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>>>>> FORSCHEN Stuttgarter uni kurier Nr. 107 1/2011 46 Die Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs 716 simulieren Teilchensysteme aus den verschiedensten Anwendungsbereichen. Die Bilder zeigen (links) den Querschnitt durch eine Teilchenwolke, wie sie bei der Laserbearbeitung emittiert wird. Rechts eine abstrahierende Darstellung von Lösungs- mittelbewegungen an einem Protein. (Abbildungen: Institute) WEITERBEWILLIGUNG FÜR SONDERFORSCHUNGSBEREICH 716 >>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>>> Milliarden Atome tanzen weiter Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat grünes Licht für die Weiterförderung des Sonderforschungsbe- reichs (SFB) 716 „Dynamische Simulation von Systemen mit großen Teilchenzahlen“ gegeben. Der Förderumfang beträgt von 2011 bis 2014 rund zwei Millionen Euro jähr- lich. „Mit ihrer Entscheidung honoriert die DFG einerseits die Exzellenz der Stuttgarter Natur- und Ingenieurwissen- schaften, zum anderen die international herausragende Stellung der Universität Stuttgart auf dem Gebiet der Si- mulationstechnologien und Visualisierung sowie deren hervorragende Ausstattung und Know-how im Bereich des Höchstleistungsrechnens“, so Uni-Rektor Prof. Wolf- ram Ressel. Ziel des im Jahr 2007 angelaufenen Sonder- forschungsbereiches 716 (Sprecher Prof. Hans-Rainer Tre- bin) ist es, im Computer Teilchensysteme zu simulieren. Aus Partikeln, auf der untersten Stufe aus Atomen, ist jede Art von Materie aufgebaut. Ein Bereich des SFB befasst sich mit Prozessen in Festkör- pern auf atomistischer Skala. Die Wissenschaftler simulie- ren zum Beispiel, wie ein Laserstrahl auf einen Aluminium- block trifft, die Oberfläche aufschmilzt und durch Auswurf des Materials ein Loch bohrt. Indem man im Rechner die Intensität des Strahles, seine Form und Dauer variiert, kann man den Prozess optimieren, ohne ein reales Experiment durchführen zu müssen. Ebenso kann man mit atomisti- schen Simulationen studieren, wie sich metallische Leiter- bahnen in einem Schaltkreis von ihrem isolierenden Unter- grund lösen und damit zum Beispiel ein Handy unbrauch- bar machen. Darüber hinaus wollen Forscher herausfinden, wie man optimal Nanodiamanten erzeugen und darin Stickstoffatome implantieren kann. Deren Leuchten macht einerseits die Nanodiamanten zu idealen Biomarkern. Andererseits erhofft man sich, die elektronischen Zustände der Implantate als Prozessoren für Quantencomputer nut- zen zu können. Bei den Partikel-Simulationen auf atomarer Skala, auch „Molekulardynamik“ genannt, wird der Weg eines jeden einzelnen Teilchens berechnet, den es unter den Einflüssen seiner Nachbarn und äußerer Kräfte durchläuft. Dazu ist es erforderlich, die Kraftgesetze, mit denen sich die Teilchen beeinflussen, so genau wie möglich zu erforschen. Mit der Molekulardynamik lassen sich aber nicht nur Festkörper, sondern insbesondere auch biologische Systeme studieren. Im SFB werden Struktur und Flexibilität von Proteinen in Lösungsmitteln simuliert und der Transport von Proteinen durch Zellmembrane. Ohne experimentellen Aufwand kann man die Folgen von Mutationen beobachten. Es ist geplant, biologische Reaktionsmechanismen zu untersuchen, wie etwa die Anbindung von Liganden an Enzyme. Derartige Prozesse führen zu Komplexen, welche Abstoßungsreaktio- nen bei Organtransplantationen verhindern oder durch Sig- nalkaskaden die Krebsbildung stören. Weitere Bereiche des SFB betrachten exotische Kristall- strukturen von Nanoteilchen oder größere Partikel, wie zum Beispiel Kohlenstoffteilchen, die sich in turbulenten Flam- menströmungen zu Rußflecken zusammenbacken. Stärker anwendungsorientiert sind Studien des Abriebs in Maschi- nenteilen, die von Flüssigkeiten oder Gasen durchströmt werden, wie Pumpen oder Strahltriebwerke. Hier soll simu- liert werden, wie Schwebeteilchen exponierte Stellen an den Maschinenteilen schädigen und wie man durch kluges Design den Abrieb minimieren kann. Mehrere Teilprojekte befassen sich mit Bruchvorgängen in körnigen Materialien wie etwa Hohlsteinen, zum Beispiel, wenn ein Schlagbohrer Partikel von Gestein oder Beton abmeißelt. Klein + schnell = große Herausforderung Bei den atomistischen Simulationen stellt sich das große Problem, dass die Atome unvorstellbar klein und ihre Bewe- gungen extrem schnell sind. In einen Würfel, dessen Kan- tenlänge ein Hundertstel einer Haaresbreite misst, passen

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Die Wissenschaftler des Sonderforschungsbereichs 716 simulieren Teilchensysteme aus den verschiedensten Anwendungsbereichen. Die Bilder zeigen(links) den Querschnitt durch eine Teilchenwolke, wie sie bei der Laserbearbeitung emittiert wird. Rechts eine abstrahierende Darstellung von Lösungs-mittelbewegungen an einem Protein. (Abbildungen: Institute)

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Milliarden Atome tanzen weiterDie Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hat grünesLicht für die Weiterförderung des Sonderforschungsbe-reichs (SFB) 716 „Dynamische Simulation von Systemenmit großen Teilchenzahlen“ gegeben. Der Förderumfangbeträgt von 2011 bis 2014 rund zwei Millionen Euro jähr-lich. „Mit ihrer Entscheidung honoriert die DFG einerseitsdie Exzellenz der Stuttgarter Natur- und Ingenieurwissen-schaften, zum anderen die international herausragendeStellung der Universität Stuttgart auf dem Gebiet der Si-mulationstechnologien und Visualisierung sowie derenhervorragende Ausstattung und Know-how im Bereichdes Höchstleistungsrechnens“, so Uni-Rektor Prof. Wolf-ram Ressel. Ziel des im Jahr 2007 angelaufenen Sonder-forschungsbereiches 716 (Sprecher Prof. Hans-Rainer Tre-bin) ist es, im Computer Teilchensysteme zu simulieren.Aus Partikeln, auf der untersten Stufe aus Atomen, istjede Art von Materie aufgebaut.

Ein Bereich des SFB befasst sich mit Prozessen in Festkör-pern auf atomistischer Skala. Die Wissenschaftler simulie-ren zum Beispiel, wie ein Laserstrahl auf einen Aluminium-block trifft, die Oberfläche aufschmilzt und durch Auswurfdes Materials ein Loch bohrt. Indem man im Rechner dieIntensität des Strahles, seine Form und Dauer variiert, kannman den Prozess optimieren, ohne ein reales Experimentdurchführen zu müssen. Ebenso kann man mit atomisti-schen Simulationen studieren, wie sich metallische Leiter-bahnen in einem Schaltkreis von ihrem isolierenden Unter-grund lösen und damit zum Beispiel ein Handy unbrauch-bar machen. Darüber hinaus wollen Forscher herausfinden,wie man optimal Nanodiamanten erzeugen und darinStickstoffatome implantieren kann. Deren Leuchten machteinerseits die Nanodiamanten zu idealen Biomarkern.Andererseits erhofft man sich, die elektronischen Zuständeder Implantate als Prozessoren für Quantencomputer nut-zen zu können.

Bei den Partikel-Simulationen auf atomarer Skala, auch„Molekulardynamik“ genannt, wird der Weg eines jedeneinzelnen Teilchens berechnet, den es unter den Einflüssenseiner Nachbarn und äußerer Kräfte durchläuft. Dazu ist eserforderlich, die Kraftgesetze, mit denen sich die Teilchenbeeinflussen, so genau wie möglich zu erforschen. Mit derMolekulardynamik lassen sich aber nicht nur Festkörper,sondern insbesondere auch biologische Systeme studieren.Im SFB werden Struktur und Flexibilität von Proteinen inLösungsmitteln simuliert und der Transport von Proteinendurch Zellmembrane. Ohne experimentellen Aufwand kannman die Folgen von Mutationen beobachten. Es ist geplant,biologische Reaktionsmechanismen zu untersuchen, wieetwa die Anbindung von Liganden an Enzyme. DerartigeProzesse führen zu Komplexen, welche Abstoßungsreaktio-nen bei Organtransplantationen verhindern oder durch Sig-nalkaskaden die Krebsbildung stören.

Weitere Bereiche des SFB betrachten exotische Kristall-strukturen von Nanoteilchen oder größere Partikel, wie zumBeispiel Kohlenstoffteilchen, die sich in turbulenten Flam-menströmungen zu Rußflecken zusammenbacken. Stärkeranwendungsorientiert sind Studien des Abriebs in Maschi-nenteilen, die von Flüssigkeiten oder Gasen durchströmtwerden, wie Pumpen oder Strahltriebwerke. Hier soll simu-liert werden, wie Schwebeteilchen exponierte Stellen anden Maschinenteilen schädigen und wie man durch klugesDesign den Abrieb minimieren kann. Mehrere Teilprojektebefassen sich mit Bruchvorgängen in körnigen Materialienwie etwa Hohlsteinen, zum Beispiel, wenn ein SchlagbohrerPartikel von Gestein oder Beton abmeißelt.

Klein + schnell = große HerausforderungBei den atomistischen Simulationen stellt sich das großeProblem, dass die Atome unvorstellbar klein und ihre Bewe-gungen extrem schnell sind. In einen Würfel, dessen Kan-tenlänge ein Hundertstel einer Haaresbreite misst, passen

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eine Milliarde Atome. Man braucht also Höchstleistungs-rechner in Form von Computer-Clustern mit Tausenden vonProzessoren, und auch hiermit kann man Realzeiten von nureiner Milliardstel Sekunde berechnen. Die Teilchenzahl unddie Simulationszeiten zu steigern, ist das vorrangige Ziel desSonderforschungsbereiches. Dazu bedarf es nicht nur neu-er Hardware-Architekturen, sondern auch neuer Algorith-men, Programmierparadigmen und Speicherstrategien.

Bei den Rechnungen fallen riesige Datenmengen an, fürderen Interpretation die Visualisierung unverzichtbar ist.Neben der Präsentation der Ergebnisse durch Einzelbilderoder Videosequenzen wird dabei die interaktive visuelleAnalyse immer wichtiger. So kann man Atome im gasförmi-gen Bereich zwar als Kugeln darstellen, aber Millionendavon in einer großen Projektion zu drehen, erfordert neueAnsätze der Computergraphik. Zusätzlich müssen die sich

aus den Partikeln ergebenden Grenzflächen zwischen flüs-sigen und festen Bereichen im Festkörper in geeigneterWeise gekennzeichnet werden. Insbesondere bei biologi-schen Systemen ist es erforderlich, zusammengehörige Ein-heiten, Hohlräume und Oberflächen durch abstrakte For-

men hervorzu-heben. WeitereInformationenüber das phy-sikalischeSystem, zumBeispiel dieGeschwindig-keiten der Teil-chen, könnendurch Farbko-dierungen ein-gebracht wer-den. DieExtraktion vonMerkmalenextrem vielerTeilchen undihre graphische Darstellung in Echtzeit ist eine große Her-ausforderung an die am SFB beteiligten Informatiker.

Der Sonderforschungsbereich mit Prof. Hans-Rainer Tre-bin als Sprecher und Prof. Thomas Ertl als Stellvertreter istfür diese Aufgaben gut aufgestellt. Beteiligt sind Wissen-schaftler aus insgesamt fünf Fakultäten, darunter derMathematik und Physik, der Informatik und der Energie-,Verfahrens- und Biotechnik sowie fakultätsübergreifendeEinrichtungen wie das Höchstleistungsrechenzentrum unddas Visualisierungszentrum der Universität. Ein großesAnliegen für den SFB ist die Nachwuchsförderung: DreiJunior-Professoren aus dem Exzellenzcluster SimTech undvier Postdoktoranden sind als Teilprojektleiter eingebunden.

Hans-Rainer Trebin/amg

KONTAKT

Prof. Hans-Rainer Trebin Institut für Theoretische und Angewandte Physik Tel. 0711/685-65255 e-mail: [email protected] > > > www.sfb716.uni-stuttgart.de

Befüllen einer Schüssel mit einem Fluid-Freistrahl.

Analyse von Defektausbreitung in Nickel durchExtraktion von Versetzungen und Stapelfehlern.

D F G - G R A D U I E R T E N K O L L E G „ N U P U S “ W U R D E V E R L Ä N G E R T > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Fluidphasen in porösen MedienWenn man zum Beispiel vorhersagen will, wie groß dieRisiken bei der unterirdischen Speicherung von Kohlendio-xid sind, muss man neben detaillierten hydrogeologischenKenntnissen vor allem die Strömungsprozesse verschie-denartiger Fluide im Untergrund verstehen und berechnenkönnen. Derartige Fragestellungen stehen im Fokus desGraduiertenkollegs NUPUS, das die Deutsche Forschungs-gemeinschaft (DFG) verlängert hat.

Ob Forschungsprogramm, Expertise der beteiligten Wissen-schaftler, Qualifizierungskonzept, Betreuung oder Internatio-nalität: In allen sieben Begutachtungskriterien des Entschei-dungsverfahrens gab die DFG „NUPUS“ (Nichtlinearitätenund Upscaling in porösen Medien) das Prädikat „exzellent“.Sie empfahl die erneute Einrichtung des im Jahr 2006 insLeben gerufenen Graduiertenkollegs mit höchster Förder-

priorität. Die Gruppe habe herausragende wissenschaftlicheErgebnisse erzielt, die durch eine Vielzahl sehr guter undexzellenter Publikationen belegt sind. Grundlagenforschungwie die Entwicklung stochastischer Methoden und grundle-gende Theorien von Fluss und Transport in porösen Mediensowie die Optimierung von effizienten numerischen Model-len seien in NUPUS eng verbunden mit der angewandtenForschung. „Das Graduiertenkolleg präsentiert neue Kon-zepte, auf welche die Fachgemeinschaft bereits seit Jahrengewartet hat“, heißt es in dem Bewilligungsschreiben derDFG.

Strömungen durch poröse Medien kommen in sehr viel-fältigen Anwendungsgebieten der Ingenieur- und Naturwis-senschaften vor. Sie weisen etliche Gemeinsamkeiten, aberauch charakteristische Unterschiede auf. Die Bandbreite anAnwendungen umfasst die oben erwähnte, derzeit ent-

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wickelte Speichertechnologie für das Klimagas Kohlendio-xid in tiefen geologischen Formationen, die Optimierungdes Wassermanagements in Brennstoffzellen oder die ther-misch unterstützte Förderung von Schwerölen. Will man diedabei auftretenden Strömungsvorgänge modellieren, umdamit zum Beispiel Vorhersagen zu machen oder das Pro-

zessverständnis zu verbessern, so treten große Nichtlinea-ritäten in den mathematischen Beschreibungen von hydrau-lischen, thermodynamischen, chemischen oder biologi-schen Wechselwirkungen auf. Ein weiteres Problem ist dasso genannte Upscaling: Hier geht es um die Frage, wie Mit-telungsansätze genutzt werden können, um feinskalige Pro-zesse auf größeren Skalen zu beschreiben und so den erfor-derlichen Rechenaufwand zu reduzieren.

Die rund 40 Wissenschaftler in „NUPUS“ gehen dieseFragestellungen aus den unterschiedlichsten Fachdiszipli-nen an, darunter angewandte Mathematik, Informatik, Phy-sik, Chemie, Umwelt- und Bauingenieurwesen, Geowissen-

schaften und Erdölingenieurwissenschaften. Beteiligte Uni-versitäten sind neben der Uni Stuttgart die UniversitätenEindhoven, Delft, Utrecht und Wageningen aus den Nieder-landen sowie die Uni Bergen in Norwegen. „NUPUS“ profi-tiert zudem von diversen assoziierten Partnereinrichtungen,so dem Exzellenzcluster Simulation Technology (Simtech)der Uni Stuttgart, der Princeton University (USA), der ETHZürich, der Montana State University (USA) und der Heriot-Watt University in Edinburgh. Der Gruppe an der Uni Stutt-gart stehen rund fünf Millionen Euro für die nächsten 4,5Jahre zur Verfügung.

Mit dem Geld möchten die Wissenschaftler an die For-schungserfolge der ersten Förderperiode anknüpfen. Unteranderem wollen sie herausfinden, in wie weit die entwickel-ten Methoden zwischen unterschiedlichen Skalen derAnwendungsfelder übertragbar sind, zum Beispiel von derregionalen Skala, die bei der Speicherung von Kohlendioxidzu betrachten ist, auf eine Mikrometer- beziehungsweiseMillimeter-Skala bei Reaktions- und Diffusionsschichten inBrennstoffzellen.

Ein weiterer zentraler Aspekt von „NUPUS“ ist das Aus-bildungsprogramm für die rund 40 Doktoranden und Post-Doktoranden, das sie in Lehre und Forschung unterstützt.Für sie werden Kurse angeboten, die auf die typischen Fra-gestellungen der jungen Wissenschaftler abgestimmt sind.Alle zwei Wochen ist ein Graduiertenseminar zur Diskussionvon Forschungsergebnissen geplant. Dazu kommt ein Aus-tauschprogramm, das es dem wissenschaftlichen Nach-wuchs erlaubt, bis zu neun Monate im Ausland an einer derPartnerhochschulen zu verbringen. amg

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Prof. Rainer Helmig,Lehrstuhl für Hydromechanikund Hydrosystemmodellierung Tel. 0711/685-64749e-mail: [email protected]

Ausbreitung von Kohlendioxid in einer Speicherformation und zugehöri-ges Durchlässigkeitsfeld. (Foto: Institut)

D A S S T E I N H E I M E R B E C K E N A U F D E R O S T A L B > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Unerwarteter SchwabensteinDas rund 3,5 Kilometer durchmessende Steinheimer Beckenauf der Ostalb ist längst nicht so bekannt wie das 24 Kilo-meter große Nördlinger Ries, das die Pioniere der Impakt-forschung seit den 1960er Jahren (also der Erforschung vonMeteoriteneinschlägen und deren Auswirkungen) intensivuntersuchen. Mit seinem ringförmigen Becken und demprominenten Zentralhügel in seiner Mitte bildet der Stein-heimer Meteoritenkrater aber eine ganz besondere morpho-logische Erscheinung. Dr. Martin Schmieder vom Institut fürPlanetologie der Uni Stuttgart und Dr. Elmar Buchner vomRieskratermuseum Nördlingen haben die SteinheimerImpaktgesteine nach jahrelangem Dornröschenschlaf nocheinmal unter die Lupe genommen und dabei Erstaunlichesentdeckt.

Vor rund 14,6 Millionen Jahren im Miozän durch den Ein-schlag eines Doppelasteroiden entstanden, bildet das Stein-heimer Becken zusammen mit dem überwiegend in Bayern

liegenden Ries eines von wenigen Doppelkratersystemen aufder Erde. Dabei ist gerade das kleinere und gut erhalteneSteinheimer Becken mit seiner markanten Kraterform einMusterbeispiel für einen kleineren Meteoritenkrater deskomplexen Typs – nirgendwo sonst auf der Erde können dieMeteoritenforscher einen solchen Krater besser studieren alsauf der Ostalb. Der Kratersee, der sich im Steinheimer Beckenkurz nach dessen Aussprengung bildete, lieferte zahlreiche,teils endemische Tier- und Pflanzenfossilien und trug Mittedes 19. Jahrhunderts maßgeblich zur Evolutionslehre bei.

Neben den bei Sammlern begehrten Steinheimer „Strah-lenkalken“, speziellen Bruchstrukturen im Weißjurakalksteinder Schwäbischen Alb, die Geologen international als shat-ter cones bezeichnen, sind Trümmergesteine (so genannteImpakt-Brekzien) und durch die Stoßwelle geschockte Mine-rale Zeugen der kosmischen Katastrophe. Zuletzt wurdenwährend Bauarbeiten auf dem Steinheimer Zentralhügel völ-lig neuartige „Strahlenknollen“ aus den dort herausgehobe-

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nen Schichten des Opalinustons geborgen, die Neues zurEntstehung von Strahlenkegeln in irdischen Meteoritenkra-tern erzählen.

Seitdem das Geologische Landesamt Baden-Württem-berg vor allem in den 60er und 70er Jahren zahlreiche Boh-rungen im Steinheimer Becken durchgeführt hat, lagern Dut-zende von Bohrkernen im Keller des Steinheimer Meteorkra-termuseums. In den Kernen wird anschaulich, wie der Stein-heimer Meteoritenkrater in den zertrümmerten Jura-Kalks-

teinen von Impaktbrekzien ausgefüllt wird, die ihrerseitsdurch die Ablagerungen des miozänen Kratersees überlagertwerden. Anders als zuvor angenommen, so fanden Schmie-der und Buchner bei den neuerlichen Untersuchungen her-aus, liegt auch im Steinheimer Becken ein so genannter Sue-

vit. Dieser „Schwaben-stein“, dessen Namensge-bung weltweit für derarti-ge Impaktgesteine steht,ist eigentlich vom benach-barten Nördlinger Riesbekannt. Charakteristischfür den Suevit sind durchden Meteoriteneinschlagaufgeschmolzene undwiedererstarrte Gesteins-partikel, die im Steinhei-mer Becken ihrerseitsexotische, Nickel- undKobaltreiche Eisensulfid-kristalle und Nickel-eisenkügelchen führen. Der Geologe kann diese seltenenElemente sozusagen als geochemischen Fingerabdruck desSteinheimer Meteoriten identifizieren.

Entgegen der bisherigen Annahme, dass das Steinhei-mer Becken durch einen Steinmeteoriten geschlagen wurde,sprechen die Suevit-Funde der Stuttgarter Geologen nunstark für den Einschlag eines Eisenmeteoriten. Gegenwärtiguntersuchen Schmieder und Buchner zudem neu entdeckteKarbonatschmelzen in den Steinheimer Kalksteinen, dieanderswo auf der Erde in ähnlicher Form nur von sehr weni-gen Stellen, so etwa vom Haughton-Krater in der ArktisKanadas, bekannt sind. Martin Schmieder/amg

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Dr. Martin SchmiederInstitut für PlanetologieTel: 0711/685-81315e-mail: [email protected]

Strahlenkegel (shatter cone) im Weißjurakalk des Steinheimer Beckens. (Fotos: Schmieder)

Mikroskopische Dünnschliffaufnahme desSteinheimer Schwabensteins mit einem rund0,5 mm großen Gesteinsschmelzepartikel (dun-kel, Bildmitte) bei gekreuzten Polarisatoren.

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Verbünde für die QuantenkommunikationDas Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)möchte die Anwendung von Quantentechnologien in der In-formationstechnik vorantreiben. Dazu hat es rund 13 MillionenEuro für insgesamt vier Verbundprojekte zur Verfügunggestellt. Mit rund 1,3 Millionen Euro fließt ein Zehntel der För-dersumme an drei Physik-Institute der Universität Stuttgart.Die Forscher wollen quantenphysikalische Effekte nutzen, umdie Begrenzung der Übertragungsreichweite von abhörsiche-ren Nachrichten von heute etwa 100 Kilometern zu überwin-den.

Schon in den letzten Jahren sind Quanteneffekte in derklassischen Informationstechnologie immer wichtiger gewor-den. Ursache hierfür sind die immer kleineren Abmessungender elektrischen Bausteine, die mit Milliardstel Metern in denBereich von atomaren Strukturen vordringen. Heutige Chip-Technologien nutzen momentan jedoch immer nur die beidenklassischen Bitzustände 0 und 1. „Nun scheint die Zeit reif, einfaszinierendes Phänomen aus der Quantenwelt für Anwendun-gen in der Informationsübertragung einzusetzen“, erklärt Prof.Tilman Pfau vom 5. Physikalischen Institut. „Dort gibt es näm-lich die Möglichkeit, die Zustände zu überlagern: Ein Bit ist in

der Quantenwelt nicht nur entweder an (Zustand 1) oder aus(Zustand 0), sondern gleichzeitig zu einem gewissen Teil auchbeides.“ Mit diesen „Überlagerungszuständen“ könnten sichzum Beispiel Nachrichten abhörsicher übertragen oder Mess-genauigkeiten weiter steigern lassen.

Das Ziel der Wissenschaftler ist die Entwicklung einesQuantenrepeaters, der die Übertragung abhörsicherer Nach-richten über große Entfernungen ermöglicht. Dieser Thematikwerden sich vier Forschungsverbünde mit unterschiedlichenAnsätzen nähern. Innerhalb des 15 Projekte umfassenden Ver-bunds QuOReP (Quantenoptische Repeater-Plattform) untersu-chen die Forschergruppe von Prof. Pfau Rydberg-Anregungenin atomaren Gasen und die Gruppe von Prof. Jörg Wrachtrupvom 3. Physikalischen Institut der Uni Stuttgart künstliche Ato-me, die auf Fehlstellen in Diamanten basieren. Im Rahmen desForschungsverbunds QuaHLRep (Quanten-Halbleiter-Repeater-plattformen) befasst sich eine Gruppe um Prof. Peter Michlervom Institut für Halbleiteroptik und Funktionelle Grenzflächenmit Quantenpunkten auf Halbleiterbasis. Dabei arbeiten dieStuttgarter Physiker eng mit Wissenschaftlern der UniversitätUlm zusammen. uk

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Neue Fenster in die SterneAm 6. April 2011 führten deutsche Wissenschaftler ihreersten astronomischen Messungen an Bord des Stratos-phären-Observatoriums für Infrarot-Astronomie SOFIA durchund gingen mit dem Beobachtungsinstrument GREAT, dem„German Receiver for Astronomy at Terahertz Frequen-cies“ der Entstehung von Sternen auf die Spur. Beim erstenwissenschaftlichen Flug überhaupt im Dezember letztenJahres hatte SOFIA die zahlreichen Sternentstehungsge-biete im Sternbild Orion beobachtet, deren Infrarotinforma-tionen von der Erde aus praktisch nicht beobachtbar sind.Der wissenschaftliche Betrieb des Projekts der Amerikani-schen Weltraumbehörde NASA und des Deutschen Zen-trums für Luft- und Raumfahrt (DLR) wird auf deutscherSeite vom Deutschen SOFIA Institut (DSI) der Uni Stuttgartkoordiniert.

Beim Beobachtungsflug im April wurde das Instrument GREATunter anderem auf die Galaxie IC342 ausgerichtet, eine nahe-gelegene Spiralgalaxie in Richtung des Sternbilds Giraffe(Camelopardalis), und auf den Omeganebel M17. In beidenQuellen wurden sowohl die Strahlung des ionisierten Kohlen-stoffs bei einer Frequenz von 1,9 Terahertz (einer Wellenlängevon 0,158 Millimetern entsprechend) als auch die Emission derRotationsübergänge des warmen Kohlenmonoxids CO beob-achtet. Diese allerersten Spektren mit GREAT zeigen das her-ausragende wissenschaftliche Potential der luftgestützten Fer-ninfrarot-Spektroskopie. Die große Sammelfläche des Tele-skops mit 2,7 Metern Durchmesser, gepaart mit dem enormenFortschritt der Terahertz-Technologien, lässt GREAT Daten 100-fach schneller erfassen als bisher. Dies eröffnet den Wegfür einzigartige wissenschaftliche Experimente.

Mit GREAT wurden die stärksten Emissionslinien beob-achtet, über die eine Kühlung des interstellaren Materialserfolgt. Das Gleichgewicht zwischen Heizungs- und Kühlungs-prozessen reguliert die Temperatur des interstellaren Medi-

ums, und damitauch die Aus-gangsbedin-gungen für dieEntstehung vonneuen Sternen.Die ionisierteKohlenstoffliniewird durchintensive Ultra-violettstrahlungvon neugebil-deten Sternenangeregt; siegibt einen ein-zigartigenZugang zumVerständnis derphysikalischenProzesse undchemischenBedingungen inden stellarenGeburtsstätten.

Nach diesen ersten Beobachtungsflügen mit GREAT wirdSOFIA für die Nutzung von Astronomen außerhalb des Pro-jektes geöffnet. Bewerben konnten sich Astronomen allerdeutschen Institute. uk

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Prof. Alfred Krabbe Deutsches Sofia Institut Tel. 0711/685-62406e-mail: [email protected]

Terahertz-Photonen aus der SternentstehungsregionM17SW, aufgenommen mit dem BeobachtungsinstrumentGREAT. (Abbildung: NASA/DLR/SOFIA/ USRA/DSI/JPL-

Caltech/M. Povich)

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Beschichtung lohnt - aber welche?Der Verschleiß von Pumpenlaufrädern stellt in der Pumpen-technik ein großes Problem dar. Um die bewährten Werk-stoffe weiterverwenden zu können und dennoch dieLebensdauer von Pumpen zu erhöhen, untersuchten Wis-senschaftler am Institut für Materialprüfung, Werkstoffkun-de und Festigkeitslehre (IMWV) der Uni eine Vielzahl anBeschichtungswerkstoffen und –verfahren. Zudem erstell-ten sie ein Simulationsmodell, das die Wechselwirkungenzwischen den Partikeln in einer Strömung und der Pum-penwand ermittelt.

Werden abrasive Medien wie zum Beispiel eine Flüssigkeitmit Spänen durch ein Pumpensystem transportiert, soschlagen die scharfkantigen Partikel auf den Pumpenteilenauf und tragen dort das Material ab. Beim Pumpenlaufradkann man diesen Materialabtrag über die abnehmende För-

derleistung beobachten, während der Materialabtrag amPumpengehäuse erst beim Austritt der Förderflüssigkeit ausder Pumpe bemerkt wird. Dies kann in bestimmten Fällenzum Problem werden, weil das Medium dann in die Umge-bung gelangt und gegebenenfalls dort Schäden verursacht.

Ein Ausweg sind Beschichtungen – doch welche? Umdies herauszufinden, nahm die aus Prof. Siegfried Schmau-der und Andreas Reuschel vom IMWV sowie Thomas Mer-kle von der Firma Schmalenberger bestehende Gruppe ver-schiedene Schichttypen sowie verschiedene Beschichtungs-verfahren unter die Lupe. Die untersuchten Schichtsystemereichten von dünnen Hartstoffschichten wie Titannitrid überthermisch gespritzte und elektrochemisch abgeschiedeneSchichten bis hin zu sehr dicken, per Laserauftraggeschweißten Verbundwerkstoffschichten. Die zur Charakte-risierung der Schichten erforderlichen Schichthärten wur-

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den mit Mirkohärteverfahren und – wo nötig – mit Härteein-drücken im Nanometerbereich bestimmt. An einem speziellaufgebauten Verschleißprüfstand testeten die Wissenschaft-ler die Schutzwirkung der verschiedenen Beschichtungs-werkstoffe unter anwendungsnahen Randbedingungen undverglichen die beschichteten Pumpenlaufräder mit einemunbeschichteten. Durch verstärktes Strahlen mit Sand oderGlasperlen kann die Graugussoberfläche für den Beschich-tungsprozess gut präpariert werden. Teilweise ist ein an-schließendes Härten der Randschichten durch Einlagern vonStickstoff (Plasmanitrieren) notwendig, um die Haftfähigkeitnoch zu erhöhen. „Zum Schutz vor Abrasion eignen sichverschiedene Beschichtungsverfahren“, erklärt AndreasReuschel. „Je nach Anwendung und Feststoff (Späne,Schleifstaub, Sand) muss man aber entscheiden, welcherBeschichtungsprozess und welche Schichtdicke optimalsind.“

Um den Verschleiß an besonders betroffenen Stellendes Laufrades besser zu verstehen, führte die Gruppe inZusammenarbeit mit anderen Instituten der Uni CFD-Simu-lationen (computerbasierte Strömungssimulationen) durch,die Einblicke in den Strömungszustand innerhalb der Pum-pe ermöglichen. Da die Flüssigkeit in der Pumpe ständig inBewegung ist, erfordert dies eine immense Rechenleistung,die durch das Höchstleistungsrechenzentrum der Uni zurVerfügung gestellt wurde.

Wie treffen Partikel auf die Wand?Diese Simulationen dienen zudem als Grundlage, um dieInteraktion zwischen Partikeln und Wand an den besondersbeanspruchten Stellen auf dem Laufrad und im Gehäuse zuberechnen. Dazu simulierten die Wissenschaftler den Parti-keltransport innerhalb der Strömung. Neben den Partikel-bahnen im Medium errechneten sie auch, mit welcher Auf-treffgeschwindigkeit und in welchem Winkel zur Flächen-normalen die Partikel die Wand berühren. Diese Werte wur-den für jedes Partikel gespeichert und lokal ausgewertet.Hierzu führten die Wissenschaftler ein Verschleißmodell ein,das neben den aus der Partikeltransportsimulation stam-menden Daten auch Materialkennwerte berücksichtigt.Somit wurde eine Schnittstelle zwischen dem Partikeltrans-port in der Strömung und der Auswertung durch ein Ver-

schleißmodell geschaffen. „Durch die Kopplung der Strö-mungssimulation und der Verschleißberechnung ist es unsgelungen, neben der strömungstechnischen Überprüfungbestehender beziehungsweise neuer Ausführungen vonPumpenlaufrädern den Feststofftransport mit zu berücksich-tigen“, so Reuschel. Durch die Interaktion der Partikel mitder Pumpenwand können Rückschlüsse auf örtliche Ver-schleißschwerpunkte und das Verhalten verschiedenerBasismaterialien beziehungsweise Oberflächenbeschichtun-gen und -modifikationen hinsichtlich Verschleißwiderstandgezogen werden.

Mehrinvestition rechnet sichBei der Betrachtung der Standzeit rückten die gesamtenAnschaffungs-, Nutzungs- und Entsorgungskosten (TotalCost of Ownership, TCO) ebenso in den Vordergrund wiedie Lebenszykluskosten, die auch die Kosten für Instandhal-tung, Reparaturen und vor allem der Verfügbarkeit der Anla-ge beziehungsweise die Kosten für den Ausfall bei derenStillstand enthalten. Dies trägt dem Ziel vieler BetreiberRechnung, Maschinen und Anlagen zu kaufen, bei denendie gesamten Kosten – von der Anschaffung über dieBetriebskosten bis hin zur Verwertung über einen Zeitraumvon etwa acht bis zehn Jahren – genau definiert werdenkönnen. Im Rahmen der TCO-Betrachtung geht der Wert fürdie höhere Standzeit direkt in die Wirtschaftlichkeitsberech-nung mit ein. Die Bilanz der Gesamtbetrachtung, so Reu-schel: „Die Mehrinvestition in Pumpen mit Beschichtung istin den allermeisten Fällen sehr viel wirtschaftlicher als derVerzicht darauf, da die Kosten für Reparaturen und Produk-tionsausfall sehr viel höher sind.“ Andreas Reuschel/amg

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Andreas ReuschelInstitut für Materialprüfung, Werkstoffkunde und Festig-keitslehreTel. 0711/685-62547e-mail: [email protected]

Schäden an einem Pumpenlaufrad, die durch Partikel und Späne in abra-siven Medien verursacht sind. (Fotos: Institut)

Verteilung der Auftreffgeschwindigkeit der Partikel.

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M A S C H I N E N B A U M E E T S M E D I Z I N T E C H N I K > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Neuartige ImplantatbeschichtungenLanglebige, besser verträgliche und kostengünstigeImplantate wie bei Hüft- und Knieprothesen oder imzahnärztlichen Bereich erforschen Ingenieure am Institutfür Fertigungstechnologie keramischer Bauteile (IFKB) derUni im Rahmen des neuen Projekts „Entwicklung bioakti-ver und bioresorbierbarer keramischer Schichten aufImplantaten und deren Optimierung“. Im Rahmen des„Ideenwettbewerbs Biotechnologie und Medizintechnik“des Förderprogramms Biotechnologie Baden-Württembergwurde das Projekt als eine der besten Ideen ausgewählt.Eingereicht waren insgesamt 120 Entwürfe.

Der Bedarf an künstlichen Implanta-ten steigt von Jahr zu Jahr rapide an.Bei Gelenkersatz wird dies durch diesteigende Lebenserwartung mit derdamit verbundenen Zunahme dege-nerativer Erkrankungen begründet.Vor diesem Hintergrund soll im Rah-men einer Machbarkeitsstudie dieHerstellung einer neuartigen Implan-tatbeschichtung durch ein am IFKBentwickeltes Beschichtungsverfahren untersucht werden.Dieses Verfahren, ein so genanntes Hochgeschwindigkeits-Suspensions-Flammspritzverfahren, erlaubt den Einsatz unddie Verarbeitung nanoskaliger Pulverwerkstoffe. Es ermög-licht die Verarbeitung eines breiten Spektrums an Partikel-größen von mehreren Mikrometern bis hinab zu nanoskali-gen Partikeln in der Größenordnung von 50 Nanometern füreine ganze Reihe biomedizinisch interessanter Keramiken.Durch die angestrebten Verbesserungen soll eine erhöhte

und zuverlässigere Lebensdauer des Gelenkersatzes erzieltwerden, was die Kosten reduzieren und den Nutzen für denPatienten erhöhen soll. Im Rahmen des Projekts soll den Wis-senschaftlern nun die Möglichkeit gegeben werden, ihreIdeen zu realisieren.

Ziel des Ideenwettbewerbs ist es, die Wettbewerbsfähig-keit der Wissenschaft und Wirtschaft in Baden-Württembergauf dem Gebiet der Biotechnologie und der Medizintechniklangfristig zu sichern und zu stärken. Es werden Projekte mitden vier Schwerpunktthemen Synthetische Biologie, Biover-fahrenstechnik, Molekulare Bionik und Medizintechnikgefördert, die sich durch originelle Ideen mit hohem wis-

senschaft-lich-techni-schemErfolgs-und Ent-wicklungs-risiko aus-zeichnen.WeitereAktivitäten

sind im Rahmen des Interuniversitären Zentrums für Medi-zinische Technologie Stuttgart-Tübingen (IZST) geplant. uk

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Prof. Rainer GadowInstitut für Fertigungstechnologie keramischer BauteileTel. 0711/685-68 301e-mail: [email protected]

Das an der Uni Stuttgart entwickelte Hochgeschwindigkeits-Suspensions-Flammspritz-verfahren. (Foto: Institut)

W E L T W E I T S C H N E L L S T E S R Ö N T G E N - V I D E O E I N E S L A S E R S C H W E I ß P R O Z E S S E S > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Inneneinsichten im Rekordtempo Den Wissenschaftlern des Instituts für Strahlwerkzeuge(IFSW) der Uni Stuttgart gelang mit einer neuen Röntgenan-

lage erstmals in Europa ein hoch-aufgelöster Blick in das Innerevon Werkstücken während einesLaserschweißprozesses. Die For-scher zeichneten Röntgenvideo-aufnahmen mit Bildraten vonüber 1.000 Bildern pro Sekunde(fps) in Echtzeit auf. In einemersten Versuch haben sie einenSchweißprozess in sechs Millime-ter starkem Aluminium mit einerBildrate von 5.000 fps bei einerAuflösung von 512 mal 512 Pixelgefilmt. Die Aufnahmedauerbetrug dabei etwas mehr als eineSekunde.

Diese Leistungsdaten sindweltweit bisher unerreicht und eröffnen wichtige neueErkenntnisse über die Grundlagen der Lasermaterialbear-

beitung. So ist es zum Beispiel möglich, die Gestalt und vorallem die hochdynamischen Veränderungen der beimLaser-Tiefschweißen entstehenden Dampfkapillare und derdamit verbundenen Strömungen der umgebenden Metall-schmelze zu untersuchen. Wendet man beim Laserstrahl-schweißen beispielsweise hohe Geschwindigkeiten an, tre-ten unerwünschte Auswirkungen am Material auf, wie Sprit-zer und Porenbildung. Die Gründe dafür und für andere Fak-toren, die den Laserschweißprozess begrenzen, können dieWissenschaftler nun mit den Videoaufnahmen der imNovember am IFSW in Betrieb genommen Röntgenanlageerforschen. Die so gewonnenen Erkenntnisse dienen derWeiterentwicklung und Optimierung der Prozesse beimLaserschweißen. uk

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Felix Abt Institut für StrahlwerkzeugeTel. 0711/685-66841 e-mail: [email protected]

Die neue Röntgenanlage am IFSW.(Foto: Institut)

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Stuttgarter unikurier Nr. 107 1/2011 F O R S C H E N5 3

F O R S C H U N G S P R O J E K T A M H L R S M I T I T E A A C H I E V E M E N T A W A R D 2 0 1 0 I N G O L D A U S G E Z E I C H N E T > > > > > > > > > > > >

Parallelprogrammierung für die IndustrieDas Projekt ParMA - Parallel Programming for MulticoreArchitectures – wurde für seine herausragenden Beiträgezur Förderung von Forschung und Entwicklung im ITBereich mit dem ITEA Achievement Award 2010 in Goldausgezeichnet. An dem Projekt beteiligt waren auf deut-scher Seite das Höchstleistungsrechenzentrum der Univer-sität Stuttgart sowie weitere Wissenschaftspartner undkleinere und mittlere Unternehmen.

Bis vor einigen Jahren stieg die Taktfrequenz von Prozes-soren mit jeder Generation an, und die daraus resultieren-de Rechenleistungssteigerung stand jeder Anwendungunmittelbar zur Verfügung. Seit Mitte dieses Jahrzehntesallerdings stagniert die Taktfrequenz. Eine weitere Steige-rung der Rechenleistung wird stattdessen durch eineZunahme der Anzahl der sogenannten Rechenkerne (Eng-

lisch core) eines Prozessors erreicht, was zur BezeichnungMulticore-Prozessor geführt hat. Damit eine Anwendungvon der erhöhten Leistung solcher Multicore-Prozessorenprofitieren kann, muss sie speziell so programmiert wer-den, dass mehrere Aufgaben gleichzeitig, das heißt paral-lel abgearbeitet werden. Diese so genannte Parallele Pro-grammierung hört sich einfach an, ist in Realität aber sehrkomplex und bedarf spezieller Fertigkeiten und unterstüt-zender Entwicklungswerkzeuge.

Parallele Programmierung ist im Bereich des wissen-schaftlichen Hochleistungsrechnens, wie zum Beispiel amHLRS der Universität Stuttgart, heute gang und gebe. Inder Industrie dagegen ist diese Herangehensweise bislangnur wenig verbreitet. Das Projekt ParMA zielte vor diesem

Hintergrund unter anderem darauf, die bis dato rein aka-demischen Entwicklungswerkzeuge an die Bedürfnisseindustrieller Anwender anzupassen und somit paralleleProgrammierung im industriellen Umfeld zu erleichtern.Dadurch wird es möglich, auch in der Wirtschaft das vollePotential moderner Rechnerarchitekturen auszuschöpfen,um substanzielle Leistungssteigerungen für Anwendungenzu erzielen. Davon profitiert zum Beispiel die Autoindustriebei der Simulation von Fertigungsprozessen oder derEnergiesektor bei der Optimierung von Verbrennungspro-zessen in Kraftwerken.

„Marmot“ und „Peruse“Das HLRS stellte im Rahmen des Projekts unter anderemdie Entwicklungswerkzeuge „Marmot“ und „Peruse“bereit. Marmot ist ein Tool, das bei einem vorhandenen

parallelen Programm die korrekte Ver-wendung von Kommunikationsmetho-den zur Übermittlung von Daten zwi-schen verschiedenen Programmteilenüberprüft. Nach der Korrektheitsprü-fung durch Marmot dient Peruse gege-benenfalls dazu, die Datenkommunika-tion mit Blick auf die Datenwege sowiedie Geschwindigkeit zu optimieren. DesWeiteren leitete das HLRS das Arbeit-spaket zur Werkzeugentwicklung undkoordinierte das vom BMBF finanzierte,deutsche Teilprojekt.

ITEA ist eine von der Industrie vor-angetriebene europäische Initiative zurFörderung von Forschung und Entwick-lung im IT Bereich. Ziel ist es, Industrie-unternehmen, Universitäten und andereForschungseinrichtungen in strategi-schen Forschungsprojekten zusammen-zubringen und somit Wissenstransferzu ermöglichen. Bisher hat ITEA mehrals 140 Projekte unter Teilnahme vonüber 1.000 Partnerinstitutionen aus 30

Ländern gefördert. Der ITEA Achievement Award in Gold,Silber oder Bronze, wird jährlich an die drei besten im letz-ten Jahr abgeschlossenen Projekte vergeben. Bei derBewertung wird nicht nur die Qualität der Forschungsre-sultate, sondern auch deren unmittelbare wie mittelfristigeindustrielle Verwertung in Betracht gezogen. uk

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Dr. José GraciaHöchstleistungsrechenzentrum Universität StuttgartTel. 0711/685-87208e-mail: [email protected]

Virtual-Reality Darstellung einer Simulation von Verbrennungsprozessen.(Foto: RECOM Services, Stuttgart)

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U N I U N D G E O R G I A I N S T I T U T E O F T E C H N O L O G Y K O O P E R I E R E N > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Effizienter Zugriff auf komplexe DatenRapide Fortschritte in der Sensortechnologie erlauben einezunehmend feinere Vermessung unseres Planeten. Die dar-aus gewonnenen Erkenntnisse erlauben es, lebenswichtigeRessourcen wie Energie, Wasser oder Nahrung effektiv zuverwalten. Die mit der Verarbeitung der komplexen Zusam-menhänge einhergehenden Datenvolumina sind allerdingsenorm. Im Rahmen einer neuen Forschungskooperation mitdem Namen „CEP in the Large“ (Komplexe Ereignisverar-beitung im Großen) suchen Wissenschaftler des Institutsfür Parallele und Verteilte Systeme (IPVS) der Uni Stuttgartund des Georgia Institutes of Technology, USA, nachWegen, um Entscheidungsträgern den effizienten Zugriffauf Analysedaten zu ermöglichen.

Auf der Basis von Erdvermessungsdaten können physikali-sche Phänomene mit immer größerer Genauigkeit inEchtzeit beobachtet werden. Dadurch gewinnen Wissen-schaftler ein immer detaillierteres und umfangreicheresVerständnis dieser Phänomene. Für das effektive Mana-gement von Ressourcen gewinnen diese Erkenntnissezunehmend an Bedeutung. So ist zum Beispiel dasVerständnis der momentanen Wetterlage undderen weiteren Entwicklung wichtig, um effizi-ent alternative Energien in die Energiever-sorgung mit einzubeziehen. Ebenso erlau-ben es Echtzeitanalysen im Fall von Kata-strophen den Entscheidungsträgern,angemessen zu reagieren und somit dienegativen Auswirkungen einer Naturkata-strophe deutlich zu reduzieren. Dabei istes von entscheidender Bedeutung, einer-seits möglichst viele Messungen in dieAnalysemodelle zu integrierenund diese andererseits zeitnah zuverarbeiten. Diese gigantischenDatenmengen bringen heutige IT-Infrastrukturen an die Grenzenihrer Leistungsfähigkeit.

Dies gilt umso mehr, wenn innaher Zukunft umfangreicheDatenströme aus Billionen vonSensorquellen zur Verfügung ste-hen werden. Diese umfassenInformationen aus Satelliten, Sen-soren in Wetterstationen, dediziertausgebrachten Sensornetzen, undmobilen Endgeräten. Sogar Informationen über Gegenstän-de des alltäglichen Lebens können mit Hilfe von RFID Tech-nologie in die Datenanalyse mit einbezogen werden.

Um Entscheidungsträgern den effizienten Zugriff aufAnalysedaten zu ermöglichen, werden im Rahmen des Pro-jekts „CEP in the Large“ insbesondere die Kommunikations-wege bei der Übertragung der Daten mit betrachtet. Dabeiwerden Berechnungen zur Datenanalyse über viele weltweitverteilte Rechner hinweg durchgeführt, wodurch die anfal-

lende Datenlast insgesamt besser bewältigt werden kann.Die Entscheidung, wo Berechnungen durchgeführt werden,kann dabei dynamisch an das Datenvolumen als auch andie verfügbaren Quellen sowie Anforderungen und Anzahlder Entscheidungsträger angepasst werden. So erfordertbeispielsweise die Beobachtung eines Wetterphänomens,dessen Ortsbezug sich über die Zeit verändert, die Einbin-dung sich stetig ändernder Sensorquellen.

Im Rahmen des Projektes wird daher erforscht, wie einezuverlässige Datenanalyse unter hoher Dynamik und parti-ellem Ausfall der zugrundeliegenden Infrastruktur bewerk-stelligt werden kann. Weiterhin wird untersucht, wie unterEinbeziehung vieler Quellen und Entscheidungsträgern die

Anbieter von Daten Kon-trolle darüber behalten,wer auf ihre DatenZugriff erhält.

„CEP in the Large“wird durch die Baden-

Württemberg-Stiftung im

Rahmendes

For-

schungsprogramms „Internationale Spitzenforschung“ mit420.000 Euro gefördert. uk

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Prof. Kurt Rothermel Institut für Parallele und Verteilte Systeme Tel. 0711/685-88434 e-mail: [email protected]

Sensordaten aus der Planetenvermessung erlauben es, lebenswichtige Ressourcen wie Energie, Wasseroder Nahrung effektiv zu verwalten. (Foto. Institut)

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M A T E R I A L P R Ü F E R K O N S E R V I E R E N E I N Z I G A R T I G E S F E L S E N R E L I E F > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Rettung für Sankt SalvatorDie Wallfahrtskirche St. Salvator in Schwäbisch Gmündbesitzt eine in Deutschland einzigartige Darstellung: EinRelief aus dem Leben Christi (Ölbergdarstellung, entstan-den 1620), das direkt aus dem Felshang herausgearbeitetwurde. Doch die Wandoberflächen der Felsenkapelle sindvon der Verwitterung bedroht. Um die wertvolle Darstel-lung zu erhalten, entwickeln Wissenschaftler Materialprü-fungsanstalt (MPA) der Uni Stuttgart Methoden für dieKonservierung der Kapelle.

Die Kirche wurde 1617 bis 1621 durch Kaspar Vogt alsnatürliche Felsenkirche oberhalb von Schwäbisch Gmünd ineine obere und untere Kapelle ausgebaut. Die Felsen derKirche bestehen aus Stubensandstein des mittleren Keu-pers. Vor allem Feuchtigkeit, Salze und mikrobieller Befallsetzen deren Oberflächen zu. Sie beginnen zu bröckeln,zudem bilden sich in Teilbereichen schwarze Krusten. Auf-grund der natürlichen, hohen Bergfeuchte, die zudem jah-reszeitlichen Schwankungen unterliegt, gibt es bis heutekeine geeigneten Gesteinsfestigungsmittel beziehungswei-se Konservierungsverfahren, die gefahrlos eingesetzt wer-den können. Ein Austrocknen des Reliefs birgt das Risiko,dass es aufgrund des fragilen Zustands zu verstärkten undschnellen Materialverlusten kommt.

Die Wissenschaftler der Uni Stuttgart werden gemein-sam mit den Projektpartnern, darunter Unternehmen, diezuständige Denkmalbehörde und die Katholischen Kirchen-gemeinde Heilig-Kreuz Schwäbisch Gmünd, die Schadens-potentiale aus klimatischen, hydrogeologischen, mikrobiel-len und nutzungsbedingten Belastungen des Objekts erfas-sen. Anschließend entwickeln sie ein feuchtetolerantes Festigungsmittel für die Steinoberflächen, das zunächst aufeinige Musterfelder aufgebracht wird und für eine Vorfesti-gung sorgt. Die anschließende, gesamte Konservierung desObjekts beinhaltet verschiedene Schritte, bei der unteranderem die Oberflächen gereinigt und von Salzen und

mikrobiellen Befall befreit werden und schließlich ein Mittelfür die Endfestigung aufgebracht wird.

Ziel des von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt undder Denkmalpflege geförderten Projekts ist, über die Konser-vierung der beiden Felsenkapellen hinaus, dass die gewon-

nen Ergebnisse als Muster für die Konservierung ähnlicherObjekte aus dauerfeuchten Naturstein genutzt werden kön-nen. Zudem erarbeiten die Stuttgarter Wissenschaftler einÜberwachungs- und Maßnahmenkonzept, um die Wallfahrts-kapelle auch in Zukunft zu erhalten. Besonderes Augenmerkwird hierbei auf die Einbindung des Eigentümers, der Nutzer,der Denkmalpflege und der Öffentlichkeit gelegt.

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Dr. Jürgen Frick Materialprüfungsanstalt (MPA) Universität Stuttgart Tel. 0711/685-63381 e-mail: [email protected] > > > www.shm.uni-stuttgart.de

Das Felsrelief in der Wallfahrtskirche St. Salvator in Schwäbisch Gmünd aus demJahr 1620. (Foto: Karl Fiedler)

N E U A R T I G E B A U T E I L E M I T F L I E ß E N D E N M A T E R I A L E I G E N S C H A F T E N > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Bauen mit Luft statt ZementDas Bauwesen verbraucht mehr als die Hälfte der weltwei-ten Ressourcen an Rohstoffen, Energie und Land. Es ist auchfür die Hälfte des Müllaufkommens verantwortlich. Ingenieu-re am Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren(ILEK) haben sich dieses Problems angenommen und Bautei-le mit stufenlos veränderten Materialeigenschaften ent-wickelt. So lassen sich die Bauteile den tatsächlich auftreten-den Beanspruchungen anpassen. Die Ingenieure sparendadurch Material ein und verursachen gleichzeitig wenigerMüll, sollte das Bauteil ausgedient haben. Das Projekt wurdeaus Mitteln der Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bun-desamtes für Bauwesen und Raumordnung gefördert.

Beton – eine Mischung aus Zement, Wasser und Gesteins-körnung – ist der dominierende Baustoff im Bauwesen. Je

mehr eines hochporösen Materials, zum Beispiel Blähglasoder Aerogel, die ILEK-Mitarbeiter dem Beton als Gesteins-körung beimischten, desto poröser und leichter wurde auchdie Betonmischung. Sie schafften es sogar, die Wärme-dämmfähigkeit von Styropor zu übertreffen. Für zukünftigeGebäude würde das bedeuten, dass die Betonaußenwändenicht mehr so dick sein müssen, um zu verhindern, dass imWinter warme Luft nach außen und umgekehrt im Sommernach innen dringt. Die Ingenieure wollen aber nur das Inne-re der Wand porös haben, die Oberfläche muss wasser-dicht, tragfähig und beanspruchbar sein. Mit der am ILEKentwickelten Beton-Sprühtechnik können die Ingenieure sol-che Wände, aber auch gekrümmte Betonteile mit fließendenPorositätsverläufen fertigen. Die Wände müssen zur Wär-medämmung dann nicht mehr mit Polymerschaum oder

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anderen Dämmstoffen beklebt werden, die sich bei der Ent-sorgung schwer wieder trennen lassen.

Bei Geschossdecken reicht es, nur zur Mitte hin und anden Stellen, wo die Decke auf der Wand aufliegt, das Beton-gefüge möglichst dicht auszuführen. Damit hält sie auchden starken Zug- und Druckkräften stand, die in jenen Be-reichen auf sie wirken. An den weniger belasteten Stellenkann die Betonmischung stärker mit Luftporen durchsetztsein. Für Decken müssen die ILEK-Mitarbeiter die Anzahlund Größe der Luftporen fließend in allen drei Raumrich-tungen verändern. Die variable Betondichte lässt dasGewicht von Decken und damit auch die Zementmenge ummehr als die Hälfte schrumpfen.

Die Vision der Stuttgarter geht noch weiter: Gewebe ausGlasfasern mit abgestuften Silikonbeschichtungen könntenals Gebäudehülle dienen. Sie würden die Menschen imGebäude wie bei einer Funktionsjacke vor Regen schützen,gleichzeitig aber den Luft- und Feuchtigkeitsaustauschgewährleisten ohne Zugluft zu erzeugen, wie es bei offenenFenstern und Lüftungsanlagen der Fall sein kann. In Matrat-zen und Sitzmöbeln könnte der Schaumstoff künftig auseinem Guss bestehen und trotzdem Zonen unterschiedli-cher Härte aufweisen, um einzelne Körperregionen individu-ell stützen zu können.

Ob Materialien, die in fließendem Verlauf unterschied-lich dicht, durchsichtig, steif oder durchlässig sind: der Fan-tasie sind keine Grenzen gesetzt. Selbst ein nahtloser Über-gang von Holz nach Aluminium wäre denkbar und würdeein Verschrauben der zwei Materialien überflüssig machen.Denn besonders im Bereich punktueller Verbindungen wiezum Beispiel bei Verschraubungen entstehen Spannungen,die Risse im Material verursachen können. „Auf der ande-ren Seite ergeben sich auch neue gestalterische Möglichkei-ten, da die Bauteilformen nicht länger der Logik homogenerMaterialien untergeordnet werden“, sagt Pascal Heinz vom

ILEK. Hatte sich bisher die Form dem Material unterzuord-nen, so ist es mit dem neuen Verfahren möglich, das Mate-rial der gewünschten Form anzupassen. Heinz/Braitmaier

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Pascal HeinzInstitut für Leichtbau Entwerfen und KonstruierenTel. 0711/685-63798e-mail: [email protected]

Oben: Der vertikale Schnitt durch eine Decke mit stark (rot) bis schwach(blau) beanspruchten Bereichen. Unten: Verteilung und Größe der Luft-poren im Beton. Eine Betonaußenwand mit abgestufter Porosität.

(Illustration: Institut)

H A U S D E R Z U K U N F T V E R S O R G T E - M O B I L E M I T E N E R G I E > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > > >

Stromtankstelle zum WohnenMobilität und Wohnen wachsen zukünftig immer mehr zusammen, und Elek-trofahrzeuge spielen dabei eine zentrale Rolle. Die notwendigen Ladeinfra-strukturen müssen in den Städten jedoch neu geschaffen werden. Das Institutfür Leichtbau Entwerfen und Konstruieren (ILEK) der Uni hat ein Haus ent-wickelt, in dem man nicht nur energetisch korrekt wohnen, sondern auch denElektroflitzer „betanken“ kann. Beim Wettbewerb „Plusenergiehaus mit Elek-tromobilität“ des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung(BMVBS) erhielt das Konzept den ersten Preis. Das unter der Leitung von Prof. Werner Sobek in enger Zusammenarbeit mitweiteren Instituten der Universität entstandene Konzept zeigt das Potenzialauf, das durch die energetische Verknüpfung von Wohnhäusern und Elektro-fahrzeugen zukünftig entstehen kann und demonstriert diese Verbindung aufmehreren Ebenen. Es basiert auf einer horizontalen Dreiteilung in Plusenergie-haus, Energiekern und „Showcase“. Das Plusenergiehaus mit dem Energie-kern könnte zukünftig aufgrund seiner flexiblen Raumplanung und Konstrukti-on als Einfamilienhaus in Breitenanwendung gebaut werden. Durch die opti-male räumliche Ausrichtung und die Optimierung der solaren Gewinne Rich-tung Süd-Ost bei gleichzeitiger Minimierung der Verluste Richtung Nordsowie der weitreichenden architektonischen Integration von Photovoltaik undSolarthermie wird mehr Energie produziert als zur Versorgung des Gebäudesund der Fahrzeuge notwendig ist. Diese zusätzliche Energie wird in das öffent-liche Netz eingespeist und trägt zur Erhöhung des regenerativ erzeugtenAnteils am Gesamtstrommix bei. Das Konzept zeigt zudem auf, dass Gebäudezukünftig so entworfen und konstruiert werden können, dass nach ihrer Nut-zung ein sortenreines Recycling aller Baumaterialien problemlos möglich ist.Die Eröffnung des Forschungs- und Anschauungsobjekts auf dem Grundstückdes BMVBS in Berlin ist im Herbst 2011 geplant. Um Erfahrungswerte zu sam-meln, soll das Haus ein Jahr lang von einer Modellfamilie bewohnt werden. /uk

(Visualisierung: ©Werner Sobek Stuttgart)

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Zwischen Anspruch und MethodikWährend auf der Bühne der Vereinten Nationen um einNachfolgeabkommen für das Kyoto-Protokoll gerungenwird, haben Städte in verschiedenen Ländern der Erde imKampf gegen den Klimawandel freiwillig die Initiativeergriffen. Sie setzen eigene Emissionsziele und messen ihreTreibhausgasemissionen aus Gebäuden, Verkehr oder Müll-kippen. Doch wie sieht die Erfassung in der Praxis aus undsind die Städte auf Kurs, ihre selbst gesteckten Klima-schutzziele zu erreichen? Diesen Fragen ging Maike Sippelam Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energiean-wendung (IER) der Uni in einer Studie nach, die in der Zeit-schrift „Greenhouse Gas Measurement and Management“veröffentlicht wurde. *)

In der Tat sind die untersuchten Städte fleißig dabei, ihreTreibhausgasemissionen zu messen: 75 Prozent der unter-suchten Städte haben bereits so genannte Emissionsinventa-re erstellt, die übrigen sind gerade dabei. Bei der Methodik zurErstellung dieser Inventare grassiert allerdings der Wild-wuchs, wie ein Beispiel aus dem Verkehrsbereich verdeutlicht:Während Stadt A die Emissionen einrechnet, die der Verkehrauf ihrem Stadtgebiet erzeugt, berechnet Stadt B Emissionen,die die Bürger der Stadt mit ihren Fahrzeugen (auch außer-halb des Stadtgebiets) verursachen. Stadt C wiederum lässtEmissionen aus dem Verkehrssektor ganz aus ihrem Treibh-ausgasinventar heraus. „Die Emissionsdaten verschiedenerStädte sind also kaum vergleichbar“, so Maike Sippel.

Auch hat sich ein großer Teil der untersuchten StädteZiele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen gesetzt.Welche Rolle dabei die Analyse der jeweiligen lokalen Emis-sionen gespielt hat, und ob ein stadtspezifischer Redukti-onspfad entworfen wurde, bleibt allerdings häufig offen.Meist wurden die Ziele direkt aus den übergreifenden Vor-

gaben des Städte-netzwerks „KlimaBündnis“ über-nommen oder siesind an deutscheoder europäischeKlimaschutzzieleangelehnt. „Fastdie Hälfte der Städ-teziele dürfen wohlals eher symbo-lisch betrachtetwerden, da keineEmissionsdatenaus dem Basisjahrder Zielsetzungveröffentlicht wer-den“, sagt Sippel.Ohne solche Aus-gangsdaten kannjedoch gar nichtbeurteilt werden,ob eine Senkung

der Emissionen um einen bestimmten Prozentwert erreichtwurde.

Betrachtet man die tatsächliche Entwicklung der Emis-sionen in den einzelnen Städten, ergibt sich ein gemischtesBild. Dabei scheinen die Städte in den neuen Bundeslän-dern die weit besseren Klimaschützer zu sein: Ihre Emissi-onspfade weisen deutlich nach unten – mit einem durch-schnittlichen Rückgang von jährlich drei Prozent gegenüberdem Ausgangsjahr. In den alten Bundesländern sind es nur-0,65 Prozent. Die vermutlich einfache Erklärung: Die ost-deutschen Regionen „profitieren“ vom Strukturwandelnach dem Mauerfall, in dessen Folge zahlreiche Industriean-lagen stillgelegt und damit Emissionen reduziert wurden.

Um die schlimmsten Klimaschäden zu vermeiden sindnach Ansätzen der internationalen Wissenschaftlergemein-schaft des IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Chan-ge) bis 2050 Emissionsreduktionen in Höhe von -1,33 bis -1,58 Prozent pro Jahr erforderlich. Setzen die Städte ihrenbisherigen Emissionspfad fort, so werden rechnerisch nursieben Städte ihre Emissionsziele für die Jahre 2020, 2030oder 2050 auch erreichen – und die liegen alle in Ost-deutschland. Der Westen dagegen ist nicht auf Kurs: Dortwürden die meisten Städte ihre Ziele zwar auch erreichen –allerdings zum Teil über 100 Jahre später als geplant...

Damit es schneller und systematischer geht, so das Fazitder Studie, wäre zum einen eine einheitliche Methodik zurEmissionserfassung auf der Ebene der Städte außerordent-lich hilfreich. Städtenetzwerke und die Bundespolitik könn-ten einen einheitlichen Standard für die Emissionsinventareder Städte festlegen und die Emissionserfassung – zum Bei-spiel erstmal für alle Städte mit mehr als 100.000 Einwoh-nern – verpflichtend machen. In einer bundesweiten Daten-bank könnten die Emissionsdaten der Städte dann mitein-ander verglichen werden.

Damit Reduktionsziele als Teil eines Qualitätsmanage-ments der städtischen Klimaschutzpolitik verwendet werdenkönnen, müssen diese Ziele realistisch und mit stadtspezifi-schen Reduktionspfaden hinterlegt sein. Da der möglicheBeitrag einer Stadt zum Klimaschutz stark von externen Fak-toren (wie der nationalen Energie- und Klimaschutzpolitik)abhängt, scheint ein doppelstrategischer Ansatz sinnvoll: DieStadt setzt sich ein realistisches Ziel A, das sie aus eigenemAntrieb erreichen kann. Gleichzeitig formuliert sie ein sehrambitioniertes Ziel B, für dessen Erreichung auch bestimmtenationale und internationale Rahmenbedingungen Voraus-setzung sind, die die Stadt dann als Teil ihrer Klimaschutzpo-litik auch einfordern sollte. MaikeSippel/amg

*) Sippel, Maike: „Urban GHG inventories, target setting and mitiga-tion achievements: how German cities fail to outperform their coun-try”, in: Greenhouse Gas Measurement & Management 1/1, Earths-can Verlag 2011, Seite 55-63. Die Datensammlung für die Studieerfolgte im Rahmen einer Diplomarbeit durch Michael Bradt.

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Dr. Maike SippelInstitut für Energiewirtschaft und Rationelle EnergieanwendungTel. 0711/685-87800e-mail: [email protected]

Ziele zur Reduktion ihrer Treibhausgasemissio-nen habe inzwischen die meisten Städte –fragt sich nur, welche…

(Foto: Rainer Sturm/pixelio)

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P R O F . F R A N Z P E S C H Ü B E R D I E T H E S E N D E S S T Ä D T E B A U A U S S C H U S S E S Z U S T U T T G A R T 2 1 > > > > > > > > > > > > > > > >

„Ziel ist das beste urbane Konzept“Über die verkehrstechnische Leistungsfähigkeit von Kopf-und Tiefbahnhöfen sowie deren Kosten wird in der Debatteum Stuttgart 21 seit Monaten intensiv diskutiert, und daranwird sich bis zu dem geplanten Volksentscheid wohl auchnicht viel ändern. Ein wenig außen vor blieben dabei diestädtebaulichen Chancen und Optimierungsmöglichkeitendes Megaprojektes. Mit diesen Fragen befasst sich ein The-senpapier des Städtebauausschusses der Stadt Stuttgartzur Weiterentwicklung der Stuttgarter Bahnhofsplanung. Essieht unter anderem die Wiedererrichtung des Nordflügelsund den Erhalt des Bonatzbaus als Empfangsportal desHauptbahnhofes vor und unterbreitet weitreichende Vor-schläge, um auf den freiwerdenden Gleisflächen attraktiveQuartiere entstehen zu lassen. Zu den Autoren gehörenauch die Professoren Tilman Harlander, Arno Lederer undFranz Pesch der Universität Stuttgart. Für den unikuriererläutert Prof. Franz Pesch von Städtebau Institut die The-sen im Gespräch mit Andrea Mayer-Grenu.

Herr Prof. Pesch, die Vorschläge der Arbeitsgruppe sollenden Weg weisen zu einer städtebaulichen Qualifizierungvon Stuttgart 21. Wie lauten die zentralen Argumente?

Um die städtebaulichen Chancenvon Stuttgart 21 auszuschöpfen,sollte der neue Bahnhof so wei-terentwickelt werden, dass er zueinem Bindeglied zwischen derInnenstadt und den neuen Wohn-quartieren werden kann. Eineganz wichtige Rolle spielt dabeider Straßburger Platz, der räum-lich gefasst werden muss, so dasser als Stadtplatz nutzbar gemachtwerden kann. Solche Platzräume– es gab sie historisch zum Bei-spiel am Österreichischen Platzoder in der Hauptstätter Straße –sind in Stuttgart weitgehend ver-

loren gegangen. Und dann geht es natürlich um die Frage,wie die künftigen Quartiere tatsächlich aussehen sollen. Dieaus den städtebaulichen Wettbewerben abgeleiteten Rah-menpläne geben hier nur eine Art Generallayout vor. Archi-tektur und die Wohnqualität entscheiden sich mit der Detail-planung auf jeder einzelnen Fläche.

Um den Straßburger Platz zu fassen, fordern Sie die Wie-dererrichtung des bereits abgerissenen Nordflügels. Ist dasüberhaupt realistisch?

Uns kommt es vor allem darauf an, das Raumbild einesPlatzes zu erzeugen. Hierfür muss der historische Flügelnicht unbedingt rekonstruiert werden, man kann ihn auchdurch ein neues Gebäude äquivalent formulieren. Beide Flü-gel können zum Beispiel durch Restaurants, Läden, Büro-oder Praxisräume genutzt werden, das belebt das ganzeAreal und nimmt den kommerziellen Druck aus dem Kopf-bau des Bonatzbahnhofs.

Die Vorschläge, die auch einen Verzicht auf die neue Glas-halle an der Südseite des Bonatzbaus umfassen, würdenerhebliche Eingriffe in die Pläne des S21-Architekten Chri-stoph Ingenhoven bedeuten. Gibt es Reaktionen?

Das Faszinierende an dem Ingenhoven-Entwurf besteht dar-in, dass er als einziger ein Architektur-Thema formuliert hat,das über die gesamten 400 Meter des neuen Bahnhofs kon-sistent ist. Unserer Arbeitsgruppe geht es aber um das Kon-zept mit dem höchsten städtebaulichen Gewinn, deshalbfordern wir, die Konsistenz des Architektur-Themas an eini-gen Stellen aufzubrechen. Wenn man die städtebaulichenFragen ernst nimmt, kann man sich nicht damit begnügen,den Straßburger Platz, wie Ingenhoven dies formulierte, in‚Straßburger Gärten’ umzubenennen. Konkrete Änderungs-pläne gibt es aber noch nicht, diese müsste der Bauherr ein-fordern.

Welche Vorstellungen haben Sie für die neuen Stadtquartie-re, das Europa- und das Rosensteinviertel?

Stuttgart verfügt insbesondere zwischen der City und denHalbhöhenlagen über urbane Stadtquartiere mit lebendigerAtmosphäre und ausgewogener sozialer Durchmischung.Diese werden von den Bürgern gut angenommen und kön-nen Pate stehen für Stuttgarts neue Stadtviertel. Ihre Qua-lität und Vielfalt verdanken sie einer Mischnutzung ausWohnen, Gewerbe, Läden, Dienstleistungen und Kultur.Eine besondere Rolle spielt die Belegung der Erdgeschosse,weil hier die Fassaden in Augenhöhe mit den Menschensprechen.

Damit der Straßburger Platz als Stadtplatz funktionieren kann, fordertdie Arbeitsgruppe die Wiedererrichtung beziehungsweise Neuformulie-rung der Seitenflügel des Bahnhofsbaus. (Foto: Schuler,DB)

Prof. Franz Pesch (Foto: Eppler)

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Thesen der Arbeitsgruppe Stadtentwicklung

DER BAHNHOFn Der Straßburger Platz soll räumlich gefasst werden und als Stadtplatz nutzbar seinn Erhalt bzw. Wiederherstellung der Seitenflügel des Bonatz-Bahnhofsn Trassenführung und Trogabmessungen bleiben bahntechnisch funktionsfähign Der Bonatzbau muss Adresse und Empfangsportal auch des neuen Bahnhofs bleiben.

DER PARKn Erhalt der topographischen Lage des Schlossgartens im ‚Talgrund’ und der räumlichen Beziehung (Grünes U)

zwischen Oberem und Unterem Schlossgartenn Keine weitere Querspange parallel zur Schillerstraßen Die ganzheitliche Betrachtung ist auf die angrenzenden Bereiche auszuweiten. Die Raumkanten und Nahtstellen

sind zu überprüfen.

DIE NEUE STADTn Die Planung des neuen Stadtquartiers an die Stuttgarter Städtebautradition anknüpfenn Die künftige Funktion der neuen Quartiere ist sorgfältig zu bedenkenn Nur die Mischung verschiedener Nutzungen garantiert einen lebendigen Stadtteiln Die großen Baufelder sollten aufgeteilt und parzellenweise entwickelt werdenn Attraktive Räume sollen die neuen Stuttgarter Stadtviertel prägen

Gibt es an der Uni Projekte, die untersuchen, wie eine sol-che Mischnutzung konkret aussehen kann?

Vorschläge zur städtischen Entwicklung gerade auch zwi-schen Bahnhof, Killesberg und Löwentor macht unser Lehr-

stuhl seit vielen Jahren. Im Sommersemester findet inZusammenarbeit mit der Hochschule für Technik und derKunstakademie ein Seminar statt, in dem die Studierendenzeigen werden, wie man auf den jetzt frei werdendenFlächen konkret leben kann.

Die bisherigen Bauten auf den ehemaligen Gleisanlagenlassen von urbaner Vielfalt höchstens träumen. Was musssich ändern?

Die verbreitete Praxis, Baufelder von der Größe eines Fuß-ballfeldes von jeweils einer Investorengruppe entwickeln zulassen, steht der urbanen Vielfalt entgegen; besser funktio-nieren kleine Grundstückszuschnitte mit unterschiedlichenBauherren und Architekten. Die Nagelprobe werden dabei

die „schwierigen“ Flächen sein, bei denen urbane Wünscheund Investorinteressen aufeinanderprallen. Hier muss dieStadt in die Offensive gehen und über eine aktive Liegen-schaftspolitik Teilgebiete für unterschiedliche Investoren,Bauherren beziehungsweise Zielgruppen öffnen. Begleitet

werden sollte dies von einer konsequen-ten Qualitätssicherung. Bei der Hambur-ger Hafencity zum Beispiel wurde überjedes einzelne Grundstück in einemWettbewerb entschieden.

Wie wird das bei der Stadt gesehen?

Architekten sind bekanntlich Berufsopti-misten… Im Städtebauausschuss wur-den die Thesen jedenfalls sehr intensivdiskutiert.

Wie stellen Sie sich Stuttgart 21 im Jahr2021 vor?

In die verkehrstechnische Debatte möch-te ich mich nicht einmischen. Als Städte-bauer wünsche ich mir ein urbanesQuartier mit offenen Räumen und vielfäl-

tigen Nutzungen, das auch in sozialer Hinsicht Vorbildcha-rakter hat. Und ich erhoffe mir ein Quartier, das als Muster-projekt für den schonenden Umgang mit Ressourcen stehtund neue Mobilitätskonzepte ermöglicht.

Herr Prof. Pesch, wir danken für das Gespräch.

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Prof. Franz PeschStädtebau-InstitutLehrstuhl Stadtplanung und EntwerfenTel. 0711/685-83350e-mail: [email protected]

Der Bonatzbau soll das Empfangsportal des Bahnhofs bleiben, damit wäre der Glasvorbau ausSicht der Stuttgarter Gruppe entbehrlich. (Visualisierung: ingenhoven architects)

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Führerworte aus SteinArchitektur und Städtebau spielten in der Selbstdar-

stellung des NS-Regimes eine Schlüsselrolle, unddementsprechend groß war auch ihre macht- undsymbolpolitische Bedeutung. Prof. Tilman Har-lander vom Institut für Wohnen und Entwerfenund Prof. Wolfram Pyta vom Historischen Institut

haben nun ein Buch herausgebracht, das jene„Führerworte aus Stein“ in 14 neuen Forschungs-

beiträgen und zahlreichen Bildern dokumentiert. Der Bandmit dem Titel „NS-Architektur: Macht und Symbolpoli-tik“*) basiert auf den Ergebnissen eines gleichnamigen,durch das Internationale Zentrum für Kultur- und Technik-forschung geförderten Symposiums an der UniversitätStuttgart im Jahr 2009.

Das Baugeschehen der NS-Zeit erschöpfte sich keines-wegs in der anfänglich dominierenden Blut-und-Boden-Architektur und neoklassizistischen Staats- und Repräsen-tationsbauten Troostscher oder Speerscher Prägung. For-schungsarbeiten haben bereits seit den 1980er Jahren dieAufmerksamkeit auf die große Bedeutung funktionalisti-scher, zum Teil „moderner“ Planungskonzepte und Zweck-architekturen gelenkt. Auf der Basis zusätzlich erschlosse-ner Archivbestände und Nachlässe entstand in jüngsterZeit eine Vielzahl, wichtige Forschungslücken schließendeArbeiten zur Bedeutung von Architektur und Städtebau imnationalsozialistischen Deutschland und im faschistischenItalien, zu NS-Planungsinstitutionen wie der Deutschen

Arbeitsfront (DAF) oder der Deutschen Wohnungsakade-mie, zu NS-(Raum-)Planungspolitiken im Osten oder imElsass, zu Architekten wie Paul Bonatz, dem Büro Rimploder dem Olympischen Dorf von 1936, aber auch zu denStuttgarter „Neugestaltungsplänen“. Im Fokus der Beiträ-ge steht der schon im Titel angesprochene Zusammen-hang von Architektur, Macht und Symbolpolitik. Aus-gangspunkt ist dabei die architektonische Formensprache,mit der Herrschaft repräsentiert und bestimmte Politikfel-der architektonisch und städtebaulich zum Ausdruckgebracht wurden.

Sehr differenziert setzt sich die Publikation auch mitder eng mit der Fakultät für Bauwesen an der damaligenTechnischen Hochschule Stuttgart verbundenen „Stuttgar-

ter Architektur-Schule“ und ihren Protagonisten – darunterdie Stuttgarter Professoren Paul Schmitthenner (Baukon-struktionslehre und Baukostenberechnung) und PaulBonatz (Entwerfen und Städtebau) – auseinander. Die inder „Arts-and-crafts“-Bewegung, der Gartenstadt-Idee unddem Werkbund begründete Reformschule entfaltete ihrestärkste Wirkung in den Jahren zwischen 1919 und 1945und damit in zwei politisch höchst unterschiedlichen Etap-pen: 14 Jahren Republik folgten 12 Jahre Diktatur unddamit Einengung und der Zwang zur Unterordnung.

Gespaltene ProfessorenschaftWährend die Studierenden die neuen Machthaber über-wiegend begrüßten, war die Professorenschaft gespalten:Schmitthenner und andere traten der NSDAP bei, moder-

ne Architekten wie Prof. Hugo Keuerle-ber dagegen sahen sich Repressalienausgesetzt. Andere, wie etwa der Bauhi-storiker Prof. Ernst Fiechter, kehrten derHochschule den Rücken und wurdendurch Parteigenossen ersetzt.

Auch künstlerisch setzte die Machter-greifung der Pluralität und damit auchder Kreativität der frühen Jahre ein jähesEnde. Die einzelnen Vertreter der Stutt-garter Schule gingen mit diesem Span-nungsfeld durchaus unterschiedlich um:Während Bonatz zum Neoklassizismusder späten Monarchie zurückkehrt und

diesen monumental eskalieren lässt, treten an Schmitthen-ners Großprojekten der NS-Zeit Gestaltungsmerkmale wiemonumentale Arkaden, Eckquaderungen oder barockeSprenggiebel auf. Prof. Walter Körte wiederum konnte zwar1933 noch das modernste Haus der Kochenhofsiedlungbauen, wurde jedoch als „bolschewistischer Baukünstler“beschimpft und reichte nach einem Vorlesungsboykott resi-gniert die Kündigung ein. amg

*) Tilman Harlander, Wolfram Pyta (Hrsg.) NS-Architektur:Macht- und Symbolik, Schriftenreihe des InternationalenZentrums für Kultur- und Technikforschung der UniversitätStuttgart, Band 19, LIT-Verlag, ISBN 978-3-643-10944-6,29,90 Euro

Buch

Tipp

Projektiertes Gebäude für das Oberkommando der Kriegsmarine nach Plänen von Paul Bonatz. (Foto: IFAG)

Versuchshaus Epple (1921), ein moderner Entwurf von Hugo Keuerleber. (Foto: Nachlass Keuerleber)

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Wie man Süßigkeiten und Lesarten auswähltDie Betonung spielt für die Interpretation eines Satzes einegroße Rolle. Wie die spezifische Lesart abgeleitet wird,untersuchen Forscherinnen am Institut für Germanistik/Lin-guistik der Universität Stuttgart, am Deutschen Seminarder Universität Tübingen und am Institut für Linguistik derUniversität von Illinois, Urbana-Champaign in den USA. DieKooperation wird durch die European Science Foundation(ESF) unterstützt.

Wer sich noch an frühere Kindergeburtstage erinnert, kenntmöglicherweise das Spiel „Tip“. Die Regeln waren denkbareinfach: Es wurde eine große Platte mit verschiedenenSüßigkeiten hergerichtet,ein Kind verließ den Raum,und die anderen Kinderbestimmten eine derLeckereien als „Tip“. Manwurde dann, nachdem sichdie Kinder geeinigt hatten,wieder hereingebeten unddurfte sich an der Platte derKöstlichkeiten bedienen.Zunächst konnte man dieerbeuteten Süßigkeitenauch behalten. Aber wennman eine Süßigkeit zuergreifen versuchte, ertöntedas unbarmherzige„TIIIIIPPP“ der anderen Kin-der. Das war das „Tip“, aufdas sich die anderen vorhergeeinigt hatten, und diebetreffende Süßigkeit musstewieder zurück auf die Platte gelegt werden. Dann wurde einanderes Kind hinausgeschickt, und es wurde ein neues„Tip“ bestimmt.

Die meisten Sätzen dieser schriftlichen Spielanleitungsind ohne explizite Angabe des jeweiligen mündlichenBetonungsmusters problemlos richtig zu verstehen. Im Falledes Satzes „wenn man eine Süßigkeit zu ergreifen versuch-te…“ ist dies anders. „Wäre hier nicht markiert, dass derArtikel ‚eine' betont werden soll, würde man den Satz mitBetonung auf ‚Süßigkeit' lesen“, erklärt die Stuttgarter Stu-dienleiterin Dr. Cornelia Ebert. Heraus käme dabei die Aus-sage „Wenn man eine Süßigkeit zu ergreifen versuchte,ertönte das unbarmherzige „TIIIIIPPP“ der anderen Kinder'.„Ein solcher Satz hätte vermutlich zu einigermaßen großerVerwirrung geführt, bedeutet er doch etwas wie: Egal wel-che Süßigkeit man zu greifen versuchte, die anderen Kinderschrien ‚TIP’“, erklärt Ebert.

Weiß der Leser jedoch aus dem Kontext, dass dasbetreffende Kind bereits unbeanstandet eine Menge vonSüßigkeiten sammeln konnte, hätte eine solche Interpretati-on – Wissenschaftler sprechen von unspezifischer Lesart –deplatziert gewirkt. Erst aus der Betonung auf ‚eine' wirdklar, dass es eben eine spezielle Süßigkeit gibt, die zum

„TIP“-Schrei der anderen Kinder führt. Man nennt dies diespezifische Lesart. Solche Lesarten werden seit Ende der1960er Jahre in der sprachwissenschaftlichen Literatur kon-trovers diskutiert. Bislang ist man sich weder über die theo-retische Modellierung noch über die empirischen Daten imKlaren.

Um herauszufinden, welche Lesarten genau in welchenSituationen existieren, sollen im Rahmen des Projekts expe-rimentelle Methoden entwickelt werden, die unter anderemdie Rolle der Betonung in Sätzen wie den obigen untersu-chen. Ebenso suchen die Wissenschaftler nach der richtigensprachwissenschaftlichen Theorie zur Ableitung dieser Les-

arten. In den geplanten Experimenten werden Versuchsper-sonen mit kleinen Bildergeschichten und einem ansch-ließend auditiv dargebotenen Satz konfrontiert. Sie sollendann entscheiden, ob der Satz zu den Bildern passt odernicht. Aus diesem Urteil kann man dann schließen, ob dieVersuchsperson den Satz in der spezifischen oder in derunspezifischen Lesart interpretiert. „In einigen, aber beiweitem nicht in allen Theorien der Spezifizitätsliteratur wirderwartet, dass die spezifische Lesart eher dann zu bekom-men ist, wenn der Artikel betont wird, und die unspezifischeeher dann, wenn die Betonung auf dem Nomen liegt – ähn-lich wie im Tip-Beispiel oben“, erläutert Cornelia Ebert.„Sollte sich diese Erwartung durch die Studie bestätigen,hätte dies Auswirkungen auf die gesamte Spezifizitätsdebat-te und damit auch theoretische Relevanz für das For-schungsfeld.“ amg

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Dr. Cornelia EbertInstitut für Linguistik/GermanistikTel. 0711/685-83457e-mail: [email protected]

Zwei Bildsequenzen, die den Versuchspersonen gezeigt werden. Anschließend hören sie den Satz „Der Hund hatjedes Bild zerrissen, das ein Kind angemalt hat“ und sollen entscheiden, ob dieser Satz im gegebenen Kontext ange-messen ist oder nicht. Das Beispiel repräsentiert die spezifische Lesart des Satzes: Es gibt ein bestimmtes Kind (dasMädchen mit dem gelben Kleid rechts oben), dessen Bilder alle zerrissen wurden. Es wurden jedoch nicht alle bemal-ten Bilder zerrissen. Die unspezifische Lesart wäre also nicht angemessen. (Abbildung: Institut)

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