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Leseprobe aus: Shari Shattuck Tage wie Salz und Zucker Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de. Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Tage wie Salz und Zucker - rowohlt...zufällig gehört hatte, Bob s Big Boy nannte. Die Enge des Hofs sandte das Echo jeglichen Geräuschs ungedämpft in ihre Wohnunghinauf,weshalb

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Leseprobe aus:

Shari Shattuck

Tage wie Salz und Zucker

Mehr Informationen zum Buch finden Sie auf rowohlt.de.

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

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Tage

ShariShattuck

Roma n

A u s d e m e n g l i s c h e n

v o n N I c o l e S e i f e r t

Rowohlt Taschenbuch Verlag

Salzund

wie

Zucker

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Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel«Invisible Ellen» bei Putnam/Penguin Group, New York.

Deutsche ErstausgabeVeröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag,

Reinbek bei Hamburg, Oktober 2014Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH,

Reinbek bei Hamburg«Invisible Ellen» Copyright © 2014 by Shari Shattuck

Redaktion Susann RehleinUmschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/

Cordula Schmidt(Umschlagabbildung: Illustration Ruth Botzenhardt)

Satz aus der Aldus PostScriptGesamtherstellung CPI books GmbH, Leck

Printed in GermanyISBN 978 3 499 26867 0

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Dieses Buch ist für alle, die je dasGefühl hatten, nicht zu zählen.

Du zählst.

Dein Wesen leuchtet so starkund so rein wie das jedes anderen.

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Gelegentlich , wenn auch nicht sehr häufig , fragte Ellen Homessich, wie es so weit gekommen war, dass sie hundertzweiund-zwanzig Kilo zugenommen hatte und gleichzeitig verschwun-den war. Nicht dass sie unbedingt eine Antwort gebraucht oderauch nur hätte hören wollen, denn kurz gesagt war unsichtbarsein alles, was Ellen Homes sich seit jeher gewünscht hatte.

Ihre Mutter – ein Substantiv, das sie mangels einer unbe-denklichen Alternative gebrauchte – hatte anscheinend anirgendeinem Punkt vergessen, dass sie eine Tochter hatte. El-len erinnerte sich nur dunkel an jene Frau, die ihre Wodka-flaschen und ihre Glaspfeife zusammengepackt und sie dannmit fünf Jahren in dem versifften Zimmer einer Drogenhilfe-WG allein gelassen hatte. Das Einzige, woran sie sich gut er-innern konnte, waren quälender Hunger und die Freude überdie Zimtschnecke, die ihr irgendwann jemand gab. Aber dieEinzelheiten des Lebens mit dieser Frau, insbesondere diesesspeziellen Tages, erstickte Ellen enthusiastisch und effizientam liebsten unter synthetischer, milchfreier Dessert- oderBratensoße.

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Auch ihre Erinnerungen daran, wie die Polizei sie gefundenund Sozialarbeitern übergeben hatte, sowie an die verschie-denen Pflegefamilien, denen sie dann aufgezwungen wurde,waren lückenhaft – besser, sie löschte sie ganz aus. Ellen warschließlich in ein Wohnheim abgeschoben worden. Dort hat-ten Erwachsene wie Kinder sie gleichermaßen verhöhnt oderignoriert. Da sie Letzteres vorzog, hatte Ellen Ausweichma-növer ersonnen und es vermieden, Aufmerksamkeit auf sichzu ziehen, indem sie eine stille Wachsamkeit an den Tag legteund den Kontakt mit anderen auf das Nötigste beschränkte.

An eins allerdings erinnerte sich Ellen, nämlich daran, wiesie den Schatten gesucht hatte, um dem Abscheu zu entge-hen, dem sie im Hellen begegnete. Sie fand dunkle Ecken undDachkammern, in denen sie sich verstecken konnte, horteteabgepackte Lebensmittel, wann immer sie welche bekommenkonnte. Sie lernte, ihr glattes braunes Haar länger zu tragen,sodass es die linke Seite ihres Gesichts verdeckte, sie vor derWelt verhüllte und die Narbe versteckte, durch die ihr linkesAuge immer halb geschlossen und ihre Sicht eingeschränktwar. Da es jeder Mensch, dem sie bisher begegnet war, vorzog,sie nicht anzusehen, reichte oft schon ein halber Schritt nachhinten oder seitliches Wegdrehen, um etwaigen prüfendenBlicken auszuweichen oder gar nicht erst wahrgenommen zuwerden. Ellen wurde sehr gut darin, nicht da zu sein, sogarwenn sie da war.

Mit neunzehn bemerkte sie erstmals ihre vollständige vi-suelle Abwesenheit. Ellen hatte einem Mann, der frustriertauf den Busfahrplan starrte, zaghaft ihre Hilfe angeboten. Erfuhr zusammen, als wäre er von einer Geisterstimme ange-sprochen worden. Sein Blick zuckte an ihr vorbei, hielt dort,

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wo ihr Gesicht sein musste, kurz inne, dann straffte der Mannsich und eilte davon.

Ellen hatte das gefreut, sie war ganz begeistert gewesen,weil es sich endlich auszahlte, ein Leben lang die Fähigkei-ten kultiviert zu haben, die notwendig waren, um zwischen-menschliche Interaktion abzuwenden. Dass sie nicht nur nichtangesehen, sondern dass durch sie hindurchgesehen wurde,fühlte sich genau richtig an.

Ellen schwelgte in ihrer Anonymität. Sie lernte, sich ihreoptische Abwesenheit auch bei der Arbeit – in der nächtlichenPutzkolonne eines Costco-Großmarktes – zu erhalten, aufbevölkerten Straßen, wo die Leute ihre Körper verschoben,wenn sie sich näherte, als wichen sie vor einem kalten Luftzugzurück, und, das war das Beste, in ihrer winzigen Wohnung,wo sie den Großteil ihrer Zeit damit verbrachte, zu verfolgen,was ihre Nachbarn trieben.

War es anfangs nur eine wichtige Überlebensstrategie ge-wesen, still aus dem Schatten heraus zu beobachten, wurde esmit der Zeit zu Ellens größter Leidenschaft. Das echte Lebenfaszinierte sie – solange sie nicht mitzumachen brauchte. Dieseltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich sehen lassen muss-te, erschöpften sie. Es war einfach zu anstrengend und öffnetedem Mitmachen Tür und Tor – eine Aussicht, die sie nochmehr entsetzte, als die, keine Snacks mehr im Haus zu haben,oder – undenkbar – keinen Schinkenspeck.

Mit vierundzwanzig hatte Ellen ihre Unsichtbarkeit soweit perfektioniert, dass sogar ihr Kater, Maus, sie kaum nochwahrzunehmen schien. Ellen und Maus teilten das Einzim-merapartment und die Liebe zum kalorienreichen Exzess –insbesondere Schinkenspeck –, sonst allerdings nicht viel.

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Die Eingangstür der engen Wohnung ging in das einzi-ge Zimmer, von dem aus eine kleine Treppe zur Kochnischeführte, an deren Rückwand sich eine Hintertür mit einemkleinen Fenster befand. Durch drei Schichten, bestehend auseinem verschmutzten Gitter, dreckigem Glas und Eisenstä-ben, konnte Ellen in einen winzigen Hof sehen, der mit Kie-seln von der Farbe ausgeblichener Grabsteine bedeckt war. Eswar ein trostloser Ort. Da war kein tröpfelndes Wasserspiel,das den Widerhall der Mauern gedämpft hätte, und auch anwohltuendem Grün herrschte äußerster Mangel. Gelegent-lich bemerkte Ellen einen Grashalm, der sich seinen Weg zwi-schen den scharfkantigen Granitbrocken hindurch gebahnthatte. Aber es ließ sich nicht vermeiden, dass das Gewächsbald verstarb, nachdem es sein Ziel schließlich erreicht undeinen Blick auf die unwirtliche Umgebung geworfen hatte,die gekrönt wurde von einem klitzekleinen Fleck versmogten,schmutzigbraunen Himmels. Ellen stellte sich vor, dass seinletzter Gedanke – sofern Pflanzen Gedanken hatten – gewe-sen war: Dann bin ich lieber Stroh.

Über diesen schmalen Hinterhof hinweg konnte sie indie Küchen der Nachbarn sehen, die sie so umsichtig mied.In dem Fenster gegenüber hing ein unerfreulich blickdich-tes Tuch, von der Sonne gebleicht und mit Nägeln befestigt,nachdem es von dem dort lebenden Paar, wie sie beobachtethatte, so lange in Form gezogen worden war, bis es ihr dieSicht in diese einzige andere Obergeschosswohnung komplettverwehrte. Aber im Erdgeschoss waren zwei Wohnungen, de-ren Mieter so bequem oder so verzweifelt waren, dass sie sichnie die Mühe gemacht hatten, irgendeine Art Vorhang anzu-bringen – wahrscheinlich, dachte Ellen, weil ihnen nie in den

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Sinn gekommen war, dass sich jemand für ihr Leben interes-sieren könnte.

Denn ihr Leben war nicht interessant, außer für Ellen natür-lich, die beständig davon fasziniert war, wie die Bewohner, diesie als ihre Haustiere betrachtete, ihre Zeit verbrachten. DasMädchen in 1B nannte sie Heidi, weil sie ihre blonden Haare,wenn sie nicht für die Arbeit angezogen war – Cocktailkell-nerin oder Prostituierte, den Klamotten zufolge –, zu Zöpfenflocht, die schlaff zu beiden Seiten ihres frischgewaschenenrosa Gesichts herunterhingen. Dem Mann in 1A hatte sie denNamen T-Bone gegeben, weil er so mager war wie eine Rippeund sein Kopftuch, das er offenbar entschlossen war, zu tragen,bis es abfaulte, die Farbe von rohem Fleisch hatte.

Seit ein paar Monaten schwoll Heidis Körpermitte an. Ausder fußballgroßen Wölbung unter ihrem gespannten T-Shirtschloss Ellen, dass sie jetzt im achten Monat war, weshalb sieihrer Beschäftigung – woraus auch immer sie bestand – der-zeit nicht nachging. Jetzt verbrachte Heidi den Großteil ihrerZeit in der Wohnung, schrie ihr Spiegelbild an oder saß wei-nend am Küchentisch. Ellen verfolgte Heidis Tun mit demEifer eines Sportfans in den Play-off-Runden. Heute Abendmachte Ellen sich mit einer Tüte Chips in der einen Hand undeinem Tinkerbell-Stift in der anderen auf einem der liniertenSchulblöcke Notizen, die ihr Arbeitgeber ihr zu diesem Zweckso großzügig wie unwissend gespendet hatte. «Heidi holt einBier», schrieb sie und zermalmte eine Handvoll Cheddarchipszu Brei. «Überlegt zehn Minuten lang, ob sie es trinken soll,und stürzt es dann in fünfundvierzig Sekunden runter.» EineMinute später fügte sie hinzu: «Erbricht Bier ins Waschbe-cken.»

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Ellen ließ ihren Blick zum nächsten Fenster wandern undsah T-Bone. Das Interessanteste, was T-Bone tat, war, großeTüten Marihuana in kleinere umpacken. Heute Abend saßer in seinem Polstersessel und rauchte das, was er, wie Ellenzufällig gehört hatte, Bob’s Big Boy nannte. Die Enge desHofs sandte das Echo jeglichen Geräuschs ungedämpft in ihreWohnung hinauf, weshalb es möglich war, alles zu hören, wassie hören wollte, und unmöglich, nicht zu hören, was sie nichthören wollte. T-Bone hielt sich auf der Fensterbank eine trau-rige Topfpflanze, die er heute mal wieder vergessen hatte zugießen – ein Vergehen, das Ellen pflichtbewusst vermerkte.Sie hatte eine ansehnliche Sammlung dieser Notizblöcke, undwenn sie das Brett betrachtete, auf dem sie sie sammelte – einjeder versehen mit den entsprechenden Daten –, hatte sie dasGefühl, etwas geleistet zu haben.

Nichts los heute Abend, dachte Ellen, als sie den Block zu-schlug und ihn in ihre große Tasche fallen ließ. Angesichtsdes bevorstehenden Betretens der Außenwelt strich sie sichanfallartig wiederholt die Haare über die linke Wange. Eineunbewusste Übung, wie bei einem Athleten, der sich dehnt,bevor er mit dem Training beginnt. Für die Arbeit zog sie dieverwaschene schwarze Hose mit dem Gummizug und einschwarzes Shirt an. Mürrisch betrachtete sie die Sohle ihreslinken Turnschuhs, die sich an der Spitze löste und bei jedemSchritt flappte. Sie würde neue Schuhe kaufen müssen, abermit Hilfe einer cleveren Kombination von Einfallsreichtumund einem halben Meter Klebeband ließ sich diese unange-nehme Aufgabe noch etwas aufschieben. Nachdem sie dienotwendigen Maßnahmen ergriffen und das Ergebnis einemPraxistest unterzogen hatte, um zu sehen, ob es wenigstens

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die Nacht über halten würde – eine Runde durch das Apart-ment, die insgesamt achtzehn Schritte erforderte –, füllte sieetwas Trockenfutter in Maus’ Schüssel, schnallte ihre Bauch-tasche um, deren Riemen sie mit einem Kindergürtel verlän-gert hatte, nahm die große Tasche mit dem Notizbuch undüberprüfte, ob auf der Vordertreppe auch keine Menschensaßen, ehe sie sich hinauswagte.

Der kurze Weg zur Bushaltestelle war von Menschenverstopft, die auf ihrem abendlichen Nachhauseweg waren,aber wie gewöhnlich leerte sich der volle Bürgersteig für sieso weit, dass sie vorbeigehen konnte. Ein Grüppchen warte-te ungeduldig auf den Zwölferbus, dessen Druckluftbremsezischend einen scharfen Tadel von sich gab, als er am Bord-stein hielt. Ellen nahm ihren Platz in der Schlange ein, freigemacht von Leuten, deren Blick nur leicht flackerte, wenn erdie Stelle streifte, an der sie stand. Sie stieg die zwei hohen,mit Gumminoppen besetzten Stufen hoch und ließ sich aufeinen freien Doppelsitz fallen, womit sie faktisch anderthalbPlätze in Anspruch nahm. Egal, wie voll der Bus war, nie setztesich jemand auf den Rest des Platzes neben ihr. Sie verbrachtedie Zeit damit, ihre Aufmerksamkeit auf einen Fahrgast nachdem anderen zu konzentrieren, als würde sie die Programmewechseln, um etwas Faszinierendes oder wenigstens Informa-tives zu sehen zu bekommen. Zuerst schaltete sie auf einenjungen Mann, der seine jüngere Freundin drangsalierte, aberdie ängstliche Passivität des Mädchens langweilte sie bald.Sie zappte zu einer älteren Frau, die einen einsamen Mono-log hielt, und dann zu einem Mann, der flink die Stufen desBusses hochsprang. Er plumpste auf einen Behindertensitz,stellte seine Sporttasche neben sich und schlug eine Zeitung

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auf. Ellen nahm ihren Notizblock zur Hand und schrieb: «Ge-sunder Typ sitzt auf Behindertenplatz.» Nachdem sie dieseOrdnungswidrigkeit verzeichnet hatte, wandte sie ihre Auf-merksamkeit wieder dem jungen Paar zu. Das Mädchen wirk-te jetzt weniger ängstlich, eher genervt von den Sticheleiendes Jungen. Ellen verspürte ein erwartungsfrohes Kribbeln.Den Bleistift bereit, beschloss sie, bei diesem Programm zubleiben, und machte es sich bequem, um das Schauspiel zugenießen.

Als die Türen sich an der nächsten Haltestelle fauchendöffneten, wurde sie von diesem vielversprechenden Szenariojedoch abgelenkt. «Ist das der Zwölfer?», hörte Ellen eine Fraumit klarer Stimme rufen und freute sich. Sowohl an der Stirnals auch an den Seiten des Busses war deutlich die Nummerzwölf zu erkennen. In der Hoffnung, mindestens die Kaprio-len einer Exzentrikerin, wenn nicht die einer völlig Verrück-ten zu sehen zu bekommen, wartete sie begierig, welche Ent-wicklung die Sache nehmen würde.

Die genuschelte, teilnahmslose Antwort des semikatatoni-schen Fahrers schien die Frau zufriedenzustellen, und Ellenbeobachtete neugierig, wie ein weißer Stock mit roter Spitzeseinen Weg in den Bus fand, gefolgt von einer jungen Frau mitdunklem Haar, das in Kaskaden unter einer schreiend orange-farbenen Mütze herabfiel. Obwohl es draußen schon fast dun-kel war, trug die Mittzwanzigerin eine Sonnenbrille. Mit nachvorne gestreckter Hand tastete sie nach einem freien Behin-dertenplatz. Der Mann mit den Laufschuhen raschelte ärger-lich mit der Zeitung, als sie seine Schulter streifte, und sagtegereizt: «Hier ist besetzt. Dahinten sind noch freie Plätze.»

Wie ihr verächtliches Lächeln deutlich zeigte, wusste sie,

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dass er da nicht hingehörte, und hielt Leute wie ihn für be-sonders ekelhafte Silberfischchen. Das Mädchen ertastete sichseinen Weg den Gang hinunter und war wenige Schritte vonEllen entfernt, als der Bus sich schlingernd wieder in den Ver-kehr einfädelte und sie stolperte. Sie fiel auf die Knie, ein Armfuhr auf den Sitz neben Ellen nieder. Das Mädchen fand seinGleichgewicht wieder und rappelte sich auf, wobei sie sich ander Rückenlehne festhielt.

«Mir geht’s gut», rief sie in amüsiertem Ton in den Busvoller Menschen, die ihr geflissentlich ihre Hilfe verwehrten.«Kümmern Sie sich nicht um mich, retten Sie ihr eigenes Le-ben!» Mit einem hellen, höhnischen Lachen glitt sie nebenEllen, wobei sie in Kontakt mit Ellens schwabbelnden Ober-schenkeln und Taillenwülsten kam.

«Oh, tut mir leid», sagte sie, sich Ellen halb zuwendend.«Ichhab Sie gar nicht gesehen.» Dann lachte sie wieder, holte einBuch hervor und schlug es auf einer weißen Seite mit struktu-rierter Oberfläche auf, die mit einem Bändchen markiert war.«Gesicht: hübsch», vermerkte Ellen, ohne dieser Eigenschaftbesonderen Wert beizumessen. Es war ihr jetzt wieder halbzugewandt, als studiere sie irgendein faszinierendes Objektrechts über ihnen.

«Tut mir leid, wenn ich nerve», sagte das Mädchen, «aberkönnten Sie mir Bescheid geben, wenn wir an der Grant Ave-nue sind?»

Ellen spürte, wie ihre vernachlässigte Stimme ihr im Halssteckenblieb. Sie war angesprochen worden. Natürlich konntedas Mädchen sie nicht besser sehen als jeder andere, schlech-ter sogar, aber sie hatte sie gespürt. «Äh, okay», murmelteEllen.

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«Ich war schon immer von der Freundlichkeit fremder Leu-te abhängig», sagte das Mädchen mit südlichem Akzent. Dannfügte sie aus dem Mundwinkel hinzu: «Kann ich allerdingsnicht empfehlen; die meisten sind Arschlöcher.» Sie legte denKopf zurück, und es brach ein derart herzhaftes Gelächter ausihr heraus, dass Ellen sich körperlich angegriffen fühlte undsich schützend gegen das kalte Fenster drückte. Das Mädchenbemerkte Ellens Reaktion nicht oder kümmerte sich nichtdarum und begann, mit den Fingern über die leeren weißenSeiten ihres Buches zu streichen.

Obwohl es Ellen durcheinanderbrachte, dass das Mädchensie – wenn auch unvollständig und ungebetenerweise – zurKenntnis genommen hatte, klang das unerschrockene Lachenin ihr nach. Noch ein paar Blocks lang dachte sie daran herum,wobei sie jedes Mal zusammenzuckte, wenn das blinde Mäd-chen unvermutet über einen Witz kicherte, den ihre Fingeraus den Hubbeln herausgelesen hatten.

Es war gar nicht mal die Tatsache, dass man sie bemerkthatte, obwohl das neu war. Ellen wusste, dass nur der zufälli-ge Körperkontakt dem blinden Mädchen ermöglicht hatte, siewahrzunehmen. Nein, es beschäftigte sie vor allem, dass diesejunge Frau – die eine lächerliche Mütze trug, ungefähr vonder Größe, Farbe und Form eines abgebrochenen Verkehrs-kegels – sich kein bisschen um die Menschen um sie herumscherte, nicht mal um jene, die sie unverhohlen anstarrten.Sie konnte sie nicht sehen, also spielten sie keine Rolle.

Das war eine Offenbarung, die auf Ellen die Wirkung einerkleinen, lokal begrenzten Explosion hatte und eine schmaleVerwerfungslinie der Panik aufbrach. Vielleicht hatte sie sichdas Falsche gewünscht. Ihr kam ein Gedanke. Vielleicht ist es

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besser, nicht sehen zu können, als unsichtbar zu sein. Ellenwurde von einer seltsamen Eifersucht ergriffen; kalte grüneFinger glitten über ihren Brustkorb und pressten ihr den Ma-gen zusammen. Sie spürte förmlich, wie sich scharfe Finger-nägel in das gut entwickelte Organ bohrten.

Ellen sah auf die Uhr. Wie üblich war sie eine Stunde zufrüh dran – eine Vorsichtsmaßnahme, die es ihr gestattete,sich die Aufgabenliste anzusehen und mit der Arbeit zu be-ginnen, bevor der Rest der Truppe in die Umkleide gestolpertkam. Sie hatte locker fünfundvierzig Minuten Zeit, falls siebeschloss, zwei Haltestellen früher auszusteigen. Warumnicht? Plötzlich überwältigt von dem Bedürfnis, mehr überdiese einmalige Person neben sich herauszufinden, blies Ellenden Staub von ihrem Mumm und räusperte sich.

«Nächster Halt Grant Avenue», sagte sie.Das Mädchen kippte ihren Mandarinenzylinder zur Sei-

te, woraufhin er abknickte wie ein Gänseblümchen am Tag,nachdem es gepflückt worden ist. «Ja, das habe ich mir ge-dacht. Danke.»

Ellen hoffte, ihr zögerndes Grunzen würde als Antwort ge-nügen.

Das Mädchen steckte ihr Buch ein und stand auf, wobei siesich an der Rückenlehne vor sich festhielt. «Einen schönenTag noch», sagte sie.

Ellen sah in die Dämmerung. Dass das Mädchen ausstieg,erfüllte sie mit einem seltsamen Widerwillen, und so riskiertesie eine Annäherung. «Ähm. Es ist schon fast Nacht.»

Das Mädchen warf sich die Umhängetasche über die Schul-ter und griff nach dem Stock. Sie wandte sich Ellen wieder zuund beugte sich vor. «Für mich ist ständig Mitternacht, Baby.»

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Wieder dieses Lachen, so mächtig, dass es in Ellen ein Nach-beben auslöste und der Riss in ihrem Schutzschild noch einpaar Millimeter weiter aufbrach.

Der Stock klickte den Gang hinunter, die Druckluftbremsezischte unzufrieden, und als die Neonmütze wippend aus El-lens Blickfeld verschwand, hatte sie das Gefühl, als wäre ihretwas gestohlen worden. Ohne nachzudenken sprang sie auf,um dem Mädchen zu folgen. In der Eile schlug ihre riesigeTasche gegen die Zeitung des Arschlochs, das die Behinder-tensitze in Beschlag genommen hatte, und riss sie mitten ent-zwei. «Scheiße!», rief der Mann, aber Ellen war schon halbaus dem Bus. Fast klemmten die Türen ihr wogendes schwar-zes Zelt von einem Oberteil ein, als sie sich schlossen.

Die Menge war eine graubraune Masse, alle auffälligerenFarbpigmente wurden von der Dämmerung verschluckt, aberdie fluoreszierende Mütze der Fremden wippte auf den ru-higen Wellen der Pendler wie eine Leuchtboje. Als Ellen ihrhinterhereilte, tauchte noch etwas anderes in ihrem Augen-winkel auf. Zwei Männer hatten sich aus einem Hauseinganggelöst und folgten dem Mädchen mit der Konzentration vonJägern. Mit ihren schmutzigen Jeans und Baseballkappenfielen sie auf in dem gehobenen Innenstadtviertel, das über-wiegend von Männern und Frauen in Anzügen bevölkert warsowie von Eltern in Lycra-Yogahosen mit passenden Ober-teilen, die hinter dreirädrigen Kinderwagen herjoggten unddabei mit Hilfe ihrer teuren Armbanduhren ihren Puls über-prüften. Schlagartig wurde Ellen klar, dass sie nicht die Ein-zige war, die sich für das blinde Mädchen interessierte, wasihr extrem unfair vorkam. Sie war ihr zuerst gefolgt, und sie

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wollte sie für sich haben. Ellen zurrte ihre Bauchtasche festund ging weiter.

Nach drei Blocks bog das Mädchen in eine schmale Gas-se ein, gefolgt von den beiden Männern. Die Nachhut bildeteeine zunehmend entschlossene Ellen, die das Mädchen inzwi-schen als ihre Sache betrachtete und die beiden Männer alsFeinde. In der Sackgasse, über die man lediglich Zugang zuden umliegenden Gebäuden hatte, waren keine anderen Fuß-gänger unterwegs. Ihr Ende bildete eine Backsteinmauer, vorder ein großer Container stand. Er war leer und wurde voneiner hellen Straßenlaterne beleuchtet. Das Mauerwerk derhohen Wände wurde auf beiden Seiten der Gasse von meh-reren großen Metalltüren unterbrochen. Das Mädchen holteim Gehen einen Schlüsselbund aus ihrer Tasche, ohne dassihr Stock aufhörte zu klopfen. Die Männer sahen sich um undblickten in die belebte Avenue hinter sich. Keiner von bei-den bemerkte Ellen, die sich nicht weit von der Straßeneckeentfernt an die Mauer presste, den Blick hatte sie auf einenPolizeiwagen gerichtet, der an einer roten Ampel stand. Dannsetzte sich der Verkehr in Bewegung, und die Gasse war wie-der sicher vor den prüfenden Blicken der Polizei.

Die Männer richteten ihre räuberische Aufmerksamkeiterneut auf das Mädchen, und Ellen folgte ihnen vorsichtig dieGasse hinunter. Es war, als stünde das Fenster offen, durchdas sie normalerweise nur hindurchsah, als hätte sie sich nachdrinnen gewagt, statt von draußen zuzusehen. Dieses kribbe-lige Gefühl war ihr fremd, es war ein unbequemes Gefühl, soviel stand fest, aber auch nicht nur unangenehm.

Plötzlich beschleunigten die Männer ihre Schritte, und dasMädchen blieb stehen, neigte den Kopf und horchte, dann eil-

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te es weiter. Als die Männer sie einholten, fuhr sie herum,den Riemen ihrer Tasche fest im Griff. Ellen sah ein Messeraufblitzen und verspürte einen körperlichen Schmerz in derBrust, schluckte einen scharfen, stillen, entsetzten Atemzughinunter. In der nächsten Sekunde fuhr das Messer hinab,und das Mädchen schrie auf und duckte sich, dann richtete siesich wieder auf. Sie selbst war heil geblieben, aber von ihrerTasche hielt sie nur noch den Gurt in der Hand, der jetzt nutz-los herabhing. Noch während die Männer mit ihrer Tasche inRichtung der Avenue rannten, erholte sie sich. «Ihr erbärm-lichen Arschlöcher!! Polizei! Polizei!», schrie sie in das Echoihrer eigenen Worte.

Ellen drückte sich an die Mauer, deren rußige Patina diesel-be Farbe hatte wie ihre verwaschenen schwarzen Klamotten.Ihr Herz raste. Die Männer kamen auf sie zugesprintet, denBlick auf die große Straße, ihren Ausweg, gerichtet, nur we-nige Schritte von Ellen entfernt. Als sie auf ihrer Höhe waren,verfestigte sich in ihr ein schlaffes Gefühl, und ohne es ge-plant zu haben, stellte sie dem Dieb, der ihr am nächsten war,ein Bein. Er fiel hin, ließ die gestohlene Tasche los, um sichabzustützen, seine Hände klatschten auf den rohen Asphaltund rutschten noch ein Stück, wobei er sich böse die Hautaufschürfte. Sein Komplize – mit dem Prinzip Kameradschaftoffenbar nicht vertraut – blieb nicht etwa stehen, sondern liefum die Ecke und verschwand wie eine Ratte, nachdem aufdem Dachboden das Licht angegangen ist.

Die Tasche lag auf dem Bürgersteig. Ellen flitzte hin undgriff danach, während der verhinderte Handtaschendieb denKopf schüttelte und verzweifelt nach Luft schnappte. Wie einGoldfisch, dessen irregeleiteter Satz in die Freiheit jäh auf

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dem Küchenfußboden geendet war, blickte er um sich, sicht-lich erstaunt sowohl über den Sturz als auch über das schein-bare Fehlen einer Ursache. Ellen näherte sich ihm von hintenund trat dem Mann kräftig auf den Spann seines Turnschuhs,woraufhin er ein Jaulen von sich gab, einen erstickten Aus-druck des Schmerzes.

«Hau ab, du Arschloch», kreischte Ellen, und ihre Stim-me, diese Lautstärke nicht gewohnt, war ein einziges heiseresKrächzen. Das Arschloch rappelte sich auf, streckte die zer-kratzten, blutenden Hände von sich und lief davon, ohne sichnoch einmal umzusehen.

Die Tasche an ihre hämmernde Brust gedrückt, ließ Ellensich gegen die rauen Steine sinken. Sie zitterte nach dieserunerwarteten Konfrontation so heftig, dass sie fürchtete zu-sammenzubrechen.

Es dauerte eine ganze Minute, bevor sie etwas anderes alsdas panische Klopfen ihres Herzens hören konnte. Als es soweit war, wurde ihr bewusst, dass es außerhalb ihres Kop-fes seltsam still war. Das Mädchen hatte aufgehört, nach derPolizei zu rufen, stand ruhig da und horchte.

«Hallo?», fragte sie zögernd. «Wer ist da?»«Alles in Ordnung», japste Ellen. «Ich bin’s, die Frau … aus

dem Bus. Ich …» Sie sog ihre Lunge voll Luft und versuchte,den Sauerstoff zu dem scharfen Schmerz in ihrer Brust zuleiten. «… habe Ihre Tasche.»

Einen Moment lang war es still, dann sagte das Mädchen:«Echt?» Es klang, als würde sie das bezweifeln.

Ellen konnte sich kaum etwas «Echteres» vorstellen, alsdas, was gerade passiert war, aber sie konnte sich nicht ärgern.Sie hatte ja selbst Mühe, es zu glauben. «Ja …, echt», sagte sie.

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«Süß.» Das Mädchen ging, begleitet vom Ticken ihresGehstocks, ein paar Meter zurück und blieb direkt vor Ellenstehen, die dank der Tatsache, dass sie hechelte wie ein Bern-hardiner an einem Augustnachmittag, zweifellos leicht zulokalisieren war. «Ist mit Ihnen alles okay?», fragte das Mäd-chen.

«Ich … glaube … schon.»«Was ist passiert? Ich hab gehört, dass er hingefallen ist.»«Ähm …» Ellen scharrte unbehaglich mit den Füßen und

sagte: «Ich hab ihm ein Bein gestellt.»«Nett. Ich hoffe, er hat sich ordentlich das Gesicht aufge-

schürft. Danke. Ich bin Temerity.» Sie streckte eine Hand ausund wich dabei nur ganz leicht vom Kurs ab.

Ellen, von der Geste verwirrt, bemerkte, dass sie immernoch die Tasche umklammert hielt, und drückte sie gegen Te-meritys Hand. Die nahm sie, klemmte sie sich unter den lin-ken Arm und streckte dann wieder die rechte Hand aus. «UndSie sind?», fragte sie spitz.

«Äh, Ellen», sagte Ellen. Sie nahm die Hand zwischen Dau-men und Fingerspitzen und schüttelte sie linkisch. Von derStelle des Kontakts kroch ein ungewohntes Gefühl über dieHaut ihres Handgelenks und den Unterarm entlang, als wür-de ein Schwarm Ameisen einer Straße folgen, die über ihreSchulter und dann ihren Rücken hinunterführte.

«Gut, Ellen, kann ich Sie auf eine Tasse Kaffee oder auf einBier einladen, um mich zu bedanken?»

«Nein», stieß Ellen entsetzt aus. Dann fügte sie unge-schickt hinzu: «Ich meine, ich muss zur Arbeit. Ich arbeitenachts.»

«Wo?»

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«Costco.»«Ich wusste gar nicht, dass die auch nachts offen haben.

Nicht dass es für mich eine Rolle spielte.»«Haben sie gar nicht, ich putze da.»«Sie putzen», wiederholte sie. «Und essen Sie auch?»Ellen blickte an ihrem unförmigen Körper herunter. Dass

das Gespräch immer weiterging, verunsicherte sie, und siefühlte sich leer. Sie brauchte etwas zu essen, um sich zu stabi-lisieren. «Manchmal schon, klar.»

«Dann ist ja gut.» Temerity fuhr mit den Fingern an derriemenlosen Tasche entlang, bis sie auf eine kleine Reißver-schlusstasche stießen. Sie nahm eine Karte heraus, betaste-te die erhabene Schrift und hielt sie ihr hin. «Hier ist meineNummer. Ich möchte, dass Sie mich morgen anrufen, und ichmöchte Sie wirklich zum Abendessen ausführen oder zumFrühstück oder was auch immer für Sie am besten ist. Wiegesagt, für mich ist immer Mitternacht.»

Trotz der Millionen Ameisen, die über ihre Haut mar-schierten, glotzte Ellen Temerity ehrfürchtig an. «Sie essen inRestaurants?», fragte sie.

Temeritys hübsches Gesicht verzog sich zu einem sarkas-tischen Blick. «Nein, ich esse in Bibliotheken und Möbelge-schäften. Natürlich esse ich in Restaurants. Sie nicht?»

Ellen wusste nicht genau, was sie sagen sollte. Sie wolltemehr über diese Frau erfahren, aber der Gedanke, tatsäch-lich eine gesellschaftliche Verpflichtung einzugehen, brachtedie Angstameisen zum Flamencotanzen, um nicht zu sagen,löste einen regelrechten Flamenco-Wettbewerb aus, bei demsie außerdem Mini-Golfschuhe trugen. Unsicher, was sie ant-worten sollte, sagte sie einfach: «Nein, aber, ich meine, haben

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Sie keine Angst, dass Sie sich, äh …» Ihre Courage war auf-gebraucht.

Temerity legte den Kopf schief. «Dass ich mich zum Affenmache? Meinen Mund verfehle? Mich mit der Gabel erdol-che? Den Zahnstocher aufesse? Man muss nicht blind sein,um sich zum Idioten zu machen, und davon abgesehen: Weninteressiert’s?» Sie warf die Arme in die Luft. Die letztenWorte hatte sie so laut gesagt, dass sie von den Mauern wi-derhallten.

«Ich gehe nicht in Restaurants.» Es beschämte Ellen, dasauszusprechen.

Temerity gab einen theatralischen Seufzer von sich. «Indem Fall kann ich Ihnen ehrlich sagen: Das Einzige, was Sieverpassen, sind die frittierten Zwiebeln im Judy’s. Dermaßenlecker und zu Hause unmöglich selbst zu machen, ohne einenFettbrand zu verursachen. Gut. Rufen Sie mich an, ich wohneda.» Sie deutete nach oben. «Dann können wir ja über IhreErnährungsgewohnheiten sprechen. Wenn es Ihnen lieber ist,können Sie auch zu mir kommen, und ich koche. Wie wäredas?»

«Vielleicht», sagte Ellen, die jetzt wirklich hier wegwollte.«Ich muss los.»

Ellen wandte sich ab und floh vor der ersten Person in bei-nahe sechs Jahren, die ihr irgendetwas angeboten hatte. Unddie sie – war das nicht paradox? – sah, weil sie sie nicht sehenkonnte.

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