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>>>>> VERANSTALTUNGEN Stuttgarter uni kurier Nr. 105 1/2010 72 Mit einem Symposium und einem vielfältigen Rahmenprogramm gedachte die Uni ihrem einstigen Vordenker Max Bense. Die Bilder zeigen den Philo- sophen in einer Vorlesung 1976 sowie eine Farb- und Formkonkretion zu der von Bense in die Semiotik eingeführten „gossen Matrix“ des Künstlers Karl Herrmann. (Fotos: Jonnie Doebele, Brummer) Prof. Gerd de Bruyn (rechts) im Gespräch mit Bazon Brock. Akademie für gesprochenes Wort. SYMPOSIUM UND AUSSTELLUNGEN ZUM 100. GEBURTSTAG VON MAX BENSE >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Ideologiefreier Vordenker „Er konnte ohne Notizblock und Bleistift nicht leben, in nahezu jeder Lebenslage arbeitete er“, erinnert sich Elisa- beth Walther-Bense an ihren Weggefährten Max Bense. Am 7. Februar wäre der Stuttgarter Philosoph und Wissen- schaftstheoretiker 100 Jahre alt geworden. Max Bense lehr- te und forschte von 1949 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1978 als Professor für Philosophie und Wissenschaftstheo- rie an der ehemaligen Technischen Hochschule Stuttgart und wirkte bis zu seinem Tode 1990 in Stuttgart. Er hat ein umfassendes Werk und viele Spuren in der intellektuellen Landschaft der Bundesrepublik hinterlassen. Aus Anlass seines Geburtstags veranstaltete das Internationale Zen- trum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Univer- sität Stuttgart gemeinsam mit der Stadt Stuttgart das Symposium „Weltprogrammierung. Max Bense zum 100. Geburtstag“. Die Veranstaltung war integriert in ein vielfäl- tiges, dem Wirken Benses gewidmetes Rahmenprogramm mit Ausstellungen, Vorträgen, Inszenierungen und Radio- sendungen. „Mit der Tagung Weltprogrammierung ergreifen wir die Gelegenheit, die schwierigen, oft undurchschauten Interak- tionen von Kultur und Technik aus der Perspektive einer der bedeutendsten technikphilosophischen Positionen der deut- schen Nachkriegsmoderne zu untersuchen“, betonte Prof. Gerd de Bruyn, der Leiter des IZKT, und gab damit die Richt- schnur der zweitätigen Veranstaltung vor. Anders als Hei- deggers Technikphilosophie, aber auch anders als die Kritik der instrumentellen Vernunft der Frankfurter Schule hat Bense auf Technik und Ratio- nalität gesetzt. Im Versuch, die moderne Technikentwick- lung ideologiefrei zu bewer- ten, kommt ihm eine Vorrei- terrolle zu. Früh lenkte er sei- ne Aufmerksamkeit auf die Materialität der Sprache und die technischen Aspekte des geistigen, ästhetischen Pro- duzierens. Max Bense war einer der ersten Philosophen, die sich mit Nachrichtentechnik und Kybernetik beschäftigten. Weitsichtig erkannte er die Bedeutung des Computers, den er als die „entscheidende Erfindung der Menschheit“ bezeichnete. Genau hier setz- te auch das Symposium „Weltprogrammierung“ an, das ein Bild vom facettenreichen Denken Benses lieferte und durch die Fokussierung auf das Computerzeitalter höchst aktuell war. Vorträge internationaler Wissenschaftler Arbeit in jeder Lebenslage….Max Bense 1983 in seinem Büro. (Foto: Privat)

SYMPOSIUM UND AUSSTELLUNGEN ZUM 100. GEBURTSTAG … · VERANSTALTUNGEN Stuttgarter unikurier Nr. 105 1/2010 72 Mit einem Symposium und einem vielfältigen Rahmenprogramm gedachte

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Mit einem Symposium und einem vielfältigen Rahmenprogramm gedachte die Uni ihrem einstigen Vordenker Max Bense. Die Bilder zeigen den Philo-sophen in einer Vorlesung 1976 sowie eine Farb- und Formkonkretion zu der von Bense in die Semiotik eingeführten „gossen Matrix“ des KünstlersKarl Herrmann. (Fotos: Jonnie Doebele, Brummer)

Prof. Gerd de Bruyn (rechts) im Gespräch mit Bazon Brock. Akademie für gesprochenes Wort. W

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Ideologiefreier Vordenker„Er konnte ohne Notizblock und Bleistift nicht leben, innahezu jeder Lebenslage arbeitete er“, erinnert sich Elisa-beth Walther-Bense an ihren Weggefährten Max Bense. Am7. Februar wäre der Stuttgarter Philosoph und Wissen-schaftstheoretiker 100 Jahre alt geworden. Max Bense lehr-te und forschte von 1949 bis zu seiner Emeritierung im Jahr1978 als Professor für Philosophie und Wissenschaftstheo-rie an der ehemaligen Technischen Hochschule Stuttgartund wirkte bis zu seinem Tode 1990 in Stuttgart. Er hat einumfassendes Werk und viele Spuren in der intellektuellenLandschaft der Bundesrepublik hinterlassen. Aus Anlassseines Geburtstags veranstaltete das Internationale Zen-trum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) der Univer-sität Stuttgart gemeinsam mit der Stadt Stuttgart dasSymposium „Weltprogrammierung. Max Bense zum 100.Geburtstag“. Die Veranstaltung war integriert in ein vielfäl-tiges, dem Wirken Benses gewidmetes Rahmenprogrammmit Ausstellungen, Vorträgen, Inszenierungen und Radio-sendungen.

„Mit der Tagung Weltprogrammierung ergreifen wir dieGelegenheit, die schwierigen, oft undurchschauten Interak-tionen von Kultur und Technik aus der Perspektive einer derbedeutendsten technikphilosophischen Positionen der deut-schen Nachkriegsmoderne zu untersuchen“, betonte Prof.Gerd de Bruyn, der Leiter des IZKT, und gab damit die Richt-schnur der zweitätigen Veranstaltung vor. Anders als Hei-

deggers Technikphilosophie, aber auch anders als die Kritikder instrumentellen Vernunft der Frankfurter Schule hat

Bense auf Technik und Ratio-nalität gesetzt. Im Versuch,die moderne Technikentwick-lung ideologiefrei zu bewer-ten, kommt ihm eine Vorrei-terrolle zu. Früh lenkte er sei-ne Aufmerksamkeit auf dieMaterialität der Sprache unddie technischen Aspekte desgeistigen, ästhetischen Pro-duzierens.

Max Bense war einer derersten Philosophen, die sichmit Nachrichtentechnik undKybernetik beschäftigten.Weitsichtig erkannte er dieBedeutung des Computers,den er als die „entscheidendeErfindung der Menschheit“bezeichnete. Genau hier setz-te auch das Symposium„Weltprogrammierung“ an,

das ein Bild vom facettenreichen Denken Benses lieferteund durch die Fokussierung auf das Computerzeitalterhöchst aktuell war. Vorträge internationaler Wissenschaftler

Arbeit in jeder Lebenslage….MaxBense 1983 in seinem Büro.

(Foto: Privat)

06-veranstaltungen.09.05.10 11.05.2010 19:43 Uhr Seite 72

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ort. Weggefährtin Elisabeth Walther-Bense. Referentin Michaela Ott.

befassten sich mit Benses Konzept eines existenzialisti-schen Rationalismus, seiner Ästhetik und Semiotik bis hinzu jenen Überlegungen, die man heute in den Medienwis-senschaften diskutiert. In zum Teil heftigen Auseinanderset-zungen, sonst eher unüblich für wissenschaftliche Veran-staltungen, wurde Benses Programm einer technologischenAufklärung befragt. Bazon Brock rühmte in seinem Eröff-nungsvortrag Benses „weiße Mystik“, die Erkenntnis, dassTechnologie zur würdigen Erbin der Theologie werde.„Technologie ist zu einem Medium geworden, das die Hoff-nung theologischer Inhalte erhält. Durch die Repeat-Tasteist die Auferstehung gewährleistet, da die ständige Präsenzjederzeit wiederholt werden kann, selbst wenn das auf demBildschirm Abgebildete nicht mehr existiert.“ Einige jüngereWissenschaftler setzten sich kritisch mit Benses „spirituellerReinheit der Technik“ (Bense) auseinander und suchten dieGrenzen seines technologischen Optimismus auszuloten.Bei aller Vehemenz der Diskussion waren sich die Referen-ten in einem einig: Benses Werk muss unter den Bedingun-gen des 21. Jahrhunderts neu entdeckt werden.

Eingeschoben in das Symposium fand im StuttgarterRathaus ein Festakt statt, an dem Kulturbürgermeisterin Dr.Susanne Eisenmann und Uni-Rektor Prof. Wolfram Resselteilnahmen. Während die Kulturbürgermeisterin an dieumtriebige Persönlichkeit erinnerte und an die denkwürdi-gen Eklats, die Benses religionskritischen Äußerungen einstin der Öffentlichkeit hervorriefen, würdigte Rektor Resseldie Verdienste des Hochschullehrers. Bense war es, der sichgemeinsam mit Fritz Martin für das Promotionsrecht in Phi-losophie einsetzte und somit die Voraussetzung schuf, dassaus der Technischen Hochschule Stuttgart eine Universitätwurde. Darüber hinaus begründetet er das Studium Genera-le, den Arbeitskreis „Geistiges Frankreich“ und mit der„Studiengalerie“ die erste Galerie an einer deutschen Uni-versität überhaupt. Durch sein Wirken wurde Stuttgart zueinem international bedeutenden Zentrum computergene-rierter Literatur und Grafik, der visuellen und konkreten Poe-sie. Der Festvortrag, den Prof. Peter Weibel vom Zentrumfür Kunst und Medientechnologie Karlsruhe (ZKM) hielt,stellte Benses Überlegungen zu den „Modi der technischen

Existenz“ in den aktuellenphilosophischen Zusammen-hang einer „Anthropotech-nik“.

Ein weiterer Höhepunktder Feierlichkeiten war amfolgenden Abend dieGeburtstagsfeier in der Stadt-bücherei Stuttgart. Unter demMotto „…an Wörter und nichtan Dinge denken“ erinnertensich dort Freunde und Weg-gefährten an Max Bense,zudem standen Performance,ein Max-Bense-Kino und ein

Auftritt der Stuttgarter Voice-Company „Exvoco“ auf demProgramm. Eröffnet wurde in diesem Rahmen auch dieFotoausstellung von Jonnie Doebele mit dem Titel „6.12.76,18.15 – 19.20h“. In diesem knapp bemessenen Zeitfensterkonnte der einstige Student von Max Bense den fotoscheu-en Philosophen in einer seiner legendären Vorlesungen mitder Kamera begleiten.

Eine Max Bense-Hommage der ganz anderen Art sinddie typographischen Kompositionen des Künstlers Max Her-mann, die der KunstKreis Rektoramt im Verwaltungsgebäu-de Keplerstraße 7 ausstellt. Gezeigt werden Arbeiten, diemit den Lettern einer neuen, algorithmisch entwickeltenSchriftfamilie gesetzt sind. In einem zweiten Teil der Aus-stellung sind Diagramme zur triadischen Semiotik von Char-les Sanders Peirce zu sehen. Peirce in Deutschland bekanntgemacht und seine Semiotik entfaltet zu haben, gehört zuden großen Verdiensten von Elisabeth Walther und MaxBense. Die Ausstellung ist noch bis zum 17. September zusehen. Im Zusammenhang mit dem Stuttgarter Symposium„Weltprogrammierung“ stand auch die Ausstellung „Benseund die Künste“ am Karlsruher Zentrum für Kunst undMedientechnologie. Diese Ausstellung gewährte Einblick indie internationale Wirkung des Philosophen auf bildendeKunst und Literatur. Nikolaos Karatsioras/Elke Uhl/amg

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Philosoph zum WiederentdeckenIn Verbindung mit dem Stuttgarter Symposium „Welt-

programmierung. Max Bense zum 100. Geburtstag“legte das IZKT eine Sammlung von Texten Max Ben-ses vor, die bisher nicht oder nur schwer zugänglichwaren. Die Fundstücke zeigen Max Bense als jenen

Denker, den es wiederzuentdecken lohnt: alsanspruchsvollen und neugierigen Forscher, Leser und

Kritiker. Die durchaus humorvollen Beiträge streifen unter

anderem „Das Literarische in der Philosophie“, „Die zweiMöglichkeiten der Geisteswissenschaften“ oder gar „DieTextrealität der Seife“. Eine Auswahl historischer Fotogra-phien rundet das knapp 40 Seiten umfassende Büchlein ab.

Elisabeth Walther und Elke Uhl (Hg.): Max Bense, Philoso-phie als Forschung“, Sonderpublikation der IZKT-Materiali-en, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-9809978-6-7.

Buch

Tipp

Festredner Peter Weibel, Vor-stand des ZKM Karlsruhe.

(Foto: Heinzelmann)

(Fotos: Heinzelmann)

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Architektur aus dem Botanischen GartenDie Bionik nutzt den großen Ideenpool der Natur und ver-sucht gezielt deren Strukturen, Konstruktionsprinzipienoder Funktionsweisen auf (meist) technische Aufgabenzu übertragen. Beim internationale BIONA Symposium„Biomimetics in Architecture – evolutionary constructionand design”, veranstaltet vom Institut für Tragkonstruk-tionen und Konstruktives Entwerfen (ITKE) der Uni,berichteten im November Experten aus England, den Nie-derlanden, Österreich, der Schweiz und Deutschland vorrund 150 Zuhörern über aktuelle Projekte der Architektur-bionik. BIONA steht für „Bionische Innovationen fürnachhaltige Produkte und Technologien" und ist ein För-derprogramm des Bundesministeriums für Bildung undForschung.

Fassadenfarben mit Lotuseffekt, Faserverbundstoffe nachdem Vorbild von Bambus oder der Haifischhaut nachemp-fundene Schwimmanzüge sind Beispiele dafür, welcheInnovationen die Natur für nachhaltige Produkte und Tech-nologien birgt. „Bionik, das ist nicht, wenn Architekten Häu-ser bauen, die wie Seeigel aussehen“, sagt daher auch Prof.Jan Knippers, der Direktor des ITKE. Naturwissenschaften,Ingenieurwesen, Architektur, Design – bei bionischen Pro-jekten finden die unterschiedlichsten Forschungsrichtungenzusammen. „Besonders die Architektur erlaubt es, viele bio-

nische Ideen einzubeziehen und diese dann in Produkteumzusetzen, in Bauten oder Teile davon“, betonte Prof.Thomas Speck, der Direktor des Botanischen Gartens derUniversität Freiburg.

Die Architektur profitiert nämlich neben originär archi-tektur-bionischen Entwicklungen auch von innovativenIdeen etwa aus den Bereichen Leichtbau und Materialien,Oberflächen und Grenzflächen sowie der Sensor- und Ener-giebionik. Die Referenten des Symposiums aus Forschung,Praxis und Industrie stellten unter anderem von der Naturinspirierte, „selbstheilende“ pneumatische Membranen vor,zeigten Konstruktionen „mit Luft“ oder wie man mit leben-dem Holz bauen kann. Achim Menges, Professor an derUniversität Stuttgart, gab den Zuhörern einen Einblick indas computerbasierte Design mit evolutionären Algorith-

men. „Die Prinzipien des Leichtbaus in Kombination mitdenen der Bionik und modernen (Mikrosystem)Technologi-en bergen das Potenzial für die Zukunft“, erklärte MikeSchlaich. „Sie machen es möglich, autonome Tragwerke zuentwickeln, um die Forderung nach Wandelbarkeit undFunktionalität erfüllen zu können“, so der Professor von derTU Berlin.

„Natürliches“ Vorbild StrelitzieJulian Lienhard und Simon Schleicher, Doktoranden amITKE, haben gemeinsam mit Biologen der Uni Freiburgdie Strelitzie als „natürliches“ Vorbild für ein adaptivesBauelement gewählt. Genauer gesagt, deren pfeilförmigausgebildeten blauen Kronblätter. Wenn sich ein Nektar-vogel auf sie setzt, öffnen sich die Kronblätter, damit derPollen am Vogelgefieder hängenbleiben kann – und zwarohne Gelenke, Nieten oder Schrauben. Überträgt mandiese Prinzipien, die sich an Pflanzen- und Blütenblätternoder wirbellosen Tieren orientieren, so entstehen Kon-struktionen, bei denen Form und Bewegung durch diereversible Elastizität ihrer Komponenten bedingt sind.Diese haben den Vorteil, sich flexibel an verschiedeneNutzungsbedingungen anpassen zu können. Damit liefernsie zum Beispiel, und das ganz ohne verschleißanfälligeElemente, optimale Voraussetzungen für Beschattungssy-

steme. „DenPrototyp einerFassadenver-schattunghaben wirschon herge-stellt“, erzähltJulian Lien-hard, und esgibt auchschon einenPartner ausder Industrie,der auf dasPotenzial derEntwicklungsetzt. Ziel undHerausforde-rung zugleichfür die weitereZukunft sindgroße, wan-

delbare Verschattungssysteme. Diese sollen sich verän-dernden Umweltbedingungen anpassen können, ganznach dem Vorbild der Entfaltungs- und Biegeprinzipienbei Blütenblättern.

„Ein erfolgreiches, anregendes Treffen auf internationa-ler Ebene, das auf überraschend großes Interesse stieß“,resümiert Jan Knippers. Und da die Natur als Ideengeberfür die Entwicklung neuer Materialien und Technologiennoch viel zu bieten hat, ist eine Fortsetzung so gut wiesicher. Organisiert wurde das internationale BIONA Sympo-sium in Stuttgart vom ITKE der Uni Stuttgart, der Plant Bio-

Die pfeilförmigen Kronblätter der Strelitzie…..

…sind das Vorbild für eine Fassadenverschattung,die sich flexibel an die Umweltbedingungen anpas-sen kann. (Fotos: Institut)

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mimetics Group der Uni Freiburg, dem Förderprogrammdes Bundesministeriums für Bildung und Forschung, dasmit insgesamt 30 Millionen Euro praxistaugliche, nachhalti-ge Entwicklungen mit bionischem Ansatz fördert, sowie vonBIOKON international und dem Kompetenznetz BiomimetikBaden-Württemberg. Julia Alber

KONTAKT

Prof. Jan KnippersInstitut für Tragkonstruktionen und Konstruktives Entwerfen Tel. 0711/685-82380e-mail: [email protected]

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Zwischen Form und KonstruktionDas Institut für Entwerfen und Konstruieren (IEK) der Uni-versität Stuttgart ist in die Tradition von Architekturgrößenwie Theodor Fischer oder Paul Bonatz eingebettet. Es stehtfür ein Miteinander von Architektur und Bauingenieurwe-sen, das unter dem Namen „Stuttgarter Schule“ weltweitbekannt wurde. Vor 60 Jahren, in der Notsituation des Wie-deraufbaus, nahm das Institut nach dem zweiten Weltkriegdie Lehrtätigkeit an der Architekturfakultät wieder auf. Ausdiesem Anlass fand im Dezember ein Symposium statt, dasdem langjährigen Institutsleiter Prof. Kurt Ackermanngewidmet war.

Nach einem Rückblick auf die Institutsgeschichte beleuch-tete der Bauingenieur Prof. Stefan Polónyi (Köln) den Vor-bildcharakter der Stuttgarter Schule für das durch ihnbegründete Dortmunder Modell. Prof. Gerd de Bruyn vomInstitut für Grundlagen moderner Architektur und Entwer-fen befasste sich in seinem Vortrag mitdem Titel „Von der Konkurrenz zurKooperation“ mit der spannungsrei-chen Beziehung zwischen Architektenund Bauingenieuren. Prof. JörgSchlaich, Emeritus des Instituts fürLeichtbau Entwerfen und Konstruieren,beschrieb am Beispiel der Altmühl-brücke seine Erfahrung in der erfolgrei-chen Zusammenarbeit mit Kurt Acker-mann. Prof. José Luis Moro würdigtedie ungewöhnlichen Leistungen vonKurt Ackermann und gab einen Aus-blick auf die nach seiner Meinung not-wendigen Grundsätze einer zukünftigenArchitektenausbildung.

Kurt Ackermann, geboren 1928 beiRothenburg ob der Tauber, wurde 1974 an die UniversitätStuttgart berufen. Dort unterrichtete er am damaligenFachbereich für Konstruktiven Ingenieurbau die FächerPlanung und Konstruktion im Hochbau sowie die Vertie-fung Entwerfen und Konstruieren und führte die Studen-ten in die Tragwerkslehre ein. Durch seine Arbeit mit denArchitektur- und Bauingenieurstudenten verschaffte erdieser Stuttgarter Lehrtradition eine hoch angeseheneStellung in der deutschen Hochschullandschaft. Zusam-men mit Frei Otto und Jörg Schlaich führte er gemeinsa-me Seminare für Architekten und Ingenieure durch undstellte seine Arbeit in mehreren Buchpublikationen dar.

Institut mit langer TraditionDas heutige IEK wurde 1876 als Lehrstuhl für Hochbaukunde,Baukonstruktion und Eisenbahnhochbau eingerichtet. Es ver-steht seine Arbeit als Brückenschlag zwischen zwei konträren,sich scheinbar unversöhnlich gegenüberstehenden Auffas-sungen von Architektur: Einem eher künstlerisch geprägtenStandpunkt, der der Idee den Vorrang gegenüber den techni-schen Notwendigkeiten gibt, und einer eher technologischgeprägten Philosophie, die materielle Gesichtspunkte in denVordergrund stellt und ideelle Faktoren nachrangig behandeltoder sogar missachtet. Zu den Grundprinzipien des IEK ge-hört deshalb die Auffassung, dass Architekten sich von Künst-lern – unter anderem – dadurch fundamental unterscheiden,dass sie an recht enge Nützlichkeitsanforderungen gebundensind. Ferner gilt, dass bauende Architekten stets in überle-bensgroßen Maßstäben operieren und folglich unter anderemFragen der Lastabtragung von vornherein gar nicht ignorieren

können. Ande-rerseits vertrittdas Institut ge-genüber ehertechnokratischgeprägten An-sätzen denStandpunkt,dass Bauwerkeimmer einesymbolisch-expressiveDimensionhaben, derenaktive Gestal-tung in derHand des

Architekten – fallweise auch des Ingenieurs – liegt. Die Veran-staltung war für viele der Teilnehmer eine Gelegenheit desWiedersehens und des fachlichen Gedankenaustauschs.Eine Publikation mit den Vorträgen der Redner ist in Vorbe-reitung und demnächst über das IEK erhältlich. amg

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Matthias RottnerInstitut für Entwerfen und Konstruieren Tel. 0711/685-83271 e-mail: [email protected]

Kurt Ackermann (Foto: Regina Schmeken)

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Es gibt keine einfachen LösungenVollhybrid, Plug-in-Hybrid, Diesel- beziehungsweise Erdgas-hybrid, Elektrofahrzeug mit Batterie und/oder Brennstoff-zelle, alternative Kraftstoffe – die Automobilhersteller über-bieten sich mit innovativen Antriebskonzepten. Doch waswird sich - realistisch gesehen - durchsetzen? Dieser undanderen Fragen ging das Internationale Stuttgarter Sympo-sium Automobil- und Motorentechnik im März im Haus derWirtschaft nach, das in diesem Jahr sein 10. Jubiläum feier-te. Getragen wird der heute größte Automobilkongress inSüddeutschland vom Forschungsinstitut für Kraftfahrwe-sen und Fahrzeugmotoren Stuttgart (FKFS) und dem Insti-tut für Verbrennungsmotoren und Kraftfahrwesen (IVK) derUni.

Am Automobil haben sich die Geister schon immer geschie-den, doch verzichten will keiner darauf. Das war bereits so,als das Symposium, damals noch unter der Leitung vonProf. Ulf Esser vom IVK, vor 15 Jahren ins Leben gerufenwurde, um sich mit dem Automobil der Zukunft zu beschäf-tigen. Eines der zentralen Themen der frühen Jahre war imZeichen der aufkeimenden Umweltdiskussion die motori-sche und aerodynamische Verbesserung von Fahrzeugen,um die Wirtschaftlichkeit zu erhöhen und die Schadstoff-emissionen zu verringern. Heute sind die Automobilsalons„grün“, und das umweltgerechte Auto ist längst keine Uto-pie mehr. Doch was ist nicht nur wünschenswert, sondernauch für die Massenmotorisierung technisch machbar und

„ K L E I N E S I N S T I T U T S T R E F F E N “ I N S A C H E N W A S S E R R E C Y L I N G > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Gebt uns den ganzen Dreck …21 Wasser-Spezialisten der RWTH Aachen, der TechnischenHochschulen Wien und Dresden sowie der EidgenössischenTechnischen Hochschule ETH Zürich trafen sich im Januarmit ihren Fachkollegen am Lehrstuhl für Siedlungswasser-wirtschaft und Wasserrecycling des Instituts für Siedlungs-wasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft (ISWA), umin zwangloser Atmosphäre aktuelle Forschungsprojektevorzustellen und zu diskutieren. Ursprünglich mitinitiiertdurch Karl-Heinz Krauth, der zwischen 1974 und 2000 dieProfessur für Abwassertechnik an der Uni Stuttgartinnehatte, werden diese jährlich stattfindenden „kleinenInstitutstreffen“ seit 1985 im Turnus von den fünf beteilig-ten Instituten ausgerichtet.

Ziel der Treffen ist es, junge Wissenschaftler in ihrer Arbeitzu begleiten und Methoden und Inhalte kritisch zu hinterfra-

gen beziehungs-weise weiterzuent-wickeln. Für diebetreuenden Pro-fessoren bietet sichdie Möglichkeit,aktuelle For-schungsprojekte zubesprechen sowieFragen der Lehregemeinsam zu dis-kutieren. DiesesJahr bekamenneben den Gästendie beiden Stutt-garter Doktoran-den DemetAntakyali undManuel Krauß dieGelegenheit, ihreArbeit vorzustellen.Antakyali arbeitet

an der Nährstoffrückgewinnung aus Abwässern. „Wenndie Rohstoffvorräte weiter so ausgebeutet werden wiebisher, werden die Phosphorpreise deutlich ansteigen undspätestens zu Beginn des nächsten Jahrhunderts wird dieFörderung des natürlich vorhandenen Phosphors massiveinbrechen“, betonte Antakyali und strich Bedeutungihrer Arbeit für die Landwirtschaft heraus: „Phosphor isteiner der wichtigsten Pflanzennährstoffe.“ Als Bestandteilvon künstlichen Düngemitteln spielt er eine bedeutendeRolle für die Nahrungsmittelproduktion. Zur Ernährungder steigenden Weltbevölkerung müssen daher Möglich-keiten erforscht werden, Phosphor aus dem Abwasserzurückzugewinnen und in den natürlichen Kreislaufzurückzuführen.

Manuel Krauß dagegen befasst sich nicht mit Nährstoffen,sondern mit dem Giftstoff Arsen. Im indischen BundesstaatWestbengalen werden derzeit viele Menschen mit Wasserversorgt, das eine hohe natürliche Arsen-Konzentration auf-weist. Vielfältige Vergiftungserscheinungen sind die Folge.Im Rahmen des Projekts „Tipot“ (Treatment of Water forIrrigation and Potable Use) übertrug der Doktorand einerprobtes Verfahren, das in Deutschland seit Jahren zurunterirdischen Entfernung von Eisen und Mangan aus demTrinkwasser eingesetzt wird, auf die Elimination von Arsen.„Mit einfachen Mitteln kann den Menschen auf diese Weisekostengünstig ein besseres und gesünderes Leben ermög-licht werden“, so Krauß.

Prof. Heidrun Steinmetz, seit 2007 Lehrstuhlinhaberinfür Siedlungswasserwirtschaft und Wasserrecycling, freutesich, den Kollegen als besonderes Highlight das weltweiteinmalige Stuttgarter Lehr- und Forschungsklärwerk prä-sentieren zu können. Da sich einige Reinigungsverfahrennicht ohne weiteres vom Labormaßstab übertragen lassen,erlaubt diese Anlage den Forschern des ISWA, sich nichtnur im Kleinen mit Abwässern und deren Aufbereitung zubeschäftigen, sondern auch unter realen Bedingungen neueMöglichkeiten der Aufbereitung zu analysieren und zu ent-wickeln. Tobias Klaus

Demet Antakyali erklärt den Fachkollegenihren Versuchsaufbau. (Foto: Klaus)

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Optimierung und Weiterentwicklung bestehender Technolo-gien ein wichtiges Thema. Vorgestellt wurde dabei ein brei-tes Spektrum technischer Lösungsansätze. Der zentralenFrage zukünftiger Automobilentwicklung „Vielfalt oder Ver-einheitlichung?“ widmete sich abschließend auch eine mitinternationalen Experten besetzte Podiumsdiskussion, diedamit das Thema des ersten Plenarvortrags von Dr. HerbertDemel, COO Magna International, wieder aufnahm.

Im Ringen um energieeffizientere und nachhaltigereMobilität hat längst ein Suchen nach Alternativen einge-setzt, so das Fazit, „doch einfache Lösungen gibt es nicht.“Schritt für Schritt werde der Antriebsstrang elektrisch unter-stützt. Die Potenziale des herkömmlichen Verbrennungsmo-tors selbst sind allerdings noch nicht ausgeschöpft, so dassdie Experten diesen auch zukünftig als Hauptantriebsquellefür Pkw sehen. Unabhängig davon zieht die Hybridtechnik,also die Verbindung von Elektro- und Verbrennungsmotor,unaufhaltsam in alle Fahrzeugklassen ein.

Parallel dazu forschen Institute und Industrie an aus-schließlich elektrischen Antriebskonzepten. Das größte zuüberwindende Problem ist bisher die unzureichende Ener-giedichte in Batterien und die davon abhängige Begrenzungder Reichweite. Serienreife Lösungen für die Nutzung inBallungsräumen sind jedoch in Sicht und werden schritt-weise in den Markt eingeführt. Weiterhin ist zu erwarten,dass kleine Verbrennungsmotoren als so genannte „RangeExtender“ eingesetzt werden, die nur als Generatoren die-nen und während der Fahrt die Batterie aufladen. uk

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Prof. Jochen WiedemannInstitut für Verbrennungsmotoren und Kraftfahrwesen Tel. 0711/685-65600e-mail: [email protected]> > > www.fkfs.de\symposium

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ermöglicht damit auch zukünftig eine nachhaltige, individu-elle Mobilität? Bis 2030 werden weniger als 10 ProzentMarktanteil für Elektrofahrzeuge prognostiziert – wie wer-den die anderen mehr als 90 Prozent fahren? Die Vielfalt derFahrzeug- und Antriebslösungen ist groß. Doch welche

Bandbreite ist erforderlich, um die global sehr unterschiedli-chen Anforderungen energieoptimal und CO2-minimal abzu-decken, wenn Autos – Stichwort Billigfahrzeug - gleichzeitigbezahlbar bleiben sollen?

Diesen Fragen gingen rund 800 internationale Teilneh-mer unter der Federführung der FKFS-Vorstände und Lehr-stuhlinhaber am IVK Prof. Michael Bargende (Verbren-nungsmotoren), Hans-Christian Reuss (Kraftfahrzeugmecha-tronik) und Jochen Wiedemann (Kraftfahrwesen) in über 80Vorträgen und einer begleitenden Fachausstellung nach. ImZentrum des diesjährigen Kongresses stand die Vielfalt derHybridtechnologien, die auch Gegenstand eines der beidenPlenarvorträge war. Professor Leopold Mikulic, Leiter Pro-gramm-Management und Entwicklung Pkw-Motoren undTriebstrang Mercedes-Benz Cars, zeigte, dass Hybridantrie-be ein Beitrag zu einer nachhaltigen Mobilität sind. Nebenkonzeptionellen Neuentwicklungen waren auch Fragen der

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Licht-Sammler mit Tradition und ZukunftLight Harvesting and Solar Energy Conversion (Licht sam-meln und solare Energiewandlung) lautete das Thema einerinternationalen Bunsen-Tagung im März. Anlass war der100. Geburtstag von Theodor Förster, der von 1951 bis 1974den Lehrstuhl für Physikalische Chemie der UniversitätStuttgart innehatte. Förster, der am 15. Mai 100 Jahre altgeworden wäre, war ein Pionier auf dem Gebiet von photo-physikalischen Untersuchungen angeregter Farbstoffmo-leküle. Seine Arbeiten erlangten große internationaleBedeutung. Dies gilt insbesondere für diejenigen zur Ener-gieübertragung über große Abstände; die bei der Wirkungsogenannter Antennenpigmente in der Photosynthese einegroße Rolle spielen.

In einer Zeit, in der die Vorräte fossiler Brennstoffe zur Nei-ge zu gehen drohen und die Reduktion der CO2-Belastungder Erdatmosphäre zu einem großen gesellschaftlichenAnliegen geworden ist, erlangt die Nutzung der Sonnenen-ergie eine zunehmend zentrale Bedeutung. Deutschland

Farbstoffmolekül grüner Pflanzen sowie als Linie die Stärke seiner Absorptiondes Sonnenlichts. (Foto: Institut)

Vielfalt oder Vereinheitlichung? Das fragte auch FKFS-Vorstand Prof.Jochen Wiedemann bei der Eröffnung des 10. Symposiums Automobil-und Motorentechnik. (Foto: FKFS)

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gehört zu den führenden Nationen auf dem Gebiet der Photo-voltaik auf der Basis von Silizium und anderer Halbleiter. Ander Universität Stuttgart befasst sich unter anderem das Insti-tut für Physikalische Elektronik zentral mit diesen Systemen.

Heute wird intensiv nach kostengünstigen Alternativenaus organischen Polymeren oder anorganischen Oxid-halbleitern und Farbstoffen gesucht. Damit soll nicht nurSolarstrom gewonnen, sondern auch Wasser in Wasserstoffund Sauerstoff aufgespalten werden. Die Fortschritte in denGrundlagen dieser alternativen photovoltaischen Systemewaren das zentrale Thema der Tagung mit rund 70 Teilneh-mern, die gemeinsam von der Deutschen Bunsengesell-schaft für Physikalische Chemie, der Fachgruppe Photoche-

mie der Gesellschaft Deutscher Chemiker und der Univer-sität Stuttgart organisiert wurde. Für die Ausrichtung vorOrt sorgen Prof. Emil Roduner (Institut für PhysikalischeChemie) und Prof. Jürgen H. Werner (Institut für Physikali-sche Elektronik). zi

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Prof. Emil RodunerInstitut für Physikalische ChemieTel. 0711/685-64490e-mail: [email protected]> > > www.ipc.uni-stuttgart.de/bunsen/html/

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Freiheit durch GeldresistenzÜber die Gefährdung der Freiheit des Einzelnen referierteProf. Paul Kirchhof, ehemaliger Richter des Bundesverfas-sungsgerichts, im Rahmen der Theodor-Heuss-Gedächtnis-Vorlesung am 10. Dezember. Der als Querdenker bekannteehemalige Mitstreiter in Angela Merkels „Kompetenzteam“wurde seinem Ruf einmal mehr gerecht und illustrierte sei-nen ambitionierten Vortrag mit prägnanten Beispielen.

Nichts im Vergleich zur Unvorhersehbarkeit des Lebens vorsechzig Jahren, gab Prof. Paul Kirchhof einleitend zu beden-ken, sei die „kleine Unvorhersehbarkeit Studentenstreik“,die Ursache dafür war, dass die Veranstaltung kurzfristigvon der Stadtmitte an den Vaihinger Pfaffenwaldring verlegt

werden musste. Als Deutsch-land am Boden lag, leitete der Verfassungs- und Steuer-rechtler auf sein Vortragsthe-ma „Der freie oder dergelenkte Bürger“ über, erhieltdas Grundgesetz das Prinzipder Freiheit, und die Bevölke-rung erarbeitete ihr Wirt-schaftswunder. Dagegenerscheine die gegenwärtigeKrise fast belanglos, undtrotzdem brächten die Men-schen heute kein Eigenenga-gement ein, sondern vertrau-ten auf den Staat.

Die Menschen müssten,genau wie in der Demokratie vor 60 Jahren, wieder Kraftfinden, das Angebot der Freiheit wahrzunehmen. Am Bei-spiel von Handschuh und Hand illustriert Kirchhof das Ver-hältnis von Staat und Staatsvolk: „Erst die Hand macht denHandschuh beweglich, und der Handschuh muss sogestrickt sein, dass sich die Hand in sinnvollem Rahmenbewegen kann.“ Jedoch hätten sich die Erwartungen, wel-che die Menschen an den Staat richten, und mit ihnen diefreiheitliche Distanz des Menschen zum Staat, grundlegendgewandelt. „Der Bürger erwartet, nein, fordert vom Staatgutes Geld und überfordert damit Staat und Recht“, soKirchhof. Auch angesichts der Zahlenhörigkeit wie bei derMessung von Wachstum mahnt Kirchhof: „Vorsichtig sein

im Glauben an die Zahl! Wir produzieren 92 MillionenAutos, verkaufen aber nur 51 Millionen.“ Damit würdenArbeitsplätze nur deshalb erhalten, weil es sie schon gibt,was die schöpferische Kraft der Erneuerung behindere.

Der Bürger unserer Zeit, bedauert Kirchhof, „ist anleh-nungsbedürftig und besitzt keine Kraft für Freiheit“. Die Auf-gabe des Staates sei, mit Worten zu lenken, was auch Theo-dor Heuss einst in seiner Rede zum Thema „Formkräfteeiner politischen Stilbildung“ betont habe. Heute aber lenkeder Staat durch Geld und Information und mindere so dieErprobungskraft des Bürgers. „Nach Dostojewski ist Geld‚geprägte Freiheit’. Wenn der Staat aber WissenschaftlernGeld anbietet und dies mit Zielvereinbarungen verbindet,verliert Dostojewskis Merksatz an Substanz.“ Mit Auflagenwie zum Beispiel im Rahmen der Exzellenzinitiative, werdevon den Forschern erwartet, dass sie ihr Thema ändern,Methoden überdenken. „Sie werden förmlich verpflichtet,sich niemals gegen den Mäzen zu wenden.“ Dies sei nichtnur „hart an der Kante der Korruption“ - auch die Freiheitbleibe dadurch auf der Strecke. So fordert Kirchhof ener-gisch: „Wir brauchen mehr Geldresistenz!“

„Ein schlanker Staat hält Distanz“Vor knapp 60 Jahren habe Ludwig Erhard die Idee desVolkswirtschaftlers Adam Smith, dass der Wohlstand derReichen auch den Armen nutze, aufgegriffen: Eine „unsicht-bare Hand“ verwandele demnach das egoistische Strebendes Einzelnen in das Wohl der Gesellschaft. Auch Erhardließ sich dieser Überzeugung leiten und wird noch heute alsVater des Wirtschaftswunders gefeiert. „Soziale Marktwirt-schaft“, folgert Kirchhof, „ist eine geistige Haltung, die unsdavor bewahrt, zum sozialen Untertan degradiert zu wer-den.“ Freiheit, so seine Bilanz am Ende des einstündigenVortrags, ist Verschiedenheit. „Der Kaufmann wird reich anGeld, der Philosoph an Gedanken.“ Wer dies nicht ertrage,ertrage die Freiheit nicht. Dementsprechend halte „einschlanker starker Staat Distanz und verknüpft Freiheit mitVerantwortung“. Damit handele er ganz nach dem Vorbildvon Großvater Kirchhof, der immer geraten habe: „Wennihr einen Weihnachtsbaum veredeln wollt, behängt die Ästeso, dass der Baum weiter zum Licht streben kann. Die Ästedürfen nicht herabgedrückt werden.“ Sabine Dettling

Als Querdenker bekannt: Prof.Paul Kirchhof. (Foto: Eppler)

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I N T E R D I S Z I P L I N Ä R E T A G U N G „ F Ä L S C H U N G E N – L I T E R A R I S C H / M E D I A L " > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Von Ossian zur Virtual RealityFälschungen in Literatur und Medien waren das Themaeiner interdisziplinären Tagung des Instituts für Literatur-wissenschaft und des Internationalen Zentrums für Kultur-und Technikforschung der Uni (IZKT). Im Rahmen derzweitägigen Veranstaltung unter der Leitung von Dr. Barba-ra Potthast, Abteilung für Neuere deutsche Literatur gingenLiteratur-, Medien-, Kommunikations- und Filmwissen-schaftler aus Deutschland und Österreich dieser Fragenach. Die Problematik ist aktuell, denn Fälschungen könnenim digitalen Zeitalter so perfekt produziert werden, wie niezuvor.

Fälschungen werden heute dank der digitalen Techniken zurFoto-, Video- und Textbearbeitung immer perfekter. Fastgrenzenlos ist die Vielfalt an Simulations-, Reproduktions-und Fälschungsmöglichkeiten von Filmen, Bildern, Textenund Wirklichkeiten. In den Medien ist die Erfindung von derWahrheit, die virtuelle von der echtenWirklichkeit unter Umständen kaumnoch zu unterscheiden. Und die massen-mediale Konstruktion von Realitätbestimmt zunehmend das, was in derGesellschaft als authentisch betrachtetund als real wahrgenommen wird. In derDichtung dagegen sind, so scheint es,Fälschungen erlaubt – schließlich wer-den hier Fiktionen und Phantasien verar-beitet. Fälschungen in der Literatur sindmit dem Autor verbunden; bei einerliterarischen Fälschung schreibt einAutor seinen Text einem anderen Autorzu. So waren die Texte des mittelalterli-chen Barden Ossian im 18. Jahrhundertwegen ihres altertümlichen Stils Kult. InWahrheit stammten die Dichtungen vondem Hauslehrer James Macpherson(1736-1796).

„Auf die Frage, was wahr, was echtist, geben Wissenschaft, Religion undKunst Antworten“, führt Barbara Potthastaus. Fälschungen dienten dazu, Wahr-heiten, Gewissheiten, Denktraditionen zuhinterfragen, aber sie erfüllten ihre Funk-tion erst dann, wenn sie als Fälschungen offenbar würden.Weil Fälschungen zeigen, was zu einer bestimmten Zeit alswahr, echt und authentisch erwünscht wird, legen sie ihrenFinger in die Wunden der Kultur und des Wissens einerGesellschaft.

Forschungsparadigma im Wandel Lange Zeit wurden Fälschungen lediglich als moralisch oderkriminalistisch interessante Objekte der Forschung betrach-tet. Seit wenigen Jahren erst wird die einzelne Fälschunginterdisziplinär und vor ihrem zeithistorischen Hintergrundanalysiert. Barbara Potthast bezeichnet dies als „immenswichtig“, denn jede Fälschung bringt verborgene Vorstel-

lungen, Lebenswelten und Diskurse ans Licht und zeigtBedürfnisse einer Gesellschaft. „Wenn diese Bedürfnissesehr stark sind, ist die Neigung, die Fälschung als echt anzu-sehen, so groß, dass sie nicht entlarvt wird. Das ist einehistorische Konstante“, stellt Potthast fest und illustriertdies am Beispiel des Klarinettenlehrers Binjamin Wilkomir-ski. Geboren als Bruno Dösseker, beschloss er, eine fiktiveIdentität anzunehmen und in die Rolle eines Holocaust-Opfers zu schlüpfen. Seine gefälschte Autobiographie„Bruchstücke" war in den 1990er Jahren ein Bestseller undWilkomirski ein Medienliebling - bis der Autor Daniel Ganz-fried schließlich die Identität öffentlich anzweifelte und Dös-seker aufflog.

Literatur und Medien mit GemeinsamkeitenDie interdisziplinäre Erforschung von Fälschungen birgt dasProblem, dass sich bei allen Gemeinsamkeiten deren Begriff

und Funktionvon System zuSystem unter-scheiden:Während inder bildendenKunst, die jaauch mit Medi-en arbeitet, dieDifferenz vonecht undfalsch zuneh-mend anBedeutungverliert, hältdie Welt derLiteratur wei-terhin amAutor alsUrheber desOriginals fest.Dennoch spre-chen, das hatdie Tagunggezeigt, dieGemeinsam-

keiten von Literatur und Medien für eine interdisziplinäreDiskussion. Beide arbeiten mit Fiktionen und ästhetischenVerfahren, und beide konstruieren virtuelle Realitäten undAuthentisches nach je eigenen Regeln. Sabine Dettling

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Dr. Barbara PotthastInstitut für LiteraturwissenschaftNeuere Deutsche Literatur ITel. 0711/685-83070e-mail: [email protected]

Von wegen gälische Mythologie…in Wahrheit stammen die Gesänge desOssian aus der Feder eines Hauslehrers. (Foto: Directmedia Publishing)

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Migration als soziale HerausforderungMigration ist kein Phänomen allein des 20. Jahrhun-derts, doch hat gerade das vergangene Jahrhundert

zahllose Menschenströme zur Umsiedlunggezwungen – und regte damit die historische

Forschung an, verschiedene Migrationsfor-men, historische Kontinuitäten und Verände-

rungen bis in die Antike zurückzuverfolgen. Vordiesem Hintergrund veranstalteten das Histo-

rische Institut der Uni gemeinsam mitdem Haus der Geschichte und dem

Stuttgarter Arbeitskreis für historischeMigrationsforschung im Januar die Tagung„Migration als soziale Herausforderung.Historische Formen solidarischen Handelnsvon der Antike bis zum 20. Jahrhundert“.

Zwei Tage lang setzten sich 17 Historikerunter der wissenschaftlichen Leitung von

Prof. Joachim Bahlcke und Prof. PeterScholz (beide Stuttgart) sowie Prof.Rainer Leng (Würzburg) mit Fragen zu

Migranten und deren Aufnahmegesell-schaften auseinander. Sie ermöglich-ten dabei einen epochenübergreifen-den Überblick von der griechischenAntike bis ins 20. Jahrhundert. Im

Mittelpunkt standen die Bedingun-gen und die Handlungsmuster der

von den Migranten angesteuer-ten Gesellschaften. Dies konnteetwa in Form von ethisch oderspäter auch christlich motivier-ter Armenfürsorge geschehen,

durch die Vergabe von Land oder durch rechtliche Privilegi-en, die den Migranten gewährt wurden.

Während im Kontext der Völkerwanderung die Bewe-gungen von Stämmen über einen langen Zeitraum unter-

sucht worden waren, nahmen einige Vorträge auch politi-sche Flüchtlinge und deren Aufnahme unter die Lupe. Soetwa die durch die Französische Revolution ab 1789 ausFrankreich Vertriebenen oder die polnischen Revolutionärenach ihrer Niederlage in den Freiheitskämpfen um 1830.Letztere zogen durch deutsche Gebiete und erfuhren dabeieine ausgesprochen enthusiastische Solidarisierung durchsogenannte „Polenvereine“. Der Abschlussvortrag wieder-um befasste sich mit dem Katastrophenmanagement inDeutschland nach 1945 durch den zunächst nur rudimentärvorhandenen Staat sowie mit der Versorgung der Vertriebe-nen aus dem europäischen Osten.

Gleich drei Vorträge widmeten sich der Migrationsge-schichte jüdischer Gruppen, die insbesondere im Mittelaltereine die hohe Mobilität aufwiesen. Außer diesen durchNationalität oder Ethnie, durch sozialen Stand oder durchpolitische Positionen definierten Gruppen untersuchten dieReferenten auch die wandernden Handwerkergesellen alsBerufsgruppe in der Frühen Neuzeit.

„Die Tagung lieferte nicht nur Ergebnisse, sondern for-dert auch zu weiteren Studien heraus“, lautete das Fazit derTeilnehmer in der Abschlussdiskussion. So müsse Migrati-on in ihren Ausprägungen noch stärker differenziert wer-den. Ebenso seien weitere Fallstudien zu individuellem soli-darischen Handeln nötig, um auf größere Gruppen oder garKollektive schließen zu können. Das Haus der GeschichteBaden-Württemberg als Tagungsort war im Übrigen bewus-st gewählt: Es zeigte zeitgleich die Große Landesausstellung„Ihr und Wir. Integration der Heimatvertriebenen in Baden-Württemberg“. Samuel Feinauer/amg

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Prof. Joachim Bahlcke Historisches InstitutTel. 0711/685-83442e-mail: [email protected]

Vor über 100 Jahren wurde die Frei-heitsstatue in New York zum Hoff-nungssymbol für Auswanderer nachAmerika. (Foto: Daniel Schwen)

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Sprachgeheimnis um schwimmende AdlerAls Wissenschaftler revolutionierte er die Linguistik, alspolitischer Publizist geißelte er Profitinteressen und die Fol-gen der Globalisierung: Prof. Noam Chomsky vom Massa-chusetts Institut for Technology (MIT) Boston. Am 23. März,dem 110. Geburtstag Erich Fromms, erhielt der 81-jährigePhilosoph und Linguist im Stuttgarter Neuen Schloss denErich Fromm-Preis verliehen. Die Internationale Erich-Fromm-Gesellschaft würdigt mit dem Preis das Lebens-werk Chomskys, vor allem aber sein von öffentlichen Mei-nungen unabhängiges politisches Urteil. Auf Einladung desInstituts für Linguistik hielt der Ausnahmewissenschaftleram Folgetag an der Uni Stuttgart einen sprachwissen-schaftlichen Vortrag mit dem Titel „Restricting stipulations:consequences and challenges".

Ganze Studentengenerationen verschiedenster Fachrich-tungen hat Noam Chomsky mit seinen Thesen auf Trabgehalten, und so reichte das Besucherspektrum im vollbesetzen Hörsaal 17.01 von der flippigen Nachwuchs-Lin-guistin bis zum ergrauten Geschäftsmann, der sich für dieVormittagsveranstaltung eigens ein paar Stunden freigenommen hat. „Chomsky ist der weltweit meist zitierteWissenschaftler überhaupt, auch jenseits seines Fachbe-reichs“, betonte die Prorektorin für Forschung und Tech-nologie, Prof. Sabine Laschat bei der Begrüßung. Dass ermit klaren Worten nicht spart, hatte Chomsky schon beimFestakt im Neuen Schloss unter Beweis gestellt. Dort hielter eine Lesung mit dem Titel „Die böse Geißel des Terro-rismus – Realität, Konstruktion, Abhilfe“ und blieb dabei

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H E G E L P R E I S T R Ä G E R M I C H A E L T O M A S E L L O B E I M F O R S C H U N G S V E R B U N D S P R A C H E U N D K O G N I T I O N > > > > > > > > > > >

Warum der Mensch eine komplexe Grammatik braucht - und der Affe nicht…Kleine Unterschiede machen oft die große Verschiedenheit.So das Fazit eines Gastvortrags zu den Ursprüngen vonKommunikation und Grammatik, den der Direktor des Leip-ziger Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie,Prof. Michael Tomasello, am 16. Dezember 2009 im Rahmendes Forschungsverbunds Sprache und Kognition (FSK) derUniversität Stuttgart hielt. Im Anschluss an die Veranstal-tung im voll besetzten Tiefenhörsaal 17.01 nahm Tomasel-lo, im Rathaus den Hegelpreis der Stadt Stuttgart entge-gen, begleitet von einer Laudatio durch Jürgen Habermas.

Tomasello, vom Studium her Psychologe, beschäftigt sichmit den Unterschieden von Mensch und Tier, um dem Ent-stehen der menschlichen Kultur auf die Spur zu kommen.Mit diesem Ansatz der „evolutionären Anthropologie“ fügtsich der international anerkannte amerikanische Wissen-schaftler perfekt in den interdisziplinären Rahmen des voreinem Jahr gegründeten FSK ein, den Prof. Klaus von Heu-singer zum Auftakt exemplarisch anhand vier sehr unter-schiedlicher Projekten vorstellte. Um zu erklären, wozu der

Mensch eine komplexe Grammatik braucht, setzt Tomasellobei unseren nächsten Verwandten, den Primaten an. Dieunterscheiden sich von kleinen Kindern in punkto Kommu-nikation in einem wesentlichen Punkt: Primaten kommuni-zieren mit Gesten und Lauten, um Wünsche zu äußern unddamit eine Handlung anzustoßen, also wenn sie zum Beis-piel um Futter bitten oder eine „Lausung“ einfordern.„Selbst wenn man einem Affen beibringt ‚Ball gut’ zusagen, wäre das also auffordernd gemeint“, erklärte Toma-sello. Das Menschenkind dagegen strebt darüber hinausnach einem weitreichenden anderen Aspekt: es möchte mitanderen teilen - sich mitteilen. Der Anthropologe belegtedies mit Videoaufnahmen seiner Experimente: „Wenn Kin-der auf etwas zeigen, möchten sie oft einfach auf eineAußergewöhnlichkeit hinweisen und dieses Gefühl mitanderen Menschen teilen. Oder sie wollen jemandem hel-fen, etwas zu finden.“

Dieses Bedürfnis zeigt sich auch beim Aushandelnsprachlicher Konventionen: Oft ist zum Beispiel nicht ganzklar, ob ein Objekt ein Baum oder ein Busch ist. „Hat man

seinem Ruf als „Chefankläger der USA“ einmal mehrtreu. Im Hörsaal nun, so der Wunsch von Prof. ArtemisAlexiadou, auf deren Einladung Chomskyzu seiner ersten Lesung an die Uni Stutt-gart gekommen war, sollte die Sprachwis-senschaft im Vordergrund stehen.

Zentrales liturgisches KonzeptChomsky selbst hielt sich an diese Vorgabe.Thema seines Vortrags war ein zentraleslinguistisches Konzept, die Phrasenstruktur-grammatik. In diesem Modell werden Sätzeeiner Sprache in hierarchisch gegliederte,linguistisch relevante Einheiten, so genann-te Konstituente, unterteilt. Die Phrasen-struktur hat aus linguistischer Sicht unter-schiedliche Bedeutungen: Wenn Menscheneinen Satz produzieren, dann bringen sieim allgemeinen Phrase für Phrase hervor,und sie neigen dazu, an den Grenzen zwi-schen größeren phrasalen Einheiten innezu halten. Wenn man die Struktur einesSatzes analysiert, kann außerdem seineMehrdeutigkeit offengelegt werden.

Am Beispiel der Frage „Can eagles that fly swim?“,erläuterte Chomsky, wie Sprachstrukturen interpretiertwerden und zu welchen Missverständnissen es dabeikommen kann - ein Thema, das auch im Zentrum des vonProf. Alexiadou geleiteten Sonderforschungsbereichs„Inkrementelle Spezifikation im Kontext“ steht. Aus-gangspunk ist dabei, dass auf jeder Ebene der linguisti-schen Analyse mit unvollständiger beziehungsweisemehrdeutiger Information umgegangen werden muss.

Die Wissenschaftler fragen zum einen, wie fehlende Infor-mation ergänzt beziehungsweise die Ausdrücke, in denen

Information fehlt, interpretiert wer-den. Zum anderen geht es darum,wie der Mensch aus zwei odermehr Bedeutungsalternativen dierichtige auswählt und wie dieseProzesse in Regeln formalisiert undstatistisch modelliert werden kön-nen.

Keine trockene TheorieWer bei Chomskys Ausführungentrockene Theorie erwartete, derwurde eines Besseren belehrt.Ganz locker und durchaus unter-haltsam sprach der Gelehrte überSprachfiguren und Grammatik,Syntax und Semantik, als handelees sich bei der komplexen Materieum eine Frühstücksplauderei.Immer wieder schloss er seineGedanken mit einem augenzwin-

kernden „It’s quite easy“ ab – und hatte damit die Lacherim Publikum konsequent auf seiner Seite. amg

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Prof. Artemis AlexiadouInstitut für Linguistik: AnglistikTel. 0711/685-83121e-mail: [email protected]

Prof. Noam Chomsky. (Foto: Internationale Erich Fromm-Gesellschaft)

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Herausgeber: Universität StuttgartRedaktion: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit derUniversität Stuttgart. Andrea Mayer-Grenu (Chefredaktion),Ursula Zitzler, Birgit Vennemann, Christina Fischer Anschrift: Universität Stuttgart, Keplerstr. 7, 70174 StuttgartTel. 0711/685-82176, -82297, -82122, -82155, -82211 Fax 0711/685-82188e-mail: [email protected]: Anzeigenagentur Alpha, Finkenstr. 10,68623 Lampertheim, Tel. 06206/939-0

Gestaltungskonzept: Zimmermann Visuelle Kommunikation,Stuttgart, www.zimmermann-online.infoUmsetzung: akzente setzen, Maja Vatralj, StuttgartDruck: Scheel Print-Medien GmbH, Waiblingen-HochenackerAuflage: 8.000 StückErscheinungsweise: Zwei Ausgaben jährlichRedaktionsschluss für die nächste Ausgabe ist der 15.09.2010ISSN: 1619-179XBeiträge bei Quellenangabe zum Nachdruck frei.

I M P R E S S U M > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

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sich im Gespräch mit dem Kind aber einmal auf einenBegriff geeinigt, erlaubt es keine Abweichung mehr, daSprecher und Hörer dieses Wissen nun teilen“, erklärte

Tomasello. Die Unterscheidung in neue und alte Informa-tion zeigt sich auch beim Spielen mit einem Gegenstand:Kommt eine neue Person hinzu, wird das Kind ihm diesenpräsentieren. Fragt aber ein bisheriger Mitspieler „Was istdenn das?“, so wird das Kind nach einem neuen Aspektan dem Spielzeug suchen - irgendetwas muss sich ja ver-ändert haben, wenn man so überrascht über etwasspricht, das man schon kennt.

In der Sprache kann sich diese Unterscheidung neuerund alter Information zum Beispiel in der Verwendung vonbestimmten oder unbestimmten Artikeln widerspiegeln:Einen neu eingeführten Gesprächsaspekt würde man ehermit einem unbestimmten Artikel wie in „Ein Mann kam umdie Ecke“ bezeichnen. Im nächsten Satz könnte man dannmit „Der Mann hatte einen Hut auf“ fortfahren. Unter-scheidungen wie diese sind Thema des „opus magnum“-Forschungsstipendiums von Prof. Heusinger.*)

Die Entwicklung einer komplexen Grammatik siehtTomasello in genau diesem Bedürfnis des Teilens mitanderen Menschen begründet. Denn um die damit ver-bundenen Unterscheidungen in der Sprache zu machen,braucht man Mittel, um zeitlich Vergangenes anzuzeigen,neue von gegebener Information und Handelnde vonAktionen zu unterscheiden. Ebenso sind verschiedeneSatztypen nötig, um sich so auszutauschen, zum Beispieldie reine Information, eine Aufforderung oder eine Frage.

Regine Brandtner

*) Über das „opus magnum“ berichtete der unikurier in Ausgabe1/2009 auf Seite 67.

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„Wenn Kinder auf etwas Außergewöhnliches stoßen, möchten sie es mitanderen teilen”, beobachtete der Anthropologe Michael Tomasello beiseinen Experimenten. (Abbildung: Stadt Stuttgart)

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