zweckrationale Welt und ihre Desiderate in sich selbst hineinnimmt, und zwar ihren Formproblemen nach ebenso, wie auch ihren Gegenständen nach."218

Negation von Rationalität in der Moderne heißt auch, daß Kunst sich nicht mehr an vorgegebene Formen hält, sondern sich gänzlich der Sache überläßt. Die Preisgabe an das noch nicht Erfaßte wird insofern radikaler, als auch das ra-tional-konstruktive Element der Kunst, die Form, bewußt zurückgenommen, d. h. der Sache nachgeordnet und damit von Konvention und Tradition befreit wird. Die Produktion von Kunst geschieht nicht mehr innerhalb vorgegebener, unreflektiert übernommener Gattungen und Formen.219 Dadurch soll das An-dere selber zum Sprechen gebracht werden bzw. sich in der ihm adäquaten, individuellen Form objektivieren. Das erfordert eine Zurücknahme des künst-lerischen Subjekts zugunsten des Anderen, Unbekannten, es ist genötigt,

214 SCHWARZ: Entfesselung der Produktivkräfte und ästhetische Utopie, a. a. O., S. 447-8 . 217 In der Emanzipation der Vernunft von der Gewalt sieht Welsch das Erhabene, das zum

zentralen Merkmal moderner Kunst geworden ist - allerdings verbunden mit einem Bedeu-

tungswandel von der „heroischen Fassung des Erhabenen, die den Menschen qua Geistwesen

zum Bezwinger und Beherrscher von Natur erklärte", hin zum Erhabenen, das „die Emanzipa-

tion des Subjekts vom Zwang souveräner Naturbeherrschung und die Befreiung der Natur aus

dem .verruchten Zusammenhang von Naturwüchsigkeit und subjektiver Souveränität'" bedeu-

tet. (WELSCH: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen, a. a. O., S. 188-193 . ) 218 V Ä , S. 6 0 - 1 . 215 Möglich ist die Verwendung tradierter Formen für Adorno nur noch in der Parodie, in

der gerade die Form reflektiert wird: „Emphatisch heißt Parodie die Verwendung von Formen

im Zeitalter ihrer Unmöglichkeit." (NL, S. 302 [Versuch, das Endspiel zu verstehen].)

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„Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind." j ; i 1 Die spezifisch moderne Konstellation von Mimesis und Rationalität, die sich im nominalisti-schen Kunstwerk zeigt, besteht darin, daß Rationalität keine Herrschaft mehr ausübt, die Dinge nicht ihrer Sprache unterwirf t ," 1 sondern versucht, die Spra-che der Dinge mimetisch zu erfassen. Der Geist des Kunstwerks folgt der Sa-che, verhält sich mimetisch zu dem, dem das Kunstwerk zum Ausdruck verhel-fen will. Auch so ist Adornos Äußerung zu verstehen: „Nur im Neuen ver-mählt sich Mimesis der Rationalität ohne Rückfal l : ratio selbst wird im Schauer des Neuen mimetisch".222 Das heißt nicht, daß Kunst Natur würde, sondern mimetisch angeeigneter, objektivierter Ausdruck: „Die Ausdrucksvaleurs der Kunstwerke sind nicht länger unmittelbar die von Lebendigem. Gebrochen und verwandelt, werden sie zum Ausdruck der Sache selbst".223

Das Wegwerfen an den Gegenstand ist seit Baudelaire allerdings nicht mehr ein Versuch, die noch nicht beherrschte Natur ästhetisch zu erfassen, im Gegenteil unterl iegt die „imago von Natur bei Baudelaire s tr iktem Verbot"224 . An deren Stelle tritt , zum ersten Mal bei Baudelaire, die Zivilisation als zweite Natur: „Moderne ist Kunst durch Mimesis ans Verhärtete und Entfremdete".225

Was in der Kunst zum Sprechen gebracht wird, können also seit Baudelaire auch die veränderten Verhältnisse in der Gesellschaft oder im Bewußtsein sein, also die zweite Natur . Da Natur nicht mehr erfahren werden kann, wird gerade das Falsche — wie das falsche Bewußtsein — das, wozu sich Kunst mimet isch verhält, was als zu Erkennendes im Neuen erscheinen kann. Deshalb ist mo-derne Kunst „Ausdruck der Krise von Erfahrung"226 . Mimesis ans Entfremdete, ans falsche Bewußtsein, f indet Adorno in extremer Ausprägung bei Beckett realisiert.227 Seine Stücke sind die bis zur Absurdität übersteigerte Nachahmung der Realität des verdinglichten Bewußtseins. Durch ihre völlige Negativität , also dadurch, daß sie sich bis zum letzten weigern, irgend etwas Seinsollendes positiv vorzuführen, weisen sie über sich hinaus. So führt die Mimesis ans Ver-härtete zur Abwesenheit jeglicher Positivität. Dadurch ist in dieser radikalsten Form von Neuheit weder in den einzelnen Elementen noch in der Konstella-

220 V Ä , S. 73. 221 Dazu gehört in der Literatur auch eine Auflösung syntaktischer Strukturen, die für

Adorno z. B. bei Hölderlin dazu führt, daß der Sprache ihre Funktion als sinnherstellende Syn-

thesis erhalten bleibt, während sie auf explizite, eindeutige Urteile verzichtet. (NL, S. 38 f.

[Uber epische Naivetät].) 222 ÄT, S. 38. 223 ÄT, S. 169. 224 ÄT, S. 39. 225 Ebd. 226 ÄT, S. 57. 227 Diese Verschiebung zur negativen Negation hat auch Lüdke in seiner Untersuchung

über Beckett registriert: „Die einst positiv erstrebte Versöhnung ist in Becketts Stücken negativ

realisiert." (LÜDKE: Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls", a. a. O., S. 103.)

201

tion der Elemente Anderen ndrr anderes Bewußtsein positiv vortreten,"'* son-dern kann nur durch Rellexion erschlossen werden. Nur noch dadurch, daß Kunst zu solcher Reflexion anregt, weist sie über sich hinaus, und nur diese Transzendenz weist solche Kunst überhaupt noch als Kunst aus.

b) Erscheinen und Verschwinden des Anderen im Neuen

Kunst und krit ische Philosophie konvergieren nach Adorno in ihrem An-spruch, „dem Nichtidentischen zum Ausdruck zu verhelfen"229 . Daran scheitert die Philosophie notwendigerweise, denn sobald das einmal Nicht ident ische als Neues identif iziert wird, sobald die Philosophie von ihm spricht, ist es nicht mehr das Andere, sondern der Rationalität unterworfen.230 Dieser Mechanis-mus der Vernunft darf, so Adorno, jedoch gerade nicht dazu führen, daß die Philosophie den Versuch des Erfassens des Nichtidentischen aufgibt , obwohl ihr dafür nur das Medium des Begriffs zur Verfügung steht. Die Feststel lung, der „bloße Versuch, den philosophischen Gedanken dem Nichtidentischen zu-zukehren anstatt der Identität, sei widersinnig; er reduziere a priori das Nicht-identische auf seinen Begriff und identifiziere es damit"231, ist für Adorno zwar einleuchtend, jedoch darf sie als Ausdruck eines idealistischen Vorurtei ls nicht die Oberhand behalten. Sie ist nicht theoretisch zu widerlegen, sondern allein durch Praxis: „Die Wendung zum Nichtidentischen bewährt sich in ihrer Durchführung; bliebe sie Deklaration, so nähme sie sich zurück."232 Das Span-nungsverhältnis zwischen der Rationalität und ihrem Anderen, das die gesamte Aufklärung begleitet und mit zunehmender Verdingl ichung immer ausgepräg-

228 Die Tatsache, daß „selbst das .richtiges Bewußtsein' produzierende Werk" Gefahr läuft,

„in Ideologie umzukippen, indem es den Schein einer realen Möglichkeit des Widerstands her-

vorbringt" führt nach Scheible zur naheliegenden „Forderung nach dem Ende von Kunst, wie sie

in der Tat seit geraumer Zeit nicht mehr verstummt." (Hartmut SCHEIBLE: Sehnsüchtige Nega-

tion. Zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos. In: Protokolle. Wiener Halbjahresschrift

für Literatur, bildende Kunst und Musik. H. 2 [1972], S. 73.) Statt dessen konstatiert Adorno

einen Rückzug der Kunst, die Negation wird negativ. 229 ADORNO: Drei Studien zu Hegel. In: GS 5, S. 336. 230 Weil auch das kritische Denken wie jede Philosophie an Sprache gebunden ist, wird an-

gesichts des Neuen schließlich doch das eintreten, was Adornos erster akademischer Lehrer

Hans Cornelius in dem Abschnitt „Das Ungewohnte als Erklärungsbedürftiges" seiner 1902

erstmals erschienenen „Einleitung in die Philosophie", die dem Leser den Weg „zu einer in sich

widerspruchslosen Welt- und Lebensanschauung" (S. V) weisen sollte, wie folgt beschreibt:

„Das Ungewohnte ist uns jedesmal zugleich ein Befremdliches, Beunruhigendes. Die Beunruhi-

gung aber löst sich, wenn es uns gelingt, das Neue als Glied eines bekannten Zusammenhanges zu

erkennen, mit Bekanntem, Gewohntem unter einem einheitlichen Gesichtspunkte zu begrei-

fen." (Hans CORNELIUS: Einleitung in die Philosophie. Leipzig und Berlin 1921 , S. 26.) 231 ND, S. 158. 232 ND, S. 157.

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ter wird, isi in der Kunst aufgehoben. In den Kunstwerken artikuliert sich diese problematische dialektische Beziehung jeweils aktualisiert in ihrem Neuen.

Adorno faßt ein Kunstwerk auf als Erkenntnisprozeß, als Aneignung eines bis dahin noch nicht Erfaßten. Im Neuen macht Kunst das Noch-nicht-Er-kannte der Rationalität kommensurabel . Das Neue an einem Kunstwerk ist das, was noch nicht erkannt ist, was aber auch nicht mehr ein Anderes ist. Durch ihre „Identif ikation des Nichtidentischen"233 zitiert Kunst „die Vernunft als Gestus"234. Das Neue markiert den Übergang von Nichtidentität zu Identi-tät,235 es verweist ebenso auf das Andere wie auf das Verschwinden seiner An-dersheit. Seine Dynamik ist die Dynamik von Erkenntnis: der Aneignung des Anderen, die im Verschwinden seiner Andersheit endet.

Das Andere kann deshalb im Neuen nur vermittelt erscheinen. Kunst-werke wollen das Unbekannte und brauchen das Bekannte. Sie können nicht rein mimetisch sein, weil sie ohne Rationalität, ihren , ,antimimetische[n] Im-puls"236 nicht auskommen. Sie sind doch geformt, auch wenn die Form der Sa-che folgt. Sie bedürfen „ihres Nichtidentischen, Heterogenen, nicht bereits Ge-formten"237 , haben aber „als Artefakte , von Menschen Gemachtes von vornher-ein im .einheimischen Reich des Geistes ' ihren Ort"238 . Da das Neue - das liegt in seinem Begriff - die erste Identif ikation des Anderen ist, ist das Neue der Untergang des Anderen.239 Deshalb ist das Neue eines Kunstwerks wider-spruchsvoll, Stil lstand und Dynamik in eins: festgehaltener Prozeß, Verweis auf das Andere und sein Verschwinden. Die Fixierung des Erkenntnisprozesses im Neuen löst einen weiteren Prozeß aus: den zwischen der Prozeßhaft igkeit und der Fixierung: „Der Prozeß, in jedem Kunstwerk geronnen zu einem Gegen-ständlichen, widersetzt sich seiner Fixierung zum Dies da und zerf l ießt wie-derum dorthin, woher er kam."240 Trotz des Versuchs der Fixierung bleibt der Prozeß also im Kunstwerk als immanente Dynamik erhalten, die sich in seiner

233 Ä T , S . 41. 234 BOLZ: Erlösung als ob, a. a. O., S. 279. 235 Während kritische Philosophie den Übergang vom Identischen zum Nichtidentischen

sucht, findet in der Kunst das Umgekehrte statt: Das Nichtidentische erscheint dadurch, daß es erfaßt wird. Vgl. Kaiser: „Wenn Philosophie das Verhältnis zum Anderen vom Einen her sucht, ist Kunst ihr Spiegelbild: Sie ist das Erscheinen des Anderen am Einen." (KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, S. 137.) Das Erscheinen ist dabei als Einbruch von außen in einen Immanenzbereich zu verstehen, wie Kaiser betont: „Schein bedeutet nicht mehr primär eine Verweisung innerhalb dieser Welt oder aus ihr heraus, sondern umgekehrt eine Relation - das .Erscheinen' des Anderen - zu dieser Welt." (Ebd., S. 112.)

236 ÄT, S. 205. 237 ÄT, S. 263. 238 Ebd. 239 Auch darin äußert sich nach Lüdke die „Logik des Zerfalls": „Kunstwerke zielen auf das

Unmittelbare, das Nichtidentische und zerstören es, indem sie es zu identifizieren versuchen." (Lüdke: Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls", a. a. O., S. 48.)

240 ÄT, S. 155.

203

Unstimmigkeit oder Spannung äußert, die der Kunst wesentl ich ist, weil sie da-durch aufklärerisch wird, auf ihre Abhängigkeit von Rationalität und Naturbe-herrschung hinweist und zur Reflexion darüber drängt.241 Sie läßt das Ver-schwinden des Anderen im Neuen nicht im Verborgenen sang- und klanglos vonstatten gehen. Weil sie „dem, was sie selbst nicht sein können, zu einer Art von zweitem, modif iz ier tem Dasein verhelfen"242, sind Kunstwerke Schein, oder, wie Adorno es an anderer Stelle nennt, „Dinge[. . . ] zweiter Stufe"243 , in-dem „jenes Nichtseiende an ihnen, um dessentwillen sie existieren, vermöge der ästhetischen Realisierung zu einem wie immer auch gebrochenen Dasein ge-langt."244 In der Erscheinung dieses Nichtseienden, Noch-nicht-Gewesenen liegt für Adorno der Wahrheitsgehalt von Kunst. Das Neue ist daran doppelt beteiligt. Zum einen vertritt es selbst das Andere bzw. den anderen Geist als gerade erst Erfaßtes, und sei es negativ, zum anderen ist das Neue gleichzeitig das Mehr am Kunstwerk, das es transzendiert und damit das Andere bzw. den anderen Geist überhaupt erkennbar macht. Damit ist es „die Kategorie des Neuen, die im Kunstwerk repräsentiert, was noch nicht gewesen ist und wo-durch es transzendiert".245

Das, was noch nicht gewesen ist, erscheint in der Kunst der Moderne negativ und kann nur so überhaupt erscheinen:

„Vielleicht ist der tiefere Grund dessen, was ich als konstitutive Negativität der neuen Kunst zu beschreiben versuchte, daß anders als das Grauen oder die absolute Negativität jenes Motiv vom .Noch nicht Gewesenen', vom Kunst-werk überhaupt nicht erfahren werden kann; es ist die Utopie, das Unerfahr-bare, das Nichts. Bei Beckett kulminieren alle diese Motive."246

Bei Beckett f indet die negative Negation des verdinglichten Bewußtseins ihre extreme und nicht mehr zu überbietende Ausprägung. Negativität der Darstel-lung bedeutet hier zweierlei.247 Zum einen ist negativ das Nichtseinsol lende - in den Stücken Becketts die bis zur Absurdität übersteigerte Nachahmung der

241 Die Unstimmigkeit der modernen Kunstwerke resultiert aus der „Unmöglichkeit, die

im Einstand sich befehdenden Kräfte im Ausgleich zu halten" (Manfred KERKHOFF: Die Ret-

tung des Nichtidentischen. Zur Philosophie Th. W . Adornos. In: Philosophische Rundschau 21

[1974] 1 -2 , S. 65). Weil im Kunstwerk ein Überschuß an Rationalität besteht, kann nicht von

einer wirklichen Versöhnung von Rationalität und Mimesis die Rede sein. Wenn Wellmer Kunst

als „die Sphäre der scheinenden Versöhnung" (WELLMER, a. a. O. , S. 16) bezeichnet, dann darf

dieser Schein nur negativ aufgefaßt werden. Versöhnung ist nur als intendiertes, aber nicht er-

reichtes Ziel und damit als Utopie im Kunstwerk vorhanden, nicht als falscher Schein. Über ihr

„bleibt der Schatten der Sehnsucht" (BEIERWALTES, a. a. O., S. 274). 242 ÄT, S. 167. 243 ÄT, S. 152. Vgl. auch IN, S. 364, wo Adorno Schein als zweite Natur definiert. 244 ÄT, S. 167. 245 ÄT, S. 354. 246 V Ä , S. 73. 247 Vgl. zur Doppelbedeutung von „Negativität": THEUNISSEN, a. a. O., S. 4 1 - 6 5 .

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Realität des verdinglichten Bewußtseins - entsprechend der modernen Variante der Mimesis seit Baudelaire. Zum anderen bedeutet Negativität der Darstel-lung, daß sie etwas zeigt, indem sie es gerade nicht darstellt, also ein Nichtsei-endes durch Aussparung erscheinen läßt. Bei Beckett erscheint im Nichtsein-sollenden negativ die Utopie.

Indem das noch nicht Gewesene im Neuen ganz negativ erscheint, nähert es sich der realen Negativität der Welt an und ist in seiner extremsten Darstel-lung - wie sie Adorno bei Beckett sieht - von dieser schließlich nicht mehr zu unterscheiden: „Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechl iche aus, die Utopie."248 Die Negativität des Neuen, welches das falsche Bewußtsein negiert und durch seine Negativität ganz abstrakt bleiben muß, und die im Absurden zu sich selbst gekommene rationale Weltanschauung konvergieren in ihrer schockierenden Grauenhaft igkeit . In dem Moment absoluter Negativität , in dem Kunst in nichts mehr über sich hinauszuweisen scheint, in dem sie still-steht, fällt das Neue als negativer Ausdruck der Utopie mit dem Nichtseinsol-lenden zusammen, wie in Becketts Endspiel:

„Aber das bilderlose Bild des Todes ist eines von Indifferenz. In ihm ver-schwindet der Unterschied zwischen der absoluten Herrschaft, der Hölle [...] und dem messianischen Zustand, in dem alles an seiner rechten Stelle wäre. Das letzte Absurde ist, daß die Ruhe des Nichts und die von Versöhnung nicht auseinander sich kennen lassen."249

In ihrer Neuheit ist Kunst widersprüchlich: Im Neuen will sie das Andere her-beizitieren und überläßt es gerade damit seinem Untergang. Deshalb dauert das Erscheinen des Neuen als neu nur einen Augenblick. Das Neue ist Beginn des Erkenntnisprozesses und verschwindet deshalb, sobald der Prozeß in Gang ge-setzt ist. Ist das Kunstwerk nach Adorno „Prozeß und Augenbl ick in eins"250, so ist das Neue der Punkt, in dem sich beides verbindet. Der Zeitkern von Kunst ist aus erkenntnistheoretischer Sicht die auf den Augenbl ick der Neuheit zusammengestauchte Dynamik des Aneignungsvorgangs der Erkenntnis. Qua-litativ ist das Neue in der Kunst das gerade ins Bewußtsein gerückte Andere -positiv oder negativ - , in seiner Temporalität verbirgt sich der Prozeß des Ver-schwindens des Anderen. Im Noch-nicht-Erkannten ist das Andere ebenso präsent wie sein Verschwinden programmiert ist. Das Neue ist Kryptogramm des Untergangs des Anderen. Als Übergangserscheinung von Nichtidentität zu Identität ist das Neue nur ein Umschlag. Nur in der Umschlaghaft igkei t des

248 ÄT, S. 55. 249 ÄT, S. 321 . 250 ÄT, S. 154.

204

Neuen ist das Andere erkennbar.251 Es wird im Neuen der Erkenntnis übereig-net, obwohl das Andere im Neuen nicht positiv sichtbar ist. Dadurch, daß in ihr das Andere wie immer auch vermittelt erscheint, bringt Kunst die Men-schen zum Staunen. Das Staunen, die Wahrnehmung des Anderen im Neuen ist abhängig von dem Erkenntnisprozeß, den das Kunstwerk selber sowohl nach-vollzieht als auch kritisiert und dessen Kristal l isationspunkt das Neue ist.252

Das Neue wird unter zwei Perspektiven wahrgenommen. Für die mimetische Erkenntnis ist das Neue das, was einen Schauer auslöst, der rationalen Er-kenntnis erscheint es als Rätsel.

Die mimetische Erkenntnis von Ästhet ischem ist für Adorno der „spon-tane Vol lzug der objektiven Prozesse, die vermöge seiner Spannungen darin sich zutragen."253 Ästhet isches Verhalten ist demnach definiert „als die Fähig-keit, irgend zu erschauern, so als wäre die Gänsehaut das erste ästhet ische Bild. [...] Bewußtsein ohne Schauer ist das verdinglichte."254 Nur wer den mimeti-schen Schauer erfahren kann, ist in der Lage, die darin angelegte Möglichkeit der Entscheidung über Herrschen und Beherrschtwerden zu erkennen. Sofern das Neue das Andere, noch nicht Gewesene, bislang Unbeherrschte vertritt , löst es einen Schauer aus. Daher auch die Ablehnung des Neuen:

„[E]s steckt dahinter so eine Vorstellung wie die, daß eigentlich nichts Neues sein soll, daß das Neue eigentlich ein Moment der Unsicherheit, eine Gefähr-dung, etwas Beunruhigendes ist. Vielleicht steht dahinter sogar noch etwas sehr Archaisches, nämlich die Angst vor dem Ungleichen; die Angst vor dem, was nicht bereits von dem Netz unserer Begriffe übersponnen ist, wovor man dann, wenn es in irgendeiner Weise begegnet, erschrickt."255

Das Neue schockiert , weil die auf begriffl iche Erkenntnis angewiesene Rationa-lität ihm erst einmal hilf los gegenübersteht, und erinnert dadurch an den alten mimetischen Schauer, der die Menschen angesichts der realen Ubermacht der

251 Insofern könnte man mit Kerkhoff die Kunst in Adornos Ästhetik als „eine auf das

Aufblitzen von Wahrheit hinarbeitende Erkenntnisform" beschreiben. (KERKHOFF, a. a. O.,

S. 151.) 252 So geht auch Guzzoni davon aus, daß „die Haltung des Erstaunens" - Aristoteles zu-

folge der Ursprung der Philosophie - „von vorneherein getragen [ist] von der Grundvorausset-

zung, daß es nur ein vorübergehendes sein dürfe, daß es beseitigt werden müsse. [...] Während

die Erstaunlichkeit ein Aus-der-Rolle-Fallen ist, aus der Rolle des Bekannten, Vertrauten und

Gewußten, versteht sich die Philosophie als Einholen des Erstaunlichen in eine identische Ord-

nung, in der es seine feste Stelle erhält, um so seine befremdliche Nicht-Identität, nämlich

Nicht-Identifiziertheit, zu verlieren." (GUZZONI: Identität oder nicht, a. a. O., S. 259. - Vgl.

zum Erstaunlichen außerdem ebd., S. 285 ff.) 255 ÄT, S. 109. 254 ÄT, S. 489 -90 . 255 ADORNO: Nachgelassene Schriften. Hg. vom Theodor W . Adorno Archiv. Band 4:

Kants Kritik der reinen Vernunft (1959). Hg. von Rolf TlEDEMANN. Frankfurt am Main 1995, S. 45-6 .

205

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Natur, des nicht Beherrschten, ereilt und der den Aufk lärungsprozeß konst i tu-iert, weil er die Entscheidung über Herrschen und Beherrschtwerden einfor-dert.256 Umgekehrt schockiert das Neue ebenso durch seine Negativität , die das Negierte, d. h. die verdinglichte Rationalität als irrational entlarvt und damit wie bei Beckett ad absurdum führt . In der letzten Konsequenz ist der dadurch ausgelöste Schauer für Adorno „die Form der Adaption des Grauens der nicht mehr erfahrbaren Welt , von der wir abgesprengt sind, und die wir anders als in diesem Schauer nicht rezipieren können."257

Während Aufk lärung das von Rationalität Verdrängte festhalten möchte, jedoch daran scheitern muß, gelingt der Kunst diese Mnemosyne , und zwar in doppeltem Sinn. Kunstwerke sind „wahrhaft Nachbilder des vorwelt l ichen Schauers im Zeitalter der Vergegenständlichung; sein Schreckliches wiederholt sich vor den vergegenständlichten Objekten."258 Als selber aufgeklärte objekti-vieren sie den Schauer und reproduzieren damit im Schauer den Aufk lärungs-prozeß.259 Der Schauer selber wird damit kommensurabel , zu einem Menschli-chen gemacht, ohne daß er im bloßen Subjekt verschwände. Kunst bildet in der Konstellation des Neuen die Situation zum Beginn der Aufklärung nach und ist Symptom dafür, daß der Prozeß zwischen Rationalität und ihrem Anderen nicht endgültig entschieden ist, daß insofern Vorgeschichte fortdauert . Der Schock des Neuen im Kunstwerk, der aus der ungeklärten Konstellation von Rationalität und ihrem Anderen resultiert, verweist bei jedem authentischen Kunstwerk neu auf die Entscheidung, die den Gang der Aufk lärung best immt: „Das Wesen der Aufk lärung ist die Alternative, deren Unausweichl ichkeit die der Herrschaft ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Un-terwerfung unter Natur oder der Natur unter das Selbst."260 Die Bedeutung des Kunstneuen liegt darin, daß es diesen Schauer auslösen kann, ohne hinter dem Stand der Rationalität zurückzubleiben, es ist nicht regressiv: Das Neue in der Kunst ist kein unmittelbares Abbild des alten Schauers. Vielmehr weist Kunst gerade durch ihre Mimesis an Rationalität über diese hinaus. „Nur im Neuen vermählt sich Mimesis der Rationalität ohne Rückfal l : ratio selbst wird im Schauer des Neuen mimetisch".261 Im Neuen ist insofern die Entscheidung

256 Die Erfahrung des Schauers des Neuen entspricht so gesehen dem Gefühl „des Erhabe-nen als einem zwischen Natur und Freiheit in sich Erzitternden". (ÄT, S. 172.)

257 V Ä , S. 79. 258 ÄT, S. 124. 255 Ganz ähnlich hat Wohlfart das Neue interpretiert - jedoch nicht als epistemologische

Kategorie, sondern als Kategorie der Wahrnehmung: „Die Erfahrung ästhetischer Innovation

wird gemacht in einem Sprung. [...] Der Boden der Bedeutung, von dem wir gewöhnlich in der sinnlichen Wahrnehmung ausgehen, schwankt und nur diese Bewegung des Schwankens selbst wird zum .neuen Gegenstand'. [...] Ästhetische Wahrnehmung ist plötzliche Erinnerung dessen, wie Wahrnehmungen gemacht werden." (WOHLFART: Das alte Neue, a. a. O., S. 450-3 . )

DA, S. 49. 2 , 1 ÄT, S. 38.

206

über die Reaktion auf den Schauer bereits angelegt, als das Neue der erste Schritt zur Beherrschung des Anderen ist: „Aufgeklärt bleiben sie [die Kunst-werke, SZ] dabei, weil sie den erinnerten Schauer, inkommensurabel in der ma-gischen Vorwelt , den Menschen kommensurabel machen möchten."262

Sofern Kunst selber teilhat an Rationalität - durch das Moment der Kon-struktion - weist sie über sich hinaus. Das Neue, das bei der mimetischen Re-zeption einen Schauer auslöst, wird der rationalen Erkenntnis zum Rätsel.263 Es verbirgt etwas noch nicht Erkanntes, erscheint aber gleichzeitig bereits als lös-bar, integrierbar.

Kunstwerke, die nicht zur Reflexion auffordern, haben für Adorno wenig Chancen, überhaupt wahrgenommen zu werden. Ein Kunstwerk ist nur dann Kunst, wenn es einen Aneignungsprozeß in Gang zu setzen imstande ist, und das vermag es nur durch das Neue. Im Neuen, der neuen Konstellation, geht Kunst, die sich mimetisch zum Negierten verhält, über dieses hinaus. Im Neuen blitzt das Andere auf, Neues scheint es für einen Moment kompatibel zur Reflexion zu machen. Neuheit ist das Moment, mit dem die Kunst dazu auffordert , sich zu ihr zu verhalten, das Rätsel zu lösen.264

Im Neuen erscheint das Problem, das die Kunst seit Urzei ten bewegt und das sie mitkonst i tuiert hat, als Rätsel: nämlich das ungelöste Problem eines ad-äquaten Verhältnisses der Rationalität zu ihrem Anderen. „Das Neue ist die Gestalt, in der jeweils die Kunstwerke - insoweit sie Problem sind, das heißt, insoweit sie ein in sich nicht Gelöstes, nicht Berichtigtes vorstellen - zu sich

262 ÄT, S. 124. - Diese Entscheidung ist für Adorno auch richtig und nötig, denn Naturbe-

herrschung ist Voraussetzung für den historischen Fortschritt - auch wenn das Ziel die Versöh-

nung von Natur und Vernunft bleibt, als Eingedenken der Natur im Subjekt. (Vgl. SCHWARZ:

Entfesselung der Produktivkräfte und ästhetische Utopie, S. 452 f.) Der wiederholte „Sieg des

Subjekts über das Subjekt-Andere" läßt das Subjekt nicht länger „Beute der unsinnigsten

Schrecken sein". (SCHWEPPENHÄUSER: Aspekte eines aufgeklärten Kunstbegriffs, a. a. O.,

S. 123.) Baumeister und Kulenkampff haben deshalb in ihrer Interpretation der Dialektik der

Aufklärung die kritische Reflexion als „Therapie" bezeichnet: „die Heilung des Bewußtseins vom

Verfolgungswahn". (BAUMEISTF.R/KULENKAMPFF, a. a. O., S. 83.) Und genau darin besteht

wohl die Versöhnung von Rationalität und Mimesis im Kunstwerk: nicht darin, daß beide glei-

ches Recht bekommen, daß die Rationalität Rechte abtreten müßte, sondern darin, daß über-

flüssige Angst verschwindet; in der Erkenntnis, daß nicht alles, was anders und fremd ist, auch

bedrohlich ist und deshalb auch nicht unterdrückt werden muß. 265 Während urgeschichtlich Mimesis die erste Stufe der Erkenntnis und Rationalität die

zweite ist (vgl. GRIPP, a. a. O., S. 124 ff. und FRÜCHTL, a. a. O., S. 30 ff.), kann man wohl da-

von ausgehen, daß beide Erkenntnisformen in der Rezeption des Kunstwerks gleichzeitig statt-

finden, daß also das den Schauer Auslösende sogleich als Neues identifiziert wird. 264 Völlig unverständlich angesichts dieser Diagnose ist der Habermassche Vorwurf des Ir-

rationalismus bzw. des antiaufklärerischen Denkens: „Die Ästhetische Theorie besiegelt die

Abtretung der Erkenntniskompetenz an die Kunst, in der das mimetische Vermögen objektive

Gestalt gewinnt. Adorno zieht den theoretischen Anspruch ein". (Jürgen HABERMAS: Theorie

des kommunikativen Handelns. Bd. 1. Frankfurt am Main 1982, S. 514.)

? f i 7

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selbst kommen."* ' ' Die Form des Rüiscl.s ist bei jedem Kunstwerk anders, die Antwort zwar immer dieselbe, sie kann aber nur durchs Verschiedene erschei-nen, weil nur das qualitativ Verschiedene als Negation des falschen Bewußt-seins auftreten kann:

„Der Rätselcharakter blickt aus jedem Kunstwerk verschieden, doch so als wä-re die Antwort, wie die der Sphinx, immer dieselbe, wenngleich einzig durchs Verschiedene, nicht in der Einheit, die das Rätsel, täuschend vielleicht, ver-heißt. Ob die Verheißung Täuschung ist, ist das Rätsel.

Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rät-sels eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewin-nen."266

Diese Reflexion, so Adorno, muß am Neuen, am noch nicht Erfaßten ansetzen. Das Neue zeigt sich in den Konstellationen, die allerdings nicht selbst das Ge-meinte, sondern nur Chiffren sind, „ohne doch das Chiffr ierte , wie Phantasien, als unmittelbar Daseiendes vor Augen zu stellen."267 Neuheit ist also keines-wegs das Andere selbst, sondern der Punkt, an dem die Identif iz ierung des Anderen beginnt und der damit auch der Ansatzpunkt für einen anderen U m -gang mit dem Anderen ist. Im Neuen fordert Kunst dazu auf, die Entschei-dung über den Umgang mit dem Anderen zu überdenken, sich womögl ich in ein anderes Verhältnis zum Anderen zu setzen und letztl ich die Trennung zwi-schen Rationalität und ihrem Anderen zu reflektieren. Das Rätsel lösen heißt, den im Kunstwerk stil lgestellten Prozeß wieder in Gang zu setzen:

„Als Spannung zwischen den Elementen des Kunstwerks, anstelle eines einfa-chen Daseins sui generis, ist dessen Geist Prozeß und damit das Kunstwerk. Es erkennen heißt jenes Prozesses habhaft zu werden. Der Geist der Kunst-werke ist nicht Begriff, aber durch ihn werden sie dem Begriff kommensura-bel. Indem Kritik aus Konfigurationen in den Kunstwerken deren Geist her-ausliest und die Momente miteinander und dem in ihnen erscheinenden Geist konfrontiert, geht sie über zu seiner Wahrheit jenseits der ästhetischen Konfi-guration. Darum ist Kritik den Werken notwendig."268

Das Neue ist das jeweils auf dem Stand des zeitgenössischen Bewußtseins ak-tualisierte Rätsel. Es kann nach Adorno nicht gelöst werden. Die falsche Reak-tion wäre, das Neue auf Bekanntes zurückführen zu wollen. Statt dessen soll das Neue in seiner Neuheit belassen, seine Dunkelheit interpretiert statt aufge-hellt werden. Identif ikat ion ist zwar das, wonach das Neue verlangt und was ihm schließlich auch wiederfahren wird, aber diese Identif ikat ion ist nicht die

265 VÄ, S. 78. 266 ÄT, S. 193. 267 ÄT, S. 127. 268 ÄT, S. 136-7.

209

Lösung de» Rfttnel*, da» das Neue aufgibt . Die Reflexion führt bestenlal ls zu negativen Aussagen: „Die letzte Auskunft diskursiven Denkens bleibt das Tabu über der Antwort ." J ' v Das Rätsel kann und soll nicht gelöst, nur seine Unlös-barkeit beschrieben werden. Wenn Kunst durch Rückführen ihres Neuen auf Bekanntes erklärt wird, verliert sie das, was sie für die Erkenntnis interessant machte. Rationale Erkenntnis vernichtet das, was sie haben will. Deswegen ist

„die Erklärung moderner Kunst unbehaglich, erzeugt ein Unbehagen an der Kultur, die ja nichts anderes ist als die Praxis des Erfassens; ein Unbehagen, nicht weil die Kunstwerke tabu und schlechterdings spröde wären gegen die erkennende Haltung, sondern weil diese dem Unrecht tut, was erfaßt werden soll."270

Sowohl das Andere als auch das Verschwinden des Anderen lassen den Men-schen erschauern. Der Schauer, den das Neue der Kunst auslöst, ist der Schau-er, den das Unbekannte hervorruft , ebenso wie das „Grauen des Augenbl icks von Entzauberung"271 , in dem der Preis rationaler Erkenntnis, der Untergang des Anderen, sichtbar und im Versuch, das Rätsel zu lösen, erfahrbar wird.

c) Die Notwendigkeit des immer wieder Neuen

Die Entwicklung der Kunst ist abhängig von der Entwicklung des Bewußtseins. Indem Kunst jeweils für alles das spricht, was von der identif iz ierenden Ver-nunft ausgeschlossen bleibt, verläuft ihre Geschichte für Adorno folgerichtig parallel zur Aufk lärung: Je t iefer der Chor ismos zwischen den realen Dingen und den Ideen, desto schwieriger, aber auch wichtiger wird es für die Kunst, sich des jenseits des Chor ismos Liegenden zu bemächtigen. Die historische Dynamik der Kunst entsteht aus der erkenntnistheoretischen Perspektive da-durch, daß mit der zunehmenden Rationalisierung die Gestalt des zu Negie-renden sich ändert, die Kunst also verändert darauf reagieren muß. Mit der Veränderung des Bewußtseins verändert sich auch die Kunst. Diese Tendenz der Kunst läßt sich nicht an jedem einzelnen Kunstwerk explizieren, der Uber-gang von einem spezif ischen Kunstwerk zum nächsten geht nicht notwendig in diese Richtung. Deshalb ist auch nicht unbedingt das temporal Neueste , also jeweils Jüngste , das qualitativ Neueste. Als Gesamttendenz der Kunst ist für Adorno jedoch durchaus eine Entwicklungsrichtung auszumachen. Zwar ist die Geschichte von Kunst inhomogen und diskontinuierlich, jedoch ist sie ebenso-wenig zufäll ig wie kausal notwendig: „Wird nicht von einem Werk zum anderen übergegangen, so steht doch ihre Sukzession unter der Einheit des Problems. Fortschritt , die Negation des Vorhandenen durch neue Ansätze, f indet inner-

269 ÄT, S. 193. 270 VÄ, S. 23. 271 ÄT, S. 443.

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halb jener Einheit statt."272 Je stärker im allgemeinen Bewußtsein die Trennung von Rationalität und ihrem Anderen ausgeprägt ist, desto spannungsvoller wird auch die Kunst. Als „Säkularisierung von Transzendenz"273 wird sie in ihrer Gegenposition zur herrschenden Rationalität immer fragwürdiger, immer mehr zum Skandalon. Ebenso erhöht sich die innerkünstlerische Spannung zwischen ihren konstruktiven und mimetischen Elementen.

Der immer stärkeren Verdrängung des Anderen, der zunehmenden Ent-zauberung der Welt entspricht in der Kunst die Tendenz zur Vergeistigung, die einerseits eine Ausbreitung des mimetischen Tabus auch innerhalb der Kunst bedeutet und gleichzeitig eine Neubewertung der Form mit sich bringt. Ausge-macht werden kann diese Entwicklung nicht an jedem einzelnen Kunstwerk, sondern für Adorno gibt es „Knotenstellen"274 in der Geschichte der Kunst, die erst aus der Distanz betrachtet als konstitutiv für die Entwicklung erscheinen -nicht ohne daß gerade die nachfolgende Entwicklung Licht auf das Frühere wirft, so wie für Adorno der Nominalismus auf die Erkenntnis der vorangegan-genen Kunst zurückwirkt275 .

War vor der Moderne Neuheit eher temporal bestimmt und erst aus der Entfernung überhaupt als qualitativ Neues, als Veränderung erkennbar, so wird das Neue als qualitativ Neues in der Moderne zu einem Merkmal, das jedes ein-zelne Kunstwerk für sich in Anspruch nehmen wollen muß. Für Adorno ist dies die nominalistische Tendenz von Kunst.

„Damit [mit Nominalismus, SZ] meine ich nichts anderes, als daß anstelle des An-sich-seins oder der Gültigkeit übergeordneter Allgemeinbegriffe in zuneh-mendem Maß das tritt, daß die Allgemeinbegriffe eigentlich nur Zusam-menfassungen von einzelnen Erfahrungen sind, und das bedeutet auf die Kunst übertragen, daß die Kunstwerke immer weniger sich orientieren, sich immer weniger messen an dem Allgemeinbegriff der Gattung, in der sie sich befinden und daß sie stattdessen immer mehr die Tendenz haben, ein jedes in sich selbst als ein hic et nunc möglichst konkret auszuformen."276

Aus diesem Vorgehen der Kunst resultiert notwendig Neues. Diese Neuheit ist - abgesehen davon, daß sie von der Veränderung der außerkünstlerischen Realität abhängt - aus erkenntnistheoretischer Perspektive ähnlich wie aus der gesellschaftstheoretischen dreifach bedingt: Erstens negiert jedes Kunstwerk durch seine Identität mit sich selber alle vorangegangene Kunst. Zweitens weist jedes Kunstwerk durch seine immanente Unstimmigkeit über sich hinaus und fordert auf zu neuer Kunst. Drittens altert Kunst durch Rezeption und Identifikation, und das provoziert die Produktion von neuen Kunstwerken.

272 ÄT, S. 3 1 1 - 2 , 273 ÄT, S. 50. 274 ÄT, S. 312. 275 Ebd. 276 V o 6375 -6 .

211 133

Die Negation alle* Vorangegangenen ist zu einem Bewegungsgesetz der Kunst geworden:

„Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist fusioniert mit ihrem kritischen. Darum üben sie Kritik auch aneinander. Das, nicht die historische Kontinuität ihrer Abhängigkeiten, verbindet die Kunstwerke miteinander; ,ein Kunstwerk ist der Todfeind des anderen'; die Einheit der Geschichte von Kunst ist die dialektische Figur bestimmter Negation."277

Daß ein Kunstwerk das andere negiert, hat zwei Gründe. Der erste ist das Ver-bot der Nachahmung und der Affirmation: nominalistische Kunst negiert alles bislang Dagewesene, die Tradition als solche. In der Moderne wird die Kunst zur Avantgarde fortgeschrittenen Bewußtseins. Die Befreiung der Form geht einher mit dem Bewußtsein der Möglichkeit von Freiheit. Dieses wird erst sichtbar mit dem Anstieg von Verdinglichung in der Gesellschaft, die als uner-träglich empfunden wird und Ablehnung, Ekel, degoüt angesichts des hinter dem Bewußtsein der Kunst Zurückgebliebenen hervorruft. Der nicht stattfin-dende Fortschritt in der Gesellschaft ist Voraussetzung dafür, daß es einen Fortschritt im Bewußtsein geben kann und in der Kunst gibt. Auch so, in der Negation alles Bestehenden und Vorangegangenen mitsamt seiner Kunst ist Geschichte in den Kunstwerken präsent.

„Geschichte ist den Werken immanent, kein äußeres Schicksal, keine wech-selnde Einschätzung. Geschichtlich wird der Wahrheitsgehalt dadurch, daß im Werk richtiges Bewußtsein sich objektiviert. Dies Bewußtsein ist kein vages An-der-Zeit-Sein, kein Kaipö^; das gäbe dem Weltverlauf recht, der nicht die Entfaltung der Wahrheit ist. Vielmehr heißt richtiges Bewußtsein, seitdem das Potential von Freiheit aufging, das fortgeschrittenste Bewußtsein der Wider-sprüche im Horizont ihrer möglichen Versöhnung. [...] Als Materialisation fortgeschrittensten Bewußtseins, welche die produktive Kritik des je gegebe-nen ästhetischen und außerästhetischen Zustands einschließt, ist der Wahr-heitsgehalt der Kunstwerke bewußtlose Geschichtsschreibung [...]".278

Der zweite Grund dafür, daß ein Kunstwerk das andere negiert, ist das Gebot der Neuheit. Jedes Kunstwerk will nur mehr identisch mit sich selbst sein und sich deshalb von allem bereits Bekannten distanzieren, in seiner eigenen Spra-che sprechen:

„Dadurch also, daß die Konfiguration des einzelnen Werkes, die durch die ge-steigerte Verantwortung in dem Einzelgebilde anstelle der bloß äußerlichen

277 ÄT, S. 59 -60 . - Beierwaltes' Auffassung, nach der sich Adorno „dem Hegeischen

Aspekt einer produzierenden, kreativen (bestimmten) Negation beharrlich verschließt, die den

Prozeß gerade nicht bei einem einmal Erreichten stehen läßt, das Erreichte aber auch nicht als

total destruiert oder destruierbar ansieht, sofern der Prozeß Uber es hinaus fortschreitet", trifft

damit zumindest für Adornos Ästhetik nicht zu. (BEIERWALTES, a. a. O., S. 274.) 278 ÄT, S. 285 -6 .

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Verantwortung gegenüber seinein Oberbegriff getreten ist, immer zugleich das ist, was nicht schon im Oberbegriff liegt, was nicht schon da ist, was nicht schon allgemein bekannt wird, dadurch wird die Konfiguration des einzelnen Werkes, man könnte fast sagen, die Substanz des einzelnen Werkes, notwen-dig immer zugleich irgend ein Neues."279

Damit verhält sich Kunst nicht nur kritisch zum herrschenden Bewußtsein, sondern auch zu sich selbst. Ein Kunstwerk kritisiert alle anderen dadurch, daß es sich notwendig als neu darstellt. Indem das einzelne Kunstwerk sich der Identifizierung entzieht, steigt seine Spannung zur außerkünstlerischen Ratio-nalität ebenso wie zu anderen Kunstwerken. „Jede Anstrengung zur vollkom-menen Durchbildung des einzelnen Werkes nimmt [...] notwendig gegenüber dem verfügbaren sogenannten Vorrat der Kultur den Charakter des Neuen an."280

Kunstwerke negieren jedoch nicht nur vorangegangene Kunst, sondern je-des Kunstwerk weist durch seine notwendige Unstimmigkeit auch bereits über sich selbst hinaus.281 In der nominalistischen Phase der Kunst will Kunst nur sie selbst sein, reiner Ausdruck der Sache, kommt jedoch ohne Formung nicht aus. Diese Unstimmigkeit , an der die Kunstwerke leiden, ist für Adorno Ausdruck der grundsätzlich aufklärerischen Haltung von Kunst.282 Unstimmigkeit äußert sich immer, wo rationale und mimetische Aspekte der Kunst in Konkurrenz zueinander treten und unversöhnt bleiben: also im Konflikt zwischen dem Bestreben, sich mimetisch der Sache zu überlassen, und der objektivierenden

279 Vo 6376-7. 280 Vo 6447. 281 Für Beierwaltes liegt die Geschichtlichkeit der Kunst in ihrem Scheincharakter: Weil

Kunstwerke Schein sind dessen, „was sein kann, aber noch nicht ist. Dieser Begriff von Schein hängt mit der Geschichtlichkeit der Kunst zusammen: Kunstwerke weisen immer über sich hin-aus, sie produzieren sozusagen ihre eigene geschichtliche Transzendenz". (BEIERWALTES, a. a. O., S. 290.) Weil aber Adorno zufolge in der Kunst der Moderne Versöhnung auch nicht zum Schein realisiert ist, ist es wohl eher die reale, nicht scheinhafte Unstimmigkeit, die die Transzendenz hervorbringt, also das, was sein könnte, aber auch im Kunstwerk noch nicht ist. Diese reale Unstimmigkeit entspricht der Widersprüchlichkeit der Realität, die die Kunst wie die kritische Theorie „erst als solche hervortreten läßt und so auf ein Neues verweist." (TLCHY, a. a. O., S. 11.)

282 Welsch sieht in der Unfähigkeit der Kunstwerke zur Versöhnung bzw. ihrer Verweige-rung der Versöhnung ihre Erhabenheit. (WELSCH: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen, a. a. O.) Während gegen diese Definition nichts einzuwenden ist, kann man doch keineswegs davon ausgehen, daß in Adornos Ästhetik die Anerkennung des Erhabenen an die Stelle von Versöhnung getreten ist. Im Gegenteil ist die Erhabenheit in dieser Definition ge-radezu abhängig von der Idee der Versöhnung, die für Adorno als Utopie erhalten bleibt. Daß, wie Welsch meint, die Utopie als „Anerkennung unaufhebbarer Heterogenität", als „Gerechtig-keit gegenüber Heterogenem" (ebd., S. 197) gedacht werden muß, widerspricht nicht Adornos

Idee von Versöhnung, wenn man sie als Abwesenheit von Heteronomie versteht und nicht als Ausgleich oder Aufhebung von Gegensätzen.

213 133

Technik von Kunst; im Widerspruch zwischen der Prozeßhaftigkeii und der Fixierung; in der Unvereinbarkeit von Augenblickhaftigkeit und dem Anspruch auf Dauer; in der Neuheit, die das Andere repräsentiert und gleichzeitig ver-nichtet.

Kunstwerke wollen das Andere bzw. das andere Bewußtsein im Neuen zur Erscheinung bringen und übergeben es gerade damit seinem Untergang. Sie „töten, was sie objektivieren, indem sie es der Unmittelbarkeit seines Lebens entreißen. Ihr eigenes Leben zehrt vom Tod. Das definiert die qualitative Schwelle zur Moderne."283 Durch den Prozeß des Verschwindens des Anderen in ihnen geben moderne Kunstwerke zu verstehen, daß sie das Andere nicht haben, daß neue Kunst aufs neue versuchen muß, das Andere herbeizuzitieren. Daß das Kunstwerk seine Überbietung herausfordert,284 gilt für Adorno oft auch innerhalb des Werks einzelner Künstler: „Bei manchen verläuft die Pro-duktion geradezu so, als wollte das Neue nachholen, was das Vorhergehende, indem es sich konkretisierte und damit stets auch einschränkte, versagen mußte."285 Entsprechend hat umgekehrt das neue Kunstwerk tendenziell den Effekt, vorangegangene Kunst demgegenüber überholt bzw. veraltet wirken zu lassen.

Das Altern von Kunst ist jedoch nicht nur auf die Überbietung durch neue Kunstwerke, sondern auch auf die identifizierende, erklärende Rezeption zu-rückzuführen:

„Erk lä ren involv ier t , gewo l l t oder ungewol l t , a u ch e in Z u r ü c k f ü h r e n des

N e u e n u n d U n b e k a n n t e n auf Bekannte s , w e n n g l e i c h das Bes te an den W e r k e n

dagegen s ich s t räubt . O h n e so lche Reduk t i on , die an den K u n s t w e r k e n f r e -

ve l t , k ö n n t e n sie n i ch t for t l eben . Ihr Wesen t l i che s , das U n e r f a ß t e , ist auf

i den t i f i z i e r ende A k t e , auf Erfassen angewiesen ; es w i r d dadurch z u e i n e m Be-

k a n n t e n u n d A l t e n ver fä l scht . In so f e rn ist das Leben der W e r k e se lbst w i d e r -

spruchsvol l . " 2 8 6

Da das Neue in der Kunst die Funktion hat, Anderes der Rationalität kommen-surabel zu machen, ist das Altern des Kunstwerks bereits vorprogrammiert. Es ist dann nicht mehr neu, wenn es identifiziert wurde. Die temporale Dimension des Neuen, seine Dauer, ist damit abhängig von seinem qualitativen Aspekt. Wie lange ein Kunstwerk als neu angesehen wird, hängt davon ab, wie lange es dauert, bis seine spezifischen Qualitäten erkannt wurden. Sobald dieser Vor-

285 ÄT, S. 201. 28,1 Welsch hat zwar mit seiner Feststellung recht: „Unversöhnbarkeit, nicht Versöhnung

macht die Essenz der Werke aus." (WELSCH: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Er-habenen, a. a. O., S. 198.) Doch darf diese Unversöhnbarkeit nicht affirmativ und als abschluß-haft gesehen werden. Vielmehr ist sie der Kern der Dynamik von Kunst. Daß dadurch Kunst-werke ihre Überbietung fordern, heißt, daß am Ende doch Versöhnung intendiert ist.

285 ÄT, S. 311 . 286 ÄT, S. 521.

Page 107: Sylvia Zirden_Theorie Des Neuen_Konstruktions Einer Ungeschriebenen Theorie Adornos_2005

gang abgeschlossen ist, gilt das Kunstwerk nicht mehr als neu. Im Extremfall schrumpft die Dauer der Neuheit auf einen Augenblick. Ebenso ist es jedoch möglich, daß ein Kunstwerk sehr lange zumindest teilweise unverstanden bleibt und daher weiterhin zur Reflexion auffordert.

Für Adorno gibt es zum einen Kunstwerke, die zu Recht als veraltet gel-ten. Das sind Kunstwerke, die spannungslos zugänglich sind, kein Rätsel (mehr) darstellen, die deshalb meist auch nicht in den Kanon der Überlieferung aufgenommen, sondern zu Recht vergessen wurden. Die meisten der überlie-ferten Werke hingegen, der Kanon in Kunst-, Literatur- und Musikgeschichte darf nach Adorno nicht ohne weiteres als verstanden und damit als veraltet gel-ten. Das Altern dieser Werke ist in Wirklichkeit ein rein temporales, unechtes Altern, das nicht vom qualitativen Erfassen, sondern von der Aufnahme in den Kanon des Überlieferten, von ihrer Inventarisierung abhängig ist. In Wirklich-keit sind die Kunstwerke von Rang, die ihren Platz im Bildungskanon der abendländischen Tradition zugewiesen bekommen haben, viel weniger ver-ständlich als zeitgenössische Kunst: „Ideologisch verblendet ist der bürgerliche Haushalt der Kunst auch in der Supposition, daß Kunstwerke, die weit genug zurückliegen, besser verstanden werden könnten als die der eigenen Zeit. [...] Was allen für verständlich gilt, ist das unverständlich Gewordene."287 Auf diese Weise geht den Werken ihr kritischer Gehalt verloren, es wird vergessen, worin sie neu waren, worin sie Negation der außerkünstlerischen Realität waren. Das liegt vor allem daran, daß die Bedingungen, unter denen sie entstanden sind, in der späteren Rezeption nicht mehr präsent sind.

Kunstwerke wollen Anderes der Rationalität zugänglich machen, sie geben Rätsel auf und fordern zur Reflexion auf. Jedoch ist jedes „inventarisierende Bewußtsein der künstlerischen Vergangenheit [...] falsch. [...] Das Gegenteil einer genuinen Beziehung zum Geschichtlichen der Werke als ihrem eigenen Gehalt ist ihre eilfertige Subsumtion unter die Geschichte, ihre Zuweisung an historische Orte."288 In Wirklichkeit lassen Kunstwerke sich nicht gänzlich ver-stehen. Das gerade macht ihre Qualität aus, darin besteht ihre Spannung: „Das Nachleben der Werke, ihre Rezeption als Aspekt ihrer eigenen Geschichte, fin-det statt zwischen dem Nicht-sich-verstehen-Lassen und dem Verstanden-werden-Wollen; diese Spannung ist das Klima der Kunst."289 Deshalb ist das scheinbare Altern der Kunst auch ein Auslöser für die Produktion neuer Kunst. Die neuen Kunstwerke wehren sich gegen die Inventarisierung und künstliche Alterung der vorangegangenen Kunstwerke. Neue Kunst setzt an den Stellen

287 ÄT, S. 272 -3 . 288 ÄT, S. 290. 289 ÄT, S. 448. - Deshalb können auch Werke vergangener Zeiten als neu erscheinen, als

Schauer und Rätsel: „Sowenig an Werken, die anrühren, der Schauder verschwindet, sowenig

verschwindet ihr Rätselcharakter." (SCHWEPPENHAUSEN Aspekte eines aufgeklärten Kunst-

begriffs, a. a. O., S. 121.)

215 133

an, wo die kanonisierte Kunst nicht oder nur scheinbar verstanden ist. Deshalb ist der Grund für den Fortbestand der Kunst nicht nur der „Fortbestand der Nöte selber, die auf jenen Ausdruck warten, den für die wortlosen stellvertre-tend die Kunstwerke vollbringen."290 Auch wegen der ihr immanenten Unstim-migkeit besteht Kunst fort: Sie muß sich beständig erneuern. Weil Neuheit nicht dauern kann, wird sie in der Kunst wiederholt.

Seit sie den Konflikt zwischen Rationalität und ihrem Anderen in die For-derung nach Neuheit aufgenommen hat, ist Kunst in der praktischen Hinwen-dung zum Nichtidentischen der Philosophie voraus. Allerdings können Kunst-werke ebensowenig, wie sie das Nichtidentische ergreifen, das Neue festhalten. Sie wollen das Neue und geben gleichzeitig zu verstehen, daß auch sie es nicht haben können. Deshalb geht die Kunst einerseits nicht über die Philosophie hinaus, weil sie ebensowenig wie die Philosophie das qualitativ Andere positiv als Neues erfassen kann: „Das bis heute gefesselte Bewußtsein ist wohl des Neuen nicht einmal im Bilde mächtig: es träumt vom Neuen, aber vermag das Neue selbst nicht zu träumen."291 Andererseits kann Kunst dennoch negativ im Verschwinden des Anderen im Neuen die Existenz eines Anderen möglich er-scheinen lassen: „Die Kunstwerke haben ihre Autorität daran, daß sie zur Reflexion nötigen, woher sie, Figuren des Seienden und unfähig, Nichtseiendes ins Dasein zu zitieren, dessen überwältigendes Bild werden könnten, wäre nicht doch das Nichtseiende an sich selber."292

2 .0 ÄT, S. 512 . 2 . 1 ÄT, S. 3 5 4 - 5 2 .2 ÄT, S. 129.

Page 108: Sylvia Zirden_Theorie Des Neuen_Konstruktions Einer Ungeschriebenen Theorie Adornos_2005

Nvnbeit ills historische Kritik

Daß sich die Notwendigkeit von Fortschritt und Neuheit in der Kunst aus der notwendigen Unstimmigkeit und „prinzipielle [n] Unvollkommenheit aller Kunstwerke"293 ergibt, bedeutet, daß in der Qualität der Kunstwerke die Tem-poralität von Kunst, ihr Zeitkern und ihr Bewegungsgesetz angelegt sind. Weil in ihrem Neuen die Möglichkeit von Freiheit und das Andere gleichzeitig er-scheinen und verschwinden, weil also im Neuen Hervortreten ebenso wie Al-tern und Vergehen enthalten sind, bedeutet Neuheit Dynamik: Kunst muß sich immer wieder erneuern. Neuheit bestimmt den Verlauf sowohl der Kunstge-schichte als auch des einzelnen Kunstwerks. Für Adorno übt Kunst damit Kri-tik an den geschichtsphilosophischen Kategorien von Statik und Dynamik. In-dem sie im Neuen das dialektische Verhältnis von Statik und Dynamik zum Vorschein bringt, weist sie hin auf die Utopie eines Zustandes jenseits von Sta-tik und Dynamik. Durch die in seiner Dynamik eingeschlossene Vergänglich-keit negiert das Neue im Kunstwerk das Prinzip der Dauer von Kunst und die ihm zugrundeliegende Idee von Ewigkeit.

a) Utopie in Gestalt von Negativität

Mit ihrer Dynamik kritisiert Kunst die scheinbare Notwendigkeit des histori-schen Verlaufs, die leere Dynamik des scheinbar von selbst ablaufenden Fort-schritts und das diesen angeblich konstituierende scheinbare Neue, indem sie mit der Kunstgeschichte eine eigene, andere Dynamik hervorbringt und damit auch einen anderen Begriff des Neuen als Element dynamischer Veränderung vorführt. Kunst ist für Adorno kontinuierlich und diskontinuierlich, statisch und dynamisch in einem. Während die idealistische Annahme einer Stetigkeit des Fortschritts in der Geschichte dazu führt, daß ein Fortschritt, der qualita-tive Veränderungen einschließen würde, gerade nicht stattfinden kann,294

produziert Kunst in den Brüchen, die das Neue schafft, Möglichkeiten des Fortschreitens und des Neubeginns und damit eine von Freiheit statt von Notwendigkeit geprägte Form des Geschichtsverlaufs. Die Diskontinuität der Kunstgeschichte ist für Adorno Ausdruck ihrer Freiheit, und jede Kritik daran geht von einem falschen, weil statischen und unveränderlichen Begriff von Kunst und Kunstgeschichte aus. Kunst zeigt damit im Neuen die Möglichkeit von Freiheit und gesellschaftlicher Veränderung sowie die Fähigkeit des Gei-stes, über sich hinauszugehen und sich durch Negation zu entwickeln. Sie stellt

2 " V Ä , S. 73. 2 ,4 Dieser Zusammenhang zwischen Geschichtsauffassung und gesellschaftlicher Situation

zeigt sich deutlich in der von Theunissen konstatierten Begriffsverschiebung bei Adorno: „Was Benjamin .Kontinuum' nennt, heißt bei ihm .Immanenz'- oder .Verblendungszusammenhang'". (THEUNISSEN, a. a. O., s. 50.)

216

dem scheinbaren 1'uitsclmii , vier angeblich notwendigen, in ihrem Aul-der-Stelle-Treten statischen Geschichte, der schließlich leeren Dynamik keine ab-solute Diskontinuität gegenüber, denn diese wäre ebenso mit Unfreiheit ver-knüpft wie die absolute Kontinuität und Determination. Statt dessen ist es Ziel der Kunst, die starre Trennung der Gegensätze aufzuheben. Sie bringt in ihrer Abfolge von Neuheiten eine eigene Form von notwendigem Fortschritt hervor, der auf der Infragestellung ihrer selbst und ihres Begriffs beruht:

„Sie [die Kunst, SZ] muß gegen das sich wenden, was ihren eigenen Begriff ausmacht, und wird dadurch ungewiß bis in die innerste Fiber hinein. [...] In-dem sie angreift, was die gesamte Tradition hindurch als ihre Gmndschicht ga-rantiert dünkte, verändert sie sich qualitativ, wird ihrerseits zu einem Anderen. [...] Kunst hat ihren Begriff in der geschichtlich sich verändernden Konstella-tion von Momenten; er sperrt sich der Definition [...]. Die Definition dessen, was Kunst sei, ist allemal von dem vorgezeichnet, was sie einmal war, legiti-miert sich aber nur an dem, wozu sie geworden ist, offen zu dem, was sie wer-den will und vielleicht werden kann. [...] Deutbar ist Kunst nur an ihrem Be-wegungsgesetz, nicht durch Invarianten."255

Jedes neue Kunstwerk hat a priori die Bestimmung, daß es Kunst ist, während es gleichzeitig den Begriff der Kunst selbst mitkonstituiert, entsprechend der Adornoschen Auffassung, „daß Kunst über ihren eigenen Begriff hinausgehen muß, um ihm die Treue zu halten."296 Jedes moderne Kunstwerk negiert alles Vorangegangene und ist damit innovativ und kanonbildend: Es ist positiver Ka-non für sich selbst und negativer für alles folgende. Das heißt auch, daß jedes neue Kunstwerk nicht nur eine Veränderung des Kunstbegriffs bedeutet, son-dern auch eine der Kunst g e s ch i ck t e , und daß sie somit strenggenommen die der Kunstgeschichtsschreibung und der Geschichtsauffassung überhaupt zugrunde gelegten Prinzipien, wie die von Fortschritt, Stillstand und Dynamik, verändern müßte. Kunst als „antezipierende Reaktionsform"297 setzt durch ihre eigene historische Praxis einen Maßstab, an dem die außerkünstlerische Geschichte gemessen werden kann. Um Veränderung als qualitativen Fortschritt vorzufüh-ren, verändert Kunst sich selber und ihren Begriff: „Indem sie [die Kunstwerke, SZ] von der empirischen Welt, ihrem Anderen emphatisch sich trennen, be-kunden sie, daß diese selbst anders werden soll, bewußtlose Schemata von de-ren Veränderung."298 Das Kunstneue bestimmt dabei die historische Praxis von Kunst, es stellt die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft der Kunst her, weil es Kern ihres Bewegungsgesetzes ist. Damit ist im Neuen die historische Kritik institutionalisiert. Kunst setzt im Neuen den Möglichkeits-grund für eine veränderte Geschichtsauffassung und -gestaltung, für Verände-

295 ÄT, S. 10 -2 . 2 .6 ÄT, S. 50. 2 . 7 ÄT, S. 325. 2 .8 ÄT, S. 264.

133

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rungen, die Voraussetzungen für die Herstellung einer besseren Welt sind: „Die Wirklichkeit der Kunstwerke zeugt für die Möglichkeit des Möglichen."299

Diskontinuität in der Kunst demonstriert, daß ein von Menschen Gemachtes auch von Menschen aus Freiheit verändert werden kann, sie weist auf die Mög-lichkeit von Entscheidungs- und Handlungsfreiheit hin. Daraus resultiert auch das Glück am Unerfaßten, an der Dissonanz, an dem noch nicht Domestizier-ten.

Daraus kann jedoch nicht auf eine Kontinuität der Diskontinuität in der Kunstgeschichte geschlossen werden. Auch die „Einheit des Problems" ist „keine durchgängige Struktur der Geschichte von Kunst",300 wie sich überhaupt keine widerspruchsfreie Theorie der Geschichte von Kunst denken läßt. Der Grund dafür ist, daß Kunst nicht einfach ihrem immanenten Bewegungsgesetz folgen kann, sondern als fait social auch immer auf die gesellschaftlichen Gege-benheiten und das herrschende Bewußtsein und damit auf außerkünstlerische Geschichte und Geschichtsbewußtsein bezogen bleibt. Weil sie sich nicht nur negativ, sondern auch mimetisch zur Realität verhält, wird ihre Geschichte in-homogen und brüchig. So „greift Kunst gestisch nach der Realität, um in der Berührung mit ihr zurückzuzucken. Ihre Lettern sind Male dieser Bewegung. Ihre Konstellation im Kunstwerk ist die Chiffrenschrift des geschichtlichen Wesens der Realität, nicht deren Abbild."301 Ihre Geschichte ist kein Negativ zur realen, sondern vermittelt. Kunstgeschichte als in sich dialektischer Prozeß wird durchkreuzt von der dialektischen Beziehung der Kunst zu dem, was nicht Kunst ist. Nur durch diese Dialektik kann Kunst überhaupt etwas Ande-res sein, das betrifft ihre Dynamik ebenso wie nach Adorno ihre Logizität: „al-lein durch ihren Doppelcharakter, der permanenten Konflikt erzeugt, entragt sie dem Bann um ein Weniges."302

Auch die Kategorie des Neuen selbst stammt aus der außerkünstlerischen Geschichte; sie wird von der Kunst aufgenommen und verwandelt. Die im 19. Jahrhundert aufkommende Zunahme der Bedeutung des Neuen hängt für Adorno ebenso wie für Benjamin zusammen mit der Vermehrung der Gleich-heitserscheinungen in der Realität. Während das die qualitative Seite des Neuen, seine Verschiedenheit, betrifft, kann die Bedeutung des Neuen bezogen auf seinen temporalen Aspekt, seine Dynamik, als Reaktion auf den Verlust der Zeit, der aus der an die Stelle historischer Dynamik getretenen Wiederholung des Gleichen resultiert, gesehen werden.303 Die Negation der als irrational ver-standenen Tradition in der nicht-traditionalistischen, antifeudalen, bürgerlichen

2 " ÄT, S. 200. 300 ÄT, S. 312 . 301 ÄT, S. 425. 302 ÄT, S. 208. 303 Vgl. ÄT, S. 405 und V o 7090.

218

Gesellschaft104 und die Installierung der Vernunft als des unwandelbaren, stati-schen Wahrheitsprinzips bringt neben der Emanzipation von der Geschichte Erfahrungsverlust und Verlust von historischem Bewußtsein mit sich.305 Die vergangene Geschichte erscheint als „zweite Natur", als „Welt der Konven-tion"306, zu der das Neue keinen notwendigen Bezug hat. Bereits in seinem Aufsatz Die Idee der Naturgeschichte hat Adorno gegen diese Auffassung die dialektische Beziehung zwischen den Momenten des „Gewesenen" bzw. „ur-sprünglich Daseienden" und des jeweils Neuen, des „neu Werdenden" hervor-gehoben.307 So ist im angeblich statisch vorhandenen Mythisch-Archaischen Dynamik in Form von Dialektik angelegt,308 umgekehrt ist das dialektisch her-vorgebrachte Neue in Wahrheit archaisch.309 Während Adorno Tradition als feudale Kategorie, deren Verbindlichkeit sich nicht durch Vernunft, sondern durch Überlieferung legitimiert, ablehnt, ist es für ihn falsch, Historisches überhaupt für irrelevant zu erklären, sofern es sich nicht als nützlich und nach den Maßstäben der Vernunft richtig, als gesicherte Erkenntnis, als objektive, zeitlose Wahrheit erweist. Denn Ratio selbst ist ein historisch Gewordenes. So wird die Herrschaft des feudalen Prinzips der Tradition durch die Herrschaft des scheinbar ewig gültigen Prinzips der Rationalität ersetzt, die sich in Wahr-heit ihrerseits nur durch Überlieferung legitimiert. Erst damit kann der Begriff des falschen Neuen entstehen. Indem Traditionen nur noch als bezugslose Konventionen wahrgenommen, abgelehnt und vergessen oder als Kulturgut ar-chiviert werden, können der historische Zusammenhang, die Situationen, Fra-gen, Probleme, die zu bestimmten Ereignissen und Erkenntnissen führten, nicht mehr erfahren und diese deshalb in ihrer Funktion nicht mehr verstanden werden. Die angeblichen Innovationen in Wissenschaft und Technik erscheinen

30,1 Adorno unterscheidet mit Weber und Sombart zwischen traditionalistischen und nicht-traditionalistischen Perioden. Vgl. ÄT, S. 38.

305 Adorno beschreibt Fuhrmann zufolge drei „Fehlformen des Verhältnisses zur Vergan-

genheit": die „Vergötzung", „Verleugnung" und „Ideologisierung" (ideologisch motivierte Inter-

pretation und Inanspruchnahme) der Vergangenheit. Dabei handelt es sich jedoch nicht um

wirklich qualitativ verschiedene Auffassungen, sondern nur um verschiedene Wertungen einer

falschen Verabsolutierung, die auf dem Verlust von Erfahrung und historischem Bewußtsein be-

ruht. (Helmut FUHRMANN: Adornos Theorie der ästhetischen Tradition. Didaktische Überle-

gungen zum Problem literarischer Überlieferung. In: Neue Sammlung 12 [1972] H. 2,

S. 148-55 . ) Für die Entstehung eines positiv bewerteten (falschen) Neuen ist die Verleugnung

der Vergangenheit verantwortlich, die mit einer Verherrlichung der Gegenwart einhergeht. Die

„Vergötzung" der Vergangenheit schließt den gleichen Begriff des Neuen ein, nur daß er negativ

bewertet ist. Vgl. dazu NL, S. 6 9 - 7 0 (Zum Gedächtnis Eichendorffs). 306 IN, S. 356. 307 IN, S. 362. 308 IN, S. 3 6 2 - 3 . 309 IN, S. 364.

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als neu,310 weil sie nicht mehr in den Zusammenhang der Tradition gestellt wer-den können, die fremd und unverständlich geworden ist. Das Problem daran ist, daß Neuheit ohne Bezug auf ein Altes nicht qualitativ bestimmt werden kann. Traditionsloses Neues ist deshalb rein temporal bestimmt.311 Entschei-dend ist, daß gerade das angeblich absolut Neue im immer nur scheinbaren An-titraditionalismus Traditionen aufweist, die nicht bewußt, sondern im Verbor-genen vorhanden sind. Aus der Verleugnung dieser Geschichte resultiert Statik. Sie ist die auf den Zeitverlauf bezogene Gleichheit und bedeutet Ausschluß des Neuen, wie er sich für Adorno im Zeitalter der traditionslosen, gegenwartsbe-stimmten Massenkultur radikalisiert. Der Schein von Dynamik wird durch be-ständige und schneller werdende Wiederholung des angeblich Neuen herge-stellt:

„Immergleichheit regelt auch das Verhältnis zum Vergangenen. Das Neue der massenkulturellen Phase gegenüber der spätliberalen ist der Ausschluß des Neuen. Die Maschine rotiert auf der gleichen Stelle. Während sie schon den Konsum bestimmt, scheidet sie das Unerprobte als Risiko aus. Mißtrauisch blicken die Filmleute auf jedes Manuskript, dem nicht schon ein Bestseller be-ruhigend zu Grunde liegt. Darum gerade ist immerzu von idea, novelty und surprise die Rede, dem, was zugleich allvertraut wäre und nie dagewesen. Ihm dient Tempo und Dynamik. Nichts darf beim Alten bleiben, alles muß unab-lässig laufen, in Bewegung sein. Denn nur der universale Sieg des Rhythmus von mechanischer Produktion und Reproduktion verheißt, daß nichts sich ändert, nichts herauskommt, was nicht paßte."312

Es handelt sich bei dem scheinbaren Neuen um „Archetypen der Immergleich-heit", deren Gleichheit vom „Schleier der zeitlichen Sukzession" verdeckt wird.313 Die unendliche Reproduktion des falschen Neuen erzeugt die Illusion von Fortschritt, der ebenso falsch ist. Weil in ihr keine qualitative Veränderung mehr möglich ist, führt diese Geschichtsauffassung für Adorno zur „Entzeitli-chung der Zeit"314. Als abstrakter, statischer Begriff wird die angeblich ewige Zeit zur leeren Zeit.

Indem sich die Kategorie der Tradition im historischen Bewußtsein so ver-ändert, daß unter ihr nur noch leere Konventionen verstanden werden, ver-

310 Nicht nur die Kategorie des (falschen) Neuen ist Symptom für den Verlust des Zeitbe-wußtseins. Bohrer zufolge ist auch „das .Plötzliche' als zentrale Anschauungskategorie des mo-dernen Bewußtseins" eine „Aufhebung des Zeitbewußtseins als Erfahrung von Kontinuität". (BOHRER: Plötzlichkeit, a. a. O., S. 49.) Dagegen ist das wahre Neue nicht rein diskontinuier-lich, sondern auch bezogen auf Tradition, es verleugnet Kontinuität nicht.

311 Daraus resultiert das „Vakuum der Gegenwart, das, gleichermaßen abgeschnitten von Vergangenheit und Zukunft, eine immergleiche Verlängerung eines leeren, dimensionslosen, emphatisch zeitlosen Jetzt darstellt". (ALLKEMPER, a. a. O., S. 188-9 . )

312 D A , S. 156. 313 MM, S. 270. 314 ND, S. 326.

221

schiebt sich auch die Beziehung der Kunst zur Tradition. Mit dem Verlust der Tradition kann sich die Kategorie des Neuen etablieren:

„Wie die Kategorie des Neuen aus dem historischen Prozeß resultierte, der die spezifische Tradition zuerst und dann eine jegliche auflöste, so ist Moderne keine Aberration, die sich berichtigen ließe, indem man auf einen Boden zu-rückkehrt, der nicht mehr existiert und nicht mehr existieren soll; das ist, paradox, der Grund von Moderne und verleiht ihr normativen Charakter."115

Deswegen läßt sich das Neue nicht zurücknehmen. Indessen ist das Neue in der Kunst ein anderes Neues als das falsche Neue des leeren Fortschritts. Es leistet nämlich gleichzeitig Widerstand gegen den Verlust von Tradition, von historischem Bewußtsein, von Zeit:

„[.. .] man könnte wohl annehmen, daß die ungeheuere Bedeutung und die Ge-walt, die der Begriff des Neuen angenommen hat und der seitdem kein Künst-ler mehr sich entziehen konnte und auch heute sich nicht entziehen kann, der überhaupt einer ist, daß die damit zusammenhängt, daß sie auch gehört in den Bereich jenes Widerstandes gegen den Verlust der Zeit, der ja dann überhaupt zu einem der Apriorien der Kunst geworden ist."316

Zum richtigen Neuen als historische Kategorie gehören nicht allein Aktualität und Zeitgenossenschaft, sondern auch die Beziehung zum Zukünftigen wie zum Vorangegangenen:

„Es besteht bei der völligen Emanzipation des Neuen vom Alten und der Fas-sung des Neuen als des absolut Verschiedenen die Gefahr von dessen völliger Auslaugung. Das Neue ist nur zu fassen als die Antwort auf bestimmte Fra-gen, nicht freischwebend, sondern nur als der Moment des dialektischen U m -schlags."317

Kunst rückt das Verhältnis von Tradition und Neuheit in eine neue Konstella-tion. Sie ist weniger traditionsfeindlich als traditionskritisch. Neues in der Kunst versteht sich nicht als absoluter Neuanfang, als creatio ex nihilo, sondern ist sich durch kritische Haltung zur Tradition seiner Historizität bewußt. Es handelt sich weder um das nur scheinbare Neue des angeblichen Fortschritts noch um ein von der Tradition unabhängiges Neues. Das Neue in der Kunst setzt sich als bestimmte Negation vom Tradierten ab. Ohne das Vergangene gibt es auch kein Neues. Es entsteht nicht aus dem Nichts, sondern steht in ei-ner jeweils neu zu bestimmenden Beziehung zu früheren Kunstwerken: >5 Die absolute, individuelle Ursprünglichkeit des Kunstwerks ist bloßer Schein und ein Rückstand, während das Ursprüngliche im Kunstwerk allemal allein das als

315 ÄT, S. 4 1 - 2 . 316 V o 7090. 317 DP, S. 465 (Adorno).

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Neues aus einem schon Gewesenen Entspringende ist""". Kunst, dir diesen Be-zug verleugnet, läuft Gefahr, ganz beliebig, zufällig, sinnlos und inhaltsleer zu sein, während sie einen verborgenen, unbewußten Bezug zur Tradit ion hat, der gerade ihre wirkl iche Neuheit verhindert: „Was sich geschichtslos, reiner An-fang dünkt, ist erst recht Beute der Geschichte, bewußt los und darum ver-hängnisvoll".319

Für Adorno ist Negativität das bewegende und erzeugende Prinzip der Kunstgeschichte. Kunstwerke wollen die vorangegangenen überbieten, und sie wollen schaffen, was diesen nicht gelang. Für die Rezeption von Kunst bedeu-tet das, daß wer verstehen will, daß und worin ein Kunstwerk neu, negativ, kri-tisch ist, die Tradit ion, von der es sich abhebt, die Konventionen, die es bricht, kennen muß.320 Ebenso muß der Künstler, um die Tradit ionen und Konventio-nen negieren zu können, mit ihnen vertraut sein. So laufen nach Adorno jene, die die Tradit ion pauschal ablehnen, Gefahr, ihr um so stärker zu verfal len:

„Ein hemdsärmeliges Ignorieren der Tradition führt, ob technischer Unzu-länglichkeiten, meist zu einer nachträglichen Entdeckung der Tradition (Hin-demith). Dies scheint ein allgemeiner Sachverhalt der modernen Kunst zu sein, daß Künstler, die gleichsam exterritorial zur traditionellen Kunst anfan-gen, sich dann rückwärts bewegen".321

Dagegen waren gerade avantgardistische Künstler wie Schönberg am stärksten in der Tradit ion verwurzelt , wie Adorno aus eigener Anschauung schließen kann:

„Im Schönberg-Kreis des Wien der zwanziger Jahre überraschte die Stärke der Tradition bei den Antitraditionalisten [...]. Man mußte gleichsam gesättigt sein mit der Tradition, um sie wirksam zu negieren, um ihre eigene lebendige Kraft gegen das Erstarrte und Selbstzufriedene wenden zu können. Nur wo das Gewesene stark genug ist, um die Kräfte des Subjekts zu formen und zu-gleich ihnen sich entgegenzusetzen, scheint die Produktion des noch nicht gewesenen möglich."322

318 V o 3693. 319 ADORNO: Über Tradition. In: GS 10.1, S. 314. 320 Das muß vor allem auch deswegen betont werden, weil der Verlust des Zeitbewußtseins

in der Moderne dazu führt, daß in der Rezeption von Kunst das Neue als Schockmoment unre-

flektiert hingenommen wird. Auf die veränderte Rezeptionshaltung hat auch Brunkhorst hinge-

wiesen: „Die kulturellen Erwartungsstrukturen der Moderne sind in einem radikalen Sinn post-

traditional: ohne Angst vor Bodenlosigkeit. Ihre kulturellen Muster orientieren die Erwartungen

am Kontingenten, daran, daß alles auch anders sein könnte und plötzlich eruptiv Neues hervor-

bricht, die gewohnte Ordnung stört und mit dem Üblichen oft unsanft bricht." (BRUNKHORST:

Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 114.) 321 V Ä , S. 72-3 . 322 ADORNO: Kultur und Verwaltung. In: GS 8, S. 135-6 .

222

Adornos „Theorie der Tradition ohne Traditionalismus, in der die best immte Negation als Modell verwandelnder Tradit ionsbewahrung erscheint"323 , beinhal-tet die Idee eine» „geheimen Willens"524 künstlerischer Tradition. Gesättigt zu sein mit der Tradit ion heißt nicht nur, die Konventionen, Material ien und Techniken zu kennen, 3" sondern auch, den geheimen Willen der Kunst und die aus dem Unvermögen, diesen Willen durchzusetzen, result ierende Dynamik , ihre unterirdische Tradit ion zu verstehen und zu adaptieren. Jedes neue Kunst-werk greift die unterirdische Tradition des Anders- und Freiseinwollens auf und ist darin auf die Tradit ion bezogen.326 Die Leistung des richtigen Neuen besteht darin, nicht Tradit ion pauschal abzulehnen, sondern zwischen un-terirdischer und richtiger und falscher Tradition zu unterscheiden, zwischen dem, was in der Vergangenheit der unterirdischen Tradit ion gerecht wurde und was nicht.327 Die Auseinandersetzung mit der Tradit ion bedeutet ihre Bewer-tung. Neue Kunst lehnt Tradit ion nicht pauschal ab, sondern ref lekt iert ihr Verhältnis zur Tradition.

„In der unumgänglichen Reflexion, was möglich, was nicht mehr möglich sei; in der hellen Einsicht in Techniken und Materialien und die Stimmigkeit ihres Verhältnisses konzentriert sich geschichtliches Bewußtsein. Es räumt radikal mit der Schlamperei auf, der Mahler die Tradition gleichsetzte."328

Neues in der Kunst negiert damit zum einen die falsche Tradit ion als Automa-tismus der Konventionen und steht zum anderen für eine krit ische, differen-zierte Auseinandersetzung mit dem Tradierten. Durch seine best immte Nega-tion von Tradiertem ist dieses im Neuen doppelt aufgehoben: beseit igt und li-

323 SCHNÄDELBACH, a. a. O., S. 84 -5 . 324 NL, S. 70 (Zum Gedächtnis Eichendorffs). 325 Zimmermann geht zu Recht davon aus, daß Adorno zufolge „der Kunst die gesamte

Überlieferung, seien es Stile, Formen, technische Verfahrensweisen, Sujets oder Stoffe, narrative Handlungsschemata, Figurenkonstellationen oder Gattungen zum Material gerinnt. Damit er-hält Tradition als solche Materialqualität." (ZIMMERMANN, a. a. O., S. 149.)

326 Zum Verhältnis der neuen Kunstwerke zu den ihnen vorangegangenen stellt Zimmer-mann fest: „Ästhetische Anverwandlung als restituierte imitatio auetorum dringt in die techni-schen Probleme der vergangenen Werke ein, um diese einer potentiell neuen Lösung zuzufüh-ren. Die Einheit von Kontinuität und Diskontinuität vollzieht sich demnach zum einen an der Materialbasis, zum anderen im Rahmen der Korrespondenz von Problemfeldern und Problem-lösungsstrategien." (ZIMMERMANN, a. a. O., S. 151.) Dazu kommt Adorno zufolge der „ge-heime Wille" der Tradition und das Scheitern der vergangenen Kunstwerke an der Realisierung dessen, was sie realisieren wollten. Diese unterirdische Tradition wird in jedem neuen Kunst-werk fortgesetzt, sie ist überhaupt konstitutiv für Neues.

327 Darin besteht die Wahlmöglichkeit der Kunst, nicht darin, wie Werckmeister meint, Tradition pauschal zu akzeptieren oder nicht: „Die Auseinandersetzung des einzelnen mit dieser Tradition läßt sich seit dem neunzehnten Jahrhundert nicht mehr aufrichtig vermitteln. Es kommt zur Alternative zwischen Übernahme und Ablehnung." (WERCKMEISTER, a. a. O., S. 15.)

328 ADORNO: Über Tradition. In: GS 10.1, S. 3 1 9 - 2 0 .

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quidierc und ebenso bewahrt in der neuen Qualität, die ihrerseits gerade durch die Negation entsteht.

Wegen dieses veränderten Verhältnisses zum Tradierten entsteht in der Kunstgeschichte auch eine neue Art von Fortschritt ebenso wie von Tradition und von historischem Bewußtsein des Vergangenen. Qualitativ veraltet sind zum einen Kunstwerke, deren Problemstellung inzwischen gelöst wurde bzw. deren Probleme sich nicht mehr stellen, zum anderen solche, deren Niveau durch die Avanciertheit jüngerer Kunstwerke übertroffen wurde und die da-durch als nicht genügend durchgebildet oder als ideologisch erscheinen. So ge-sehen ist das Neue „urteilsloses Urteil"329, es vernichtet alles vorangegangene qualitativ Schlechtere, Unstimmigere. Im Neuen wird damit auch die Fehlbar-keit der vergangenen Werke erfahrbar.

Die Kriterien, nach denen das Vergangene bewertet wird, sind allerdings selber tradiert. Die tradierte Kunst wird an der Tradition dessen, was Kunst je-weils wollte und woran sie jeweils scheiterte, gemessen.330 Neue Kunstwerke beziehen sich durch bestimmte Negation auf das Mißlungene der Tradition:

„Ein jedes bedeutende Werk hinterläßt in seinem Material und seiner Technik Spuren, und diesen zu folgen ist die Bestimmung des Modernen als des Fälli-gen, nicht: zu wittern, was in der Luft liegt. Sie konkretisiert sich durchs kriti-sche Moment. Die Spuren in Material und Verfahrungsweisen, an die jedes qualitativ neue Werk sich heftet, sind Narben, die Stellen, an denen die vor-aufgegangenen Werke mißlangen. Indem das neue Werk an ihnen laboriert, wendet es sich gegen diejenigen, welche die Spuren hinterließen; was der Hi -storismus als das Generationsproblem in der Kunst traktiert, führt darauf zu-rück, nicht auf den Wechsel bloß subjektiven Lebensgefühls, oder den der etablierten Stile."331

Durch die Negation jedoch bleibt das negierte Alte im Neuen als Negiertes, als Veraltetes enthalten. Dadurch ist die Spannung zwischen Tradition und Neuem in jedem Kunstwerk enthalten. Es macht damit seine eigene Historizität sicht-bar und enthält den Möglichkeitsgrund für seine eigene Neuheit :

329 ÄT, S. 37. 330 Die Fortsetzung der Tradition besteht damit auch im Scheitern, das auch jedes neue

Kunstwerk erwartet. Es ist für Adorno eine Invariante der Kunst, wie Allkemper festgestellt hat: „Ist das Neue der Versuch einer Antwort auf die unbeantwortet gebliebene Frage des Al -ten, dann kommt dem Ungelösten des Alten, seinem Scheitern, ein normatives Moment zu [...]. Die Norm, die dieses Scheitern gesetzt hat, hat Adorno akzeptiert, eine Norm, die nicht ab-strakt verhängt wird, sondern die der Entwicklung der Kunst selbst, ihrer eigenen Logik ent-springt." Deshalb ist Allkempers Diagnose nur konsequent: „die avancierteste Form des Schei-terns stellt aber die Avantgarde dar, die in ihrer Antwort auf die Krise der Kunst selbst schei-tert." (ALLKEMPER, a. a. O., S. 195.)

331 ÄT, S. 60.

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„'l'atsächlich erweisen sich heute die Werke der Generation von Schönberg und Picasso als durchsetzt von Elementen, die ihrer reinen Konsequenz und Durchbildung sich widersetzen; von Rudimenten dessen, wovon sie abstießen. Aber das beeinträchtigt nicht die Qualität. Die Authentizität solcher Produkte könnte gerade in dem Prozeß zwischen dem noch nicht Gewesenen und dem Gewesenen ihre Substanz haben, an dem das Neue sich reibt und seine Gewalt vermehrt. Diese Spannung haben die Gebilde etwa aus dem Dezennium vor dem Ersten Weltkrieg vor den stimmigeren nach dem Zweiten voraus, und sie erlaubt ihnen zu überleben; der Spannungsverlust in so vielem Späteren könnte eine Funktion sein von dessen eigener Konsequenz."332

Tradition ist jedoch nicht nur als negierte im Neuen aufgehoben, sondern noch nicht gelöste Probleme setzen sich im Neuen fort. Die Anwesenheit von Altem im Neuen besteht nicht im Wiederauftreten von Versatzstücken. Umgekehrt sieht sich das Alte im Neuen aufgehoben, weil die Probleme, an denen es ge-scheitert ist, im Neuen weiterverfolgt werden. Im Alten als vergangenen Neuen war diese Fortsetzung bereits angelegt, weil sein Scheitern seine eigene Nega-tion verlangt: „Aufs Neue drängt die Kraft des Alten, das, um sich zu verwirk-lichen, des Neuen bedarf. [...] Seine Zuflucht hat das Alte allein an der Spitze des Neuen; in Brüchen, nicht durch Kontinuität."333

Indem neue Kunst an den ungelösten Problemen der vergangenen Kunst weiterarbeitet, zieht sie ihre Legitimität aus dem Alten. Das Neue in der Kunst kann überhaupt erst aus der Auseinandersetzung mit der Tradition, mit der Geschichte von Kunst entstehen, weil das Bewußtsein für die Notwendigkeit des Neuen ein historisches Bewußtsein ist, das auch das Bewußtsein ihrer eige-nen Vergänglichkeit einschließt, ihrer unterirdischen Tradition des Scheiterns. Sie ist in der Vergänglichkeit jedes Neuen aufgehoben. Kunst erinnert damit im Neuen ans Vergängliche: „Sie bewahrt und vergegenwärtigt es, indem sie es verändert".334

Neuheit in der Kunst als Vorbild für wirklichen Fortschritt besteht nicht in der zwanghaften Ablehnung alles Früheren, sondern in der Veränderung dessen, was verändert werden muß, und in der Bewahrung dessen, was bewah-renswert ist. Fortgeschrittenes Bewußtsein beweist sich auch in scheinbarer Rückständigkeit, indem es sich die Freiheit nimmt, Vergangenes zu lieben. Da-durch, daß das Alte im Neuen aufgehoben ist, erinnert Kunst auch an die ver-gangene Neuheit des Alten. Das Neue im Alten ist die in ihm enthaltene dia-lektische Konstellation von Erscheinen und Verschwinden des Anderen und der Möglichkeit von Freiheit, vom Versuch der Realisierung des Möglichen und dem Scheitern daran. Es ist der vergangene KOupö«;, der günstige Augenblick, den die Kunst im Gegensatz zur Realität versuchte zu nutzen. Daß Kunst-

332 NL, S. 192 (Vaterys Abweichungen), vgl. auch Vo 3670. 333 ÄT, S. 40. 334 ÄT, S. 339.

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werke als veraltet erscheinen, liegt nach Adorno auch an der Scham über den verpaßten Augenblick:

„Vielleicht ist es aber derart um alles Veralten bestellt. Es erklärt sich nicht aus der b loßen zeit l ichen Distanz, sondern aus dem Urtei lsspruch der Geschichte. Sein Ausdruck an Dingen ist die Scham, die den Nachgeborenen im Anges icht der früheren Mögl ichke i t ergreift, der er zum Leben zu helfen versäumte. Was vollbracht war, mag vergessen werden und bewahrt sein in der Gegenwart . Veraltet ist stets nur was mißlang, das gebrochene Versprechen eines Neu-en."335

Paradoxerweise ist aber gerade die mythische Immergleichheit, d. h. die Tatsa-che, daß sich weder im Bewußtsein noch in der Gesellschaft etwas ändert, auch Voraussetzung dafür, daß es Kunstwerke gibt, die nicht wirklich altern. Solange alles beim Alten bleibt, bleiben sie im Verborgenen aktuell. Das Alte darf des-halb wie das Neue nicht rein temporal, sondern muß auch qualitativ beurteilt werden, um das Neue, d. h. das auf die Utopie der Versöhnung Verweisende in ihm zu sehen:

„Die großen Werke warten. [...] Einer befreiten Menschheit sollte das Erbe ihrer Vorzeit , entsühnt, zufallen. Was einmal in e inem Kunstwerk wahr gewe-sen ist und durch den Gang der Geschichte dementiert ward, vermag erst dann wieder sich zu öffnen, wenn die Bedingungen verändert sind, um derentwil len jene Wahrhei t kassiert werden mußte : so tief sind ästhetisch Wahrhei tsgehal t und Geschichte ineinander. Die versöhnte Realität und die wiederhergestel l te Wahrhei t am Vergangenen dürften miteinander konvergieren. Was an vergan-gener Kunst noch erfahrbar ist und von Interpretation zu erreichen, ist wie eine Anweisung auf einen solchen Zustand. [...] Zeit allein ist ke in Krite-rium."336

Neue Kunst ist in der abwartenden Haltung mimetisch zur authentischen Kunst der Vergangenheit. So ist für Adorno in der modernen Kunst eine kon-servative Tendenz auszumachen. Danach

„hat alle Kunst, auch die avancierte, an sich bereits etwas Konservatives ange-nommen, den Gestus des Uberwinterns. Noch wer zum Äußers ten geht, und vielleicht er am ehesten, arbeitet, Vinter höchst ungewissen Auspiz ien, an ei-nem Vorrat , über den erst eine versöhnte Menschheit verfügte; was er tut, ist nicht so aktuel l , wie er vermeint, sondern möchte an besseren Tagen einmal erwachen."337

Sowohl die vergangenen Werke, die warten, als auch die gegenwärtigen, die sich aufs Uberwintern einstellen, sind darin auf eine Utopie bezogen, die Utopie ei-ner gänzlich veränderten Gesellschaft, eines absolut Neuen. Damit vermittelt

335 MM, S. 104. 336 ÄT, S. 67 f. - Vgl. zur Rettung vergangener Kunst: ALLKEMPER, a. a. O., S. 1 8 7 - 9 9 . 337 NL, S. 190 (Val^rys Abweichungen).

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das iradilionsbe/ogene gegenwärtige Neue zwischen der Vergangenheit und der Zukunft: der Utopie der absolut anderen Gesellschaft, des versöhnten Zu-standes, des im Vergleich zum Gegenwärtigen absolut Neuen.338 Es ist nicht al-lein kritisch zum Bestehenden, sondern: „Das, was Kunst eigentlich will, ist ja nun wirklich gerade das, was noch nicht da war, das Moment der Utopie des Neuen in einem emphatischen Sinn, also dessen, was aus dem Kreis des Im-mergleichen eigentlich hinausführt."339 Im gegenwärtigen Neuen treffen sich damit zwei Intentionen des Kunstwerks: die kritische und die utopische.340 Da-her ist das Neue im Kunstwerk gleichzeitig Negation des Vergangenen und Methexis am absolut Neuen, zum Scheitern verurteilte Antizipation der Utopie und gerade darin auch wieder der unterirdischen Tradition der Kunst folgend. So verbinden sich im Neuen — zum ersten Mal bei Baudelaire — Negation und Utopie: „Man wird sagen dürfen, das Neue bei Baudelaire sei die Utopie in der Gestalt der Negativität."341

Während Adorno von einer „Antinomik des ästhetisch Neuen"342 spricht, die aus dem Anspruch des Neuen, absolut neu zu sein, und seiner Unfähigkeit dazu, seiner Gebundenheit an die Wiederholung von Gleichem, resultiert, muß man wohl eher differenzieren zwischen zwei Neuheitsbegriffen: dem des ab-solut Neuen und dem des jeweils gegenwärtigen, realisierten Neuen im Kunst-werk. Das Andere zur Rationalität wäre absolut neu, das Telos der gesellschaft-lichen Utopie wäre absolut neu, nicht jedoch das gegenwärtige Kunstwerk. Ra-dikale Andersheit und Neuheit ist - wie Benjamin zuerst konstatiert hat - ein Produkt des rationalistischen Dualismus, dessen Falschheit das Kunstwerk in der Unmöglichkeit, absolut Neues zu produzieren, offenlegt:

„Das Verhältnis z u m Neuen hat sein Model l an dem Kind, das auf dem Klavier nach e inem noch nie gehörten, unberührten Akkord tastet. Aber es gab den Akkord immer schon, die Mögl ichkei ten der Kombination sind beschränkt , eigentl ich steckt alles schon in der Klaviatur. Das Neue ist die Sehnsucht nach dem Neuen, kaum es selbst, daran krankt alles Neue. Was als Utopie sich fühlt , bleibt ein Negat ives gegen das Bestehende, und diesem hörig. Zentral unter den gegenwärt igen Ant inomien ist, daß Kunst Utopie sein muß und wil l und zwar desto entschiedener, je mehr der reale Funkt ionszusammenhang

338 Vgl. dazu ZIMMERMANN, a. a. O. , S. 145. 339 V o 6442. 340 Diese Verknüpfung von Negation und Utopie ist nicht zufällig, sondern notwendig.

Das macht z. B. auch Uedings Beschreibung von Literatur als Utopie deutlich, wonach deren

Beziehung zur Realität „wie die der Erfüllung zum Mangel" und „Vorgriff auf neue Erlebnis-

wirklichkeiten" ist. (Gert UEDING: Literatur ist Utopie. In: ders. [Hg.], a. a. O., S. 7, 10.) -

Noch deutlicher argumentiert Osterkamp: „In der Negation ist die Utopie bewahrt, wie ebenso

ohne die Utopie die Negation um ihren Sinn gebracht wäre. In Adornos ästhetischer Theorie

rettet das Kunstwerk in der Negation die Utopie." (OSTERKAMP, a. a. O., S. 104.) 341 Vo 11275. 342 ÄT, S. 405.

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Utopie verbaut; daß sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trout zu verra-ten, nicht Utopie sein darf."343

Kunst bleibt ans Immergleiche gefesselt. Baudelaires in Le voyage art ikul iertes Dilemma, ein absolut Neues finden zu wollen, aber zu wissen, daß es ein sol-ches nicht geben kann, ist nach Adorno eine der Grundantinomien der moder-nen Kunst. Man kann das absolut Neue nicht einmal denken, es ist noch nicht einmal negativ beschreibbar. Selbst wenn absolute Neuheit absolute Negat ion bedeutete, dann wäre das Negierte als Negiertes im absolut Neuen aufgehoben, womit dieses dann doch nicht absolut neu wäre. Ein von allem Bestehenden Verschiedenes wäre gar nicht erkennbar, ein von allen bekannten Begriffen un-abhängiges, absolut Neues ist nicht benennbar, es ist das wegen seiner „Inkom-mensurabil ität zum Immergleichen" „Grauenhafte", „goüt du neant"344 . Man kann es ebensowenig denken wie die Möglichkeit eines Auftauchens von Neuem aus dem Nichts. Deswegen ist das Neue nach Adorno immer schwä-cher als das Immergleiche. Darin, das Neue dennoch zu geben, dennoch an der Utopie eines ganz Neuen festzuhalten, liegt für Adorno das Bestreben der Kunst. Kunstwerke können absolute Neuheit ebensowenig erreichen wie Stimmigkeit , aber: „Die Kunstwerke müssen auftreten, als wäre das Unmögl i -che ihnen möglich".345 Die Utopie des absolut Neuen ist gerade im Scheitern des gegenwärtigen Neuen aufgehoben:

„Versprechen sind die Kunstwerke durch ihre Negativität hindurch, bis zur totalen Negation [...]. Die ästhetische Erfahrung ist die von etwas, was der Geist weder von der Welt noch von sich selbst schon hätte, Möglichkeit , ver-hießen von ihrer Unmöglichkeit . Kunst ist das Versprechen des Glücks, das gebrochen wird."346

Die Geschichte der Kunst hat nach Adorno im Gegensatz zur leeren Dynamik der vom Identitätsprinzip gebannten Geschichte, deren Telos bestenfal ls die Katastrophe ist, durchaus ein Telos, sie verläuft als Vergeist igte nicht blind, sondern hat einen Zweck als geistige Ursache ihrer Bewegung, ein Ziel, eine Utopie. Das absolut Neue ist das , ,verborgene[.. .] Telos"347 von Kunst, auf das Kunstwerke durch ihr Scheitern und die damit verbundene Aufforderung an alle folgenden Kunstwerke, es besser zu machen, zielen. Das jeweils Neue eines Kunstwerks enthält einen geheimen Auftrag, der ihm „normativen Charak-ter"348 verleiht, wie in Baudelaires Le voyage: „Das Neue erscheint also hier als eine Parole, und zwar als die Parole, der zuzustreben ist, es ist sozusagen die

343 ÄT, S. 55. 344 ÄT, S. 40. 345 ÄT, S. 253. 346 ÄT, S. 204-5. 347 ÄT, S. 40. 348 VÄ, S. 51.

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verschlossene I )rder, the dem Schiff beigegeben ist, das da nun segelt, und erst auf offener See dann geöffnet werden darf."349

Weil Utopie nicht positiv darstellbar ist,350 kann ihr Ausdruck in der Kunst nur negativ sein. Das absolut Neue der Utopie darzustel len und damit festzu-schreiben, ist ebenso falsch wie der Versuch, die Katastrophe als negative Uto-pie zu beschreiben, wie ihn Huxley in Brave New World unternommen hat. Seine Beschreibung der zukünftigen Katastrophe ist nichts anderes als eine Radikalisierung der gegenwärtigen Verhältnisse und für Adorno deshalb falsch, weil sie fatalistisch die Möglichkeit eines Besseren negiert und allen später Ge-borenen die Unfähigkeit zur Freiheit als Erbsünde unterstel l t : „Die Fiktion der Zukunft verbeugt sich vor der Allmacht des Gegenwärtigen".351 Gerade diese Allmacht, die auch für das Zukünft ige gelten will, gilt es als falsch zu entlarven: „Ein Moment des Schuldzusammenhangs bildet das Bewußtsein, er könne nicht durchbrochen werden. Den Identitätssatz durchschauen aber heißt , sich nicht ausreden lassen, daß das Entsprungene den Bann des Ursprungs zu bre-chen vermöchte."352 Daran arbeitet Kunst, ohne die Zukunft positiv darstellen zu wollen, weder als Katastrophe noch als Utopie, weil sie damit die Möglich-keit von Freiheit, des Eintretens der Utopie negierte.

Jede Festlegung des Begriffs der Utopie ist falsch, weil die Zukunft offen bleiben muß. Das verborgene Telos der Kunst, das absolut Andere, Neue ist als Begriff anders als statisch zu denken, und dazu darf es auch nicht als absolute Negation des beständigen Bestehenden verstanden werden: „Die Kategorie des Neuen fällt als abstrakte Negation der des Beständigen mit dieser zusammen: ihre Invarianz ist ihre Schwäche."353 Das Neue als Utopie ist variabel und voll-kommen abstrakt. Die Abstraktheit des Begriffs des Neuen - des absolut Neuen der Utopie ebenso wie des zukünft igen Neuen in der Kunst - resultiert aus der Unmögl ichkei t , mit vom Vergangenen und Gegenwärt igen abgeleiteten Begriffen etwas, was erst noch werden muß, zu bestimmen,354 denn Begriffe binden das Denken an das, was ist. Auch Kunst kann bestenfalls vermittelt , wie im Absurden bei Beckett, nur „die Möglichkeit eines Wahren, das nicht einmal

349 Ebd. 350 Vgl. ÄT, S. 461. - Wellmer zufolge ist für Adorno das Kunstwerk „die scheinhaft-

sinnliche Präsenz eines weder Denk- noch Darstellbaren - die Wirklichkeit im Stande der Ver-söhnung." (WELLMER, a. a. O., S. 61.) Eine solche positive Repräsentation der utopischen Ver-söhnung kann es im Kunstwerk für Adorno aber nicht geben, sondern nur den augenblickhaften Einstand im dialektischen Prozeß, denn jeder Versuch der dauerhaften Versöhnung von Ant-agonismen im Kunstwerk ist zum Scheitern verurteilt.

351 ADORNO: Aldous Huxley und die Utopie. In: GS 10.1, S. 122. 352 ME, S. 46-7. 353 ÄT, S. 404. 354 Dazu Wellmer: „Es kann keine Begriffe mehr geben, in denen wir den Stand der

Versöhnung denken könnten; dessen Idee erscheint gleichsam nur ex negativo am Horizont von Kunst und Philosophie". (WELLMER, a. a. O., S. 19.)

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mehr gedacht werdeil kann"3", andeuten. In seiner Vorlesung im Sommerseme-ster 1961 spricht Adorno ausführlich über den Begriff des Neuen, den er als zentral für die Konstruktion einer Ästhetik begreift . Es geht um die Abstrakt-heit des Begriffs des Neuen, der auch als negativer bereits zu best immt ist. Adorno versucht, das Neue zu werten als Begriff, der kein Allgemeinbegriff üblicher Gestalt ist, sondern dessen Besonderheit darin besteht, daß er nur als Wort feststehend ist, sein Gehalt aber völlig unbest immt und variabel, weil es zum Wesen des Begriffs des Neuen gehört, daß er immer etwas Neues meint, von dem auch nicht gesagt werden kann, ob und inwieweit es mit Bekanntem übereinst immt. Das unterscheidet ihn von allen anderen Begriffen:

„Es ist also dieser Begriff des Neuen insofern anders als andere Invarianten, als er wirklich nicht eine abstrakte Allgemeinheit für alle möglichen darunter befaßten Phänomene ist, von denen dann nichts übrig bleibt, sondern er ist viel eher, ja, ein Kryptogramm, das Tabu, das festzunageln, das fest auszu-drücken, was eben dadurch, daß man es festnageln und vorwegnehmen will, bereits falsch und bereits willkürlich dekretiert wird. Kryptogramm [...] heißt hier so viel wie ein geheimes Zeichen oder, lassen Sie mich ganz schlicht sa-gen, wie ein X, das man hierhin schreibt, eben um der Gefahr sich zu entzie-hen, durch eine falsche Festlegung und falsche Vergegenständlichung den Be-griff um seinen eigenen Gehalt zu bringen. Das heißt, was diesem Kriterium des Neuen in der Kunst genügt, das ist selber etwas, was jeweils nur abgeleitet werden kann aus dem Stand der gesamten künstlerischen Produktivkräfte und ihrem Verhältnis zu der Gesellschaft in einem bestehenden Zeitpunkt. Das Neue auszupinseln, nun das wäre etwa gleich töricht wie wenn man auspinseln wollte, wie eine richtige Gesellschaft auszusehen hat."356

U m den Begriff des Neuen als Invariante der Kunst zu retten, versteht Adorno ihn als variable Invariante der Kunst. Als Norm ist er eine „negative[. . . ] Invari-ante"357, weil jedes Neue negativer Kanon für die Kunst wird.

Das realisierte, aktuelle Neue kann als best immte Negation des Vergange-nen und Gegenwärt igen beschrieben werden, gleichzeitig ist es Methexis am absolut Neuen der Utopie. Das zukünft ige Neue ist inhaltlich völlig unbe-stimmbar, und die Utopie, an der es teilhat, wird eine andere sein als die aktu-elle. Entsprechend der Adornoschen Best immung von Wahrheit in einer Dis-kussion mit Horkheimer3 5 8 könnte man sagen: Die Utopie ist jeweils der Inbe-griff der Negation alles dessen, was am jeweils Bestehenden falsch ist. Auch Utopien veralten. So ist für die Kunst die Idee des absolut Neuen, die in Ador-nos Geschichtsphilosophie als heuristisches Prinzip unabdingbar ist, r ichtung-

355 NL, S. 3 1 9 (Versuch, das Endspiel zu verstehen). 356 Vo 6456-7 . 357 Vo 6448. 358 „Der Begriff der Wahrheit entzieht sich der erkenntniskritischen Fixierung. Wahrheit

ist nichts anderes als der Inbegriff der Negation dessen, was falsch ist." (DP, S. 490 [Adorno]).

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weisend, ohne als allgemeines Prinzip inhaltlich positiv beschreibbar zu sein; ihm kann keine best immte Qualität zugesprochen werden.

Das absolut Neue ist das Telos der Kunst, das allerdings noch seine Eigen-schaft als Telos negieren muß, weil das allein am Telos orientierte und damit in eine kontinuierl iche Entwicklung eingebundene einzelne Kunstwerk ebenso unfrei wäre, wie das allein aus dem Ursprung abgeleitete.359 Nur deswegen kann und muß das gegenwärt ige Neue so auftreten, als hätte es keinen Zweck außer-halb seiner selbst: „Das Tabu über dem geschichtlichen Telos ist die einzige Le-git imation dessen, wodurch das Neue polit isch-praktisch sich kompromitt iert , seines Auftretens als Selbstzweck."360 Das Kunstwerk will keinen Zwecken unterworfen sein, folgt jedoch auch darin der verborgenen Tradit ion der Nega-tion und der geheimen Teleologie der Kunst, dem Versprechen eines Besseren.

Indem im jeweils Neuen der Kunst gleichermaßen die Tradit ion aufgeho-ben ist und die Möglichkeit einer besseren Zukunft versprochen wird, negiert sie die ziellos in sich kreisende Dynamik ebenso wie blinden Tradit ional ismus als Festschreibung des Bestehenden. Als Negation von Statik und Dynamik verweist das Neue auf die Utopie, in der diese Dichotomie aufgehoben ist. Adornos Beschreibung der Utopie als Zustand jenseits von Statik und Dyna-mik darf aber nicht als „Ende der Geschichte"361 oder Aufhebung oder Stillste-hen der Zeit gesehen werden. Auch ist seine Utopie nicht die einer Rückkehr zu einem besseren Ursprung der Geschichte.362 Ebensowenig liegt Versöhnung

359 ÄT, S. 373 -4 . - Das ist neben der Variabilität der Utopie der Hauptgrund für das

„Bilderverbot" in bezug auf die Utopie, das als Verbot der Hypostasierung und Fetischisierung

verstanden werden muß. Es resultiert weniger daraus, daß „die Gesellschaft der Gegenwart

keine Perspektive auf eine grundlegende Veränderung freigebe", und schon gar nicht daraus,

„daß der historische Augenblick [der Verwirklichung der Utopie, SZ], den Adorno eigentlich

meint, unwiderruflich vorbei ist", wie Scheible annimmt. (Hartmut SCHEIBLE: Geschichte im

Stillstand. Zur Ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos. In: ARNOLD [Hg.]: Theodor W.

Adorno, a. a. O., S. 93.) 360 ÄT, S. 56. 361 KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 102. - Auch Groys geht

davon aus, daß in der Neuzeit die Vorstellung eines letzten Neuen zum Telos der Geschichte

wird, die damit endet: „Das Besondere an der in der Neuzeit verbreiteten Auffassung des

Neuen besteht ja gerade in der Erwartung, es werde schließlich etwas so endgültig Neues in Er-

scheinung treten, daß es nach ihm nichts noch Neueres mehr geben könne, sondern nur noch

die uneingeschränkte Herrschaft dieses allerletzten Neuen über die Zukunft." (GROYS, a. a. O.,

S. 10.) Diese Beschreibung tri f ft Adornos Theorie des Neuen nur bedingt. Er geht davon aus,

daß die Utopie des absolut Neuen nicht darin besteht, daß es nichts Neues mehr geben kann,

sondern daß Veränderung nicht mehr gewünscht wird, weil es kein Leiden mehr gibt. Davon,

daß dieses Neue die Zukunft beherrsche, kann auch nicht die Rede sein, denn der utopische Zu-

stand hat für ihn keinen Zwangscharakter. Die Abwesenheit von Herrschaft jeder A r t gehört

gerade zum absolut Neuen. 362 Diese Auffassung vertritt LÜDKE: Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls", a. a. O.,

S. 92 f.

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für Adorno „außerhalb der Geschichte", was bedeuten würde, „daß Versöh-nung nicht als innerweltl iche gedacht werden kann'*3".

Geschichtsphilosophisch bedeutet die Utopie für Adorno, daß die für die bisherige Geschichtsschreibung relevanten, sämtlich aus der Vergangenheit ab-geleiteten historischen Begriffe ihren Sinn verlören, irrelevant würden. Die Utopie beinhaltet damit das Ende der falschen Dynamik ebenso wie der fal-schen Statik. Anstel le des Antagonismus würde in der richtigen Gesellschaft ein Zustand treten, in dem beide versöhnt wären: „Der befr iedete Zustand wäre weder der reglose der totalitären Ordnung noch der unersätt l ich weitschwei-fende; der Gegensatz verschwände in der Versöhnung."364 Dieser versöhnte Zu-stand wäre mit den herkömmlichen Begriffen von Statik und Dynamik falsch beschrieben, denn die richtige Gesellschaft

„hielte weder bloß Seiendes, die Menschen Fesselndes um einer Ordnung wil-len fest, die solcher Fesseln nicht mehr bedürfte, sobald sie eins wäre mit den Interessen der Menschheit, noch besorgte sie weiter die blinde Bewegung, den Widerpart des ewigen Friedens, des Kantischen Ziels der Geschichte."365

Beide, Dynamik und Statik wären bestenfalls als veränderte Begriffe zu halten: Sie dienten nicht mehr der Herrschaft über innere und äußere Natur , sondern bezeugten ein verändertes Verhältnis zur Natur. Sie wäre nicht mehr das zu Fürchtende, zu dem sie Vernunft selber erst gemacht hat. Dynamik diente „der rettenden Aufnahme des Anderen, das bislang bloß unterdrückt ward und wo-möglich ausgerottet."366 Die vollständige Erfüllung der Utopie wäre aber erst eine veränderte Statik, die selbst solche Dynamik nicht mehr nötig machte: „Vorstellbar wäre ein verändertes Wesen von Statik nicht weniger als von Dy-namik: gestil lter Drang, der es läßt, wie es ist."367

Ein solcher Zustand bedeutete die Prävalenz der Gegenwart vor der Ver-gangenheit und der Zukunft . Die Frage nach dem Ursprung verlöre ebenso ih-ren Sinn wie die nach dem Telos der Geschichte. Die Vergangenheit hätte keine Macht mehr über das Gegenwärtige, die Abwesenheit von Leiden machte die Begriffe Fortschritt und Utopie bedeutungslos:

363 Lucia SZIBORSKY: Die Rettung des Hoffnungslosen. Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik. In: Philosophisches Jahrbuch 89 (1982) 1, S. 97.

364 ADORNO: Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien. In: GS 8, S. 237. 365 Ebd., S. 233. 366 Ebd., S. 235. 367 Ebd., S. 236. - Das Befreiende der Utopie besteht dann - so folgt Bubner Adorno - in

„einer gelassenen Distanznahme zur gesamten Sphäre des Willens und der Betriebsamkeit."

(BUBNER: Wie alt ist das Neue?, a. a. O., S. 3.) — Möglich würde diese Distanz im utopischen

Zustand, der das „Glück über der Praxis" wäre und die Abschaffung der Arbeit, die Möglichkeit des Menschen, nach seinen Bedürfnissen leben zu können, die Freiheit vom Zwang der

Nützlichkeit und vom „Druck der sturen Selbsterhaltung" beinhaltete. (SCHWARZ: Entfesse-lung der Produktivkräfte und ästhetische Utopie, a. a. O., S. 460 und 457.)

233 133

„Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und läßt aus l ;reiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. Einer Menschheit, welche Not nicht mehr kennt, däm-mert gar etwas von dem Wahnhaften, Vergeblichen all der Veranstaltungen, welche bis dahin getroffen wurden, um der Not zu entgehen, und welche die Not mit dem Reichtum erweitert reproduzierten. Genuß selber würde davon berührt, so wie sein gegenwärtiges Schema von der Betriebsamkeit, dem Pla-nen, seinen Willen Haben, Unterjochen nicht getrennt werden kann. Rien faire comme une bete, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, .sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung' könnte an Stelle von Prozeß, Tun, Erfüllen treten".368

Kunst, die im Neuen Ausdruck der Möglichkeit von Fortschritt und Methexis an der Utopie ist, arbeitet daher an der Abschaffung der Notwendigkei t von Neuheit.369 Sie versucht, „die imago eines versöhnten Zustands zu antezipieren, der selber über Statik und Dynamik wäre".370 Holte die Realität die Kunst ein, hörte Kunst in ihrer bisher bekannten Form auf, weil sie ihr Bewegungsgesetz verlöre. Die Realisierung der Utopie wäre das Ende der Notwendigkei t und der Möglichkeit , Neues zu produzieren.371 Die Frage, ob und wie Kunst weiter be-stünde, muß offenbleiben. Vielleicht bliebe als ihre einzige Funkt ion die Auf-hebung des Vergangenen, denn: „Selbst in einer legendären besseren Zukunft

368 MM, S. 179. - Eine ähnliche Utopie sieht Adorno bei Hölderlin: „Der [...] Entschluß [...] .Uns wiegen lassen, wie / Auf schwankem Kahne der See' ist wie ein Vorsatz, der Synthesis sich zu entschlagen, der reinen Passivität sich anzuvertrauen, um Gegenwart ganz zu erfüllen. Denn alle Synthesis [...] geschieht wider die reine Gegenwart, als Beziehung aufs Vergangene und Künftige, jenes Rückwärts und Vorwärts, das von Hölderlins Tabu ereilt wird." (NL, S. 483 [Parataxis].)

369 Das Kunstwerk birgt damit, wie Wesche zutreffend beschreibt, „in der Negativität eige-nen Fortschreitens die Hoffnung auf ein Ende des Fortschreitenmüssens". (WESCHE, a. a. O., S. 80.)

370 ÄT, S. 333 -4 . 371 Adornos Utopie jenseits von Statik und Dynamik gleicht dem von Hillebrand beschrie-

benen paradiesischen Zustand von „Ewigkeit als Zeitlosigkeit". Allerdings geht Hillebrand im Gegensatz zu Adorno nicht davon aus, daß die Sehnsucht nach Neuem aus einem Ungenügen am Gegenwärtigen resultiert, sondern sie ist für ihn ein grundsätzlicher Wesenszug des Men-schen. Deshalb hält er „die sogenannte Vertreibung aus dem Paradies", aus der zeitlosen Ewig-keit nicht für unfreiwillig: „Ich sage sogenannte Vertreibung, weil ja keineswegs feststeht, daß die beiden in der unbegrenzten Erfahrung von Ewigkeit für immer und ewig ausharren wollten. Gott hat ja keinen neuen Menschen erfunden anläßlich des Sündenfalls. Jedenfalls steht das nicht im Buch der Bücher. Und zum Menschen gehört nun einmal die Neugierde, denn gerade sie war ja die causa prima zum casus belli, die Neugierde also, der Entdeckertrieb, die Abenteu-erlust, die Wißbegierde, der Wissensdurst, der Forschungseifer, der Erkenntnisdrang, mit einem Wort , das Faustische, also das faustische Streben." (Bruno HILLEBRAND: Die Ästhetik des Au-genblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit - von Goethe bis heute. Göttingen 1999, S. 6.)

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dürl te Kunst die Erinnerung ans akkumulierte Grauen niclu verleugnen; sonst würde ihre Form nichtig."1 '2

b) Der Antagonismus von Statik und Dynamik im Kunstwerk

Strukturen und Kategorien der Geschichte f inden sich nicht nur in der Kunstgeschichte wieder, sondern ebenso im einzelnen Kunstwerk. Geschichte ist nach Adorno das , ,geheime[. . . ] Modell"373 der Kunstwerke. Zur Beschrei-bung der zeitl ichen Struktur eines Kunstwerks dienen ebenso wie für die Kunstgeschichte die Zeitkategorien der Beschreibung der äußeren Geschichte. Das gilt nicht nur für die Zeitkünste, also für Musik und Literatur374 , sondern ebenso für die räumlichen Künste. Die Zeitstruktur des Kunstwerks ist ein Aspekt seiner Konstellation. Bilder lassen sich aufgrund ihrer immanenten Dy-namik, der in ihnen aufgespeicherten dialektischen Prozesse, als zeitl ich auffas-sen,375 ebenso können umgekehrt Musikstücke oder Werke der Literatur als Bilder verstanden werden, soweit sie als f ixierte und abgeschlossene Werke stil lgestellter Prozeß sind.376

Geschichtsphilosophisch relevant am Kunstwerk in bezug auf das Neue sind die Kategorien des zeitl ichen Ablaufs und des Telos bzw. Zwecks. Wie sie im Kunstwerk hervortreten, ist jeweils abhängig von ihrem Status in der außer-künstlerischen Realität und im herrschenden Bewußtsein. Seit Verlauf und Te-los der Geschichte ungewiß geworden sind, ist Zeit kein selbstverständliches Apriori der Kunst mehr. Während in älterer Kunst heilsgeschichtl iche Katego-rien wie Kontinuität, zielgerichteter Verlauf, Erlösung, Geschlossenheit im Kunstwerk selbstverständlich waren, ist nach Adorno in der modernen Kunst die Erfahrung der leeren Zeit, des Zeitverlusts des modernen Menschen aufge-hoben. Die Kategorien der Geschichte und der Zeit sind im Kunstwerk vor-handen als mimetisch übernommene, als negierte, als veränderte.

372 ÄT, S. 479. 373 ÄT, S. 276. 374 Im Gegensatz zur Musik ist Zeit in der Literatur - darauf hat Jauß mit Bezug auf Tho-

mas Mann hingewiesen - dreifach präsent: erstens wie Zeit in der Musik als Zeit ihres Ablaufs (Erzählzeit), zweitens als imaginäre Zeit des Ablaufs der Handlung (erzählte Zeit), drittens als Gegenstand der Erzählung, als Thema. (Hans Robert JAUSS: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Frankfurt am Main 1986, S. 9. - Vgl. Thomas MANN: Der Zauberberg. Frankfurt am Main 1987, S. 570 ff.)

375 Seel spricht in diesem Zusammenhang von Ereignis-Objekten: „Selbst wenn das ästheti-sche Objekt ein beharrliches Ding ist, haben wir es in der ästhetischen Anschauung nie mit ei-ner statischen Gegebenheit zu tun. Denn die Konstellation von Erscheinungen, die an diesen Dingen erkennbar sind, tritt auch hier in den Zustand eines Spiels, eines Geschehens am Ge-genstand." Deswegen sind für ihn „alle Künste Zeitkünste". (Martin SEEL: Ästhetik des Erschei-nens. München/Wien 2000, S. 98 und 99.)

376 Vgl. dazu ADORNO: Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei. In: GS 16, S. 628 -42 .

235 133

Die Verl Ogling Ober die Zeil bedeutet wie die Verfügung über jedes künstleri-sche Material einen Fortschritt in der künstlerischen Autonomie. Der bewußte und freie Umgang mit der Zeit trägt zu ihrer Entmythologis ierung bei, denn dadurch, daß Kunst frei mit ihr schaltet,377 führt sie die Wil lkürl ichkeit der Zeitkategorien und ihre Veränderbarkeit vor: „Drängt eine Musik die Zeit zu-sammen, faltet ein Bild Räume ineinander, so konkretis iert sich die Möglich-keit, es könnte auch anders sein. Sie werden zwar festgehalten, ihre Gewalt nicht verleugnet, aber ihrer Verbindlichkeit enteignet."378 Nachdem die Anwe-senheit der Zeitkategorien im Kunstwerk einmal bewußt wurde, kann kein Künstler umhin, sie zu organisieren und zu gestalten. So

„muß der Musiker seine Melodien, und mittlerweile ganze musikalische Struk-turen, aus der Zeit, dem Bedürfnis, sie zu organisieren, erfinden. Dabei genü-gen weder bloße Zeitrelationen, die gleichgültig sind gegen das, was konkret musikalisch geschieht, noch die Invention musikalischer Einzelereignisse oder Komplexe, deren Zeitstruktur und deren Zeitrelationen untereinander nicht mitgedacht wären."379

Weil Kunst sich nicht mehr gleichgültig gegenüber den Zeitverhältnissen ver-halten darf, wird sie in gewissem Sinne abstrakter und formalist ischer, indem die Kunstwerke nicht mehr die angeblich natürliche Zeitstruktur widerspiegeln. Andererseits können sie gerade dadurch der Realität mehr entsprechen, daß sie die Zeitkategorien als scheinhaft entlarven. Die Konvergenzen zwischen der Zeitstruktur im Kunstwerk und in der Realität erweisen deswegen nach Adorno „den Formal ismus als den wahren Realismus, während Prozeduren, die anordnungsgemäß das Reale spiegeln, dadurch eine nichtexistente Versöhntheit der Realität mit dem Subjekt vortäuschen."380

Determination, Konsequenz, bruchlose Kontinuität und Geschlossenheit machen das Kunstwerk zum „vollendet Einfallslosen, funkt ionslos Funktionie-renden".381 Es wird zur Verdoppelung der Realität. Die authentischen moder-nen Kunstwerke sind daher geprägt von dem Versuch, sich von den Kategorien einer geschlossenen Geschichte zu lösen,382 ohne in leere, ziellose Dynamik zu

377 So macht das Kunstwerk Kaiser zufolge „die Umkonstellierung der geschichtlichen

Konstellation vor". (KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 130.) 378 ÄT, S. 208. 375 ADORNO: Funktionalismus heute. In: GS 10.1, S. 388. - Weil Zeit kein Apriori mehr

ist, wird jedes Kunstwerk bewußte „Präsentation vergehender Zeit". (SEEL, a. a. O., S. 168.) So

ist z. B. der „Verlauf von Musik [...] die Entfaltung einer Konstellation von Ereignissen, die in

ihrer eigenen Bewegtheit stets zugleich ein Ausdruck buchstäblicher und metaphorischer

menschlicher Bewegtheit ist." (Ebd., S. 185.) 380 NL, S. 438 (Voraussetzungen). 381 ÄT, S. 450. 382 Für Brunkhorst ist das sogar die Hauptthese Adornos zur modernen Kunst: „Erst die

Unterbrechung lückenlosen Funktionierens ermöglicht Sinn. Das ist Adornos eigentliche These

zur Kunst der Moderne." (BRUNKHORST: Theodor W . Adorno, a. a. O., S. 17.)

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verfallen: durch Unvorhersehbarkeit ihres Verlaufs statt Determinat ion durch festgefügte Formen, durch Brüche und durch Neuheiten in ihrem Verlauf an Stelle von Kontinuität und Konsequenz der Form, durch Offenheit ihres Endes im Gegensatz zur Geschlossenheit. Das Unvorhersehbare, Neue, Offene des Kunstwerks schlägt — wie die krit ische Theorie — „der historischen Dynamik ein Schnippchen"383 , deren Formel „Stringenz und Totalität, die bürgerl ichen Denkideale von Notwendigkei t und Allgemeinheit" sind.384 Insofern hat Kunst Tei l an Aufklärung,3 8 5 und Kunstwerke können aufgefaßt werden als Model l für eine andere Geschichtsauffassung und für eine veränderte Praxis.386

Die Unvorhersehbarkeit des Verlaufs eines Kunstwerks setzt die Auf lö-sung der geschlossenen Formen, den freieren Umgang mit historischen Kate-gorien und mit dem Zeitverlauf in den Werken, kurz: Autonomie in der Gestal-tung voraus. Die Kunstwerke sind weniger oder gar nicht mehr festen Formen unterworfen, so daß der Verlauf der Werke immer weniger durch die Form vorgegeben und damit vorhersehbar ist: Erwartungen können deswegen nicht mehr gestellt werden bzw. sie werden nicht mehr erfüllt . Bei Kunstwerken, die vorgegebenen Formen folgten, versprach der Anfang etwas, was durch den wei-teren Verlauf nach vorgezeichnetem Muster eingelöst wurde, insbesondere in der Musik. Die neue Musik hingegen versagt wie jede authentische moderne Kunst das Erwartete:

383 MM, S. 172. 384 Ebd. 385 So auch Brunkhorst: „Durch radikale Diskontinuierung, eine jeden vorgegebenen Sinn

zerstörende Erschließung neuen Sinns löst Kunst den mythischen Bann ewiger Wiederkehr des Gleichen, jenen Identitätszwang, den Adorno mit demjenigen blinder Natur identifiziert. Schon im impulsiv-plötzlichen, eruptiven A k t solcher Befreiung partizipiert Kunst an Aufklärung, Ra-tionalisierung und Entzauberung." (BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O. , S. 21 . )

386 Vgl. ÄT, S. 359 . - Darauf hat auch Kaiser hingewiesen: „Die in ihm [dem Kunstwerk, SZ] präsente Spontaneität ist Anlauf zur Befreiung der hic et nunc latenten Möglichkeit von

Freiheit, zur Freisetzung also des besonderen Impulses, der gerade in die Kontinuität der Ge-

schichte nicht eingeht, von ihr vielmehr verschüttet wird." Kaiser geht zu Recht davon aus, daß die Kritik der Kunst am Kontinuitätsprinzip eine andere Spielart ihrer Kritik am Identitätsprin-

zip (nämlich dem auf die Geschichte übertragenen Identitätsprinzip) ist: „Diese Sprödigkeit der

Werke gegen ein Kontinuitätskonzept der Geschichte und der Kunstgeschichte ist aber nichts anderes als eine spezielle Erscheinungsweise ihrer Sprödigkeit gegen das Identitätsprinzip, ihrer

Richtung auf Rettung des Besonderen mit der ihr innewohnenden Dialektik." (KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 145.) - Scheible wirf t Adorno vor, für ihn sei „die

Autonomie der Werke, ihre innerästhetische Dynamik ungleich wichtiger als ihre Bedeutung als fait social. Der Ästhetiker zieht sich in den innerästhetischen Raum zurück, das Differential, das die Werke darstellen: preisgegeben ist der Anspruch, die innerästhetische Dynamik in histori-

sche Dynamik umzusetzen." (SCHEIBLE: Geschichte im Stillstand, a. a. O., S. 97.) Dieser Vor -wurf trifft nicht zu, weil diese innerästhetische Dynamik Adorno zufolge erstens mit Kategorien aus der Realität arbeitet und zweitens keinen anderen Sinn haben kann, als auf Veränderung die-ser Wirklichkeit zu zielen.

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„Von ihr darf man nicht verlangen, daß sie einigermaßen so weitergehe, wie man es sich nach überkommenem Schema vorgestellt hat, sondern soll statt dessen suchen, dem gerecht zu werden, was konkret sich abspielt, ohne es an einer Erwartung zu messen, der die Idee solcher Musik nicht entspricht und die sie als ihr Maß nicht anerkennt."387

Der Anfang determiniert das Kunstwerk nicht mehr. Deswegen kann eine an tradierten Formen orientierte Rezeptionshaltung der immanenten Logik neuer Musik nicht gerecht werden. Die konsequenteste neue Musik „erweckt über-haupt keine eindeutige Erwartung mehr; das Unvorhergesehene wird nicht län-ger von einer solchen getragen, sondern die Logik der Ereignisse spricht für sich."388

Der Anfang eines Musikstücks und eines jeden Kunstwerks bleibt den-noch auch in der Moderne Versprechen auf das Kommende, aber nicht das Versprechen, sich nach tradierten Mustern zu entfalten, sondern: „Indem sie anhebt, verpfl ichtet sie sich bereits weiterzugehen, ein Neues zu werden, sich zu entwickeln."389 In der Moderne kommt Kunst als zeitl iche zu sich selbst, weil sie die Möglichkeit der Entwicklung in der Zeit wörtl ich nimmt, statt ei-nen vorgezeichneten Weg zu gehen. Sie befreit sich von der Determinat ion durch vorgegebene Formen und zeitliche Abläufe. Der Schein eines notwendi-gen Verlaufs, den Kunstwerke durch Konventionen im Ablauf , durch Symme-trien in der Zeit, z. B. Wiederholungen, durch Handlungs- oder Erlebniseinheit (Erzählkont inuum) reproduzieren, wird in der Moderne durch den Einbruch von Neuem im Verlauf des Werks, durch Diskontinuitäten zerbrochen.390 Die Auflösung der Form, des festen Zeitverlaufs und der Geschlossenheit kündigen sich beispielsweise in der l iterarischen Prosa bereits im Natura l ismus an durch den „Verzicht auf traditionelle Formkategorien, etwa geschürzte, in sich ge-schlossene Handlung, bei Zola zuweilen sogar den empirischen Zeitverlauf"391 . In den Romanen von Proust und Joyce reagiert Literatur auf den Verlust der Erfahrung von Zeit mit Dissoziation des Zeitkontinuums:

387 ADORNO: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: GS 15, S. 194. 388 Ebd. 389 ADORNO: Strawinsky. Ein dialektisches Bild. In: GS 16, S. 387. 3 . 0 Vgl. z. B. auch die Ausführungen von Jauß zum Rückzug des Erzählers aus dem Roman

bei Flaubert, zur Kontingenz und zur Aufgabe des Primats der Handlung und des unilinearen

Zeitverlaufs im Roman: JAUSS: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A la recherche du temps

perdu, a. a. O, , S. 31 ff. - Auch Bohrer konstatiert in „der modernen Prosa die Konzentration

des Zeitbewußtseins auf einen .gefährlichen Augenblick'" (Ereignischarakter) und damit eine

„Absage an die Kontinuität des Zeitbewußtseins". Ebenso wie Adorno stellt er einen direkten

Bezug zum außerkünstlerischen Zeitbewußtsein her: „Dieser .Ereignis'-Charakter des Erzählten

impliziert, daß auch die Zeitgeschichte als eine Folge unvorhersehbarer .Ereignisse' rezipiert

wird." (BOHRER: Plötzlichkeit, a. a. O., S. 43.) 3 . 1 ÄT, S. 369.

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„Zersetzt bei Joyce, und eigentlich schon in Prousts Roman, sich das empiri-sche Zeitkontinuum, weil die biographische Einheit von Lebensläufen dem Formgesetz äußerlich und der subjektiven Erfahrung, an der es sich schult, unangemessen ist, so konvergiert eine solche literarische Verfahrungsweise, also genau das, was nach östlicher Redeweise formalistisch hieße, mit der Zer-setzung des Zeitkontinuums in der Realität, dem Absterben von Erfahrung, das schließlich zurückgeht auf den zeitfremd technifizierten Prozeß der Pro-duktion materieller Güter."392

Neue Musik vollzieht die Auflösung der Kontinuitäten durch Negation von Symmetrien, die zeitliche Strukturen herstellen könnten. Sie ist tendenziell to-tale Asymmetrie und entsprechend „zu apperzipieren, [...] indem man sich dem Verlauf überantwortet, ohne auf sinnfällige Symmetrien zu lauern."393 Sympto-matisch für die Abschaffung zeitlicher Symmetrien ist für Adorno der Umgang mit der Reprise als Wiederholung des Gleichen. Wiederholung bedeutet danach Auf-der-Stelle-Treten, Statik, Dynamik ohne Fortschritt: „Mythos und Wie-derholung stehen in Konstellation, der des Zwanges von Immergleichem im Naturzusammenhang, aus dem nichts herausführt."394 In der neuen Musik sind Wiederholungen nur noch akzeptabel, wenn sie der Logik des Werks entspre-chen, stilisierende Wirkung haben oder wenn sie wie in der Literatur, z. B. bei Beckett, Parteinahme für das „Unwiederholbare"395 und negative Negation der Wiederholung als Stornierung von Geschichte396 sind. Ebenso obsolet wie das Erzähl- oder Handlungskontinuum im Roman oder die Wiederholung im musi-kalischen Werk wird der allein von der Erfahrung des künstlerischen Subjekts getragene Zusammenhang des Werkes, weil er, als vom Einzelsubjekt abhängig, zufällig und in seiner Geschlossenheit scheinhaft ist. Deswegen ist auch diese Art von Kontinuum in authentischer Kunst der Moderne nicht mehr möglich: „Alle Moderne nach dem Impressionismus, wohl auch die radikalen Manifesta-tionen des Expressionismus, schwören dem Schein eines in der subjektiven Er-fahrungseinheit, dem ,Erlebnisstrom', gründenden Kontinuums ab."397 Ahnli-che Gründe für die Dissoziation der Zeit findet Adorno beim späten Schön-berg: „Nicht länger wird dem Kontinuum der subjektiven Erlebniszeit die Kraft zugetraut, musikalische Ereignisse zusammenzufassen und als ihre Einheit ih-nen Sinn zu verleihen."398

Trotzdem nimmt die Stringenz der Werke als individuelle Durchgeformt-heit zu. Die Auflösung der Konventionen führt zu einer Zunahme der Konse-

392 NL, S. 43 8 (Voraussetzungen). - Vgl. NL, S. 111 (Satzzeichen) und NL , S. 166 (Val£-rys Abweichungen).

395 ADORNO: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: GS 15, S. 199. 394 NL, S. 382 (Sittlichkeit und Kriminalität). 3,5 ÄT, S. 204. 396 NL, S. 313 (Versuch, das Endspiel zu verstehen). 3 , 7 ÄT, S. 233. 391 PM, S. 62.

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quenzlogik im Werk. Die individuell organisierten Kunstwerke „sind an der Oberfläche alogischer, weniger durchsichtig auf allgemein vorgezeichnete, be-griffsähnliche Schemata und Formeln, im Inneren jedoch logischer, nehmen es mit der Folgerichtigkeit weit strenger"399. Das Zufällige der Konventionen wird in der modernen Kunst tendenziell eliminiert. Die völlige Durchbildung der Werke, die Logizität der Sache verlangt den Ausschluß alles dessen, was ihnen fremd ist. U m „sich selbst gleich zu werden", bedürfen sie „des konsequenzlo-gischen Prinzips."400 Damit erweisen sich die nicht nach vorgegebenen Mustern geformten Kunstwerke als einheitlich und streng organisiert, während die alt-bewährten Konventionen gegenüber dem einzelnen Werk zufällig sind: „Gebil-de von Qualität sind, als in sich durchgeformt, objektiv weniger chaotisch als ungezählte mit ordentlicher Fassade, die ihnen notdürftig aufgeklatscht ist, während ihre eigene Gestalt darunter zerbröckelt."401

Die Zunahme von Stringenz in den Kunstwerken ist der Preis der Zu-nahme ihrer Autonomie, ihrer Unabhängigkeit nicht nur von vorgegebenen Formen, sondern auch von außerkünstlerischen Zwecken: „Je freier von aus-wendigen Zwecken sie [die Kunstwerke, SZ] sich machten, desto vollständiger bestimmten sie sich als ihrerseits herrschaftlich organisierte."402 Die strengere Folgerichtigkeit und Kontinuität der Kunstwerke wird ihnen zum Problem, denn bruchlose Kontinuität bedeutet veränderungslose Dynamik, sinnlose Wie-derholung des Gleichen, ergebnisloses Auf-der-Stelle-Treten, funktionsloses Funktionieren. Zeit ohne Veränderungen wird wahrgenommen als Dauer des Gleichen, als leere, fruchtlos verrinnende Zeit, das Gegenteil erfüllter Zeit. Strikte Kontinuität im Kunstwerk konvergiert mit der anhaltenden verände-rungslosen Immergleichheit der Realität, der ungebrochen währenden Vorge-schichte. Negation einer statischen Geschichtsauffassung sind die Kunstwerke, die auch ihre eigene, von innen bestimmte Konsequenzlogik des Ablaufs oder seine konsequente Konstruktion durch Neues durchbrechen. Wenn der Künst-ler der Moderne dem Prozeß nachgeht, den das Kunstwerk von sich aus voll-zieht, unterwirft er sich zwar der immanenten Dynamik des Werkes, jedoch nicht völlig, nicht ganz ohne Eingriff. Das Werk konstituiert sich nicht von al-leine. Der Künstler greift in die blinde Notwendigkeit der Kunstwerke ein und bewahrt sie damit vor leerer Dynamik. Anstatt dem Faktischen freien Lauf zu lassen, geben die Künstler der von selbst ablaufenden Dynamik eine andere Richtung, brechen ihre Kontinuität, ihre Determiniertheit durch diskontinuier-liche Momente, sie setzen im Neuen ihre Freiheit durch:

„Der aber dem Werke sich unterwirft und anscheinend nichts unternimmt, als ihm dorthin zu folgen, wohin es ruft, der fügt der geschichtlichen Konstitu-

399 ÄT, S. 206. 400 ÄT, S. 205. 401 ÄT, S. 349. 402 ÄT, S. 34.

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tion des Werkes, wie sie in dessen Frage und Forderung gelegen ist, mit Ant-wort und Erfüllung ein Neues hinzu, das aus der geschichtlichen Gestalt des Werkes allein nicht folgt, und die Macht, in strenger Antwort die strenge Frage des Werkes aufzuheben, ist die wahre Freiheit des Komponisten."403

Sein Eingriff gehört zur objektiven Dynamik des Werkes . Sie ist deswegen nicht kontinuierl ich, sondern diskontinuierl ich. Die Notwendigke i t , in den ge-wissermaßen „natürlichen" Ablauf der Werke einzugreifen, entspricht der Notwendigkei t , in die scheinbar von selbst ablaufende Geschichte einzugreifen. Das sich selbst überlassene Werk wird zur Höllenmaschine, wie die sich selbst überlassene Geschichte auf die Katastrophe zuläuft, weil Logizität und Konse-quenz zur Zwangsveranstaltung werden, wenn sie nicht aus Freiheit unterbro-chen werden. Gegen die scheinbare Notwendigkeit und die reale Zufäll igkeit konsequent nominalist ischer oder rein subjektiver Kunstwerke steht wie bei Schönberg die Konstruktion. Sie bringt als Eingriff des Künstlers Diskont inui-tät in die nominalist ische Kontinuität und wirkt gegenüber der Zufäl l igkeit des Subjektiven als Objektives, als „Statthalter von Logik und Kausalität"404.

Die Objektivität der Konstruktion selber ist allerdings als verabsolutierte wiederum zufäll ig. Deshalb ist auch das rein konstruierte, konsequenzlogisch durchorganisierte Kunstwerk - wie in der Zwölftonmusik oder in der seriellen Musik - falsch, es bedürfte der Diskontinuität , des Zufäll igen als Eingedenken des Nichtidentischen. So erweist sich die Zwölftonmusik in ihrer Determiniert-heit, Begrenztheit und Ausweglosigkeit an ihrem Ende als fehlgeschlagene ne-gative Negat ion der leeren Dynamik der Geschichte. Zunächst ist Zwölfton-musik die selbst auferlegte Steigerung der Schwierigkeit, innerhalb des extrem Determinierten und damit tendenziell Statischen dennoch etwas Freies, Neues zustandezubringen, die Diskontinuität auf eine andere Ebene als die Abfolge der Töne zu verlegen, die durch die Reihe von Anfang an festgelegt ist: „Das Komponieren beginnt in Wahrheit erst, wenn die Zwölftondisposit ion fertig ist."405 Getrennt werden in der Zwölftontechnik die Kategorien von Zeit und von Tonhöhe, Intervall, Tonqualität. Nachdem die Reihe festgelegt ist, bleiben als gestaltbarer Bereich nur noch die Zeitverhältnisse. Indem die Zwölfton-technik „die Begriffe von Melos und Thema entwertet, so schließt sie die ei-gentlich dynamischen Formkategorien, Entwicklung, Überle i tung, Durchfüh-rung aus."406 Weil Dynamik bzw. zeitlicher Zusammenhang sich aber nur durch Verschiedenes konstituieren können, nicht rein temporal, sondern von Qual i ta-tivem abhängig sind, kann es im Verlauf eines dodekaphonischen Werkes nichts wirklich Neues geben. Die Aufeinanderfolge von Gleichem ist statisch, die Un-regelmäßigkeit der Wiederkehr des Gleichen kann qualitative Veränderung

403 ADORNO: Reaktion und Fortschritt. In: GS 17, S. 135. 404 ÄT, S. 91. 405 PM, S. 63. 406 PM, S. 96.

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nicht ersetzen. Statik und Unmöglichkeit von Neuheit ist im Programm der Zwölftonmusik festgelegt. Wirklich Neues im Verlauf eines Werks wäre will-kürlich und bedeutete eine Inkonsequenz gegenüber der strengen Präformie-rung des Materials, also der Kernidee der Zwölftontechnik. „Die Zwölfton-technik läßt keine Wahl. Sie verbleibt entweder in purer Formimmanenz, oder das Neue wird ihr unverbindlich eingelegt."407

Schönberg vollzieht mit der völligen Konstruiertheit, der Präformation des Materials und der daraus resultierenden Entwicklungslosigkeit , der Aneinan-derreihung von durch nichts wie Tonalität und ihren Formmitte ln verbundenen Momenten des musikal ischen Verlaufs in der Zwölftontechnik die völlige „Dis-soziation der musikal ischen Zeit. Musik entwirft das Bild einer Verfassung der Welt , die, zum Guten oder Argen, Geschichte nicht mehr kennt."408 Musik wird zum Bild einer Welt ohne Geschichte, „zur totalen Negation der Zeit"409. Weil es im präformierten Ablauf der konsequenten Zwölf tonmusik nichts wirklich Neues geben kann, weil sie bruchlos funktioniert , weist sie nicht über sich hinaus und wird als musikhistorische Sackgasse obsolet. Musik mußte sich von der Zwölftontechnik - ebenso wie später von der seriellen Musik410 -emanzipieren. So sind auch Schönbergs letzte Komposit ionen konsequenter-weise wieder dynamisch.411

Das Gegenstück zur geschlossenen Notwendigkeit der Konstrukt ion ist der Zufall. Das wirkt sich auf die Produktion von Kunst aus: „Der Fortschritt der Kunst als Machen und der Zweifel eben daran kontrapunkt ieren einander; tatsächlich wird jener Fortschritt begleitet von der Tendenz zur absoluten Un-wil lkürl ichkeit von den automatischen Niederschriften vor bald fünfz ig Jahren bis zu Tachismus und Zufal lsmusik heute".412 Konsequent ist also z. B. Cages Einführung des Zufalls in die Musik als Auflösung der Determinat ion der se-

407 PM, S. 99. 408 PM, S. 62. 409 BRUNKHORST: Theodor W. Adorno, a. a. O., S. 286. 410 Aus den gleichen Gründen, aus denen er die Zwölftontechnik kritisierte, mußte Ador-

no auch die Stephan zufolge 1949 (mit Messiaens Klavieretüde Mode de valeurs et d'intensites) entstandene Idee der seriellen Musik als Weiterentwicklung der Zwölftontechnik ablehnen, die die Präformation der Zwölftonmusik noch übersteigt, indem sie nicht nur eine Reihe von zwölf Tönen festlegt, sondern „auf Prädetermination mehrerer, möglichst aller, musikalisch relevanten Eigenschaften, der sogenannten musikalischen Parameter, der einzelnen Töne resp. des Tonsatzes zielt." (STEPHAN, a. a. O., S. 61 , 56 und 57.) Auch wenn diese Kompositionstechnik laut Stephan nur etwa zehn Jahre lang eingesetzt und dann von den meisten Komponisten (mit Ausnahme von Krenek und Nono) als gescheitert verstanden wurde, hat sie doch zur Atomisierung des musikalischen Materials beigetragen: „Wird auf serielle Zubereitung des Materials ganz verzichtet, so stehen die Komponisten heute [1969, SZ] wirklich in voller Frei-heit, aber mit leeren Händen da. Sie können frei verfügen, aber das Material ist vollständig ato-misiert." (Ebd., S. 63.)

411 PM, S. 96. 412 ÄT, S. 47.

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riellen Musik.4" Zufall sprengt das rational gesetzte Kontinuum, die zwang-hafte Totalität des „in sich lückenlos geschlossenen und bloß seiner immanen-ten Logik verpflichteten Kunstwerks"414. Er impliziert das Vorhandensein ver-schiedener Verlaufsmöglichkeiten. Indem er die Notwendigkeit negiert, zeigt er, daß es auch anders kommen kann. Indessen bringt der Zufall für Adorno zwar die notwendige Diskontinuität in ein Kunstwerk und stellt damit eine Al-ternative zur Kausalität oder Determination dar, weil er aber wertindifferent ist, ist er selbst nicht unbedingt etwas Neues, weist aber in jedem Fall auf die Möglichkeit von Neuheit hin.415 Auch der künstlerische Einfall ist Rebellion ge-gen die Durchkonstruiertheit des Werks, weil seine Inkonsequenz die Logik des Werks aufbricht. Indessen zielt die „Forderung nach Restitution des Ein-falls"416 oder anderer Elemente, die die Geschlossenheit der Werke brechen sol-len, ins Leere: „schwerlich kann man in der Kunst die Gegenkraft des Pro-grammierten postulieren und programmieren."417

Jeder Bruch der Kontinuität bedeutet etwas Neues, Unerwartetes. Der Augenblick, in dem ein Prinzip des Zeitablaufs im Kunstwerk durch ein ande-res unterbrochen oder ersetzt wird, ist der Augenblick des Neuen. Das Neue sprengt die Zeitlosigkeit des auf der Stelle tretenden Kontinuums. Damit ist das Neue nicht nur eine Kategorie der Kunstgeschichte, sondern auch inner-halb des einzelnen Kunstwerks gilt die „Parole des Neuen"418. Als Bruch einer Kontinuität währt es nur einen Augenblick, es ist der Beginn einer neuen Kon-tinuität. Neuheit gibt dem Ablauf des Werks eine neue Richtung, indem sie seine Logik durchbricht und dadurch zur „Imagination authentischer Lösungen inmitten des gleichsam prä-existenten Zusammenhangs der Werke"419 wird. Phantasie ist das „Organon des Neuen":420 „Verfügung über die Möglichkeiten der Lösung, die innerhalb eines Kunstwerks sich kristallisieren",421 „das Differential von Freiheit inmitten der Determination"422.

Ohne Kontinuität, die gebrochen werden kann, gibt es allerdings auch kein wirklich Neues: „Unabdingbar bleibt der ästhetischen Brechung das, was gebrochen wird".423 Deshalb ist Neues ohne jegliche Kontinuität kein wirklich

413 Vgl. dazu: STEPHAN, a. a. O., S. 61. 414 NL, S. 170 (Val6rys Abweichungen). 415 Zum Begriff des Zufalls und zum Zufall in der Literatur, z. B. bei Balzac, Flaubert und

Proust, vgl. Erich KÖHLER: Der literarische Zufall, das Mögliche und die Notwendigkeit. Frankfurt am Main 1993.

416 ÄT, S. 451 . 417 Ebd. 418 ÄT, S. 40. 419 ÄT, S. 256. 420 DP, S. 465 (Adorno). 421 ÄT, S. 259. 422 ÄT, S. 260. 423 ÄT, S. 14.

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Neues, Reine Diskontinuität, beschreibbar als scheinbar absolute Neuheit, be-deutet Beliebigkeit und Zusammenhanglosigkeit. Das richtige Neue muß auf das Vorangegangene bezogen sein, und sei es negativ; daraus resultiert in au-thentischen Kunstwerken eine Spannung zwischen dem Neuen und der not-wendigen Kontinuität, die nicht aufgelöst werden kann. Für Adorno repräsen-tieren in der Musik die freie, expressive Atonalität Schönbergs und die Werke Strawinskys modellhaft diese zwei Arten von Neuheit: Während Schönberg seiner Ansicht nach das Zeitproblem in der Musik auf vielfältige Weise reflek-tiert und die Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität gebrochen darstellt, überläßt Strawinsky seine Stücke unkritisch der Sensation, dem leeren Zeitverlauf, der reinen Diskontinuität. Sie sind für Adorno fragmentiert, zu-sammenhanglos und damit statisch, Wiederholung des Gleichen, Auf-der-Stelle-Treten.424 Das Neue in Strawinskys Werken, wie Adorno es sieht, ist traditionslos. Weil auch das Wiederholungslose Wiederholung braucht, das Ungleiche Gleiches, Entwicklung ein Festes, Dynamik Statik, schlägt die von Adorno bei Strawinskys diagnostizierte Technik permanent neuer Ansätze in ihr Gegenteil um.425 Weil Strawinskys Werke keine Erinnerung kennen, „er sich versagt, was immer eigentlich zeitliche Relationen stiften könnte"426, weil das jeweilige Neue in keinem Zusammenhang zum Vorangegangenen steht, bleibt es qualitativ leer, abstrakt. Es läßt sich nicht zueignen, bleibt der Sprache des Werkes fremd. Die Aneinanderreihung von Neuem wird daher zur Wiederho-lung des Immergleichen. Weil das Neue inhaltsleer, amorph bleibt, Zeit sich aber nur in qualitativer Veränderung ablesen läßt, sind Strawinskys Werke für Adorno „Musik ohne Werden"427, Zeit ist ästhetisch eskamotiert. „Die jegli-chem statischen Bezug entronnene Dynamik schlägt, nicht länger ablesbar an einem ihr entgegengesetzten Festen, ins Schwebende, nicht Fortschreitende um."428 So gibt es in Strawinskys Sacre du printemps nur die Illusion von Dyna-mik, „nur Verschiebungen eines Immergleichen und ganz Statischen, ein auf der Stelle Treten, in dem die Unregelmäßigkeit der Wiederkehr das Neue er-setzt."429 Während für Adorno Zeitlichkeit für die Musik konstitutiv ist, Musik mit ihrem Anheben Fortschreiten verspricht, wird bei Strawinsky das Fort-

424 Die Beziehungslosigkeit des Neuen sieht Adorno sogar in Strawinskys künstlerischer Biographie. So folgt bei ihm nach Adorno ein Stil willkürlich auf den nächsten, während bei Schönberg eine notwendige Entwicklung besteht, in der beispielsweise die Zwölftonmusik we-gen ihrer auswegslosen Statik und Unzulänglichkeit abgelöst wird. Umgekehrt ist die „Wieder-holung seiner Konzeption" bei Beckett für Adorno Ausdruck seines Bewußtseins der „Nöti-gung zur Fortbewegung ebenso wie das von deren Unmöglichkeit", also negative Negation der Fortschrittslosigkeit. (ÄT, S. 52. - Vgl. auch ÄT, S. 311.)

425 PM, S. 151. 426 PM, S. 178. 427 ADORNO: Strawinsky. Ein dialektisches Bild. In: GS 16, S. 403. 428 ÄT, S. 238. 429 PM, S. 143.

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schreiten zur leeren Dynamik und schlägt dadurch um in Statik. „Anstatt die Spannung von Musik und Zeit auszutragen, schlägt er dieser eine Finte."430 Da-mit, so Adorno, verleugnet er die „musikalische Pflicht der Freiheit"431 und er-weist sich „als Exekutor einer gesellschaftlichen Tendenz, des Fortschritts zur negativen Geschichtslosigkeit, zur neuen hierarchisch starren Ordnung."432

Soll das Neue im Kunstwerk die Möglichkeit von Freiheit vertreten, darf es gerade nicht zufällig und unvermittelt sein, sondern muß sich als Negation auf das Vorangegangene beziehen, weil zusammenhanglose Neuheit in Immer-gleichheit umschlägt. „Ungezählte Kunstwerke laborieren daran, daß sie als ein in sich Werdendes, unablässig sich Änderndes, Fortschreitendes sich darstellen und die zeitlose Reihung von Immergleichem bleiben. [...] Keine Wahrheit der Kunstwerke ohne bestimmte Negation".433 Was im totalen Wechsel als Freiheit ausgegeben wird, ist in Wirklichkeit „Verherrlichung der Kontingenz"434, die in ihrer ausschließlichen Form mit der absoluten Determination konvergiert.435

Der totale Wechsel als chaotische Gesetzmäßigkeit, wie Adorno ihn bei Stra-winsky sieht, bekräftigt ihm zufolge die „unselige Verschwörung" von Zufall und Notwendigkeit.436

Adornos Bewertung der Musik Strawinskys ist von vielen Seiten - auch von Schönberg - kritisiert worden. Auch wenn man von der Frage absieht, ob Adornos Beschreibung der Werke Strawinskys diese richtig erfaßt oder nicht, so ist doch in der Tat kaum einzusehen, warum er Strawinskys Darstellung von Kontingenz und Zeitlosigkeit nicht, wie von Huber gefordert,437 wie bei Schön-berg als negative Negation der Verquickung von Fortschritt und Rückschritt verstanden hat. Denn unverbundenes musikalisch Neues im Verlauf des Werks

430 PM, S. 178. 431 ADORNO: Strawinsky. Ein dialektisches Bild. In: GS 16, S. 387 . 432 PM, S. 179. 433 ÄT, S. 195. 434 ÄT, S. 320. 435 ÄT, S. 234. 436 ÄT, S. 166. 437 „Wenn also Adorno im ,Sacre du Printemps' sadomasochistische Züge erkennen will,

hat er das Geschehen in einer Weise begriffen, wie es eventuell nicht einmal Strawinsky zugäng-

lich war. Allerdings ist schwer einzusehen, weshalb ausgerechnet dessen Musik antihumanisti-sche Züge tragen soll und nicht das sich in ihr widerspiegelnde Kollektiv in seiner ganzen archai-schen Unvermitteltheit. Dieses .Opfer ohne Tragik', dieses .Greuel auf der Bühne' begleitet Strawinsky kommentarlos, empört sich Adorno. Weshalb auch, denn hier wird schonungslos entschleiert, was sein geschichtliches Bewußtsein nicht wahrhaben darf: ein Begriff des Fort-schritts, in dem der des Rückschritts enthalten ist; die gesellschaftliche Entwicklung als jederzeit bereit, das hochtechnisierte Joch abzuwerfen und in primitive Abgründe zurückzufallen. So ge-sehen antizipiert Strawinskys 1913 entstandene .Sacre'-Musik die Barbarei des .Tausendjährigen

Reiches', entlarvt die fortschrittsgläubige sogenannte zivilisierte Gesellschaft als einen häufig nur oberflächlich kaschierten Leviathan." (Alfred HUBER: Adornos Polemik gegen Strawinsky. In: Melos 38 [1971] , S. 357-8 . )

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gibt es auch in Schönbergs Stücken der atonalen Phase, wie dem Monodram Erwartung von 1909:

„Sicherlich hat er kaum je etwas Freieres als die .Erwartung' komponiert. Nicht nur die Darstellungsmittel, sondern die Syntax selber emanzipiert sich. Webern übertrieb nicht, als er in der ersten Sammelpublikation über Schön-berg schrieb, die Partitur sei .ein unerhörtes Ereignis. Es ist darin mit aller überlieferter Architektonik gebrochen; immer folgt Neues von jähster Verän-derung des Ausdrucks.'"438

Dieses Neue wird jedoch von Adorno positiv bewertet: Weil der musikalische Zusammenhang in der atonalen Phase nicht mehr durch das musikalische Mate-rial gegeben ist, tritt an die Stelle von Kontinuität und Entwicklung Diskonti-nuität und Brüchigkeit: „Die seismographische Aufzeichnung traumatischer Schocks [in Schönbergs Erwartung, SZ] wird aber zugleich das technische Formgesetz der Musik."439 Die Schocks werden nun Adorno zufolge nicht wie bei Strawinsky als gegeben akzeptiert, sondern als solche wahrgenommen, als Problem der Abwesenheit von Zusammenhang dargestellt, den es herzustellen gilt:

„In der .Erwartung' [...] gestikuliert sie [die Musik, SZ] gleichsam wie ein von wilder Angst ergriffener Mensch. Diesem aber gelingt, psychologisch gespro-chen, die Angstbereitschaft: während der Schock ihn durchfährt und die kon-tinuierliche Dauer alten Stiles dissoziiert, bleibt er seiner selbst mächtig, Sub-jekt, und vermag daher noch die Folge der Schockerlebnisse seinem standhaf-ten Leben zu unterwerfen, heroisch sie zu Elementen der eigenen Sprache umzuformen. Bei Strawinsky gibt es weder Angstbereitschaft noch widerste-hendes Ich, sondern es wird hingenommen, daß die Schocks nicht sich zueig-nen lassen."440

Während Adorno bei Strawinsky die leere Dynamik der realen Geschichte un-kritisch kopiert sieht, keinen Anhaltspunkt für eine Problematisierung der Ab-wesenheit von Kontinuität findet, wird sie ihm zufolge bei Schönberg reflek-tiert und durch die subjektive Integration zu einem sinnvollen Zusammenhang verbunden. Deshalb ist für ihn Strawinsky affirmativ, während Schönbergs ne-gative Negation des ganz Zufälligen deshalb gelingt, weil dem Werk ein Rest von Zusammenhang bzw. Sinn innewohnt.441

438 ADORNO: Arnold Schönberg. In: GS 10.1, S. 168-9 . 435 PM, S. 47. 440 PM, S. 145. 441 ÄT, S. 231 . - Diese Unterscheidung zwischen Affirmation und negativer Negation ei-

nes Kunstwerks scheint mir eine der größten Schwierigkeiten in der Ästhetik Adornos zu sein,

die sich allerdings nur anhand ausführlicher Analysen einzelner Werke diskutieren und ent-

scheiden läßt.

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Für Adorno ist Kontinuität den Kunstwerken unabdingbar, weil sie ihnen Zu-sammenhang und Stringenz gibt; sie „ist teleologisch von den Einzelmomenten gefordert"442, die für sich noch nichts bedeuten, sondern einzig im Kontext. Das schließt Diskontinuität nicht aus, jedoch darf sie nicht das gesamte Werk ergreifen, denn „Werke des absoluten Wechsels, der Vielheit ohne Bezug auf ein Eines, werden eben dadurch undifferenziert, monoton, ein Einerlei."443 Es kommt also darauf an, das dialektische Verhältnis von Kontinuität und Diskon-tinuität, von Notwendigkeit und Freiheit im Kunstwerk zu reflektieren. Die künstlerische Technik, die das berücksichtigt, könnte als Technik der radikalen Variation bezeichnet werden.

„Man wird ausgehen müssen von einem Befund, an den Berg als Lehrer uner-müdlich erinnerte: daß die Technik der neuen Musik überwiegend eine der Variation sei. [...] Variation heißt aber, aus einem musikalischen Gegebenen, Gesetzten Neues entwickeln. Das Neue muß, sei es auch verkappt, in dem Gegebenen bereits enthalten sein. Daher ist eine der vordringlichsten Verfah-rensweisen — in Wahrheit so naheliegend, daß sie nicht gefeit ist vor der Ge-fahr des Mechanischen - , das Ausgangsmaterial im Verlauf des variativen the-matischen Fortgangs in kleinste Elemente aufzuspalten, die im Ausgangsmate-rial vorhanden sind, und dann aus diesen kleinsten Bestandteilen das Neue zu bilden."444

Für Adorno richtiges Neues im Verlauf eines Musikstücks ist nichts absolut Neues, sondern steht jeweils im Verhältnis zum Vorangegangenen, das in der Variation verändert und aufgehoben ist. Umgekehrt darf das Wiederholte nicht gleich wiederholt werden: „Das unabdingbar wiederkehrende Gleiche muß stets von dem Ursprünglichen sich unterscheiden, muß in sich selbst den Charakter des Resultats, der Folgerung aus dem tragen, was vorher geschah."445 Insofern ist die Wiederholung auch eine Aktualisierung und wird dadurch etwas qualita-tiv Neues. Die Variation ist Neues und Altes, Wiederholung und Veränderung zugleich. Während die Neuheit an Radikalität gewann, sind die Symmetrien und Wiederholungen in der neuen Musik subtiler geworden:

„Wo etwa in Musik einmal eine mehr oder minder handfeste Reprise für Sym-metrie sorgte, genügt bisweilen eine vage Ähnlichkeit von Klangfarben an ver-schiedenen Stellen zur Symmetrie. Die jeglichem statischen Bezug entronnene Dynamik schlägt, nicht länger ablesbar an einem ihr entgegengesetzten Fe-sten, ins Schwebende, nicht Fortschreitende um."446

442 ÄT, S. 263. 44J ÄT, S. 285. 444 ADORNO: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: GS 15, S. 236. 445 Ebd., S. 200. 446 ÄT, S. 238.

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Die Variation hält das Ausgangsmaterial fest und verändert es. Das Neue ist mit dem Vergangenen identisch und nicht-identisch. Dadurch wird das Pro-blem von Statik und Dynamik und in Statik umkippende Dynamik, das Pro-blem von leerer und erfüllter Zeit, reflektiert. Die Musik führt ein neues Ver-hältnis zur Zeit vor, das die Kategorien von Statik und Dynamik durchlässiger macht:

„Vermöge solcher Nicht-Identität der Identität gewinnt die Musik eine völlig neue Beziehung zur Zeit, in der sie jeweils verläuft. Sie ist nicht mehr gleich-gültig zur Zeit, da sie in dieser nicht beliebig wiederholt wird, sondern sich verändert. Aber sie verfällt auch nicht der bloßen Zeit, da sie ja in dieser Ver-änderung als identische sich durchhält."447

Weil Neuheit für Fortschritt und Freiheit steht, steigt das Ausmaß an Neuheit in den Werken - so konstatiert Adorno für die Musik — an, während der Anteil der Wiederholung, von Identität sich dem Nullpunkt annähert, ohne ihn errei-chen zu dürfen, und gleichzeitig die zeitliche Entfernung des Wiederholten größer wird. Seine Wahrnehmung erfordert daher nicht nur größere Aufmerk-samkeit, sondern auch mehr Erinnerung an Vergangenes und Bereitschaft, im Kommenden Symmetrien wahrzunehmen, während die Wahrnehmung des Neuen ein Sich-Uberlassen an den Augenblick, ein Zurückstellen vor allem der Erwartung von Gleichem oder Ähnlichem, aber auch der Erinnerung an Glei-ches oder Ähnliches erfordert.

„Daß man vorbehaltlos jedem musikalischen Augenblick sich überlassen soll-te, ohne dabei auf vorgezeichnete Schemata zu vertrauen, bezeichnet nur die eine Seite des Problems, wie neue Musik zu hören sei. Die andere ist, dies spontane Hören dessen, was je von Augenblick zu Augenblick sich ereignet, durch ein das Vergangene und Zukünftige einbegreifendes zu ergänzen. Dabei geht es keineswegs um theoretische Reflexionen auf Ähnlichkeiten und Ver-schiedenheiten, sondern darum, daß mehr oder minder unbewußt neben den Verschiedenheiten auch die Ähnlichkeiten erinnert werden."448

Ein Kunstwerk, das ganz brüchig ist, sich ganz aus einer Reihung von ganz Verschiedenem zusammensetzt und jegliche Ähnlichkeit innerhalb des Kunst-werks ausschließt, ist als scheinbar reine Diskontinuität ebenso falsch wie das kontinuierliche, geschlossene Kunstwerk.

Das auf das Vorangegangene bezogene, variative Neue ist das Neue, das die Möglichkeit von Freiheit vertritt, wie Kaiser beschrieben hat: „Die in ihm [dem Kunstwerk, SZ] präsente Spontaneität ist Anlauf zur Befreiung der hic et nunc latenten Möglichkeit von Freiheit, zur Freisetzung also des besonderen

447 PM, S. 58. 448 ADORNO: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: GS 15, S. 201 -2 . - Daß das für

die ästhetische Wahrnehmung Spezifische ihre Offenheit ist - wie Seel ausgeführt hat - , ist des-

halb für Adorno nur die halbe Wahrheit. (SEEL, a. a. O., S. 146 ff.)

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Impulses, tier gerade in die Kontinuität der Geschichte nicht eingeht, von ihr vielmehr verschüttet wird."44"' Das richtige Neue in der Kunst entspricht dem richtigen Neuen in der Geschichte. Es ist Kontinuität und Diskontinuität in ei-nem. Es mag auf den ersten Blick unvermittelt oder beliebig erscheinen, doch steht es als Realisierung eines Möglichen in Verbindung mit dem Vorangegan-genen und ist in dessen dialektischer, prozessualer Konstitution bereits ange-legt.450 Dem Neuen muß Kontinuität vorangehen, nur so ist für Adorno Neues möglich. Dialektik „bestimmt das Neue als in sich selbst ref lektierte, umschla-gende Gestalt des Alten."451 Ohne diese Reflexion bleibt das Alte - wie für Adorno bei Strawinsky - gleich.452 Das Neue entsteht aus der Spannung zwi-schen dem „präsenten Wissen ums Vergangene und dem ebenso präsenten Wis-sen ums Mögliche."453 Es ist Auseinandersetzung mit dem Vergangenen, das im gegenwärtigen Neuen in Richtung der in der Gegenwart unreal isierbaren Uto-pie des absolut Neuen verändert und aktualisiert wird. Das Neue verdankt sich dem Prozeß zwischen dem Gewesenen, auf das es nicht verzichten kann, und der Utopie des Unwiederholbaren, des absolut Neuen, das deshalb nicht reali-sierbar ist.

Indem Kunst die Kategorien der Geschichte in sich aufnimmt und auf ihre Art verwandelt und neu organisiert, macht sie sich zum Muster für eine mögli-che Praxis: „Der Praxis sich enthaltend, wird Kunst zum Schema gesellschaftl i-cher Praxis".454 Im Idealfall ist für Adorno das Kunstwerk Modell für den richtigen Umgang mit Freiheit und Notwendigkeit .4 5 5 Das Neue repräsentiert im Kunstwerk die Realisierung der Möglichkeit, in die scheinbar von selbst ab-laufende Dynamik einzugreifen, die in der Realität noch nicht verwirkl icht ist, während die Sehnsucht besteht, sich aus dem Leiden zu befreien. Geschichte soll dem Zeitablauf der Werke folgen: Wie die Kunst sich ihrem Gegenstand, seinen Forderungen und Bedürfnissen überläßt und nicht verselbständigter, leerer Ablauf ist, so soll die Geschichte gemäß den Forderungen und Bedürf-nissen der Menschen verlaufen. Dadurch, daß das Kunstwerk nicht ganz sich selbst überlassen ist, sich gerade nicht ohne äußeren Eingriff von selbst ent-wickelt, wird es zum Vorbild für Geschichte. „Die Forderung, dem Werk sich anzuschmiegen, ist eben die, in es einzugreifen, damit es nicht zur Höl lenma-schine werde."456

449 KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 145. 450 So ist auch in der musikalischen Entwicklung Schönbergs „in Frühwerken [...] wie un-

ter einem Keimblatt vorgedacht [...], was später mit der Gewalt des Umsturzes durchbricht." (PM, S. 188 Anm.)

451 ADORNO: Strawinsky. Ein dialektisches Bild. In: GS 16, S. 408. 452 Ebd. 4" DP, S. 523 (Adorno). 454 ÄT, S. 339. 455 NL, S. 444 (Voraussetzungen). 456 ÄT, S. 431.

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Soll die Dynamik des Kunstwerks Modell für die Geschichte sein, so läßt sich doch kein al lgemeines Gesetz für Veränderung aus ihr ablesen. Wie die imma-nente Geschichte eines Werkes vom Material vorgezeichnet ist, lassen sich die St immigkeit und der Fortschritt eines Kunstwerks nur immanent best immen. Das jeweilige Neue im Kunstwerk ist die jeweilige Antwort auf Fragen, die sich aus dem jeweiligen Material ergeben. Entsprechend hängt die Mögl ichkeit von Fortschritt und Freiheit in der Geschichte von den objektiven Mögl ichkeiten des jeweil igen historischen Augenbl icks ab. Es kann keine al lgemeingült igen Vorschriften geben. Die Parallele zwischen immanenter Historizität der Kunst-werke und außerkünst ler ischer Geschichte entsteht nicht durch Imitation, son-dern besteht vor allem in formaler Korrespondenz. Die Dialekt ik der aus der Geschichte s tammenden Kategorien wie Statik und Dynamik wird im Kunst-werk immanent ausgetragen und setzt sich als prozessuales Ergebnis ins Verhältnis zu der Konstellation dieser Kategorien in der Realität und in der je-weils gegenwärt igen Geschichtsschreibung und kritisiert diese dadurch. Für Adorno ist deshalb die Reflexion des Zeitbewußtseins im Kunstwerk so wichtig, weil für ihn historisches Bewußtsein Einsicht in die Dynamik der Geschichte bedeutet, die Voraussetzung für deren Veränderung ist, die Möglichkeit von Veränderung bedingt. Indem im Kunstwerk aus dem Prozeß zwischen Statik und Dynamik ein anderes Neues als das Scheinneue der leeren Dynamik resul-tiert, krit isiert es zum einen dieses Scheinneue und zum zweiten, daß die Mög-lichkeit verändernder Neuheit noch nicht ergriffen wurde.

Das Neue im Kunstwerk, der realisierte Eingriff in einen kontinuierl ichen Ablauf, ist als positive Negat ion der von selbst ablaufenden Geschichte ebenso wie die negative Negat ion der Statik bei Beckett457 Ausdruck der Hof fnung auf die Möglichkeit eines Besseren. Neuheit ist nicht nur Bruch von Kontinuitäten, sondern auch der Versuch, neue Arten der Kontinuität, des Zusammenhangs zu etablieren. Gleichzeitig ist das jeweilige Neue qualitativ in seiner Teilhabe am absolut Neuen Verweis auf die Utopie. Das Kunstneue vermittelt die Uto-pie mit der Gegenwart und kritisiert diese durch seinen Utopiecharakter .

Der Verweis auf die Utopie , der der Kunst Offenbarungscharakter gibt, ist der Kunst notwendig, wenn sie anderes als die Verdoppelung der Realität sein soll. Hoffnung darf nicht mit Wahrheit verwechselt werden, doch ist sie als Ausdruck des gegenwärtigen Leidens, das aus dem Verhängnis der fehlgelaufe-nen Aufklärung resultiert, Voraussetzung für die Veränderung dessen, was ist:

„Am Ende ist Hoffnung, wie sie der Wirklichkeit sich entringt, indem sie diese negiert, die einzige Gestalt, in der Wahrheit erscheint. Ohne Hoffnung wäre die Idee der Wahrheit kaum nur zu denken, und es ist die kardinale Un-

457 Vgl. NL, S. 314 (Versuch, das Endspiel zu verstehen): Im Endspiel besteht die Hand-lung darin, daß sich nichts ändert, „für die spontane Aktion ist es, nach der geschichtsphiloso-phischen Sonnenuhr des Stückes, sowieso zu spät".

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Wahrheit, das als schlecht erkannte Dasein für die Wahrheit auszugeben, nur weil es einmal erkannt ward.""'

Der Trost und die Hoffnung der Kunstwerke bestehen vor allem darin, daß es sie überhaupt gibt, daß sie ein Anderes als das Immergleiche versprechen, ohne selber doch vorzugeben, dieses Andere schon zu sein. „Das Tröstliche der gro-ßen Kunstwerke liegt weniger in dem, was sie aussprechen, als darin, daß es ih-nen gelang, dem Dasein sich abzutrotzen. Hoffnung ist am ehesten bei den trostlosen."459

Die Utopie ist nicht als Telos positiv im Kunstwerk enthalten. Moderne Kunst verweigert das Telos, reflektiert es aber als historische Kategorie. Neues, Diskontinuierliches im Verlauf eines Kunstwerks ist Negation von Kontinuität, und damit sabotiert es auch Finalität und Totalität. Wie Diskontinuierliches im Kunstwerk das ist, was nicht vorausgesehen werden kann, was sich gegen Kau-sallogik sperrt, so ist es auch das, was den Sinn oder das Telos des Kunstwerks uneindeutig macht und die Geschlossenheit des Kunstwerks durchkreuzt.

Weil eine teleologische Auffassung der Geschichte deren Verlauf determi-niert, ist das Fehlen eines Telos Voraussetzung dafür, daß Brüche und Rich-tungswechsel in der Geschichte möglich sind. Deswegen ist der Verlust des Te-los in der Geschichtsauffassung für Adorno nicht nur notwendig, sondern auch richtig. Weil es kein Telos mehr gibt, ist auch die auf ein solches ausgerichtete Kontinuität obsolet geworden. Umgekehrt darf Finalität nicht durch Kausalität ersetzt werden. Für das Kunstwerk bedeutet das, daß nicht nur sein Verlauf diskontinuierlich sein muß, sondern es darf auch kein Telos haben, das das Werk zielgerichtet oder zweckbestimmt erscheinen läßt und es zu einer Einheit zusammenschließt. Problematisch ist deswegen das Ende eines Kunstwerks. Es soll weder als Telos und Zweck den Verlauf des Kunstwerks determinieren, noch darf es die angebliche Geschlossenheit der Geschichte reproduzieren oder gar eine positive Utopie repräsentieren. Soll ein Kunstwerk in seinem Verlauf Vorbild der äußeren Geschichte sein, dann darf es sein Ende nicht festlegen. Wie das Telos der Geschichte als absolut Neues gegenüber dem gegenwärtigen Verblendungszusammenhang offenbleiben muß, so auch im Kunstwerk, weil es sonst seinen Gesamtverlauf determinieren würde. Deswegen scheint gar kein sinnvolles Ende von Kunstwerken mehr denkbar, was für Adorno ein Haupt-problem der Form darstellt:

„Am nachdrückl ichsten dürfte die Not der Form in der Schwierigkeit von Zeitkunst sich anmelden zu enden; musikal isch im sogenannten Finalproblem, in der Dichtung in dem des Schlusses, das bis zu Brecht sich zuspitzt . Einmal

4S8MM, S. 110. 459 MM, S. 255. - So z. B. bei Kafka: „Kennt Kafkas Werk Hoffnung, dann eher in jenen

Extremen als in den milderen Phasen: im Vermögen, noch dem Äußersten standzuhalten, indem es Sprache wird." (ADORNO: Aufzeichnungen zu Kafka. In: GS 10.1, S. 266.)

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der Konvention ledig, vermag offenbar kein Kunstwerk mehr überzeugend zu schließen, während die herkömmlichen Schlüsse nur so tun, als ob die Einzel-momente mit dem Schlußpunkt in der Zeit sich auch zur Total i tät der F o r m zusammenfügten. In manchen unterdessen weit rezipierten Gebilden der Mo-derne wurde die F o r m kunstvol l offen gehalten, weil sie gestalten wol l ten, daß ihnen Einheit der F o r m nicht mehr vergönnt sei. Schlechte Unendl ichke i t , das nicht schl ießen Können, wird zum frei gewählten Pr inz ip der Verfahrungs-weise und z u m Ausdruck. Daß Beckett ein Stück, anstatt daß es aufhörte , wört l ich wiederholt , reagiert darauf; mit dem Marsch der Serenade verfuhr Schönberg vor bald fünfz ig Jahren ähnlich: nach Abschaffung der Reprise de-ren Rückkunf t aus Desperation."460

Avancierte Kunstwerke ruhen nicht in sich, sondern weisen als gewollt frag-mentarische über sich hinaus, sind ebenso offen, wie die Geschichte offen ist. Ein Mittel dazu ist das Neue, das den Verlauf so diskontinuierlich macht, daß der einheitsstiftende Zeitverlauf zerbrochen wird und sich auch retrospektiv vom Ende her nicht herstellen läßt, wie bei Kafka:

„Keine durch Zeit als Einheit des inneren Sinns konst i tuierte F o r m ist i hm

mögl ich [ . . . ] . Das Fragmentarische der drei großen Romane, die übrigens

kaum mehr v o m Begriff des Romans gedeckt werden, wird bedingt von ihrer

inneren Form. Sie lassen sich nicht als zur Total i tät gerundete Zeiterfahrung

zu Ende bringen."461

Kunstwerke weisen dann über sich hinaus, wenn sie Erlösung, Auflösung ver-weigern und damit Telos, Sinn und Zweck offenlassen. Zweckmäßigkeit als Herrschaftsprinzip, das Unterdrückung des einzelnen zugunsten eines Ganzen bedeutet, ist auch historisches Prinzip der Finalität. Kunstwerke negieren da-mit nicht mehr nur die ihnen von außen angetragene Zweckmäßigkeit, sie sind auch nicht mehr im Kantischen Sinne zweckmäßig ohne Zweck „als dynami-sche Totalität, in der alle Einzelmomente für ihren Zweck, das Ganze, da sind, und ebenso das Ganze für seinen Zweck, die Erfüllung oder negierende Einlö-sung der Momente."462 Kunstwerke negieren mit dem Neuen die Kategorie von Zweckmäßigkeit als determinierende Kategorie selber, ohne jedoch ohne sie auskommen zu können. „Ihre Zweckmäßigkeit bedarf des Unzweckmäßigen. [...] Ihre Zweckmäßigkeit muß durch ihr Anderes sich suspendieren, um zu bestehen."463 Es gibt in den Kunstwerken kein „rein Ästhetisches an sich"464, das auf jeden Begriff von Zweckmäßigkeit, die ja nicht nur Totalität, sondern auch Zusammenhang und Sinn beinhaltet, verzichten könnte, sondern Kunst sucht im dialektischen Prozeß zwischen Zweckmäßigkeit und Zweckfreiheit

460 ÄT, S. 221. 461 ADORNO: Aufzeichnungen zu Kafka. In: GS 10.1, S. 279. 462 ÄT, S. 210. 463 ÄT, S. 155. 464 ADORNO: Funktionalismus heute. In: GS 10.1, S. 378.

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nach „einer anderen Zweckmäßigkeit als der von Menschen gesetzten"4 6 ' , einer nicht totalitären. Jedoch findet in den Kunstwerken keine Versöhnung statt, sie brechen ab, ohne einen Zweck oder ein Telos, das sie zum Ganzen rundete oder eine Lösung herbeiführte, zu erreichen. „Das Rätselhafte der Kunstwerke ist ihr Abgebrochensein. Wäre Transzendenz in ihnen zugegen, sie wären M y -sterien, keine Rätsel; das sind sie, weil sie als Abgebrochene dementieren, was sie doch sein wollen."466 Durch ihre Abgebrochenheit weisen Kunstwerke über sich hinaus, und zwar nicht ins Unbest immte, sondern auf die mögl iche Lö-sung hin. Sie geben sich als zweckhafte, ohne den Zweck selber zu offenbaren, als geschichtliche, ohne ein Telos zu nennen, jedoch geben sie die Richtung vor.

Obwohl sie offen sein wollen, erscheinen fert ige Kunstwerke zunächst als geschlossene Einheit: „Heute möchten die Künstler ihr [der Einheit der Werke, SZ] ans Leben, doch mit der Pointe, daß die als offen, unabgeschlossen ge-glaubten Werke an solchem Plancharakter zwangsläufig wieder etwas wie Ein-heit gewinnen."467 Doch nicht nur ihrer inneren Struktur nach, durch ihre Organisiertheit werden die Kunstwerke zu Einheiten, sondern auch durch ihre Fertigstel lung und Fixierung: „Wortschrift und Notenschrif t , einmal von außen gesehen, befremden durch die Paradoxie eines Daseienden, das seinem Sinn nach Werden ist."468 So ist im fertigen Kunstwerk die Dynamik nur eine schein-bare, auch die der Zeitkünste: „Objektiviert im Kunstwerk sich ein Werden und gelangt zum Einstand, so negiert diese Objekt ivat ion eben dadurch das Werden und setzt es zu einem Als ob herab".469 Die Scheinhaftigkeit der Dyna-mik in den Zeitkünsten entspricht der Scheinhaftigkeit der Statik in den „Bild-künsten". Wie alle Bilder auch Prozeß sind, so ist jedes Musikstück, jedes Werk der Literatur auch Bild. Das müßte auch die Rezept ion best immen:

„Wenn insgesamt, von ihrem inneren Bewegungsgesetz her, die Künste heute einander sich annähern, dann wäre wohl vorzuschlagen, man solle neue Musik so hören, wie man ein Bild als ganzes betrachtet, alle ihre Momente in eins setzen, e ine Ar t Gleichzeit igkeit des Sukzess iven s ich erwerben, anstatt bei

445 ÄT, S. 428. 466 ÄT, S. 191. 467 ÄT, S. 212. 468 ÄT, S. 274.

469 ÄT, S. 415-6 . - Zu dieser Frage in der Literatur vgl. JAUSS: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts A la recherche du temps perdu, a. a. O., S. 20 ff. Eine Ausnahme bildet Jauß zu-folge die Comtdie Humaine Balzacs, wie bereits Proust erkannt hatte: „In dem Umstand, daß Balzac sein Romanwerk nicht von Anbeginn nach einer idee pröcongue entworfen hat und die Einzelromane teils erst nachträglich in den Zyklus inkorporieren mußte, sieht Proust den Grund, weshalb die neuen Beziehungen, die das Genie des Autors plötzlich zwischen den zuvor gesonderten Romanen entdeckte oder mit der Wiederkehr der Personen herstellte, seinem Werk insgesamt ein neues Leben verleihen konnten." (Ebd., S. 29.)

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jener Diskontinuität es zu belassen, zu welcher das Medium der Musik, die

zeitliche Aufeinanderfolge, verlockt."470

Deswegen ist auch das Neue im Verlauf des Kunstwerks nur ein f ikt ives Neues. Während es die Kontinuität des Verlaufs durchbricht, ist die Spontaneität des Werdens im festgeschriebenen Werk scheinhaft: „noch die äußersten Spannun-gen eines Verlaufs in ästhetischer Zeit sind soweit f ikt iv, wie sie in dem Gebilde ein für allemal vorentschieden sind".471 Bereits der dialektische Prozeß zwi-schen den historischen Kategorien ist scheinhaft:

„Paradox jedoch sind die Kunstwerke auch insofern, als nicht einmal ihre Dia-lektik buchstäblich ist, nicht wie die Geschichte, ihr geheimes Model l , sich zu-trägt. D e m Begriff des Artefakts reproduziert sie sich in seienden Gebilden, dem Gegentei l des Prozesses, der sie zugleich sind: Paradigma des i l lusionären Moments von Kunst."472

Daß Kunstwerke überhaupt fixiert sind, widerspricht zwar ihrem dynamischen Charakter . Anders denn als f ixierte können sie jedoch gar nicht wahrgenom-men werden. Deswegen ist Spannung zwischen Kontinuität und Diskontinuität im Verlauf des Kunstwerks nur dessen vordergründige Dynamik . Im fert igen Kunstwerk erscheint sie als geschlichtet.473 Weil die Spannung zwischen den hi-storischen Kategorien tendenziell aufgehoben und das Kunstwerk dadurch falsch wird, entsteht eine neue Dynamik. Die eigentliche Spannung, der ent-scheidende Prozeß ergibt sich damit gerade aus der offensichtl ichen Scheinhaf-tigkeit der Versöhnung der Antinomien, die das Kunstwerk als bewegtes Gan-zes zur Kritik an diesen Kategorien überhaupt werden läßt. Das Unversöhnte zu versöhnen kann den Kunstwerken in bezug auf historische Kategorien eben-sowenig gel ingen wie bei Individuum und Gesellschaft, Ratio und Natur . Was Kunst eigentlich wollte, nämlich „die imago eines versöhnten Zustands zu ante-zipieren, der selber über Statik und Dynamik wäre",474 gelingt ihr nicht, kann ihr nicht gelingen. Kunstwerke sind Demonstrat ion der objektiven Unmög-lichkeit, diesen utopischen Zustand, das absolut Neue jetzt zu realisieren. In der Unvol lkommenheit und im Mißlingen der Kunstwerke ist er dennoch als Utopie aufgehoben, denn indem sie Statik und Dynamik in ein anderes Verhältnis rücken, ihr dialektisches Verhältnis reflektieren, üben sie Kritik an

diesen historischen Kategorien. Die Aufgabe auch noch der Intention der Versöhnung ist Becketts Konse-

quenz aus dem Scheitern. Seine Werke sind negative Negat ion der falschen Zeitkategorien. Die Immergleichheit des scheinbaren Fortschritts entlarvt

470 ADORNO: Anweisungen zum Hören neuer Musik. In: GS 15, S. 246. 471 ÄT, S. 163. 472 ÄT, S. 276. 473 ÄT, S. 262. 474 ÄT, S. 333-4.

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Becken dadurch, daß er im Verlauf der Werke auf Neuheit , auch auf die scheinhafte, falsche Neuheit , die den falschen Fortschritt konstituiert , verzich-tet.475 Anstatt einen positiven anderen Begriff von Geschichte zu entwickeln, führt Beckett den Verlust von Geschichte vor: „Geschichte wird ausgespart, weil sie die Kraft des Bewußtseins ausgetrocknet hat, Geschichte zu denken, die Kraft zur Erinnerung. Das Drama verstummt zum Gestus, erstarrt mitten in den Dialogen. Von Geschichte erscheint bloß noch deren Resultat als Neige."476 Im Endspiel ist die Zeit das Negativ des von Adorno als Utopie be-schriebenen Einstands von Statik und Dynamik.4 7 7 Das Absurde ist die dialekti-sche Einheit von Notwendigkei t und Zufall in einem Zustand, „in dem alles gleich möglich und gleich notwendig erscheint."478 Statik - völlige Verände-rungs- und Ereignislosigkeit - verschmilzt bei Beckett mit leerer Dynamik -der Abfolge von zufäll igen, zusammenhangslosen Ereignissen und Dialogen, Auf-der-Stel le-Treten und Wiederholung statt Entwicklung - zu einem Bild „negativer Ewigkeit", in der mit dem Verlust der Zeit jede Hoffnung ver-schwindet479 und damit auch jeder Sinn und jede Handlungsmögl ichkei t : Becketts Werk „ist Extrapolation des negativen KCapög."480 Ohne Zusammen-hang gibt es keine Zeit, ohne Zeit keine Hoffnung, ohne Hoffnung keinen Sinn, ohne Sinn keine Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeit . Das „End-spiel" ist „Konstruktion des Sinnlosen"481. Beckett weigert sich, seine Werke überhaupt noch den falschen antagonistischen Kategorien von Statik und Dy-namik anzumessen:

„Chiffriert ist in der Moderne das Postulat einer Kunst, welche der Disjunk-tion von Statik und Dynamik nicht länger sich beugt. Indifferent gegen das herrschende Cliche von Entwicklung, sieht Beckett seine Aufgabe darin, in ei-nem unendlich kleinen Raum, auf dem dimensionslosen Punkt sich zu bewe-gen. Dies ästhetische Konstruktionsprinzip wäre als das von II faut continuer

475 Dazu Scheible: „Kunst verklagt den sich absolut setzenden, längst nicht mehr nach rationalen Zwecken befragten technischen Fortschritt, indem sie seine Bewegung nachahmt, diese Bewegung durch den Gestus des Auf-der-Stelle-Tretens - angespielt ist auf den Schluß von Becketts Innomable - entlarvt als jenseits der Rationalität, in deren Namen technischer Fortschritt einst, als Fortschritt in der Naturbeherrschung, auf den Plan trat." (SCHEIBLE: Sehnsüchtige Negation, a. a. O., S. 72.)

47' NL, S. 288 (Versuch, das Endspiel zu verstehen). So auch Lüdke: „Becketts Stücke beschreiben eine negative Utopie. Die Figuren sind

verkrüppelt, die Natur ist nicht mehr, die Welt ist grau, Geschichte ist am Ende: entleert, ein auf der Stelle treten, ohne Veränderung, der Ablauf von Zeit. Was noch kreucht und fleucht, mehr dahinsiecht als lebt, wartet auf das Ende und schlägt ~ wartend — die Zeit tot, mit beliebig gewordenen, immer sinnlosen Tätigkeiten." (LÜDKE: Anmerkungen zu einer „Logik des Zer-falls", a. a. O., S. 106.)

478 KÖHLER, a. a. o . , s . 85. 479 NL, S. 287 (Versuch, das Endspiel zu verstehen). 480 ÄT, S. 53. 481 NL, S. 283 (Versuch, das Endspiel zu verstehen).

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jenseits von Statik; jenseits von Dynamik als auf der Stelle Treten, Einbe-

kenntnis ihrer Vergebl ichkeit .^ !

Ob die Abwesenheit der unschlichtbaren Antinomien Aussicht auf die Mög-lichkeit von deren Versöhnung ist, ob Becketts Endspiel die Apoka lypse antizi-piert oder negative Hoffnung auf den utopischen Zustand sein könnte, bleibt offen: „Das letzte Absurde ist, daß die Ruhe des Nichts und die von Versöh-nung nicht auseinander sich kennen lassen."483 Indem Beckett auf das Neue als nur scheinbare Verwirkl ichung der Möglichkeit des Eingreifens in einen schein-bar determinierten Verlauf und auch als Aktual is ierung der Mögl ichkeit des Fortschreitens verzichtet, vollzieht er den Bruch, den auch eine Realis ierung der Utopie vollziehen müßte. Durch den Sprung aus der Geschichtl ichkeit negiert er die Dynamik wie die Statik der Geschichte. Gerade das Auf-der-Stelle-Treten, die Abwesenheit von Fortschritt , von Dynamik des Neuen ist Methexis an der Utopie des absolut Neuen, einer anderen Geschichte jenseits von Statik und Dynamik , in der Neuheit auch als richtiger Fortschritt irrele-vant wird und Stil lstand nicht Statik bedeutet.

Weil Kunstwerke diesen friedlichen Zustand nicht positiv repräsentieren können, ohne den antagonistischen Zustand der gegenwärtigen Realität zu leugnen, bleiben sie bewegt : „Durch alle Vermitt lungen, alle Negativität hin-durch sind sie [die Kunstwerke, SZ] Bilder einer veränderten Menschheit , kön-nen durch Abstrakt ion von jener Veränderung nicht in sich zur Ruhe kom-men."484 Die Diskrepanz zwischen der Utopie und dem realen Zustand ist auch der Kern der Dynamik der Kunstgeschichte. Weil Kunst diese Diskrepanz nicht auflösen kann, weil sie notwendig scheitert, muß sie fortschreiten.

c) Vergänglichkeit des Neuen

Kunstwerke sind so vergänglich wie ihre Neuheit . Zum einen, weil das Neue seinem Begriff nach ein Vorübergehendes, Vergängliches ist, zum anderen des-halb, weil das Kunstwerk, sofern es Mimesis an Natur ist, sich der Natur gleichmachen will, anstatt sie zu beherrschen, genauso vergänglich ist wie diese. Im Neuen negiert die Kunst der Moderne die Idee der Dauer. Diese stammt Adorno zufolge aus dem magischen Ursprung der Kunst: „Dauer des Vergäng-lichen, als Moment der Kunst, das zugleich das mimetische Erbe perpetuiert , ist eine der Kategorien, die auf die Vorzeit zurückdatieren."485 Sie ist für Adorno kein rein Negatives: „Durch Dauer erhebt Kunst Einspruch gegen den Tod; die kurzfr is t ige Ewigkeit der Werke ist Allegorie einer scheinlosen. Kunst

482 ÄT, S. 333. 483 NL, S. 321 (Versuch, das Endspiel zu verstehen). 484 ÄT,S. 358. 485 ÄT, S. 416.

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ist Schein dessen, woran der Tod nicht heranreicht."4"'' Als „Rettung von Na-tur[ , ] begehrt sie auf gegen deren Vergänglichkeit."487 So wird in der Kunst „das Entgleitende objektiviert und zur Dauer zitiert"488.

Allerdings ist die Kategorie der Dauer seit jeher fragwürdig gewesen, weil die in der Kunst aufgehobene Natur nicht als lebendige, sondern nur als tote bewahrt werden kann: „Naturmalerei war auch in der Vergangenheit authen-tisch wohl nur als nature morte: wo sie Natur als Chiffre eines Geschichtlichen, wenn nicht der Hinfälligkeit alles Geschichtlichen zu lesen verstand."489 Die Rettung des Vergänglichen als Lebendiges kann nicht gelingen, denn: „Indem die Werke das Vergängliche - Leben - zur Dauer verhalten, vorm Tod erretten wollen, töten sie es."490 Dauer, die den Tod dessen, was bewahrt werden soll, voraussetzt, war Adorno zufolge schon in der Frühgeschichte der Kunst du-bios. So wurde „Dauer als Schuld den Lebendigen gegenüber empfunden"491 . Ist für Adorno das „ästhetische Bild [...] Einspruch gegen ihre [der Natur, SZ] Angst, ins Chaotische zu zergehen",492 so tut Kunst dem, was sie festhalten will, dadurch Unrecht, daß sie es objektivierender Technik unterwirft. Die Form, die Dauer verheißt, macht das Lebendige zum Leblosen.

Daß die Kategorie der Dauer in der Kunst obsolet geworden ist, liegt nach Adorno an der Fetischisierung von Dauer, indem Kunstwerke sich als ewige Wahrheiten aufspielen. Dadurch tritt die Scheinhaftigkeit ihres Rettungsver-suchs an der Natur zutage. Je mehr die Kunstwerke sich die Natur, die sie ret-ten wollen, unterwerfen, desto starrer werden sie selbst. Indem sie die Natur töten, töten sie sich selbst. Die Kategorie der Dauer hat als hypostasierte nichts mit Rettung oder Überleben von Vergänglichem zu tun, sondern ist krampf-haftes Festhalten an einem bereits Toten. So wenig wie Kunstwerke die ver-gängliche Natur als lebendige bewahren können, können sie deshalb ihre eigene Dauer intendieren. Der Versuch, durch ästhetische Vollkommenheit, Ge-schlossenheit des Werks, Ausschluß des Ephemeren und Flucht in angeblich ewige Werte Dauer zu erlangen, bedeutet oktroyierte Verbindlichkeit, Ver-dinglichung, zeitlose Statik und mit alldem Selbstentfremdung der Kunstwerke und nicht Fortleben, sondern Vergänglichkeit:

„Wird ihnen Dauer zur Intent ion [. . . ] , so verkürzen sie ihr Leben, betreiben Pseudomorphose an den Begriff, der, als konstanter Umfang wechselnder Er-fül lungen, seiner Form nach eben jene zeitlose Statik ambitioniert , gegen die der Spannungscharakter des Kunstwerks sich wehrt . Die Kunstwerke, sterbli-

486 ÄT, S. 48. 487 ÄT, S. 274. 488 ÄT, S. 114. 489 ÄT, S. 106. 490 ÄT, S. 202. 491 ÄT, S. 416. 492 ÄT, S. 202.

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che menschliche Gebilde, vergehen offensichtlich um so rascher, je verbisse-ner sie dem sich entgegenstemmen."493

Was überhaupt die Möglichkeit hat zu dauern, sind nicht die tradierten For-men; sondern „die verborgenen Keime[...] des Überlebens"494 liegen in dem, was in den Werken bewahrt sein soll: Natur. Kunst löst sich deswegen in der Moderne von der Scheinhaftigkeit des Versuchs, das Sterbliche durch Fest-schreibung dauern zu lassen. Weil es Dauer des Zeitlichen als Fixiertes nicht geben kann, verzichtet sie auf Dauer als statische. Sie will dauern, aber als le-bendige. Deshalb kommt es für die moderne Kunst darauf an, nicht die Natur zu identifizieren, sondern sich mit ihr zu identifizieren. Kunst will nicht mehr nature morte produzieren, deshalb macht sie sich der Natur gleich, wird durch Mimesis ans Vergängliche dynamisch. Die klassische Wahrheit der Dauer wird in der Moderne durch die des Neuen ersetzt.

Im Konflikt zwischen dem Neuen und der Dauer kehrt das ungelöste Ver-hältnis zwischen Vergänglichkeit und Ewigkeit wieder. Die Idee der Dauer in der Kunst ist mit dem Niedergang der Idee der Ewigkeit obsolet geworden. In der Unstimmigkeit des Dauernwollens spiegelt sich das Falsche eines Ewig-keitsbegriffs, der wie bei Hegel als Aufhebung der Vergänglichkeit verstanden wird. Damit reflektiert Kunst im Neuen das ungelöste Problem des Todes. Weil der Tod die Antithesis des selbsterhaltenden Prinzips ist, ist er als Konse-quenz der Dialektik der Aufklärung nicht mehr erfahrbar, er wird wie Natur überhaupt negiert.495 Der physische Tod des Individuums kann deshalb nur als euphemistisch entmaterialisierter in die Kultur aufgenommen werden. Die Wahrheit des Todes wird verdrängt. Durch die gleichzeitige Beschönigung und Verdrängung des Todes wird in der durchrationalisierten Welt der Tod des ein-zelnen immer gleichgültiger und immer mehr zum ganz Fremden, Unerfahrba-ren. Diese Art der Integration des Todes ist für Adorno rückgängig zu machen: „Theoretisch zu widerrufen wäre die Integration des physischen Todes in die Kultur, doch nicht dem ontologisch reinen Wesen Tod zuliebe, sondern um dessentwillen, was der Gestank der Kadaver ausdrückt und worüber deren Transfiguration zum Leichnam betrügt."496 Je fremder und inkommensurabler der Tod wird und je gründlicher er verdrängt wird, desto mehr werden sich Kunstwerke ihrer Sterblichkeit und des Todes bewußt. Der Kunst gelingt es so wenig, Vergängliches in Dauer zu retten, wie es der Philosophie gelingt, das Problem des Todes zu lösen. Die Unzulänglichkeiten der philosophischen Lö-sungen des Todesproblems, die vor allem darin liegen, daß sie das Zeitliche, Vergängliche dem angeblich Ewigen unterordnen, werden in der Kunst sichtbar gemacht.

4,3 ÄT, S. 264-5. 494 ÄT, S. 48. 495 JE, S. 516-7. 49t ND, S. 359.

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„Daß das Unveränderl iche Wahrheit sei und das Bewegte, Vergängliche Schein, die Gleichgült igkeit von Zeitl ichem und ewigen Ideen gegen einander, ist nicht länger zu behaupten".4 '7 Für Adorno hat bereits Kant gesehen, daß eine str ikte Trennung zwischen Zeitl ichem und Ewigem widersprüchlich ist. Während er noch von dem Anspruch auf Zeitlosigkeit der Wahrheit ausging, hat er doch als erster bereits erkannt, daß ohne Zeitliches nichts gedacht werden kann, daß es auch etwas wie Ewigkeit nicht ohne Zeitliches gibt.498 Bei Hegel ist das Ver-gängliche, das Natürl iche, zwar nichts der Ewigkeit Entgegengesetztes mehr, aber als einzelnes Endliches dennoch unbedeutend gegenüber der Gesamtheit alles Vergänglichen. Der Begriff der Ewigkeit, wie er sich bei Hegel darstellt , ist deshalb für Adorno die Ausdehnung der Herrschaft des Al lgemeinen auf die Zeit. Ist erkenntnistheoretisch das Allgemeine das, was vom Besonderen abstrahiert und als zeitloses An-sich-Seiendes gesetzt wurde, während das Be-sondere an Bedeutung verliert, so ist auch die Ewigkeit vom Zeitl ichen abstra-hierte und verabsolutierte Zeit, angesichts deren das einzelne Zeitliche irrele-vant wird.499 Hegels Nobil i t ierung des Vergänglichen zum Bestandteil des Ab-soluten scheint zwar die traditionelle Geringschätzung des Vergänglichen, d. h. des Lebendigen und damit auch der Natur des Menschen aufzuheben.5 0 0 Aber die Hegeische Idee der Ewigkeit von Vergänglichkeit kommt dem einzelnen empirischen Dasein nicht zugute, sie entbindet den Menschen nicht von mate-riellen, körperl ichen Bedürfnissen, Schmerzen und Gebrechen. Seine Auffas-sung, „zeitliches Dasein diene vermöge der seinem Begriff innewohnenden Vernichtung dem Ewigen, das in der Ewigkeit von Vernichtung sich dar-stelle",501 setzt den Tod des Lebendigen als Bedingung für seine Rettung vor-aus. Daß seine Endlichkeit Erscheinung des Absoluten ist, tröstet das Indivi-duum nicht über seinen Tod hinweg. Das ist Adorno zufolge in Hölderl ins Dichtung zu spüren, die „übers Opfer klagt, das sie erheischt",502 nämlich über die „Gleichgültigkeit [...] gegen die dergestalt zur f lüchtigen Erscheinung des Weltgeists herabgesetzten Lebendigen",503 und damit eine Wahrheit enthält, die der in diesem Punkt aff irmativen Hegeischen Theorie entgeht.

Auch Heideggers Todesmetaphysik verhält sich aff irmativ zum Tod. So ist Adorno zufolge in seiner „Theodizee des Todes"504 der Tod Qualität des Selbst,

4.7 ND, S. 354. 4.8 Vgl. ADORNO: Kants Kritik der reinen Vernunft, S. 23-4 und ND, S. 326. 499 ND, S. 325. 500 Ähnlich erhält auch bei Hölderlin das Vergängliche Gewicht: „Wie in der Hegeischen

Spekulation wird unterm Blick des Hölderlinschen Gedichts das geschichtlich Endliche zur Er-scheinung des Absoluten als dessen eigenes notwendiges Moment, derart, daß Zeitliches dem Absoluten selbst innewohnt." (NL, S. 462 [Parataxis].)

501 ND, S. 354. S 0 2NL, S. 463 (Parataxis). 503 Ebd., S. 462-3 . 504 JE, S. 502.

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das Dasein des Menschen wird aller Qualitäten entäußert und letztl ich auf den Tod reduziert.505 Damit wird die Vergänglichkeit des Menschen als ihm eigene Nichtigkeit aff irmiert und propagiert.506 Die Rechtfert igung des Todes und die Geringschätzung des Lebens bei Heidegger ist für Adorno deshalb falsch, weil sie als Konsequenz das reale Leiden negiert und dessen Abschaffung verhin-dert. Indem bei Heidegger der Tod „zum ontologischen Stifter der Ganzheit", „zum Sinnverleihenden"507 wird, radikalisiert er die in den Religionen mit dem Hinweis auf eine jenseitige Erlösung verbundene Mißachtung der Leiblichkeit des Menschen und seines irdischen Leidens, die sich im Cartesianischen Primat der res cogitans und weiter in der Hegeischen Lehre fortsetzte.508 Leid wird als schicksalhaft, nicht veränderbar vorausgesetzt. Daß nach Heidegger der Mensch „Hirte" oder „Nachbar" des Seins sein soll, ihm damit Adorno zufolge „magische Teilhabe am Absoluten zugeschrieben wird"509, kann ihn dabei eben-sowenig über das reale Leiden hinwegtrösten, wie ihn die Heideggersche Vor-stellung, daß sich mit dem Tod das Leben zur Ganzheit runde,510 den Tod nicht hoffnungsfroh erwarten läßt.

Für Adorno nimmt sich der Mensch die Chance, den Tod zu bewältigen, indem er ihn verdrängt und damit keine Maßnahmen ergreifen kann, um ihm seinen Schrecken zu nehmen.511 Wei l die Rationalisierungen und Verdrängun-gen des körperl ichen Todes mit einer Rechtfert igung des Leidens einhergehen, ist damit die Möglichkeit abgeschnitten, ein anderes Verhältnis zum Tod zu gewinnen. So wäre für Adorno auch die Erfüllung des Lebens woanders zu su-

505 JE, S. 504-5 . Das ist eine folgerichtige Konsequenz aus dem „gewalttätige[n] Wesen der absoluten Selbstheit" (JE, S. 502), das Adorno zufolge bereits Hegel erkannt hat: „Das ab-solut sich selbst setzende, ganz auf sich bestehende Ich des Idealismus wird, nach Hegels Er-kenntnis, zu seiner eigenen Negation und ähnelt dem Tod sich an." (Ebd.)

506 JE, S. 456. 507 JE, S. 511 . 508 Vgl. ND, S. 393. 509 JE, S. 447. 510 JE, S. 510. 511 Nachdem die Bewältigung des Todes nicht gelingt, er statt dessen verdrängt wird, ist es

Adorno zufolge ungewiß, ob der Mensch überhaupt in der Lage ist, dem Bewußtsein des Todes standzuhalten: „Man könnte zu anthropologischen Spekulationen darüber sich verleiten lassen, ob nicht der entwicklungsgeschichtliche Umschlag, welcher der Gattung Mensch das offene Bewußtsein und damit das des Todes verschaffte, einer gleichwohl fortwährenden animalischen Verfassung widerspricht, die es nicht erlaubt, jenes Bewußtsein zu ertragen. Dann wäre für die Möglichkeit des Weiterlebens der Preis einer Beschränkung des Bewußtseins zu entrichten, die es vor dem schützt, was es doch selber ist, Bewußtsein des Todes. Trostlos die Perspektive, die Borniertheit aller Ideologie ginge, gleichsam biologisch, auf eine Nezessität der Selbsterhaltung zurück und müßte keineswegs mit einer richtigen Einrichtung der Gesellschaft verschwinden, während freilich erst in der richtigen Gesellschaft die Möglichkeit richtigen Lebens aufginge. Von der gegenwärtigen wird noch vorgelogen, der Tod sei nicht zu fürchten, und die Besinnung darüber sabotiert." (ND, S. 388.)

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chen als ausgerechnet im Tod, nämlich im Leben selber, im Leben ohne Man-gel, ohne Leid. Umgekehrt resultiert für ihn die Inkommensurabilität des To-des, die metaphysische Negativität gerade aus den Mängeln des Lebens.

So wird für das Individuum der eigene Tod, je weniger es es selbst ist und sich statt dessen dem Allgemeinen und Gesellschaftlichen unterwirft, immer weniger integrierbar, schließlich „vollends zu dem ganz Fremden durch den ge-sellschaftlich determinierten Niedergang kontinuierlicher Erfahrung über-haupt".512 Deswegen besteht , ,[k]eine Möglichkeit mehr, daß er [der Tod, SZ] in das erfahrene Leben der Einzelnen als ein irgend mit dessen Verlauf Uber-einstimmendes eintrete. Enteignet wird das Individuum des Letzten und Ärm-sten, was ihm geblieben war."513 Je mehr die Natur des Menschen unterdrückt wird, desto unkommensurabler und unerklärlicher der physische Tod: „Je weniger die Subjekte mehr leben, desto jäher, schreckhafter der Tod."514 Der Mensch kann dem Bewußtsein des Todes um so weniger standhalten, je mehr seiner Bedürfnisse unerfüllt bleiben, je größer die Diskrepanz zwischen seinen Möglichkeiten und dem, was er erreichen kann, denn: „Kein Menschenleben, das offen und frei zu den Objekten sich verhält, reicht aus, zu vollbringen, was im Geist eines jeden Menschen als Potential vorhanden ist; es und der Tod klaffen auseinander."515 Als das Leben zum Ganzen rundender ist der Tod wegen der Nichterfüllung und Verdrängung der Bedürfnisse des Menschen nicht erfahrbar.

Darauf reagiert die Kunst mit dem Neuen: „Die Kategorie des Neuen ist der Versuch, den Erfahrungen der metaphysischen Negativität gerecht zu wer-den"516. Dadurch, daß sie sich vergänglich machen, rebellieren die Kunstwerke gegen die Verdrängung des unbewältigten körperlichen Todes des Individuums einerseits und gegen die falsche, rationalisierende Integration des Todes ande-rerseits. Durch Vergänglichkeit erklärt sich Kunst solidarisch mit der Natur und weist auf die Naturverfallenheit des Menschen hin. Indessen kann sie den Tod nicht kommensurabel machen. Indem Kunst sich mit Natur identifiziert, kann sie nur dessen Wahrheit: das Vergehen des Körperlichen bezeugen. Sie will dem Tod keinen Sinn zusprechen, weil mit der Sinnhaftigkeit des Todes das Leben seinen Sinn verlöre. Jede Integration des Todes wäre Rechtfertigung des Todes, der durch nichts zu rechtfertigen ist.517 Statt dessen tritt Kunst für die Rechte des Lebendigen ein, gegen die Abwertung des Lebens und die Baga-

512 ND, S. 363. 513 ND, S. 355. 514 ND, S. 363. 515 ND, S. 362. 516 VÄ, S. 78. 517 DesKalb ist auch die traditionelle Behandlung des Todes in der Tragödie Adorno zu-

folge nicht mehr möglich, denn die Tragödie ist affirmativ, indem sie dem Tod im Kunstwerk Sinn aufzwingt und damit auf der obsolet gewordenen Idee beruht, „im Untergang des Endli-chen leuchte das Unendliche auf; der Sinn des Leidens." (ÄT, S. 49.)

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tellisierung des Leidens. Kunstwerke wollen als vergängliche Vorbilder für ein besseres Leben des Lebendigen sein: „Kunstwerke sind Nachbilder des empi-risch Lebendigen, soweit sie diesem zukommen lassen, was ihnen draußen ver-weigert wird, und dadurch von dem befreien, wozu ihre dinghaft-auswendige Erfahrung sie zurichtet."518

Die Möglichkeit einer Lösung des Todesproblems sieht Adorno nicht pri-mär in der Utopie von Unsterblichkeit - und damit von Ewigkeit —, auch wenn er diesen Gedanken nicht ausschließen möchte:

„Wie manche niedere Organismen nicht im selben Sinne sterben wie die höhe-ren, individuierten, so ist angesichts des Potentials der Verfügung über organi-sche Prozesse, das Umriß gewinnt, der Gedanke einer Abschaffung des Todes nicht a fortiori abzutun. Sie mag sehr unwahrscheinlich sein; denken jedoch läßt sich, was existentialontologisch nicht einmal sich denken lassen dürf-te."519

Während sich in diesen Sätzen vor allem die Kritik an der Geringschätzung des Lebendigen bei Heidegger und seine Negation der Möglichkeit, Leiden zu ver-ringern, verbirgt, geht Adorno wohl davon aus, daß das Problem des Todes in erster Linie ein Problem des Bewußtseins vom Tod bzw. ein Problem der die-sem Bewußtsein zugrundeliegenden Lebensbedingungen ist. Dem gegenwärti-gen falschen Bewußtsein vom Tod zugrunde liegt die falsche Fetischisierung der Ewigkeit, des verdinglichten und damit zum Immergleichen gewordenen geistigen Prinzips gegenüber dem Vergänglichen. So sollten die Menschen be-reits in der Religion über das Leiden im irdischen Leben mit dem Versprechen eines ewigen Lebens nach dem Tod hinweggetröstet werden. Für Adorno ist nach Verlust des Glaubens an dieses ewige Leben das irdische Leiden in den Blick zu nehmen. Die „Leere des Daseins" ist nicht „zu kurieren von innen her, dadurch, daß die Menschen anderen Sinnes werden, sondern einzig durch die Abschaffung des versagenden Prinzips. Mit ihm verschwände am Ende auch der Zyklus von Erfüllung und Aneignung".520 Danach kommt erst der befreiten Menschheit ein adäquates Bewußtsein vom Tod zu. Richtiges Bewußtsein vom Tod heißt damit für Adorno, daß das Bewußtsein des Todes nicht mehr als schmerzlich empfunden wird, wenn ein Zustand erreicht wird, in dem es kein Leid gibt, d. h. in dem die Lebensvorstellungen und -erwartungen des Men-schen erfüllt werden, ihm nichts versagt wird, bzw. ein Zustand des Glücks, d. h. der Wunschlosigkeit:521

518 ÄT, S. 14. 519 JE, S. 5 17 -8 . 520 ND, S. 371. 521 Diese Beschreibung der Utopie hat dazu beigetragen, daß seine Geschichtsphilosophie

der Bereich von Adornos Denken ist, in dem ihm am häufigsten Irrationalismus unterstellt wird. Schnädelbach zufolge ist der „wahre[...] Grund des irrationalistischen Sogs, der für viele von Adornos Denken ausgeht", sein „utopische[r] Hedonismus" (SCHNÄDELBACH, a. a. O., S. 91.)

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„Denkba r e in gese l l schaf t l i cher Zus tand , in d e m die M e n s c h e n den T o d n icht m e h r ve rd rängen m ü ß t e n , v ie l le icht anders ihn e r f ahren k ö n n t e n als in A n g s t , d e m M a l k r u d e n Na tu r s t andes , den H e i d e g g e r s Lehre m i t suprana tura l i s t i -s chen W o r t e n ve rew ig t . [ . . . ] In e inem nicht l änger en t s te l l t en , v e r s agenden Leben , e inem, das die M e n s c h e n n icht m e h r u m das Ih re be t röge , b r auch t en sie w o h l n i ch t erst m e h r ve rgebens z u hof fen , daß es i hnen d o c h n o c h das Ver sag t e g ewähre , u n d d a r u m auch g a r n icht m e h r so s ehr z u fü r ch t en , es z u ver l i e ren , w i e tief i hnen so lche A n g s t auch e ingef l e i sch t is t ." 5 2 2

A n d e r E r r e i c h u n g d i e s e s Z u s t a n d e s i s t d e s h a l b z u a r b e i t e n , e s k o m m t d a r a u f

a n , d e n v e r g ä n g l i c h e n M e n s c h e n n i c h t l e i d e n z u l a s s e n : „ D i e m e t a p h y s i s c h e n

I n t e r e s s e n d e r M e n s c h e n b e d ü r f t e n d e r u n g e s c h m ä l e r t e n W a h r n e h m u n g i h r e r

m a t e r i e l l e n . [ . . . ] N u r w e n n , w a s i s t , s i c h ä n d e r n l ä ß t , i s t d a s , w a s i s t , n i c h t a l -

l e s . " 5 2 3

D a g e g e n k a n n f ü r A d o r n o d i e u n g l a u b w ü r d i g g e w o r d e n e I d e e d e r E w i g -

k e i t , i n d e r d a s V e r g ä n g l i c h e a u f g e h o b e n i s t , n i c h t d u r c h d i e F l u c h t i n d e n e r -

f ü l l t e n A u g e n b l i c k s u b j e k t i v e r E r f a h r u n g e r s e t z t w e r d e n , s o f e r n d e r A u g e n -

b l i c k n i c h t s a n d e r e s i s t a l s d e r A n t a g o n i s m u s v o n E w i g k e i t . I n i h r e r s t a r r e n

E n t g e g e n s e t z u n g s i n d A u g e n b l i c k u n d E w i g k e i t S y m p t o m e i n e s g e s t ö r t e n

Z e i t b e w u ß t s e i n s , d a s r e i n q u a n t i t a t i v b e g r ü n d e t i s t . 5 2 4 D a r i n s t e l l t s i c h E w i g k e i t

a l s a b s t r a k t e , s c h l e c h t e U n e n d l i c h k e i t d a r , i n d e r d e r M e n s c h , g e m e s s e n a n s e i -

n e r L e b e n s z e i t , e i n N i c h t s i s t :

„Ent se t zen aber be re i t en sch la f lose N ä c h t e , in denen die Ze i t s i ch z u s a m m e n -

z ieh t u n d f ruch t lo s durch die H ä n d e r innt . [ . . . ] Das M e n s c h e n l e b e n w i r d z u m

A u g e n b l i c k , n i ch t i n d e m es D a u e r aufhebt , sonde rn i n d e m es z u m N i c h t s ver -

fä l l t , z u s e ine r Ve rgeb l i chke i t e rwacht i m Ange s i ch t der s ch l e ch t en U n e n d -

l i chke i t v o n Zei t se lber . I m über l au ten T i c k e n der U h r v e r n i m m t m a n den

H o h n der L i ch t j ah re auf die Spanne des e igenen Dase ins . D ie S tunden , die a ls

S e k u n d e n s c h o n vorbe i s ind, ehe der innere S inn sie a u f g e f a ß t hat , u n d ihn

fo r t r e i ß en in i h r e m S tu rz , m e l d e n i hm, w i e er samt a l l em Gedäch tn i s d e m

Ve rge s s en gewe ih t ist in der k o s m i s c h e n Nach t . Des s en w e r d e n die M e n s c h e n

- Irrationalismus wird Adorno beispielsweise von Scheible vorgeworfen. Er spricht in seiner Adorno-Kritik von einer „Theologisierung" der Geschichtsphilosophie durch Adorno, der ver-suche, „von einem transhistorischen, letzten Endes theologisch vermittelten Standpunkt aus zu urteilen", und „Geschichtsphilosophie zur Marotte, das Argument zum Uberrumpelungsma-növer, Spekulation zum Beleuchtungseffekt" mache. (SCHEIBLE: Wahrheit und Subjekt, a. a. O., S. 479.)

S22JE, S. 516-7 . S2J ND, S. 391. 524 Richtiges Zeitbewußtsein brauchte beides, während die reale Entwicklung zum Verlust

von beidem führt: „Zeitbewußtsein konstituiert sich zwischen den Polen der Dauer und des hic et nunc; was droht, kennt beides nicht mehr, die Dauer wird kassiert, das Jetzt vertauschbar, fungibel." (NL, S. 184 [VaUrys Abweichungen].)

263

heute zwanghaft gewahr. Im Stande der vollendeten Ohnnwchl scheint dem

Individuum, was ihm noch zu leben gelassen ward, als kurze Galgenfrist."525

S i n n e r f ü l l t e , s c h ö p f e r i s c h e , e k s t a t i s c h e A u g e n b l i c k e a l s s u b j e k t i v e E r f a h r u n g ,

w i e s i e s e i t d e m 18. J a h r h u n d e r t a n d i e S t e l l e d e r v e r l o r e n e n U n e n d l i c h k e i t g e -

t r e t e n s i n d , 5 2 6 k ö n n e n A d o r n o z u f o l g e d a s L e i d e n u n d d i e L e e r e n u r f ü r k u r z e

M o m e n t e v e r d r ä n g e n u n d m ü s s e n s i c h i m m e r a n d e r U n e r f ü l l t h e i t d e r ü b r i g e n

Z e i t m e s s e n l a s s e n :

„Ver führe r i s ch g l e i chwoh l , den S inn n icht i m Leben überhaupt s o n d e r n in den

e r fü l l t en A u g e n b l i c k e n z u suchen . D i e s e en t schäd ig t en i m d i e s se i t i gen D a s e i n

dafür , daß es a u ß e r s i ch n i ch t s mehr duldet . [ . . . ] D i e Rede v o n der Fü l l e des

Lebens , e i n e m lucus a n o n lucendo noch w o es l euchte t , w i r d eite l du rch ih r

u n m ä ß i g e s M ißve rhä l t n i s z u m Tod ." 5 2 7

Ü b e r d e n A u g e n b l i c k k a n n d i e s c h l e c h t e E w i g k e i t n i c h t v e r g e s s e n w e r d e n .

W ä h r e n d d i e R e f l e x i o n d e s A u g e n b l i c k s i n d e r K u n s t A u s d r u c k d e s g e s t ö r t e n

Z e i t b e w u ß t s e i n s i s t , s i n d p h i l o s o p h i s c h e A u g e n b l i c k s u t o p i e n f a l s c h , w e i l s i e

d e n G e g e n s a t z v o n A u g e n b l i c k u n d E w i g k e i t f e s t s c h r e i b e n . D a m i t w e n d e t s i c h

A d o r n o a u c h g e g e n d i e U t o p i e d e s e r f ü l l t e n A u g e n b l i c k s b e i B e n j a m i n , d i e i n

d e r l e t z t e n Z e i t — z u e r s t b e i B o h r e r - w i e d e r z u n e h m e n d i n d e n B l i c k g e r ü c k t

i s t u n d d a s b i s i n d i e a c h t z i g e r J a h r e h i n e i n z e n t r a l e g e s c h i c h t s p h i l o s o p h i s c h -

ä s t h e t i s c h e I n t e r e s s e a n Z u k u n f t s u t o p i e n 5 2 8 s u b s t i t u i e r t . B e i B e n j a m i n i s t B o h -

r e r z u f o l g e „ d i e U t o p i e d e r W e l t r e v o l u t i o n [ . . . ] z u r ü c k g e n o m m e n i n e i n e U t o -

p i e d e s . A u g e n b l i c k s ' " , 5 2 9 d e r „ M o m e n t e i n e r p o l i t i s i e r t e n W a h r n e h m u n g s -

525 MM, S. 188. - Vgl. zum Zeitbewußtsein in der Literatur: HILLEBRAND, a .a .O. , S. 36 ff. Hillebrand zufolge wurde das Mißverhältnis von Lebenszeit und Weltzeit mit dem Verlust der Ewigkeit in der Romantik zum zentralen Thema.

526 Vgl. Z. B. BOHRER: Plötzlichkeit, a. a. O. - Günter WOHLFART: Der Augenblick. Zeit und ästhetische Erfahrung bei Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger mit einem Exkurs zu Proust. Freiburg und München 1982. - ZIMMERMANN, a. a. O. - Karl Heinz BOHRER: Das ab-solute Präsens. Frankfurt am Main 1994. - Silvia H. RÄTSCH: Der Augenblick als Kategorie. Wien 1994. - HUBBERT, a. a. O. - Hermann STURM: Der ästhetische Augenblick. München 1997. - HILLEBRAND, a. a. O.

527 ND, S. 371. 528 U. a. Otto F. GMELIN: Negative Dialektik - Schaltsystem der Utopie. In: Wilfried F.

SCHOELLER (Hg.): Die neue Linke nach Adorno. München 1969, S. 55-90. - Joseph F. SCHMUCKER: Adorno - Logik des Zerfalls. Stuttgart/Bad Cannstatt 1977. - Werner B. KOCH: Zur ästhetischen Theorie T. W. Adornos. In: ders.: Antizipation des Fortschritts oder utopische Regression. Zur Kritik der bürgerlichen Kulturtheorie. Frankfurt am Main 1978. - UEDING (Hg.), a. a. O. - Hermann WIEGMANN: Utopie als Kategorie der Ästhetik und Poetik. Stuttgart 1980. - SCHWARZ: Entfesselung der Produktivkräfte und ästhetische Utopie, a. a. O. -SCHWARZ: Rettende Kritik und antizipierte Utopie, a. a. O. - LÜDKE: Anmerkungen zu einer „Logik des Zerfalls", a. a. O. - ALLKEMPER, a. a. O. - VOSSKAMP (Hg.), a. a. O.

529 BOHRER: Plötzlichkeit, a. a. O., S. 182.

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Ästhetik"530 ist. Die dadurch vollzogene „Subjektivierung des .leeren' Zeit-Be-griffs" und die „Reduktion utopischer Inhalte und Ziele auf die Innerlichkeit eines utopisch gestimmten Subjekts",531 mit anderen Worten die „Reduktion der gesellschaftlichen Utopie auf den Augenblick des Subjekts"532, ist aus der Adornoschen Perspektive ein Rückschritt, der dem dialektischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft nicht gerecht wird. Der Augenblick als sub-jektives, individuelles „Erlebnis des .Glücks'"533 kann für ihn die gesellschaftli-che Utopie keinesfalls ersetzen, er ist im Gegenteil regressiv, denn der Rück-zug auf das Individuelle befestigt das antagonistische Verhältnis von Indivi-duum und Gesellschaft, anstatt eine Versöhnung anzustreben, ebenso wie die Reduktion auf den Augenblick als Antagonismus der unendlichen Zeit das fal-sche Zeitbewußtsein konsolidiert.

Das Neue im Kunstwerk darf nicht als rein temporaler Gegensatz zur Ewigkeit aufgefaßt werden. Ebensowenig ist es für Adorno ein subjektiver ek-statischer Augenblick. Reduziert sich die Dauer des Neuen im Kunstwerk im Extremfall auf einen Augenblick, so ist dieser ein objektives, qualitatives, logi-sches Moment des dialektischen Prozesses, der im Umschlag eines Nichtidenti-schen zum Identischen, eines Unbeherrschten zum Verdinglichten, von Dy-namik in Statik für einen Moment stillzustehen scheint. Darauf, daß der Au-genblick des Neuen ein logisches Moment des Kunstwerks ist, hat auch Wohl-fart hingewiesen: „Im Augenblick der Epiphanie des Neuen wird die Zeit als Ordnung des Nacheinander [...] aufgehoben, d. h. negiert und bewahrt."534 Im Neuen wird die dialektische Bewegung zum Bild als augenblickhafte Konstella-tion, in der die zeitliche Sukzession aufgehoben ist; die ihm inhärente Dialektik sprengt allerdings seine Bildhaftigkeit, deshalb ist sie augenblickskurz. Als Zeitkern des Kunstwerks ist der Augenblick des Neuen bildhaft stillstehend und prozessual in einem. In ihm erscheinen das Gewordensein und die Ver-gänglichkeit und damit die Geschichtlichkeit des Kunstwerks, sein Scheitern am Versuch der Versöhnung. Der Augenblick des Neuen kann nicht zeitlich ausgedehnt werden, wenn er seine Qualität behalten soll, weist aber über sich hinaus. Neuheit und Dauer schließen einander aus. Deshalb verdrängt Neuheit die Dauer, ersetzt die tradierte Wahrheit der Dauer.

Das augenblickhafte Neue hat nichts mit Erfüllung zu tun, und es ist keine Epiphanie des Absoluten, sondern ein dialektischer Umschlag von Unversöhn-tem. Seine Struktur entspricht der des dialektischen Bildes, wie Adorno es ver-steht: als objektive Konstellation nicht der Aufhebung der Antagonismen, son-

530 Ebd., S. 184. 531 Ebd., S. 185. 532 Karl Heinz BOHRER: Utopie „Kunstwerk". In: VOSSKAMP ( H g . ) , a. a. O Bd. 3

S. 303.

533 BOHRER: Plötzlichkeit, a. a. O., S. 216. 534 WOHLFART: Das alte Neue, a. a. O., S. 453.

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dem ihres gespannten Einstandes, der ihre Versöhnung gleichzeitig enthält und dementiert: „Der Augenblick des Erscheinens in den Werken jedoch ist die pa-radoxe Einheit oder der Einstand des Verschwindenden und Bewahrten. Kunst-werke sind ein Stillstehendes so gut wie ein Dynamisches".535 Damit ist der dynamische Augenblick Zeitkern von Vergänglichkeit und von Ewigkeit zu-gleich und nicht der Antagonismus von Ewigkeit. Deshalb wird im Neuen des Kunstwerks nach Wohlfart Geschichte reflektiert: „Im Augenblick der Epipha-nie des Neuen ist schon Geschichte aufgegangen. [...] Ästhetische Epiphanie ist Diaphanie, sinnliches Scheinen von Geschichte."536

In ihm ist die falsche Trennung von Ewigem und Vergänglichem, Neuheit und Dauer, Zeitlichem und Zeitlosem aufgehoben. Der Augenblick des Neuen im Kunstwerk ist daher für Adorno nicht Erfüllung oder Utopie selber — sie wird nicht erreicht. Der Augenblick des Neuen erscheint als Kaipöq, der Mo-ment, an dem der utopische Zustand beginnen könnte, wenn es denn möglich wäre, den Augenblick des Einstandes des Unversöhnten zu fixieren, ohne Ver-söhnung damit zu blockieren.537 Weil er aber nicht angehalten werden kann, blitzt in ihm nur die Möglichkeit von Versöhnung, die Möglichkeit des Eintre-tens der Utopie auf. Im Augenblick als Vergänglichsten erscheint die Utopie von Ewigkeit und Unsterblichkeit. Damit manifestiert sich im Neuen der Kunst als vergänglichem Augenblick die Konvergenz von Geschichte mit Na-tur, gleichzeitig zeigt sich durch den utopischen Charakter des dynamischen Augenblicks die Negation von Vergänglichkeit: „Das Moment jedoch, in dem Natur und Geschichte einander kommensurabel werden, ist das von Ver-gängnis [...]. Kein Eingedenken an Transzendenz ist mehr möglich als kraft der Vergängnis; Ewigkeit erscheint nicht als solche sondern gebrochen durchs Ver-gänglichste hindurch."538 Telos der Kunst bleibt die Utopie, ihre Dynamik zielt auf das absolut Neue, das auch die Auflösung des scheinhaften Antagonismus von Augenblick und Ewigkeit enthält.

Adornos Utopie von Kunst ist die von Werken, die erscheinen und im gleichen Moment vergehen: „Denkbar, heute vielleicht gefordert sind Werke, die durch ihren Zeitkern sich selbst verbrennen, ihr eigenes Leben dem Augen-blick der Erscheinung von Wahrheit drangeben und spurlos untergehen, ohne daß sie das im geringsten minderte."539 Angelegt ist solche Absage an das Dau-ern Adorno zufolge beispielsweise bei Stockhausen:

„Die Konzeption Stockhausens, elektronische Werke, die nicht im herkömm-lichen Sinn notiert sind, sondern sogleich in ihrem Material .realisiert' werden, könnten mit diesem ausgelöscht werden, ist großartig als die einer Kunst von

535 ÄT, S. 124. 536 WOHLFART: Das alte Neue, a. a. O . , S. 454. 537 Zur „dialektischen Kairologie" Adornos vgl. KERKHOFF, a. a. O., S. 152 ff. und S. 63 ff. 538 ND, S. 353. 539 ÄT, S. 265.

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emphatischem Anspruch, die doch bereit wäre, sich wegzuwerfen. Wie andere Konstituentien, durch die Kunst einmal wurde, was sie ist, tritt auch ihr Zeit-kern nach außen und sprengt ihren Begriff."540

Indessen wird Kunst, die Mimesis ans Vergängliche übt, dadurch nicht selber vergänglich, sondern dauert. Denn als Negation von Leiden dauern Kunst-werke, solange das in ihnen negierte Leiden weiterexistiert. Solange die in ihnen enthaltene Utopie nicht realisiert ist, können die Kunstwerke nicht sterben „nach dem Modell dessen, der alt und lebenssatt stirbt".541 Sie haben daher keine Macht darüber, ob sie weiterleben oder nicht. Wie sie ihre Dauer nicht in-tendieren können, können sie auch ihren Tod nicht planen. Während die Parole des Neuen in der Moderne die Dauer und das Bestreben, dauernde Werke zu schaffen, verdrängt, haben gerade die Kunstwerke, die auf Neuheit statt Dauer setzen, größere Aussichten, durch aktualisierende Rezeption zu dauern, als die, die dauern wollen. Sie erzwingen durch ihre Unerfülltheit, die Unversöhntheit der Antagonismen die Auseinandersetzung mit ihnen. In der Rezeption durch kritische Reflexion wird ihre immanente Dynamik fortgesetzt: „Erkenntnis von Kunst heißt, den vergegenständlichten Geist, durchs Medium der Reflexion hindurch, abermals in seinen flüssigen Aggregatzustand zu versetzen."542

Kunstwerke sind auf diese Rezeption angewiesen. Umgekehrt ist ein ge-schichtlich adäquates Verstehen der Kunstwerke nur möglich, wenn ihre Pro-zeßhaftigkeit erkannt wird. Sie sind auch in ihrem Nachleben ein Werdendes, sie erscheinen immer wieder neu, sie dauern durch Veränderung. Neuheit kann nicht als statisch Gegebenes dauern, aber als veränderte reaktiviert werden. Sie dauert, wenn überhaupt, durch aktualisierende Rezeption.

Bewahrung und Vergegenwärtigung des Vergänglichen ist für die Kunst nur in der Aktualisierung ihres dynamischen Neuen möglich; sofern es Bild ist, ist das Vergangene im Kunstwerk nicht mehr lebendig, sondern dauert als To-tes, ist verewigte Vergängnis. Darin ist die Rettung des Lebendigen, die Nega-tion des Todes nur noch als Utopie enthalten. Dauer ist „die wie immer auch ohnmächtige, selber sterbliche Utopie des Überlebens".543 Deswegen ist jedes Kunstwerk, auch wenn es sich als vergängliches darstellt, für Adorno „ein Stück veranstalteter Unsterblichkeit, Utopie und Hybris in eins".544 Gerade durch Negation des auf Dauer ausgerichteten Selbsterhaltungsprinzips sichert Kunst ihr eigenes Überleben und hat damit teil an der Utopie des Glücks, der raison d'etre der raison, „denn die Bewegung des selbsterhaltenden Prinzips

540 Ebd. 541 ÄT, S. 221. 542 ÄT, S. 531. 543 NL, S. 190 (Vaterys Abweichungen). 544 ÄT, S. 209.

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führt, wofern sie sich nicht fetischisiert, aus der eigenen Schwungkraft zum Desiderat von Glück; nichts Stärkeres spricht für die Kunst."545

Weil Kunstwerke dann sterben, wenn die in ihnen enthaltenen Wünsche bzw. Utopien erfüllt sind, ist das gleichzeitige Erscheinen und Sterben von Kunstwerken erst dann möglich, wenn Wunsch und Erfüllung zusammenfallen, im Zustand der gänzlichen Bedürfnisbefriedigung. Der spurlose Untergang der Kunstwerke ist dann kein Sich-dem-Tod-Übereignen, sondern eine Absage an das Denken in Besitzkategorien, das im utopischen Zustand der vollständigen Befriedigung der materiellen Bedürfnisse verschwinden dürfte. Dann verlöre auch die Idee des Festhaltens, der Dauer, der Ewigkeit und des Überlebens ihre Bedeutung, wie Adorno für authentische Kunst als Methexis an diesem Zu-stand annehmen möchte:

„Aber kommt es denn wirk l ich in der Kunst zentral an auf das, was übr ig-bleibt? Ist danach zu fragen nicht selber bereits Symptom verdingl ichten Be-wußtseins , dem Eigentum nachgeahmt und unangemessen jener Idee des Mo-mentanen, an der jedes Kunstwerk sich nährt und die im Impress ionismus fast thematisch ward? Ist nicht die wahre Unsterbl ichkeit von Kunst ein Augen-blick, der der Explosion?"546

So erklärt sich Adornos Auffassung, Kunst „könnte ihren Gehalt in ihrer eige-nen Vergänglichkeit haben"547. Im Vergänglichen der Kunst als Negativ zur Welt verbirgt sich die Hoffnung auf besseres Leben. Stirbt die Kunst, erfüllt sich das Leben des Lebendigen. Solange das Lebendige unerfüllt stirbt, lebt die Kunst.

545 ÄT, S. 504. 546 ADORNO: Im Jeu de Paume gekritzelt. In: GS 10.1, S. 323. 547 ÄT, S. 13.

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V O N B E N J A M I N Z U A D O R N O : R A D I K A L I S I E R U N G DER D I A L E K T I K

Für Benjamin entstehen die Scheinkategorien des Neuen und des Immerglei-chen als qualitative Kategorien der Gleichheit bzw. Verschiedenheit und histo-rische Kategorien der ewigen Wiederkehr bzw. des Fortschritts aus einer Fehl-entwicklung der menschlichen Erkenntnis und dem Verfall von Erfahrung, dem Verlust des mimetischen Vermögens als Fähigkeit, Ähnlichkeiten wahrzuneh-men. An dessen Stelle ist ein abstraktes, dualistisches Denken von qualitativer Gleichheit bzw. Verschiedenheit getreten, das sich nicht mehr auf die von Ähn-lichkeiten geprägte Natur bezieht.

Im 19. Jahrhundert tritt dieser Dualismus deutlich zutage als Konstruk-tion des Bewußtseins, das nicht mehr in der Lage ist, mit der Geschwindigkeit der Veränderungen Schritt zu halten, und das der Massierung der Dinge und Menschen nicht gewachsen ist. Die Folge ist Nivellierung der Gegenstände auf Gleichheiten bei gleichzeitigem Absehen von ihrer Individualität. Dem ent-spricht historisch die Erfahrung der Gleichförmigkeit der Zeit, wie sie in Bau-delaires spieen hervortritt und bei Blanqui und Nietzsche in der Lehre von der ewigen Wiederkehr als antagonistischem Pendant zum verselbständigten Fort-schrittsoptimismus formuliert ist, der auf einer Hypostasierung des Neuen be-ruht und mit der Vernachlässigung des qualitativen Aspekts des Neuen seine Autorität verloren hat. Während Nietzsche und Blanqui die Möglichkeit von Neuheit völlig ausschließen, will Baudelaire dem Immergleichen doch noch ein Neues abgewinnen. Dieses Neue ist das antagonistische Gegenstück zum Im-mergleichen und entsteht gleichzeitig mit diesem. Es tritt im 19. Jahrhundert in der Warenwelt in Erscheinung als den Massenartikeln entgegengesetzte nou-veaute, deren Neuheit jedoch eine rein temporale ist, während sie als qualitativ Besonderes ausgegeben wird. Weil die spezifischen Qualitäten des Neuen nicht wahrgenommen werden, kann es selbst zum Massenartikel werden und tritt in-flationär in Erscheinung, es wird selber zum Immergleichen.

Benjamin stellt diesem falschen Neuen ein „wahrhaft Neues", den „erfüll-ten Augenblick", als qualitative Kategorie der Ähnlichkeit und historische Kategorie der Aktualität entgegen. Während es für ihn geschichtsphilosophisch gleich falsch ist, ob von ewiger Neuheit oder ewiger Gleichheit der Ereignisse gesprochen wird, entwirft er eine Konzeption von Geschichte, die auf einem anderen Konzept von Neuheit beruht, deren Qualität nicht Gleichheit oder Verschiedenheit, sondern Ähnlichkeit, deren Temporalität jedoch die vom fal-schen Neuen abgeleitete Aktualität ist. Das wahre Neue ist bei Benjamin eine Kategorie historischer Erkenntnis. Geschichte als Vergangenheit darf nicht historistisch festgeschrieben werden, sondern muß auf die Gegenwart bezogen sein und hängt von der Person des Geschichtsschreibers ab; der historische Äu-genblick und die Interessen der erkennenden Person sind Ausgangspunkt für die Konstruktion von Geschichte. Zusammen bilden sie das Zentrum der Ge-schichtsschreibung und werden - entsprechend dem Benjaminschen Konzept von Individualität - selber durch ihre Position innerhalb der Geschichte, durch

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die Ähnlichkeitsbeziehungen, in denen sie stehen, definiert. Für die historische Erkenntnis kann Benjamin zufolge die mit der Wahrnehmung des qualitätslo-sen Neuen eingeübte Schockerfahrung bzw. die damit erlangte Geistesgegen-wärtigkeit genutzt werden. Gleichzeitig muß das mimetische Vermögen reakti-viert werden. Wahre Aktualität konstituiert sich aus der Wahrnehmung eines Individuums, das Vergangenes in Beziehung zum gegenwärtigen Augenblick setzt, eine neue Konstellation historischer Momente herstellt, mit der auch Vergangenes aktualisiert und damit verändert wird. Im „wahrhaft Neuen" wird der gegenwärtige Augenblick als Zentrum von Ähnlichkeitsbeziehungen in sei-ner Individualität wahrgenommen; vergangene Augenblicke werden aktuali-siert; mit Aktualisierung bisher verdrängter historischer Momente wird die Diskontinuität der Geschichte sichtbar und die Möglichkeit der Herstellung neuer Kontinuitäten aus den bisher unterdrückten oder vergessenen Elementen der Geschichte durch ihre aktuelle Realisierung erfahren.

Als Moment der verknüpfenden Erkenntnis des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen ist Benjamins „wahrhaft Neues" qualitativ von der Vergangenheit bestimmt. Entsprechend ist seine Utopie auch ein Zustand von allumfassender, universaler Erkenntnis des Vergangenen. Alle historischen Momente werden im messianischen Zustand synchronisiert; von Geschichte als einer Abfolge von Ereignissen kann dann nicht mehr die Rede sein. Die Erfahrung eines solchen Stillstands der Geschichte bzw. der Zeit ist bis dahin nur augenblickhaft mög-lich. Diese Momente „wahrer Aktualität", d. h. des „wahrhaften Neuen", ver-steht Benjamin als messianische Botschaften, die die Möglichkeit einer künfti-gen Erfüllung alles Gewesenen ahnen lassen.

Adorno hat die Benjaminsche Geschichtsphilosophie als affirmativ aufge-faßt und ihr undialektisches Verhältnis zur Vergangenheit kritisiert, weil sie sich nicht an der Utopie eines besseren Lebens orientiert, sondern am Glück des Augenblicks der Erkenntnis, in dem sich die Ereignisse der Vergangenheit im nachhinein als sinnvoll darstellen. Für Adorno kann dagegen Erkenntnis nur kritisch zur Geschichte sein. Er hält im Gegensatz zu Benjamin an der Idee des Fortschritts und der Zukunftsutopie fest. Während Benjamin die Antinomie des Immergleichen und des Neuen durch die Rehabilitation eines vermitteln-den Dritten: der Ähnlichkeit aufheben möchte, fordert Adorno die „Radikali-sierung der Dialektik bis in den theologischen Glutkern hinein"1. Er will die dialektischen Beziehungen von Individuum und Gesellschaft, Freiheit und Herrschaft, Besonderem und Allgemeinem, Rationalität und Mimesis, Identi-schem und Nichtidentischem, Statik und Dynamik nicht aufheben, sondern zunächst einmal deutlicher erkennbar machen.

Ist für Benjamin das Neue als Antagonismus des Immergleichen ebenso falsch wie dieses, so hat es für Adorno ein kritisches Potential. Falsch ist Neues

1 Brief Adornos an Benjamin vom 2.-4. und 5.8.1935. In: BW, S. 143.

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Page 135: Sylvia Zirden_Theorie Des Neuen_Konstruktions Einer Ungeschriebenen Theorie Adornos_2005

für ihn nur claim, wenn es* hypostasiert und instrumentalisiert wird als nott-veauti oder Sensation, die ein wirklich Neues, Anderes nicht nur als möglich erscheinen lassen, sondern vorgeben, sie wären es selbst. Zu kritisieren ist aus Adornos Sicht die Ideologie, die auf solche Verblendung hinarbeitet, um sich selbst am Leben zu erhalten. Dagegen setzt er das Neue in der Kunst, das nicht qualitätslos ist, sondern qualitativ Neues als Negation des Bestehenden. Wäh-rend Benjamin den temporalen Aspekt des Neuen, seine Aktualität und Schockwirkung nutzbar machen will, während er seine Qualitätsbestimmung der Verschiedenheit ebenso ablehnt wie die Gleichheit des Immergleichen und statt dessen das Ähnliche als qualitative Zwischenposition einsetzen möchte, ist für Adorno die Qualität des Neuen entscheidend. Erst aus der Negativität des Neuen resultieren seine temporalen Komponenten: seine Dynamik und Au-genblickhaftigkeit, die es als gleichzeitiges Erscheinen und Verschwinden von etwas auszeichnen.

Ein Grund für diese Differenz der Theorien ist die unterschiedliche Ein-schätzung von Rationalität als Gegenstück zur Mimesis. Für Adorno bietet sie, auch wenn sie von einer unmittelbaren mimetischen Erkenntnis wegführt, durch ihren antinomischen Charakter eine Chance des Fortschreitens, während für Benjamin der Erkenntnisverlust schwerer wiegt als die durch Rationalität möglich gewordene Naturbeherrschung und er deshalb hinter die Widersprüch-lichkeit rationaler Erkenntnis zurückgehen will. Für Adorno ist Überwindung der Rationalität nur mit ihren eigenen Mitteln möglich, und zwar durch Dia-lektik, deren Systematisches die Negation ist. Diese Negation wird in der Kunst durch das Neue vertreten, deshalb ist es eine Invariante der Kunst. Ent-scheidend ist dabei aber, daß es auch ein Positives beinhaltet, einen Überschuß über die Dialektik, etwas, was aus der Geschlossenheit des dialektischen Pro-zesses hinausführt. Das Bewegungsgesetz der Kunst ist nicht der symmetrische Umschlag zwischen antagonistischen Prinzipien, sondern das Neue ist durch seine Positivität auch ein Korrektiv der von Adorno konstatierten „Allein-herrschaft der Negation", die die traditionelle Dialektik zu einer Identitäts-philosophie werden läßt und Fortschritt ausschließt. Was aber das Neue als Po-sition bedeutet, ist nicht rational zu vollziehen und nicht vorhersehbar. Darin unterscheidet sich die Kunst von der Philosophie, die sich auf Negation be-schränken muß, während die Kunst unintendiertes Neues hervorbringt.

Die Wahrheit des Neuen liegt Adorno zufolge also zunächst einmal in sei-nem Ausdruck des Ungenügens am Immergleichen, es ist als kritischer Impuls, als Korrektiv der Entwicklung zu immer mehr Gleichheit unverzichtbar. Das wahrhaft Neue als Element wahrhaften Fortschritts ist für ihn bestimmte Ne-gation des Gegenwärtigen und Vergangenen sowie Methexis an der Utopie ei-nes absolut Neuen.

Als Korrektiv der gesellschaftlichen Immergleichheit, des immer enger werdenden Netzes der Vergesellschaftung dient das Neue als das qualitativ Be-sondere den Interessen des Individuums, das sich gegen die Übermacht des Allgemeinen zu wehren sucht. Es vertritt die Idee der Möglichkeit, sich der

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Beherrschung und Nivellierung zu entziehen, und ist damit Verweis aul die Utopie der herrschaftslosen Gesellschaft. Auf dem Markt allerdings wird das verdinglichte Neue als Pseudoindividuelles, das als in Wirklichkeit Immerglei-ches das Individuationsbedürfnis nur scheinbar befriedigt, ausgebeutet und seine Dynamik für die Interessen der kapitalistischen Warenwirtschaft ausge-nutzt. Damit dient das falsche Neue nicht dem Individuum, sondern seiner Unterdrückung. Sein Erfolg wird von Adorno ähnlich wie von Benjamin als Symptom für die Veränderungen menschlicher Erfahrungsfähigkeit gewertet.

Erkenntnistheoretisch ist das Neue für Adorno ein Grenzphänomen zwi-schen Nichtidentität und Identität, das als Irritation für das absolut gesetzte, gefesselte Bewußtsein den Chorismos von Vernunft und Wirklichkeit proble-matisiert. Während sich das von angeblich ewig währenden, unveränderlichen Begriffen Erfaßte als Immergleiches darstellt und damit der veränderlichen Wirklichkeit nicht gerecht wird, erscheint das noch nicht Identifizierte vor-übergehend als Neues, das in seiner Abstraktheit und Unbestimmtheit auf die Lückenhaftigkeit des Begriffssystems hinweist. Durch seine Zwischenposition von Unerkanntheit und Erkanntheit fordert es der Vernunft eine Reaktion ab; es ist zwar ein als unbekannt Identifiziertes, jedoch wird ihm im Gegensatz zum Anderen und Fremden bereits eine prinzipielle Erkennbarkeit zugespro-chen. Es wird von Anfang an dazu ausersehen, in Besitz genommen zu werden; im Begriff des Neuen ist die Erwartung seiner identifikatorischen Aneignung bereits enthalten. Mit der begrifflichen Inbesitznahme als Neues wird das Un-bekannte kommensurabel gemacht, sie ist ein Reflex der naturbeherrschenden Vernunft, mit dem sie sich das Unbekannte vorläufig unterwirft. Mit der Iden-tifikation als „neu" wird das Neue an die Gesetzmäßigkeit der Identifikation angepaßt, mit ihr beginnt der Prozeß der Integration und damit sein Altern, bis es nach vollendeter Integration als Immergleiches erscheint.

Im Gegensatz zu anderen Allgemeinbegriffen kommt dem Begriff des Neuen keine qualitative Bestimmung dessen, was unter ihm zusammengefaßt ist, zu. Daß der Erkenntnis- und Integrationsprozeß mit dem abstraktesten Begriff beginnt, der das Besondere kategorisiert, indem er von allen seinen Qualitäten absieht und unbeholfen auf die Tatsache reduziert, daß es gerade erst ins Bewußtsein gelangt ist, ist für Adorno Symptom für den unflexiblen Charakter rationaler Erkenntnis, die in ihrer Starrheit der Wirklichkeit und ih-ren möglichen Veränderungen nicht angemessen ist.

Wenn Neues aber nicht einmal adäquat erkannt werden kann, kann es auch kein wahrhaft Neues geben, das Strukturmerkmal wirklichen Fortschritts in der Geschichte wäre. Ohne Neues ist Geschichte statisch. Für eine dynamische Auffassung von Geschichte muß für Adorno das heuristische Prinzip der Mög-lichkeit eines absolut Neuen als Telos der Geschichte, als Utopie gedacht wer-den. Die Möglichkeit historischer Neuheit zu denken heißt anzunehmen, daß es etwas nicht Ausdenkbares geben kann, das anders als das Bestehende ist. Weil wirkliches Neues nicht positiv beschreibbar und damit wirklicher Fort-schritt nicht planbar oder zu erzwingen ist, kann es für Adorno nicht darauf

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ankommen, der Utopie zuzustreben, sondern vielmehr offen zu sein für neue Möglichkeiten, anstatt alles, was anders ist, zu negieren oder zu unterwerfen. Indessen ist Adornos Utopie nicht beliebig, sondern ihre Qualitäten ergeben sich aus der Negation des Negativen der gegenwärtigen Realität. Die Realisie-rung des wahren Fortschritts speist sich aus dem Ungenügen am Gegenwärti-gen; er geschieht nicht hin zu einem Besseren, sondern fort von einem Schlech-ten im Bewußtsein der Möglichkeit des Eintretens eines besseren Neuen. Wahrhaft Neues wird ermöglicht durch Kritik und Negation und das Bewußt-sein der Möglichkeit des Eintretens der Utopie, d. h. eines absolut Neuen.

Die Gewißheit, daß Neues unter bestimmten Bedingungen eintritt, stammt für Adorno aus der Erfahrung, nämlich der der Kunst - ebenso wie die Erfahrung, daß Negation Voraussetzung für Neues ist, dieses selbst aber nicht positiv angestrebt werden kann. Adorno faßt das Neue als variable Invariante der Kunst auf, die auch vergangener Kunst zukommt, jedoch in der Moderne eine neue Qualität gewinnt. Kunst ist durch ihre Neuheit für Adorno immer Negation des Bestehenden und Hinweis auf die Möglichkeit der Utopie. Im Neuen treffen sich kritische und utopische Intention von Kunst. Das Neue in der Kunst ist das durch Negation des Immergleichen ermöglichte Hervortreten eines Anderen. Es verbürgt die Möglichkeit des Eintretens eines Neuen. Kunst ist damit Vorbild für die gesellschaftliche Realität, für das Denken, für Ge-schichte. Gleichzeitig ist an der Vergänglichkeit des Neuen in der Kunst ables-bar, wie sehr bzw. wie wenig ein Zustand der Versöhnung in der Wirklichkeit erreicht ist, denn so wenig wie er in der Kunst realisiert werden kann, so wenig hat er in der Realität statt.

Formal ist das Neue in der Kunst erstens Antithese. Es vertritt als Negation des Bestehenden das Individuum gegenüber der Gesellschaft, das Nichtidentische gegenüber der Ratio, Dynamik gegen Statik.

Indem sich jedes Kunstwerk als Besonderes gibt, vertritt es das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung. So kehrt die Kunst, die für Adorno seit je-her Negation des Bestehenden und Statthalterin des Besonderen, Individuellen war, im Neuen ihr negatives Verhältnis zur Gesellschaft nach außen. In ihm kommt die Kunst, deren Geschichte in dem Fortschritt ihrer Autonomie be-steht, Adorno zufolge zu sich selbst. Neuheit zielt in der modernen Kunst nicht mehr auf Wirkung - im Gegensatz zum Neuen der Kultur industr ie- , ebensowenig ist sie Ausdruck der Originalität des Künstlers, sondern weil wah-res Neues in authentischen Kunstwerken nur durch Negation und unabhängig von den Intentionen des Künstlers entsteht, wird es zur objektiven Kritik. Im Neuen nutzt authentische Kunst die Möglichkeiten von Freiheit so weit wie möglich aus. Aus der Ausprägung der Neuheit in der Kunst läßt sich daher auf das aktuelle Potential von Freiheit schließen. Wie Originalität vertritt das Neue die Individualität und Unabhängigkeit von Fremdherrschaft, jedoch nicht mehr als singulären Fall, sondern als objektives Recht jeder Person.

Aus erkenntnistheoretischer Sicht hat Kunst für Adorno ihre Existenzbe-rechtigung nur durch ihre Gegenposition zum verdinglichten Bewußtsein, als

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Bcwußtmachung der Fehlentwicklungen der Vernunft und als Ergänzung der begrifflichen Erkenntnis. Kunst will auf das Unerfaßte hinaus. Das von ihr er-faßte bislang Unerfaßte, das vergegenständlichte Ungegenständliche erscheint in ihr als neu. Das Neue an einem Kunstwerk ist das, was noch nicht erkannt ist, was aber auch nicht mehr ein Anderes ist. Es ist als Erscheinungsform des Nichtidentischen Korrektiv der Rationalität. Kunst als Erkenntnis des Nicht-identischen, Konkreten, Besonderen ist Modell der Utopie inhaltlicher Er-kenntnis, die über das nur den Gesetzen der formalen Logik gehorchende Denken hinausgeht, Bewußtsein ihrer Möglichkeit. Dem traditionellen Wahr-heitsbegriff der Angemessenheit der Erkenntnis an ihren Gegenstand, der für Adorno maßgeblich bleibt2, kommt die Kunst damit näher als die identifizie-rende Ratio, die durch die Subsumtion von Erkenntnisobjekten unter Begriffe deren spezifische Qualität nivelliert.

Durch die andere, von Diskontinuität geprägte Dynamik ihrer Geschichte negiert Kunst die Statik und Fortschrittslosigkeit der realen Geschichte bzw. die Idee des von selbst ablaufenden Fortschritts und führt in den Brüchen, die das wahrhaft Neue - im Gegensatz zum scheinbaren Neuen des Fortschritts-glaubens - mit sich bringt, Möglichkeiten des Fortschreitens und des Neube-ginns und damit eine von Freiheit statt von Notwendigkeit oder Automatismus geprägte Form des Geschichtsverlaufs vor. Die Diskontinuität der Kunstge-schichte ist Ausdruck der Freiheit, Geschichte zu gestalten und durch Nega-tion historisch Neues hervorzubringen. Damit setzt Kunst durch ihre histori-sche Praxis einen Maßstab, an dem die außerkünstlerische Geschichte gemes-sen und durch die die Scheinhaftigkeit des falschen Neuen, des traditionsblin-den Neuanfangs entlarvt werden kann.

Weil das Neue das Individuum, das Andere, Dynamik nicht als Antithese rein vertreten kann und soll, sondern sich gegen die starre Entgegensetzung der Antago-nismen richtet, kann Neuheit in der Kunst zweitens nur in einem anderen Verhältnis von Antagonismen bestehen, also in einer veränderten Konstellation von Individuum und Gesellschaft von Nichtidentischem und Ratio, von Dynamik und Statik. Adorno zufolge nimmt jedes Kunstwerk antagonistische Beziehungen aus der außerkünstlerischen Realität, dem zeitgenössischen Bewußtsein und vorangegangenen Kunstwerken in sich auf und rückt sie in ein neues Verhält-nis. Dadurch aktualisiert es die Möglichkeit ihrer Neukonstell ierung und parti-zipiert damit an der Idee einer Versöhnung bzw. Aufhebung der Antagonis-men. Neues in der Kunst zeigt den Knoten von Individuum und Gesellschaft und die Möglichkeiten der Versöhnung, die Mechanismen des aufklärerischen Denkens, die Falschheit der Antinomien von Ewigkeit und Zeitlichkeit. Eine Vermittlung zwischen den jeweiligen Polen kann jedoch nicht in einer kompro-mißhaften qualitativen Angleichung liegen, sondern nur durch die Extreme

2 ME, S. 178.

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hindurch stattl inden. Niclu durch statische Gegenüberstellung, sondern nur durch ihre aufeinander bezogene Bewegung, durch die Prozesse, die aus ihrer Konfrontation entstehen, kann Kunst Ausdruck der Möglichkeit von Verände-rung, von Freiheit und wirklichem Fortschritt sein.

So ist das Neue in der Kunst Reflex des dynamischen Verhältnisses zwi-schen dem Individuum und der Gesellschaft. Es ist Objektivierung von Frei-heit, Ausdruck der Möglichkeit eines versöhnten Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, das durch das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem im Werk reflektiert wird. Das Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Individuum erscheint im Neuen zum einen nach außen hin, indem das Kunst-werk als Neues ein qualitativ Besonderes, Individuelles ist, zum anderen nach innen, indem im Kunstwerk als Konstellation von Mannigfaltigem zu einer Einheit Strukturen gesellschaftlicher Verhältnisse abgebildet werden können. Individualität nach außen ist nur durch Herrschaft nach innen möglich. Als In-dividuelles kann das Kunstwerk nur durch die Konstellation seiner Elemente zu einer Ganzheit, zu einem Werk erscheinen, wobei seine Konstellationsprinzi-pien aus der Gesellschaft stammen und tendenziell Herrschaft bedeuten. Seine Unstimmigkeit besteht darin, daß es Herrschaft ausüben muß, um Herrschaft zu negieren. Das individuelle Kunstwerk ist als abgeschlossenes Werk der Ver-dinglichung und damit dem Altern übereignet. In der Dynamik des Neuen, seinem Entstehen und seinem Altern, ist deshalb sowohl Konstituierung des Individuellen aus dem Allgemeinen als auch die Verdinglichung des Individuel-len reflektiert. Qualitativ ist das Neue in der Kunst Objektivation von Freiheit, in seiner Temporalität verbirgt sich der Prozeß des Verschwindens von Frei-heit. Im Noch-nicht-Verdinglichten ist Freiheit ebenso präsent, wie ihr Ver-schwinden programmiert ist. Als Übergangserscheinung von individueller Frei-heit zu gesellschaftlicher Verfügbarkeit ist das Neue nur ein Umschlag. Der Augenblick des Neuen ist eine Momentaufnahme der versöhnten Gesellschaft.

Auch Rationalität und Nichtidentisches erscheinen im Kunstwerk nicht je-weils rein einander gegenübergestellt, sondern in dem Prozeß, der sich aus ihrer Konfrontation ergibt. Kunstwerke sind Kristallisationen des Prozesses zwi-schen dem Geist und seinem Anderen, der sich jeweils aktualisiert in ihrem Neuen zeigt. Kunst unternimmt im Neuen den ersten Schritt zur Identifizie-rung eines Nichtidentischen und markiert damit den Übergang von Nichtiden-tität zu Identität. Das Neue verweist ebenso auf das Andere wie auf das aus seiner Identifikation resultierende Verschwinden seiner Andersheit. Seine Dy-namik ist die Dynamik von Erkenntnis: der Aneignung des Anderen, die im Verschwinden seiner Andersheit endet. Sofern im Neuen das Andere erscheint, schockiert es, weil die begriffliche Rationalität ihm hilflos gegenübersteht. Es erinnert an den alten mimetischen Schauer, der die Menschen angesichts der realen Übermacht der Natur, des nicht Beherrschten ereilt, und der den Auf-klärungsprozeß konstituiert, weil er die Entscheidung über Herrschen und Be-herrschtwerden einfordert. Weil mit der Identifizierung als Neues die Entschei-dung bereits zugunsten der Beherrschung des Anderen durch die Vernunft ge-

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fallen isl, erscheint dieser das Neue in der Kunst als zu lösende und lösbare Aufgabe, als Rätsel. Damit bietet jedes Neue der Vernunft eine neue Chance, sich in ein anderes Verhältnis zum Anderen zu setzen, es legt die Mechanismen des Umgangs der Rationalität mit der übermächtig erscheinenden Natur offen.

Weil Geschichte das heimliche Modell des Kunstwerks ist, stammen alle seine Zeitkategorien, vor allem die des zeitlichen Ablaufs und des Telos bzw. Zwecks, aus der äußeren Geschichte, seine Zeitstruktur ist ein Aspekt seiner Konstellation. Seit Zeit im Kunstwerk kein selbstverständliches Apriori mehr ist, darf Kunst sich nicht mehr gleichgültig gegenüber den Kategorien der Zeit, wie Diskontinuität und Kontinuität, Neuheit und Immergleichheit, Statik und Dynamik, verhalten, sondern muß sie bewußt und kritisch gestalten. Als Kritik an Kontinuität darf im modernen Kunstwerk der Anfang das Werk nicht mehr determinieren, entsprechende Erwartungen müssen enttäuscht, der Schein ei-nes notwendigen Verlaufs und jeder Art von Kontinuität oder Notwendigkeit durch Brüche, die dem Werk eine andere Richtung geben, verhindert werden. Das betrifft sowohl tradierte Formmuster und Zeit-, Erzähl-, Handlungskonti-nuen als auch die Konsequenzlogik des nominalistischen, individuell durchge-formten Werkes. Dabei darf für Adorno Kontinuität nicht durch Zufall oder reine Diskontinuität, absoluten Wechsel, zusammenhangslose Fragmentierung ersetzt werden. Das Neue innerhalb des Kunstwerks muß ebenso wie das Neue in der Geschichte auf das jeweils vorangegangene bezogen sein - und sei es ne-gativ - , wenn es nicht die leere Dynamik der realen Geschichte unkritisch ko-pieren will. Es ist Kontinuität und Diskontinuität in einem und entsteht durch die Technik radikaler Variation. Das Neue im Kunstwerk, der realisierte Ein-griff in einen kontinuierlichen Ablauf ist Negation der von selbst ablaufenden Geschichte und Ausdruck der Hoffnung auf die Möglichkeit eines Anderen. Dabei ist dieses Andere selbst, die Utopie, nicht positiv im Kunstwerk enthal-ten. Weil moderne Kunstwerke eine Abbildung der Utopie verweigern, die Werke kein Telos haben, das sie zielgerichtet oder zweckbestimmt erscheinen lassen könnte, scheint ein sinnvolles Ende von Kunstwerken, das sie zum Gan-zen rundete oder eine Lösung herbeiführte, gar nicht mehr denkbar; sie können nur noch abbrechen ohne ein Ende. Ihre Unstimmigkeit besteht darin, daß sie als fertige und fixierte Kunstwerke als geschlossene Einheit erscheinen, deren Dynamik auch nur eine scheinbare ist. Das Neue im Verlauf eines Kunstwerks ist damit nur ein fiktives Neues.

Der entscheidende Prozeß eines Kunstwerks entsteht aus der Diskrepanz zwischen der Spannung der im Kunstwerk aufgehobenen Antinomien und ihrer scheinbaren Schlichtung im fertigen, d. h. statischen und dauernden Werk: „Das Kunstwerk, das seine immanente Dialektik austrägt, spiegelt sie im Aus-trag zugleich als geschlichtet vor: das ist das ästhetisch Falsche am ästhetischen

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Prinzip."3 Durch diesen „Austrug der Antagonismen, die jedes Werk notwendig in sich hat",4 und wegen des grundsätzlichen Scheiterns ihrer dauerhaften Versöhnung ist es prozessual, dynamisch. Wegen ihrer Unstimmigkeit , die sie trotz ihrer Abgeschlossenheit in Bewegung hält, sind Kunstwerke Demonstra-tion der objektiven Unmöglichkeit, den utopischen Zustand einer Versöhnung von Ratio und ihrem Anderen, von Individuum und Gesellschaft und des Ein-stands von Dynamik und Statik jetzt zu realisieren:

„Zur Realisierung des Neuen gehört hinzu - eine maßlose Schwierigkeit em-phatischer künstlerischer Produktion - immer auch das Entschwinden. Dann scheint das Neue mit dem schon je Gewesenen fatal zusammenzufallen, im Sinn der erbärmlichen Bürgerweisheit, daß es nichts Neues unter der Sonne gebe deshalb, weil es nichts Neues unter der Sonne geben soll. Das Münchhausen-Kunststück der Kunst ist, trotz alledem zu versuchen das Neue zu geben - obwohl es damit aufhört, ein Neues zu sein."5

Diese Diskrepanz zwischen der Utopie und dem realen Zustand ist der Kern der Dynamik der Kunstgeschichte. Indem das Verhältnis der Antagonismen im Kunst-werk statisch wird, sie in scheinbarer Synthese als versöhnt erscheinen, muß das Neue drittens als Element negativer Dialektik diesen scheinbaren Ausgleich der Antagonismen negieren. Dadurch entsteht die Dynamik der Kunstgeschichte, des-halb dauert das Neue nicht und ist nur augenblickskurz. Weil die neue Konstella-tion der Antagonismen mit ihrer Realisierung zum Bekannten, Beherrschbaren, Verwertbaren, Statischen und Immergleichen wird, weil die Fixierung der neuen Konstellation ihre weitere Veränderung unmöglich macht, weil das Neue also an der Idee einer Versöhnung zwar partizipiert, diese selber aber nicht ist, altert das Neue. Im Neuen erscheinen und verschwinden das Andere, die Mög-lichkeit von Freiheit und der Zustand der Versöhnung von Statik und Dyna-mik. Deswegen ist Neuheit vergänglich, eine temporäre Erscheinung. Als mo-mentaner Einstand des Unversöhnten ist das Neue Katpöq, der richtige Augen-blick als objektives, qualitatives, logisches Moment des dialektischen Prozesses. Im Neuen wird die dialektische Bewegung zum Bild als augenblickhafte Kon-stellation, in der die zeitliche Sukzession aufgehoben ist, d. h. sie steht still, je-doch der Stillstand beinhaltet den Fortgang. Dieses augenblickhafte Neue ist keine Epiphanie des Absoluten, sondern dialektischer Umschlag des Unver-söhnten, dessen gespannter Einstand, es ist nicht Utopie, sondern Katpöq, der Moment, in dem die Utopie beginnen könnte. Altern heißt deswegen nicht nur falsche Dauer des Flüchtigen, die den Umschlag ins Negative mit sich bringt, sondern auch Vorübergehen des ungenutzt gebliebenen richtigen Augenblicks.

3 ÄT, S. 262. 4 Ebd. 5 V Ä , S. 81.

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Sofern Kunst am Neuen scheitert, weil in ihr das Individuelle zum Gesell-schaftlichen wird, das Nichtidentische identifiziert wird und das Prozessuale erstarrt, fordert sie die Produktion neuer Kunst heraus. Die Vereinnahmung von Kunstwerken durch die identifizierende Vernunft und ihre gesellschaftli-che Inbesitznahme beantwortet die Kunst mit immer wieder anderen, neuen Kunstwerken, die sich solcher Aneignung zu widersetzen suchen und der ge-sellschaftlichen Realität im Augenblick ihrer Neuheit immer um ein Winziges voraus sind, ohne daß die gesellschaftliche Entwicklung ihnen folgen würde. Neues erweist sich deshalb durch seine Dynamik der Augenblickhaftigkeit und Vergänglichkeit als Motor der Kunst. Um der Kunst als Avantgarde von Verän-derung Dauer zu verschaffen, muß Neuheit in ständiger Aktualisierung wieder-holt werden, weil sie nicht dauern kann.

Die Utopie besteht für Adorno in einem Zustand, in dem Fortschritt und damit Neuheit nicht'mehr nötig sind, weil es kein Leiden mehr gibt. Doch so-lange, wie das in ihnen negierte Leiden weiterexistiert, können Kunstwerke durch aktualisierende Rezeption dauern, auch wenn sie sich durch die dem Neuen zukommende Vergänglichkeit mit dem Lebendigen solidarisieren und damit das Prinzip der Dauer in Frage stellen. Gerade weil sich im Vergängli-chen des Neuen als Negativ zur Welt die Hoffnung auf ein besseres Leben ver-birgt, lebt die Kunst, solange der Lebendige unerfüllt stirbt: „Die Kraft, die auf das Neue dringt, ist das Potential des noch nicht Verwirklichten."6

Der Begriff des Neuen ist nicht nur für Adornos Ästhetik, sondern für seine gesamte Philosophie deshalb von großer Bedeutung, weil das Neue Für-sprecher alles Unerfaßten, Besonderen, Individuellen, Unerwarteten, nicht Vorgeformten ist und damit jede Form von unzulässiger Verallgemeinerung, Herrschaft und Determination negiert, weil es die Mechanismen der Prozesse im Denken, in der Gesellschaft und in der Geschichte nachzeichnet7 und in der Fixierung im Kunstwerk die Unangemessenheit und Falschheit von antago-nistischem Denken, starren Gesellschaftsstrukturen und Geschichtsauffassun-gen dokumentiert. Das Neue im Kunstwerk ist für Adorno Ausdruck von Lei-den und Unversöhntheit sowie Verweis auf die Möglichkeit, daß es anders wer-den und sein könnte.

Dabei versteht Adorno das Neue, sofern es eine neue Konstellation von Antagonismen ist, nicht als Synthese von einander Widerstreitendem. Dialektik dient für Adorno der Versöhnung der Antagonismen, gleichzeitig ist sie ,,[a]ngesichts der konkreten Möglichkeit von Utopie [...] die Ontologie des fal-

' V Ä , S. 79. 7 In diese Richtung zielen die Untersuchungen Wohlfarts, der zu dem Ergebnis kommt,

daß ästhetisch Neues bewußt macht, „wie Wahrnehmungen gemacht werden" (WOHLFART:

Das alte Neue, a. a. O., S. 453), und gleichzeitig den Ursprung der Bedingungen dieser Wahr-

nehmung, nämlich den „Ursprung unseres Raumes und unserer Zeit" (ebd., S. 453) sichtbar

werden läßt.

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sehen Zusiandes. Von ihr wäre ein richtiger befreit , System so wenig wie Widerspruch." ' Dialektik zielt auf ihre eigene Aufhebung. Versöhnung bedeu-tet dabei für Adorno keine kompromißhafte oder konsenshafte Angleichung der Antagonismen, eine „Identifikation von allem unter einem Totalen"9 . Statt dessen wäre für ihn die „Abschaffung der Antagonismen", die nicht als Invari-anten installiert werden dürfen, „die Herstel lung einer versöhnten Nichtidenti-tät",10 also Freiheit vom Zwang der Integration. Damit wendet sich Adorno ge-gen die Hegeische „Theodizee des Antagonismus"1 1 . Dialekt ik ist für ihn erst „Selbstbewußtsein des objektiven Verblendungszusammenhangs, nichts bereits diesem entronnen."12 Deshalb muß Dialektik selber krit isiert und überwunden werden. Für Adorno ist negative Dialektik zu sich selbst gekommene, sich ih-rer Widersprüche bewußt gewordene Vernunft . Sie hat zum Ziel die Überwin-dung der Dialekt ik mit ihren eigenen Mitteln. Sie zweifelt an der Geschlossen-heit des dialektischen Systems: „Es liegt in der Best immung negativer Dialek-tik, daß sie sich nicht bei sich beruhigt, als wäre sie total; das ist ihre Gestalt von Hoffnung."1 3 Kunstwerke lassen als notwendig alternde, als „gebrochene Versprechen eines Neuen"14 Rückschlüsse auf die Möglichkeit des Eintretens eines Zustandes jenseits von Dialektik zu, der allerdings die Abschaffung des Neuen als Moment dialektischer Prozesse - wie es auch das richtige Neue in der Kunst ist — einschlösse.

Innerhalb der Totalität jedoch nimmt „alles qualitativ Verschiedene" not-wendig „die Signatur des Widerspruchs" an15, der für Adorno „Index der Unwahrheit von Identität"16 und gleichzeitig Organon der Vernunft ist. Nega-tive Dialektik bedeutet für Adorno die Wendung vom Begriff l ichen zum Nichtbegriff l ichen, vom Innen der Begriffe zum Außen, vom Identischen zum Nichtidentischen. „Indem der Begriff sich als mit sich unidentisch und in sich bewegt erfährt, führt er, nicht länger bloß er selber, auf sein nach Hegelscher Terminologie Anderes, ohne es aufzusaugen."1 7 Diese Richtungsänderung ist für Adorno „das Scharnier negativer Dialektik"18 : „Der Widerspruch ist das Nichtidentische unter dem Aspekt der Identität; der Primat des Widerspruchs-

8 ND, S. 22. 9 ADORNO: Nachgelassene Schriften. Band 13. Zur Lehre von der Geschichte und von der

Freiheit (1964-65) . Hg. von Rolf TlEDEMANN. Frankfurt am Main 2001 , S. 82. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 77. 12 ND, S. 398. 13 ND, S. 398, vgl. auch ND, S. 396. 14 MM, S. 104: „Veraltet ist stets nur was mißlang, das gebrochene Versprechen eines

Neuen." 15 ND, S. 17. 16 Ebd. 17 ND, S. 159. 18 ND, S. 24.

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prin/.ips in der Dialektik mißt das Heterogene am Einheitsdenken. Indem es auf seine Grenze aufprallt , übersteigt es sich."19 Reflexion, die der Wider-sprüchlichkeit Rechnung trägt, muß zu einem Prozeß werden, der fortgesetzt wird, solange diese Widersprüchlichkeit besteht.20 Und genau darum handelt es sich in der Kunst wie in der kritischen Theorie, die beide ständig erneuerte Ne-gationen von Gesetztem sind, das sich als An-sich-Seiendes aufspielt , die so -lange stattf inden müssen, wie das Wirkl iche und das Mögliche, Geist und Wirkl ichkeit auseinanderklaffen. Das absolut Neue wäre das Ende dieses Fort-schreitens, ein Zustand, der keiner Negation, keiner Dialekt ik mehr bedarf.

Sofern Neuheit Negation beinhaltet, ist damit in ihr das einzig Systemati-sche der Philosophie21 realisiert - deshalb ist sie auch eine Invariante in der Kunst. Allerdings ist Voraussetzung für ein Fortschreiten, daß das Neue durch seine Positivität die Negation als reine Negation negiert und damit verhindert, daß die Negat ion der Negation wieder zur ursprünglichen Position zurück-führt . Was aber das Neue als Position bedeutet, ist nicht vorhersehbar. Es be-inhaltet einen Sprung, und das hat Folgen für Philosophie, die sich aus dem Ident i tätszusammenhang lösen will:

„An Philosophie bestätigt sich eine Erfahrung, die Schönberg an der traditio-nellen Musiktheorie notierte: man lerne aus dieser eigentlich nur, wie ein Satz anfange und schließe, nichts über ihn selber, seinen Verlauf. Analog hätte Phi-losophie nicht sich auf Kategorien zu bringen sondern in gewissem Sinn erst zu komponieren. Sie muß in ihrem Fortgang unablässig sich erneuern, aus der eigenen Kraft ebenso wie aus der Reibung mit dem, woran sie sich mißt [...] Sie treibt, bis zum Bruch, über Hegel hinaus, dessen Dialektik alles haben, auch prima philosophia sein wollte und im Identitätsprinzip, dem absoluten Subjekt, tatsächlich es war."22

Weil dieser Sprung rational nicht zu vollziehen ist, weil das Neue , sofern es nicht Negat ion ist, sondern Position, als „der Einheit des herrschaftl ichen Prin-zips nicht sich Fügendes", „als Verletzung der Logik"23 erscheint und wie von selbst hervortritt , muß sich Dialektik am Ende auf Negat ion beschränken, wäh-rend die Kunst unintendiertes Neues hervorbringen kann:

„Dialektik muß sich einschränken aus dem Bewußtsein von sich selbst heraus. Die Enttäuschung darüber jedoch, daß gänzlich ohne Sprung, in eigener

19 ND, S. 17. 20 Deswegen konstatiert Schnädelbach: „.Negative Dialektik' ist somit ein anderes Wort

für eine Logik der Kritik mit offenem Ausgang, aber deswegen nicht ohne Ziel". (SCHNÄDELBACH, a. a. O., S. 81.) - Vgl. dazu auch BEIERWALTES, a. a. O., S. 274 f., und KAISER: Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie, a. a. O., S. 97.

21 „Die spekulative Kraft, das Unauflösliche aufzusprengen, ist aber die der Negation. Ein-zig in ihr lebt der systematische Zug fort." (ND, S. 38.)

22 ND, S. 44. 23 ND, S. 58.

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Bewegung, die Philosophie aus ihrem Traum nicht erwacht; daß sie dazu des-sen bedarf, was ihr Bann fernhält, eines Anderen und Neuen - diese Enttäu-schung ist keine andere als die des Kindes, das bei der Lektüre von Hauffs Märchen trauert, weil dem von seiner Mißgestalt erlösten Zwerg die Gelegen-heit entgeht, dem Herzog die Pastete Souzeraine zu servieren."24

Das Neue in der Kunst ist für Adorno dadurch, daß es auch Setzung, Position ist, ein Korrektiv der „Alleinherrschaft der Negation", die die traditionelle Dia-lektik zu einer Identitätsphilosophie werden läßt.25 Das Bewegungsgesetz der Kunst ist nicht der symmetrische Umschlag zwischen antagonistischen Prinzi-pien, das Neue in der Kunst ist nicht allein Negation, sondern in es geht auch etwas ein, das jenseits der Antagonismen liegt, die „blinden Stellen, die der Dia-lektik entronnen sind."26 Es beinhaltet einen Überschuß über die Dialektik: et-was, das aus der Geschlossenheit des dialektischen Prozesses, der durch seine Negationen im Immergleichen befangen bleibt, hinausführt.27 Authentische Kunst ist dadurch, daß sie Neues hervorbringt, gleichzeitig Negation des Vor-angegangenen und damit die adäquate Reaktion auf den Zustand des Leidens, vorübergehende Position eines Anderen und damit Verweis auf das Nichtiden-tische und die Utopie, Avantgarde für das Denken. Seinen Ort hat das Neue an den „dialektischen Knotenstellen [...], dort, wo jäh eine neue Gestalt hervor-tritt, polemisch gegen die vorhergehende."28 Entscheidend ist aber,, daß das Neue sich selbst als Positives negiert und damit über sich hinausweist. Es ist Negation und Position, die durch ihren Verstoß gegen den Imperativ der Nega-tivität neue Negation herausfordert.

Neues als neue Konstellation von Antagonismen ist nicht Versöhnung die-ser Widersprüche, wie sie in der Idee der dialektischen Synthese gedacht ist, sondern weist auf die Unmöglichkeit einer solchen Versöhnung hin. Das ist ein notwendiges Element der Adornoschen negativen Dialektik, denn für ihn be-treibt Synthesis als „erkenntnistheoretisches Instrument" der traditionellen Dialektik die „Rückkehr des Resultats der Bewegung in ihren Beginn" und „an-nuliert es [das Resultat] tödlich".29 Deshalb ist auch Adornos Ästhetik eine Theorie der Dynamik, des fortgesetzten Widerspruchs, der offenen Zukunft.

24 ND, S. 184. 25 MM, S. 172. 26 Ebd. 27 Damit ist das Neue ein Motiv, in dem sich die Adornosche Wendung von der Hegel-

schen identitätsphilosophischen Dialektik zur negativen Dialektik, die die Kantische „Idee der Andersheit" (ND, S. 185) aufgreift, zeigt. Vgl. dazu: BRAUN, a. a. O., S. 44 f.

28 ÄT, S. 474. 29 ND, S. 158. - Adorno wendet sich damit gegen die Synthesis bei Hegel: „Denn was bei

ihm [Hegel, SZ] Synthesis heißt, ist nicht einfach die aus der bestimmten Negation heraussprin-gende, schlechterdings neue Qualität sondern die Wiederkunft des Negierten; dialektischer Fortschritt stets auch Rückgriff auf das, was dem fortschreitenden Begriff zum Opfer fiel: des-sen fortschreitende Konkretion seine Selbstkorrektur." (ND, S. 326—7.)

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Kunst als „Säkularisierung von Transzendenz."1® ist ihr empirisches Korrelat: „Sie [die Kunst, SZ] ist nicht, wie das Convenu es will, Synthesis, sondern zer-schneidet die Synthesen mit derselben Kraft, die sie bewerkstelligte. Was tran-szendent ist an der Kunst, hat die gleiche Tendenz wie die zweite Reflexion des naturbeherrschenden Geistes."31 Verbürgt wird diese Transzendenz, die auf die Utopie der Widerspruchslosigkeit zielt, durch Neues als sich selbst nie genü-gende Konstellation von Negation und Position, als Antithese und zugleich au-genblickhafte Synthese mit antisynthetischer Dynamik. Denkt auch für Adorno ,,[k]eine isolierte Einzelkategorie [...] die Idee von Kunst", weil sie „ein in sich bewegtes Syndrom" ist,32 so ist das Neue doch zentral, weil es der qualitative und temporale Kern dieser Bewegung ist.

Ein ästhetisches Wertungskriterium kann die Kategorie des Neuen für Adorno aber nur bedingt sein. Denn Invarianten sind als abstrakte Begriffe nicht induzierbar: Kunstwerke dürfen nicht als Exempel einer Idee aufgefaßt werden. Auch das Neue ist eine solche Idee, deren Abstraktheit der Verfah-rungsweise der Theorie geschuldet ist, denn Ästhetik „erhebt zu Konsequenz und Bewußtsein, was in den Kunstwerken vermischt, inkonsequent, im Einzel-werk unzulänglich sich zuträgt."33 Das Neue taugt aber auch aus einem zweiten Grund nicht als Wertungskriterium, nämlich weil es nicht positiv bestimmt werden kann, sondern nur negativ und formal. Sofern der Begriff des Neuen gerade das einschließt, was über jeden Begriff hinausgeht, weist seine Abstrakt-heit auf die „kryptische Verschlossenheit"34 des Neuen hin. Gerade weil er so wenig bestimmt ist, beschreibt er das Neue so treffend, denn: „Das Neue ist ein blinder Fleck, leer wie das vollkommene Dies da."35 Der Begriff des Neuen ist als variable Invariante kein Begriff, den man definieren könnte, um dann zu entscheiden, was ihm genügt und was nicht: „Wahrheit und Falschheit des Neuen entscheidet sich in dessen eigener Komplexion und ist nicht etwa ein Kriterium, das vorausgesetzt werden kann, damit man über Zulassung oder Abweisung des Neuen wie ein Passbeamter entscheidet."36

Die Kategorie des Neuen dient nicht der Beschreibung einzelner Kunst-werke, sondern das Neue ist als Negation und Methexis an der Utopie das Sub-stantielle der Kunst, das Transzendierende, das sie bei Proust zu „dem letzten, blassen, säkularisierten und dennoch unauslöschlichen Schatten des ontologi-schen Gottesbeweises"37 werden läßt.

30 ÄT, S. 50. 31 ÄT, S. 209. 32 ÄT, S. 523. 33 ÄT, S. 393. 3 4 Ä T , S . 38. 35 Ebd. 36 V o 6378. 37 NL, S. 214 (Kleine Proust-Kommentare).

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A B K Ü R Z U N G E N

Häuf ig zitierte Schriften Benjamins und Adornos werden wie folgt abgekürzt :

Walter Benjamin: GS I—V Gesammelte Schriften. Hg . von Theodor W. Adorno und Gershom Scho-

lem. Unte r Mi twi rkung von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhau-sen Frankfurt am Main 1972-1989.

PW Passagen-Werk = GS V.

Walter Benjamin und Theodor W. Adorno: Briefe 1 -2 Wal ter Benjamin: Briefe. Hg . und mit Anmerkungen versehen von Ger-

shom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt a m Ma in 1978. BW Theodor W. Adorno: Briefe und Briefwechsel . H g . vom Theodor W.

Adorno Archiv. Bd. 1: Theodor W. Adorno/Walter Benjamin. Briefwechsel 1928-1940. Hg . von Henr i Lonitz. Frankfurt am Main 1994.

Theodor W. Adorno: GS 1 - 2 0 Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. H g . von Rolf Tiedemann unter

Mi tw i rkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz. Frankfurt am Main 1997.

IN Die Idee der Naturgeschichte. In: GS 1.

DA Dialekt ik der Aufklärung = GS 3. M M Minima Moral ia = GS 4. ME Zur Metakr i t ik der Erkenntnistheorie. In: GS 5. N D Negat ive Dialekt ik. In: GS 6. JE Jargon der Eigentl ichkeit . In: GS 6. AT Ästhet ische Theor ie = GS 7. F Fortschritt . In : GS 10.2. N L Noten zur Literatur = GS 11. P M Phi losophie der Neuen Mus ik = GS 12. PT 1 -2 Phi losophische Terminologie . Zur Einleitung. Bd. 1 und 2. Hg . von Rudolf

zur Lippe. Frankfurt a m Main 1989. VÄ Vorlesungen zur Ästhet ik 1967-68. Zürich 1973 [Nichtautoris ierte Ton-

bandtranskript ion] . DP Diskussionsprotokol le [Max Horkhe imer und Theodor W. Adorno] . In:

Max Horkhe imer : Gesammelte Schriften. Hg . von Alfred Schmidt und Gunzel in Schmid Noerr . Bd. 12: Nachgelassene Schriften 1931-1949. Frankfur t am Main 1985.

Vo Unveröffent l ichte Tonbandtranskript ionen von Vorlesungen Adornos bzw.

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